Achim Geisenhanslüke provides a comprised history of the theory of poetics from Antiquity to modern times.
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German Pages 210 Year 2018
Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
1. Theorie und Praxis der Dichtkunst: Zum Begriff der Poetik
2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon
3. Die aristotelische Poetik
4. Gorgias und der andere Anfang der Poetik
5. Die aristotelische Rhetorik
6. Römische Rhetorik
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin
8. Kants Poetik
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne
10. Für die Poetik
Literaturverzeichnis
Achim Geisenhanslüke Poetik
Literalität und Liminalität | Band 23
Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.
Achim Geisenhanslüke (Prof. Dr. phil.), geb. 1965, lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Literaturtheorie und der europäischen Literatur vom 17.-21. Jahrhundert.
Achim Geisenhanslüke
Poetik Eine literaturtheoretische Einführung
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Inhalt
Einleitung | 9 1. Theorie und Praxis der Dichtkunst Zum Begriff der Poetik | 13 2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon | 19 1. Zwischen Philosophie und Poesie: Das doppelte Gesicht der Dichtung bei Platon | 19 2. Platons Lehre des Enthusiasmus im Ion | 21 3. Die Kritik der Dichtkunst in der Politeia | 25 4. Dichtung, Liebe und Schönheit im Phaidros | 30 5. Platon, die Dichtkunst und die Philosophie | 36 3. Die aristotelische Poetik | 39 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Aristoteles, Platon und die Sophisten | 39 Auf bau und Struktur der Poetik | 43 Was ist Dichtung? | 45 Dichtung und Nachahmung | 48 Der Mensch, die Nachahmung und die Freude | 53 Tragödie und Mythos | 58 Tragödie und Ethos | 62 Tragödie und Pathos | 69 Aristoteles, die Poetik und die Tragödie | 76
4. Gorgias und der andere Anfang der Poetik | 79 1. Gorgias und die Sophistik | 79 2. Gorgias und Parmenides: Über das Nichtseiende | 81 3. Die Kunst der Rhetorik und das Pathos der Dichtung: Lobpreis der Helena | 84 4. Gorgias und Platon | 88
5. Die aristotelische Rhetorik | 93 1. 2. 3. 4. 5.
Aristoteles und die Rhetorik | 93 Die aristotelische Aufwertung der Rhetorik | 95 Theorie der Beredsamkeit | 100 Rhetorik und Affekte | 103 Rhetorik und Sprache | 107
6. Römische Rhetorik | 111 1. Die Grundlagen der klassischen Rhetorik | 111 2. Das älteste Systemprogramm der Redekunst: Rhetorica ad Herennium | 113 3. Die Vollendung der klassischen Rhetorik: Ciceros De oratore | 119 4. Das Wissen der Rhetorik. Quintilians Ausbildung des Redners | 127 5. Rhetorik und Poetik | 135
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin | 139 1. Horaz, die Rhetorik und die klassische Dichtkunst | 139 2. Longin und das Erhabene | 143
8. Kants Poetik | 153 1. Kant, die Rhetorik und die Dichtkunst | 153 2. Das Schöne versus das Erhabene | 161 3. Das Erhabene, der Enthusiasmus und die negative Darstellung | 168
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne | 177 1. 2. 3. 4.
Hölderlins Poetik der Moderne | 177 Ästhetische Philosophie und Poetik der Begeisterung | 179 Hölderlins Poetik der Tragödie | 182 Theorie und Praxis der Dichtkunst: Hälfte des Lebens | 190
10. Für die Poetik | 197 Literaturverzeichnis | 201 1. Quellen | 201 2. Forschungsliteratur | 202
Einleitung
Die folgende Untersuchung versteht sich als eine Einführung in die Poetik aus literaturtheoretischer Sicht. Eine Einführung ist sie, weil sie Grundlagen vermitteln will, ein literaturtheoretisches Ziel verfolgt sie, weil sie die Poetik als Fundament auch moderner Literaturtheorien versteht. Mit dem Begriff der Poetik setzt die Arbeit einen Akzent, der sich von einem Verständnis von Literatur unterscheidet, das das Nachdenken über Dichtkunst lange bestimmt hat. Im Unterschied zu alternativen Konzepten betont der Begriff der Poetik das Moment des Hervorbringens, des Produzierens von Kunst im Medium der Sprache. Andere Konzepte wie der von Platon und Aristoteles favorisierte Begriff der mimesis, der Nachahmung, oder der im 18. Jahrhundert zunehmend prominent werdende Begriff der aisthesis, der sinnlichen Wahrnehmung, rücken so in den Hintergrund. Natürlich ist die mimesis ein fester Bestandteil der antiken wie der modernen Poetik, und auch die Ausbildung der modernen Ästhetik kann in gewisser Weise als eine Weiterführung der antiken Poetik verstanden werden. Aber die Poetik erschöpft sich weder in der Idee, dass alle Kunst auf Nachahmung beruhe, wie Aristoteles meinte, noch setzt sie den Akzent allein auf das eher rezeptive Moment des Wahrnehmens und Empfindens. Sie steht, historisch in einer großen Nähe zur Rhetorik verortet, vielmehr für ein Denken ein, das sich auf die sprachliche Seite des literarischen Kunstwerks konzentriert. Von der Antike bis zu Roman Jakobson und Henri Meschonnic reichen die Versuche, eine spezifisch poetische Funktion der Sprache als Grundlage der Dichtkunst wie des Nachdenkens über Dichtung herauszuarbeiten. Die Poetik stellt das sprachliche Kunstwerk in den Mittelpunkt, nicht um dieses zu mystifizieren, sondern um aus der Reflexion auf die Sprache heraus Zugang zu übergreifenden Fragen der Philosophie, der Geschichte, der Politik und der Ethik zu gewinnen. Die Poetik berührt sich damit nicht allein mit der
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Rhetorik, sondern zugleich mit der Philosophie. In gewisser Weise ist sie das vermittelnde Moment zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Rhetorik, die sich ganz auf die Frage nach der poetischen Verfasstheit der Sprache konzentriert, und der Philosophie, die einen Zugang zur Welt zu gewinnen versucht, der eher durch die logische Funktion der Sprache vermittelt ist. Dass die Dichtkunst eine privilegierte Form der Sprachverwendung wie der Weltzugewandtheit bedeutet, ist die Grundüberzeugung der Poetik im Spannungsfeld von Rhetorik und Philosophie. Vor diesem Hintergrund setzt die Arbeit drei unterschiedliche Schwerpunkte, um einen möglichst nachvollziehbaren Zugang zur Geschichte der Poetik zu ermöglichen. In einem ersten Schritt geht es um die Herausbildung der antiken Poetik in der Philosophie Platons und Aristoteles’ im Zeichen des Begriffes der Nachahmung. Als Alternative zu diesen wirkungsmächtigen philosophischen Konzepten, die die gesamte Geschichte der Poetik bestimmt haben, diskutiert die Arbeit die Schriften des Sophisten Gorgias als Beispiel für einen frühen rhetorischen Entwurf, der zugleich für einen anderen Anfang der Poetik einsteht. In einem zweiten Schritt geht es um die Ausbildung der Rhetorik im engeren Sinne. Den Ausgangspunkt bildet wiederum Aristoteles und, darauf auf bauend, die Ausprägung der römischen Rhetorik bei Cicero und Quintilian als einem umfassenden System des Wissens, das sich nicht, wie es in der Moderne häufig geschehen ist, auf das eine Moment der elocutio reduzieren lässt. So unterschiedliche Poetiken wie die von Horaz und (Pseudo-)Longinus, denen anschließend die Aufmerksamkeit gelten soll, bauen auf dem von Cicero und Quintilian errichteten System der Rhetorik auf, um die spezifische Leistung der Dichtkunst mit ihm in Übereinstimmung zu bringen. Mit dem Begriff des Erhabenen, den Longin in Anknüpfung an Platons Lehre des Enthusiasmus in die Poetik eingeführt hat, leitet die Arbeit zugleich zur Poetik der Moderne bei Kant und Hölderlin über. Kant rückt in den Blick, weil er in der Analytik des Erhabenen aus der Kritik der Urteilskraft die antike Lehre des Enthusiasmus auf eine spezifisch moderne Weise umgeformt hat, Hölderlin, weil er die Literatur der Moderne aus den Fesseln der aristotelischen Lehre der Nachahmung zu befreien suchte, um einen neuen Zugang zur Dichtkunst zu finden, der die beiden Momente der Theorie und der Praxis in sich vereinigt. Wie zu zeigen sein wird, hat Hölderlin die Grundlagen für eine Poetik geschaffen, die sich im Bewahren der antiken Grundlagen zugleich von diesen zu verabschie-
Einleitung
den weiß, um der modernen Poesie den Weg zu weisen. Abschließend skizziert die Arbeit kurz die Aktualität der Poetik in der Moderne. Da sich die Arbeit als eine Hinführung zur Poetik versteht, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wohl aber darauf, die Poetik im Durchgang durch ihre lange Geschichte als gemeinsamen Grund auch neuerer Literaturtheorien zur Geltung zu bringen.
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1. Theorie und Praxis der Dichtkunst
Zum Begriff der Poetik
Der Begriff der Poetik geht im Wesentlichen auf Platon und Aristoteles zurück. Er meint zunächst in einer allgemeinen Bedeutung die Dichtkunst überhaupt, und das heißt sowohl die von der Philosophie erarbeitete Theorie der Dichtkunst als auch das im engeren Sinne technische Wissen um die Dichtkunst, über das die Dichter selber verfügen: Das Wort ποιητικ ῆς findet sich erstmals bei Platon, seit Aristoteles häufig. Dieser bezeichnet im programmatischen Eingangssatz seiner ›Poetik‹ mit p. die Dichtkunst, die regelgerechte Beherrschung des dichterischen Metiers, im Gegensatz zum einzelnen Dichtwerk (π οίησις ). P. als eine von der Tätigkeit des Dichters unterschiedliche Disziplin des Darstellens dichterischer Phänomene […], als systematische Lehre vom Wesen und von der Wirkung der Poesie begann sich im ausgehenden 5. Jahrhundert unter dem Einfluß der Sophistik herauszubilden und etablierte sich in der peripatetischen Schultradition. Seit dem 3. Jh. v. Chr. hieß der die Regeln der P. analysierende Theoretiker (ebenso wie der philologische Erforscher und Interpret von Dichtung) κριτικός , später überwiegend γρα μμ ατικός . Die Grenzen zwischen P. und Literaturkritik waren fließend, ähnlich die zwischen P. und der viel früher etablierten Rhetorik.1
Wenn die Poetik in einem übergreifenden Sinne als die systematische Lehre vom Wesen und der Wirkung der Dichtkunst bestimmt wird, dann kann sie ganz allgemein als »die Theorie der ›Poesie‹ bzw. der ›Literatur‹
1 | G. Scholtz, Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Band 7: P-Q, Basel 1989, S. 1011-1023, hier S. 1011.
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im weitesten Sinne«2 gelten. Poetik und Theorie der Literatur meinen zunächst dasselbe. Allerdings verbinden sich mit dieser weiten Bedeutung von Poetik, die auch im Folgenden zugrunde gelegt wird, von Beginn an gewisse Einschränkungen. Denn als Lehre von der Dichtkunst im allgemeinen meint die Poetik eine Theorie, die aus der Literatur selbst gewonnen ist. In der Poetik geht es um eine Theorie der Literatur, die nicht einfach Theorie von etwas ist, sondern die zugleich auf eine bestimmte Weise von ihrem Gegenstand affiziert ist. Die Grenze zwischen Theorie und Gegenstand, die den meisten Wissenschaften eingeschrieben ist, ist in der Poetik auf eigentümliche Art und Weise aufgehoben. Daher ist der für die Poetik zuständige Experte auch nicht der Philosoph, sondern der kritikós, der Kritiker. Poetik und Kritik sind – von Gorgias, Aristoteles und Longin bis zu Roland Barthes, Peter Szondi und Henri Meschonnic – unauflöslich miteinander verbunden. Kritik meint in diesem Sinne jedoch zunächst nicht die normative Bewertung von Kunstwerken, wie sie sich in der rhetorischen Tradition etabliert hat, sondern die regelgeleitete Analyse der Dichtung. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wer für die Poetik eigentlich zuständig ist. In Frage kommen neben dem Philosophen vor allem der Rhetor und der Dichter: der Philosoph, weil die Frage nach dem Wesen der Dichtkunst eine genuin philosophische Frage ist, der Rhetor, weil der Bereich der Dichtkunst als Sonderfall in das umfassende Gebiet der Sprache fällt, der Dichter, weil er am besten mit den Regeln der Dichtkunst vertraut ist. Vor diesem Hintergrund hat sich in der Geschichte der Poetik – neben den Autorpoetiken – lange Zeit eine besondere Verbundenheit mit der Philosophie auf der einen und der Rhetorik auf der anderen Seite erhalten.3 Das ist um so bemerkenswerter, als Philosophie und Rhetorik spätestens seit Platon in einem scheinbar unauflösbaren Widerstreit befangen zu sein scheinen. Entsprechend unterschiedlich sieht das Dichtungsverständnis des Sophisten Gorgias und der Philosophen Platon oder Aristoteles aus. Nimmt man die Be2 | Dietmar Till, Poetik A., in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding. Band 6: Must-Pop, Tübingen 2003, S. 1304-1307, hier S. 1304. 3 | »Die Rhetorik als umfassende ›Kunst der Rede‹ ist auch für die speziellere ›dichterische‹ Rede zuständig, vielfach wird diese Einordnung der P. in das Gebiet der Rhetorik in die Opposition von ›Poesie‹ als ›gebundener Rede‹ (oratio ligata) und rhetorischer ›Kunstprosa‹ als ›ungebundener Rede‹ (oratio soluta) gefaßt.« Ebd., S. 1306.
1. Theorie und Praxis der Dichtkunst
deutung von Poetik als Theorie der Literatur in einem weiten Sinne aber ernst, dann fällt die Poetik nicht nur als Gegenstand in die unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie, der Rhetorik und der Dichtung, sondern verbindet sie vielmehr. Denn es ist ja nicht nur so, dass die Philosophie die Frage nach dem Wesen der Dichtkunst zu beantworten sucht, sie tut dies selbst in einer spezifisch sprachlichen Form, die sehr unterschiedlich ausfallen kann – vom Lehrgedicht wie bei Parmenides über den sokratischen Dialog oder der wissenschaftlichen Abhandlung, wie sie Aristoteles begründet hat, bis zum Traktat wie bei Benjamin, dem Essay wie bei Montaigne oder dem Bildungsroman des Geistes wie bei Hegel. Ähnliches gilt für die Rhetorik, die als allgemeine Kunst der Rede nicht nur für die Poetik zuständig ist, sondern die insbesondere im Bereich der elocutio selbst von der Dichtung lernt und ihre Gesetze häufig aus den Beispielen großer Dichter ableitet. In dem Maße, in dem sie zwischen Philosophie und Rhetorik steht, kann die Poetik als Theorie der Literatur daher zugleich für sich beanspruchen, zwischen den unterschiedlichen Ansätzen der Philosophie, Rhetorik und Dichtung zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund ist für die folgenden Überlegungen von entscheidender Bedeutung, dass der Begriff der Poetik die Frage nach dem Wesen der Dichtkunst, wie sie die Philosophie stellt, und den Regeln der Dichtkunst, für die sich die Rhetorik interessiert, miteinander verbindet. Der hier zugrunde gelegte Begriff der Poetik leistet dies, indem er die Theorie und die Praxis der Dichtkunst verknüpft. Das hat schon Peter Szondi in seiner Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Poetik und Geschichtsphilosophie im deutschen Idealismus hervorgehoben: »Poetik ist die Lehre von der Dichtung, oder aber die Lehre von der Dic ht k u nst , was nicht ganz dasselbe bedeutet. Denn während die Lehre von der Dichtung eher eine T heor ie der Poesie darstellt […], stellt die Lehre von der Dic ht k u nst eine Lehre von der poetischen Tec h n i k dar, eine Kunde davon, wie Dichtung zu verfertigen sei.«4 Szondi benennt damit das grundlegende Problem der Unterscheidung zwischen einer Theorie der Poesie und einer Lehre von der poetischen Technik zwischen Philosophie und Rhetorik, um zugleich festzuhalten: »Beide Seiten, die philosophische und auch die technische, dürfen im Grund nicht ausei4 | Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung. Herausgegeben von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt a.M. 1974, S. 13.
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nandergerissen werden.«5 Für die literaturtheoretische Reflexion kann dieser weite Begriff der Poetik als Grundlage dienen, da er für sich beansprucht, beide Seiten, die Theorie der Dichtkunst und die praktische Lehre der poetischen Technik, miteinander zu verbinden: Die Poetik, so stellt Werner Jung in seiner Kleinen Geschichte der Poetik fest, »ist zugleich ›Lehre von der Dichtkunst‹ und Theorie der Dichtkunst, also, wenn man so will, ebenso praktisch wie theoretisch.«6 Wenn sich in diesem umfassenden Begriff der Poetik eine Theorie der Dichtkunst im weiteren und eine Lehre der poetischen Technik im engeren Sinne unterscheiden lassen, dann folgt daraus allerdings zugleich, dass der Begriff seit seinen Anfängen in der Antike auf ganz verschiedene Weise verstanden werden konnte: als Grund einer deskriptiven oder normativen Lehre von dem, was Dichtkunst ist oder zu sein hat. Noch Harald Fricke greift auf diese Unterscheidung zurück, wenn er im Reallexikon der Literaturwissenschaft den allgemeinen Begriff der Poetik vorzustellen sucht: Poetik (1): eine rein deskriptive, also theoretisch analysierende, philosophisch systematisierende oder auch historisch typologisierende Beschäftigung mit vergangenen, gegenwärtigen oder zeitübergreifenden Grundsätzen, Regeln, Verfahrensweisen beim Schreiben von Literatur bzw. im engeren Sinne von Poesie.7
Frickes Definition entscheidet sich zunächst für das Verständnis der Poetik als einer deskriptiven Form, die gleichermaßen theoretisch analysierend, philosophisch systematisierend und historisch typologisierend sei. Die Frage, die sich vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Poetik stellt, ist aber nicht nur, wie sich die theoretische Analyse und die philosophische Systematik trennen lassen, sondern darüber hinaus, wie sich Theorie und Geschichte dichterischer Formen miteinander verknüpfen lassen. Neben die grundsätzliche Unterscheidung von Theorie der Dichtkunst und Lehre der poetischen Technik tritt damit ein zweites Problem, das der Vermittlung von Theorie oder System der Dichtkunst und ihrer Geschichte. Die Poetik, so lässt sich aus der allgemeinen Defi5 | Ebd. 6 | Werner Jung, Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997, S. 7. 7 | Harald Fricke, Poetik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band III. P-Z, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin/New York 2007, S. 100-105, hier S. 100.
1. Theorie und Praxis der Dichtkunst
nition der Poetik ableiten, muss auch das Kunststück leisten können, eine tendenziell zeitunabhängige Theorie der Dichtkunst mit der historischen Einsicht in spezifische literarische Formen zu vereinbaren. Die Vereinbarkeit von Theorie und Geschichte der Dichtung stellt neben der Frage nach den unterschiedlichen Begründungen einer Theorie der Literatur eines der Hauptprobleme der Poetik dar. Fricke selbst trägt diesem Problem allerdings nur am Rande Rechnung, wenn er die erste Bedeutung der Poetik als Poetologie oder Theorie der Poetizität in Texten bezeichnet, um sie zugleich von der zweiten Bedeutung abzugrenzen, die den »Inbegriff jener immanenten dichterischen Regeln oder Maximen, denen ein Autor (›Autorpoetik‹) bzw. ein poetischer Text (›Werkpoetik‹) bzw. ein literarisches Genre (›Gattungspoetik‹) stillschweigend folgt«8, meint. Denn diese zweite Bedeutung setzt zwar voraus, dass es so etwas wie jedem Text inhärente Regeln gibt, lässt aber offen, für wen diese Regeln gelten und wer sie geschaffen hat. Die dritte Bedeutung des Begriffes Poetik, von der Fricke ausgeht, meint dagegen »ein explizit normierendes System poetischer Regeln, das in geschlossener Form (z.B. als Lehrgedicht oder als gelehrte Abhandlung) schriftlich niedergelegt wird und für Dichtung insgesamt oder doch für einen bestimmten Teilbereich verbindliche Geltung beansprucht«9 . Nach Fricke erfüllt erst diese dritte Bedeutung den eigentlichen Begriff der Poetik. Die Poetik wäre demnach letztlich ein normatives, schriftlich fixiertes System der Dichtkunst, ohne dass damit schon ausgemacht wäre, ob die dort festgehaltenen Regeln aus der Dichtkunst selbst, der Rhetorik oder der Philosophie hervorgegangen wären, noch wie sie eigentlich begründet sind. Die Frage nach der Begründung einer Poetik im allgemeinen Sinne als Theorie und Praxis der Dichtkunst vor ihrer geschichtlichen Ausprägung in deskriptive oder normative Formen spart Fricke aus, um sich letztlich für einen engen Begriff von Poetik als System poetischer Regeln zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund plädiert die vorliegende Untersuchung wie bereits angedeutet dafür, ausgehend von Szondi bei einem möglichst weiten Begriff von Poetik als Theorie und Praxis der Dichtkunst anzusetzen. Der Begriff der Poetik, der hier zugrunde gelegt wird, ist dementsprechend in gewisser Weise weder normativ noch deskriptiv. Es geht keineswegs darum, ein System von Regeln zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich 8 | Ebd., S. 100f. 9 | Ebd., S. 101.
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bestimmen lässt, was gute, schlechte oder überhaupt keine Dichtkunst ist. Ebenso wenig aber geht es darum, historisch vorliegende Formen der Dichtung einfach zu beschreiben, um aus ihnen historisch variable Regeln abzuleiten. Auch wenn das zweite Verfahren grundsätzlich plausibel erscheinen mag: Die Frage nach einer je nachdem normativen oder deskriptiven Poetik setzt immer schon einen Begriff des Poetischen (oder in Frickes Terminologie: der »Poetizität«) voraus, um den es insbesondere der philosophischen Reflexion der Dichtkunst von Anfang an ging. Bestand haben kann die Poetik daher nur als eine Theorie der Literatur, die die philosophische Frage nach dem Wesen der Dichtkunst und die rhetorische Bestimmung der Regeln der Dichtung mit der Literatur in ihrer ästhetischen wie historischen Eigenart verbindet. Das führt allerdings zugleich dazu, dass die Poetik, die hier in Frage steht, gerade nicht als ein System konzipiert sein kann, das sich seinem Gegenstandsbereich gegenüber indifferent verhält. In Frage steht mit anderen Worten nicht allein die philosophische oder rhetorische Bestimmung der Dichtkunst, sondern umgekehrt auch die poetologische Bestimmung von Philosophie und Rhetorik. Erst aus diesem Wechselspiel ergibt sich ein Begriff der Poetik, der sich, so die Hoffnung der folgenden Überlegungen, für die Literaturtheorie noch immer als tragfähig erweisen wird. Mit diesen Prämissen setzt die Untersuchung zugleich zwei zunächst voneinander getrennte Schwerpunkte. Der Blick richtet sich zunächst auf die antiken Grundlagen der Poetik, wie sie die Philosophie auf der einen und die Sophistik auf der anderen Seite vorgegeben haben. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht neben Platon vor allem Aristoteles, der als erster beanspruchen kann, eine im philosophischen Sinne zusammenhängende Abhandlung über die Dichtkunst verfasst zu haben, die für die Geschichte der Poetik von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung gewesen ist. In einem zweiten Schritt wendet sich die Untersuchung denjenigen Poetiken zu, die im Unterschied zu Platon und Aristoteles in einer größeren Nähe zur der Rhetorik stehen, neben dem anderen Ursprung der Poetik, den Gorgias verkörpert, namentlich Longins Theorie des Erhabenen und die ganz und gar auf das Lehrgebäude der Rhetorik fußende Ars poetica von Horaz. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition der Philosophie und der Rhetorik und dem nicht minder kritischen Dialog mit der Dichtung einen Begriff der Poetik zu entwickeln, der der literaturtheoretischen Reflexion auch heute noch als Grundlage dienen kann.
2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon 1. Z wischen P hilosophie und P oesie : D as doppelte G esicht der D ichtung bei P l aton Für die Suche nach einem tragfähigen Begriff der Poetik ist die platonische Philosophie ein zwiespältiger Ausgangspunkt. Zwiespältig ist sie nicht allein, weil die platonische Theorie der Dichtkunst Grundentscheidungen trifft, die so unterschiedliche Konzeptionen wie die aristotelische Poetik und die ihr gegenläufigen Theorien des Erhabenen von Longin bis zu Kant beeinflusst haben. Zwiespältig ist sie darüber hinaus, weil ihr selbst eine geheime Ambivalenz in der Einschätzung der Dichtkunst eingeschrieben ist. Platon, so lässt sich schon dem Historischen Wörterbuch der Philosophie entnehmen, »zeigt ein ambivalentes Verhältnis zur Dichtung«10, das auf der einen Seite auf eine selbst poetische Weise nach den Ursachen der Dichtkunst fragt, auf der anderen Seite aber eine harsche Kritik der Dichtkunst mit sich bringt, die in der Politeia ausgeführt wird und zum vielzitierten Ausschluss der Dichter aus dem idealen Staate führt. Als philosophischer Schriftsteller in der Kunstform des Dialogs steht Platon selbst in der Tradition der Dichtung, als Philosoph muss er ihr aber einen inneren Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit verwehren, so lässt sich das paradoxe Verhältnis der platonischen Philosophie zur Dichtung zusammenfassen. Dazu zählt auch der Mythos um Platons eigenen Werdegang als Philosophen: In seiner Jugend, so die Legende, hatte er selbst Tragödien geschrieben, diese aber verbrannt, weil er sich mit der Dichtkunst nicht mehr identifizieren konnte. Wie bei Hesiod und Parmenides, so treffen auch bei Platon die Ansprüche von Philosophie und Dichtung aufeinander, aber so, dass sie sich zu entmischen beginnen, indem 10 | G. Scholtz, Poetik, S. 1012.
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sich die Philosophie von der Dichtung löst und als eine höhere Form des Wissens zu etablieren versucht. Platons Philosophie bietet in ihrem zwiespältigen Verhältnis zur Dichtung so einen doppelten Ausgangspunkt nicht allein für die Poetik, sondern zugleich für die Selbstinszenierung der Philosophie als der alleinigen Statthalterin der Wahrheit, die auch über die Poesie bestimmt. Noch in einem zweiten Sinne aber ist die Philosophie Platons als Ausgangspunkt für die Geschichte der Poetik zwiespältig. Platon ist in einer Zeit als Philosoph hervorgetreten, in der der Herrschaftsanspruch der Philosophie als Statthalterin der Wahrheit nicht unangefochten war. Nicht von ungefähr stellt Platon in vielen seiner frühen Dialoge, vor allem im Georgias und Protagoras, seinen Protagonisten Sokrates in einen Wettstreit mit den Sophisten. Die platonische Philosophie setzt den Sieg über den Sophismus voraus, und sie inszeniert ihn selber, indem sie mit Sokrates diejenige Figur einführt, die diesen Sieg erstritten hat. Die Sophisten verkörpern in diesem Zusammenhang allerdings keineswegs, wie Platons Dialoge es nahe legen, eine tendenziell unmoralische und geldgierige Berufsgruppe von Volksverführen, sondern eine für die Antike spezifische Form der Aufklärung, die sich im Kontext der Genese der Demokratie an der Kunst der Rhetorik ausrichtet. Der Konflikt zwischen dem Platonismus und den Sophisten geht daher zu wesentlichen Teilen auf den Streit zwischen den Ansprüchen der Philosophie und der Rhetorik zurück, und das Problem der Poetik besteht darin, zwischen diesen beiden antagonistischen Parteien vermitteln zu müssen, da die Dichtkunst an beiden, an der Kunst der Rhetorik wie der Wahrheitsfähigkeit der Philosophie, gleichermaßen teilhat. Die grundlegende Ambivalenz, die Platons Verhältnis zur Dichtkunst bestimmt, schlägt sich auch in der unterschiedlichen Einschätzung ihres Stellenwertes in seinen Schriften nieder. Auf der einen Seite gibt er eine Begründung der Dichtkunst durch den Begriff des Enthusiasmus, der eine göttliche Inspiration meint, die den Menschen erst zur Poesie befähigt. Bis zu modernen Theorien des Erhabenen hin wird diese Begründung ihre Berechtigung behalten. Auf der anderen Seite vertritt Platon die extreme Position einer grundsätzlichen Abwertung der Dichtung, die er als eine schädliche und im moralischen Sinne verwerfliche Form der Nachahmung begreift. Vor diesem Hintergrund erscheint es unabdingbar, dieser grundlegenden Ambivalenz im Folgenden Rechnung zu tragen. In einem ersten Schritt steht daher der Begriff des Enthusiasmus,
2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon
wie er im Ion entwickelt wird, als Grundlage der platonischen Poetik im Zentrum der Untersuchung. In einem zweiten Schritt geht es um die Rekonstruktion der Kritik, die die Dichtkunst in der Politeia erfährt. Abschließend rückt mit dem Phaidros der Dialog in den Blick, der neben dem Symposion die vielleicht komplexeste Auseinandersetzung der platonischen Philosophie mit der Dichtkunst aufweist, indem er die Frage nach dem inneren Zusammenhang von Eros, Schönheit und Wahrheit stellt.
2. P l atons L ehre des E nthusiasmus im I on Platon hat sich in den unterschiedlichen Phasen seines Schaffens immer wieder mit der Frage nach dem grundsätzlichen Status der Dichtkunst auseinandergesetzt. Das früheste Zeugnis seiner Beschäftigung mit der Dichtung ist der Dialog Ion, das späteste der Dialog Phaidros. Zeitlich zwischen beiden steht die berühmt gewordene Kritik der Dichter in der Politeia. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, liegt allen drei Texten ein ambivalentes Verhältnis zur Dichtkunst zugrunde, das die platonische Philosophie insgesamt bestimmt. Die Grundzüge sowohl der platonischen Theorie als auch der Kritik der Dichtkunst lassen sich bereits im Ion erkennen. Sokrates fragt dort den erfolgreichen Rhapsoden nach dem Geheimnis seiner Kunst. Die Ausgangsvoraussetzung der sokratischen Frage nach dem Verhältnis des Rhapsoden Ion zum Dichter Homer lautet, dass es darum gehe, »seinen Sinn zu verstehen, nicht seine Worte nur […]. Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was ein Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint, ist unmöglich.« (Ion 530c) Mit diesen Worten formuliert Sokrates eine Prämisse, die für die Geschichte der Poetik eine kaum zu überschätzende Bedeutung erlangen sollte. Sie besteht darin, dass es dem Interpreten mündlicher oder schriftlicher Texte in einem hermeneutischen Akt der Übersetzung darum gehe, nicht das Wort, sondern den »Sinn« der Rede zu verstehen. Platon bestimmt die Poetik als eine Hermeneutik des Sinns und bereitet damit zugleich das Verständnis der modernen Hermeneutik als einer Lehre des Verstehens vor, wie sie Schleiermacher, der nicht zufällig auch als Übersetzer Platons hervorgetreten ist, ausformuliert hat.
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Noch auf andere Weise aber hat Platon die Auffassung der Dichtkunst geprägt: durch seine Lehre der dichterischen Inspiration, des Enthusiasmus. Auf die kritische Frage, welche Form des Wissens den Rhapsoden denn überhaupt erst zu seiner Auslegungskunst befähige, hält Sokrates eine überraschende Antwort bereit. Es geschehe durch »eine göttliche Kraft, welche dich bewegt« (Ion 533d), jedenfalls nicht durch rationale Einsicht und Wissen. Entscheidend ist demnach, dass der Dichter erst durch eine Form der göttlichen Begeisterung dazu imstande gesetzt wird, zu dichten: Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst bei, gut über den Homeros zu reden, wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft, welche dich bewegt, wie in dem Steine, der vom Euripides der Magnet, gewöhnlich aber der Herakleiische genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehen, so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen aneinander hängt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine angehängt. Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte (Ion 533d-534a).
Dichtkunst begreift Platon als einen von den Göttern inspirierten Furor.11 Indem er die poetische Fähigkeit als eine Kraft darstellt, die auf göttliche Beseelung zurückgeht, legt Platon die Grundlagen für den Begriff des Enthusiasmus, der die Theorien des Erhabenen von Longin bis zu Kant bestimmt.12 Zugleich grenzt er den Begriff des Enthusiasmus von allen rhetorischen Vorgaben ab. Platon stellt den Dichter als jemanden dar, der in seiner Kunst keineswegs über eine spezielle Technik und damit über ein Wissen über das von ihm Vollbrachte verfügt, wie es die Rhetorik behauptet, sondern als jemanden, der nicht selbst Urheber seines Werkes 11 | Zum Ursprung der Auffassung von Dichtung als Furor vgl. E. N. Tigerstedt, Furor Poeticus: Poetic Inspiration in Greek Literature before Democritus and Plato, in: Journal of Ideas, Vol. 31, No. 2 (Apr.-Jun. 1970), S. 163-178. 12 | Zur modernen Ausbildung der Poetik des Erhabenen vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995.
2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon
sei, da dieses nur durch die Beseelung durch die göttlichen Musen zustande komme. Den Ursprung der Dichtung, auf den sich Hesiod noch in emphatischer Weise berief, als er an den Beginn der Theogonie seine Berufung durch den Anruf der Musen legitimierte, nimmt Platon auf und diskreditiert ihn zugleich. »Der Philosoph enterbt den Dichter, indem er ihm die Fähigkeit abspricht, Wissen zu überliefern; das Zeugnis der Musen erkennt er nicht mehr an«13 , so kommentiert Heinz Schlaffer die Ausgangsszene der Trennung von Dichtung und Philosophie, die Platon im Ion inszeniert. Entsprechend doppeldeutig fällt seine Kennzeichnung der Dichtkunst aus. Auf der einen Seite stellt er sie als eine außerordentliche Macht dar, die göttlichen Ursprungs sei. Auf der anderen Seite aber stellt er die Dichtkunst unter den Generalverdacht, ihre Macht sei nur irrationalen Grundlagen zu verdanken. In der Argumentation des Sokrates, der die Kraft des Rhapsoden mit der eines Magneten vergleicht, die sich konzentrisch auf die Zuhörer ausbreite, erscheint Ions Redekunst als der Schlusspunkt eines komplexen Übertragungsprozesses, an dessen Ursprung die göttliche Beseelung des Dichters steht: »Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.« (Ion 534b) Dass Platon, der damit zugleich die Grundlagen für das Genieverständnis des 18. Jahrhunderts legt, den Dichter als einen von Gott Besessenen darstellt, ist nur die eine Seite der Medaille. Ihre Kehrseite liegt in der Annahme von der grundsätzlichen Vernunftlosigkeit des Dichters. Beruht die künstlerische Leistung des Dichters auf der Übersetzung der göttlichen Kraft, die ihn bewegt, so geschehe dies auf eine Weise, die das Bewusstsein außer Kraft setze und die Vernunft übersteige. Platon behauptet daher, »daß diese schönen Gedichte nichts Menschliches sind und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt.« (Ion 534e) Ausgeschlossen wird so, dass die Dichter über ein ihnen eigenes Wissen verfügen, das sie erst befähigt, zu dichten. »Poetisches Wissen war nämlich fragwürdig geworden, seitdem sich ein selbständiges Wesen außerhalb der Poesie ge-
13 | Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 2005, S. 21.
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bildet hatte«14 , hält Schlaffer vor diesem Hintergrund fest. Fortan gebe es kein Wissen aus der Dichtung mehr, sondern nur noch ein Wissen über die Dichtung, für das die Philosophie verantwortlich sei. »Wenn es auch kein Wissen aus der Dichtung geben kann, so ist immerhin ein Wissen über Dichtung möglich.«15 In Platons kritischer Darstellung tritt die Dichtung zwar als eine Kunst auf, aber als eine solche, die über das eigene Tun keine Rechenschaft abzulegen vermag und sich dem Anspruch des philosophischen Wissens daher versagen muss. Vor diesem Hintergrund kann der Dialog zwischen Ion und Sokrates gleich in doppelter Hinsicht als eine Ursprungsszene der Poetik begriffen werden. Mit dem Begriff des Enthusiasmus begründet sie die Idee, dass der Ursprung der Dichtkunst außerhalb der Grenzen des gewöhnlichen Menschseins stehe. Darüber hinaus nimmt sie eine Vorreiterrolle für die moderne Hermeneutik ein. Die grundsätzliche Bedeutung der sokratischen Bestimmung der Hermeneutik hat Uwe Japp hervorgehoben. Sie liegt in der Definition der Hermeneutik als einer Form der Übersetzung begründet, die sich dem Vorrang des Sinns und Verstehens verschreibt. Im Blick auf den Ion formuliert Japp: »Dieser Beschreibung zufolge kommt es darauf an, nicht nur die Worte, sondern den Sinn eines Textes zu verstehen. Im Grunde gibt es kein anderes Problem der Hermeneutik.«16 Platon erscheint so zwar als Wegbereiter der modernen Hermeneutik. Die Inanspruchnahme der platonischen Philosophie für die Hermeneutik verweist jedoch zugleich auf ein damit verbundenes Problem. So überzeugend Japps Erklärung auch insgesamt ist, so sehr verbirgt sich in ihr ein zweites, kritisches Argument. Denn indem Sokrates zeigt, dass Ion über den Sinn der Worte, die er an den Zuhörer weitergibt, selbst keine Rechenschaft abzulegen vermag, unterstreicht er zunächst nur, dass der hermeneutische Verstehensakt der rhetorischen Kunst Ions gegenüber fremd bleibt. In der kritischen Distanz zwischen der Literatur und dem Wissen von ihr, die sich in dem Streitgespräch zwischen Ion und Sokrates öffnet, liegt ein Problem beschlossen, das die hermeneutischen Positionen von Platon bis zu Gadamer im Kern betrifft: die Zen14 | Ebd., S. 13. 15 | Ebd. 16 | Uwe Japp, Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhanges in den philologischen Wissenschaften, München 1977, S. 583.
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trierung der Hermeneutik auf den Zusammenhang von Sinn und Verstehen. Denn offenkundig geht es Ion, der Sokrates so gut es geht Rede und Antwort zu stehen versucht, gar nicht um eine Weise des sinnvollen Verstehens des Dichters, sondern um eine rhetorisch vermittelte Form der Erschütterung, die er an seine Hörer weiterzugeben versucht. Die Tatsache, dass auch der performativen Rhetorik des Ion eine Form des Wissens zugrunde liegt, die sich mit der Kategorie des Verstehens nicht erfassen lässt, ist Platon fremd, weist aber im Vorgriff auf die moderne Hermeneutik bereits auf deren Grenzen hin. Als Ursprungsszene der Hermeneutik steht Platons Dialog Ion zugleich an der Schnittstelle, an der der philosophische Logos und die rhetorische Macht des Wortes auseinander treten. Mit dem Ion öffnet sich eine Kluft zwischen dem Wesen der Dichtung und dem Wissen der Philosophie, die zu überbrücken der Poetik bis heute aufgegeben ist.
3. D ie K ritik der D ichtkunst in der P oliteia Die Einschätzung, die die Dichtkunst im Ion erfahren hat, blieb zwar zwiespältig, schien aber das Recht der Dichtkunst in bestimmten Grenzen durchaus anzuerkennen. Um so überraschender muss vor diesem Hintergrund die Tatsache anmuten, dass Platon in der Politeia zu einer umfassenden Kritik der Dichtkunst ausholt, die das Verhältnis von Philosophie und Literatur bis heute geprägt hat. Zwar ist der zentrale Begriff der Politeia nicht die Dichtkunst, sondern die Gerechtigkeit. Gerade die Frage nach der Gerechtigkeit aber führt Platon zu einer scharfen Verurteilung der Dichtkunst, die der Voraussetzung gehorcht, dass allein der wissende Philosoph dazu in der Lage sei, den idealen Staat zu regieren. Für die Verurteilung der Dichter in der Politeia sind mehrere Gründe verantwortlich. Auf der einen Seite will Platon verhindern, dass die Dichter erzieherische Aufgaben für die Wächter des Staates erhalten. Die Kritik der Poeten ist vor allem darin begründet, dass in der Dichtung sowohl Götter als auch Heroen nicht immer im günstigen Licht dargestellt werden, mithin keinesfalls als ideale Vorbilder gelten können, die für die Ausbildung der Bürger von Nutzen sein könnten. Weil die Dichtkunst, insbesondere Epos und Tragödie, denen sich dann Aristoteles zuwenden wird, die affektive Verstrickung des Menschen mit Naturmächten zeigt, denen er unterlegen ist, die Philosophie aber gerade auf eine Herrschaft
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des Geistes hinarbeitet, die sich über die Natur erheben will, widerstrebt die Dichtkunst der philosophischen Suche nach Gerechtigkeit, indem sie die Seelen der Bürger durch schlechte Vorbilder auf falsche Wege führt. Platons Urteil gegen die Dichtkunst unterstellt dieser, die Seelen der Menschen zu korrumpieren und sich damit als eine politisch und moralisch verwerfliche Form der Rede zu erweisen. Noch auf einer anderen Ebene aber vollzieht sich die Kritik der Dichtung, die die Politeia bestimmt. Das zweite Argument, das Platon bemüht, um die Dichtkunst zu disqualifizieren, liegt im Begriff der mimesis, der Nachahmung, begründet.17 Platon vertritt die These, »daß vom Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend seien und der andern Dinge, worüber sie dichten, die Wahrheit aber gar nicht berühren« (Politeia 600e). Selbst vor der immensen Autorität Homers schreckt Platon nicht zurück, um sein vernichtendes Urteil zu sprechen. Der Dichter gehört aus dem Staat verbannt: Einem Mann also, wie es scheint, der sich künstlicherweise vielgestaltig zeigen kann und alle Dinge nachahmen, wenn uns der selbst in die Stadt käme und auch seine Dichtungen uns darstellen wollte, dem würden wir Verehrung bezeigen als einem heiligen und wunderbaren und anmutigen Mann, würden ihm aber sagen, daß ein solcher bei uns in der Stadt nicht sei und auch nicht hineinkommen dürfe, und würden ihn, das Haupt mit vieler Salbe begossen und mit Wolle bekränzt, in eine andere Stadt geleiten, selbst aber uns mit dem strengeren und minder anmutigen Dichter und Fabellehrer der Nützlichkeit wegen begnügen, der uns den Vortrag des würdigen Mannes nachahmend darstellt und, was er sagt, nach den Vorschriften redet, die wir schon anfänglich zu Gesetzen gemacht haben, als wir es unternahmen, die Krieger zu erziehen. (Politeia 398a-b)
Die Kritik des Dichters, die bis zu seinem Ausschluss aus dem Stadt führt, könnte auf den ersten Blick radikaler nicht sein. Die Ambivalenz, die Platons Auseinandersetzung mit der Dichtkunst zugrunde liegt, ist jedoch selbst in ihrer radikalen Abwertung noch spürbar. Auf der einen Seite geht von den Dichtern eine eigentümliche Faszination aus, die sie wie Zauberer erscheinen lässt, die aus dem Nichts Vieles hervorbringen kön17 | Zur doppelten Kritik der Dichtkunst bei Platon vgl. Stephen Halliwell, The Republic’s Two Critiques of Poetry (Book II 376c-III 398b, Book X 595a-608b), in: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeai, Berlin 2011, S. 243-257.
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nen. Heilig, wunderbar und anmutig erscheint der Dichter dem Philosophen, gerade aufgrund der geheimnisvollen Gabe, die ihn kennzeichnet, zugleich aber fremd und irritierend. Die Vielgestaltigkeit der Dichtkunst, die aus dem Nichts zu schöpfen scheint, legt Platon ihr daher zum Nachteil aus. Denn die Wirkung der Dichtkunst auf den Menschen besteht für ihn in einer Verführung, gegen die allein eine Kunst helfen könnte, die sich einzig nach den Gesetzen des Staates richtet. Das Kriterium, das Platon anlegt, um gute und schlechte Poesie voneinander zu unterscheiden, ist der politische Nutzen, der aus ihr zu ziehen ist. In dem Maße, in dem die Dichter der Stadt nutzen können, da sie die letztlich politischen Direktiven der Machthaber umsetzen, finden sie Eingang in den Staat. Die wunderbare Macht der Dichter, die sich nicht vom politischen Nutzen bestimmen lassen, muss dagegen zu ihrem Ausschluss führen. Platon unterscheidet demnach zwischen einer Form der Dichtung, die dem Philosophen unlieb sein muss, weil sie das Viele und zugleich das Schlechte darstellt, und einer Form der Dichtung, die ihm lieb und teuer sein kann, weil sie sich auf das Eine, im politischen und ethischen Sinne Gute beschränkt. Im Endeffekt handelt es sich um nichts weniger als um einen totalitären Anspruch auf Wahrheit und Zensur, den Platon in der Politeia etabliert. Über die politischen Voraussetzungen der platonischen Philosophie stellt Manfred Fuhrmann daher fest: »Die Philosophie, die er aus dem sokratischen Ansatz hervortrieb, hatte demgemäß Totalitätsanspruch; sie propagierte rigorose, ethisch und metaphysisch begründete gesellschaftspolitische Ziele.«18 Die Kritik, die die Dichtkunst vor diesem Hintergrund in der Politeia findet, ist demnach gleich doppelt begründet: erkenntnistheoretisch, indem sie einen Zusammenhang zwischen der Dichtung und dem Vielen etabliert, dem die philosophische Einsicht in das unteilbare Eine gegenübersteht, die schon Parmenides geleitet hat, und ethisch, da sie der Dichtung zuspricht, dem Schlechten zuzuneigen. Die doppelte Begründung der Kritik der Dichtung kulminiert im zehnten Buch der Politeia in der Kennzeichnung der Nachahmung als dem Grund sowohl der Malerei als auch der Dichtkunst. Das entscheidende Argument, das Platon vorbringt, scheint zunächst wieder ethisch bestimmt zu sein. Es lautet: »mir scheint dergleichen alles ein Verderb zu sein für die Seelen der Zuhörer« (Politeia 18 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 72.
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595b). Der ethischen Verurteilung des Dichters stellt Sokrates allerdings eine merkwürdige affektive Betroffenheit an die Seite: »Ich muß mich wohl erklären, sprach ich, wiewohl eine Liebe und Scheu, die ich von Kindheit an für Homeros hege, mich hindern will zu reden. Denn er mag doch wohl aller dieser trefflichen Tragiker erster Lehre und Anführer gewesen sein. Aber kein Mann soll uns doch über die Wahrheit gehen; also muß ich wohl sagen, was ich denke.« (Politeia 595b-c) Indem er Homer als den Lehrer der Tragiker darstellt, nimmt Platon nicht allein die Vorrangstellung von Epos und Tragödie vorweg, die Aristoteles in der Poetik leitet. Zugleich wird deutlich, dass die rationale Kritik der Dichtkunst aus erkenntnistheoretischen und ethischen Prämissen sich zunächst vor ein grundlegendes Problem gestellt: die affektiv begründete Neigung zur Dichtkunst, die Sokrates ausdrücklich mit Liebe (philia) und Ehrfurcht (aidos) begründet. Liebe und ehrfürchtiger Respekt gebieten eine Hochschätzung der Dichtkunst, die der folgenden Verurteilung ihrer schädlichen Wirkung entgegensteht. Die Entscheidung aber fällt gegen die Affekte und zugunsten der Wahrheit (aletheia) aus. Die Aufgabe, die Wahrheit über die Dichtung im allgemeinen zu sagen, stellt Platon über die partikulare Anerkennung des einen Dichters Homer als Begründer des Epos und Lehrer der Tragiker. Die Philosophie erhebt sich über die eigenen Affekte, um die Wahrheit über die Dichtkunst sagen zu können. Das Urteil, das aus dem Wahrheitsanspruch der Philosophie resultiert, fällt dementsprechend vernichtend aus. Das zunächst ethisch begründete Argument, die Dichtkunst korrumpiere die menschliche Seele, erweitert Platon in einem zweiten Schritt durch die ontologische Bestimmung der dichterischen Darstellung als eine Form der Nachahmung. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Unterscheidung zwischen dem Gott, dem Handwerker und dem Künstler. Der Gott erscheint als Demiurg der wahren Welt, der Handwerker als sein spezialisierter Nachahmer im Kleinen. Während der Handwerker aber nur für bestimmte Dinge zuständig sei, also entweder Schreiner, Klempner oder Schlosser usw. sei, sind die Dichter oder Maler Handwerker, die vorgeben, schlechthin alles nachahmen zu können. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Nachahmung zugleich eine wachsende Entfernung von der Wahrheit vollziehe, über die der Demiurg noch unmittelbar verfügt: »Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein Weniges trifft, und das im Schattenbild.« (Politeia 598b). Mit dieser These hat Pla-
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tons kritisches Argument sein Ziel erreicht: Kunst erscheint als eine Verfertigung von bloßen Schattenbildern, die mit der wahren Welt nichts zu tun haben. »Der Verfertiger des Schattenbildes, der Nachbildner, sagen wir doch, verstehe von dem, was wirklich ist, nichts, sondern nur davon, wie jedes erscheine.« (Politeia 601b) Wie schon im Ion, so wird dem Dichter auch in der Politeia das Wissen entzogen. Die platonische Trennung zwischen der Wahrheit und den Erscheinungen wirkt auf die von Philosophie und Dichtkunst zurück. Die Philosophie steht ganz auf der Seite der Wahrheit, Dichtkunst und Malerei dagegen ganz auf der der bloßen Erscheinung. Dichtung erweist sich als nichts denn ein bloßes Spiel mit Trugbildern: »Dieses also, wie sich zeigt, ist uns ziemlich klargeworden, daß der Nachbildner nichts der Rede Wertes versteht von dem, was er nachbildet, sondern die Nachbildung eben nur ein Spiel ist und kein Ernst, und daß die, die sich mit der tragischen Dichtung beschäftigen in Jamben sowohl als in Hexametern, insgesamt Nachbildner sind so gut als irgendeiner.« (Politeia 602b) Die Argumentation endet dementsprechend mit der Kritik des Homer, dem Sokrates zunächst noch Liebe und Scheu gegenüber aufgebracht hatte. Die Wahrheit verpflichtet ihn, gegen die eigene affektive Bindung an die Dichtung vorzugehen und dem Pfad der Philosophie zu folgen. Platons Kritik der Dichtkunst ist in der Politeia demnach doppelt begründet, erkenntnistheoretisch wie ethisch. Sie geht von der grundlegenden Idee aus, dass die zunehmende Entfernung von der Wahrheit, die der dichterischen Nachahmung zugrunde liegt, mit einer moralischen Verschlechterung einhergehe, die vom Dichter ihren Ausgang nehme: »daß der nachbildende Dichter jedem eine schlechte Verfassung in seiner Seele aufrichtet« (Politeia 605b), lautet der Vorwurf, der in der Vorstellung mündet, dass es dem Dichter sogar möglich sei, die um Tugend bemühten Männer zum Schlechten zu führen. Der Grund dafür liegt in der affektiven Erschütterung, die von der Dichtkunst ausgeht: »Auch die Besten von uns, wenn wir den Homeros hören oder einen andern Tragödiendichter, wie er uns einen Helden darstellt in trauriger Bewegung und eine lange Klagerede haltend, oder auch singende und sich heftig gebärdende: so wird uns wohl zumute, wir geben uns hin und folgen mitempfindend, und die Sache sehr ernsthaft nehmend, loben wir den als einen guten Dichter, der uns am meisten in diesen Zustand versetzt.« (Politeia 605d) Die Dichter, so wird aus Platons kritischen Worten deutlich, sind auf eine im doppelten Sinne wunderbare Weise dazu in der Lage, den Menschen
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in einen Zustand zu bringen, der sie außer sich selbst setzt, und dies gelingt ihnen auf eine Weise, die der rationalen Begründung der Philosophie entgegengesetzt ist, durch das Pathos, die dem Philosophen unheimlich anmutende Macht der Affekte. Selbst in der so eindeutig kritischen Beurteilung der Dichtkunst in der Politeia tritt so jene Ambivalenz zutage, die Platons Verhältnis zur Dichtkunst insgesamt bestimmt: Ihr wird eine in der Affektnatur begründete Macht der Erschütterung zugesprochen, die den Menschen zu ergreifen in der Lage ist, gerade aufgrund ihrer mangelnden rationalen und ethischen Bestimmtheit aber von der Philosophie in Schach gehalten werden muss. Die platonische Suche nach der Wahrheit konstituiert sich allein im Ausschluss der Dichtkunst. Was beide trotz ihrer gegensätzlichen Ausrichtung miteinander verbindet, ist, wie der Phaidros zeigt, der Eros als gemeinsamer Grund.
4. D ichtung , L iebe und S chönheit im P haidros In ähnlicher Weise wie im Ion bestimmt Platon im Phaidros Dichtung als eine Form der göttlichen Beseelung des Menschen. Zugleich nimmt er die kritische Perspektive der Politeia auf, gibt ihr aber eine ironische Wendung. Eine spezifisch neue Perspektive auf die Dichtung gewinnt der Phaidros, indem er nach der Liebe und dem Begehren als dem gemeinsamen Grund von Wahrheit und Schönheit fragt. Denn in dem Maße, in dem es im Phaidros wie auch im Symposion um das Problem der Liebe geht, steht auch die Liebe zum Wort und damit die Macht der Philologie im Fokus der Untersuchung. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem inneren Zusammenhang von Liebe und Schönheit kommt Platon demzufolge auch auf die Dichtkunst zu sprechen, auf eine Weise allerdings, die sich nicht allein als ein Sprechen über die Dichtung zu erkennen gibt, sondern in einem nicht einfach zu bestimmenden Sinne auch als ein Sprechen aus der Liebe heraus, das den gemeinsamen Grund von Dichtung und Philosophie ausmacht. Den Ausgangspunkt des Dialogs bildet die Frage nach dem Status einer Liebesrede des berühmten Schreibers Lysias, die Phaidros in eigenen Worten an Sokrates wiedergibt. Schon in dieser voraussetzungsreichen Ausgangslage wird die Komplexität des Dialogs deutlich: Neben dem übergreifenden Thema Liebe und Schönheit geht es auf grundsätzliche Weise um das Verhältnis von Schrift und Rede und die Weitergabe des
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richtigen Sinns in einem komplizierten Vermittlungsvorgang, der von Lysias über Phaidros zu Sokrates und schließlich zu Platon selbst reicht. Platon trägt diesem Problem Rechnung, indem er die sokratische Reflexion auf den Status des eigenen Sprechens immer wieder in den Dialog einschiebt. Der Text erhält dadurch eine zweite, reflexive Ebene, die ihn gerade im Sinne der einleitend skizzierten Poetik nicht nur als Theorie, sondern zugleich als eine Praxis der Dichtkunst ausweist, die die alte Gebundenheit der Dichtung an den Mythos aufnimmt und ironisch bricht. Die Ausgangsthese über die Liebe, die Lysias aufstellt und mit der sich Sokrates in der Folge kritisch auseinandersetzt, lautet, dass man eher dem Nichtverliebten als dem Verliebten günstig sein solle. Der Grund für diese auf den ersten Blick paradox anmutende Annahme, die in gewisser Weise an die dialektische und rhetorische Kunst der Sophisten erinnert, liegt, in ähnlicher Weise wie die kritische Bewertung der Dichtkunst im Ion, in der mangelnden Vernunft der Liebenden beschlossen: Wer liebt, scheint den Verstand verloren zu haben, seiner Sinne und der Vernunft nicht mehr mächtig und daher unberechenbar zu sein. Der Liebende stellt aufgrund des ihm zugrundeliegenden fehlenden Verstandes demnach eine Bedrohung dar, vor der man sich allein schützen kann, indem man keinen Umgang mit ihm pflegt. Das grundlegende Paradox der Ausführungen von Lysias besteht darin, dass der Liebende gerade aufgrund seiner Liebe keine Erhörung finden darf. Sokrates geht es in seiner kunstvollen Replik vor allem darum, die Rede des Lysias zu widerlegen und Phaidros damit die Flausen auszutreiben, die Lysias ihm in den Kopf gesetzt hat. Die Argumentation des Sokrates läuft vor diesem Hintergrund auf ein Lob der Liebe als einer göttlichen Form des Wahnsinns heraus, die den Phaidros an den Ion zurückverweist und zugleich über ihn hinaus reicht. Das zeigt sich auch auf der Ebene der sprachlichen Darstellung des Dialogs selbst: Sokrates stellt sich in seiner Rede – wenn auch ironisch gebrochen – unter die Macht einer scheinbar göttlichen Beseelung, die sich zugleich auf seine Umwelt ausweitet und Phaidros in den Bann schlägt. Steht Phaidros zu Beginn des Dialogs umnebelt unter dem Einfluss von Lysias, so gerät er im Verlauf des Dialogs zunehmend unter den nicht minder wirkmächtigen Zauber des Sokrates. Die Gegenrede des Sokrates zu den Ausführungen von Lysias, die Phaidros als dessen Sprachrohr ungefiltert weitergibt, ist von Beginn an ironisch angelegt. »Ganz göttlich allerdings, Freund, so dass ich außer
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mir bin« (Phaidros 234d), sei er, beseelt durch die Widergabe der Rede des Lysias durch Phaidros. Sokrates behauptet daher einleitend, dass »ich aus fremden Strömen durch Zuhören angefüllt worden bin, wie ein Gefäß« (Phaidros 235 d). Er greift damit auf die Lehre des Enthusiasmus zurück, wie sie bereits der Ion erörtert hatte. Sokrates stellt sich als hilfloses Opfer der göttlichen Redemacht des Phaidros dar. Die Ironie, die seinen Worten zugrunde liegt, verrät zugleich eine Distanz zum Prinzip des Enthusiasmus, das bereits der Ion als eine spezifisch vernunftlose Macht der Rede gekennzeichnet hatte. Mit der ihm eigenen Waffe der Ironie beansprucht Sokrates zugleich, die vernunftlose Rede der Dichtkunst in eine im philosophischen Sinne vernünftige Form der Rede zu überführen. Das gesamte Gespräch zwischen den beiden ist vor diesem Hintergrund mit ironischen Anspielungen nur so gespickt, etwa wenn Sokrates seine Rede mit einem traditionellen Musenanruf beginnt und schon schnell verwundert feststellen muss, »daß ich schon Verse spreche« (Phaidros 241d). Die Rede des Sokrates wird damit zum einen selbst als eine genuin poetische Form des Sprechens bestimmt. Zugleich aber wird der poetische Duktus der Rede immer wieder ironisch unterlaufen und so an die logische Macht der Philosophie zurückverwiesen. In der Form einer kritischen Reserve gegen die vernunftlose Überwältigung des Menschen durch die Dichtkunst ist die sokratische Rede zugleich als eine Reinigung, als katharsis konzipiert, deren Ziel darin besteht, den vom Eros der Rede ergriffenen Phaidros wieder auf die Beine der Vernunft zu stellen. Der erste Schritt der Argumentation gegen Lysias, die Sokrates verfolgt, besteht in der genauen Bestimmung des eigentlichen Gegenstandes seiner Rede, der Liebe. Sokrates unterscheidet in diesem Zusammenhang prinzipiell zwischen Liebe als vernunftloser Begierde und Liebe als vernunftbestimmter Lust an der Schönheit. Im ersten Fall erscheint die Liebe als ein sinnliches Zeichen oder körperliches Symptom und damit als ein heftiger Affekt, der den Menschen vernunftlos überfällt. Im zweiten Fall erscheint Liebe als ein geistiges Prinzip, das aufgrund seiner übersinnlichen Natur zugleich den Philosophen wortgemäß zum Weisheitsliebenden bestimmt. Nicht alle Liebe ist diesen Ausführungen des Sokrates zufolge schlecht, sondern nur die, die bloß sinnliche und nicht geistige Ziele verfolgt. In einem zweiten Schritt führt Sokrates die Liebe auf drei unterschiedliche Arten des Wahnsinns zurück. Unterschieden sind die drei Formen des Wahnsinns durch die ihnen vorstehenden Götter: Apollo steht für
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die Weissagung und damit für die Philosophie, Dionysos für die Musen und damit für die Dichtkunst, Aphrodite und Eros für die Liebe selbst. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Sokrates zunächst eine positive Bewertung des göttlichen Wahnsinns abgibt, der der Liebe zugrunde liegt: »um so viel vortrefflicher ist auch nach dem Zeugnis der Alten ein göttlicher Wahnsinn als eine bloß menschliche Verständigkeit« (Phaidros 244d), meint Sokrates, um anzudeuten, dass es unterschiedliche, legitime und illegitime Möglichkeiten des Menschen gibt, durch eine göttliche Beseelung im Zeichen der Liebe aus sich selbst herauszutreten. Die Frage nach den unterschiedlichen Formen des göttlichen Wahnsinns, der dazu in der Lage ist, den Menschen enthusiastisch zu beseelen, verknüpft Sokrates mit der grundsätzlichen Frage nach der Beschaffenheit der Seele. Dabei greift er bewusst auf die poetische Form der Gleichnisrede zurück, die dem Enthusiasmus korrespondiert: Die Seele gleiche demnach »der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers.« (Phaidros 246a) Die Strategie, die Sokrates im Phaidros verfolgt, ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Sie besteht im wesentlichen darin, die unzureichende Bestimmung philosophischer Sachverhalte durch eine Erzählung zu widerlegen, die selbst im Kleide der mythischen Gleichnisrede auftritt. Sokrates bedient sich der Mittel, die auch die Dichtkunst auszeichnen: Er greift auf eine allegorische Darstellung der menschlichen Seele als eines von zwei Pferden gezogenen Gespanns zurück, um so zu einer philosophischen Aussage über die Natur der menschlichen Seele zu gelangen. Der sprachlichen Logik seines Bildes folgend behauptet er, dass das Gespann, das die Seele ausmacht, bei den Göttern aus guten Rössern zusammengesetzt sei, bei den Menschen aber aus gemischten, also guten und schlechten Rössern zu gleichen Maßen. Den Enthusiasmus, den er im Ion in einem rhetorischen Sinne als vernunftlose Überwältigung des Menschen durch einen Gott kritisiert hatte, bestimmt Sokrates nun umgekehrt als die Liebe zum Schönen, die die Götter zum Aufschwung der Seele bis zu einem Ort jenseits des Himmels führt. Der Enthusiasmus der Liebe besteht in einer Aufwärtsbewegung zum Rand des Himmels: »Denn die unsterblich Genannten, wenn sie an den äußersten Rand gekommen sind, wenden sich hinauswärts und stehen so auf dem Rücken des Himmels, und hier stehend reißt sie der Umschwung mit fort, und sie schauen, was außerhalb des Himmels ist.« (Phaidros 247b) Was außerhalb des Himmels ist, sind die ewigen Wiesen des Seins, eine Welt der Unveränderlichkeit und
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der Identität, die sich von der vergänglichen Welt der Erscheinung unterscheidet und so Zugang zur Wahrheit eröffnet. »In diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, erblicken sie auch die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche eine andere ist in einem anderen von den Dingen, die wir jetzt seiend nennen, sondern in dem, was wahrhaft ist, befindliche wahre Wissenschaft« (Phaidros 247e). In einem emphatischen Sinne geht es um das Wahrhafte und die damit verbundene wahre Wissenschaft, die Philosophie. Zwar bleibt es zunächst den Göttern vorbehalten, diese Welt der Ewigkeit und der Wahrheit in einer Form des Umschwungs der Seele zu erkennen. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist jedoch die, wie es um die menschliche Erkenntnisfähigkeit des Wahren bestellt ist. Sokrates geht in diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass die Seelen, die die Götter bei ihrem Aufschwung begleitet haben, etwas von dieser Kraft behalten, und zwar in einer bestimmten Abstufung: An erster Stelle steht der »Keim eines Mannes, der ein Freund der Weisheit oder des Schönen werden wird, oder ein den Musen und der Liebe Dienender« (Phaidros 248d), mithin der Philosoph, gleich nach ihm aber die Liebenden und die Dichter. Erst danach kommen Könige, Staatsmänner und andere wichtige Ämter. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der Schönheit mehr als eine körperliche Form der Begierde erkennen, nämlich vielmehr ein geistiges Prinzip, das sie dazu anspornt, den Aufschwung der Götter, wenn auch unvollkommen, zu wiederholen. Die Fähigkeit, die Sokrates den Menschen zugrunde legt, ist die einer Erinnerung (anamnesis) an das einmal Geschaute, das in einer Form der Wiederholung erneut erreicht werden soll. Unter dieser Voraussetzung, die in vielerlei Hinsicht auf die psychoanalytische Gedächtnistheorie vorausgreift,19 etabliert Platon einen fundamentalen Zusammenhang zwischen der Philosophie und der schon im antiken Epos wirksamen Kraft der Erinnerung: »Und dies ist Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt als seiend bezeichnen, und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet. Daher auch wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: denn sie ist immer durch Erinnerung soviel als möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befin19 | Vgl. Marco Solinas, Via Platonica zum Unbewussten. Platon und Freud. Mit einer Vorbemerkung von Mario Vigetti aus dem Italienischen von Antonio Staude, Wien/Berlin 2012.
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dend eben deshalb göttlich ist.« (Phaidros 249c) Der Vorzug des Philosophierens vor allen anderen Tätigkeiten des Menschen kommt dadurch zur Geltung, dass dieses in einer steten Erinnerung an das Göttliche begriffen ist. Was Platon an dieser Stelle nicht ausdrücklich berücksichtigt, jedoch gegen die einseitige Privilegierung der Philosophie gegenüber allen anderen menschlichen Tätigkeiten und insbesondere der Dichtkunst in seine Überlegungen eingetragen werden kann, ist der eigentümliche Zusammenhang von Dichtung und Erinnerung, den der Phaidros nahelegt. Schon das Homersche Epos gibt sich ja als ein gewaltiges Erinnerungswerk zu erkennen, wenn es mit dem ersten Satz vom Zorn des Peliden aus einer mythischen, längst vergangenen Zeit berichtet. Ebenso bedient sich der Rhapsode, der die Epen mündlich überliefert, einer bestimmten Form der Gedächtniskunst, um die Verse Homers wie Ion behalten und aufsagen zu können. Platon berücksichtigt diesen Zusammenhang zwischen der Dichtkunst und der rhetorischen Kunst der memoria nicht, da der gesamte Dialog mit einer umfassenden Kritik der Rhetorik endet, die der sokratischen Darstellung zufolge als eine Kunst zu begreifen ist, die im Gegensatz zur vernunftorientierten Philosophie nur dem Schein zugewandt sei und »ein Übel als ein Gut« (Phaidros 260c) ansehe. Wie auch immer die Kritik der Rhetorik an dieser Stelle aber zu bewerten ist: Sowohl die Philosophie als auch die Dichtkunst und Beredsamkeit erscheinen in Platons Darstellung als unterschiedliche Formen göttlicher Beseelung, denen mit Apollo und Dionysos jene Götter vorstehen, die Friedrich Nietzsche in seiner Abhandlung über Die Geburt der Tragödie zusammenführen wird, um zugleich die von Platon etablierte Trennung von Philosophie und Dichtkunst rückgängig zu machen.20 Zwar wird die Verurteilung der Dichtung aus der Politeia im Phaidros nicht im strengen Sinne zurückgenommen. »Der Phaidros enthält somit keine Rehabilitation der gesamten griechischen Dichtung von Homer bis zu den Tragikern; er bestätigt vielmehr das Verdammungsurteil, das Platon zeit seines Lebens über sie verhängt hat«21, meint Manfred Fuhrmann. Platon gibt im Phaidros jedoch nicht nur eine eigene, wenn auch nicht weiter ausgeführte Bestimmung der Dichtkunst als göttlicher Beseelung und Erinne20 | Zu Apollon und Dionysos bei Platon und Nietzsche vgl. Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ (Kap. 1-12), Stuttgart/Weimar 1992, S. 66. 21 | Ebd., S. 80.
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rungskunst. Sein Dialog steht selbst unter dem Zeichen einer ironischen Auseinandersetzung mit der Dichtung, die einer strikten Trennung von Philosophie und Dichtkunst, wie sie die Politeia propagiert, tendenziell zuwiderläuft.
5. P l aton , die D ichtkunst und die P hilosophie Trotz ihrer grundsätzlich kritischen Einstellung zur Dichtung ist Platons Lehre der Dichtkunst für den Begriff und die Geschichte der Poetik von kaum zu überschätzender Bedeutung. Das gilt nicht nur für die Theorie des Enthusiasmus, die der Ion entfaltet und die auf einer veränderten rhetorischen Grundlage von Longin in seinem Traktat über das Erhaben wiederaufgenommen werden konnte. Die Darstellung der Dichtkunst in der Politeia läuft darüber hinaus auf eine erkenntnistheoretisch wie ethische begründete Kritik der Nachahmung hinaus, jenem Begriff, den Aristoteles dann auf scheinbar neutralere Weise in das Zentrum seiner Poetik stellen wird. Die grundlegende Ambivalenz, die der Dichtkunst in allen platonischen Dialogen zukommt, liegt in ihrer Bestimmung als eine Form der göttlichen Beseelung begründet, die den Menschen auf der einen Seite über die eigenen Grenzen hinausträgt und den Göttern annähert, auf der anderen Seite aber dazu führt, dass er in der enthusiastischen Form der Rede, die der Dichtung zugrunde liegt, die Vernunft verliert, die für die Philosophie unabdingbar ist. Wenn Dichtung in der Politeia als eine Form der Nachahmung dargestellt wird, die sich ontologisch wie moralisch von der Welt des Wahren unaufhörlich entfernt, dann geht der Phaidros von einem inneren Zusammenhang zwischen Philosophie, Dichtkunst und Erinnerung aus, der nicht nur in der Rhetorik seinen Platz hat, sondern bis zur Genese der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert von Bedeutung bleiben wird. Entscheidend für das Verständnis der platonischen Theorie und Kritik der Dichtkunst ist demzufolge die Einsicht, dass selbst die harsche Verurteilung der Dichtung in der Politeia in einen poetologischen Zusammenhang eingebunden bleibt, der im Phaidros deutlich zur Geltung kommt. Einen noch immer aussagekräftigen Ansatz für die Poetik bildet Platon, da er Theorie und Praxis der Dichtkunst – wenn auch in kritischer Weise – in seinen Dialogen miteinander verbindet und die narrative Form des Mythos zur Kritik an der Dichtkunst nutzt. Die Wahrheit der Dich-
2. Theorie und Kritik der Dichtkunst bei Platon
tung besteht, paradox formuliert, darin, dass sie der Philosophie als dem von ihr begrifflich Unterschiedenen auf den Weg hilft.22 Platon markiert den Moment, an dem Philosophie und Dichtung zwar auseinander treten, zugleich aber noch aneinander gebunden bleiben, bevor sich ihre Wege endgültig trennen, wie es bei Aristoteles der Fall sein wird.
22 | Vor diesem Hintergrund stellt das Historische Wörterbuch der Rhetorik fest, dass bei Platon »in konservativer Grundtendenz, weiterhin von jener konstitutiven Beziehung zwischen Dichtung und Wahrheit ausgegangen wird, die doch in der zeitgenössischen Diskussion nachhaltig in Frage gestellt war.« W. Rösler, Poetik B., in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding. Band 6: MustPop, Tübingen 2003, S. 1307-1314, hier S. 1309.
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3. Die aristotelische Poetik 1. A ristoteles , P l aton und die S ophisten Die aristotelische Philosophie wie ihre Reflexion auf die Dichtkunst knüpft in vielerlei Hinsicht an Platon an. Nicht umsonst ist Aristoteles fast zwanzig Jahre lang Mitglied der platonischen Akademie gewesen. In einem wesentlichen Punkt aber weicht er von seinem Lehrer ab. Die Kritik der Dichtkunst, die Platon in der Politeia vorgebracht hat, teilt Aristoteles nicht. Ihm geht es um eine philosophische Wesensbestimmung der Dichtkunst jenseits ihrer politischen und moralischen Ächtung. Aristoteles kann für sich beanspruchen, mit der Poetik die erste systematische Abhandlung zur Dichtkunst vorgelegt zu haben. So hält schon Otfried Höffe fest: »Aristoteles’ Schrift Über die Dichtkunst (Peri poiêtikês) ist trotz ihrer Kürze einer der wirkungsmächtigsten Texte ihrer Art und fraglos das erste Werk, das seinem Gegenstand eine eigene Abhandlung widmet. Sie untersucht auf systematische Weise das Wesen der Dichtung und ihre Gattungen, vor allem die Tragödie, aber auch das Epos und ziemlich knapp die Komödie«23. Trotz ihres Anspruches, die erste systematische Wesensbestimmung der Kunst zu leisten, gehorcht auch die Poetik von Aristoteles historischen Voraussetzungen, die alles andere als selbstverständlich sind. Das betrifft auf der einen Seite ihr Verhältnis zu Platon, auf der anderen Seite das zu den Sophisten. Der Bezug der aristotelischen Poetik zu Platon ist entsprechend häufig von der Forschung thematisiert worden. Wie Manfred Fuhrmann festhält, hat Aristoteles »es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht, den Bann aufzuheben, den Platon im Namen seines ethischen Rigorismus über die Dichtkunst ver-
23 | Otfried Höffe, Einführung in Aristoteles’ Poetik, in: Aristoteles, Poetik. Klassiker auslegen, hg. von Otfried Höffe, Berlin 2009, S. 1-27, hier S. 1.
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hängt hatte.«24 Andererseits aber löst er sich auch nicht völlig von den platonischen Vorgaben. Insbesondere der für die Poetik zentrale Begriff der Nachahmung verweist Aristoteles an Platon zurück.25 Die aristotelische Poetik bleibt so in einer eigentümlich zwiespältigen Haltung zu den platonischen Vorgaben, die sie kritisch diskutiert, zugleich aber voraussetzt. Das gilt vor allem für das Verhältnis der Poetik zur Ethik: »Aristoteles wies einerseits die Forderung Platons zurück, daß die Dichtung heteronom sei, daß sie im Dienst an Moral und Politik aufgehen müsse; er wollte andererseits die Dichtung nicht zu einer gänzlich autonomen, von der Moral völlig gelösten Größe erhoben wissen.«26 Die aristotelische Auseinandersetzung mit Platon betrifft daher nicht allein den inneren Gehalt der Poetik, sondern das System der aristotelischen Philosophie im Ganzen. So unterhält die Poetik nicht nur zahlreiche Rückbezüge zu Platon, sondern mehr noch systeminterne Bezüge zur Ethik, Rhetorik und Erkenntnistheorie. Die Theorie der Dichtkunst ist nicht zu lösen von den allgemeinen Voraussetzungen der aristotelischen Philosophie, die an anderen Stellen begründet werden als in der kleinen Schrift, die heute unter dem Namen Poetik vorliegt. Weit weniger Beachtung als die Abhängigkeit von Platon hat das Verhältnis der aristotelischen Lehre von der Dichtkunst zur Sophistik gefunden. Das hat relativ einfache Gründe. Während es Aristoteles darum geht, die platonische Philosophie produktiv weiter zu entwickeln, teilt er mit seinem Lehrer die Verurteilung der sophistischen Lehre als einer bloßen Irrmeinung: eine »Scheinweisheit« (Met. 1004b) nennt er die Sophistik in der Metaphysik. Das setzt allerdings voraus, dass Aristoteles die Position der Sophisten bekannt sein musste: »the era of the sophists was the first great age of Greek theoretical writings in these areas, as in many others, and the treatises and handbooks which it produced were undoubtedly known to the author of the Poetics«27, stellt Stephen Halliwell fest. Nur findet sich in der Poetik kaum eine direkte Auseinandersetzung mit den Sophisten. Wenn es sie gibt, dann auf eine Art und Weise, die 24 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 70. 25 | »The central element in the relation between Plato and the Poetics is the concept of mimesis«, meint Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, London 1986, S. 21. 26 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 71. 27 | Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 8.
3. Die aristotelische Poetik
Aristoteles selbst nicht offenlegt. Der Grund für die allenfalls verdeckte Auseinandersetzung mit der Sophistik liegt in der Tatsache beschlossen, dass deren Lehre nicht einfach bereits von Platon überwunden worden ist, sondern ein noch immer wirkungsmächtiges Konkurrenzunternehmen sowohl zu der platonischen als auch zu der aristotelischen Theorie der Dichtkunst darstellt. Den Anspruch, als erster eine Abhandlung zur Poetik vorgelegt zu haben, muss Aristoteles wohl oder übel mit den Sophisten teilen. »It was the sophictic age, then, which had first broached the possibility of the formal and systematic treatment of poetry as an art.«28 In der sophistischen Lehre von der Dichtkunst und der aristotelischen Poetik liegen zwei grundsätzlich unterschiedliche Modelle vor, Dichtung zu begreifen. Eine Aufgabe der kritischen Diskussion der aristotelischen Position wird dementsprechend darin bestehen, die kaum mehr sichtbare Auseinandersetzung mit den Sophisten da einzutragen, wo sie sachlich am Platz ist, in der mythischen Bestimmung der Kunst, der Rolle der Affekte in der Tragödie und der Frage nach der Funktion der Sprache in der Dichtung. Noch auf einer dritten Ebene aber gehorcht die Poetik historischen Voraussetzungen, die nicht selbstverständlich sind. Denn auch den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung, die Dichtkunst und insbesondere die Tragödie, muss Aristoteles als ein geschichtliches Phänomen voraussetzen. Zu der Zeit, als Aristoteles die Poetik verfasste, war die große Zeit der Tragödie bereits vorüber. Zwar ist in der Poetik ein großes Interesse an einem ganz bestimmten literarischen Kanon, vor allem an Homer, Sophokles und Euripides spürbar, aus dem andere Autoren wie etwa Aischylos, Pindar und Hesiod tendenziell ausgeblendet werden. Selbst die Kunstformen des Epos und der Tragödie, die ihm in der Poetik als Leitfaden dienen, behandelt Aristoteles aber aus einer historischen Distanz heraus. In ähnlicher Weise wie in Hegels berüchtigtem Diktum vom Ende der Kunst gilt für Aristoteles, dass die Zeit der Tragödie vorbei und die der philosophischen Prosa gekommen ist. Dass er die Tragödie als historisches Phänomen voraussetzen muss, heißt allerdings noch lange nicht, dass Aristoteles selbst historisch denken würde. Das Gegenteil ist der Fall: Dort, wo Aristoteles auf geschichtliche Vorgänge eingeht und zum Beispiel die Tragödie aus dem Epos herleitet, orientiert er sich an einem Modell von Geschichte, das auf einer ganz 28 | Ebd., S. 9.
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bestimmten Auffassung der Natur beruht. So stellt schon Fuhrmann fest, »daß er mit Hilfe des Physis-Begriffes eine historische Entwicklung in einen naturgesetzlichen Prozeß umzudeuten sucht«29 . Die Entwicklung vom Epos zur Tragödie fasst Aristoteles am Leitfaden des Entelechie-Gedankens als eine quasi natürliche Folge, die von einer ihr innewohnenden Tendenz zur Vervollkommnung bestimmt ist. Das Ergebnis ist eine tendenziell normative Auffassung von Dichtkunst, die bestimmte Formen wie das Lehrgedicht oder die Hymnendichtung ebenso wenig berücksichtigt wie die Vertreter des Epos oder der Tragödie, die sich in das Bild eines natürlichen Reifeprozesses der Dichtkunst, der sich in der Tragödie erfüllt habe, nicht vorbehaltlos einfügen lassen.30 Die Poetik kann in ihrem grundsätzlichen Anspruch, die erste philosophische Bestimmung der Dichtkunst zu liefern, daher nicht vergessen machen, dass sie selbst Voraussetzungen gehorcht, die vor allem im aristotelischen Systemdenken und seiner kritischen Auseinandersetzung mit Platon auf der einen und der Sophistik auf der anderen Seite verwurzelt sind. Schon im Blick auf diese keineswegs selbstverständlichen Prämissen erscheint die Poetik, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, insgesamt als ein Versuch, die Dichtung zu rationalisieren, um sie so mit den ethischen und erkenntnistheoretischen Vorgaben der aristotelischen Philosophie kompatibel zu machen. Vor diesem Hintergrund deutet sich auch bei Aristoteles ein Konflikt zwischen dem grundsätzlichen Anspruch der Philosophie und dem der Dichtkunst an, den die Poetik zwar zu beschwichtigen sucht, der in der konkreten Deutung der sprachlichen Kunstwerke aber immer wieder auf bricht. Für die philosophische Auseinandersetzung mit der Literatur, wie sie von Aristoteles ihren Ausgang nimmt, scheint diese Spannung geradezu konstitutiv zu sein. Das erschwert die Aufgabe einer Poetik, die Ansprüche von Philosophie. Rhetorik und Dichtkunst in Übereinstimmung zu bringen, macht sie aber nicht unmöglich.
29 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 23. 30 | Fuhrmann schließt daher: »Die von ihm festgestellte Normativität ist die logische Folge seines Entelechie-Gedankens«. Ebd., S. 13.
3. Die aristotelische Poetik
2. A ufbau und S truk tur der P oetik Der Anspruch auf eine grundsätzliche und systematische Bestimmung der Dichtkunst, den die Poetik erhebt, wird noch auf einer anderen Ebene erschüttert. Wie manche andere Schriften des Aristoteles stellt die Poetik kein in sich geschlossenes Werk dar, wie es etwa – und auch hier nicht ohne Einschränkungen31 – die Physik, die Nikomachische Ethik oder die Metaphysik sind. Die Poetik zählt vielmehr zu den sogenannten esoterischen Schriften des Aristoteles, die der internen Lehre im Kreis der Akademie dienten. In gewisser Weise stellt sie so etwas wie ein Vorlesungsskript dar, in dem bestimmte Dinge zur Sprache kommen, andere aber auch ohne weitere Begründung weggelassen werden. Hinzu kommt noch, dass wesentliche Teile der Abhandlung, insbesondere ein zweites Buch, das u.a. auch die Komödie behandelt, verloren gegangen sind. Zwar ist die Poetik immer wieder als der kanonische Text aller bis heute vorliegenden Dichtungstheorien schlechthin begriffen worden. Dem steht aber der fragmentarische Charakter der Schrift entgegen, der jeden Anspruch auf Vollständigkeit vermissen lässt. Auf bau und Gestalt der aristotelischen Poetik haben vor diesem Hintergrund immer wieder zu Diskussionen geführt. So stellt Manfred Fuhrmann in seiner Abhandlung über Die Dichtungstheorie der Antike einleitend fest, dass »ein erhebliches Quantum von Unzulänglichkeiten und Unstimmigkeiten«32 die Schrift kennzeichnen. Er bemängelt u.a. das überlieferungsgeschichtlich bedingte Fehlen der Komödie und die unzureichende Einführung des zentralen Begriffes der katharsis, der in der Schrift selbst nur einmal vorkommt. Seine Kritik an der Systematik der Abhandlung verbindet er darüber hinaus mit dem Vorwurf stilistischer Mängel: »Zu diesen offensichtlichen kompositorischen Mängeln kommt noch die äußerst kahle und spröde Diktion«33. Fuhrmann spricht in diesem Zusammenhang sogar von »orakelhaftem Dunkel«34, das der Poetik zu eigen sei. Zugleich notiert er jedoch, »daß die kleine Abhandlung von intensiver Gedankenarbeit und einem untrüglichen Blick für Wesentli31 | Zu einem Überblick über die Schriften des Aristoteles vgl. Christof Rapp, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 2001. 32 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 2. 33 | Ebd., S. 3. 34 | Ebd.
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ches zeugt.«35 Zusammenfassend stellt er fest: »Die berechtigten Klagen über das abstoßende Gewand, in dem sich die Poetik dem Leser präsentiert, über die kompositorischen Mängel und die Knappheit der Diktion, dürfen also nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Schrift ihren Gegenstand im wesentlichen wohlgeordnet und in hinlänglich klarer Gedankenführung darbietet.«36 Die Gestalt der aristotelischen Poetik präsentiert sich demnach in einem doppelten Gewand. Der Leser hat es auf der einen Seite mit einer in vielen Punkten luzide argumentierenden Schrift zu tun, die als unvollständig überliefertes Vorlesungsskript jedoch zugleich über zahlreiche Mängel in der Systematik wie der Diktion verfügt. So ist der allgemeine Auf bau der Schrift zunächst denkbar einfach und klar strukturiert: Die Kapitel 1 bis 6 gehen auf die allgemeinen Grundlagen der Dichtkunst ein, Kapitel 6 bis 22, also der bei weitem größte Teil der Schrift, ist der Tragödie gewidmet. Kapitel 23 bis 26 beschäftigen sich abschließend mit dem Epos. Auf der anderen Seite aber lässt die Poetik zahlreiche Fragen offen, etwa die nach dem Ort, den der verlorengegangene Teil zur Komödie eingenommen hätte, oder dem Platz, der den vernachlässigten Formen aus dem Bereich des Lyrischen oder dem Lehrgedicht zuzugestehen wäre. Vor diesem Hintergrund kann die folgende Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik nicht auf Vollständigkeit zielen. Ihr geht es vielmehr darum, anhand der überlieferten Teile der Poetik die Grundbegriffe der aristotelischen Lehre der Dichtkunst kritisch zu diskutieren. In dem Maße, in dem sich das aristotelische Verständnis der historischen Gattungsform der Tragödie im Zentrum der Abhandlung steht, konzentriert sich die Untersuchung auf die Tragödie und der mit ihrer Bestimmung verbundenen Begriffe der Nachahmung, der Handlung und der Affekte, um so ein möglichst umfassendes Bild der Poetik zu geben.
35 | Ebd. 36 | Ebd., S. 6. In ganz ähnlicher Weise urteilt Stephen Halliwell: »Despite some moments of disjointedness and obscurity, the main structure of argument is clearly delineated, and the evidence suggests, that Aristotle regarded his theories as fully or sufficiently formed for his purpose.« Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 37.
3. Die aristotelische Poetik
3. W as ist D ichtung ? Wenn es der Philosophie als einer theoretischen Wissenschaft um die Erkenntnis von Wahrheit geht, dann muss sie sich darum bemühen, ihre eigene Erkenntnisfähigkeit angemessen zu begründen. »Die Wahrheit aber wissen wir nicht ohne Erkenntnis der Ursache« (Met. 993b), schreibt Aristoteles vor diesem Hintergrund in der Metaphysik. Die Erkenntnis der Ursache, um die es der theoretischen Philosophie im Ganzen geht, zielt seiner Auffassung zufolge auf das Wesen ab. »Es erhellt also, daß durch dieses, das Wesen (Substanz), auch ein jedes von jenem ist, so daß demnach Seiendes in erster Bedeutung (erstes Seiendes), welches nicht etwas Seiendes (in irgendeiner Beziehung), sondern schlechthin Seiendes, das Wesen sein dürfte.« (Met. 1028a) Das schlechthin Seiende, das, von dem etwas ausgesagt wird, nennt Aristoteles das Wesen (ousia). Dementsprechend geht es ihm in der Metaphysik um das Wesen der theoretischen Philosophie als Erkenntnis des Wahren. Zwar können die Ergebnisse der Metaphysik nicht umstandslos auf die Poetik übertragen werden. Aber auch in seiner Schrift über die Dichtkunst geht es Aristoteles von Anfang an darum, eine Wesensbestimmung der Kunst vorzulegen, die in Übereinstimmung mit den Prämissen seiner theoretischen Philosophie steht. Die ersten sechs Kapitel des Buches sind dementsprechend ganz der Frage nach den allgemeinen Grundlagen der Dichtkunst gewidmet. Die vordringliche Aufgabe besteht darin, den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung zu bestimmen. Aristoteles tut dies gleich im ersten Satz seiner Abhandlung: Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist. (Poet. 1447a)
Mit den ersten Worten der Poetik bestimmt Aristoteles den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung: »Von der Dichtkunst selbst« will er sprechen, um ihr Wesen bestimmen zu können. Das Vorgehen, dem Aristoteles sich anvertraut, wirkt auf den ersten Blick selbstverständlich. Dem ist aber keineswegs so. Denn in Übereinstimmung mit den allgemeinen Prämissen seiner Philosophie muss Aristoteles erst einmal voraussetzen,
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dass es so etwas wie die Dichtkunst selbst überhaupt gibt, dass also eine Wesensbestimmung der Dichtung möglich ist, weil diese über ein ihr zugrundeliegendes einheitliches Prinzip verfügt. Das bedeutet keineswegs, dass Aristoteles sich nicht für die besonderen Formen der Dichtkunst interessiert. Ganz im Gegenteil versucht er im Laufe seiner Untersuchung, ganz unterschiedliche Formen der Dichtung zu erfassen. Aber er geht von der grundlegenden Überzeugung aus, dass die Vielfalt der sprachlichen Phänomene, die als Dichtung bezeichnet werden, über ein ihnen innewohnendes Wesen verfügen, dass es erlaubt, sie alle unter dem Titel »Dichtkunst« zu subsumieren. Gerade diese Auffassung ist jedoch keinesfalls selbstverständlich. Denn es wäre ja durchaus denkbar, dass die Dichtkunst sich in derart unterschiedliche Gattungen und Formen unterscheidet, dass eine ihnen gemeinsame Wesensbestimmung über die bloße Bezeichnung hinaus nicht möglich wäre. In Frage steht in diesem Zusammenhang etwa, ob all die Formen, die seit dem 18. Jahrhundert unter dem Begriff der Lyrik zusammengefasst werden und die Aristoteles selbst noch gar nicht als eigene Gattungsform kennt,37 sich mit den gleichen Kriterien erfassen lassen, mit denen sich Epos und Tragödie bestimmen lassen. Wenn das nicht der Fall sein sollte, wäre es angemessener, nicht von einem einheitlichen Wesen der Dichtkunst zu sprechen, sondern eine Beschreibung vorzulegen, die ihren Ausgang von der nicht zu beherrschenden Vielfalt der Phänomene nimmt. Dass der Weg, den Aristoteles einschlägt, zwar nicht selbstverständlich, für die philosophische Theorie der Dichtkunst aber konstitutiv ist, hat bereits Heinz Schlaffer hervorgehoben. Er stellt den abstrakten Charakter der Poetik heraus: »›Dichtkunst‹, wörtlich: das Dichtungshafte (poietike) ist eine Abstraktion, die jenseits der auf seine Gattung beschränkten Erfahrungen eines früheren Sängers liegt und erst beim Anblick der gleichmäßig in Büchern versam37 | Auf das Fehlen der Lyrik in der Poetik hat die Forschung immer wieder hingewiesen. »Die Lyrik als eigenständiges Genus fehlt.« G. Scholtz, Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer. Band 7: P-Q, Basel 1989, S. 1011-1023, hier S. 1013. In ähnlicher Weise heißt es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik: »Schon bei Aristoteles selbst ist die gedankliche Schärfe der neuen Definition von Dichtung um den Preis erkauft, daß der Bereich der Lyrik unberücksichtigt bleibt.« Art. Poetik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding. Band 6: Must-Pop, Tübingen 2003, 13041393, hier S. 1312.
3. Die aristotelische Poetik
melten poetischen Werke gebildet werden konnte.«38 Die philosophische Theorie der Dichtkunst geht unter dem Namen der Poetik von Beginn an von einer Abstraktion aus, die es ihr erlaubt, die vielfältigen Phänomene dichterischer Leistungen unter einem Blick zusammen zu halten, obwohl auf den ersten Blick nicht klar ist, was ein Epiker wie Homer, ein Tragiker wie Sophokles oder ein Hymnendichter wie Pindar überhaupt gemein haben. Die Frage nach dem gemeinsamen Grund der Dichtkunst selbst unterscheidet den Philosophen daher zugleich vom Dichter. »Poetik formuliert ein Wissen, das den Poeten mangelt«39, schließt Schlaffer, um im Blick auf Plutarch von einer »Sicherung der philosophischen Herrschaft über die Poesie«40 zu sprechen. In etwas unbefangenerer Weise spricht Stephen Halliwell von einer Form der präskriptiven Kritik, die Aristoteles leite: »It is a type of prescriptive criticism which has the confidence to judge individual works by reference to ›first principles‹ of poetic art.«41 Wie auch immer das Verhältnis von Philosophie und Literatur im Einzelnen zu bestimmen ist: Die philosophische Reflexion der Dichtung, die mit Aristoteles ansetzt, zielt auf die Bestimmung des Wesens der Dichtkunst, um aus ihr eine Einheitlichkeit zu gewinne, die zugleich kritisch in Frage steht. Noch von einer anderen Seite her aber ist Aristoteles’ Vorgehen keineswegs selbstverständlich. So sehr er auch darauf dringen mag, ein einheitliches Prinzip der Dichtkunst vorzulegen, so sehr nennt er schon im ersten Satz der Abhandlung ganz unterschiedliche Dinge, die für seine Untersuchung von Relevanz sind. Wie bereits deutlich geworden ist, geht es Aristoteles zunächst darum, eine Aussage über das Wesen der Kunst zu treffen: Von der »Dichtkunst selbst« und von nichts anderem will er sprechen. Bereits im zweiten Halbsatz geht Aristoteles jedoch auf ein anderes Problem ein, auf die Frage nach den Gattungen, in die sich die Dichtkunst in ihrer Geschichte ausdifferenziert hat. Das liegt für ihn sicherlich nahe, ist doch die gesamte Schrift an der Folge von Tragödie, Epos und Komödie ausgerichtet. Wie die Theorie der Dichtkunst und die Typologie der Gattungsformen eigentlich zusammenhängen, ist da38 | Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen, S. 77. 39 | Ebd., S. 78. 40 | Ebd., S. 77. 41 | Stephen Halliwell, The Poetics of Aristotle. Translation and commentary, London 1987, S. 10.
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mit allerdings noch gar nicht geklärt. Und als wäre auch das noch nicht genug, fügt Aristoteles einen dritten Aspekt hinzu, die Frage nach der Wirkung der Dichtkunst, um schließlich mit dem Begriff der Handlung den zentralen Begriff einzuführen, mit dem er in der Folge vor allem im Blick auf die Tragödie operieren wird, ohne ihn an dieser Stelle bereits näher zu erläutern. Aus der eher technischen Frage, wie die Handlungen zusammengefügt werden müssen, leitet er sogleich zu den Teilen der Dichtung über. Am Schluss des ersten Satzes steht der alles in allem sehr vage Ausblick, dass alle Dinge, die irgendwie zum Thema gehören, in der Schrift auch Berücksichtigung finden. Der entschiedene Zugriff auf das Wesen der Dichtkunst verbindet sich im ersten Satz der Abhandlung mit einer Fülle an weiteren Bestimmungen, die bereits voraussetzen, was erst an späterer Stelle erläutert wird und implizit auf die Tragödie als die von Aristoteles privilegierte Form der Dichtkunst vorausweisen.
4. D ichtung und N achahmung Die Wesensbestimmung der Dichtkunst, die der erste Satz verspricht, liefert der zweite, indem er alle Formen der Dichtung, die in der Poetik Berücksichtigung finden, als Nachahmungen bezeichnet. Über den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung schreibt Aristoteles: Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen. (Poet. 1447a)
Die zentrale These, die Aristoteles im Blick auf das Wesen der Dichtkunst formuliert, ist die Aussage, alle Kunst sei Nachahmung. »Nachahmung soll also der Grundbegriff sein, von dem aus die weitere Bestimmung der Eigenart der Literatur ihren Ausgang zu nehmen hat« 42, kommentiert Ar42 | Arbogast Schmitt, Kommentar, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 5. Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 204.
3. Die aristotelische Poetik
bogast Schmitt. Stephen Halliwell hat in diesem Zusammenhang allerdings zugleich beklagt, dass gerade der zentrale Begriff der Nachahmung in der Poetik eigentümlich unbestimmt bleibt. »Aristotle’s Poetics leaves us with little more than suggestive aperçus and laconic observations to piece together his conception of poetic and related types of mimesis.«43 Schmitt hat diesem Eindruck in seinem umfassenden Kommentar zur Poetik widersprochen und darauf hingewiesen, dass es Aristoteles zunächst nur um eine möglichst allgemeine Einführung des Nachahmungsbegriffs geht: »Der Grund, warum Aristoteles ohne jede argumentative Rechtfertigung als erste und einfachste Bestimmung des Gegenstandsbereichs von Kunst und Literatur angibt, sie seien insgesamt Nachahmungen, ist daher, dass er tatsächlich mit der abstraktesten, auf jede Art künstlerischer Aktivität zutreffenden Bestimmung anfängt. Anders, als es die uns geläufige Vorstellung von einer ›Nachahmungspoetik‹ suggeriert, behauptet Aristoteles nirgends, Dichtung und Kunst überhaupt sollten sich um eine möglichst getreue Wiedergabe irgendeiner ihnen vorgegebenen Wirklichkeit bemühen.«44 Schmitt verschiebt das Problem damit auf die Frage nach dem Korrelat der Nachahmung. In Frage steht aber zunächst, ob überhaupt und wenn ja in welchem Sinne wirklich jede Art künstlerischer Aktivität als Nachahmung zu begreifen ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass sich Aristoteles mit der Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung (mimesis) wiederum Platon anschließt, ohne allerdings dessen Verurteilung der Kunst zu teilen. Im Gegenteil: Gerade der Begriff, der bei Platon als Grundlage der Kritik der Dichtkunst dient, markiert nun in einer scheinbar unvoreingenommenen Weise den Mittelpunkt der aristotelischen Poetik. Noch in einer anderen Hinsicht ist das von Bedeutung. Mit der Übernahme des platonischen Mimesis-Begriffes wendet sich Aristoteles zugleich gegen die ganz anders argumentierende Tradition der Sophisten, die Dichtkunst nicht auf das Prinzip der Nachahmung bezogen haben, sondern im Rahmen eines rhetorischen Verständnisses ganz allgemein auf das der Sprache. Mit dem Begriff der Nachahmung will Aristoteles von Beginn an keine formale Theorie der Dichtkunst vorlegen, die wie die Sophisten an einer bestimmten Form der Sprachverwendung ansetzt, die die Dichtung von
43 | Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 122. 44 | Arbogast Schmitt, Aristoteles, S. 204.
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anderen sprachlichen Formen unterscheidet.45 Ebenso wenig aber zielt er wie noch sein Lehrer Platon auf den fehlenden Wirklichkeitsbezug der Dichtkunst in der Bestimmung der Nachahmung als täuschende Fiktion. Was Nachahmung selbst genau ist, bleibt damit zwar zunächst noch in der Schwebe. Deutlich wird jedoch bereits an dieser Stelle, dass Aristoteles die Dichtkunst im Unterschied zu neueren Literaturtheorien nicht an die Existenz einer spezifisch poetischen Form der Sprache bindet und der Begriff der Nachahmung seiner Auffassung zufolge nicht auf die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit verweist, die noch Platon bewegt hatte. Vielmehr scheint sich die besondere Bedeutung der Nachahmung für die Dichtkunst bei Aristoteles von Beginn an im Zusammenhang mit gattungspoetischen Fragen zu ergeben. In gewisser Weise sind Theorie der Literatur und Gattungspoetik bei Aristoteles unauflöslich miteinander verwoben. Auch hier aber ergeben sich Schwierigkeiten aus der besonderen Art und Weise, in der Aristoteles auf die unterschiedlichen Gattungen eingeht. Ausdrücklich bezieht er sich zunächst auf das Epos und die Tragödie, die auch den Leitfaden der weiteren Untersuchung bilden werden, dann auf die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie abschließend auf das Flöten- und Zitherspiel. Wie Schmitt deutlich macht, ist damit von Anfang an klar, »dass die platonisch-aristotelische Differenzierung der Nachahmungsmodi nichts mit unserer Unterscheidung der drei Literaturgattungen zu tun hat.«46 Im Unterschied zur modernen Unterscheidung der drei Gattungen Drama, Lyrik und Prosa, die sich erst spät im 18. Jahrhundert eingebürgert hat,47 zeichnet sich die aristotelische Poetik dadurch aus, dass sie zum einen auch nicht-sprachliche Formen wie Flöten- und Zitherspiel berücksichtigt. Auf der anderen Seite aber bezieht er bestimmte literarische Gattungsformen erst gar nicht in seine Untersuchung ein. Das gilt im Besonderen für das Lehrgedicht und für die zahlreichen unterschiedlichen Formen, die später unter dem verein45 | »Es kann für Aristoteles deshalb auch keine ›poetische Sprache‹ geben. Die Annahme einer solchen (am Ende ›universellen‹) Sprache der Poesie müsste in seinem Sinne eine illegitime metaphysische Überhöhung der Sprache zu einem idealen Gegenstand sein«, kommentiert Arbogast Schmitt, ebd., S. 226. 46 | Ebd., S. 268. 47 | Vgl. Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Beiheft zur Zeitschrift für romanische Philologie 92, Halle/Saale 1940.
3. Die aristotelische Poetik
heitlichenden Begriff der Lyrik zusammengefasst werden. Einzig der Dithyrambus findet an dieser Stelle Erwähnung. Zwar verweist Schmitt in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Tatsache, dass Aristoteles in der Poetik zahlreiche lyrische Formen wie Nomen, Jamben, Elegien, Enkomien, Hymnen, Phalluslieder, Rhapsodien und Chorlieder aufführe und mit dem Begriff der Melopoiía sogar einen eigenen Ausdruck für die Lyrik zur Verfügung habe.48 Das kann aber nicht vergessen machen, dass Aristoteles in der Poetik auf eine erläuterungsbedürftige Art und Weise nicht nur in einem allgemeinen Sinne lyrische Formen unterbewertet, sondern gerade das Chorlied als wesentlichen Bestandteil der griechischen Tragödie weitgehend unberücksichtigt lässt. Halliwell stellt daher fest: »the fact remains that lyrics are hardly discussed at all, despite their central place in classical Greek tragedy«49, und er beklagt vor diesem Hintergrund: »It is perhaps, therefore, the most disappointing fact about the Poetics that it does nothing to enrich for us the significance of lyric poetry in Greek tragedy«50. Dass Aristoteles im Kontext seiner allgemeinen Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung die Lyrik ausblendet, ist der Tatsache geschuldet, dass grundsätzlich unklar bleibt, inwiefern auch lyrische Formen als Nachahmungen zu verstehen sind, und das um so mehr, als Aristoteles, wie später deutlich wird, den Begriff der Nachahmung vor allem auf handelnde Menschen bezieht. Die Bestimmung der Nachahmung als dem Wesen der Dichtkunst ergibt sich allein aus der einseitigen Orientierung der aristotelischen Poetik an der Tragödie, wobei zugleich wesentliche Teile wie die Chorpartien ausgespart bleiben. Erst und nur dieser eingeschränkte Begriff der Tragödie erfüllt die aristotelischen Kriterien der Nachahmung auf eine vollständige Art und Weise. Die entscheidende Frage lautet demnach nicht, ob und gegebenenfalls wie auch andere als die von Aristoteles ausdrücklich erwähnten Gattungsformen als Nachahmung zu begreifen wären, sondern ob die übergreifende Bestimmung der Kunst als Nachahmung überhaupt zu halten ist. Ist alle Dichtkunst wirklich Nachahmung? Lässt sich auch die Dichtung Pindars oder Sapphos mit den Begriffen fassen, die für Epos und Tragödie angemessen sind? Und gilt selbst für das aristotelische Paradigma der Tragödie, dass diese als Nachahmung zu verstehen ist? Wie auch immer diese Fragen 48 | Vgl. Arbogast Schmitt, Aristoteles, S. 239. 49 | Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 34. 50 | Ebd., S. 252.
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zu beantworten sind: Spätestens mit der Rezeption, die die Antike und insbesondere die Tragödie bei Hölderlin findet, werden diese Annahmen ihre Selbstverständlichkeit verlieren.51 Die aristotelische Bestimmung der unterschiedlichen Gattungsformen als Nachahmungen findet in der Folge allerdings zugleich eine Präzisierung, die es erlaubt, sein Verständnis von Nachahmung genauer zu bestimmen. Denn Aristoteles differenziert den Nachahmungsbegriff in dreifacher Hinsicht, wie er zum Schluss seines Argumentationsganges noch einmal wiederholt: »Die Nachahmung überhaupt läßt also, wie wir zu Anfang sagten, nach diesen drei Gesichtspunkten Unterschiede erkennen: nach den Mitteln, nach den Gegenständen und der Art und Weise.« (Poet. 1448a) Als allgemeiner Begriff für die Grundlage der Kunst ist die Nachahmung in dreifacher Hinsicht zu unterscheiden: nach den Mitteln, den Gegenständen und der Art und Weise der Nachahmung. Unter den Mitteln versteht Aristoteles im Falle der Dichtkunst Rhythmus, Sprache und Melodie. Die Berücksichtigung dieser formalen Mittel allein aber reicht seiner Auffassung zufolge nicht zum Verständnis der Dichtkunst aus. Ein allgemeines Kriterium, was Dichtkunst sei oder nicht, ergibt sich nicht aus dem Blick auf die Sprache allein. Gerade darin unterscheidet sich Aristoteles von den in gewisser Weise formalistisch argumentierenden Ansätzen der Sophistik. An ihre Stelle setzt Aristoteles den Gegenstandsbezug der Kunst, damit aber die zugleich Differenz von Mittel bzw. Form und Inhalt. Erst aus der spezifischen Verbindung von Mittel und Gegenstand ergibt sich eine tragfähige Bestimmung der Kunst im aristotelischen Sinne. Das hat bereits Arbogast Schmitt unterstrichen: »Ein künstlerischer Gegenstand ist nicht der Gegenstand selbst, sondern ein (der Wirklichkeit entnommener oder erfundener) Gegenstand, der in einem – von ihm verschiedenen – Medium auf eine bestimmte Weise dargestellt wird.«52 Nicht die Darstellungsweise allein macht etwas zur Kunst, sondern der Bezug zum Gegenstand, wobei es sich im Falle der Dichtkunst eben um den Gegenstand der Nachahmung handelt, die Handlung. »Zur Poesie wird etwas nicht durch die Gestaltung des Mediums, z.B. durch die Versform, sondern durch einen poetischen Inhalt, d.h. durch
51 | Vgl. Achim Geisenhanslüke, Nach der Tragödie. Lyrik und Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012. 52 | Arbogast Schmitt, Aristoteles, S. 196.
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Nachahmung von Handlung.«53 Die These, dass es die Handlung ist, die den eigentlichen Gegenstand der Nachahmung ausmache, unterscheidet Aristoteles von den Ansätzen, die ihr Augenmerk allein auf die Mittel der Darstellung richten.54 Für ihn gilt vielmehr unmissverständlich: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise gut oder schlecht.« (Poet. 1448a) Für Aristoteles ist Dichtkunst in einem ganz allgemeinen Sinne Nachahmung von handelnden Menschen. Dass sich dieses Kriterium vor allem aus der spezifischen Gattungsform der Tragödie ableitet, ist nur die eine Seite des Problems, mit dem die Poetik an dieser Stelle zu kämpfen hat. Die andere besteht darin, dass der Begriff der Handlung über die Dichtung hinaus auf die aristotelische Ethik verweist. Denn von Handlung gesprochen werden kann nur im Rahmen der Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen. Daher setzt Aristoteles auch hinzu, dass die handelnden Menschen in einem ethischen Sinne gut oder schlecht seien – gut in der Tragödie, schlecht in der Komödie, wie er später hinzufügt. Die Unterscheidung der Art und Weise der Nachahmung, dem dritten Kriterium, das Aristoteles nennt, betrifft dagegen wiederum einen anderen Aspekt. Denn wie Aristoteles erläutert, kann der gleiche Gegenstand – der handelnde Mensch – durch dasselbe Mittel – die Sprache – dargestellt werden, in einem Fall jedoch berichtend, wie es das Epos tut, im andern Fall handelnd, wie es die Tragödie vorführt. In jedem Fall aber wird deutlich, dass die Zurückweisung einer formalen Bestimmung der Kunst, wie sie die Sophisten vorgenommen haben, zu einer Bestimmung der Dichtkunst am Leitfaden der Tragödie führt, die über den Bereich von Poetik und Rhetorik hinaus auf die anthropologische Frage nach der Natur des Menschen und der ethischen Fragen nach den Möglichkeiten und Gründen seines Handelns führt.
5. D er M ensch , die N achahmung und die F reude Die Bestimmung der Nachahmung von handelnden Menschen als dem Wesen der Dichtkunst erweitert Aristoteles in einem zweiten Schritt um die Frage nach den Ursachen der Dichtkunst, nicht der Frage also, was 53 | Ebd. 54 | Dass sich Aristoteles damit implizit gegen Gorgias richtet, hat Schmitt hervorgehoben. Vgl. ebd., S. 219f.
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Kunst ist, sondern warum sie überhaupt existiert. Auch in diesem Fall bringt er Argumente vor, die die Geschichte der Poetik entscheidend beeinflusst haben. Seine zentrale These lautet, dass die Dichtkunst dem Menschen Freude bereite: Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehlichen Tieren und Leichen. (Poet. 1448b)
Mit der Frage nach der Ursache der Dichtkunst gibt Aristoteles seiner Poetik eine anthropologische Wendung, die letztlich auf sein Verständnis der Handlung als dem zentralen Gegenstand der Nachahmung zurückgeht. »Aristoteles versteht Dichtung vor allem von ihren spezifischen Gegenständen her. Gegenstand der Dichtung ist menschliches Handeln. Eine Dichtungstheorie muss demnach davon ausgehen, was der Mensch ist oder sein kann: Die Grundlage der Dichtungsanalyse ist eine anthropologische Analyse«55 , kommentiert Schmitt. Zwei Argumente leiten Aristoteles: Zum einen sei die Nachahmung ein natürliches Vermögen des Menschen, das sich schon bei Kindern zeige. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Nachahmung am Anfang des menschlichen Lernens steht. Unter den drei menschlichen Grundakten des Erkennens, Handelns und Produzierens ordnet Aristoteles die Nachahmung demnach nicht dem Produzieren zu, wie vielleicht zu vermuten gewesen wäre und wie es in der rhetorischen Tradition der Fall sein wird, sondern dem Erkennen. Dichten hat für Aristoteles vor allem etwas mit Erkennen zu tun, und zwar einer Erkenntnis, die das menschliche Handeln betrifft. Damit deutet sich an, dass die anthropologische Analyse der Nachahmung, die Aristoteles in der Poetik vorlegt, zu einer im weitesten Sinne rationalistischen Theorie der Kunst führt: Dichten ist eine spezifische
55 | Ebd., S. 230.
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Form des menschlichen Erkennens, so wie die Nachahmung am Beginn der menschlichen Lernfähigkeit steht. Das zweite Argument, das Aristoteles anführt, betrifft den Aspekt der Lust, der mit der Kunst verbunden ist. Seiner Meinung nach ist die zweite Ursache der Nachahmung die Freude, die sie dem Menschen bringt. Die These, dass aus der Nachahmung Freude resultiert, veranschlagt Aristoteles sowohl für die Seite des Produzenten als auch für die des Rezipienten von Kunst. Beides, sowohl das Schaffen als auch das Genießen von Kunstwerken, verschaffe dem Menschen Lust. Das zeige sich vor allem daran, dass auch Gegenstände, die sonst mit Unlust besetzt sind – Aristoteles nennt ausdrücklich unansehliche Tiere und Leichen, in gewisser Weise also Objekte des Ekels als Grenzen des menschlichen Lustempfindens56 – im Medium der Kunst Lust verschaffen können. Beide Argumente, die Aristoteles vorbringt, um die Ursachen der Dichtkunst zu bestimmen, werfen zugleich kritische Fragen auf. Wie bereits angedeutet, verweist die rationale Bestimmung der Nachahmung als eine Form des menschlichen Lernens auf das Problem, ob die Dichtkunst wirklich als ein Erkennen oder nicht doch oder zumindest auch als ein Produzieren von etwas verstanden werden muss. Aristoteles entscheidet sich für ersteres, da die Bestimmung der Dichtkunst als einer bestimmen Form der techne an der Grenze von Natur und Kultur – ein Thema, das er ausführlich in der Physik diskutiert – wiederum auf eine stärker an der Rhetorik ausgerichtete Kunstlehre führen würde. Nicht umsonst war es die Frage nach der Lern- und Lehrbarkeit der Tugend, die schon Sokrates und die Sophisten entzweite: Sowohl Protagoras als auch Gorgias gehen davon aus, dass alles Wissen letztlich auf eine bestimmte Technik, eben die der Rhetorik, zurückzuführen und damit auch lehrbar sei. Wenn er sich für das Erkennen entscheidet, nimmt Aristoteles die rhetorikfeindliche Position der platonischen Philosophie ein, muss damit aber zugleich in Kauf nehmen, die technische Seite der Kunst, das Handwerkliche, nur nachgeordnet behandeln zu können. Nicht die Ausbildung einer natürlichen Anlage zu einer fertigen Kunst steht im Mittelpunkt seiner Betrachtungen, sondern die Frage nach den rationalen und ethischen Bestimmungen des Menschen, die sich der Dichtkunst entnehmen lassen. 56 | Vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 1999, sowie Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 2002.
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In ähnlicher Weise problematisch ist das zweite Argument, das Aristoteles anführt. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine rein anthropologische Begründung zu handeln: Es ist dem Menschen eigen, an der Nachahmung Freude zu haben. Die Frage nach der Lust und der Unlust, die Aristoteles damit aufwirft, lässt sich wiederum auf zwei in Konkurrenz miteinander befindliche Vorstellungen beziehen. Denn zum einen scheint die Frage nach der Freude unmittelbar in das Feld der Ethik hineinzureichen. So bemerkt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, dass »sittliche Handlungen in sich freudevoll« (EN 1099a) seien. Ganz im Unterschied zur strikten Trennung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, wie sie insbesondere Kant für die Moderne geprägt hat, geht Aristoteles davon aus, dass vernünftiges Streben zugleich Lust verschaffe. Er meint sogar, »daß von ›sittlich wertvoll‹ überhaupt nicht die Rede sein kann, wenn jemand keine Freude an edlem Handeln hat; niemand kann als gerecht bezeichnet werden, wenn er nicht Freude an gerechtem Tun, und niemand als großzügig ohne Freude an großzügigem Handeln« (EN 1099a). Die Frage nach der Lust, die das Nachahmen bereitet, bringt Aristoteles im Rahmen der anthropologischen Analyse, die er vorlegt, demnach – in ganz ähnlicher Weise wie im ersten Argument das Erkennen mit den dianoietischen Vorzügen des Verstandes – mit den ethischen Vorzügen des Charakters in Verbindung. Mit der Poetik legt Aristoteles eine Theorie der Dichtkunst vor, die durch die Wesensbestimmung der Dichtkunst als Nachahmung zugleich rational und ethisch ausgerichtet ist. Die Frage nach Lust und Unlust, die Aristoteles aufwirft, verweist im Zusammenhang mit seiner Auffassung des Ethischen jedoch noch auf ein anderes Problem, auf die Frage nämlich, welche Rolle den Affekten in der Dichtkunst zukommt. Denn auch und gerade die Affekte verfügen über einen inneren Bezug zu Lust und Unlust. Schon in der Rhetorik bezeichnet Aristoteles die Affekte als »alle solche Regungen des Gemüts, durch die Menschen sich entsprechend ihrem Wechsel hinsichtlich der Urteile unterscheiden und denen Schmerz bzw. Lust folgen« (Rhet. 1378a). Die Frage nach Lust und Unlust betrifft demnach nicht die Ethik allein, sondern im gleichen Maße die Affekte: »jedem Affekt aber und jeder Tat folgt Lust und Unlust« (EN 1104b), hält Aristoteles in der Nikomachischen Ethik fest, um Lust in der Folge als Fülle, Unlust hingegen als einen Mangel zu kennzeichnen. Von den Affekten – in der Rhetorik nennt Aristoteles einleitend Zorn, Furcht und Mitleid und verweist damit implizit bereits auf Epos und Tragödie – ist in der angeführten Passage wie in
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der Poetik insgesamt jedoch kaum die Rede. Damit deutet sich nicht nur an, dass Aristoteles in der Poetik den gesamten Bereich des pathos, der in der Kunst wie der Rhetorik eine zentrale Rolle spielt, zugunsten ethischer Bestimmungen ausblendet. Die Tatsache, dass er eine eigene Analyse der Affekte in der Dichtkunst ausspart und allein die speziellen Formen der Furcht und des Mitleids im Blick auf die Tragödie thematisiert, führt darüber hinaus dazu, dass er vor allem die Freude an der Nachahmung in den Blick nimmt, die umgekehrte Frage nach der Unlust, die eng mit den Affekten verbunden ist, jedoch weitgehend außer acht lässt. Wenn er feststellt, dass auch der Anblick oder die Rede von Tieren und Leichen, die eigentlich Unlust verursachen, in der Dichtkunst Lust erzeugen können, berührt er das Problem der Natur des Menschen und der Affekte zwar sehr wohl. In Frage steht aber nicht nur, wie auf der Bühne aus Unlust Lust werden kann, sondern mehr noch, inwiefern auch Unlust eine der möglichen Ursachen der Nachahmung sein kann, die in der Kunst eine Rolle spielt. Denn in der Tat ist es eine klärungsbedürftige Frage, warum in der Tragödie Handlungen vor Augen geführt werden, die mit großem Schmerz einhergehen, eine Tatsache, die sich nicht allein dadurch erklären lässt, dass sie beim Betrachter Lust auslösen. Vielmehr scheint es über die Lust hinausreichende Ursachen der Dichtkunst zu geben, die sich gerade in der schmerzvollen Erfahrung großer Affekte widerspiegeln. In dem Maße, indem Aristoteles eine Analyse der Affekte, die ja letztlich nichts als ein schmerzliches Erleiden von etwas sind, mit der Ausnahme von Mitleid und Furcht aus der Poetik ausblendet, verschließt er sich diesem Problem, um an einer Anthropologie festzuhalten, die vor allem durch die dianoeitische und ethische Vernunftbestimmtheit des Menschen bestimmt ist. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob nicht gerade die Gegenstände der aristotelischen Lehre von der Dichtkunst, allen voran die Tragödie, dieses Menschenbild in Frage stellen, indem sie die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und Handlungsmöglichkeiten vor Augen stellen. Mit der Angabe der zwei Ursachen der Dichtkunst als Nachahmung legt Aristoteles demnach eine anthropologische Analyse vor, die auf der einen Seite auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und auf der anderen Seite auf seine charakterliche Beschaffenheit im Sinne der Ethik eingeht. Dass es noch eine andere Antwort geben könnte, die bereits Platon im Ion kritisch diskutiert hatte, deutet er gleichwohl an, wenn er an späterer Stelle ausführt, dass die Dichtkunst auf die Phantasie und die
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Leidenschaftlichkeit des Dichters zurückgeht: »Daher ist die Dichtkunst Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen; die einen sind wandlungsfähig, die andern stark erregbar.« (Poet. 1455a) Die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Dichtkunst, die Aristoteles hier gibt, geht auf andere Quellen zurück als die der Nachahmung. Vor diesem Hintergrund hat schon Manfred Fuhrmann auf alternative Begründungen des Ursprungs der Dichtkunst hingewiesen, die Aristoteles in seiner Abhandlung zugunsten seiner Theorie der Nachahmung vernachlässige: »Zu den von Aristoteles hintangesetzten oder übergangenen Themen gehören einmal der produktionsästhetische Aspekt, die Enthusiasmus-Theorie oder richtiger die Enthusiasmus-Erfahrung Platons, und zum anderen die Lehre vom Schönen, vom ästhetischen Wert, den die Poetik fast völlig als Funktion, als kognitive Voraussetzung der künstlerischen Wirkung aufgefaßt wissen will.«57 Mit der phantasia, die den Dichter zur Wandlung befähige, deutet Aristoteles die von Platon diskutierte Tradition der Enthusiasmus-Lehre noch an. Die Rede von der starken Erregbarkeit der Dichter weist in eine ähnliche Richtung. Sie gibt als Grund der Dichtkunst starke Affekte an, die vom Dichter erfahren und gestaltet werden. Beide Vorstellungen, Enthusiasmus und Affektbestimmtheit des Dichters, verweisen auf eine Tradition des Dichtungsverständnisses, von dem sich Aristoteles stärker noch als ein Lehrer Platon zu lösen versucht. Letztlich ist es die Frage nach den mythischen Grundlagen der Tragödie, die Aristoteles an diesen Stellen berührt, ohne ihnen doch nachzugehen. Der Grund dafür liegt in dem Verständnis dessen, was er als Mythos bezeichnet.
6. Tr agödie und M y thos Die allgemeine Bestimmung des Wesens der Dichtkunst, die Aristoteles in den ersten fünf Kapiteln der Poetik vorlegt, greift in vielerlei Hinsicht auf die folgende Definition der Tragödie voraus, die den zentralen Teil der Abhandlung ausmacht. Deutlich geworden ist bereits, dass Aristoteles Dichtkunst als eine lusterzeugende Form der Nachahmung versteht, wobei das Korrelat der Nachahmung handelnde Menschen sind, die in der Epos durch Bericht vergegenwärtigt und in der Tragödie selbst handelnd 57 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 73.
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vorgeführt werden. Die zentrale Rolle der Handlung stellt die Poetik zugleich in eine enge Beziehung zur Ethik, die Bestimmung der Nachahmung als Anfang des Lernens zur Erkenntnistheorie, während die relativ geringe Rolle, die Aristoteles den Affekten zuweist, ein schmales Band zur Rhetorik errichtet. Vor diesem Hintergrund liefert das sechste Kapitel die eigentliche Bestimmung der Tragödie, an der sich die gesamte Poetik orientiert. Das methodische Vorgehen, dem sich Aristoteles verpflichtet, ist wiederum denkbar klar und einfach. Er gibt zunächst eine allgemeine Definition der Tragödie, um sich daraufhin ihren einzelnen Teilen zuzuwenden. Aristoteles nennt, in umgekehrter Reihenfolge ihrer Bedeutung, zuerst die Inszenierung, dann Melodik und Sprache, daraufhin Charakter (Ethos), Erkenntnisvermögen (Dianoia) und schließlich den zentralen Aspekt der Handlung (Mythos). Die Unterscheidung dieser sechs Teile der Tragödie leitet auch den gesamten Auf bau seiner Abhandlung: In den Kapiteln 7-14 widmet sich Aristoteles der Handlung, in den Kapiteln 15-18 dem Charakter, in den Kapiteln 19-22 hingegen der sprachlichen Form. Das Erkenntnisvermögen wird an verschiedenen Stellen angesprochen, Inszenierung und Melodik spielen in seinen Überlegungen dagegen so gut wie keine Rolle. Als äußere Bestandteile der Tragödie fallen sie außerhalb des Bereichs, den die aristotelische Poetik in den Blick nehmen will. Die Definition der Tragödie, die Aristoteles in der Poetik entwickelt, ist von kanonischer Bedeutung. Kaum eine Passage der Poetik wurde öfter zitiert als diese: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hiedurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. (Poet. 1449b)
Die Definition versammelt zunächst fast all die Momente in sich, die für Aristoteles’ Konzeption der Tragödie wie der Dichtkunst überhaupt von Bedeutung sind. Der wichtigste Schritt besteht in diesem Zusammenhang darin, die Tragödie in einem ganz allgemeinen Sinne als Nachahmung von Handlung zu kennzeichnen. Dass Aristoteles die Tragödie als Nachahmung einer guten Handlung kennzeichnet, unterscheidet sie von
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der Komödie, dass die Nachahmung auf den erzählenden Bericht verzichtet, vom Epos. Die Einheit der Handlung, die in der Rezeption der Poetik eine große Rolle spielen wird, sichert Aristoteles durch die Aussage, dass die Tragödie über eine bestimmte Größe und Geschlossenheit verfügt. Von den sechs Teilen der Tragödie, die er in seiner Abhandlung grundsätzlich unterscheidet, Mythos, Charakter, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik, hat er mit der Handlung, ihrer Kennzeichnung durch das Gute und dem Hinweis auf ihre sprachliche Beschaffenheit zumindest die ersten drei angesprochen. Von einer ebenso großen Bedeutung wie das, über das Aristoteles etwas ausdrücklich sagt, ist jedoch das, worüber er kein Wort verliert. Das betrifft weniger die drei weiteren Teile der Tragödie, die Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik. Zumindest die Erkenntnisfähigkeit findet in den folgenden Abschnitten der Poetik im Zusammenhang mit der Bestimmung der Handlung durch Peripetie und Wiedererkennung ausführlich Erwähnung. Was Aristoteles in seiner Definition dagegen völlig auslässt, ist der Zusammenhang zwischen Handlung und Mythos. Darauf hat bereits Manfred Fuhrmann verwiesen: »Die Definition verschweigt hingegen beinahe alles […], was sich einem modernen Betrachter der attischen Tragödie zuallererst aufdrängt; sie unterschlägt das mythische Substrat und das eigentümliche Ineinandergreifen von Schicksalswalten und menschlicher Irrung, und sie unterschlägt außerdem die spezifischen Qualitäten des tragischen Helden und den gewöhnlich unglücklichen Ausgang.«58 Wie Fuhrmann feststellt, begnügt sich Aristoteles mit einer äußerst knappen Beschreibung der Tragödie, in der vor allem technische Aspekte im Mittelpunkt stehen. Alles, was in irgendeiner Art und Weise mit dem Mythos als Grund der Tragödie zusammenhängen könnte, blendet Aristoteles dagegen so weit wie möglich aus. Dass die Tragödie vor allem aus der ihr zugrundeliegenden Auseinandersetzung mit dem Mythos zu verstehen ist, hat dagegen bereits Hans-Thies Lehmann unterstrichen. »Der Mythos ist der Tragödie inhärent, aber zugleich dreifach fremd: als Stoff aus einer anderen Epoche, als Produkt einer nicht mehr unangefochtenen Denkweise und gegeben in einer Form, der epischen vor allem, gegen die sich der neue Diskurs des
58 | Ebd., S. 24.
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tragischen Theaters abhebt.«59 Lehmann betont vor diesem Hintergrund, dass »die Tragödie eine zwar implizite, aber gleichwohl deutliche Auseinandersetzung mit dem Mythos war.«60 Die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die Lehmann der Tragödie zuspricht, ist demnach dialektischer Natur. Die Tragödie ist nicht einfach Mythos, sie nimmt diesen vielmehr in sich auf, schreibt ihn fort und distanziert sich zugleich von ihm. Von all dem ist bei Aristoteles allerdings nicht die Rede. Der Grund dafür ist relativ einfach. Er liegt in Aristoteles’ allgemeinem Verständnis der Handlung. Denn Aristoteles versteht unter Mythos allein die Handlung, die die Tragödie bestimme. »Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos.« (Poet. 1450a) Aristoteles geht auf die Grundbedeutung des Wortes mythos als Wort, Bericht und Erzählung zurück und verbindet damit die Idee, dass sich die Erzählung immer auf einen Handlungszusammenhang bezieht. Damit setzt er sich zugleich von der religionsgeschichtlich bedeutsamen Bestimmung des Mythos als Sage von Göttern und Helden ab. Wie sehr sich die aristotelische Übersetzung von Mythos als Handlung von anderen ihr vorausgehenden Bestimmungsmöglichkeiten absetzt, hat Dorothea Frede betont. »Unbestreitbar ist auch, daß die Identifizierung des mythos mit dem Handlungsablauf diesem Begriff eine ungewöhnliche Bedeutung gegeben hat.«61 Unter Mythos versteht Aristoteles demnach allein die Handlung als den eigentlichen Plot der Tragödie,62 nicht aber die schicksalhafte Verstrickung des Menschen in göttliche Mächte, die die Tragödie selbst an vielen Stellen zeigt. »Mythos bezeichnet in der Poetik also nicht eine überlieferte, sagenhafte Geschichte, sondern den funktionalen Zusammenhang mehrerer Handlungsschritte zu einer Einheit«63, kommentiert Schmitt. Im Mittelpunkt der aristotelischen Definition der Tragödie steht ein Mythosbegriff, der »von Aristoteles nüchtern als Synthesis Pragmaton, als Handlungsauf bau und 59 | Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 15. 60 | Ebd., S. 17. 61 | Dorothea Frede, Die Einheit der Handlung, in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles, Poetik. Klassiker auslegen, Berlin 2009, S. 105-121, hier S. 119. 62 | In diesem Sinne formuliert auch Fuhrmann: »Mit Mythos meint Aristoteles meist nichts anderes als die Fabel, das Sujet, den Plot, die Handlung eines Dramas.« Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 26. 63 | Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 120.
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Geschehensverknüpfung bestimmt«64 wird, mit anderen Bedeutungen des Begriffes Mythos im Kontext der Religion und Politik, die gerade in der Kunstform der Tragödie eine große Rolle spielen, aber nichts mehr zu tun hat. Halliwell spricht daher von »the Poetic’s neglect of tragic religion«65, eine Tatsache, die sich insbesondere in der Vernachlässigung der tragischen Chorpartien zeige. »In Aristotle’s case, we can add that the neglect of the chorus is congruent with the underplaying of mythical and religious factors«66. Die Übersetzung von Mythos als einheitliche Handlung, so hat Frede zusammengefasst, kommt daher einer Entmythisierung der Tragödie gleich, die die Poetik kennzeichnet: »In dieser Hinsicht stellt die Erklärung der Konzentration der Tragödie auf die herkömmlichen Mythen mit der Glaubwürdigkeit ungewöhnlicher Ereignisse also eine ›Entmythisierung‹ dar, da damit die enge Verbindung des Mythischen mit dem Walten göttlicher Mächte ausgeblendet wird.«67 Frede spricht sogar von einer »Entgötterung der Tragödie«68, um diese Tendenz als einen grundlegenden Zug der Poetik festzuhalten. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach den Gründen der aristotelischen Ausblendung des Mythos. Sie liegt in der ethischen Ausrichtung der Poetik beschlossen.
7. Tr agödie und E thos Wie bereits deutlich geworden ist, fußt die aristotelische Konzeption der Tragödie zu wesentlichen Teilen auf ethischen Grundlagen. »Aristoteles hat, wie dargetan, die Dichtung in erheblichem Maße von ihrem politischen Fundament (wozu auch die Religion gehörte) gelöst – er hielt um so nachdrücklicher an deren ethischen Prämissen fest«69 , stellt Fuhrmann fest. Mit der Abtrennung der Tragödie von ihren mythischen Grundlagen löst Aristoteles auch das Band, das die Tragödie an Politik und Religion bindet. Wie stark dieses Band gewesen ist, kann ein kurzer Blick auf die 64 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 25. 65 | Stephen Halliwell, The Poetics of Aristotle, S. 13. 66 | Ebd., S. 16. 67 | Dorothea Frede, Die Einheit der Handlung, S. 120. 68 | Ebd. 69 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 12.
3. Die aristotelische Poetik
Antigone verdeutlichen: In ihr, wie bereits im Ödipus, dem von Aristoteles in der Poetik am häufigsten zitierten Text, geht es auf der einen Seite offenkundig um ein politisches Problem, die Frage nach der Herrschaft in Athen, die sich zwischen Kreon und Antigone wie bereits im Streit zwischen Eteokles und Polyneikos entzündet. Dass diese politische Frage nach dem Wohl der Stadt unmittelbar mit der Religion verbunden sind, zeigen die wechselnden Chorlieder, die im wesentlichen auf die mythischen Instanzen der Götter bezogen sind: das Einzugslied auf Helios, »den Strahl der Sonne«70, das erste und zweite Standlied auf den Menschen, das dritte Standlied auf Eros, das vierte auf die Moiren, das fünfte Standlied schließlich auf Dionysos, den Ahnherren der Tragödie.71 Diese gleichermaßen politische wie religiöse Bindung der Tragödie sucht Aristoteles aufzulösen, um eine Theorie der Dichtkunst vorzulegen, die vor allem auf ethische Fragen abzielt.72 Dass es Fragen der Ethik sind, die Aristoteles in den Mittelpunkt der Tragödie stellt, hatte sich bereits in seiner Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung handelnder Menschen gezeigt. Indem er den Begriff der Handlung in der Bedeutung von Mythos in den Mittelpunkt der Tragödie rückt, gibt Aristoteles eine ethische Begründung der Tragödie, die nach dem Guten und Schlechten fragt und beides auf Tragödie und Komödie zu verteilen sucht. In diesem Sinne unterscheidet er auch in einer berühmten Formulierung: »die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.« (Poet. 1448a) Die Kennzeichnung der Mimesis als Nachahmung von handelnden Menschen kann zunächst mit einem Missverständnis aufräumen, dass die Rezeption der Poetik immer wieder betroffen hat. Aristoteles geht es keineswegs um das Problem des Verhältnisses der Nachahmung zur Wirklichkeit.73 Dem steht schon entgegen, dass er Nachahmung in den 70 | Sophokles, Antigone, Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Norbert Zink, Stuttgart 1981, Antigone, Vers 100. 71 | Zu einer ausführlichen Interpretation der Chorlieder vgl. Achim Geisenhanslüke, Sophokles. Antigone, München 1999. 72 | Ein weiteres Argument ist die Vernachlässigung der Tragödien des Aischylos, in denen die Bindung an den Mythos und die Religion noch stärker ist als bei den von Aristoteles zitierten Beispielen Sophokles und Euripides. 73 | In diesem Sinne hebt auch Arbogast Schmitt hervor: »Es gibt also gute Gründe […] anzunehmen, dass Aristoteles nicht als Nachahmung der Natur ver-
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beiden unterschiedenen Formen des Wahrscheinlichen und des Notwendigen insgesamt auf Möglichkeit, nicht auf Wirklichkeit bezieht. Einzig in diesem Sinne lässt sich der Vorrang der Handlung vor den anderen Teilen der Tragödie begründen, von dem die Poetik unmissverständlich ausgeht: Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht). Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie die Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. (Poet. 1450a)
Die Begründung des Vorrangs der Handlung, die Aristoteles an dieser Stelle gibt, ist äußerst komplex. Auf den ersten Blick scheint sie nur den technischen Aspekt der Tragödie zu betreffen: In dem Maße, in dem die Tragödie handelnde Menschen nachahmt, ist die Darstellung der Handlung auch das wichtigste Moment, auf das der Tragiker zu achten hat. Mit dem technischen verbindet sich aber zugleich ein ethischer Aspekt, der sich schon darin andeutet, dass Aristoteles von dem Glück und Unglück spricht, das der Handlung korrespondiert. Im Mittelpunkt der Tragödie steht nicht der Charakter, der sehr wohl eine zentrale Rolle spielt, aber der Handlung untergeordnet bleiben muss, weil allein die Dimension der Handlung über Glück und Unglück entscheidet. Der Grund der Handlung liegt demnach nicht im Charakter der Handelnden beschlossen, sondern umgekehrt ergibt sich deren Glück oder Unglück erst aus dem, was sie tun. Glück und Unglück verkörpern demnach die beiden extremen Möglichkeiten des Gelingens und Scheiterns menschlicher Handlungen, und die Aufgabe der Tragödie besteht entsprechend darin zu zeigen, dass standen wissen wollte. Zum einen ist der Gegenstand der Dichtung für ihn nicht die Natur im Ganzen, sondern der handelnde Mensch. Zum anderen sind in der Lebenswirklichkeit der Menschen für ihn nicht die Regeln und Normen (die ›Wahrscheinlichkeiten und Notwendigkeiten‹) zu finden, an die sich eine dichterische Nachahmung bei der Gestaltung ihrer (fiktiven) Werke halten könnte.« Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 52f.
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auch eigentlich der Tugend zugeneigte Charaktere in ihren Handlungen scheitern und dementsprechend vom Glück ins Unglück fallen können, wie es für Aristoteles etwa paradigmatisch im König Ödipus der Fall ist. Das aristotelische Verständnis der Tragödie ist ethisch ausgerichtet, weil es das wesentliche Moment der Handlung im ethischen Sinne auf eine spezifisch menschliche Entscheidungsmöglichkeit zurückführt, tragisches Scheitern also als Ergebnis einer Verfehlung versteht, für die Aristoteles den Ausdruck der hamartia bereithält. In dem Maße, in dem allein die Handlung über Glück und Unglück bestimmt, die Handlung aber im Zentrum der Tragödie steht, ist das Wesen und die Wirkung des Tragischen für Aristoteles nur aus der Handlung heraus zu begreifen. Für schicksalshafte Mächte ist da kein Platz mehr. Mit Fug und Recht kann Aristoteles daher zusammenfassen: »Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. An zweiter Stelle stehen die Charaktere.« (Poet. 1450a) Aus dem Primat der Handlung und dem damit verbundenen ethischen Verständnis der Tragödie ergeben sich die weiteren Bestimmungen, die Aristoteles in seiner Abhandlung vorgibt. Dazu zählen neben der Einheit der Handlung vor allem die Peripetie und die Wiedererkennung. Die erste Bestimmung der Handlung, die Aristoteles in der Poetik gibt, ist ihre Geschlossenheit. »Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.« (Poet. 1450b) Mit der Kennzeichnung der Tragödie als Nachahmung einer in sich geschlossenen Handlung, die Anfang, Mitte und Ende hat, scheint sich Aristoteles zunächst als ein Vertreter eines im weitesten Sinne klassischen Dichtungsverständnisses zu erkennen zu geben. »Das Schöne nämlich beruht auf der Größe und der Anordnung« (Poet. 1450b), heißt es dementsprechend. Entscheidend ist für ihn aber wiederum nicht der technische Aspekt von Größe, Geschlossenheit und Schönheit allein als vielmehr ihre dianoetische und ethische Bestimmtheit. Über den Zusammenhang von Größe und Schönheit sagt er: »Für eine Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, daß eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, daß sie faßlich bleibt. Um eine allgemeine Regel aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom
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Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe hat die richtige Begrenzung.« (Poet. 1451a) Die Tatsache, dass die Größe der Handlung dadurch begrenzt bleibt, dass sie fasslich bleiben muss, berührt wiederum die Frage nach Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Im Blick auf die notwendig begrenzte intellektuelle Aufnahmefähigkeit fordert Aristoteles eine Beschränkung der Größe, die ihn zugleich von allen späteren Theorien des Erhabenen unterscheidet. Das scheinbar klassische Attribut der in sich geschlossenen Größe, das Aristoteles der Tragödie zuordnet, führt ihn vor diesem Hintergrund zu weiteren zentralen Bestimmungen, die die Frage nach dem Handlungsverlauf und damit die Begriff der Peripetie und der Wiedererkennung betreffen. Die beiden Begriffe, die Aristoteles der Handlung zuordnet, sind die der Peripetie und der Wiedererkennung. Beide sind für ihn Bestandteile des Mythos und damit grundlegende Elemente der Handlung: »Außerdem sind die Dinge, mit denen die Tragödie den Zuschauer am meisten ergreift, Bestandteile des Mythos, nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen.« (Poet. 1450a) Die Begriffe der Peripetie und der Wiedererkennung scheint Aristoteles zunächst im Blick auf ihre Wirkung einzuführen: Beide sind dazu geeignet, den Zuschauer affektiv zu ergreifen. Aber wie auch in den anderen Teilen seiner Abhandlung ist Aristoteles weniger an einer wirkungsorientierten Interpretation der Tragödie am Leitfaden des Pathos interessiert als vielmehr an einer erkenntnistheoretischen Deutung am Leitfaden der Erkenntnisfähigkeit. Vor diesem Hintergrund definiert Aristoteles die Peripetie folgendermaßen: »Die Peripetie ist, wie schon gesagt wurde, der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir soeben sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit.« (Poet. 1452a) Der Auffassung folgend, dass sich die Nachahmung im Fall der Dichtkunst im Unterschied zur Geschichtsschreibung nicht an der Wirklichkeit, sondern an der Möglichkeit orientiert, stellt Aristoteles in einem ersten Schritt fest, dass der Umschlag auf den Grundlagen der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit als den beiden Varianten des Möglichen erfolgen muss. Die alternative Kategorie des Wunderbaren (thaumazein), die in der Aussage, alle Philosophie gehe auf das Staunen zurück, durchaus eine Rolle für ihn spielt,74 schließt er damit zunächst aus. Entscheidend ist für ihn 74 | »Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens«, lautet die kanonische Passage aus der Metaphysik (Met. 982b).
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etwas anderes, dass es sich bei der Peripetie nämlich um einen Umschlag in das Gegenteil dessen handelt, was eigentlich erreicht werden soll. »Sie besteht darin, dass jemand genau das Gegenteil dessen erreicht, was er als Handlungsziel vor sich hatte« 75, kommentiert Schmitt. Die Peripetie lässt also logisch zwei Möglichkeiten zu: den Umschlag von Unglück in Glück, wie ihn etwa die Orestie zeigt, oder aber das von Aristoteles favorisierte Beispiel des Umschlags von Glück in Unglück. Dass Aristoteles vor allem die zweite Variante, den Umschlag von Glück in Unglück in Anspruch nimmt, zeigt das Beispiel, auf das er sich bezieht, die Geschichte des Ödipus. Sie ist ihm um so wichtiger, als sich an ihr zugleich der innere Zusammenhang von Peripetie und Wiedererkennung exemplifizieren lässt. Ihn sieht er im König Ödipus auf idealtypische Weise verwirklicht: »Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im ›Ödipus‹ der Fall ist.« (Poet. 1452a) Mit der Idealisierung des Ödipus-Dramas zum Vorbild des Tragischen hat Aristoteles eine lange Tradition der Sophokles-Rezeption in der Philosophie eingeläutet, die von Hegel und Hölderlin über Nietzsche bis zu Heidegger und Butler reicht.76 Der Grund für die Privilegierung des Ödipus liegt in der Beobachtung beschlossen, dass in ihr Peripetie und Wiedererkennung zusammenfallen. Hatte Aristoteles die Peripetie in einem technischen wie ethischen Sinn als Umschlag einer Sache in ihr Gegenteil bestimmt, so versteht er unter der Wiedererkennung nun den »Umschlag von Unwissen zu Wissen.« 77 Die Wiedererkennung betrifft demzufolge vor allem die Erkenntnisfähigkeit (dianoia) des tragischen Helden: »Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind.« (Poet. 1452a) Der Umschlag, der die Tragödie kennzeichnet, hat demnach eine doppelte Bedeutung. Er betrifft die ethische Bedeutung der Frage von Glück und Unglück und die Erkenntnisfähigkeit des Helden zugleich. Indem Aristoteles die Wiedererkennung dem Problem der der Erkenntnisfähigkeit, zuordnet, leistet er jene Rationalisierung, die seine Auseinandersetzung mit dem Mythos insgesamt kennzeichnet. Mit dem 75 | Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 431. 76 | Vgl. George Steiner, Die Antigonen, Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1990. 77 | Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 41.
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Umschlag von Glück in Unglück ist eine Erkenntnis verbunden, die den tragischen Helden wie im Falle des Ödipus als jemanden kennzeichnet, der im Unglück Wissen erlangt: »Noch besser ist der Fall, daß die Person die Tat ohne Einsicht ausführt und Einsicht erlangt, nachdem sie diese ausgeführt hat.« (Poet. 1454a) In dem Maße, in dem Peripetie und Wiedererkennung die ethische und die dianoietische Seite der Vernunft betreffen, führen sie zu der Frage nach den Gründen der tragischen Verstrickung des Menschen, die die Tragödie aufzeigt. Auch hier gibt Aristoteles eine eigenwillige Antwort, die zugleich die beiden wesentlichen Teile der Tragödie, Handlung und Charakter, miteinander verbindet. Der Begriff, den Aristoteles in diesem Zusammenhang einführt, ist der der hamartia: »Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers« (Poet. 1453a). Das Beispiel, auf das sich Aristoteles beruft, ist wiederum der Ödipus. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der hamartia in Übereinstimmung mit der aristotelischen Handlungstheorie ein Verfehlen des Guten, nach dem der Mensch strebt, durch eine falsche Entscheidung meint. Der Begriff der hamartia ist daher keineswegs mit dem der tragischen Schuld abgedeckt. Das hat bereits Wolfgang Schadewaldt hervorgehoben: »Dies ist der Begriff, von dem alles moderne Gerede über die tragische Schuld herrührt. Es heißt aber nicht Schuld, sondern ein Irren, Verfehlen.« 78 Der tragische Held ist Aristoteles zufolge weniger schuldig in einem politisch-religiösen Sinne denn vielmehr Opfer einer falschen Entscheidung, die er im Blick auf die eigene Lebensführung trifft. Der tragische Held wird also mit einer Entscheidung (prohairesis) konfrontiert, die über sein Glück oder Unglück entscheidet bzw. bereits entschieden hat. »Die Hamartia ist durch ein Versagen des Erkenntnisvermögens bedingt; sie beruht auf mangelnder Einsicht« 79, erläutert Manfred Fuhrmann. Für den Fall der tragischen Fabel notiert Aristoteles daher, sie müsse »vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers entweder eines Mannes, wie er genannt wurde, oder eines bes78 | Wolfgang Schadewaldt, Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Band 4, hg. von Ingeborg Schudoma, Frankfurt a.M. 1991, S. 30. 79 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 43.
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seren oder schlechteren.« (Poet. 1453a) Als falsche Entscheidung, die auf fehlerhafter Einsicht beruht, verknüpft die hamartia die beiden Teile des ethos und der dianoia miteinander. Im aristotelischen Sinne geht die Tragödie nicht auf ein schicksalhaftes Verhängnis zurück, das die mythische Beziehung von Menschen und Göttern betrifft, sondern auf ein Versagen der Erkenntnisfähigkeit wie der moralischen Urteilskraft des Menschen.
8. Tr agödie und Pathos Trotz dieser scheinbar eindeutig rationalen Ausrichtung seines Tragödienverständnisses kennt Aristoteles noch ein drittes Moment, das neben Peripetie und Wiedererkennung die Handlung als zentrales Element der Tragödie betrifft, das pathos: »Das sind zwei Teile der Fabel, die Peripetie und die Wiedererkennung; ein dritter ist das schwere Leid.« (Poet. 1452b) Auf die überraschende Einführung des Pathosbegriffes gerade an dieser späten Stelle der Poetik hat bereits Halliwell hingewiesen. »This tail-piece to the chapter is intriguing not just because of its brevity, but also because its appearance here is somewhat anomalous. Pathos certainly cannot be regarded as having a special connection with complex plots«80. Mit dem pathos führt Aristoteles einen Begriff in die Poetik ein, der auf eine ganz andere als die bisher von ihm erörterte Weise für die Tragödie wesentlich zu sein scheint. »Every tragedy has a pathos: pathos is essential to tragedy« 81, stellt B. R. Rees vor diesem Hintergrund fest. Allerdings steht die Bedeutung des Pathos der eindeutig rational ausgerichteten Auslegung der Tragödie, der sich Aristoteles insgesamt verpflichtet, in gewisser Weise entgegen. Rees meint daher: »To sum up: pathos, the action bringing pain or destruction, is essential to tragedy, whether it takes place or is avoided, whether it is seen or imagined, whether it is an incident in the plot or one of its antecedents. The one thing absolutely essential to tragedy was a pathos of heroic quality and scope. Its importance has been obscured by Aristotle’s personal preference for a complex plot containing peripeteia and anagnorisis and by the anxiety of most critics to skip quickly over the
80 | Stephen Halliwell, Aristotle’s Poetics, S. 119. 81 | B. R. Rees, Pathos in the Poetics of Aristotle, in: Greece and Rome 19 (1972), S. 1-11, hier S. 5.
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problems of a vague definition apparently inadequately illustrated.« 82 Dass die eigentlich zentrale Bedeutung des Pathos in der Tragödie bei Aristoteles nur eine so geringe Resonanz findet, erklärt sich demnach wiederum aus den allgemeinen Prämissen seiner Philosophie. Die Privilegierung von ethos und dianoia wird durch den Begriff des pathos tendenziell unterlaufen. Der schwierige Begriff des Pathos wird meist als schmerzliches Erleiden von etwas verstanden.83 Pathos, so verrät das Historische Wörterbuch der Philosophie, »bezeichnet ursprünglich jede Art von Erleiden im Gegensatz zum Tun, außerhalb des philosophischen Sprachgebrauchs besonders Unglück und Leiden«84. Pathos meint einen besonderen Teilbereich der Affekte, den des mit Unlust verbundenen Erleidens einer starken physischen wie psychischen Erregung. Übersetzt wird pathos im Lateinischen mit affectus oder passio, dem im Französischen die Unterscheidung von émotion und passion, im Deutschen die von Affekt und Leidenschaft korrespondiert. Dabei ist es nicht nur die mangelnde Trennschärfe der Begriffe, die in diesem Zusammenhang zu beklagen ist. Wie Hinrich Fink-Eitel festgehalten hat, zerfällt die ursprüngliche Bedeutung von pathos als unbestimmtes Erleiden von etwas im Laufe der Geschichte in zwei unterschiedene Formen: »Was im antiken Begriff des ›Pathos‹ zusammengedacht wurde, fällt nun auch terminologisch auseinander: die passive Affektdisposition (passion-Leidenschaft) und die aktive Gemütsbewegung (émotion-Gefühl-Affekt).« 85 Während der Begriff der passion oder Leidenschaft den Bereich der habituellen Begierden und des Gemütszustandes abdeckt, meinen émotion oder Affekt die plötzlichen Gemütsbewegungen und Erregungen, die noch heute mit dem Begriff 82 | Ebd., S. 11. 83 | »Der Pathosbegriff der Poetik ist umfassender als irgendeiner der Begriffe, die sich in einer modernen Sprache zur Übersetzung anbieten«, notiert Martin von Koppenfels vor diesem Hintergrund. Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007, S. 22. 84 | R. Mayer-Kalkus, Pathos, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Band 7: P-Q, Darmstadt 1989, S. 13931399, hier S. 1394. 85 | Hinrich Fink-Eitel, Affekte. Versuch einer philosophischen Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 520-542, hier S. 522.
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des pathos assoziiert werden. Um die Verwirrung komplett zu machen, tritt noch eine dritte Bedeutung hinzu: Das Gefühl verkörpert die sinnlichen Eindrücke des Subjekts, die im 18. Jahrhundert von der Ästhetik als Grundlage einer eigenen Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis nobilitiert werden.86 Leidenschaft, Affekt und Gefühl nennen drei unterschiedliche Arten und Weisen, in die sich der antike Begriff des pathos ausdifferenziert hat. Die Ausdifferenzierung des Pathos-Begriffes in unterschiedliche Formen deutet sich bei Aristoteles bereits an. Bei ihm verkörpern die Affekte ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Poetik, Ethik und Rhetorik.87 In der Rhetorik gibt Aristoteles Einsicht, Tugend und Wohlwollen als Ursachen für die Glaubwürdigkeit (pistis) des Redners an. Zum Wohlwollen zähle nicht allein die sachliche Beweisführung, Wohlwollen hänge vielmehr eng mit den Affekten zusammen: »Über Wohlwollen und Freundschaft aber müssen wir in den Kapiteln über die Affekte handeln.« (Rhet. 1378a) Einfluss auf den Hörer, so Aristoteles, gewinnt der Redner erst durch die von ihm gelenkte Erregung der Affekte. Insofern ist die Lehre vom pathos ein integraler Bestandteil der Rhetorik, der zugleich auf Poetik und Ethik verweist. In der aristotelischen Theorie der Affekte treffen zwei tendenziell gegenläufige Momente zusammen. In dem Maße, in dem die Rhetorik, die von ihm als Gegenstück zur Dialektik begriffen wird,88 auf eine bestimmte Urteilsstruktur zielt, bestimmt Aristoteles auch die Affekte als Urteile: »Affekte aber sind alle solche Regungen des Gemüts, durch die Menschen sich entsprechend ihrem Wechsel hinsichtlich der Urteile unterscheiden und dem Schmerz bzw. Lust folgen: wie z.B. Zorn, Mit86 | Vgl. Christoph Menke, Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zu Genese und Dialektik der Ästhetik in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt a.M. 2002, S. 19-48. 87 | Zu der Rolle der Affekte bei Aristoteles vgl. Christof Rapp, Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.): Klassische Emotionstheorien, Berlin/New York 2008, S. 45-68. 88 | Aristoteles benutzt in diesem Zusammenhang den Ausdruck antistrophe, der eigentlich aus der Tragödie kommt. Auch hier zeigt sich eine grundlegende Verbindung von Rhetorik und Poetik an, die sich bei Aristoteles vor allem aus dem Modell der Tragödie ableitet.
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leid, Furcht und dergleichen sonst sowie deren Gegensätze.« (Rhet. 1378a) Wenn Aristoteles Affekte nicht als irrationale Gemütsbewegungen, sondern als Urteile begreift, dann rückt er die Rhetorik zunächst in die Nähe von Dialektik und Logik, den Teilbereichen des Triviums also, in denen die Urteilsformen und Schlussverfahren ihren eigentlichen Ort haben. Die Beispiele, auf die er sich bezieht, verweisen jedoch zugleich auf einen ganz anderen Bereich als den der Logik und Dialektik: auf die Kunstformen des Epos und der Tragödie, die er in der Poetik behandelt. »Zorn, Mitleid, Furcht« nennt Aristoteles in einer keineswegs beliebigen Folge als Beispiele für die Urteilsstruktur der Affekte. Mit dem Zorn bezieht er sich auf die Homersche Ilias zurück, mit Furcht und Mitleid auf die eigene Definition der Tragödie aus der Poetik. Noch in einer anderen Bedeutung aber spricht Aristoteles von den Affekten. Er postuliert einen Zusammenhang zwischen der Frage nach der sittlichen Tüchtigkeit, die im Mittelpunkt der Ethik steht, und den Affekten. So heißt es in der Nikomachischen Ethik: »Sittliche Tüchtigkeit hat es mit Taten und Affekten zu tun: jedem Affekt aber und jeder Tat folgt Lust und Unlust.« (EN 1104b) Neben den Handlungen verkörpern die Affekte einen zweiten Teilbereich der sittlichen Tüchtigkeit. In einer Art und Weise, die für die Geschichte des Affektbegriffes bestimmend sein wird, bezieht Aristoteles Affekte darüber hinaus auf Lust und Unlust. Emotionen verkörpern demzufolge einen Seelenzustand, der im wesentlichen mit Lust und Schmerz verbunden ist, wobei die starken Affekte insbesondere auf die Erfahrung von Unlust in der Form des Schmerzes bezogen sind. Die Frage nach dem Zusammenhang von Affekten und sittlicher Tüchtigkeit, die Aristoteles leitet, führt ihn in der Nikomachischen Ethik zu einer genaueren Bestimmung der seelischen Phänomene als »irrationale Regungen, Anlagen und feste Grundhaltungen.« (EN 1105b) Als ›irrationale Regungen‹ bezeichne ich die Begierde, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft, des Hasses, die Sehnsucht, die Mißgunst, das Mitleid – kurz, Empfindungen, die von Lust und Unlust begleitet werden. ›Anlage‹ ist das, wodurch wir als fähig bezeichnet werden, die irrationalen Regungen zu fühlen: wodurch wir z.B. fähig sind in Zorn oder Unlust zu geraten oder Mitleid zu fühlen. ›Feste Grundhaltung‹ ist etwas, kraft dessen wir uns den irrationalen Regungen gegenüber richtig oder unrichtig verhalten. Einer Zornesregung gegenüber ist z.B. unser Verhalten dann unrichtig, wenn wir sie zu
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heftig oder zu schwach empfinden, dagegen richtig, wenn es in einer gemäßigten Weise geschieht. Bei den anderen Regungen ist es ähnlich. (EN 1105b)
Mit der Unterscheidung zwischen irrationalen Regungen, Anlagen und festen Grundhaltungen prägt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik anders als in seiner Rhetorik einen kritischen Begriff der Affekte als irrationale Regungen, der mit der Tendenz zu ihrer Neutralisierung einhergeht. Aristoteles zählt zunächst in unsystematischer Folge auf, was er unter irrationalen Regungen versteht. Seinen Affektkatalog erweitert er in einem zweiten Schritt durch die Anlage als die Fähigkeit, überhaupt irrationale Regungen zu verspüren. Entscheidend ist jedoch sein Begriff der festen Grundhaltung. Er meint das im ethischen Sinne richtige oder falsche Verhalten zu den Affekten. Der Bereich des Richtigen und Falschen kommt demnach nicht den Affekten selbst zu, sondern allein der Einstellung zu ihnen. Die Empfindung von Zorn ist weder richtig noch falsch, das Verhalten zu dem Affekt des Zorns jedoch sehr wohl. »Es ist vernünftig, affektiv betroffen zu sein« 89 , kommentiert Markus H. Wörner. Aristoteles schließt daher: Nun: irrationale Regungen sind weder die sittlichen Vorzüge noch die Fehler, denn erstens werden wir nicht auf Grund der irrationalen Regungen gut oder schlecht genannt, sondern auf Grund der sittlichen Vorzüge oder Fehler. Und wir werden auch nicht wegen solcher Regungen gelobt oder getadelt – man lobt ja nicht einen, der Angst oder Zorn fühlt, sondern eine gewisse Form des Zornigwerdens – Lob und Tadel werden uns vielmehr zuteil nach Maßgabe unserer sittlichen Vorzüge und Fehler. Zweitens: Zorn und Angst kommen über uns ohne unsere vorherige Entscheidung, sittliche Handlungen dagegen sind eine Form der Entscheidung. Und drittens spricht man bei den irrationalen Regungen von einem Bewegtwerden, bei den sittlichen Vorzügen und Fehlern dagegen ist nicht die Rede von Bewegtwerden, sondern von einem bestimmten Dauerzustand. (EN 1105b-1106a)
Mit diesen Bestimmungen trägt Aristoteles dazu bei, dass der gesamte Bereich der Affekte aus dem der Ethik letztlich ausgeschlossen wird. Irrationale Regungen, so Aristoteles, sind weder Vorzüge noch Fehler, nicht 89 | Markus H. Wörner, ›Pathos‹ als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg, Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg/München 1981, S. 53-78, hier S. 78.
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richtig oder falsch, sondern allein unser Verhalten zu ihnen. Die Dimension des passiven Erleidens von etwas, die dem Begriff des pathos zugrundeliegt, drängt Aristoteles zugunsten der Frage nach den sittlichen Entscheidungsprozessen zurück, und so stellt er sittliche Tüchtigkeit als einen Dauerzustand dar, der mit der heftigen Plötzlichkeit der Affekte nicht zu vereinbaren sei. Die wesentlichen Bestimmungen, die Aristoteles für die Theorie und Geschichte der Affekte vorgibt, hat Klaus Jacobi zusammengefasst: »Tugenden und Schlechtigkeiten sind Verhaltungen zu unseren Gefühlen. Als solche unterscheiden sie sich von den Gefühlen, auf welche sie sich beziehen, in dreifacher Hinsicht. Erstens unterliegen nicht die Gefühle (und auch nicht die Neigungen, bestimmte Gefühle zu haben) moralischer Wertung, sondern nur die Tugenden und Schlechtigkeiten. Zweitens entschließen wir uns nicht, zornig zu sein oder uns zu fürchten (und ebenfalls nicht, dazu fähig zu sein), unsere Einstellung zu unseren Gefühlen dagegen ist Angelegenheit unserer Selbstbestimmung. Drittens sind Gefühle momentan, Tugenden und Schlechtigkeiten aber dauernd.«90 Schon in dieser komplexen Vorgeschichte des Pathosbegriffes zeigt sich, dass es Aristoteles im wesentlichen darum geht, durch eine philosophisch begründete Form des sittlichen Handelns oder des Charakters der Affekte Herr zu werden. Die Geschichte der Affekte ist seit Aristoteles schon immer die ihrer Beherrschung durch die Tugend gewesen. Das zeigt sich auch in der ambivalenten Stellung, die das Problem des pathos in der Poetik einnimmt. Auf der einen Seite spielt der Begriff des Pathos explizit so gut wie keine Rolle in der Schrift. Fast scheint es so, als habe Aristoteles alles darauf angelegt, ihn so weit wie möglich aus seiner Abhandlung herauszuhalten. Auf der anderen Seite aber spielt das Pathos doch eine beträchtliche Rolle, und zwar in der Kennzeichnung als schweres Leid als Bestandteil der Handlung und in der Bestimmung der Wirkung der Tragödie als eine Katharsis durch Furcht und Mitleid – eben starke Affekte, die Aristoteles allerdings auf eine spezielle Art und Weise versteht. Dass Aristoteles die Frage nach den Affekten in der Poetik trotz ihrer erkenntnistheoretischen und ethischen Bestimmung nicht gänzlich fremd 90 | Klaus Jacobi, Aristoteles über den rechten Umgang mit Gefühlen, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg, Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg/München 1981, S. 21-52, hier S. 45.
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ist, zeigt seine wirkungsästhetische Bestimmung der Tragödie. Sie soll Furcht und Mitleid, in anderen Übersetzungen Jammer und Schaudern hervorrufen und dadurch eine Reinigung der Seele, die katharsis bewirken. Damit sind zwar die zentralen, aber auch die vielleicht umstrittensten Begriffe der Tragödientheorie des Aristoteles genannt. Entsprechend ratlos hat die Forschung reagiert. »It had better be said at once that we do not really know what Ar. meant in this context by catharsis«91, gibt etwa Halliwell zu. Die Forschung hat in diesen Zusammenhang meist zwei Bedeutungen von Katharsis, einer medizinischen und einer moralischen, unterschieden. Insbesondere gegen die Idee einer moralischen Läuterung hat Schadewaldt an der ursprünglichen kultischen Bedeutung des Wortes festgehalten: »Griechisch heißt katharós aber einfach, daß der Mensch nicht unrein ist, zumal im religiös-kultischen Sinne.«92 Er zieht vor diesem Hintergrund folgendes Fazit: »Zusammenfassend können wir sagen: Aristoteles spricht nicht von philantropischen Tugenden, sondern von Elementaraffekten, die durch das tragische Spiel erregt werden, von Entsetzen und gewaltiger Rührung. […] Die Tragödie ist also ein Spiel der schrecklichen und rührenden Begebenheiten.«93 Schadewaldt betont damit wieder die Nähe der Tragödie zum Mythos auf der einen und dem Pathos auf der anderen Seite. Als ein Bühnenspiel, das schreckliche und rührende Begebenheiten vorführt, ergreift die Tragödie den Zuschauer affektiv. Dennoch bleibt weiterhin unklar, was mit der Erschütterung des Zuschauers erreicht werden soll: die religiös-kultische Beschwörung und Abwehr mythischer Mächte, eine moralische Läuterung oder, wie Schmitt vorgeschlagen hat, eine Art sportliches Affekttraining: »In diesem Sinn kann man die Aufgabe der tragischen Katharsis als Herstellung eines psychischen ›Bestzustandes‹ beschreiben«94 . Wie auch immer die aristotelische Konzeption der kartharsis genau zu fassen ist: Sie verweist darauf, dass die Tragödie ganz gegen die ethischen und dianoetischen Vorgaben der aristotelischen Philosophie auf fundamentale Weise mit Mythos und Pathos verbunden ist, ohne dass Aristoteles ihnen allerdings einen angemessenen Raum in der Poetik geben würde, da er eher an einer Domestizierung der Affekte durch die Tugend interessiert ist. Auf die 91 | Stephen Halliwell, The Poetics of Aristotle, S. 89f. 92 | Wolfgang Schadewaldt, Die griechische Tragödie, S. 19. 93 | Ebd., S. 17. 94 | Arbogast Schmitt, Kommentar, S. 125.
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Frage, was Dichtkunst ist und wie die Gattung der Tragödie zu begreifen ist, gibt Aristoteles zwar umfassende Antworten. Seine Antworten werfen aber zugleich kritische Fragen auf, die die Poetik auf eigentümliche Weise unbeantwortet lässt.
9. A ristoteles , die P oe tik und die Tr agödie Vor diesem Hintergrund kann ein Fazit nicht anders als ambivalent ausfallen. Auf der einen Seite hat sich die aristotelische Poetik als eine äußerst voraussetzungsreiche Theorie erwiesen, die für die Geschichte der Dichtkunst eine kaum zu überschätzende Bedeutung gewonnen hat. So hat sich zunächst gezeigt, dass Aristoteles die platonische Verurteilung der Dichtkunst zugunsten eines weit unvoreingenommeneren Verständnisses von Kunst und Literatur außer Kraft setzt. Wie schon Platon, so hebt auch er sich kritisch von den Sophisten ab, indem er nicht in der Sprache, sondern in der gegenständlichen Bestimmung der Dichtkunst als Nachahmung das Zentrum der Poesie erkennt. Am Leitbild der Tragödie bezieht er den Begriff der Nachahmung nicht auf Wirklichkeit oder Natur, sondern auf handelnde Menschen. Die Ausrichtung an der Handlung hat allerdings weitreichende Konsequenzen, die das aristotelische Verständnis von Dichtkunst insgesamt bestimmen. Nachahmung und Handlung rücken die Poetik in eine große Nähe zur Ethik. Das zeigt sich besonders an der aristotelischen Definition der Tragödie, die darum bemüht ist, die sittliche Beschaffenheit des Menschen und seine Erkenntnisfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, ihre Verbindung zum Mythos jedoch so weit wie möglich zu kappen. Dass die aristotelische Strategie in der Poetik einer Rationalisierung und Demythisierung der Dichtkunst besteht, zeigt sich in vielerlei Hinsicht: im rational bestimmten Begriff der hamartia als Ursache der tragischen Verfehlung, im Ausblenden der Funktion der Chorlieder in der Tragödie wie der Aussparung der zentralen Rolle des Pathos. Aristoteles gelingt es so, die Tragödie von ihren religiös-politischen Grundlagen in den Bereich des Ethischen zu verschieben. Die Poetik kann damit zwar für sich beanspruchen, die erste systematische Abhandlung zu sein, die das Phänomen der Dichtkunst umfassend zu erklären sucht. Zugleich aber zeigt sich, dass sie auf äußerst einseitige Weise an der Tragödie ausgerichtet ist, darüber hinaus die Aischyleische Konzeption der Tragödie kaum thematisiert, Sophokles und Euripides
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privilegiert, lyrische Formen so gut wie gar nicht erwähnt, Komödie und Epos eindeutig der Tragödie unterordnet, an zahlreichen Stellen Homer zitiert, Hesiod dagegen gar nicht erwähnt und vieles mehr. Der aristotelische Anspruch, in der Poetik das Wesen der Dichtkunst zu bestimmen, findet an diesen Einschränkungen eine Grenze, die den Gehalt wie die Reichweite seiner Überlegungen gleichermaßen betrifft. Der zentrale Einwand gegen den universalen Anspruch der Poetik betrifft jedoch nicht die zahlreichen Gattungen und Themen, die Aristoteles ausgelassen hat, sondern das Kernstück seiner Untersuchung selbst, die Tragödie. Indem er die Bedeutung des Mythos für die Tragödie auf den Handlungszusammenhang beschränkt, entfaltet Aristoteles ein philosophisches Rationalisierungsprogramm, das seine Grenze an seinem eigenen Gegenstand, an der Tragödie selbst findet. Das lässt sich exemplarisch noch einmal an der Antigone zeigen. Wie bereits deutlich geworden ist, thematisieren insbesondere die Chorlieder das mythische Verhältnis der Menschen zu den Göttern auf eine grundsätzliche Art und Weise. Eine besondere Funktion nehmen in diesem Zusammenhang das erste und zweite Standlied des Chors ein, in denen es um die Frage nach dem Wesen des Menschen geht, eine Frage also, die auch im Mittelpunkt der aristotelischen Ethik steht. Das erste Stasimon skizziert zunächst ein durchaus optimistisches Menschenbild, das diesen als Herren über die Natur und politisches Wesen darstellt. Das zweite Standlied nimmt diese positive Einschätzung des Menschen aber Schritt für Schritt zurück, um in umgekehrter Weise die Abhängigkeit des Menschen von seinem Naturgrund aufzuweisen. Zwei Dinge, so der Chor, seien für die tragischen Verhängnisse verantwortlich, die insbesondere das Schicksal der Labdakiden überschattet: »des Wortes Torheit und der Sinne Verhängnis«95 . Der griechische Text spricht von ἄνοια (anoia) und φρενῶν ὲρινύς (phrenon Erinys), dem Unverstand und den unterirdischen Rachegöttinnen, die dazu führen, dass menschliche Entscheidungen in ihren Konsequenzen uneinsehbar und unkontrollierbar bleiben. In dem zentralen Begriff der anoia zeigt sich, dass die Tragödie ein Menschenbild vorgibt, das sich zu der aristotelischen Anthropologie geradezu konträr verhält. Hatte dieser sich an der dianoia, an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen orientiert, so stellt die Tragödie vor Augen, dass die Erkenntniskraft Grenzen kennt, die für den Menschen immer wieder desaströse Konsequenzen zeitigen, wie nicht 95 | Sophokles, Antigone, Vers 603.
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zuletzt die Geschichte von Ödipus und seiner Tochter zeigt. Wenn es eine ethische Bestimmung gibt, die sich aus der Tragödie ableiten lässt, dann die, dass der Mensch seinen eigenen Fähigkeiten des rationalen Urteils nicht allein vertrauen darf. Die Tragödie geht von einem grundsätzlich anderen Menschenbild aus als Aristoteles, einem Menschenbild, das Nietzsche nicht zu Unrecht als pessimistisch bezeichnet hat. Damit ist die aristotelische Poetik jedoch nicht einfach widerlegt. Vielmehr zeigt sich, dass die philosophische Reflexion über die Dichtung, die in der aristotelischen Poetik ihre erste systematische Form gefunden hat, sich von Beginn an mit Problemen konfrontiert sieht, die nicht allein auf den schwierig zu bestimmenden Gegenstand der Dichtkunst zurückgehen, sondern auf die eigenen philosophischen Prämissen. Wenn die Poetik im einleitend angegebenen Sinne eine Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Philosophie, der Rhetorik und der Literatur leisten will, dann gelingt ihr das bei Aristoteles nur auf einer fragwürdigen Grundlage, die insbesondere das für das Verständnis der Tragödie zentrale Problem des Pathos ausblendet, um zu einer Bestimmung der Tragödie im Lichte der Ethik und der Erkenntnisfähigkeit zu gelangen. Das mag philosophisch gute Gründe haben. Die Aufgabe der Poetik läge aber gerade darin, auf den Vernunftanspruch der Philosophie wie das Pathos der Dichtung gleichermaßen einzugehen. Ein guter Ausgangspunkt für eine alternative Bewertung der Frage nach dem inneren Zusammenhang von Dichtkunst und Pathos ist die Bestimmung der Dichtung, die Gorgias im Rahmen der sophistischen Rhetorik vorgegeben hat.
4. Gorgias und der andere Anfang der Poetik 1. G orgias und die S ophistik Obwohl er diese Bezeichnung nie für sich verwendete, gilt der sizilianische Redner Gorgias als einer der Begründer der Sophistik, wie sie sich in der griechischen Klassik des 5. vorchristlichen Jahrhunderts entwickelte. »Sizilien brachte – in der Stadt Leontinoi – Gorgias hervor, auf den nach unserer Auffassung die sophistische Techne zurückgeht wie auf einen Vater.«96 Unbestritten ist, dass er zu den großen Gestaltern der Prosarede der klassischen Periode gehörte. Wie kaum ein anderer Redner seiner Zeit hat er die Grundlagen für die rhetorische Auffassung der Sprache gelegt, die die Sophisten auszeichnet. »Gorgias’ Bedeutung beruht darauf, daß er mit einer bis dahin nicht gekannten Intensität über die kunstmäßig gestaltete Sprache als Mittel der Seelenlenkung nachgedacht und aus den dabei gewonnen Einsichten Konsequenzen für die Ausgestaltung eines Prosastils gezogen hat, dessen Einfluß auf die Geschichte der griechischen Prosaliteratur kaum überschätzt werden kann«97, hält Albrecht Dihle vor diesem Hintergrund fest. Trotz der darin zum Ausdruck kommenden Anerkennung seiner Leistungen um die Rhetorik ist er in der Geschichte der Poetik jedoch kaum mehr als eine Randfigur geblieben. Die kritische Einschätzung der gorgianischen Lehre, der oft ein überladener Stil vorgeworfen wurde – der Ausdruck »gorgianisieren« bürgerte sich ein, um einen prunkvollen, schwülstigen Stil zu bezeichnen –, geht zu wesentlichen Teilen auf die platonische Philosophie und die mit ihr 96 | Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim, Hamburg 1989, S. 103. 97 | Albrecht Dihle, Griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Hellenismus, München 1991, S. 176.
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verbundene Abwertung der griechischen Sophistik einher. Seit Platons Kritik an der Sophistik existiert von Gorgias allenfalls ein Zerrbild, das dessen Bedeutung auch für die Poetik verstellt. Unbestritten ist, dass sich Gorgias insbesondere um die Rhetorik verdient gemacht hat. Dazu zählt zum einen die Kunst der improvisierten Rede, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, über beliebige Gegenstände verständig reden zu können. Gorgias gilt in diesem Zusammenhang geradezu als Begründer der rhetorischen Kunst der Improvisation: »Mit der älteren Sophistik machte den Anfang Gorgias von Leontinoi in Thessalien… Gorgias scheint auch damit begonnen zu haben, improvisiert zu reden«98. Die Kunst der Improvisation, die Gorgias pflegte, geht mit einer äußerst weitreichenden Reflexion auf die Sprache einher. Das betrifft nicht allein technische Fragen wie die Atemtechnik, über die der Redner verfügen muss, sondern ebenso den literarisierenden Stil der Prosarede, dem sich Gorgias in der Bevorzugung des neuen literarischen Idioms des Attischen gegenüber dem geläufigeren Ionischen anvertraute. »Im Kreis der Sophisten nämlich arbeitete er zuerst mit Impulsivität und Paradoxologie, sowie Atemtechnik und Ausdruck eines großen Inhaltes durch große Form, sowie mit abrupten Satzfügungen und zupackenden Einstiegen, wodurch die Rede einen gefälligeren und pointierteren Charakter erhielt, auch spickte er sie mit poetischen Ausdrücken zum Zweck der Ausschmückung und Feierlichkeit.«99 Gorgias, so lässt sich zusammenfassen, hat die Prosarede auf ein höheres sprachliches Niveau gehoben und so der Dichtung angenähert. Als Ahnherr der Rhetorik wie einer damit verbundenen Poetik kann er gelten, weil er die Lehre der rhetorischen Tropen und Figuren auch auf die Prosa übertrug: »Er gab als erster dem rhetorischen Teil der Bildung die Kraft des Ausdrucks und eine Techne, er gebrauchte Tropen und Metaphern, Allegorien, Hypallagen, Katachresen, Hyperbata, Anadiplosen, Epanalepsen, Apostrophen und Parisa.«100 Das Ergebnis war eine äußerst elaborierte Form der Sprachkunst, die ihm den Ruf eintrug, der vielleicht gewaltigste Redner seiner Zeit gewesen zu sein. »Anführer der Gesandtschaft war der Redner Gorgias, dessen gewaltige Fähigkeit zu reden die aller zu seiner Zeit weit übertraf.«101 Wie die 98 | Gorgias, Reden, S. 105. 99 | Ebd., S. 103. 100 | Ebd., S. 107. 101 | Ebd., S. 111.
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Legende berichtet, durfte er sogar eine goldene Statue seiner Person im Heiligtum von Delphi errichten – zweifellos eine beispiellose Anerkennung seiner historischen Leistung um die Sprache, die ihn zugleich in eine Konkurrenz zur gerade erwachenden Philosophie stellte.
2. G orgias und Parmenides : Ü ber das N ichtseiende Die Konkurrenz zwischen Rhetorik und Philosophie, die sich beispielhaft in dem platonischen Streitgespräch zwischen Gorgias und Sokrates niederschlägt, ist ein selbst mit den Mitteln der Rhetorik geführter Streit um die Sprache. Das gilt bereits für die Vorsokratiker und insbesondere für Parmenides. Dass schon die vorsokratische Philosophie mit einem sprachlichen Pathos antrat, das in mancherlei Hinsicht dem der Dichtkunst und der Rhetorik vergleichbar ist, zeigt Parmenides nicht nur in dem Musenanruf, mit dem sein Traktat Über das Sein beginnt. Die philosophische Grundaussage seiner Ausführungen, dass Seiendes ist und nicht vielmehr nicht ist, verbindet er einleitend mit einer ausführlichen Reflexion auf die sprachliche Gestalt seiner Lehre: Wohlan, ich werde also vortragen (du aber sollst das Wort, nachdem du es gehört hast, den Menschen weitergeben), welche Wege der Untersuchung einzig zu erkennen sind: die erste, daß es ist und daß nicht ist, ist die Bahn der Überzeugung, denn sie richtet sich nach der Wahrheit; die zweite, daß es nicht ist und daß es sich gehört, daß es nicht ist. Dies jedoch ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrener Pfad; denn es ist ausgeschlossen, daß du etwas erkennst, was nicht ist, oder darüber etwas aussagen: denn solches läßt sich nicht durchführen.102
Seine philosophisch-logische Grundüberzeugung, dass Seiendes ist und nicht nicht ist, bringt Parmenides mit einem rhetorischen Geschick vor, das eine klare Unterscheidung vorschlägt, derzufolge allein dem Seienden die Bahn der Überzeugung vorbehalten, dem Nichtseienden jedoch der Weg zur Wahrheit ein für allemal verschlossen bleibe. Von dieser Form der philosophischen Selbstermächtigung wollte die Sophistik nichts wissen. Die Überlegungen des Parmenides haben in Gorgias Abhandlung 102 | Parmenides, Über das Sein. Griechisch/Deutsch. Mit einem einführenden Essay herausgegeben von Hans von Steuben, Stuttgart 1981, S. 7.
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Über das Nichtseiende daher eine ironische Replik gefunden.103 Die Thesen, die Gorgias dort vertritt – keineswegs als eigene philosophische Überzeugung, sondern als kunstvoller Beweis, dass man mit den Mitteln der von der Rhetorik beherrschten Sprache alles bewerkstelligen kann –, lassen sich kurz und bündig zusammenfassen: »Er behauptet, daß gar nichts sei, wenn doch etwas ist, sei es unerkennbar; wenn aber doch etwas sowohl ist als auch erkennbar sei, sei es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen.«104 Die Thesen, die Gorgias in seiner in gewisser Weise parodistischen philosophischen Abhandlung vertritt, stehen denen des Parmenides diametral gegenüber. Im Einzelnen vertritt er »drei Hauptthesen, zum einen und ersten, daß nichts ist, zweitens daß, wenn auch etwas ist, es nicht aufzufassen ist für den Menschen, und drittens daß, ist es auch aufzufassen, es doch einem Nächsten zumindest nicht mitzuteilen und zu erklären ist.«105 Gorgias begründet seine kritische These, dass nichts sei, mit einem erkenntniskritischen und einem sprachkritischem Argument: Selbst wenn etwas wäre, was ja in gewisser Weise unzweifelhaft zu sein scheint, kann der Mensch es nicht erkennen, und selbst für den Fall, wenn er es erkennen könnte, wäre er außer Stande, es jemand anderem mitzuteilen. Jede der drei Thesen mündet so in dem gleichen skeptischen Grundsatz: dass der Bereich der Wahrheit, auf dessen mühevolle Suche sich Parmenides begeben hatte, dem Menschen verschlossen bleibe. Indem Gorgias lehrt, »daß nichts ist weder Sein noch Nichtsein«106, begründet er einen tiefreichenden Zweifel an der Wahrheit, der dem Anspruch der Philosophie zuwiderläuft, gesicherte Formen des Wissens hervorzubringen. In Gorgias Händen schmilzt der philosophische Wahrheitsanspruch in sich zusammen. »Angesichts solcher bei Gorgias aufkommender auswegloser Schwierigkeiten verschwindet, soweit man sich an sie hält, das Kriterium der Wahrheit.«107
103 | Zur Bedeutung der Abhandlung Über das Nichtseiende in philosophischer Hinsicht vgl. Christian Marie Jan Sicking, Gorgias und die Philosophen, in: Carl Joachim Claassen (Hg.). Sophistik. Wege der Forschung Band 187, Darmstadt 1976, S. 384-407. 104 | Gorgias, Reden, S. 41. 105 | Ebd., S. 55. 106 | Ebd., S. 41. 107 | Ebd., S. 63.
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Aus der Zurückweisung des philosophischen Wahrheitsanspruchs, die sich aus den Thesen über das Nichtseiende ergeben, lassen sich zugleich die Grundlagen des skeptischen Arguments ableiten, das Gorgias in seinen Überlegungen leitet. Das erste betrifft die Frage nach der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen: »Es scheint aber, daß nicht einmal derselbe mit sich selbst Gleiches wahrnimmt zur selben Zeit, sondern Verschiedenes durch das Gehör und das Sehen, sowie unterschiedlich jetzt und zuvor.«108 Dass die menschliche Wahrnehmung der zeitlichen Veränderung unterworfen sei, widerspreche der Auffassung des Parmenides vom ungeteilten und sich stets gleichbleibenden Einen als einzigem Korrelat des Erkennens. Im Unterschied zum philosophischen Streben nach dem Einen scheint sich Gorgias damit geradezu hemmungslos einer Theorie des Vielen zu verschreiben. Aus der Tatsache, dass die menschliche Wahrnehmung dem zeitlichen Wechsel unterworfen ist, leitet er darüber hinaus ab, dass auch die menschliche Mitteilungsfähigkeit von der daraus resultierenden Unerkennbarkeit des Wahren betroffen sei: »Auf diese Weise also könnte, wenn etwas erkennbar ist, keiner es dem anderen verdeutlichen, sowohl weil die Dinge keine Reden sind, als auch weil keiner mit einem andern dasselbe auffaßt.«109 Gorgias verbindet zwei Argumente miteinander, um die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf grundsätzliche Weise zu bestreiten: Zum einen fassen die Menschen unterschiedliche Dinge auf, ohne dass diese sich in irgendeiner Weise vereinheitlichen lassen. Das naheliegende Gegenargument, dass die Menschen die Sprache benutzen, um so mit sich identische Gegenstände zu bezeichnen, verkehrt Gorgias vor diesem Hintergrund in sein Gegenteil: Weil es einen unüberbrückbaren Unterschied zwischen den Dingen und der Rede über sie gibt, kann niemand sicher sein, ob die Sprache auch die Dinge so bezeichnet, wie sie sind. Friedrich Nietzsche wird dieses Argument in seiner frühen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne aufnehmen, um in der gleichen Weise wie Gorgias die Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Blick auf die metaphorische Verfasstheit der Sprache zu bestreiten. Die Konsequenz aus diesen Prämissen besteht für Gorgias wie später für Nietzsche darin, sich nicht den Dingen, sondern der Sprache zuzuwenden. »Denn im Prinzip redet,
108 | Ebd., S. 53. 109 | Ebd.
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wer spricht, kein (Geräusch) und auch keine Farbe, sondern eine Rede«110, meint Gorgias, und er unterstreicht den Vorrang der Rede vor den Dingen noch, indem er auf den Bedeutungsgehalt der Sprache verweist: »Denn das, womit wir bedeuten, ist die Rede, Rede aber ist das Vorliegende und Seiende nicht.«111 Wenn das, womit wir bedeuten, die Rede ist, Rede und Seiendes sich aber nicht decken, dann ist nicht nur nichts. Vielmehr ist das einzige, an das sich der Mensch halten kann, die Sprache, und eben das ist der Grund, warum Gorgias sich in der selbsternannten Konkurrenz zur Philosophie nicht nur als Experte für das Nichtseiende, sondern mehr noch als Kenner der Redekunst begreift.
3. D ie K unst der R he torik und das Pathos der D ichtung : L obpreis der H elena Im Zentrum der gorgianischen Lehre steht die Rhetorik. Ihr spricht er allumfassende Geltung zu: »Alle Vermögen überhaupt hat sie, indem sie sie unter sich begreift.«112 Mit der rhetorischen Ausrichtung seiner Lehre verpflichtet sich Gorgias, wie schon in der Abhandlung Über das Nichtseiende deutlich geworden ist, nicht der philosophischen Suche nach der Wahrheit, sondern der nach den Gesetzen der Sprache, durch die so etwas wie Bedeutung und Wahrheit erst möglich sei. So betont er einleitend, »daß die Rhetorik eben eine Kunst im Feld der Sprache ist«113. Dabei ist es keineswegs so, dass er der Redekunst die Wahrheitsfähigkeit von vorneherein abspricht. Im Gegenteil: »Zier – das ist für eine Stadt die gute Mannschaft, für einen Körper Schönheit, für die Seele Weisheit, für ein Ding Tauglichkeit und für die Rede Wahrheit, das Gegenteil davon aber ist Unzier«114, hält er fest, um zu unterstreichen, dass er »die Wahrheit zeigen und dem Unverstand ein Ende setzen«115 will. Die Rhetorik ist ihm Hüter der Wahrheit, da sie sich der Kunst der Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung zuwendet. 110 | Ebd., S. 51. 111 | Ebd., S. 63. 112 | Ebd., S. 139. 113 | Ebd., S. 145. 114 | Ebd., S. 3. 115 | Ebd., S. 5.
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Die tendenziell unbegrenzte Reichweite der rhetorischen Kunst, die sich an beliebigen Gegenständen erproben kann, hat Gorgias an verschiedenen Redebeispielen demonstriert. Überliefert sind insbesondere sein Lob der Helena und die Verteidigungsrede des Palamedes. Beiden Reden gemein ist nicht allein der Rückgang auf die mythische Vergangenheit Trojas, die auch in den Epen und dem thebanischen Sagenkreis in der Tragödie im Mittelpunkt steht, sondern der Anspruch der gorgianischen Redekunst, Positionen zu rechtfertigen, die schon in der Vergangenheit äußerst kritisch beurteilt worden sind. Das betrifft zum einen die in der Antike oft behandelte Palamedes-Sage. Als Odysseus vor dem Beginn des trojanischen Krieges Wahnsinn vortäuschte, um nicht kämpfen zu müssen, gelang es Palamedes, ihn durch einen Trick zu entlarven. Aus Rache bezichtigte Odysseus ihn vor Troja des Hochverrats, so dass Palamedes zum Tode verurteilt wurde. Der erfolgreichen Diffamierung des Palamedes durch den trojanischen Helden widerspricht Gorgias in seiner Verteidigungsrede, um diesen als Paradigma menschlicher Klugheit und zugleich als unschuldiges Opfer der Justiz darzustellen. Es ist die unterlegene Position des zum Tode Verurteilten, die Gorgias in seiner Lobrede annimmt, um die Kunst der Rhetorik gerade an einem schwierig zu rechtfertigenden Beispiel vorzuführen. Das Lob der Helena geht von einer vergleichbaren Ausgangssituation aus, schließlich galt Helena als der eigentliche Anlass des trojanischen Krieges und damit als Ursache für den Tod vieler Griechen. In seiner Lobrede, die schon Heinrich Gomperz »als eine klassische, in ihrer Art großartige Arbeit«116 bezeichnet hat, ist Gorgias vor allem daran gelegen, die Position Helenas zu rechtfertigen, die aufgrund ihrer Vorverurteilung zunächst wenig Aussicht auf Erfolg zu haben scheint. Gerade dieser auf den ersten Blick schwachen Position zum Sieg zu verhelfen, ist jedoch der Anreiz, dem der Redekünstler Gorgias folgt. In seiner Lobrede geht er in ähnlicher Weise wie in seiner Abhandlung Über das Nichtseiende von einer verschachtelten Argumentation aus, die mehrere Bestimmungen unter sich versammelt. Das Hauptaugenmerk legt er auf die Motive von Helenas scheinbar schändlichem Verrat an Griechenland: »Entweder nämlich nach dem Willen des Geschicks, den Ratschlüssen der Götter und der Abstimmung der Notwendigkeit tat 116 | Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik. Das Bildungsideal des ey legein in seinem Verhältnis zur Philosophie des V. Jahrhunderts, Darmstadt 1965, S. 4.
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sie, was sie tat, oder aber mit Gewalt geraubt oder mit Reden bekehrt (oder vom Eros gefangen).«117 In jedem Fall aber trage nicht Helena selbst die Schuld. Dabei verknüpft sich die rhetorische Aufgabe des Lobliedes mit dem Anspruch auf technische Meisterschaft, die Gorgias von seinen Gegnern den Vorwurf der Selbstverliebtheit eingetragen hat: »zum Lobpreis für Helena, für mich dagegen zum Spiel«118, habe er die Rede gefertigt. Die Kennzeichnung der eigenen Arbeit als ein Spiel ist bei Gorgias anders als bei seinen Kritikern mit keinem moralischen Urteil verbunden. Alles, was er mit seiner Rede bezwecke, sei die sprachliche Meisterschaft der Redekunst vorzuführen, eine Aufgabe, die ihm um so besser gelingt, um so aussichtsloser die Position zu sein scheint, die er vertritt: »Es ist ihm vielmehr ausschließlich darum zu tun, zu zeigen, wie derjenige, der das Wort souverän beherrscht, alles, was er will, plausibel zu machen vermag, auch wenn es sich um eine ganz paradoxe Behauptung handelt, oder wenn der Redner von dem Falle, um den es sich handelt, gar keine nähere Kenntnis besitzt«, hält Gomperz vor diesem Hintergrund fest.119 Der Lobpreis der Helena ist jedoch nicht allein als rhetorisches Meisterstück von Interesse. In ihm formuliert Gorgias auch die Leitlinien seines Verständnisses von Dichtung, eines Verständnisses, das sich in wesentlichen Punkten von der aristotelischen Position unterscheidet. Nicht nur beschränkt er den Begriff der Dichtung in formaler Hinsicht auf die metrisierte Rede. Die wesentliche Leistung seiner Bestimmung der Dichtkunst liegt in der Beschreibung ihrer Wirkung: »Die gesamte Dichtung erachte und bezeichne ich als Rede, die ein Versmaß hat. Von ihr aus dringt auf die Hörer schreckenerregender Schauder ein und tränenreiche Rührung und wehmütiges Verlangen, und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden ein eigenes Leiden.«120 Gorgias liefert eine Beschreibung der Dichtkunst, die ganz auf das Moment des pathos abzielt. Die Sprache der Dichtung, so seine These, hat die Fähigkeit, den Menschen zu ergreifen, wobei die Wirkung gleichermaßen auf die Seele wie den Körper bezogen ist – nicht umsonst gewinnt Gorgias viele seiner Beispiele aus dem Vergleich mit der Medizin. Auffällig ist in die117 | Gorgias, Reden, S. 7. 118 | Ebd., S. 17. 119 | Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik, S. 17. 120 | Gorgias, Reden, S. 9.
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sem Zusammenhang, dass die Bestimmungen des Gorgias zunächst in eine ganz ähnliche Richtung zielen wie später die aristotelische Katharsislehre, zugleich aber einen ganz anderen Akzent setzen: In der Dichtung gehe es um die Erregung starker Affekte: »schreckenerregender Schauder«, »tränenreiche Rührung« und »wehmütiges Verlangen« führt Gorgias ausdrücklich als Beispiele an, um in ähnlicher Weise wie später Aristoteles von einem Umschlag von Glück in Unglück auszugehen, der in der Dichtung seine Darstellung finde, wobei die wesentliche Leistung der Dichtkunst darin bestehe, ein dem Mitleid vergleichbares Interesse für das Leiden anderer aufzubringen. Von den Ursachen der Dichtkunst, die Aristoteles angibt, insbesondere der Freude an der Nachahmung und der Erkenntnis, die aus ihr zu gewinnen ist, ist bei Gorgias jedoch nur wenig zu spüren. Seine Argumentation zielt dagegen unmittelbar auf das Moment, das bei Aristoteles nur eine untergeordnete Rolle spielt, das pathos als schweres Leid. Demzufolge erreicht die Dichtkunst eine Erschütterung der Seele des Zuhörers durch das Erregen von starken Affekten, die sowohl Lust als auch Unlust umfassen können: »Die göttlichen Beschwörungen durch Reden nämlich werden zu Freudebringern und Entführern von Leid; denn vereinigt sich die Wirkkraft der Beschwörung mit der Ansicht der Seele, so betört und bekehrt und gestaltet die Seele um durch Zauberei.«121 Mehr noch: Was die Dichtung vermöge, sei die Transformation von Leid in Freude, nicht durch eine moralische Form der Katharsis, wie Aristoteles es nahelegt, sondern durch eine medizinische Kur der Sprache. Gorgias vergleicht die Dichtkunst daher auch mit einer Droge (pharmakon): »Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution. Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuß, und dritte Furcht und wieder andere versetzen den Hörer in zuversichtliche Stimmung und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung.«122 Gorgias geht von einer einfachen Analogie aus: Die Rede verhält sich zur Seele so wie die Droge zum Körper. Dabei bedenkt er besonders, dass nicht alle Drogen Gutes hervorbringen. Im Gegenteil: Ausdrücklich berücksichtigt er die Tatsache, dass Drogen in 121 | Ebd. 122 | Ebd., S. 11f.
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einem Fall eine Krankheit heilen, in einem anderen Falle aber auch den Tod bringen können. Mit dem Begriff des pharmakons, der auch bei Platon eine große Rolle spielt,123 etabliert Gorgias eine Nähe der Redekunst zur körperbezogenen Kunst der Medizin, die der philosophischen Suche nach einem Bereich des reinen Denkens in vielerlei Hinsicht zuwiderläuft. Im Unterschied zu Platon wie Aristoteles rücken nicht die Erkenntnis und das Ethos in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, sondern das pathos, das er an Tragödien wie den Sieben gegen Theben des Aischylos bewundert: »Gorgias sagte, eines der Dramen des Aisychylos sei ›voll kriegerischen Pathos‹, nämlich die ›Sieben gegen Theben‹.«124 Kein Wunder, dass Platon mit dieser Form des Denkens, die sich ganz um das Pathos der Sprache dreht, nur wenig anfangen konnte.
4. G orgias und P l aton Ein unbefangener Blick auf Gorgias ist dem heutigen Leser verstellt. Der Grund dafür liegt zu wesentlichen Teilen in der Verurteilung, die Sophisten wie Protagoras und Gorgias in den sokratischen Dialogen Platons gefunden haben. In seinem frühen Dialog Gorgias lässt Platon den berühmten Sophisten auf Sokrates treffen, um ihm eine aufsehenerregende Niederlage zu bereiten. In ähnlicher Weise wie im Protagoras inszeniert Platon ein Streitgespräch, bei dem der Sophist mit den eigenen Waffen geschlagen wird. Der Dialog beginnt mit einem Gespräch zwischen Sokrates und Kallikles, der sichtlich stolz darauf ist, den berühmten Redner bei sich zu beherbergen. Sokrates ist mit Chairephon gekommen, um ihn reden zu hören. Die Frage, die Sokrates an Gorgias richten möchte, ist die, was eigentlich der Gegenstand seiner vielgerühmten Lehre sei. »Denn ich will gern von ihm erfahren, was doch die Kunst des Mannes eigentlich vermag und was das ist, was er ›ausbietet‹ und lehrt.« (Gorgias 447c) Eine besondere Note gewinnt das Gespräch von Anfang an, weil es zunächst nicht Sokrates ist, der Gorgias direkt befragt, sondern Chairephon, so wie 123 | Dem ist Derrida in seiner Untersuchung La pharmacie de Platon ausgehend vom Phaidros ausführlich nachgegangen. Vgl. Jacques Derrida, La dissémination, Paris 1972, S. 69-198. 124 | Gorgias, Reden, S. 93.
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es in der gleichen Weise nicht Gorgias ist, der antwortet, sondern sein Schüler Polos. Die erste Frage richtet sich an die Improvisationskunst des Gorgias. Ob es wahr sei, »daß du dich erbietest zu beantworten, was dich einer fragt?« (Gorgias 447d), will Chairephon wissen. Er rührt damit an den grundsätzlichen Anspruch der Rhetorik, jederzeit über beliebige Dinge sprechen zu können. Die Antwort des Polos, die unzureichend bleibt, ruft Sokrates und Gorgias selbst auf den Plan. Schnell einigen sich beide, dass Gorgias ein Meister der Redekunst ist. Als vollkommener Redner, wie Gorgias selbst nicht ganz unbescheiden hervorzuhebt, beansprucht er zugleich, seine Kunst lehren zu können. Die sokratische Kritik, die sich auf diesen Universalanspruch der Rhetorik richtet, setzt bei den beiden Grundaussagen des Gorgias an. Sie versucht zum einen zu beweisen, dass die Rhetorik im Unterschied zu den einzelnen Handwerken und Künsten wie auch der Philosophie über keinen eigenen Gegenstand verfüge, zum anderen, dass sie daher auch nicht lehrbar sei. Im Rahmen dieser Strategie der Selbstwiderlegung zwingt Sokrates Gorgias zu einer ersten Wesensbestimmung der Redekunst: »Wenn man durch Worte zu überreden imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter als in der Ratsversammlung die Ratmänner und in der Gemeinde die Gemeindemänner und in jeder anderen Versammlung, die eine Staatsversammlung ist.« (Gorgias 452e) Schon in dieser ersten Definition wird deutlich, dass sich Sokrates und Gorgias gründlich missverstehen. Denn Gorgias hebt in seiner Definition nicht so sehr auf den universalen Anspruch der Rhetorik ab, über alle Dinge gleichermaßen sprechen zu können, auf den die Kritik des Sokrates zielt. Vielmehr macht er deutlich, dass die Rhetorik eine Kunst sei, die die Geschichte der griechischen Demokratie in dem Maße begleitet, indem es erforderlich ist, vor der politischen Öffentlichkeit zu reden. Sokrates geht auf diese Argumentation allerdings nicht weiter ein. Er stellt fest, immer noch nicht erfahren zu haben, was der eigentliche Gegenstand der Redekunst sei. Zwar präzisiert Gorgias auf die Nachfragen des Sokrates noch einmal, dass es sich bei der Rhetorik um eine Kunst der Überredung handle, »welche an Gerichtsstätten vorkommt und bei den anderen Volksversammlungen« (Gorgias 454b). Der Felsen, an dem Sokrates die gorgianische Redekunst jedoch zerschellen lässt, ist die Frage, ob die Überredungskunst, die der Sophist der Rhetorik zugrunde legt, auch mit Wissen und Einsicht verbunden sei. Denn Sokrates zufolge
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gelangt die Rhetorik über den bloßen Glauben nie hinaus: »Die Redekunst also, Gorgias ist, wie es scheint, Meisterin in einer glaubenmachenden, nicht in einer belehrenden Überredung in bezug auf Gerechtes und Ungerechtes?« (Gorgias 455a), fragt Sokrates den Sophisten, der auf diese Frage keine rechte Antwort finden kann. Zwar beruft er sich weiterhin auf die unbegrenzte Macht der Rhetorik: »denn es gibt nichts, worüber ein Redner überredender spräche als irgendein Sachverständiger vor dem Volke.« (Gorgias 456c) Damit läuft er aber Sokrates ins offene Messer. Gorgias legt den universalen Anspruch der Redekunst zu ihrem Vorteil aus: »Ist das nun nicht ein großer Vorteil, Sokrates, daß man, ohne andere Künste gelernt zu haben, sondern nur dies einzige, um nichts zurücksteht hinter den Meistern in jenen?« (Gorgias 459c) Sokrates aber zeigt in einer langen Unterredung zunächst mit Polos, dann mit dem Gastgeber Kallikles auf, dass die Redekunst von den Gegenständen, über die sie spricht, eigentlich nichts versteht. In dem Maße, in dem er den universalen Anspruch der Rhetorik widerlegt, über beliebige Gegenstände reden zu können, etabliert Sokrates zugleich die neue Wissenschaft der Philosophie, die als einzige für die entscheidende Frage nach der Gerechtigkeit verantwortlich sei. Aus dem Scheitern der Sophistik heraus, sich eine plausible Begründung zu geben, leitet Sokrates den Anspruch der Philosophie ab, auf eine vernunftgeleitete Art und Weise über das politische Geschick der Stadt bestimmen zu können. Platons Gorgias steht, in ähnlicher Weise wie der Protagoras, damit an einer historischen Schnittstelle. Die Rhetorik, die auf Gorgias als einen ihrer Urheber zurückgeht, ist noch in Amt und Würden. Ihr dem Selbstverständnis nach unbeschränkter Anspruch wird jedoch von der sokratischen Philosophie in die Schranken gewiesen. Indem sie den Erkenntnisanspruch der Sophistik bestreitet, löst die Philosophie den universalen Anspruch der Rhetorik auf. Dass die Technik der Redekunst sehr wohl auf einem bestimmten Wissen beruht, dem Wissen über die Sprache und ihre Wirkung auf die Zuhörer, rückt ebenso in den Hintergrund wie die Frage nach dem Ethos des Redners. Der neue Herrschaftsanspruch der sokratischen Philosophie kann sich nur auf Kosten der alten Kunst der Sophistik errichten. Wie Gorgias selbst darauf reagiert haben soll, berichten die Testimonien: »Man erzählt, Gorgias habe, als er den ihm gleichnamigen Dialog las, zu Vertrauten von ihm gesagt: ›Wie schön kann Pla-
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ton Spottverse dichten‹.«125 Aus der Perspektive der Rhetorik ist auch die Philosophie nichts anderes als eine Form der Dichtung, die sich selbst wichtiger nimmt als die Sprache, aus der sie gefertigt ist.126 In der nicht unumstrittenen Figur des Gorgias findet die Poetik damit einen anderen Anfang als bei Platon und Aristoteles. Was zwischen den Sophisten und Sokrates auf bricht, ist der Streit zwischen Philosophie und Rhetorik, der in der Folge die gesamte Geschichte des europäischen Sprachdenkens begleiten wird. Der Ausgangspunkt des Streites zwischen Philosophie und Rhetorik ist die Frage, wie die Dichtkunst zu beurteilen sei: als eine Form der Nachahmung, wie es Platon und Aristoteles vorschlagen, oder als eine Kunst der Sprache, die starke Affekte erregt, wie Gorgias meint. Wie auch immer der Streit zwischen Rhetorik und Philosophie zu entscheiden ist: Die Dichtung steht mitten zwischen den beiden streitenden Parteien. Die Poetik hat daher beide Seiten zu berücksichtigen, die Verbindung, die die Dichtkunst zur Rhetorik unterhält, wie das Verhältnis, das sie zur Philosophie einnimmt. Dass die Position des Gorgias in der Geschichte der Poetik seit Platon als die unterlegene gilt, sollte nicht vergessen machen, dass sie eine grundsätzliche Berechtigung hat, die auf einem anderen Verständnis von Sprache ruht als dem der Philosophie. Wenn Gorgias einen anderen Anfang der Poetik verkörpert, der lange Zeit durch die platonische Philosophie überschattet worden ist, dann ist es vielleicht an der Zeit, dass er aus diesem Schatten wieder heraustritt.
125 | Ebd., S. 131. 126 | Sicking erkennt in Gorgias daher den Ursprung einer »Geschichte der Gegenphilosophie«, die Platon aus verständlichen Gründen bestritten habe. Christian Marie Jan Sicking, Gorgias und die Philosophen, S. 405.
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5. Die aristotelische Rhetorik 1. A ristoteles und die R he torik Für die Begründung der Rhetorik steht nicht allein Gorgias ein, sondern mehr noch sein Gegner Aristoteles. Als dieser seine Rhetorik verfasste, konnte er anderes als im Falle der Poetik auf eine lange Tradition des rhetorischen Denkens zurückblicken, die ihm vorausging. »Aristotle was by no means in a position to teach this discipline – already supplied with a long practical and theoretical history – as if he were the first teacher in this field«127, hält schon Jacques Brunschwig fest. Die griechische Sophistik hatte mit Gorgias und anderen die Grundlagen der Rhetorik geschaffen, an die Aristoteles anknüpfen konnte, von denen er sich jedoch zugleich kritisch absetzen wollte. Die Situation verkompliziert sich noch im Blick auf die scharfe Ablehnung, die die Rhetorik in den frühen platonischen Dialogen gefunden hatte. Vor diesem Hintergrund ist der grundsätzliche Anspruch von Aristoteles, eine eigene Rhetorik vorzulegen, keineswegs selbstverständlich. »Das Projekt einer von einem Philosophen verfassten Rhetorik steht durch die Vorgeschichte des Verhältnisses von Philosophen und Rhetoren in Athen unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck«128, stellt Christof Rapp fest. Allerdings kann Aristoteles wie bereits in der Poetik zugleich an Platon anknüpfen, hatte dieser doch schon im Phaidros festgestellt, dass sich »vor den Gerichtsstätten niemand das mindeste um die Wahrheit in diesen Dingen, sondern nur um das Glaubliche, 127 | Jacques Brunschwig, Aristotle’s Rhetoric as a ›Counterpart‹ to Dialectic, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hg.): Essays on Aristotle’s Rhetoric, Los Angeles/London 1996, S. 34-55, hier S. 49. 128 | Christof Rapp, Kommentar, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 4. Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Zweiter Halbband, Berlin 2002, S. 119.
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und dieses sei das Wahrscheinliche« (Phaidros 272d) kümmere. Zwar schließt Platon das Glaubliche und Wahrscheinliche aus dem Bereich des Wahren aus. Aristoteles geht aber auch hier wie in der Poetik einen anderen, moderateren Weg als sein Lehrer. Denn auch das Glaubliche und Wahrscheinliche, so seine Ausgangsposition, ist einer eigenen Untersuchung würdig. »Aristoteles will der Rhetorik die von Platon vermisste und geforderte Theorie geben«129 , fasst Joachim Knape zusammen. Mit der aristotelischen Aufwertung des Glaublichen und Wahrscheinlichen, das neben dem Wahren einen eigenen, wenn auch untergeordneten Stellenwert zugesprochen bekommt, rückt die Rhetorik in das Blickfeld der Philosophie, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise, als sie es bei Gorgias und den Sophisten tat. In ähnlicher Weise wie die Poetik gehorcht die Rhetorik einem umfassenden Rationalisierungsprogramm, mit dessen Hilfe Aristoteles der Redekunst eine neue Grundlage zu geben versucht. Dementsprechend klar ist die Rhetorik in drei selbständige Bücher gegliedert. Im ersten Buch gibt Aristoteles eine Definition der Rhetorik, die ihn zugleich zu den drei großen rhetorischen Gattungen der beratenden, der gerichtlichen und der Prunkrede führt. Im zweiten Buch stehen im wesentlichen die Affekte im Mittelpunkt, im dritten Buch, das vermutlich später entstanden ist, die Sprache. Trotz der Selbständigkeit und der unterschiedlichen Entstehungszeit der einzelnen Bücher bildet die Rhetorik ein in sich stimmiges Ganzes. »Despite having been written at different times, patched together of different pieces, and being far from being the most elegant or perspicuously organized of Aristotle’s writings, the Rhetoric forms a relatively coherent and familiar structure«130, meint Amélie Oksenberg Rorty. Die Rhetorik verfügt über eine innere Geschlossenheit, die im Wesentlichen auf die allgemeinen Voraussetzungen der aristotelischen Philosophie zurückgeht. Vor diesem Hintergrund kann es im Folgenden weniger darum gehen, eine vollständige Darstellung der Rhetorik zu geben, als vielmehr darum, ihre Neubestimmung auf den Grundlagen von Logik, Dialektik und Ethik durch Aristoteles nachzuvollziehen.
129 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, S. 33. 130 | Amélie Oksenberg Rorty, Structuring Rhetoric, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hg.): Essays on Aristotle’s Rhetoric, Los Angeles/London 1996, S. 1-33, hier S. 1.
5. Die aristotelische Rhetorik
2. D ie aristotelische A uf wertung der R he torik Die erste Frage, die Aristoteles zu klären hat, ist die, ob die Rhetorik überhaupt eine philosophische Relevanz besitzt. Bisher war sie ja vor allem in den Händen der Sophisten, denen schon Platon absprach, Philosophen im engeren Sinne des Wortes zu sein. Aristoteles löst diese Aufgabe, indem er die Rhetorik einleitend der Dialektik beiordnet. »Die Theorie der Beredsamkeit ist das korrespondierende Gegenstück zur Dialektik; denn beide beschäftigen sich mit Gegenständen solcher Art, deren Erkenntnis auf eine gewisse Weise allen und nicht einer speziellen Wissenschaft gemeinsam ist.« (Rhet. 1354a) Wie schon Jacques Brunschwig bemerkt hat, ist der erste Satz der berühmteste und vielleicht folgenreichste der Rhetorik.131 In ihm etabliert Aristoteles ein Band zwischen Rhetorik und Dialektik, das die gesamte historische Tradition der Rhetorik zugunsten eines systematischen Zusammenhangs ausblendet, der zunächst umso enigmatischer bleibt, als die Rhetorik zwar auf die Dialektik verweist, in Aristoteles’ dialektischen Schriften, insbesondere in der Topik, jedoch keine Spur der Rhetorik zu finden ist. Brunschwig fragt daher nicht nur, »why Aristotle, although treating dialectic as a model for rhetoric, did not take his own work on dialectic, namely the Topics, as a model for his writing of the treatise he devotes to rhetoric.«132 Er legt darüber hinaus das Augenmerk auf die Tatsache, dass Aristoteles die Verbindung zwischen Rhetorik und Dialektik mit dem Ausdruck »Gegenstück« (antistrophos) bezeichnet, ein Begriff, der aus der griechischen Tragödie, insbesondere aus der Chorlyrik stammt.133 Die Strategie, der Aristoteles einleitend in der Rhetorik folgt, ist dementsprechend eine doppelte: Auf der einen Seite löst er die Rhetorik aus der sophistischen Tradition, kappt damit zugleich den Zusammenhang zwischen Rhetorik und Poetik, der im Begriff des antistrophos noch mitschwingt, um auf der anderen Seite die Rhetorik in dem Maße aufzuwerten, indem sie ein Gegenstück zur logisch ausgerichteten Dialektik bildet. Die aristotelische Rhetorik beginnt mit einer systematischen und logischen Bestimmung ihres Gegenstandes, die den 131 | »The most famous sentence in Aristotle’s Rhetoric is quite probably the first one«, Jacques Brunschwig, Aristotle’s Rhetoric as a ›Counterpart‹ to Dialectic, S. 34. 132 | Ebd., S. 36. 133 | Vgl. Christof Rapp, Kommentar, S. 22.
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ganzen Fortgang der Schrift bestimmt und insbesondere das erste Buch leitet, während die Themen, die in der sophistischen Tradition der Rhetorik bisher eine große Rolle gespielt haben, namentlich Affekterregung und Sprache, erst auf die später folgenden Bücher verschoben werden. Der impliziten Kritik der traditionellen Rhetorik als einer sophistischen Kunst der Überredung korrespondiert die Tatsache, dass Aristoteles in der Rhetorik bereits auf den ersten Seiten von einem Zusammenhang zwischen der Überzeugung als dem Grundmittel der Rhetorik und dem rhetorischen Schlussverfahren des Enthymems ausgeht. Im Enthymen erkennt er die Grundlagen der Überzeugung, die die Rhetorik zu leisten hat, wenn sie mehr als eine bloße Kunst der Überredung sein möchte. »Da es aber nun offenkundig ist, daß die in der Theorie begründete Anleitung auf die Überzeugungsmittel zielt, die Überzeugung aber eine Art Beweis ist – denn wir glauben da am meisten, wo wir annehmen, daß etwas bewiesen sei – und da der rhetorische Beweis das Enthymen ist, so ist dieses auch, um es kurz zu sagen, das bedeutendste unter den Überzeugungsmitteln.« (Rhet. 1355a) Die einleitende Charakterisierung der Rhetorik erfolgt in einer Begrifflichkeit, die dem traditionellen Verständnis der Redekunst zunächst ganz und gar fremd zu sein scheint. »It is surprising to find numerous examples of philosophical arguments in a treatise which was, after all, designed for the training of orators«134, stellt Brunschwig fest. Wie sehr sich Aristoteles einer philosophischen Bestimmung der Rhetorik anvertraut, kann der Begriff des Enthmymens deutlich machen, der die Rhetorik in einen inneren Zusammenhang mit Logik und Dialektik stellt. So wurde das Enthymem als das spezifisch rhetorische Schlussverfahren bis hin zu Quintilian meist als eine Variante des logischen Schlussverfahrens begriffen, den der Syllogismus bildet.135 »Das Enthymem ist eine Art von Beweis, nämlich der Beweis in der Rhetorik«136, hält Christof Rapp fest, um die Nähe zwischen Enthymem und Syllogismus 134 | Jacques Brunschwig, Aristotle’s Rhetoric as a ›Counterpart‹ to Dialectic, S. 43. 135 | So spricht Quintilian von dem »Enthymem, das ja ein rhetorischer Syllogismus ist«. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Erster Teil: Buch I-VI. Herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1998, S. 143. 136 | Christof Rapp, Kommentar, S. 227.
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jedoch zugleich in Frage zu stellen: »Die Rhetorik insgesamt enthält somit keine Spur von Syllogistik […]. Und es besteht somit auch kein Grund für die Annahme, das Enthymem sei ein Syllogismus.«137 Das Enthymen verkörpert in der Rhetorik zwar ein spezifisches Schlussverfahren, das der Redekunst neben dem Beispiel als wichtigstes Überzeugungsmittel zur Verfügung steht. »Wie nun in der Dialektik im Hinblick auf wirkliches oder scheinbares Beweisen Induktionsbeweis, Syllogismus und scheinbarer Syllogismus existieren, so verhält es sich auch hier; denn das Beispiel ist ein Induktionsbeweis, das rhetorische Schlußverfahren (Enthymem) ein Syllogismus (und das scheinbare Enthymem ein scheinbarer Syllogismus). Ich nenne aber das Ent hy mem einen rhetorischen Syllogismus und das Beispiel (Paradeigma) eine rhetorische Induktion.« (Rhet. 1356b) Die Nähe zwischen Syllogismus und Enthymen verrät aber zugleich eine Distanz, die der Verbindung und Trennung von Logik und Rhetorik entspricht. Zwar sind Beispiele und rhetorische Schlüsse die beiden einzigen Verfahren, die der Rhetorik zur Verfügung stehen, um zu ihrem Ziel, der Überzeugung, zu gelangen. Im Unterschied zur logischen Bestimmung der Wahrheit erreicht die Rhetorik aber nur die deutlich geringer bewertete Ebene der Wahrscheinlichkeit: »denn die rhetorischen Schlüsse (Enthymeme) werden gebildet aus der Wahrscheinlichkeit und den Indizien« (Rhet. 1357a). Hatte Platon die Rhetorik als eine Kunst bezeichnet, die darin besteht, etwas glaubhaft zu machen, ohne doch über ein Wissen im strengen Sinne zu verfügen, so folgt Aristoteles seinem Lehrer in der Bestimmung der Rhetorik als einer Wissenschaft, die im wesentlichen auf Überzeugungen bezogen ist, die über den Status des Wahrscheinlichen nicht hinauskommen. Die Aufwertung, die die Rhetorik bei Aristoteles erfährt, verdankt sich einzig der Tatsache, dass das Wahrscheinliche aus dem logischen Reich der Wahrheit nicht ausgeschlossen, sondern ihm untergeordnet wird: »denn das Wahre und das dem Wahren Ähnliche zu sehen, ist Aufgabe ein und derselben Fähigkeit.« (Rhet. 1355a) Es sind die logischen Fähigkeiten, von denen Aristoteles hier im Blick auf den in der Metaphysik entfalteten Satz des Widerspruchs spricht,138 um die Rhetorik der Dialektik beizuordnen: »Von den anderen theoretischen Unterwei137 | Ebd., S. 67. 138 | In der Metaphysik heißt es: »Es gibt für das Seiende ein Prinzip, über welches man sich nie täuschen kann, sondern bei dem immer das Gegenteil, ich meine die Wahrheit, stattfinden muß, nämlich der Satz: Es ist nicht möglich, daß das-
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sungen ermöglicht keine, über Entgegengesetztes Schlüsse zu bilden; nur die Dialektik und die Theorie der Beredsamkeit vermögen dies als einzige; denn beide sind in gleicher Weise mit im Gegensatz Stehendem beschäftigt.« (Rhet. 1355a) Die Aufwertung der Rhetorik impliziert ihre Beiordnung zur Logik und Dialektik. Der philosophischen Untersuchung würdig ist die Rhetorik nicht als eine auf eigenen Grundlagen beruhende Kunst der Überredung, sondern als der Teil der Dialektik, der sich in einer engen Nähe zur Topik mit dem Glaubwürdigen auseinandersetzt: »Daß die Rhetorik nun nicht teilhat an irgendeiner Art Festdefiniertem, sondern der Dialektik entspricht, und daß sie nützlich ist, das ist offenkundig; ferner daß es nicht ihre Aufgabe ist zu überreden, sondern zu untersuchen, was an jeder anderen Sache Glaubwürdiges vorhanden ist« (Rhet. 1355b). Mit dem Zusammenhang von Glaubwürdigkeit und Überzeugung stellt Aristoteles die Rhetorik auf eine neue Grundlage, die in ihr keine Kunst der Täuschung mehr erkennt, wie es Platon noch tat, sondern eine allerdings nur im beschränkten Sinne wahrheitsfähige Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund kann Aristoteles zusammenfassen: »Die Rhetorik stellt also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubener wec kende zu erkennen.« (Rhet. 1355b) Für Aristoteles hat die Redekunst es weniger mit der poiesis, dem Herstellen von etwas, zu tun, als vielmehr mit dem Erkennen. »Deutlich hebt sich Aristoteles mit dieser Bestimmung von der Auffassung ab, Aufgabe der Rhetorik sei die Herstellung einer Rede im Sinne einer poietischen bzw. herstellenden Disziplin«139 , kommentiert Christof Rapp. Der Gegenstand, der der rhetorischen Form der Erkenntnis korrespondiert, ist das Glaubenerweckende, mit dessen Hilfe nicht täuschende Überredung, sondern dem Wahren ähnliche Überzeugung hergestellt werden kann. Über die unterschiedlichen Möglichkeiten, Überzeugung zu erzielen, schreibt Aristoteles: »Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten: Sie sind nämlich entweder im C ha ra k ter des Red ners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse St im mu ng zu versetzen, oder schließlich in der Rede selbst , d.h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.« (Rhet. 1356a) Den Chaselbe zu einer und derselben Zeit sei und nicht sei, und was noch sonst in dieser Weise einander entgegengesetzt ist.« (Met. 1061b-1062a) 139 | Christof Rapp, Kommentar, S. 135.
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rakter, die Affekte und die Beweiskraft der Rede selbst nennt Aristoteles als die drei Überzeugungsmittel, die dem Redner zur Verfügung stehen. Während er sich den Affekten erst im zweiten Buch widmet, stellt er das Ethos des Redners und den Logos der Rede zunächst in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Wie bereits in der Poetik, so wird auch in der Rhetorik deutlich, dass Aristoteles seine Überlegungen in ein zugleich rational und ethisch bestimmtes Verständnis der Philosophie einbettet. Dementsprechend wendet sich Aristoteles zunächst dem Charakter zu: »Durch den C ha ra k ter [erfolgt die Persuasion], wenn die Rede so gehalten wird, daß sie den Redner glaubhaft macht; denn den Tugendhaften glauben wir lieber und schneller« (Rhet. 1356a). Auf eine keineswegs selbstverständliche Weise geht Aristoteles von einem inneren Zusammenhang zwischen Tugend und rhetorischer Kunst aus. In ähnlicher Weise erfolgt die Bestimmung der Rede: »Durch die Rede endlich erfolgt die Persuasion, wenn wir Wahres oder Wahrscheinliches von dem aus jedem Sachverhalt resultierenden Glaubwürdigen aufzeigen.« (Rhet. 1356a) Die Glaubwürdigkeit, um die es der Rhetorik geht, wird im Falle des Charakters auf das Problem der Tugend bezogen, im Fall der Rede auf die Erkenntnis des Wahren oder des Wahrscheinlichen. So sieht sich die Rhetorik bei Aristoteles von vorneherein in die Ethik und die Erkenntnistheorie eingebettet. Nicht allein in die Nähe zur Dialektik rückt die Rhetorik daher, sondern zugleich in die zur Ethik und Politik: »Da nun die Überzeugungsmittel hierin begründet sind, so ist klar, daß der sie anwenden kann, der in der Lage ist, logische Schlüsse zu bilden und der Charakter, Tugenden und drittens über Affekte philosophische Erkenntnisse zu gewinnen: was und wie beschaffen jede Leidenschaft ist und ferner woraus sie entsteht. Folglich ergibt sich also, daß die Theorie der Beredsamkeit gleichsam ein Nebentrieb der Dialektik und der wissenschaftlichen Disziplin der Ethik ist, die mit Recht als Staatslehre bezeichnet wird.« (Rhet. 1356a) Die aristotelische Theorie der Beredsamkeit verpflichtet sich Dialektik und Ethik bzw. Politik zugleich: »the Rhetoric presupposes and is implicitly informed by Aristotle’s logical works, by his philosophy of mind and his theory of action; it is also strongly conjoined with his political and ethical theory«140, fasst Amélie Oksenberg Rorty zusammen. In ihrem Mittelpunkt steht die Idee, dass auch die Kunst der Rede als eine Form
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der Überzeugung Kriterien gehorchen muss, die sie nicht selbst entworfen hat, sondern die Logik und Ethik bereitstellen.
3. Theorie der B eredsamkeit Der erste Schritt zu einer systematischen Bestimmung der Redekunst, den Aristoteles vorgibt, ist die Unterscheidung von drei unterschiedlichen Redearten, die für die Rhetorik zentral sind: »Es gibt drei Arten der Beredsamkeit; sie korrespondieren mit den drei Arten von Zuhörern. Es basiert nämlich die Rede auf dreierlei: dem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, sowie jemandem, zu dem er redet, und seine Absicht zielt auf diesen – ich meine den Zuhörer.« (Rhet. 1358a) Redner, Gegenstand und Hörer sind die drei unterschiedlichen Gattungsformen, die der Rhetorik als Einteilung dienen können: »Hieraus ergeben sich notwendig drei Gattungen der Rede: die beratende […], die gerichtliche[…] und die Prunkrede […].« (Rhet. 1358b) Die Unterscheidung in die drei Gattungen der beratenden (genus deliberativum), der gerichtlichen (genus iudicale) und der Lobrede (genus demonstrativum) wird die gesamte Geschichte der Rhetorik begleiten. Der Reihe nach bestimmt Aristoteles ihre unterschiedlichen Funktionen: »Die Gattung der beratenden Rede hat Zuraten oder Abraten zur Aufgabe« (Rhet. 1358b), heißt es zunächst, dann: »Die Gattung der Gerichtsrede beinhaltet entweder Anklage oder Verteidigung« (Rhet. 1358b). Und schließlich: »Die Gattung der Prunkrede behandelt entweder Lob oder Tadel.« (Rhet. 1358b) Die aristotelischen Bestimmungen sind denkbar einfach und klar gehalten. Mit der Unterscheidung der drei Gattungsformen geben sie der Rhetorik eine allgemeine Grundlage, auf deren Hintergrund in der Folge differenziertere Unterscheidungen gegeben werden können. Eine weitere Bestimmung der drei Gattungsformen der Rede erfolgt in der Rhetorik zunächst, wenn Aristoteles der beratenden, der gerichtlichen und der Lobrede die drei unterschiedlichen Modi der Zeit, Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, zuordnet: »Als Zeit räu me jeder Redegattung gelten: für den bestehenden Redner die Zukunft – denn es ist Zukünftiges, wozu er durch seine Beratungsrede raten oder wovon er abraten will –, für den Gerichtsredner dagegen die Vergangenheit – denn immer wird über Geschehenes Anklage bzw. Verteidigung geführt –, für den Prunkredner vorzugsweise die Gegenwart – denn alle richten Lob
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und Tadel nach Vorliegendem aus, doch benutzt er auch häufig das Geschehene, indem er daran erinnert, sowie das Künftige, indem er ein Bild davon entwirft.« (Rhet. 1558b) Aristoteles verteilt die drei Zeitformen der Zukunft, Vergangenheit und der Gegenwart auf denkbar eindeutige Weise auf die drei Gattungen der Rede. Demzufolge ist die beratende Rede auf die Zukunft bezogen, die gerichtliche auf die Vergangenheit und die Prunkrede auf die Gegenwart. So einleuchtend diese Bestimmungen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so sehr bereiten sie auf den zweiten Blick Schwierigkeiten. »Die Zeitstufen Vergangenheit und Zukunft für die Gerichtsrede und die politische Rede sind klar; die Gegenwart für die vorführende Rede oder Lobrede ist nur noch als ›Systemzwang‹ zu rechtfertigen«141 , meint schon Rapp in diesem Zusammenhang. Aber auch die Beschränkung der Gerichtsrede auf den Aspekt der Vergangenheit und der politischen Rede auf den der Zukunft kann nicht vorbehaltlos einleuchten. So bezieht sich die Gerichtsrede zwar notwendig auf einen Vorfall, der in der Vergangenheit stattgefunden hat. Mit dem Ziel einer Verurteilung oder eines Freispruchs aber zielt sie notwendig zugleich in die Zukunft, so wie die Beratungsrede auf die Vergangenheit ausgreifen muss, um politische Entscheidungen rechtfertigen zu können. Plausibler wäre es wohl gewesen, alle drei Zeitmodi miteinander vermittelt zur Bestimmung der Redegattungen heranzuziehen. Dass Aristoteles sich auf den Zusammenhang von beratender Rede und Zukunft, Gerichtsrede und Vergangenheit sowie Prunkrede und Gegenwart bezieht, weist darauf hin, dass er eine Systematisierung vornimmt, die sich nicht aus der Struktur der Rede selbst herleiten lässt, sondern diese in gewisser Weise logisch überformt. Das zeigt sich auch in den weiteren Bestimmungen, die die aristotelische Rhetorik vorgibt. So unterscheidet er auch den Zweck der Rede in drei klar voneinander getrennte Formen: »Für die beratende Rede sind es Nutzen und Schaden« (Rhet. 1358b), heißt es: »Für die Gerichtsrede sind es Gerechtes und Ungerechtes« (Rhet. 1358b), und zu guter Letzt: »Für diejenigen schließlich, die loben oder tadeln, sind es das Ehrenhafte bzw. das Unehrenhafte« (Rhet. 1358b). Mit den Begriffen von Nutzen und Schaden, der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sowie dem Ehrenhaften und dem Unehrenhaften trägt Aristoteles wiederum Bestimmungen in den Zweck der Rede ein, die über die Rhetorik hinaus auf den Bereich von 141 | Christof Rapp, Kommentar, S. 254.
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Ethik und Politik verweisen. Dementsprechend nennt er als Gegenstände der Rede im Falle der beratenden Rede Haushalt, Krieg und Frieden, Landesverteidigung, Ein- und Ausfuhr von Waren sowie ganz allgemein die Gesetzgebung. In der gleichen Weise reflektiert er auf den Charakter des Redners, indem er ausführlich ganz auf das ethische Problem der Glückseligkeit eingeht: »So sei denn die Glückseligkeit ein mit Tugend verbundener angenehmer Zustand oder Selbstgenügsamkeit bei den Lebensbedürfnissen oder das freudvollste mit Sicherheit verbundene Leben oder ein Überfluß an Besitz und Gesundheit verbunden mit dem Vermögen, derartiges zu bewahren und zu erwerben« (Rhet. 1360b). Für die einzelne Darstellung der Glückseligkeit hat Aristoteles eine ganze Liste parat, die im wesentlichen mit seinen ethischen und politischen Überzeugungen in Einklang steht: »edle Herkunft, Zuneigung vieler Freunde und rechtschaffener Freunde, Reichtum, Wohlergehen mit Kindern und Kinderreichtum, ein glückliches Alter, dazu noch Vorzüge des Leibes wie Gesundheit, Schönheit, Stärke, Größe, Tauglichkeit für Leibesübungen, guter Ruf, Ansehen, Gunst des Glück, Tugend [[oder auch ihre Teile, Einsicht (Vernunft), Mannhaftigkeit, Besonnenheit (Mäßigkeit), Rechtschaffenheit]]« (Rhet. 1360b), das alles fasst Aristoteles unter der Glückseligkeit. Damit wird nicht allein deutlich, dass sich die Rhetorik wie bereits angedeutet in einer umfassenden Abhängigkeit von Ethik und Politik befindet. Das einleitende Ausblenden der Rolle der Affekte in der Rhetorik und die Ausrichtung der Rhetorik an logischen und ethischen Maßstäben am Leitfaden von Charakter und Argumentation deutet darüber hinaus an, dass Aristoteles sich vor allem an der gerichtlichen und der beratenden Rede orientiert, die Lobrede, die gerade im Mittelpunkt der gorgianischen Lehre stand, hingegen tendenziell vernachlässigt. Das zeigt sich nicht nur daran, dass er die beiden Beweisfahren der Rhetorik, Enthymem und Beispiel, wiederum klar getrennt auf die gerichtliche und die beratende Rede verteilt, die Lobrede aber auslässt: »Die Beispiele aber gehören in den Bereich der Berat u ngsrede « (Rhet. 1368a), heißt es, und weiter: »Die Ent hymeme schließlich gehören in den Bereich der Ger ic htsrede« (Rhet. 1368a). Wie Rapp festgehalten hat, gerät »Aristoteles bei der Anwendung des Grundsatzes, es komme allgemein auf das Urteil des Hörers an, im Fall der Lobrede in Schwierigkeiten.«142 Die problematische Zuordnung der Lobrede zur Gegenwart wie der Ausfall einer spezifischen Form der 142 | Ebd., S. 528.
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Argumentation für die Prunkrede zeigen, dass die aristotelische Bestimmung der Rhetorik im Zeichen einer rationalen Urteilstheorie zugleich an ihre Grenzen gelangt. Das zeigt besonders deutlich der Umgang mit dem komplexen Thema der Affekte, der die Rhetorik kennzeichnet.
4. R he torik und A ffek te Dass die Rhetorik über einen wesentlichen Bezug zur Rolle der Affekte verfügt, stellt Aristoteles in Übereinstimmung mit der Tradition gleich zu Beginn seiner Abhandlung heraus: »Denn Verdächtigung, Mitleid, Zorn und dergleichen Affekte der Seele zielen nicht auf die Sache selbst, sondern auf den Richter« (Rhet. 1354a), meint er, um hinzuzusetzen: »Durch die Zuhörer schließlich [erfolgt die Persuasion], wenn sie durch die Rede in Affekt versetzt werden, denn wir geben unser Urteil nicht in gleicher Weise ab, wenn wir traurig bzw. freudig sind oder wenn wir lieben bzw. hassen.« (Rhet. 1356a) Damit ist zwar deutlich, dass die Affekte einen wesentlichen Teil der Rhetorik bilden. Die Rolle der Affekte schätzt Aristoteles jedoch durchgängig zwiespältig ein. Auf der einen Seite soll die Überzeugung durch die Sache selbst erfolgen. In dem Maße, in dem die Affekte auf den Richter zielen, können sie ein klares Urteil aber sowohl begünstigen als auch beeinträchtigen. Auf der anderen Seite muss Aristoteles anerkennen, dass gerade die Affekte eine außerordentliche Macht auf den Zuhörer ausüben können, die über den Erfolg oder das Scheitern der Rede selbst entscheidet. Die Affekte sind demnach notwendige, zugleich aber gefährliche Bestandteile der Redekunst. Die Strategie, mit der Aristoteles diesem Problem begegnet, besteht zunächst wiederum darin, den Bereich der Affekte auf die Glaubwürdigkeit des Redners zu beziehen und damit auf ethische Grundlagen zu stellen: »Einsicht, Tugend und Wohlwollen« (Rhet. 1378a), nennt er als Gründe für die Glaubwürdigkeit, keineswegs aber die Erregung von starken Affekten, wie es die sophistische Tradition vorgab. Aber nicht allein auf den Bereich der Ethik werden die Affekte bezogen. Die zweite Strategie, der Aristoteles folgt, um einer gewaltsamen Überwältigung des Hörers durch die Erregung starker Affekte vorzubeugen, ist die Kennzeichnung der Affekte als Formen des Urteilens: »Über Wohlwollen und Freundschaft aber müssen wir in den Kapiteln über die Affekte handeln. Affekte aber sind alle solche Regungen des Gemüts, durch die Menschen sich
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entsprechend ihrem Wechsel hinsichtlich der Urteile unterscheiden und denen Schmerz bzw. Lust folgen: wie z.B. Zorn, Mitleid, Furcht und dergleichen sowie deren Gegensätze.« (Rhet. 1378a) Wie bereits im Zusammenhang mit der Poetik deutlich geworden ist, will Aristoteles unter den Affekten keinesfalls irrationale Regungen verstehen, das Ergebnis eines passiven Leidens, das dem Menschen auf geradezu körperliche Art und Weise widerfährt,143 sondern Resultate eines letztlich rationalen Urteils. »Dass Emotionen bei Aristoteles bestimmten Urteilen korrespondieren und dass sie ihrerseits Urteile beeinflussen, steht inzwischen außer Frage«144, mein Rapp. Vor diesem Hintergrund steht allerdings in Frage, was genau darunter verstanden wird, wenn Affekte als Urteile bezeichnet werden. Deutlich ist zunächst allein, dass Emotionen bei Aristoteles auf einen Seite auf charakterlichen Voraussetzungen und auf der anderen Seite auf einem bestimmten Gegenstandbezug beruhen, der zugleich auf einen logischen Sachverhalt bezogen ist. »Emotions are forms of intentional awareness«145, notiert Martha C. Nussbaum. In diesem Sinne formuliert Aristoteles: »Man muß bei jedem Affekt in dreifacher Hinsicht eine Unterscheidung treffen. Ich meine z.B. beim Zorn ist zu unterscheiden, in welcher Verfassung sich die Zornigen befinden, gegenüber wem man gewöhnlich zürnt und über welche Dinge.« (Rhet. 1378a) Am Beispiel des Zorns verdeutlicht Aristoteles, dass der Affekt eine bestimmte Stimmung des Menschen meint, dass er im wesentlichen intersubjektiv begründet ist und dass er zugleich eine Aussage über das macht, was ihn erst ausgelöst hat. Im weitesten Sinne sind Affekte Aristoteles zufolge demnach in ähnlicher Weise wie in kognitivistischen Emotionstheorien so etwas wie propositionale Einstellungen: »Insofern bei Aristoteles die Emotionen durch ihre formalen Gegenstände definiert werden, teilt Aristoteles eine wichtige Voraussetzung der Kognitivisten innerhalb der modernen Emotionstheorien, nämlich die Voraussetzung, dass Emotionen oder zumindest einige 143 | Auf diese Bedeutung weist noch Rapp hin, der betont, dass der Ausdruck pathos »das, was einem widerfährt‹, ›was man erleidet‹, also das Ergebnis […] oder Ziel […] des Leidens bzw. einer in der Regel von außen her veranlassten Veränderung.« Ebd., 543. 144 | Ebd., S. 559. 145 | Martha Craven Nussbaum, Aristotle in Emotions and Rational Persuasions, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hg.): Aristotle’s Rhetoric, S. 303-323, hier S. 303.
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Emotionen propositionale Einstellungen sind, und (zumindest primär) durch die repräsentierten Gehalte und nicht durch irgendeine Gefühlsqualität voneinander unterschieden werden können.«146 Der gemeinsame Grund zwischen Aristoteles und neueren Kognitionstheorien besteht darin, Affekte nicht als irrationale Regungen, sondern als propositionale Einstellungen verstehen zu wollen.147 Die Kennzeichnung der Affekte als Urteile in einem strengen Sinne führt daher zu weit: »Damit ist die Emotionstheorie, die der Rhetorik zugrundeliegt, am ehesten mit denjenigen modernen Theorien vergleichbar, die Emotionen zwar als propositionale Einstellungen, nicht aber ausschließlich aufgrund von Urteilen erklären wollen«148 . Die Bestimmung der Affekte als propositionale Einstellungen, die die Form eines logischen Urteils annehmen können, kennzeichnet die Rhetorik im weitesten Sinne des Wortes als eine rationale Theorie der Emotionen, die sich in einer bestimmten Nähe zu aktuellen kognitionstheoretischen Positionen befindet. Rationalisierung der Affekte heißt das Projekt, dem sich Aristoteles in der Poetik wie der Rhetorik verschreibt. Nur so kann er garantieren, dass das allgemeine Ziel der Redekunst, die Überzeugung, nicht durch eine illegitime Form der Überredung außer Kraft gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund sind die Affekte, an denen sich die aristotelische Analyse vor allem orientiert, Zorn, Furcht und Mitleid, für ihn weniger in einem poetologischen Sinne interessant, verweisen sie doch nicht allein auf die Gattungsformen des Epos und der Tragödie, sondern vielmehr auf allgemeine menschliche Bestimmungen. An die Stelle einer poetologischen Analyse der Affekte, die sich an literarischen Texten orientiert, um etwa die logische Struktur des Zorns aus der Homerschen Ilias abzuleiten, setzt Aristoteles eine anthropologische Analyse, die sich allerhöchstens verdeckt auf literarische Texte als Beispiele bezieht: »Es sei also Zor n ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst oder eines der unsrigen erblicken von jemandem, dem das Kränken nicht zukommt« (Rhet. 1378a), definiert Aristoteles mit deutlichem Bezug auf den in der Ilias verhandelten Konflikt zwischen Achill 146 | Christof Rapp, Kommentar, S. 563. 147 | Vgl. in diesem Zusammenhang aus einer modernen Perspektive Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a.M. 2009. 148 | Ebd., 568.
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und Agamemnon. Mehr als einen Beispielcharakter aber spricht er der Dichtkunst nicht zu. Die Idee, dass die Dichtung Affekte überhaupt erst herstellt und damit an einer bestimmen Form der Subjektbildung aktiv teil hat, ist ihm fremd. An die Stelle einer poetologischen Bestimmung der Affekte tritt in der Rhetorik eine zugleich rational und ethische begründete Abhandlung über die Affekte, die deren Ursprung in Epos und Tragödie dennoch nicht verleugnen kann. Vor diesem Hintergrund geht Aristoteles zwar auf eine Fülle von Affekten ein. Neben dem Zorn setzt er sich insbesondere mit Liebe und Freundschaft, mit Furcht und Mut, Scham und Freundlichkeit, Mitleid, gerechtem Unwillen, Neid und Rivalität auseinander. Über Vollständigkeit verfügt die aristotelische Auseinandersetzung mit den Affekten in der Rhetorik jedoch nicht. Im Gegenteil: Der Blick auf die meist kursorische Erwähnung der Affekte auch in anderen Schriften weist zahlreiche Unregelmäßigkeiten auf: »Die fehlende Definition der Emotionen wird noch nicht einmal durch eine konstante Liste ersetzt. Regelmäßig werden die Beispiele Zorn, Furcht und Mitleid angeführt; bei den längeren Listen gibt es hingegen Schwankungen«149 , stellt Rapp fest. Der Grund für die fehlende Definition der Affekte wie die differierenden Listen liegt in der Tatsache beschlossen, dass Aristoteles an einer einheitlichen Theorie der Affekte gar nicht interessiert sein kann, sind diese doch nur dann von Belang, solange sie auf den Charakter und die Urteilsfähigkeit des Menschen bezogen sind. Das alte Band von Dichtung und Affekten löst Aristoteles zugunsten einer im weitesten Sinne anthropologischen Analyse der Emotionen als propositionalen Einstellungen auf. Die unaufgelöste Spannung, in der seine Rhetorik verfangen bleibt, ist ihr Verhältnis zu den Affektmodulierungen, die die literarischen Texte vorführen, aus denen sich eine Analyse der Emotionen am plausibelsten ableiten ließe, aus dem Epos und der Tragödie als den paradigmatischen Orten starker Gefühlserregungen.
149 | Ebd., S. 546.
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5. R he torik und S pr ache In ähnlicher Weise wie die Auseinandersetzung mit den Affekten folgt auch die Analyse der Sprache in der Rhetorik mit einer gewissen Verspätung, um nicht zu sagen aus einer Position der Nachträglichkeit heraus. Erst im dritten Buch der Rhetorik widmet er sich dem Thema, das für Gorgias und die ältere Tradition noch ganz im Mittelpunkt der Rhetorik gestanden hatte, der Sprache. Zugleich ergeben sich dadurch enge Berührungspunkte mit der Poetik, insbesondere im Blick auf die zentrale Rolle der Metapher. Über die Bedeutung der Sprache in seiner Abhandlung notiert Aristoteles zunächst ganz allgemein: »Nun ist klar, daß dieser Komplex ebenso Bestandteil der Rhetorik wie der Poetik ist.« (Rhet. 1403b) Die enge Verbindung von Rhetorik und Poetik, die auch die nacharistotelische Tradition zu wesentlichen Teilen bestimmen wird, lässt sich insbesondere an der Metapher festmachen. In der Poetik hat Aristoteles die Metapher auf äußerst wirkungsmächtige Art und Weise folgendermaßen definiert: »Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie.« (Poet. 1457b) Die aristotelische Definition der Metapher reicht über einen im Sinne der Rhetorik präzisen Metaphernbegriff hinaus. In gewisser Weise steht die Metapher für den Bereich der poetischen Bildlichkeit insgesamt ein. Das zeigt sich u.a. daran, dass die Figuren, die von der Art auf die Gattung übertragen werden, in der Begrifflichkeit der Rhetorik gar nicht als Metapher, sondern eher als Synekdoche oder Metonymie zu fassen wären. Folgenreich ist die allgemeine Definition der Metapher aber gleich auf doppelte Art und Weise gewesen: Zum einen bestimmt Aristoteles die poetische Funktion der Sprache als eine Form des uneigentlichen Sprechens, wobei der Aspekt der Uneigentlichkeit keine Disqualifizierung der Dichtung meint, sondern eine Differenz zwischen der gewöhnlichen und der poetischen Sprache etabliert. Noch bei Roman Jakobson erscheint die poetische Funktion der Sprache als eine Abweichung von der gewöhnlichen Form des Sprechens, die von dieser unterschieden werden müsse. Zum zweiten macht Aristoteles mit der engeren Definition der Metapher als eine Form der Analogie auf die Ähnlichkeit als Grund der Metapher aufmerksam: »Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten«
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(Poet. 1457b), schreibt Aristoteles, um zugleich festzuhalten: »Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag.« (Poet. 1459a) Das aber gilt für den Dichter wie für den Philosophen gleichermaßen. Wie Aristoteles in der Rhetorik formuliert, ist es »auch in der Philosophie Charakteristikum eines richtig denkenden Menschen ist, das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen« (Rhet. 1412a). Die Fähigkeit, Ähnlichkeiten und damit Metaphern zu erkennen, verbindet den Philosophen und den Dichter. Seit Aristoteles gilt die Metapher der Rhetorik daher als eine uneigentliche Form des Sprechens, die auf Ähnlichkeitsbeziehungen beruht, die von Dichtern gebildet und von Philosophen erkannt werden. Zwar setzt sich Aristoteles noch mit weiteren Sprachformen wie der Neubildung, Erweiterung, Verkürzung und Abwandlung auseinander, die im engeren Sinne in die Rhetorik gehören. Die Metapher als Grundform poetischer Bildlichkeit bildet aber das Zentrum seiner Überlegungen zum Status der Sprache in der Poetik wie in der Rhetorik.150 Neben der zentralen Bedeutung der Metapher rücken jedoch noch weitere Themenfelder in den Blick der aristotelischen Rhetorik, die für die Ausbildung einer eigenen rhetorischen Wissenschaft von Bedeutung sind. Das betrifft zum einen die Unterscheidung der drei Teile der inventio, der elocutio und der dispositio, die sich bei Aristoteles zumindest schon angedeutet findet: »Es gibt nun drei Gebiete, die hinsichtlich der Rede zu behandeln sind: einmal, woher die Mittel zur Glaubhaftmachung erwachsen; zum zweiten, was die sprachliche Formulierung betrifft, und drittens, wie die Teile der Rede zu disponieren sind.« (Rhet. 1403b) Auch das Kriterium der Angemessenheit, das in der Geschichte der Rhetorik eine zentrale Stelle einnehmen wird, findet sich – wenn auch nur beiläufig151 – bereits bei Aristoteles: »A ngemessen heit (aptum, decorum, proprietas) wird die sprachliche Formulierung besitzen, wenn sie Affekt und Charakter ausdrückt und in der rechten Relation zu dem zugrun150 | Zur Bedeutung der Metapherntheorie vgl. Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 2. Aufl., Darmstadt 1996. 151 | »Während in der Wirkungsgeschichte der Aristotelischen Poetik und Rhetorik die Angemessenheit zeitweise zur Zentralkategorie avanciert (dies vor allem aufgrund der Vermittlung durch Horaz bzw. durch die römische Rhetoriktheorie), führt der Begriff in der Aristotelischen Rhetorik selbst eher ein Schattendasein.« Christof Rapp, Kommentar, S. 861.
5. Die aristotelische Rhetorik
deliegenden Sachverhalt steht.« (Rhet. 1408a) Die Vollkommenheit des sprachlichen Ausdrucks bindet Aristoteles an die Angemessenheit, wobei er seiner ethischen mesotes-Lehre zufolge davon ausgeht, dass das Angemessene weder zu niedrig noch zu erhaben sein darf. Von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Rhetorik sind darüber hinaus zwei weitere Bestimmungen der Rede durch Aristoteles. Auf der einen Seite unterscheidet er zwischen einem ethischen und einem pathetischen Stil: »Von diesem letzteren aber gibt es zwei Arten: nämlich auf der einen Seite der St i l, der d ie Gesin nu ng (ethischer Stil), auf der anderen Seite der, der d ie A f fek te z u m Ausd r uc k br ing t (pathetischer Stil).« (Rhet. 1413b) Auf der anderen Seite legt er in die Grundlagen für die Unterscheidung der einzelnen Teile der Rede nach der Maßgabe der Differenzierung zwischen der Darlegung und des Beweises des Gesagten: »Notwendige Teile [der Rede] sind also die kurze Zusammenfassung des zu beweisenden Sachverhalts […] und die Glaubhaftmachung […]. Diese sind folglich charakteristisch [für sie]. Am häufigsten findet man [als Teile der Rede] Eingang (), Darlegung des Sachverhaltes […], Glaubhaftmachung (pístis) und Redeschluß (epilogos).« (Rhet. 1414b) Mit Prooemium, Protheseis, Pistis und Epilogus legt Aristoteles, der an diesem Punkt wesentliche Bestimmungen des Gorgiasschülers Isokrates aufgreift,152 den Grundstein für die differenzierte Einteilung der Rede, die die römische Rhetorik vornehmen wird. Das dritte Buch der Rhetorik, das aufgrund der eigenständigen Entstehungszeit in gewisser Weise einen eigenen, in sich geschlossenen Bereich bildet, bestätigt damit die zentrale Rolle, die die Rhetorik in der Geschichte der Disziplin insgesamt einnimmt. Das kann allerdings nicht vergessen machen, dass die aristotelische Bestimmung der Rhetorik in ähnlicher Weise wie im Falle der Poetik auf zwiespältigen Grundlagen beruht. Auf der einen Seite stellt sie den Versuch dar, eine systematische Durchdringung der Redekunst zu entwickeln, die wie bereits die Poetik auf bestimmen ethischen Grundlagen ruht. Auf der anderen Seite entspricht sie einem umfassenden Rationalisierungsprogramm, dem die gesamte aristotelische Philosophie folgt. »Insgesamt ist Rhetorik für Aristoteles eine Art Selbsthilfeeinrichtung des logos […], des vernünftigen 152 | »Der entstehungsgeschichtliche Hintergrund dürfte der sein, dass Aristoteles in diesem Fall des Buches eine fremde (vermutlich: Isokratische) Vorlage benutzt und sich darauf beschränkt, das darin vorgegebene Schema kritisch zu modifizieren« Ebd., S. 1000.
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Standpunktes«153 , meint Christof Rapp vor diesem Hintergrund. Dass die aristotelische Selbsthilfeeinrichtung des Logos an dem inneren Zusammenhang von Rhetorik und Dichtkunst in ihrer zugleich rationalen wie ethischen Ausrichtung vorbeigehen muss, ist vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich, dafür aber umso bedauerlicher.
153 | Ebd., S. 133
6. Römische Rhetorik 1. D ie G rundl agen der kl assischen R he torik Dass Aristoteles in seiner Abhandlung die Grundlagen der klassischen Rhetorik geschaffen hat, kann nicht vergessen machen, dass die Rhetorik ihre volle Ausbildung zu einem differenzierten System des Wissens erst in der römischen Antike fand. Philosophie und Rhetorik stehen so von Beginn an in einem komplementären Verhältnis, das zugleich von einer geheimen Rivalität geprägt ist, die sich bereits im Streit zwischen Sophismus und Sokratik bemerkbar gemacht hatte. Hatte Aristoteles der Rhetorik einen Platz in der Philosophie sichern können, indem er sie einem umfassenden Rationalisierungsprogramm unterwarf, so wird die klassische Rhetorik, wie sie sich in der römischen Antike entwickelte, gleichsam umgekehrt verfahren und sich die Philosophie als eine Teildisziplin einverleiben. In jedem Fall aber zeigt sich, dass Philosophie, Rhetorik und mit ihnen die Frage nach dem Wesen und Ort der Dichtkunst eng miteinander verknüpft sind. Wie die Philosophie, so kann auch die Rhetorik auf eine lange Geschichte zurückblicken. »Es gibt neben der Rhetorik nur noch eine Disziplin, die in ähnlicher Weise ihre seit der Antike gewachsenen theoretischen Grundlagen auch heute noch weitgehend anerkennt: die Philosophie«154 , bemerkt Joachim Knape, und er fügt hinzu: »Rhetoriken gehören also zu den ältesten, in Form selbständiger und geschlossener Darstellungen überlieferten Fachtheorien.«155 Es ist vor allem ihre große innere Geschlossenheit, die dazu geführt hat, dass die Rhetorik von ihren griechischen Anfängen über ihre römische Vollendung hinaus bis in den Beginn der Moderne hinein zu den Leitdisziplinen des europäischen 154 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 8. 155 | Ebd., S. 11.
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Wissenssystems zählte. Dass sie insbesondere im 18. Jahrhundert in die Defensive geriet, hat nicht nur zu ihrem partiellen Vergessen geführt, das in gewisser Weise bis heute andauert, sondern auch die Gelegenheit zu zahlreichen Neugeburten gegeben. »Die Geschichte der Rhetorik ist darum eine Geschichte der permanenten Reformulierung, Erneuerung und Wiederentdeckung.«156 Das System der Redekunst selbst ist von diesem ständigen Prozess des Vergessens und Erinnerns allerdings auf erstaunliche Art und Weise unberührt geblieben. Anders als in der Philosophie gibt es in der Geschichte der Rhetorik keine Kontroversen über das Wesen der eigenen Disziplin, sondern eine Einmütigkeit innerhalb der Rhetorik, die allenfalls von außen angegriffen wurde. Unbestritten ist dabei, dass die Geschichte der Rhetorik mit Cicero und Quintilian einen nie übertroffenen Höhepunkt erreichte. Beide machten sich um die Rhetorik verdient, indem sie »die Redekunst zu einem umfassenden humanistischen Bildungssystem erweiterten, das neben der Philosophie zu dem wichtigsten, differenziertesten und wirkungsmächtigsten der europäischen Kulturgeschichte wurde«157. In ähnlicher Weise wie bereits Aristoteles begriffen Cicero und Quintilian die Rhetorik nicht als eine bloße Kunst der Überredung, sondern als Träger eines umfassenden Bildungsprogramms, das in einem engen Zusammenhang insbesondere mit Theorien der Ethik und Politik steht. Wie schon die aristotelische Abhandlung zeigt, unterhält die Rhetorik zahlreiche Querverbindungen zu verwandten Disziplinen, neben der Ethik und Politik vor allem zur Poetik wie zur Logik und Dialektik. »Die Rhetorik ist durch diesen zwiefachen Inbegriff formaler Regeln und Prozeduren einerseits mit der Poetik, andererseits mit der Logik oder Dialektik verwandt; mit der Poetik teilt sie die Stilistik, mit der Logik die Lehre vom Beweisverfahren, vom Schluß (Syllogismus)«158, stellt Manfred Fuhrmann fest. Die Nähe zwischen Rhetorik und Poetik ist so eng, dass die Theorie und Praxis der Dichtkunst geradezu zum inneren Bestandteil der Rhetorik wird. »Die Antike hat keine allgemeine Theorie der literarischen Prosa und der Prosaliteratur hervorgebracht; hier diente die Rhetorik als pars pro toto.«159 Bis zur Frühen 156 | Ebd., S. 14. 157 | Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 4., aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar 2005, S. 1. 158 | Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 8. 159 | Ebd., S. 9.
6. Römische Rhetorik
Neuzeit, in der beide allmählich auseinanderzutreten beginnen, geht die Poetik in der Rhetorik auf. Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe der folgenden Darstellung vor allem darin, das System der Rhetorik in der gebotenen Kürze zusammenzufassen. Den Ausgang bildet die anonyme Rhetorica ad Herennium als das älteste Handbuch zur Redekunst, bevor mit Cicero und Quintilian die beiden bedeutendsten Theoretiker der Rhetorik zu Worte kommen. Die Darstellung dient dabei insbesondere auch der Vorbereitung der abschließenden Diskussion um das Verhältnis von Poetik und Rhetorik am Beispiel von Horaz und Longin.
2. D as älteste S ystemprogr amm der R edekunst : R hetorica ad H erennium Die Rhetorica ad Herennium aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, benannt nach ihrem Adressaten und lange Zeit Cicero zugeschrieben, ist ein Werk, das großen Wert auf Übersichtlichkeit legt. Sie ist als ein Handbuch konzipiert, dessen Zweck vor allem darin besteht, eine systematische Übersicht der Rhetorik zu geben. Anspruch auf eigenen sprachlichen Glanz, wie ihn etwa Cicero in De oratore erhebt, beansprucht der anonyme Verfasser nicht. Alles, was er möchte, ist »ein Werk über die Technik der Rede«160 zu schreiben. Was damit vorliegt, ist die älteste systematische Darstellung der Antike aus römischer Perspektive. Dennoch ist die Rhetorica ad Herennium nicht vom Himmel gefallen. Sie kann in vielerlei Hinsicht an die griechische Rhetorik anschließen, wie sie neben Aristoteles vor allem Gorgias, Isokrates und Hermagoras entworfen haben. Wie bereits die griechische Rhetorik, so legt auch die Rhetorica ad Herennium einen großen Wert auf die politische Bedeutung der Rhetorik: »Aufgabe des Redners ist es, über die Angelegenheiten sprechen zu können, welche um der Wohlfahrt der Bürger willen durch Sitten und Gesetze festgelegt sind, und zwar mit der Zustimmung der Zuhörer, soweit diese erlangt werden kann.« (Rhet. Her. 1,1) Hier wie bereits in der griechischen Antike zeigt sich, dass die Rhetorik ein treuer Begleiter demokratischer Entwicklungen ist. »Das Wort ῥήτωρ (rhetor) ist ein Er-
160 | Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben von Thomas Nüßlein, Düsseldorf und Zürich 1998, S. 7.
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zeugnis der demokratischen Bewegung«161, bemerkt Manfred Fuhrmann im Blick auf die griechischen Ursprünge der Redekunst. Das gilt auch für die Rhetorica ad Herennium. Vor diesem Hintergrund folgt die Rhetorica ad Herennium auch der aristotelischen Einteilung der Redegattungen: »Es gibt drei Arten von Fällen, derer sich der Redner annehmen muß: die darlegende, die beratende, die gerichtliche Art.« (Rhet. Her. 1,2) Die Unterscheidung der drei klassischen Redegattungen verbindet der anonyme Autor mit der Gliederung der rhetorischen Kunst in die fünf Bestandteile der inventio, der dispositio, der elocutio, der memoria und der actio bzw. proununtiatio: »Der Redner muß also verfügen über die Fähigkeit der Auffindung des Stoffes, der Anordnung des Stoffes, der stilistischen Gestaltung des Stoffes, des Sicheinprägens, des Vortrags.« (Rhet. Her. 1,2) »Die RaH ist die älteste erhaltene Rhetorik, in der die gesamte Theorie nach dem zu ihrer Zeit bereits voll entfalteten Schema der fünf Aufgaben des Kommunikators (Orators) systematisiert ist«162, kommentiert Joachim Knape. Schulmäßig behandelt der Autor die sogenannte officia oratoris, die fünf Arbeitsschritte des Redners in der gebührenden Reihenfolge: »Die Auffindung des Stoffes ist das Erfinden wahrer oder wahrscheinlicher Tatsachen, die den Fall glaubhaft machen,« (Rhet. Her. 1,2) heißt es zunächst, dann entsprechend: »Die Anordnung des Stoffes ist das Ordnen und Verteilen der Einzelpunkte; sie macht kenntlich, was an welchem Platz anzuordnen ist.« (Rhet. Her. 1,2) Während inventio und dispositio eng zusammengehören und den Hauptteil der Rede ausmachen, ist die elocutio für die sprachliche Gestaltung der Rede zuständig: »Die stilistische Gestaltung des Stoffes ist die zur Stoffauffindung passende Anwendung geeigneter Wörter und Sätze.« (Rhet. Her. 1,2) Inventio, dispositio und elocutio nennen somit die drei Arbeitsschritte, die zur kunstgemäßen Verfertigung der Rede notwendig sind, memoria und pronuntiatio dagegen die Techniken, die den Vortrag bestimmen: »Das Sicheinprägen ist das feste geistige Erfassen der Gegenstände, der Worte und der Gliederung.« (Rhet. Her. 1,2) Die memoria ist eine Gedächtnis-, die pronuntiatio dagegen eine Darstellungskunst: »Der Vortrag ist der maßvoll abgestufte, anmutig feine Einsatz von Stimme, Minenspiel und Gebärden.« (Rhet. Her. 1,2) Inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatio verkörpern die fünf Arbeitsschritte des Red161 | Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 11. 162 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 66.
6. Römische Rhetorik
ners, die für die klassische Rhetorik kanonisch sind. Alle fünf sind vor allem auf die drei Redegattungen der beratenden, der gerichtlichen und der Lobrede bezogen, lassen sich aber auch auf die Dichtkunst übertragen, muss doch auch der Dichter über Einfall, Ordnung und Redeschmuck sowie eine bestimmte Form der Gedächtniskunst und des Vortragsstils verfügen. Horaz wird die fünf Arbeitsschritte der Rhetorik daher in seine Ars poetica ohne größere Umstände mit der Dichtkunst verknüpfen können. Die Lehre von den fünf Arbeitsschritten des Redners verbindet die Rhetorica ad Herennium mit der Unterscheidung der klassischen sechs Redeteile. »Die Auffindung des Stoffes erstreckt sich auf sechs Teile der Rede: die Einleitung, die Darlegung des Sachverhaltes, die Gliederung des Stoffes, die Begründung, die Widerlegung, den Schluß.« (Rhet. Her. 1,3) Die Unterscheidung der sechs Redeteile verweist deutlich auf ihren Ursprung in der Gerichtsrede. Auf die anderen Redegattungen, insbesondere die Lobrede, lässt sie sich nicht ohne Probleme übertragen. Systematisch unterschieden werden können in diesem Zusammenhang vier aufeinander auf bauende Teile: die Einleitung (exordium, principium), die Darstellung des Sachverhalts (narratio), die Beweisführung (argumentatio) und der Schluss (peroratio, conclusio). Während Einleitung und Schluss den Rahmen der Rede bilden, machen Darstellung und Beweisführung den Hauptteil der Rede aus.163 Die in der Rhetorica ad Herennium unterschiedenen Teile der Gliederung, der Begründung und der Widerlegung können daher als einzelne Teile der Beweisführung verstanden werden: Während die Einleitung die Funktion übernimmt, den Zuhörer oder Richter anzusprechen und für das Folgende einzustimmen, die Darlegung dagegen für die Schilderung der zur Verhandlung stehenden Ereignisse steht, seien diese nun wirklich oder angeblich geschehen, machen Gliederung, Begründung und Widerlegung den Hauptteil der Rede aus: »Die Gliederung des Stoffes ist der Teil der Rede, durch den wir eröffnen, worin Übereinstimmung besteht, was umstritten ist, und durch den wir darlegen, über welche Punkte wir sprechen wollen« (Rhet. Her. 1,3), heißt es: »Die Begründung ist die nachdrückliche Schilderung der Gründe, die für uns sprechen« (Rhet. Her. 1,3), und entsprechend über die Widerlegung: »Die Widerlegung ist die Entkräftung der gegnerischen Beweispunkte.« (Rhet. Her. 1,3) Mit den drei Teilen der Beweisführung kann die Rhetorica ad Herennium wiederum an Aristoteles anschließen, 163 | Vgl. Clemens Ottmers, Rhetorik. 2. Auflage, Stuttgart 2007, S. 53f.
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allerdings nicht ohne die logische Argumentationstheorie von Aristoteles auf die Gerichtsrede zu verengen.164 Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung der Wirkungsmittel der Darstellung: »Drei Eigenschaften soll die Darlegung des Sachverhalts haben, sie soll kurz, sie soll deutlich, sie soll wahrscheinlich sein« (Rhet. Her. 1,9). Mit der Klarheit (perspicuitas), der Kürze (brevitas) und der Glaubhaftigkeit (probabilis oder versimilis) macht die Rhetorica ad Herennium Vorgaben, die nicht nur für die Geschichte der Rhetorik von entscheidender Bedeutung sind und die auf differenzierte Art und Weise von Cicero und Quintilian ausgeführt werden konnten. Auch für die Poetik gewinnen die Begriffe der Klarheit, der Kürze und der Glaubhaftigkeit Relevanz. Sie führen zu einem klassischen Ideal der Dichtung, das zum ersten Mal bei Horaz als solches formuliert wird und – etwa im Begriff des Wahrscheinlichen und seinem Gegenbegriff, dem Wunderbaren – die gesamte europäische Geschichte der Literatur begleiten wird. Die Ursprünge einer spezifisch klassischen Dichtungstheorie verdanken sich zu wesentlichen Teilen der Rhetorik. Nicht allein narratio und argumentatio aber finden in der Rhetorica ad Herennium eine ausführliche Behandlung. Besondere Beachtung findet auch die memoria: »Jetzt will ich zur Schatzkammer der aufgefundenen Gedanken und zum Hüter aller Teile der Redekunst übergehen, zum Sicheinprägen.« (Rhet. Her. 3,16) Die Bedeutung der memoria in der Rhetorica ad Herennium ist von der Forschung entsprechend gewürdigt worden. »Den Status der Gedächtnislehre setzt der Autor sehr hoch an. Gleich zu Beginn stellt er fest, dass die Memoria nicht nur die Schatzkammer der im Prozess der Inventio aufgefundenen Gedanken ist (thesaurus inventorum), sondern die Hüterin aller Teile der Rhetorik (custos omnium partium rhetoricae)«165, meint Knape, und Ottmers setzt hinzu: »Aus der Antike besitzen wir allein vom Auctor ad Herennium eine vergleichsweise ausführliche Darstellung der memoria, während Cicero und Quintilian unverblümt alle Grundkenntnisse voraussetzen und sich dementsprechend kurz fassen.«166 164 | Ottmers meint daher ausgehend von der Rhetorica ad Herennium nicht zu unrecht, »die ursprüngliche Breite und Fülle der aristotelischen Argumentationslehre erreicht die römische Rhetorik jedoch nicht mehr.« Ebd., S. 58. 165 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 80. 166 | Clemens Ottmers, Rhetorik, S. 219.
6. Römische Rhetorik
Mit der memoria spricht die Rhetorica ad Herennium nicht allein einen Teil der Redekunst an, sondern eine umfassende Kulturtechnik, die die ganze Antike bestimmt hat.167 Die Rhetorica ad Herennium geht in diesem Zusammenhang nicht allein davon aus, dass am Ursprung der memoria sowohl die Natur als auch die Kunst stehen kann. »Es gibt also zwei Arten des Sicheinprägens: das eine ist von Natur aus gegeben, das andere künstlich erworben.« (Rhet. Her. 3,16) Als Kulturtechnik, die natürliche Anlage zur Kunst ausbildet, ist die memoria eng mit der Topik verwoben: »Das künstlich erworbene Sicheinprägen beruht also auf Orten und Bildern.« (Rhet. Her. 3,16) Von Beginn an gewinnt die memoria in der Rhetorik eine spezifisch räumliche Prägung. Sie ist bezogen auf Orte und Bilder. Nicht umsonst spricht der Autor einleitend selbst von einer »Schatzkammer« – eine Metapher, die noch Cicero in De oratore aufnehmen wird, wenn er vom Gedächtnis als der »Schatzkammer aller Dinge«168 spricht. Noch bei Augustinus in den Confessiones wird die Gedächtniskunst ganz im rhetorischen Sinne als ein Auffinden von Bildern verstanden, die an bestimmten Orten versteckt sind: »Da gelange ich zu den Gefilden und weiten Hallen des Gedächtnisses, wo aufgehäuft sich finden die Schätze unzähliger Bilder von wahrgenommen Dingen aller Art.«169 Dass die Rhetorica ad Herennium die mit der Rhetorik verbundene Topik zugleich mit einer Wachstafel vergleicht – »Denn die Orte sind einer Wachstafel und einem Blatt Papier sehr ähnlich« (Rhet. Her. 3,16) –, hat zugleich dazu geführt, dass schriftgeleitete Gedächtnistheorien wie die Psychoanalyse und die Dekonstruktion auf die materielle Form der Wachstafel zurückgehen konnten, um die Funktionsweise der Erinnerung zu bestimmen.170 Neben der memoria finden Fragen der elocutio eine besondere Beachtung in der Rhetorica ad Herennium. Nicht umsonst galt die elocutio, wie Clemens Ottmers bemerkt, »zu allen Zeiten als das Herzstück des 167 | Vgl. Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M. 1991. 168 | Cicero, De oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 1976, S 53. 169 | Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Übersetzt von Wilhelm Timme, München 1957, S. 254. 170 | Vgl. Jacques Derridas Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Notiz über den Wunderblock, in: Jacques Derrida, Freud et la scène de l’écriture, in: L’écriture et la différence, Paris 1967, S. 293-340.
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Theoriegebäudes.«171 Ihren Ausgang nehmen die Ausführungen der Rhetorica ad Herennium von der klassischen Unterteilung der drei Stilarten: »Es gibt nun drei Arten, welche ich als Stilarten bezeichne, in welchen sich jede nicht fehlerhafte Rede erschöpft: die eine nennen wir die erhabene, die zweite die gemäßigte, die dritte die schlichte.« (Rhet. Her. 4,8) Die Frage nach dem sprachlichen Ausdruck muss sich dementsprechend dem jeweiligen Stil anpassen: »Erhaben ist der Stil, der aus der geschliffenen und schmuckvollen Verbindung erhabener Worte besteht. Gemäßigt ist der Stil, der aus eindrucksvollen Worten besteht, die wohl etwas niedriger, aber nicht ganz gewöhnlich und gemein sind. Schlicht ist der Stil, der herabgesenkt ist bis zum allgemein üblichen Gebrauch der reinen Umgangssprache.« (Rhet. Her. 4,8) Von der Umgangssprache bis zur pathetischen Darstellung reicht die Spannweite der rhetorischen Ausdrucksfähigkeit. Vor diesem Hintergrund zeigt sich wiederum, dass die rhetorische Unterscheidung der drei Stilarten auch für die Poetik von Bedeutung ist. Dass die drei Stilarten eine jeweils eigene sprachliche Ausführung verlangen, verhindert allerdings nicht, dass auch sie übergreifende Regeln anerkennen müssen. »Jeder Redegattung, der erhabenen, gemäßigten und schlichten, verleihen die Ausschmückungen, über die ich sprechen werde, Würde« (Rhet. Her. 4,11). Der würdevolle Ausdruck, von dem die Rhetorica ad Herennium spricht, lässt sich nur in bestimmten Vorschriften zum richtigen Sprechen verwirklichen. Von drei Eigenschaften der kunstvollen Rede spricht die Schrift: »die Gewähltheit, die gehörige Anordnung, die würdige Darstellung« (Rhet. Her. 4,11) seien für die rhetorische Darstellung unabdingbar. Im Fall der Gewähltheit beruft sich die Rhetorica ad Herennium insbesondere auf den richtigen lateinischen Ausdruck, die Latinitas, sowie die bereits angesprochene Deutlichkeit (perspicuitas). Unter der Anordnung versteht die Schrift nicht mehr als »die gleichmäßig ausgefeilte Verbindung von Wörtern.« (Rhet. Her. 4,12), während der Redeschmuck im engeren Sinne, der sich in wort- und gedankenbezogenen Ornatus unterteilen lässt, in den Bereich der würdigen Darstellung fällt. Die Rhetorica ad Herennium geht auf eine Vielzahl von Figuren und Tropen ein, ohne in diesem Falle eine allzu große Systematisierung zu leisten, wie sie Quintilian in der Ausbildung des Redners gelingt. Sie spricht unter anderem von Wiederholung, Umkehrung, Umfassung, 171 | Clemens Ottmers, Rhetorik, S. 150.
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Wiederholung, Antithese, Ausruf, rhetorischer Frage, Überlegung, Sinnspruch, Gegensatz, Fortführung, Silbengleichheit, Endungsangleichung, Auslautsangleichung, Anklang, Einwand, Begriffsbestimmung, Übergehung, Absonderung, Verbindung, Erklärung, Umstellung, Anheimstellung, Zweifel, Aussonderung, unverbundener Ausdrucksweise, Abbrechen eines Gedankens, Schlußfolgerung, Benennung, Namensersetzung, uneigentlicher Benennung, Umschreibung, Versetzung, Übertreibung, Inbegriff, uneigentlicher Bedeutung, Übertragung, Vertauschung, Zerlegung, Freimütigkeit, Abschwächung, Schilderung, Zerteilung, Ausmalung, Verweilen, Antithese, Vergleich, Beispiel, Bild, Charakterisierung, Verkörperung, nachdrucksvolle Andeutung, Kürze und anschaulicher Schilderung. Dieser imposante Katalog verdeutlicht noch einmal, dass es sich bei der Rhetorica ad Herennium um ein Handbuch handelt, das einen Überblick über das komplexe System der Rhetorik geben will, ohne doch die Eigenständigkeit für sich zu beanspruchen, die ohne Zweifel Cicero und Quintilian schon allein in der Dialogform der sprachlichen Darstellung ihrer Texte zukommt.
3. D ie V ollendung der kl assischen R he torik : C iceros D e oratore Die Unterschiede zwischen der Rhetorica ad Herennium und Ciceros De oratore könnten größer nicht sein. »Die ›Rhetorik an Herennius‹ gehört zum advokatorisch-juristischen Handbuchtyp; Ciceros Abhandlung bemüht sich um ein reflektierteres, stärker der politischen Dimension zugewandtes Verhältnis zu ihrem Gegenstand«172, fasst Manfred Fuhrmann zusammen. »Die Perspektive, unter der sich Cicero dem Fach Rhetorik annähert, ist die des Orators als rhetorisch Handelndem. Darin unterscheidet er sich grundlegend von der Rhetorik ad Herennius, der es um das Schulwissen und die isolierte, auf ihr Regel- und Definitionengerüst reduzierte Fachsystematik ging«173, meint auch Joachim Knape. Das macht sich vor allem in der sprachlichen Darstellung bemerkbar. Während die Rhetorica ad Herennium einen nüchternen Handbuch entspricht, besteht Ciceros De oratore aus dem Jahre 55 v. Chr. in einer kunstvollen Abhand172 | Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 48. 173 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 94f.
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lung über die Rhetorik und ihr Verhältnis zur Philosophie in der Form eines aristotelischen Dialogs mit hoch frequentem Rednerwechsel, der im Jahre 91 v. Chr. die beiden bedeutendsten Redner der Zeit, Lucius Licinus Crassus und Marcus Antonius, mit anderen vornehmen Römern, unter anderem Gaius Iulius Caesar, Quintus Mucius Scaevola und Quintus Lutatius Catulus, in einem der Landhäuser von Tusculum versammelt. In drei Büchern schildert Cicero auf eine selbst durch und durch von der Kunst der Rhetorik bestimmten Weise, was Crassus, Marcus Antonius sowie Scaevola und Catulus zur Rhetorik zu sagen haben. Im Laufe der Gespräche erweist sich Crassus als Vertreter eines umfassenden Verständnisses der Rhetorik als Grundlage von Lebensführung und Wissenschaft, während Marcus Antonius eher einem pragmatischen Verständnis der Rhetorik als Redekunst zuneigt. Die kunstvolle Darstellung des philosophisch-rhetorischen Dialogs erlaubt es Cicero so, insbesondere vermittelt durch die Figur des Crassus das gesamte Feld der Rhetorik dem Leser anschaulich vor Augen zu führen. Das erste Buch ist zunächst den unterschiedlichen Positionen von Crassus und Marcus Antonius gewidmet, die Cicero seinem Bruder Quintus als Inbegriff rhetorischer Kunstfertigkeit vorstellt. Er möchte, dass sein Bruder »die Ansicht der größten und glanzvollsten Redner über die gesamte Redekunst« (De orat. 1,4) erfährt. Cicero verbindet seine einleitende Fiktion mit der Darstellung seines eigenen Verständnisses der Rhetorik, das weit über eine bloß instrumentelle Bestimmung der Redekunst hinausgeht: »denn während ich behaupte, die Kunst der Rede setze höchste Bildung auf wissenschaftlichem Gebiet voraus, meinst du, sie sei von den Feinheiten der Theorie zu trennen und gewissermaßen auf Begabung und praktische Übung zu gründen.« (De orat. 1,5) Als praktische Übung, die nicht theoriefähig sei, hatte schon Platon die Rhetorik verstanden. Indem Cicero seinem Bruder Quintus den platonischen Rhetorikbegriff in den Mund legt, schafft er zugleich die Möglichkeit, sein eigenes und deutlich weiter angelegtes Verständnis der Redekunst auszuführen. Wenn er behauptet, dass die Rhetorik höchste wissenschaftliche Bildung für sich beanspruchen kann, dann macht er von Beginn an deutlich, dass er im Unterschied zu Platon davon ausgeht, dass die Rhetorik nicht nur selbst eine Wissenschaft ist, sondern an Stelle der Philosophie den anderen Wissenschaften vorsteht. Um sein Lob der Rhetorik zu begründen, beruft sich Cicero einleitend darauf, »wie gering die Zahl der Redner ist und immer war.« (De orat. 1,8)
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Nicht nur in eine Nähe zur Philosophie rückt die Rhetorik damit, sondern auch in eine zur Dichtkunst. »Ich sage wohl die Wahrheit, wenn ich behaupte, daß unter allen, die sich mit diesen vornehmen Künsten und Wissenschaften abgegeben haben, die Anzahl großer Dichter und Redner am kleinsten war.« (De orat. 1,11) Dichter und Redner erscheinen in Ciceros gewiss nicht unbescheidener Darstellung gleichermaßen privilegiert wie marginalisiert. »Der Dichter nämlich steht dem Redner nahe, etwas gebundener im Rhythmus, aber freier in der Ungebundenheit der Sprache; in vielen Formen schmückender Gestaltung ist er gar sein Gefährte und ihm fast gleich« (De orat. 1, 70.). Damit deutet sich die große Nähe an, die Rhetorik und Poetik bis ins 18. Jahrhundert miteinander verknüpfen wird. Was den Redner und den Dichter verbindet, ist die Aufmerksamkeit auf die Sprache als dem gemeinsamen Grund von Rhetorik, Philosophie, den Wissenschaften und der Dichtkunst selber. »Gilt es doch, sich ein Wissen von sehr vielen Dingen anzueignen, ohne das die bloße Wortgewandtheit leer und lächerlich erscheint, der Rede selbst nicht nur durch die Auswahl der Worte, sondern auch durch ihre Fügung die rechte Form zu geben und alle Regungen des Herzens, die die Natur dem Menschen gab, genau zu untersuchen; denn alle Wirkung und Methode der Redekunst hat sich in der Besänftigung und Erregung der Zuhörer zu erweisen.« (De orat. 1,17) Wie Cicero meint, kommen in der Rhetorik sachbezogenes Wissen und sprachliche Darstellungskunst überein. Wenn er als Wirkung und Methode der Redekunst die Besänftigung und Erregung des Zuhörers angibt, dann wird deutlich, dass er sich im Unterschied zu Aristoteles ganz und gar dem Pathos verpflichtet. »Durch Cicero erfährt besonders das Pathos eine enorme Aufwertung«174, bemerkt Clemens Ottmers in diesem Zusammenhang. »Wer wüßte denn nicht, daß die Wirkung eines Redners sich vor allem darin zeigt, daß er das Herz der Menschen sowohl zum Zorn, Haß oder Schmerz antreiben wie auch von diesen Regungen in eine Stimmung der Milde und des Mitleids zurückversetzen kann?« (De orat. 1,53) Nicht das Pathos allein aber ist entscheidend. Vielmehr geht Cicero von einer grundlegenden Doppelkompetenz des Redners aus, der wohl um die Sache, über die er spricht, als auch über die Sprache, in der er spricht, Bescheid wissen muss.175 »Nach meiner Meinung könnte 174 | Clemens Ottmers Rhetorik, S. 129. 175 | In diesem Sinne spricht auch Knape von dem »Prinzip der universalen Doppelkompetenz.« Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 98.
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jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhms erreichen, ohne sämtliche bedeutende Gebiete und Disziplinen zu beherrschen; denn aus dem Wissen um die Sache muß die Rede in Glanz und Fülle des Ausdrucks erwachsen.« (De orat. 1,20) Das kritische Urteil über die Rhetorik, dass Platon in der Auseinandersetzung mit den Sophisten begründete, setzt Cicero außer Kraft, indem er dem Redner zuspricht, sehr wohl über ein Wissen zu verfügen, das seiner Kunst einen sicheren Grund gibt. Bei Cicero kommt ein Selbstbewusstsein der Rhetorik zu Worte, das in dieser Form einzigartig ist und selbst den Vergleich mit der griechischen Antike nicht zu scheuen braucht: Ich will auch nicht mit einem Katalog von Regeln wieder bei den Anfangsgründen unseres alten Schulunterrichts beginnen, sondern mit dem, was einmal – wie ich hörte – im Kreis führender Redner und hochgestellter Persönlichkeiten unseres Landes besprochen wurde. Nicht daß ich das verachtete, was uns griechische Theoretiker und Lehrer in der Kunst der Rede hinterlassen haben; da ihre Lehren aber offen vor Augen liegen und durch eine Erklärung von meiner Seite weder wirkungsvoller zu entfalten noch klarer auszudrücken sind, wirst du, mein Bruder, es mir wohl verzeihen, daß mir die Männer, denen unsere Landsleute den höchsten Ruhm der Redekunst zusprachen, mehr gelten als die Griechen. (De orat. 1,23)
Rom muss sich nicht hinter Athen verstecken, das ist die Botschaft, die in De oratore deutlich zum Ausdruck kommt. Entsprechend ist der Anspruch der Schrift von der Forschung bewertet worden. »Cicero setzt hoch an. Er will für die römische Literatur ein Werk schaffen, das die von den Griechen geführten Diskussionen über die Grundlagen der Rhetorik fortschreibt.«176 Cicero schreibt die griechischen Grundlagen der Rhetorik nicht nur fort, er überbietet sie zugleich. Die platonische Kritik der Beredsamkeit verwandelt er geradezu in ihr Gegenteil. Über Platon schreibt er wie bereits in kaum überhörbarer Ironie, »daß er sich – so schien es mir – mit seinem Spott über den Redner selbst als ein Meister der Beredsamkeit erwies.« (De orat. 1,47) Ciceros Ironie richtet sich auf das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik, wie es sich der griechischen Antike darstellte. In dieser Perspektive erscheint Platon nicht allein als ein brillanter Philosoph, sondern vor allem als ein guter Redner. Für diesen gelte ebenso wie für den Philosophen, dass er stets weiß, worüber er redet: »Es kann ja 176 | Ebd., S. 91
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keine Meisterschaft im Reden geben, wenn der Redende den Gegenstand der Rede nicht beherrscht.« (De orat. 1,48) Den Gegenstand beherrschen bedeutet aber, Sache und Sprache miteinander verbinden zu können. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich Ciceros schlagende Kritik am Sokratismus: »Es klingt zwar recht plausibel, was Sokrates zu sagen pflegte, und doch ist es nicht wahr, daß jedermann auf dem Gebiet, das er beherrsche, ein hinreichend guter Redner sei; da kommt der Wahrheit die Behauptung näher, daß man weder in dem beredt sein kann, was man nicht kann, noch das, worüber man Bescheid weiß, wortgewandt behandeln kann, wenn man bei allem Wissen auch die rechten Worte zu finden und zu feilen weiß.« (De orat. 1,63) Der Redner ist ein Philosoph, der auch noch gut zu reden weiß. Der Grund für die Seltenheit großer Redner und Dichter liegt in der Tatsache beschlossen, dass viele zwar über ein Talent verfügen, das Zusammengehen von philosophischer und wissenschaftlicher Begabung mit der Kunst des Redens aber allzu selten zusammenfällt. Vom Redner verlangt Cicero daher nicht allein, dass er sich »über den gesamten Teil, der von der Lebensführung und den Sitten handelt, gründlich unterrichten« (De orat. 1,69) muss. Ebenso gilt, »daß du nicht irgendeine Disziplin oder Wissenschaft gering schätztest, sondern alle Begleiterinnen und Dienerinnen des Redners darstelltest.« (De orat. 1,75) Die Ethik und die Wissenschaft finden ihren gemeinsamen Grund in der Rhetorik. In der Kunst der Rede erkennt Cicero wie nach ihm Quintilian die Vollendung der sprachlichen Bildung des Menschen: »Als wortgewandt bezeichnete ich nämlich den, der scharfsinnig und klar genug vor durchschnittlichen Menschen entsprechend der ganz normalen Meinung der Leute reden könne, als Meister der Rede aber denjenigen, der, was er wolle, zu erstaunlicherer und großartigerer Schönheit und Größe zu steigern wisse und dessen Geist und Gedächtnis sämtliche Quellen aller Bereiche, die zur Redekunst gehörten, umfasse.« (De orat. 1,94) In De oratore nutzt Cicero daher die Gelegenheit, ein möglichst umfassendes Bild der Rhetorik zu geben. In ähnlicher Weise wie bereits der anonyme Autor der Rhetorica ad Herennium greift er die aristotelische Unterscheidung der drei großen Redegattungen auf und verbindet sie mit der Einteilung der Rhetorik in die fünf Arbeitsschritte der inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio: »Dabei sei die gesamte Tätigkeit des Redners in fünf Teile eingeteilt: Er müsse erstens finden, was er sagen solle, zweitens das Gefundene nicht nur hinsichtlich der Anordnung, sondern auch der Bedeutung und entsprechend einem Urteil ordnen und
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zusammenstellen, es schließlich drittens in wirkungsvolle Worte kleiden, dann im Gedächtnis auf bewahren und endlich würdevoll und elegant vortragen.« (De orat. 1,142) In der gleichen Weise greift er auf die Kriterien zurück, die bereits die Rhetorica ad Herennium angegeben hatte, um die Wirkungsmittel der gelungenen Rede zu fassen: »Dabei verlangt die Vorschrift, daß wir erstens sprachlich richtig, zweitens klar und deutlich, drittens wirkungsvoll und viertens der Würde des Themas angemessen und gleichsam schicklich formulieren.« (De orat. 1,144) Auch die Einteilung der Rede in Einleitung, Darstellung, Argumentation und Schluss greift Cicero auf: »Ehe wir zur Sache kämen, gelte es zunächst, die Herzen der Zuhörer zu gewinnen, dann die Sache darzulegen, danach den strittigen Punkt festzustellen, sodann unseren Standpunkt zu erhärten, darauf die Gegenargumente abzuweisen, am Schluß der Rede aber das, was für uns spreche, groß herauszustellen und hervorzuheben, was für die Gegenseite spreche, zu entkräften und zu widerlegen.« (De orat. 1,143) In allen Fällen zeigt sich, dass es Cicero in noch stärkerem Maße als seinen Vorgängern um das Pathos, die sprachliche Kraft als solche geht. Wer immer dieses Pathos erreicht, wird als großer Redner bezeichnet werden können. Das gilt selbst für den Philosophen: »Und nach demselben Grundsatz könnte man die Philosophen, die die Griechen als Naturphilosophen bezeichnen, Dichter nennen, weil der Naturphilosoph Empedokles ein ausgezeichnetes Gedicht geschrieben hat.« (De orat. 1,217) Wie kein anderes Werk der Antike wertet Cicero das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie, wie es Platon vorgegeben hatte, um. Als Gipfel der sprachlichen Kunst gilt ihm die Rhetorik zugleich als die höchste Philosophie. Die sokratische Kritik an Gorgias kann er daher nicht anerkennen. Über die Kritiker der Sophisten hält er fest: »Sie machen sich dabei auch noch, wie Sokrates im ›Gorgias‹, über den Redner lustig und stellen irgendwelche Regeln über seine Kunst in spärlichen Traktätchen auf, die sie Rhetorik nennen, als ob nicht das in die Zuständigkeit des Rhetors fiele, was eben diese Leute über die Gerechtigkeit, die Pflicht, die Gründung und Lenkung der Staaten, über das Leben insgesamt und selbst das Wesen der Natur zu sagen wissen.« (De orat. 3,122) Den Streit zwischen Sokrates und Gorgias, wie ihn Platon überliefert, entscheidet Cicero daher anders: »doch wurde er entweder nie von Sokrates besiegt, und jener Dialog Platons entspricht gar nicht der Wahrheit, oder es ist offenbar, daß Sokrates im Falle seiner Niederlage beredter und wortgewandter beziehungsweise, wie du es nennst, wortreicher und als Redner
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besser war« (De orat. 3,129). Wenn sich Sokrates gegen Gorgias durchgesetzt hat, dann allein, weil er der bessere Redner war. Wie auch immer der Streit zwischen Sokratismus und Sophismus zu entscheiden ist: Es ist die Rhetorik, die die Philosophie überragt. »Doch falls wir fragen, was allein überragt, gebührt die Palme dem Redner, der gebildet ist. Wenn man ihn auch zugleich als Philosophen gelten läßt, so ist der Streit behoben. Wenn man die Philosophen aber von den Rednern unterscheidet, so werden sie insofern unterlegen sein, als ihr gesamtes Wissen dem idealen Redner zur Verfügung steht, die philosophische Erkenntnis aber nicht notwendig die Beredsamkeit enthält.« (De orat. 3,143) Schärfer könnte der Vorrang der Rhetorik vor der Philosophie nicht formuliert werden. Bei Cicero gerinnt die Rhetorik zum Grund aller Bildung des Menschen und beansprucht die Krone der Wissenschaften für sich. Auf der Grundlage dieses erweiterten Rhetorikbegriffes gibt Cicero im zweiten und dritten Buch des De oratore eine umfassende Darstellung der Redekunst. Erneut geht er auf die fünf Arbeitsschritte des Redners ein, fordert wissenschaftliche und ethische Bildung als Grundlagen des Faches, um zugleich auf die drei Stilarten einzugehen. Es gehe der Redekunst darum, »die Menschen zu gewinnen, zum andern sie zu informieren, und drittens auf sie einzuwirken. Von diesen drei Aspekten braucht der erste schlichte Einfachheit der Rede, der zweite pointierte Kürze, der dritte Kraft und Schwung.« (De orat. 2,128-129) Weiterhin misst er dem Pathos die größte Bedeutung zu. »Denn nichts ist ja beim Reden wesentlicher, Catulus, als daß der Zuhörer dem Redner gewogen ist« (De orat. 2,178), lässt er Marcus Antonius sagen. Das Pathos kennzeichnet in diesem Zusammenhang nicht die Rede allein, sondern auch den Redner, der nur so große Gefühle beim Hörer erzeugen kann: »Ich hätte bei Gott niemals vor Gericht mit meiner Rede Schmerz und Mitleid, Neid und Haß erregen mögen, ohne selbst bei der Beeinflussung der Richter von den Empfindungen bewegt zu werden, zu denen ich sie bringen wollte.« (De orat. 2,189) Das Pathos gilt Cicero als das A und O der Rede. Dabei ist Ciceros Verständnis der Rhetorik alles andere als normativ. »Meines Erachtens liegt jedoch der Wert und Nutzen dieser Regeln nicht darin, daß wir durch eine Theorie angeleitet werden herauszufinden, was wir sagen sollen, sondern darin, daß wir bei dem, was wir durch unsere Begabung, Bemühung oder Übung zustande bringen, Vertrauen in die Richtigkeit oder Einsicht in die Verkehrtheit gewinnen, wenn wir gelernt haben, woran wir uns dabei orientieren müssen.« (De orat. 2,232) Cicero versteht
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unter der Rhetorik keine bloße Applikationswissenschaft, sondern eine umfassende theoretische wie praktische Einsicht in die Kunst des rechten Redens.177 Vor diesem Hintergrund setzt er sich zunächst ausführlich auf eine sehr originelle Art und Weise mit dem Witz auseinander, bevor er sich Fragen der elocutio zuwendet. »Zu den Mitteln des Ausdrucks gehören auch die Wirkungen, die man durch allegorische Redeweise, übertragenen Gebrauch eines Wortes oder ironische Formulierung erzielt.« (De orat. 2,261) Allegorie, Übertragung (Metapher) und Ironie führt Cicero zunächst auf, um sich in der Folge mit dem philosophischen Zusammenhang von Sprache und Gedanken auseinanderzusetzen. Im Unterschied zur klassischen Philosophie trennt er zwischen der Idee und dem sprachlichen Ausdruck nicht. Vielmehr stellt er fest, »daß man weder den Schmuck der Formulierung finden kann, ohne sich den Gedanken zurechtgelegt zu haben, noch den Gedanken ohne die erhellende Kraft des Ausdrucks erklären kann.« (De orat. 3,24) Gedanke und Sprache sind Ciceros Überzeugung zufolge unauflösbar miteinander verbunden. Vor diesem Hintergrund geht er wie bereits die Rhetorica ad Herennium ausführlich, aber systematischer auf Figuren und Tropen ein. Wie schon Aristoteles, so spricht Cicero der Metapher eine besondere Bedeutung zu. Über die metaphorische Übertragung, die er ebenfalls als eine Form der Ähnlichkeit versteht,178 notiert er: »Unter den Einzelwörtern gibt es aber keine Ausdrucksmöglichkeit, die wirkungsvoller wäre, und keine, die der Rede mehr Glanz verleihen könnte.« (De orat. 3,166). Über die memoria und die actio, die praktischen Teile der Rede, sagt Cicero dagegen verhältnismäßig wenig. Sein Interesse richtet sich auf den systematischen Zusammenhang von inventio, dispositio und elocutio, deren Ineinandergreifen für ihn garantiert, dass die Rhetorik an der Spitze aller Wissenschaften steht. »Die wahre Redekunst jedoch ist so umfassend, daß sie den Ursprung, die Auswirkung und die Abwandlungen al177 | »Damit geht Crassus auf Distanz zur Applikationtheorie, nach der die rhetorischen Mittel nur aufgesetzter Schmuck sind.« Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 128. 178 | »Sofern man nämlich etwas, was sich mit dem eigentlichen Ausdruck kaum erklären läßt, auf übertragene Weise bezeichnet, so verdeutlicht die Ähnlichkeit der Sache, die wir mit dem uneigentlichen Wort einführen, was man verstehen soll.« (De orat. 3,155)
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ler Dinge, Tugenden und Pflichten und der gesamten natürlichen Voraussetzungen, auf die sich Sitten, Sinn und Leben der Menschen gründen, in sich schließt« (De orat. 3,76). Angesichts dieser brillanten Darlegung des Wesens und der Wirkung der Rhetorik kann Manfred Fuhrmann zusammenfassen: »Mit Cicero erreichte die politische Beredsamkeit der Römer ihren Höhepunkt und zugleich ihr abruptes Ende.«179
4. D as W issen der R he torik . Q uintilians A usbildung d es R edners Zwar verkörpert Cicero ohne Zweifel den Höhepunkt der klassischen Rhetorik. Ihre vollständigste Verkörperung aber hat sie in Quintilian gefunden. Wie Joachim Knape dargelegt hat, ist die Ausbildung des Redners aus dem Jahre 96 n. Chr. so etwas wie »die Summe des rhetorischen Wissens der römischen Kaiserzeit.«180 In dem gleichen Maße wie Cicero, auf den sich Quintilian in seiner Schrift immer wieder bezieht, geht seine Abhandlung über eine bloße Beschreibung der Rhetorik deutlich hinaus. »Sie ist ein anregender Traktat über Menschenbildung, geschrieben mit philosophischem Anspruch, pädagogischen Geschichtlichkeitsvorstellungen, rhetoriktheoretisch kritischem Bewußtsein und hochreflektierter Sachkompetenz.«181 Im Unterschied zu Cicero ist die Ausbildung des Redners allerdings von einem anderen wissenschaftlichen Zugriff geprägt. In zwölf Büchern entfaltet Quintilian ein Bild der Rhetorik, das die Konturen der Disziplin bis heute geprägt hat. In ähnlicher Weise wie Cicero beginnt Quintilian mit einem Lob des vollkommenen Redners. »Dem vollkommenen Redner aber gilt unsere Unterweisung in dem Sinne jener Forderung, daß nur ein wirklich guter Mann ein Redner sein kann; und deshalb fordern wir nicht nur hervorragende Redegabe in ihm, sondern alle Mannestugenden.«182 Der Begriff der Rhetorik, dem sich Cicero und Quintilian verpflichten, geht 179 | Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 65. 180 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 134. 181 | Ebd., S. 133. 182 | Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Erster Teil: Buch I-VI. Herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1998, S. 7.
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über die Kunst der Beredsamkeit hinaus, um sich zugleich einem ethischen Ideal zu überantworten, das auf der Identität zwischen dem guten Redner und dem im ethischen Sinne intakten Mann insistiert. Ueding/ Steinbrunk sprechen daher vom inneren »Zusammenhang von Ethik und Rhetorik«183 bei Quintilian. Die Rhetorik nähert sich so der Philosophie an, beide seien »wie ihrem Wesen nach verbunden, so auch in ihrer praktischen Wirkung im Leben vereint« (Inst. orat. I Prooemium 13). Vor diesem Hintergrund fasst Quintilian zusammen: »Es sei also der Redner der Mann, der den Namen des Weisen recht eigentlich verdient: nicht nur in seiner Lebensführung vollkommen – denn nach meiner Meinung genügt das noch nicht, wenn auch andere anderer Meinung sind –, sondern vollkommen auch durch sein Wissen und die Gabe, für alles das rechte Wort zu finden.« (Inst. orat. Prooemium 18) Von Beginn an gibt sich Quintilian als ein Schüler Ciceros zu erkennen, der an dem Ideal des vollkommenen Redners festhält. Vor dem Hintergrund der einleitenden Darstellung des Ideals rhetorischer Vollkommenheit geht es Quintilian zunächst darum, eine möglichst vollständige Beschreibung des Gegenstands zu liefern, den er in seiner Abhandlung zu bestimmen sucht. Die Rhetorik also – denn so wollen wir ohne Angst vor dem Streit um Worte unsere Kunst nennen – läßt sich, glaube ich, am besten gliedern, wenn man von der Kunst, dem Künstler sowie dem Kunstwerk handelt. Kunst soll dabei soviel heißen wie Lehrfach, das heißt also: sie ist die Lehre von der guten Rede. Der Künstler ist der Mann, der diese Lehre empfangen hat, das heißt also der Redner, dessen Ziel es ist, gut zu reden. Das Werk ist das, was von dem Künstler hervorgebracht wird, das heißt also die gute Rede.« (Inst. orat. II 14,5)
In systematischer Hinsicht unterscheidet Quintilian Kunst, Künstler und Kunstwerk, um eine möglichst vollständige Beschreibung der Rede geben zu können. Die Bestimmung der Rhetorik als Lehre von der guten Rede, dem Redner als Künstler und seinem Werk als die gute Rede zeigt deutlich die produktionstechnische Ausrichtung der Redekunst. Als Lehrfach ist die Rhetorik wesentlich auf den Redner als dem Urheber der Rede bezogen. Quintilian greift in diesem Zusammenhang die alte, von Aristoteles zurückgewiesene Definition der Rhetorik als einer Kunst der 183 | Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 1.
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Überredung auf: »Es ist also die häufigste Definition, ›die Rhetorik sei die Fähigkeit zu überreden‹. Was ich ›vis‹ (Fähigkeit) nenne, bezeichnen sehr viele mit ›potestas‹ (Möglichkeit); einige mit ›facultas‹ (Gabe). Damit dies keine Unklarheit bringe, sage ich, ›vis‹ meine soviel wie δύναμις (Kraft, Möglichkeit).« (Inst. orat. II 15,3) Aristoteles hatte die Rhetorik nicht als Kunst der Überredung, sondern der Überzeugung verstehen wollen. Wie schon Cicero, so nimmt auch Quintilian diese Bestimmung zurück und rehabilitiert die Rhetorik als Kunst der Überredung, die auf der Fähigkeit beruht, gut reden zu können: »Diesem Wesen der Rhetorik wird am meisten die Definition gerecht: ›Die Rhetorik sei die Wissenschaft, gut zu reden‹« (Inst. orat. II 15,34). Im Unterschied zu ihrer Verurteilung bei Platon und Aristoteles spricht Quintilian der Rhetorik als Kunst der Überredung jedoch zugleich ethische und politische Qualitäten zu. Denn gut reden impliziert sowohl, dass der Redner ein guter Mensch ist als auch, dass seine Kunst nützlich ist. »Wenn er aber die Wissenschaft, gut zu reden, ist, was wir als ihr Ziel betrachten, so daß der Redner vor allem ein guter Mensch ist, so wird man gewiß auch zugeben müssen, sie sei nützlich.« (Inst. orat. II 16,11) Daher kann er zusammenfassend über die Rhetorik sagen, »sie sei eine Kunst, sei nützlich und sei eine Tugend« (Inst. orat. III 1,1). Für das rhetorische Selbstverständnis ist es selbstverständlich, dass der Redner alle Qualitäten in sich vereinigt, die überhaupt nur denkbar sind. Die Rhetorik und die Philosophie durchdringen sich so wechselseitig. Auf dieser Grundlage fasst Quintilian noch einmal die wesentlichen Bestimmungen zusammen, die ihm geschichtlich vorliegen. Wie schon Aristoteles, so geht auch Quintilian zunächst von der Unterscheidung der Lob-, Beratungs- und Gerichtsrede aus, um sich zugleich den fünf Arbeitsschritten zuzuwenden, die die gute Rede kennzeichnen: »Die gesamte Redelehre besteht nun, wie die meisten und bedeutendsten Sachkenner überliefert haben, aus fünf Abteilungen: der Erfindung, der Anordnung, der Darstellung, dem Gedächtnis und dem Vortrag oder der Durchführung« (Inst. orat. III 3,1). In der gleichen Weise geht er von den unterschiedlichen Teilen insbesondere der Gerichtsrede aus: »Proomium, Erzählung, Beweisführung, Widerlegung, Schlußwort« (Inst. orat. III 9,1), nennt er ausdrücklich als wesentliche Bestandteile der Gerichtsrede. Auch die Kriterien der Klarheit, der Kürze und der Glaubhaftigkeit übernimmt er aus der rhetorischen Tradition. Quintilians Ausführungen können kaum Anspruch
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auf große Originalität erheben. Sie zeigen vielmehr, dass sich die Rhetorik als ein relativ stabiles System mit wenigen Variationen etabliert hat. Wie bereits Cicero, so gibt auch Quintilian dem Pathos ein besonderes Gewicht. Sowohl in der Beratungs- als auch in der Gerichtsrede sei das Ziel der Rede, »was bei weitem das Durchschlagendste ist, die Leidenschaften erregen » (Inst. orat. IV Prooemium 6) zu können. Immer wieder betont Quintilian, dass »nichts der Rede mehr Durchschlagkraft geben kann« (Inst. orat. VI 2,2) als Gefühlsregungen. Und wie bereits Aristoteles, so unterscheidet auch Quintilian zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Gefühlen: Solche Gefühlsregungen aber gibt es, wie wir seit alters gelernt haben, zwei Arten: die einen nennen die Griechen πάθος , was wir im Lateinischen richtig und im eigentlichen Sinn mit Affekt (adfectus) wiedergeben, die andere ἔθος , wofür wenigstens nach meinem Empfinden die lateinische Sprache kein Wort hat: ›mores‹ nennt man es, und daher heißt auch die philosophische ἠθική (Ethik) Moral.« (Inst. orat. VI 2,8)
Mit Pathos und Ethos nennt Quintilian die beiden Gefühlsregungen, die für die Rhetorik von Bedeutung sind. Allerdings ordnet er das Ethos in diesem Zusammenhang eher der Philosophie, das Pathos eher der Redekunst zu. Denn ihre Fähigkeit besteht darin, durch das Erregen starker Affekte Gewalt auf den Hörer auszuüben. Ganz unverblümt spricht Quintilian dem Redner die Fähigkeit zu, in der Gerichtsrede die Richter zu überwältigen, selbst dann, wenn es notwendig ist, von der Wahrheit abzurücken: »Wo es aber gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun und den Geist selbst vor dem Blick auf die Wahrheit abzubringen, da liegt die eigentliche Aufgabe des Redners.« (Inst. orat. VI 2,5) Quintilian stellt die Affekte über die Wahrheit. Das gilt nicht allein für die Rhetorik, sondern ebenso für die Dichtung. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass insbesondere die dramatischen Gattungen der Tragödie und der Komödie (Inst. orat. VI 2,20) von Affekten wie Zorn, Hass, Furcht und anderen bestimmt werden. Wenn die rhetorische Fähigkeit, Affekte zu erregen, auf Kosten der philosophischen Wahrheit gehen mag, so begründet sie das enge Band, das zwischen Rhetorik und Poetik besteht. In der Kunst, Affekte hervorzurufen, sind der Redner und der Dichter Verbündete, die viel voneinander lernen können.
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Mit der besonderen Bedeutung des Pathos, die Cicero und Quintilian verbindet, geht die ausführliche Auseinandersetzung mit Fragen der elocutio einher. Schon über die narratio sagt Quintilian: »die Erzählung wie nur irgendein Teil der Rede müsse mit jedem nur möglichen Schmuck und Liebreiz ausgestattet werden.« (Inst. orat. IV 2,116) Vor diesem Hintergrund entwickelt er eine ausführliche Darstellung der Tropen und Figuren, die an Systematik alles übertrifft, was bisher auf dem Gebiet der Rhetorik geleistet worden ist. Zwar meint Knape: »Eine einheitliche oder geschlossen und explizit formulierte Theorie zur Erklärung der rhetorischen Tropen und Figuren findet sich in Quintilians Werk nicht.«184 Das kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Quintilians Bestimmung der Tropen und Figuren bis heute von kaum zu unterschätzender Bedeutung geblieben ist. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Unterscheidung von Wörtern und Wortverbindungen: »Was also die Griechen φράσις nennen, bezeichnen wir lateinisch als elocutio (Ausdruck). Sie tritt nun entweder in Einzelwörtern oder in Wortverbindungen in Erscheinung. Bei den Einzelwörtern ist darauf zu achten, daß sie echt lateinisch, durchsichtig, schmuckvoll und dem, was sie erzielen sollen, angemessen sind; bei den Wortverbindungen, daß sie fehlerlos, daß sie an passender Stelle und daß sie kunstvoll (zu ›Figuren‹) gestaltet sind.« (Inst. orat. VIII 1,1) Mit der Unterscheidung von Einzelwörtern und Wortverbindungen bereitet Quintilian die von Tropen und Figuren vor. Denn Tropen bezieht er auf die Bedeutungsverschiebung auf Wortebene, Figuren dagegen auf den Satzbau. »Tropen nehmen Spielräume im Bereich der Semantik wahr, Figuren machen sich Spielräume im Bereich der Syntax zunutze«185, fasst Fuhrmann zusammen. In diesem Sinne definiert Quintilian: »Ein Tropus ist die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen.« (Inst. orat. VIII 6,1) Die Tropen bezieht Quintilian auf das Problem der eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung zurück, das seit der aristotelischen Poetik das Verständnis der Metapher bestimmt hatte. »Eigentlich gebraucht sind Wörter, wenn sie das bezeichnen, wozu sie ursprünglich bestimmt sind, übertragen, wenn sie eine Bedeutung von Natur, eine andere an der betreffenden Stelle besitzen.« (Inst. orat. I 5,71) So kann es auch nicht ver184 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 159f. 185 | Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 130.
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wundern, dass seine Ausführungen zu den Tropen die Metapher als Ausgangspunkt nehmen: »Wir wollen nun mit dem Tropus beginnen, der der häufigste und zudem der bei weitem schönste ist; ich meine die translatio (Bedeutungsübertragung), die bei den Griechen Metapher heißt.« (Inst. orat. VIII 6,4) In ähnlicher Weise wie schon Aristoteles begreift Quintilian die Metapher als eine Form der Bedeutungsübertragung, die die eigentliche durch eine uneigentliche Bedeutung ersetzt. Über Aristoteles hinaus geht er, wenn er in einer einflussreichen Definition die Metapher als kürzeres Gleichnis bezeichnet: »Im ganzen aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis und unterscheidet sich dadurch, daß das Gleichnis einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während die Metapher für die Sache selbst steht.« (Inst. orat. VIII 6,8) Wie bereits in den vor Quintilian vorliegenden Rhetorikabhandlungen, so wird auch in der Ausbildung des Redners deutlich, dass der Metapher eine doppelte Stoßrichtung zukommt. Als Bedeutungsübertragung steht sie in gewisser Weise für den gesamten Bereich der Tropen ein. Im engeren Sinne wird sie als eine Ähnlichkeitsbeziehung verstanden, die auch in ihrer Funktion als kürzeres Gleichnis zum Ausdruck kommt. Innerhalb der Tropen kommt der Metapher eine besondere Rolle zu. Sie fungiert wie ein Metatropus, der zugleich das entscheidende Kennzeichen dichterischer Rede zu sein scheint. Nicht allein auf die Metapher aber geht Quintilian in der Ausbildung des Redners ein. Neben der Metapher rücken vor allem Synekdoche und Metonymie in sein Blickfeld: »die Synecdoche aber vermag Abwechslung in die Rede zu bringen, so daß wir bei einem Ding an mehrere denken, bei einem Teil an das Ganze, bei der Art an die Gattung, bei dem Vorausgehenden an das Folgende oder auch bei alldem umgekehrt.« (Inst. orat. VIII 6,19) In ähnlicher Weise heißt es über die Metonymie: »Nicht fern der Synecdoche steht die Metonymie, d.h. die Setzung einer Benennung für eine andere.« (Inst. orat. VIII 6,23) Mit Metapher, Synekdoche und Metonymie nennt Quintilian drei eng benachbarte Tropen, die die systematische Betrachtung der elocutio immer wieder geleitet hat. Zwar behandelt er auch andere Tropen wie die Antonomasie, die Onomatopoiie, die Katachrese, Metalepsis, Epitheton sowie Allegorie und Ironie, Periphrase und Hyperbaton sowie die Hyberbel. Insgesamt aber bleibt er der Vorrangstellung der Metapher treu, nicht nur, wenn er die Allegorie als eine durchgeführte Metapher bezeichnet, sondern auch wenn er zusammenfassend feststellt: »Bei weitem am schönsten aber wirkt die Art zu
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reden, in der der Liebreiz von drei Ausdrucksmitteln sich verschmolzen hat, Gleichnis, Allegorie und Metapher« (Inst. orat. VIII 6,49). Die Tropen bestehen demzufolge auf einer übertragenen Form der Sprache, für die die Metapher Leitbild ist: Es ist also ein Tropus eine Redeweise, die von ihrer natürlichen und ursprünglichen Bedeutung auf eine andere übertragen ist, um der Rede zum Schmuck zu dienen, oder, wie die Grammatiklehrer meist definieren, ein Ausdruck, der von der Stelle, bei der er eigentlich gilt, auf eine Stelle übertragen ist, wo er nicht eigentlich gilt. Eine Figur ist, wie es ja schon der Name erkennen läßt, eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise. Deshalb werden bei den Tropen Wörter für andere Wörter gesetzt, so bei der Metapher, Metonymie, Antonomasie, Metalepse, Synecdoche, Katachrese und Allegorie, meist auch bei der Hyperbel (Inst. orat. IX 1,4).
Auf dieser Grundlage unterscheidet Quintilian die Figuren von den Tropen. Ihr Unterschied liegt zunächst darin begründet, dass Figuren nicht notwendig auf einer uneigentlichen Bedeutung beruhen: »denn die Rede läßt sich ebenso mit Worten im übertragenen wie im eigentlichen Sinn zur Figur gestalten.« (Inst. orat. IX 1,9) Im Unterschied zum Tropus beruht die Figur nicht auf einer Bedeutungsverschiebung. Vielmehr soll »unter Schema (Figur) nur das verstanden werden, was eine Veränderung der einfachen, spontanen Ausdrucksweise im Sinn des Poetischen oder Rhetorischen darstellt.« (Inst. orat. IX 1,13) Damit gibt Quintilian eine sehr allgemeine, zugleich aber tendenziell unscharfe Definition der Figur, die alles zu betreffen scheint, was irgendwie mit dem Rhetorischen und Poetischen zu tun hat. Zugleich bemüht er sich allerdings darum, eine präzisere Bestimmung der Figuren zu geben, etwa wenn er behauptet, »daß die Figuren in 2 Abteilungen zerfallen, solche […] des Denkens oder des Sinnes oder Gedankens – denn alle diese Übersetzungsweisen hat man gebraucht – und solche […] der Worte, des Ausdrucks, des Stiles, des Sprechens oder der Rede« (Inst. orat. IX 1,17). Als Beispiele für Figuren im Unterschied zu Tropen nennt er Prolepsis, Prosopopoiie, Apostrophe, Metastase, Aposiopese, Mimesis und Emphase. Eine besondere Rolle spricht er in diesem Zusammenhang der Ironie zu. »Nun ist die Ironie als Figur von der Ironie als Tropus der ganzen Gattung nach fast gar nichts unterschieden – bei beiden nämlich handelt es sich darum, das Gegenteil von dem zu verstehen, was ausgesprochen wird –, daß aber ihre Erschei-
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nungsformen verschieden sind, ist bei behutsamerem Hinsehen leicht festzustellen.« (Inst. orat. IX 2,44) Die Ironie, so lässt sich Quintilians Ausführungen entnehmen, verbindet Tropen und Figuren miteinander, neigt damit aber dazu, die Differenzen zwischen ihnen zu verwischen. Quintilian sieht sich daher noch einmal aufgefordert, die Differenz zwischen Tropus und Figur zu fassen. So sagt er, »daß der Tropus offener ist und, obwohl er etwas anderes sagt als meint, doch das andere nicht vortäuscht« (Inst. orat. IX 2,45), außerdem, dass der Tropus auch kürzer sei als die Figur. Figuren seien dagegen immer auch Formen sprachlicher Verstellung: »Dagegen handelt es sich bei der Figur der Ironie um Verstellung der Gesamtabsicht« (Inst. orat. IX 2,46), formuliert Quintilian, um auf diesem Hintergrund noch einmal zu einer allgemeinen Bestimmung der Figur zu gelangen: »Sie findet sich in dreifacher Verwendung: erstens, wenn es zu unsicher ist, offen zu reden; zweitens, wenn es sich nicht schickt; drittens in einer Art, die nur um der schönen Form willen verwendet wird und allein durch die Neuheit und Abwechslung, die sie bietet, mehr Genuß bereitet, als wenn die Mitteilung direkt erfolgte.« (Inst. orat. IX 2,66) Quintilian hat nicht nur Schwierigkeiten, scharf zwischen Tropen und Figuren zu unterscheiden. Die Unschärfe seines Begriffes der Figur führt dazu, dass die figürliche Rede als eine verstellte Form der Darstellung so gut wie überall Anwendung findet. »Die Figurenlehre an sich gibt es nicht«186, hält Clemens Ottmers fest. Dennoch hat Quintilian aber mit seiner ausführlichen Darstellung von Tropen und Figuren für jeden systematischen Versuch einer Darstellung der elocutio einen Maßstab gelegt, der kaum übertroffen worden ist. Vor diesem Hintergrund wendet sich Quintilian abschließend der Frage zu, auf welchen pädagogischen Grundlagen die Ausbildung des Redners zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang entwickelt er so etwas wie einen philosophischen und literarischen Kanon mit der schon im ersten Buch erhobenen Forderung. »daß die Lektüre mit Homer und Vergil beginne« (Inst. orat. I 8,5), um dann ausdrücklich wiederum Homer, Hesiod, Pindar, die griechischen Tragiker sowie Plato und Aristoteles und natürlich Vergil zu nennen, während »Ovid gar zu sehr verliebt in das eigene Talent« (Inst. orat. X 1,88) sei. Wie auch immer der Kanon selbst zu bewerten ist: Mit den Andeutungen zu einem Kanon, die Quintilian in der Ausbildung des Redners gibt, zeigt sich nicht allein die klassische 186 | Clemens Ottmers, Rhetorik, S. 161.
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Ausprägung der Rhetorik, sondern zugleich die enge Verbindung, die sie zu Fragen der Poetik unterhält. Selbstverständlich bleibt für Quintilian dabei, dass der Redner als »›ein Ehrenmann, der reden kann‹« (Inst. orat. XII 1,1) gelten kann. Nicht allein mit der Poetik, auch mit der Ethik steht die Rhetorik in einem engen Zusammenhang. »Gibt es denn unter den drei Teilen, in die ja die Philosophie zerfällt, Naturphilosophie, Moralphilosophie und Logik, auch nur einen, der nicht mit der Aufgabe des Redners in Verbindung steht?« (Inst. orat. XII 2,10), fragt Quintilian, um sogleich die Antwort zu geben: »Denn vollkommen wird nur der Redner sein, der versteht, im Dienst der Sittlichkeit zu reden, und den Mut dazu auf bringt.« (Inst. orat. XII 2,31) In ihrer vollkommenen Form, die Quintilian in der Ausbildung des Redners vorlegt, ist die Rhetorik die Mitte, um die sich Philosophie und Dichtkunst sammeln.
5. R he torik und P oe tik Die klassische Rhetorik, wie sie sich insbesondere bei Cicero und Quintilian herausgebildet hat, ist damit mehr als eine bloße Hilfswissenschaft, die eine der Sache, die sie vertritt, selbst äußerliche Redekunst meint. Im Gegenteil: Bei Cicero und Quintilian übernimmt die Rhetorik all die Aufgaben, die traditionell der Philosophie zukommen. Sie ist der Grund für die sittliche Bildung des Menschen, verbindet Sachwissen mit der Beredsamkeit und steht im Zentrum der humanitas. Aus der Perspektive der Philosophie muss dieser Anspruch der Rhetorik jedoch zugleich befremdlich wirken. Denn mit ihm steht auf dem Spiel, was der Philosophie erst die Grundlage gibt, die Frage nach der Wahrheit, wie schon Ottmers betont. »Die Frage nach der ›Wahrheit‹, nach absoluter Richtigkeit, konnte und kann in der Rhetorik nicht endgültig, sondern immer nur annähernd geklärt werden – und zwar umso intensiver, je mehr Standpunkte in Rede und Gegenrede erörtert werden. Die Rhetorik geht deshalb nicht von der ›Wahrheit‹, sondern konsequent von der ›Wahrscheinlichkeit‹ als Maxime aus, also von der größtmöglichen Annäherung an die Wahrheit, und sie sieht die Aufgabe des Redners darin, den höchsten Grad an Wahrscheinlichkeit herzustellen, also so plausibel, überzeugend und glaubhaft wie möglich zu agieren.«187 In 187 | Ebd., S. 11.
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dem Maße, in dem die Rhetorik in der Tradition der Skepsis Wahrheit durch Wahrscheinlichkeit ersetzt, erscheint sie der Philosophie als eine nur unzuverlässige Kunst. Daher kann es auch nicht verwundern, dass die Philosophie sich von der Herrschaft der Rhetorik wieder zu befreien suchte. Einen ersten Schritt bereitete bereits die Renaissance mit ihrer Wiederentdeckung Platons und Aristoteles’ vor. Insbesondere Petrus Ramus hat dazu beigetragen, dass die Rhetorik ihren zentralen Platz verliert. »Den großen neuzeitlichen Bruch bereitete wissenschaftstheoretisch der Renaissance-Humanist Petrus Ramus im 16. Jahrhundert vor. Seine Neuordnung der Disziplinen reduzierte die Rhetorik auf jene Rumpftheorie, die am Ende nur noch die Figurenlehre übrig ließ.«188 Auch Descartes nimmt eine gewichtige Rolle in der Ablösung der Rhetorik durch die Philosophie ein.189 Endgültig durchsetzen wird sich die Kritik an der Rhetorik aber erst im 18. Jahrhundert, in dem das lange Zeit feste Band zwischen Rhetorik und Poetik wieder zerschnitten wird. »Im Verlauf des 18. Jahrhunderts vollzieht sich ein Bruch zwischen Rhetorik und Poetik«190, fasst Ottmers zusammen. In ähnlicher Weise formulieren Ueding/Steinbrink: »Der Verfall der Beredsamkeit als einer systematischen, wenn auch offenen Theorie ist der Ausdruck einer tiefen kulturellen Krise, und die Entwicklung neuer Medien seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist der Versuch, diese Krise, die vor allem als eine der Sprache wirkt, produktiv zu überwinden.«191 Der Bruch zwischen Rhetorik und Poetik, der in gewisser Weise bis in die heutige Zeit reicht,192 hat zugleich dazu geführt, dass neue wissenschaftliche Disziplinen an die Stelle der Rhetorik treten konnten. Im 18. Jahrhundert sind das insbesondere die Ästhetik und die 188 | Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik, S. 14. 189 | »Der entscheidende Schlag gegen die Rhetorik erfolgt durch den Cartesianismus, der eine scharfe Trennung zwischen Denken und Sprechen durchsetzt, ersteres der Philosophie, letzteres der Rhetorik zuordnet und damit der Rhetorik praktisch die Existenzberechtigung abspricht: Die Sprache gilt als sekundäre, im Grunde genommen das ›klare‹ Denken nur verwässernde Erscheinung.« Clemens Ottmers, Rhetorik, S. 5. 190 | Ebd., S. 50. 191 | Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik, S. 3. 192 | »Die epistemologische Dimension der Rhetorik ist am Ende des 20. Jahrhunderts unscharf und umstritten.« Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, S. 10.
6. Römische Rhetorik
Hermeneutik gewesen. Dass sie selbst der Rhetorik mehr schulden, als sie meist zugeben, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere liegt in der Frage, was Rhetorik, Ästhetik und Hermeneutik zur Dichtkunst zu sagen haben. Wie das Beispiel von Horaz und Longin zeigt, war das im Fall der Rhetorik gar nicht so wenig.
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7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin 1. H or a z , die R he torik und die kl assische D ichtkunst Als Horaz sein Lehrgedicht Von der Dichtkunst im Jahr 14 v. Chr. veröffentlichte, befand er sich auf dem Höhepunkt des Ruhms. Insofern dient die Schrift einer Selbstbestätigung, die von der eigenen Vorbildlichkeit ausgeht, um allgemeine Grundlagen der Dichtung zu erörtern. Dass sich im Fall von Horaz Rhetorik und Poetik überlagern, wird schon daran deutlich, dass seine von der Rhetorik bestimmte Abhandlung ein Lehrgedicht in 476 Versen bildet. »Alles, was sein Werk an Reflexionen über Formen, Inhalte und Zwecke von Dichtung enthält, ist eng mit seiner dichterischen Praxis verbunden und bezeugt deren Fortgang.«193 Theorie und Praxis der Dichtkunst gehen in der Ars poetica unauflösbar ineinander über. Seine Schrift kann damit – neben Longin, der allerdings eine ganz andere Bestimmung der Dichtung gibt – als das vielleicht bedeutendste Zeichen für eine rhetorische Poetik gelten, das die Antike kennt. »Am eindrucksvollsten demonstriert den Zusammenhang von Rhetorik und Poetik der römische Dichter Horaz, der in seiner Ars poetica (auch De arte poetica, eig. Epistulae ad Pisones, um 19. v. Chr.) Dichtung mit den Mitteln der klassischen Rhetorik analysiert und dabei die ersten drei rhetorischen Produktionsstadien inventio, dispositio und elocutio in die Poetik überträgt sowie auch die rhetorischen Wirkungsfunktionen docere, delectare und movere aufgreift, diese allerdings auf die Doppelkategorie von Nutzen und Vergnügen (prodesse aut delectare) einschränkt. Mit der von 193 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 111. »Es handelt sich um ein Stück Dichtung, um ein Lehrgedicht in der Gestalt einer Versepistel«, notiert auch Werner Jung, Poetik, S. 27.
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Horaz nicht berücksichtigten Stilebene beschäftigt sich dagegen ausführlich jener uns unbekannte Longinus, dessen Schrift Vom Erhabenen eine Synthese von rhetorischer und poetischer Theorie darstellt.«194 So lässt sich die Leistung, aber auch die Grenzen der Horazschen Schrift zusammenfassen, die insbesondere mit der Doppelbestimmung des prodesse aut delectare für lange Zeit eine kanonische Bedeutung gewinnen wird. Im Unterschied zu den systematischen Abhandlungen zur Rhetorik, wie sie Aristoteles und Quintilian vorgelegt haben, ist die Ars poetica, nicht umsonst ein Lehrbrief, in einem fast plaudernden Ton gehalten. Das hat zwar immer wieder zu Zweifeln an der Ernsthaftigkeit der Schrift geführt, ist aber letztlich nicht allein eine notwendige Folge der gattungspoetischen Bestimmung des Briefes, sondern zugleich Zeichen einer poetischen Souveränität, die in geschickter Lässigkeit auf die Grundlagen der Dichtkunst eingeht. Denkbar einfach ist daher auch der Auf bau der Schrift. Während der erste Teil (Vers 1-294) sich der Kategorie des Werkes widmet, setzt sich der zweite Teil (295-476) mit den Fragen der Produktion und Rezeption auseinander. Bemerkenswert ist bereits der Einstieg der Schrift: Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und Kopf derselben Gestalt zugehören.195
Horaz beginnt seine Schrift auf eine äußerst kunstvolle Art und Weise. Er erreicht das nicht nur durch die geschickte Adressierung des Briefes an seine Freunde, sondern indem er zugleich das Schreckbild einer Chimäre vor ihren Augen malt, um seine eigene Dichtung von vorneherein ironisch in den Kontext des Monströsen zu stellen, das es um jeden Preis zu verhindern gilt. Das Lachen, dass die monströse Figur bei den Freunden
194 | Clemens Ottmers, Rhetorik, S. 46. 195 | Horaz, Ars poetica. Die Dichtkunst. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972, Vers 1-10.
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin
auslösen soll, dient in diesem Zusammenhang zugleich der Abwehr der Angst, die alles Monströse auf den Menschen ausübt.196 Dementsprechend laufen Horaz’ eigene Bestimmungen der eingangs ironisch aufgerufenen Form des Monströsen auch strikt zuwider. Was er als wichtigste Kriterien des Werkes feststellt, sind Einheit und Geschlossenheit: »Kurz, sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen (simplex) und einheitlich (unum) sein.« (Ars poet. 23) Mit den Begriffen der Geschlossenheit und der Einheit verwehrt sich Horaz nicht nur der Gefahr des Monströsen. Er legt zugleich eine tendenziell normative Theorie der Dichtkunst vor, die sich ganz den klassischen Attributen des Schönen verschreibt. Andere Begriffe wie der des Erhabenen, der Longin leitet, werden dagegen schon gleich zu Beginn zurückgewiesen: »wer Erhabenes kündet, wird schwülstig« (Ars poet. 27), lautet das vernichtende Diktum über das Erhabene, das sich in die geschlossene und einheitliche Form des Schönen nicht einfügen will. Wo Longin das Schwülstige als eine Schwundform des Erhabenen versteht, setzt Horaz das Erhabene und das Schwülstige schlechterdings gleich. Um sein Ideal klassischer Vollkommenheit zu entwickeln, greift Horaz in seiner Schrift durchgängig auf die Grundbegriffe der Rhetorik zurück, insbesondere auf die drei Redeteile der inventio, der dispositio und der elocutio. »Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, für den eure Kräfte genügen, und wägt lange ab, was eure Schultern verweigern, was sie zu tragen vermögen« (Ars poet. 38-39), lautet der Rat, den Horaz zur Stofffindung zu geben hat. In der gleichen Weise führt er die dispositio als unverzichtbaren Teil des poetischen Werkes ein: »Die Leistung und Schönheit der Ordnung – wenn ich mich nicht täusche – wird darin bestehen, daß man schon jetzt sagt, was jetzt schon gesagt werden muß, alles übrige aufschiebt und fürs erste zurückhält, dieses bevorzugt, jenes verschmäht, wer eine verheißene Dichtung verwirklicht.« (Ars poet. 42-45) Ebenso verfährt er mit der elocutio: »Auch beim Verknüpfen der Wörter, sensibel und achtsam, wirst du Besonderes sagen, wenn eine verschmitzte Verbindung aus einem bekannten Wort ein neues gemacht hat.« (Ars poet. 46-47) Dass sich Horaz in seiner Poetik ganz der Rhetorik verschreibt, zeigt sich auch darin, dass er die Einsicht, die aristotelische dianoia, an den 196 | Vgl. Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009.
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Anfang der Dichtung setzt. »Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben.« (Ars poet. 309) Dementsprechend lässt Horaz nur den als Dichter gelten, der über ein sicheres Wissen über seinen Gegenstand verfügt. »Wenn ich die festgelegten Unterschiede und den Stil einer Gattung nicht zu beachten vermag und nicht kenne, was laß ich als Dichter mich grüßen? Warum will ich, auf schlechte Art mich bescheidend, lieber unwissend sein als was lernen?« (Ars poet.86-88) Die Idee einer gleichsam unbewussten Anlage zum Dichter ist Horaz fremd. Nur aus dem Wissen um klare Regeln heraus lässt sich seiner Auffassung nach Dichtung legitimieren. Wer die Regeln der Dichtkunst nicht beachtet, kann in seinen Augen auch nicht beanspruchen, überhaupt als Dichter zu gelten. So spricht der erfolgsgewohnte Dichter, der sich auf dem Gipfel der eigenen Kunst befindet. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Bestimmung der Dichtkunst, die die Ars poetica berühmt gemacht haben. »Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich für das Leben ist, sagen.« (Ars poet. 333-334) Mit dem prodesse aut delectare gibt Horaz eine Wesensbestimmung der Dichtung, die ihren Geltungsbereich wiederum auf das Schickliche, das decorum, eingrenzt. Dass es Formen der Kunst gibt, die nicht einfach erfreuen, fällt für Horaz ebenso außerhalb der Kunst wie das, mit dem kein Nutzen verbunden ist. Die Idee, dass Dichtung sich gerade dadurch auszeichnet, keinen ihr äußeren Zweck zu verfolgen, wie sie Kant in der Kritik der Urteilskraft vorbringen wird, ist dagegen eine genuin moderne Idee. Für Horaz steht außer Frage, dass die Kunst dem Leben dient, indem sie zugleich erfreut und nützt. Mit den zentralen Bestimmungen des prodesse aut delectare verbindet er daher weitere Bestimmungen, die er aus der Tradition der Rhetorik gewinnt, insbesondere das Merkmale der Kürze: »Wozu du auch immer ermahnst, sei kurz, damit deine Worte schnell der gelehrige Sinn erfaßt und treulich bewahrt« (Ars poet. 335-336). Zwar gibt Horaz zu, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Insgesamt aber gilt für ihn wie für die Rhetorik die Kürze als Stilideal, dem unbedingt Folge zu leisten sei. Was ihm dagegen wie ein Schreckbild vor Augen steht, ist der Dichter, der die Regeln missachtet. In ähnlicher Weise wie bei Platon findet insbesondere die Form der Dichtung Kritik, die sich auf den Enthusiasmus beruft: »Wie einen, den schlimmen Aussatz befallen hat oder die Gelbsucht, Herumirren in göttlichem Rasen und der Zorn der Diana, so fürchtet, wer recht bei Verstand ist, den wahnsinnigen Dichter zu berüh-
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ren, und flieht ihn« (Ars poet. 453-456). Der Wahnsinn des enthusiastisch beseelten Dichters und die Regeln der Dichtkunst schließen einander aus. Den Ursprung der Kunst erkennt Horaz daher nicht in einer irrationalen Begeisterung durch die Musen, sondern durch das Beachten dichterischer Vorbilder. Die aristotelische Bestimmung der Nachahmung als Grund der Dichtkunst gewinnt so eine neue Bedeutung. Die Nachahmung bezieht sich nicht länger auf handelnde Menschen, wie Aristoteles in der Poetik meinte, sondern auf die Muster der Vergangenheit. Über Horaz notiert Manfred Fuhrmann: »Er hat der herkömmlichen Mimesis, der Abbildung von Wirklichem, eine zweite Mimesis, die Nachahmung literarischer Muster, zugesellt.«197 Horaz hat damit eine Bestimmung der Dichtkunst vorgelegt, die ihren Ursprung in der Redekunst nicht verleugnet. Das verbindet sie mit der in anderen Punkten ganz anders argumentierenden Schrift von Longin über das Erhabene.
2. L ongin und das E rhabene Die platonische Tradition der Bestimmung der Dichtung als einer bestimmten Form des Enthusiasmus hat Aristoteles in seiner Poetik zugunsten einer rationalen Durchdringung der Tragödie als privilegierter Gattungsform abgelöst. Dennoch hat Platons Theorie des Enthusiasmus in der Geschichte der Poetik weitergewirkt. Aufgenommen und zugleich umgewertet wurde sie insbesondere in der Schrift Vom Erhabenen aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Wer der Verfasser der Schrift Vom Erhabenen ist, ist bis heute ungeklärt. Lange Zeit wurde sie dem griechischen Rhetor Longin zugeschrieben, heute gilt aber als erwiesen, dass er nicht der Urheber sein kann. Nicht allein aufgrund der Unbekanntheit ihres Verfassers steht die Schrift Vom Erhabenen wie ein »erratischer Block«198 in der Tradition der Poetik. Mit dem Erhabenen stellt sie einen schillernden Begriff ins Zentrum, der in der antiken Lehre des Enthusiasmus verwurzelt und bis in postmoderne Literaturtheorien hinein von Be197 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 153. In ähnlicher Weise heißt es im Historischen Wörterbuch der Rhetorik: »so tritt bei Horaz die aus der Rhetorik übernommene Nachahmung literarischer Vorbilder in den Vordergrund.« G. Scholtz, Poetik, S. 1015. 198 | Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 162.
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deutung geblieben ist. Insofern stellt die Schrift eine wichtige Ergänzung wie Alternative zur aristotelischen Poetik dar, die ihre Grundlagen nicht der Philosophie, sondern in ähnlicher Weise wie Horaz’ Ars poetica der Rhetorik verdankt. »Die Schrift Vom Erhabenen ist, wie schon angedeutet wurde, ihrer Intention nach ein rhetorischer Traktat, der Sache nach aber ein wichtiges Dokument der antiken Dichtungs- oder vielmehr Literaturtheorie.«199 Im ersten nachchristlichen Jahrhundert steht Longin in einer weitaus größeren Nähe zur Rhetorik, als es bei Platon oder Aristoteles der Fall gewesen war. Die Durchdringung von Poetik und Rhetorik war allerdings wechselseitig. So stellt Fuhrmann fest, »daß die Rhetorisierung der Literatur von einer Literarisierung der Rhetorik begleitet war«200. Im Falle Longins kommt dies in einem prätentiösen Stil zur Geltung, der die literarischen Muster, die er diskutiert, immer wieder selbst sprachlich umzusetzen versucht. Als Schrift über das Erhabene will der Traktat Vom Erhabenen selbst erhaben sein. Der Auf bau der Schrift ist sehr einfach und übersichtlich, was zu nicht geringen Teilen der rhetorischen Schulung des unbekannten Verfassers geschuldet ist. Ein Problem stellt allerdings die Tatsache dar, dass die Schrift nur unvollständig überliefert ist und einige längere Passagen fehlen. Dennoch gibt sich der Anspruch der Schrift Vom Erhabenen auch in dieser fragmentierten Form klar zu erkennen. Longin geht einleitend auf bereits bestehende Theorien des Erhabenen ein und zeigt deren Unzulänglichkeit an. In einem zweiten Schritt wendet er sich der alten poetologischen Frage zu, ob das Erhabene überhaupt lehrbar sei. Nach einer größeren Lücke in der Handschrift geht es im Folgenden zunächst um die Fehler in der Darstellung des Erhabenen, bevor die fünf Quellen des Erhabenen untersucht werden, von denen Longin ausgeht. Die Frage nach den Ursprüngen des Erhabenen bildet den weitaus größten Teil der Untersuchung. Der Schluss des Traktats widmet sich den Fehlern in der sprachlichen Darstellung des Erhabenen, bevor der Verfasser in einem pathetischen Schlusswort auf den Grund zu sprechen kommt, warum das Erhabene aus seiner Zeit verschwunden sei. Damit wird zugleich deutlich, dass der unbekannte Verfasser die Arbeit aus einem aktuellen Krisenbewusstsein heraus konzipiert hat: Das Fehlen erhabener Größe
199 | Ebd., S. 185. 200 | Ebd.
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macht eine Reflexion auf die Vorbilder notwendig, aus denen das Erhabene abgeleitet werden kann. Vor diesem Hintergrund hat Neil Hertz die komplexen Voraussetzungen der Longin’schen Argumentation vor Augen geführt: »Der Text führt dem Leser die Argumentationsweise eines geübten Rhetorikers vor, intelligent aufgebaut, mit großem Schwung durchgeführt; man kommt aber auch nicht umhin zu bemerken, daß man beim Lesen bemerkenswert leicht den Faden verliert, vergißt, welches Thema Longinus nun eigentlich gerade abhandelt; und häufig wird man sich dabei ertappen, daß man wieder an einem Zitat, einem Bruchstück der Analyse, an einer Metapher hängengeblieben ist, an einem Stück Sprache, das im Leser Widerhall findet, ihn unwillkürlich in ein ganz anderes System von Bezügen entführt.«201 Den Anspruch auf Ganzheit und Geschlossenheit, den Horaz in seiner Abhandlung erhoben hat, kann der Verfasser der Schrift Vom Erhabenen für sich nicht beanspruchen. Er stünde auch gar nicht im Einklang mit dem schwierig zu fassenden Gegenstand der Abhandlung. Da das Erhabene eine Größe darstellt, die sich der begrifflichen Fassung entzieht, kann auch die Darstellung nicht den Maßstäben der Logik allein folgen. In dem Maße, in dem Longin das Erhabene als eine Form der Überwältigung des Hörers darstellt, greift er in der sprachlichen Darstellung seines Gegenstandes vielmehr selbst auf eine Technik der Überwältigung des Lesers zurück. Wie bereits angedeutet, greift Longin mit dem Erhabenen Bestimmungen auf, die bereits die platonische Idee des Enthusiasmus kennzeichneten. Einleitend versichert er, »daß die erhabenen Stellen Vollendung und Gipfel sprachlicher Gestaltung sind und die größten Dichter und Schriftsteller nur durch sie den Preis errangen und ihrem Ruhm Unsterblichkeit gewannen.«202 Seine Position begründet er im Folgenden ausführlich: Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden 201 | Neil Hertz, Eine Longin-Lektüre, in: Das Ende des Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene, Frankfurt a.M. 2001, S. 9-33, hier S. 10. 202 | Longin, Vom Erhabenen. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 5.
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meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch sehen wir die Kunst der Erfindung und die kluge Ordnung des Stoffes, nicht an einer oder zwei Stellen, sondern im ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorschimmern, während das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig die geballte Kraft des Redners offenbart. (Peri hyps. I.4.)
Die Bestimmung, die Longin gleich zu Beginn seiner Abhandlung gibt, fasst die zentralen Aspekte des Erhabenen zusammen. Er bestimmt den Gegenstand seiner Untersuchung als eine Form der sprachlichen Gewalt, die in der Rede zutage tritt. Nicht allein die Tatsache, dass er sich auf das Modell der Rede bezieht, deutet an, dass er in seiner Schrift der Rhetorik verpflichtet bleibt. Anders als der Philosophie geht es ihm nicht um die Frage nach der logischen Überzeugung des Hörers durch Argumente, sondern der rhetorischen Erschütterung des Zuhörers durch die Gewalt der Rede. Die Macht, die in der Rede zum Ausdruck kommt, bezieht er ganz im Sinne der Rhetorik zugleich auf ihren Urheber: Ob es sich um den rhetorischen Kontext der politischen Rede oder der Gerichtsrede handelt oder um poetische Texte, in jedem Fall ist die Rede oder die Schrift für Longin Zeugnis der Seelenverfassung des Autoren. Indem er das Erhabene einleitend als eine schier unbezwingbare Kraft der Erschütterung kennzeichnet, entzieht er den Gegenstand seiner Abhandlung der Logik und Dialektik zugunsten der Rhetorik als der Kunst, die Hörer durch die Macht der Sprache und des Pathos zu überreden und zu lenken. Dass das Erhabene an den platonischen Begriff des Enthusiasmus anknüpft, zeigt Longin, indem er es wie Platon als eine Form des Seelenaufschwungs definiert: »Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene von Natur emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selber geschaffen, was sie hörte.« (Peri hyps. 7.2) Dem Erhabenen liegt die gleiche Bewegung des Aufschwungs wie dem Enthusiasmus zugrunde. Die Vernunftlosigkeit, die Platon dem Enthusiasmus unterstellt hatte, teilt Longin allerdings nicht. Für ihn ist klar, dass das Erhabene auf ein großes Pathos zurückgeht, das den Aufschwung der Seele überhaupt erst ermöglicht. Dennoch aber gehorcht auch das Erhabene bestimmten Regeln: Longin betont daher, »daß die Natur zwar im Pathetischen und Gehobenen zumeist nach eigenem Gesetz, nicht jedoch willkürlich und ohne Regel zu verfahren pflegt« (Peri
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin
hyps. 2.2). Nicht nur als scheinbar naturgemäßes Pathos bestimmt Longin das Erhabene. Vielmehr führt er es zugleich auf die Regeln der Kunst zurück. Dass das Erhabene Natur und Kunst, Ausnahme und Regel zugleich ist, bestätigt noch einmal seine Verwurzelung im rhetorischen System, das für die Kunstregeln zuständig ist. Um das Erhabene näher zu kennzeichnen, führt Longin zunächst die Hauptfehler ein: Schwulst, Kindisches, Scheinraserei und das Frostige nennen unterschiedliche defiziente Modi des Erhabenen, die bereits aus der rhetorischen Tradition bekannt sind. Das Erhabene selbst führt er dagegen vor allem auf zwei Quellen zurück: »Erste und mächtigste Quelle ist die kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen« (Peri hyps. 8.1), heißt es zunächst, und dann: »Zweite Quelle ist starke, begeisterte Leidenschaft« (Peri hyps. 8.1). Longin unterstreicht von Beginn an, dass das Erhabene einen wesentlichen Bezug zu dem von Aristoteles vernachlässigten Thema des Pathos aufweist. Er stellt damit zugleich klar, dass die beiden ersten Grundlagen des Erhabenen Gaben der Natur sind, während die folgenden Quellen im engeren Sinne Leistungen von Kunst darstellen, nämlich »die besondere Bildung der Figuren (hier gibt es wohl zwei Arten, nämlich Gedanken- und Ausdrucksfiguren), weiter die großartige Sprache, deren Teile wieder die Wahl der Wörter und figurenreiche, kunstvolle Diktion sind. Die fünfte Ursache der Größe, die alles Vorausgehende einschließt, ist die würdevolle gehobene Wort- und Satzfügung.« (Peri hyps. 8.1) Wie auch Horaz, so übernimmt Longin die traditionelle Kennzeichnung der Rede durch inventio, dispositio und elocutio, ohne näher auf memoria und actio einzugehen. Was ihn aber am meisten interessiert, ist der Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und dem Pathos. Longin geht grundsätzlich von der Voraussetzung aus, »daß nichts so sehr wie echtes Pathos am rechten Ort einen erhabenen Eindruck macht, daß es wie aus Entzückung und Eingebung einen Hauch von Begeisterung verströmt und die Rede gleichsam mit prophetischer Macht erfüllt.« (Peri hyps. 8.4) Mit diesen Bestimmungen rückt er wiederum die Nähe des Erhabenen zum Enthusiasmus in den Blick: Das Pathos des Erhabenen erscheint als das Resultat einer ihn selbst übersteigenden Beseelung, die der Mensch erfahren habe und die sich nun weiter mitteile. Noch eine weitere Quelle des Erhabenen nennt Longin in diesem Zusammenhang. Wie bereits Horaz geht er davon aus, dass sich der aristotelische Begriff der Nachahmung nicht allein auf das Wirkliche bzw. Mögliche beziehe, sondern auf die Nachahmung erhabener Vorbilder: »Es
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ist die Nachahmung der großen Schriftsteller und Dichter von eins und der Wetteifer mit ihnen.« (Peri hyps. 13.2) Indem er den Begriff der Nachahmung auf die Nachahmung dichterischer Vorbilder erweitert, stellt er das Erhabene zugleich als eine agonale Form des Wettkampfes dar, in dem die Dichter stehen. Was den großen Schriftsteller auszeichnet, ist der Wetteifer mit den Vorbildern der Vergangenheit, die er zu übertreffen sucht. Noch Harold Blooms Theorie der Einflussangst steht in dieser Tradition der Bestimmung des Erhabenen als eine Form des Wettkampfes mit der Vergangenheit. Die grundsätzliche Voraussetzung von Longins Überlegungen lautet in diesem Zusammenhang: »Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße.« (Peri hyps. 9.2) Bereits das erste Beispiel, das Longin gibt, bestätigt das: »So erweckt manchmal schon ohne gesprochenes Wort der bloße Gedanke für sich durch seinen Hochsinn Bewunderung, wie etwa das Schweigen des Aias in der ›Totenbeschwörung‹ groß ist und erhabener als jede Rede.« (Peri hyps. 9.2) Nicht von ungefähr beruft er sich in seinem ersten Beispiel auf Homer und damit auf den Anfang der griechischen Literatur zurück. Der Anspruch der Schrift rechtfertigt sich mit den Autoren, mit denen sie sich beschäftigt. Zugleich greift er relativ willkürlich eine Passage aus der Nekia, dem elften Gesang heraus, um den Begriff des Erhabenen zu erläutern. Sein Beispiel geht auf den Streit zwischen Odysseus und Aias um die Waffen und Rüstung des Achill zurück. Da Odysseus die Waffen zugesprochen bekam, hat sich Aias aus Scham getötet. Als Odysseus in die Unterwelt kommt, um mit den toten Heroen zu sprechen, mit denen er vor Troja gekämpft hat, ist Aias der einzige, der sich ihm verweigert. Longin deutet die Szene auf eine sehr spezielle Weise als Beleg für das Erhabene, das sich der normalen Sprache entzieht. Das Schweigen des Aias ist Longin zufolge erhabener, als jedes Wort es hätte sein können. Sein Schweigen beweise, dass Aias auch nach seinem Selbstmord Odysseus nicht verziehen hat und ist somit als Zeichen für die erhabene Seelengröße zu werten, die ihm zukomme. Wie paradox die Struktur des Erhabenen ist, zeigt sich schon an diesem ersten Beispiel. Das Erhabene geht auf starke Affekte zurück, in diesem Fall dem Hass und dem Neid des Aias auf Odysseus. Zeigt sich das Erhabene Longin zufolge als Ausdruck auch sprachlicher Größe, so geschieht das im Schweigen allerdings auf eine Art und Weise, die über die Sprache selbst hinausgeht: Auf gewisse Weise erfüllt sich die Sprache des Erhabenen erst im Schweigen.
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin
Das zweite Beispiel, das Longin anführt, führt wiederum zu Homer zurück. Seine These lautet, dass die Ilias erhabener sei als die Odyssee: Aus dem gleichen Grund, so denke ich, erfüllte Homer, als er die Ilias im Zenit seiner Dichterkraft schuf, das ganze Werk mit dramatischem Leben und Kämpfen, bringt dagegen in der Odyssee meist nur Erzählung, wie sie das Alter liebt. So möchte man den Homer der Odyssee der sinkenden Sonne vergleichen, deren Glut erlosch, ihre Größe jedoch erhalten blieb. Hier nämlich besitzt er nicht mehr die gleiche Energie wie in jenen Gesängen der Ilias, nicht die immer durchgehaltene, niemals abfallende Höhe, nicht die gleiche Flut sich jagender Leidenschaften, auch nicht die Gewandtheit und rednerische Kraft, die dichte Folge lebenswahrer Bilder, nein, wie vom Okeanos, der in sich zurücktritt und ringsum die eigenen Grenzen entblößt, sieht man nur mehr die Ebbe seiner Größe und ein Schweifen in Märchen und Wundern. (Peri hyps. 9.13)
Longin, dem es in seiner Schrift um die Sicherstellung der Einheit von Autor und Werk geht, will in der Ilias die reife Manneskraft des Dichters, in der Odyssee jedoch nur noch das schwächliche Alter am Werk erkennen. Den Homer der Odyssee kann er sich nur als alten und kraftlosen Mann vorstellen: »In der Odyssee jedoch (denn auch dies muß man aus vielerlei Gründen untersuchen) beweist er, daß es einer großen Natur, deren Bahn sich schon neigt, im Alter eigen ist, behaglich zu erzählen.« (Peri hyps. 9.11) In der Ilias sei Homer dagegen auf dem Gipfel seiner Kunst gewesen. Als Urbild des Erhabenen wie der virilen Männlichkeit, die dem Autor unterstellt werden, erscheint Longin der Krieg, wie er in der Ilias geschildert wird: »Das ›Gespräch‹ der erhabenen páthe findet nicht nur im Text, sondern in großer Regelmäßigkeit auf dem Schlachtfeld statt, wo aus dem Kampf der Mächte nur einige als siegreiche Gewalten hervorgehen, die anderen dagegen als überwältigt und tot im streitbaren Diskurs liegen bleiben«203, hält Winfried Menninghaus vor diesem Hintergrund fest. Noch für Kant bleibt »die vorzügliche Hochachtung für den Krieger« Bestandteil des Erhabenen.204 Gerade als Krieger aber tritt Odysseus 203 | Winfried Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, in: Poetica 23 (1991), S. 1-19, hier S. 5. 204 | Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. Band X. Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1974, S. 187.
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schon in der Ilias kaum in Erscheinung. Die Wirren des Kampfes meidet er, bisweilen muss er sogar von seinen Mitstreitern dazu aufgefordert werden, mehr Standhaftigkeit zu zeigen.205 In der Rede, nicht im Kampf findet er sein Element. Vor diesem Hintergrund wertet Longin die Ilias auf, die Odyssee hingegen ab. Der Grund für diese fragwürdige Wertung liegt nicht allein in der problematischen Ineinssetzung von Autor und Werk. Wie sich dem zweiten Beispiel entnehmen lässt, verweist das Erhabene auf eine Form der Gewalt, die ihm sprachlich wie gegenständlich eingeschrieben zu sein scheint. Nicht allein die kraftvolle Sprache gilt Longin als Zeichen des Erhabenen, sondern auch der männliche Krieg mit der Leitfigur des Achill, gegen die Odysseus nicht bestehen kann. Das dritte Beispiel, auf das sich Longin bezieht, ist ein Gedicht der Sappho. Longins Traktat zeigt anhand einer Ode Sapphos exemplarisch eine Dialektik auf, derzufolge die Erhabenheit des sprachlichen Kunstwerks die sinnliche Zerrissenheit des Subjekts aufzuheben vermag. »Wenn ich dich nur sehe, so bin ich keines/Lautes mehr mächtig;/Nein, die Zunge ist mir gebrochen, leises/Feuer rieselt über die Haut mir plötzlich,/Vor den Augen dunkelt es mir, und tosend/brausen die Ohren« (Peri hyps. 10.2), beschreibt Sapphos Gedicht die Verwirrung der Sinne durch das Pathos der Liebe. Wie Longins Erläuterung in diesem Zusammenhang betont, gelingt es Sappho, die zerstörerische Wirkung des Affektes aufzu205 | Die zwiespältige Position des Odysseus im Trojanischen Krieg wird an verschiedenen Stellen der Ilias deutlich. Als Nestor in Not gerät und um Hilfe ruft wie später Odysseus selbst, muss auch Diomedes den Freund ermahnen: »Göttlicher Sohn des Laërtes, erfindungsreicher Odysseus:/Wohin fliehst du, den Rücken gewandt, wie ein Feiger im Schwarme?/Daß nur keiner dir jetzt im Fliehen den Rücken durchbohre!/Steh‹ doch, damit wir den schrecklichen Mann vom Greise verscheuchen!« (Ilias VIII, 93-96) Dennoch reagiert Odysseus nicht auf den Anruf von Diomedes. Er zieht die Flucht vor: »Nicht auf den Rufenden hörte der vielgeprüfte Odysseus,/Sondern er stürmte vorbei zu den räumigen Schiffen Achai.« (Ilias VIII, 97-98) Kein anderer Krieger wird in der Ilias derart häufig in der Rückwärtsbewegung gezeigt wie Odysseus, und so kann es nicht verwundern, dass ihm das Ehrenwort des »Heros« nur an einer einzigen Stelle, als der Troer Dolos sich flehend an ihn wendet, verliehen wird. Das Bild des Kriegers Odysseus ist in der Ilias von Beginn an ambivalent. Einerseits verfügt er über Einsicht und List, die ihn über alle anderen stellen. Andererseits fehlt ihm die physische Stärke, die Achill, Aias und Diomedes auszeichnet.
7. Poetik und Rhetorik bei Horaz und Longin
fangen, indem sie diese in die Einheit des Gedichtes fügt. »Bewunderst Du nicht, wie sie zugleich Seele und Leib, die Ohren, Zunge, die Augen die Haut, alles, als sei es ihr entfremdet und zerstoben, zusammensucht […], so daß nicht nur ein Affekt an ihr hervortritt, sondern eine Versammlung von Affekten.« (Peri hyps. 10.3) Longins Lob der Sappho definiert das Erhabene als einen Transformationsprozess, der die zerstörerische Kraft, die vom Liebespathos ausgeht, in die vollkommene Sprache der Dichtung kehrt. Wie Neil Hertz feststellt, beruht dieses auf »dem Punkt, an dem der beinahe tödliche Druck der Leidenschaft sich in die Energie verwandelt – sich nicht mehr von der Energie unterscheiden läßt –, die sich im Gedicht verkörpert.206 Im erhabenen Pathos des Gedichts wird die Zerstreuung der Sinneserfahrungen, die das lyrische Ich erleidet, aufgehoben, und gerade aufgrund dieser Leistung verdient das Gedicht den unsterblichen Ruhm, der nach Longin allein dem Erhabenen zukommt. Dieses beschreibt damit nicht allein, wie Longins einleitende Bemerkungen es nahelegen, die Überwältigung des Menschen durch eine allen Widerständen überlegene Macht, vielmehr zeugt es selbst vom Widerstand gegen eine Gewalt, die das Subjekt zu entmächtigen sucht. Das Erhabene, wie es sich bei Longin darstellt, beruht demnach nicht allein auf der von Platon kritisch herausgestellten Entmächtigung der menschlichen Vernunft, sondern zugleich auf der Ermächtigung der Sprache als dem Ort, an dem die Dezentrierung der Vernunft, die sich in bestimmten dichterischen Texten zeigt, aufgefangen werden kann. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass der schwierig zu fassende Begriff des Erhabenen gerade dort Resonanz finden konnte, wo die Vernunftbestimmtheit des Menschen, von der die Philosophie ausgeht, in Frage gestellt wurde, insbesondere bei Nietzsche und der auf ihn auf bauenden Postmoderne.207 In seiner Untersuchung verlässt Longin die Grundlagen der Rhetorik demnach nicht. Im Blick auf die Vorbildlichkeit der Dichtkunst gibt er ihr aber einen ganz eigenen Akzent. So versichert er, »daß das Ziel der dichterischen Phantasie Erschütterung ist, das der rhetorischen aber Deutlichkeit.« (Peri hyps. 15.2) Der Rhetorik bleibt er damit zwar treu. Der Deutlichkeit, von der schon die Rhetorica ad Herennium ausging, stellt er jedoch zugleich die Erschütterung zur Seite, die die Dichtkunst kennzeichne. Auf eine ganz andere Weise als Aristoteles oder Horaz stellt er 206 | Neil Hertz, Eine Longin-Lektüre, S. 14. 207 | Vgl. Achim Geisenhanslüke, Le sublime chez Nietzsche, Paris 2000.
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die Poetik auf die Grundlage des dichterischen Pathos. So hält er im Blick auf die dritte Quelle des Erhabenen, die Sprache, nicht nur fest, »daß die Figuren von Natur aus das Erhabene fördern und andererseits von ihm wunderbare Förderung erfahren.« (Peri hyps. 17.1) Im Blick auf die in der Geschichte der Rhetorik zentrale Funktion der Übertragung betont er zudem, »daß die Metaphern zur Erhabenheit beitragen« (Peri hyps. 32.6). Sprache und Pathos sind der gemeinsame Grund des Erhabenen. Longin bildet damit nicht nur eine Ausnahme in der Geschichte der Poetik. Er begründet eine Tradition, die sich anders als die aristotelische Philosophie von den Vorgaben des Ethos und der Dianoia entfernt, um allein aus der rhetorischen Kraft dichterischer Werke Bestimmungen der Poetik zu finden. Allerdings sind die Überlegungen des unbekannten Verfassers der Schrift Vom Erhabenen lange Zeit in Vergessenheit geraten. Erst durch die Vermittlung von Boileau fand Longin zunächst im Rahmen des französischen Klassizismus ein Echo, bis sich mit Edmund Burke auch der englische Sensualismus mit dem Begriff des Erhabenen auseinanderzusetzen begann. Eine unerwartete Renaissance gewann der komplexe Begriff des Erhabenen jedoch gerade bei dem Denker, der die Erkenntnistheorie wie die Ethik der Moderne revolutionieren sollte, bei Kant. In seiner Ästhetik markiert das Erhabene neben dem Schönen eine alternative Form der Kunst, die einen eigenen Geltungsanspruch besitzt. Kant und mit ihm die Ästhetik der Moderne kann somit nicht allein als Überwindung der rhetorischen Kunst gelten, wie ihr meist zugesprochen wird, sondern, in einer eigentümlichen Dialektik, die es im Folgenden herauszuarbeiten gilt, auch als ihre Bewahrung.
8. Kants Poetik 1. K ant, die R he torik und die D ichtkunst Das Verhältnis Kants zur Poetik ist ambivalent. Auf der einen Seite entwickelt Kant in der Kritik der Urteilskraft die neue philosophische Disziplin der Ästhetik als eine Lehre des Geschmacks, die er, anders als der Begründer der Ästhetik Baumgarten, strikt von der Rhetorik unterschieden wissen will. Auf eine für das ausgehende 18. Jahrhundert nicht untypische Weise formuliert Kant in der Kritik der Urteilskraft eine Kritik der Rhetorik, die seine Ästhetik zugleich von der Poetik trennt.208 So spricht Tobia Bezzola von einem »Konsens der Forschung bezüglich der Datierung des ›Todes der Rhetorik‹ auf die Zeit zwischen 1750 und 1850«209 und macht insbesondere Kant für die Diskreditierung der Rhetorik verantwortlich. Die Rede vom Tod der Rhetorik in der Sattelzeit um 1800 ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn darüber hinaus beinhaltet Kants Ästhetik ein beträchtliches poetologisches Potential, das trotz der offenen Kritik der Rhetorik in der Kritik der Urteilskraft insbesondere in seiner Theorie des Erhabenen zur Geltung kommt. Zwar wertet Kants Begriff des Erhabenen die antike Lehre des Enthusiasmus signifikant um. Er schreibt sich aber zugleich als ein neues Konzept in die Geschichte der Rhetorik und Poetik ein. 208 | »Die Rhetorik hat im 18. Jahrhundert an Geltung eingebüßt, insbesondere in Deutschland«, schreiben Gert Ueding und Bernd Steinbrink in ihrer Einführung in die Rhetorik, Stuttgart 1976, S. 1. Hans-Georg Gadamer diagnostiziert in Wahrheit und Methode einen »Werteverfall der Rhetorik«, der auf die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts zurückgehe. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 77. 209 | Tobias Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, Tübingen 1993, S. 4.
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Kants Kritik der Urteilskraft verbindet die Begründung der philosophischen Ästhetik zunächst mit einer folgenreichen Schelte der Beredsamkeit, die dem ästhetisch-schönen Spiel von Einbildungskraft und Verstand als eine bloß vom Verstand geleitete Kunst der Verführung und Überredung gegenübergestellt wird. Während Baumgartens Ästhetik noch zu großen Teilen der rhetorischen Tradition verpflichtet war,210 scheint sich die ästhetische Theorie Kants einer paradigmatischen Verabschiedung der Rhetorik zugunsten der Philosophie des Schönen zu verdanken.211 Im Zusammenhang mit der Einteilung der schönen Künste, der ein wenig schmeichelhafter Vergleich von Beredsamkeit und Dichtkunst zugrunde liegt, formuliert Kant eine paradigmatische Absage an die Adresse der Rhetorik. »Die redenden Künste sind Beredsa m keit und Dic htk u nst . Beredsa m keit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dic ht k u nst , ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen.« (KU, B 205) Kants Unterscheidung nimmt die Definition des Schönen als harmonisches Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand auf, um Beredsamkeit und Dichtung als zwei gegensätzliche Formen der redenden Künste auszugeben. Die Beredsamkeit sei die Kunst, ein Geschäft 210 | »Cicero und Quintilian stehen von Muratori bis Baumgarten bei der Schöpfung der neuen Ästhetik Pate«, schreibt Alfred Baeumler in seiner Studie über Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Halle 1923, S. 123. Er folgert daraus: »Wir müssen, um zu Baumgartens Leistung einen Zugang zu finden, an die Rhetorik anknüpfen.« Ebd., S. 210. Bei Baumgarten selbst scheinen die Grenzen zwischen Ästhetik und Rhetorik mehr oder weniger fließend zu verlaufen. So meint er, daß die Errungenschaften von Rhetorik und Poetik »dadurch, daß man die Begriffe ein wenig emporhebt in den Bereich größerer Allgemeinheit, an die ästhetische Kunstlehre angeschlossen werden« können. Alexander Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ›Aesthetica‹ (1750/1758), Hamburg 1988, S. 43. Baumgarten hat daher auch keine Schwierigkeiten mit dem Gedanken, Rhetorik und Homiletik zu den Nutzanwendungen der Ästhetik zu zählen. 211 | Zum Verhältnis von Ästhetik und Rhetorik vgl. Lothar Bornscheuer, Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989), S. 13-42; sowie Wolfgang Bender, Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S. 481-506.
8. Kants Poetik
des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft darzustellen, die Dichtkunst hingegen die, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes darzustellen. Damit scheint allein die Dichtkunst die Forderungen zu erfüllen, die die Kritik der Urteilskraft an das Schöne stellt. Kant spricht ihr daher auch einen Vorrang vor allen anderen Formen der Kunst zu. Unter allen behauptet die D i c h t k u n s t (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt, und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu den Ideen erhebt. (KU, B 215)
Der Vorrang der Dichtkunst, der in engem Zusammenhang mit Kants Begriff des Genies steht,212 gründet in ihrer Fähigkeit, die Einbildungskraft den grundsätzlichen Forderungen des Schönen gemäß innerhalb der Schranken des Verstandesbegriffes in Freiheit zu setzen. Das Resultat dieser Operation bezeichnet Kant als eine »Gedankenfülle«, die er, obwohl er die Dichtung als eine Form der redenden Kunst eingeführt hat, aus dem Bereich der Sprache verbannt. Der Gedankenfülle sei »kein Sprachausdruck völlig adäquat«, ihre Ausnahmestellung unter den Künsten rechtfertige sie vielmehr allein dadurch, dass sie »sich also ästhetisch zu den Ideen erhebt«. Nicht die Sprache, die Ideen sind für Kant der eigentliche Grund der Dichtkunst. Das Lob der Dichtkunst, das er in der Kritik der Urteilskraft anstimmt, verweist die Poesie an das unendliche Reich der Ideen als eine Instanz, die die endlichen Mittel der Sprache zu transzendieren vermag und in der Aufwärtsbewegung einer ästhetischen Erhebung den Vorrang der Dichtkunst vor den anderen Formen der Kunst begründet.
212 | Auf den Zusammenhang zwischen Kants Begriff des Genies und seiner Kritik der Rhetorik hat u.a. Bezzola hingewiesen. »Der Geniebegriff ist zentral für Kants Negation des Status einer schönen Kunst für die Rhetorik.« Tobias Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, S. 26.
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Die Kritik der Beredsamkeit verläuft parallel zum Lob der Dichtkunst. In einer polemisch zugespitzten Definition legt Kant nahe, dass die Beredsamkeit die Freiheit der Einbildungskraft nur zum Schein gebrauche, um mit ihrer Hilfe ein verstandesmäßig wohl berechnetes Ziel durchzusetzen. Während der Dichter im freien Spiel der Einbildungskraft die subjektive Zweckmäßigkeit des ästhetischen Geschmacksurteils in der Übereinstimmung mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes produziere, nutze der Redner das schöne Spiel der Einbildungskraft nur als Bühne für seine zweckgeleiteten Interessen. Das Skandalon der Rhetorik bestehe darin, dass sie sich im Unterschied zur Dichtung nicht zu den Ideen erhebe, sondern bloß mit ihnen spiele. »Der Red ner also kündigt ein Geschäft an und führt es so aus, als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei, um die Zuschauer zu unterhalten. Der Dic hter kündigt bloß ein unterhaltendes Spiel mit Ideen an, und es kommt doch so viel für den Verstand heraus, als ob er bloß dessen Geschäft zu treiben die Absicht gehabt hätte.« (KU, B 205) Das unterhaltende Spiel der Dichtung führe zugleich zur Belehrung, die Rhetorik hingegen behandle die Belehrung als eine bloße Unterhaltung, mit Hilfe dieser Unterscheidung formuliert Kant den Gegensatz von Dichtkunst und Rhetorik in der Kritik der Urteilskraft. Das Lob der Dichtkunst geht so ganz auf Kosten der Rhetorik: Der Redner gibt also zwar etwas, was er nicht verspricht, nämlich ein unterhaltendes Spiel der Einbildungskraft; aber er bricht auch dem etwas ab, was er verspricht, und was doch sein angekündigtes Geschäft ist, nämlich den Verstand zweckmäßig zu beschäftigen. Der Dichter dagegen verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an, leistet aber etwas, was eines Geschäftes würdig ist, nämlich dem Verstande spielend Nahrung zu verschaffen, und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben: mithin jener im Grunde weniger, dieser mehr, als er verspricht. (KU, B 206)
Die Rhetorik verspricht viel und gibt wenig, die Dichtkunst verspricht wenig und gibt viel, so lautet die Gleichung, die Kant dem Vergleich beider Künste zugrunde legt. Kants Strategie der Ausgrenzung der Rhetorik aus dem Bereich der schönen Künste ist mit einem moralischen Anspruch verbunden. Letztlich ist es die Unaufrichtigkeit ihrem eigenen Versprechen gegenüber, die Kant der Rhetorik vorwirft und der er die Ehrlichkeit der Dichtkunst entgegensetzt. »In der Dichtkunst geht alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich: ein bloßes unterhaltendes Spiel mit
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der Einbildungskraft, und zwar der Form nach, einstimmig mit Verstandesgesetzen treiben zu wollen; und verlangt nicht, den Verstand durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken.« (KU, B 218) Wo Platon die Dichter der Lüge bezichtigt hat, da spricht Kant der Dichtkunst Ehrlichkeit zu, um die platonische Schelte der Kunst auf die Rhetorik zu übertragen. Während sich die Einbildungskraft als das Vermögen der sinnlichen Darstellung in der Dichtkunst scheinbar freiwillig dem Gesetz des Verstandes unterwirft, malt Kant mit der Beredsamkeit das Schreckgespenst einer Überwältigung des Verstandes durch die Sinnlichkeit. Mit der Rede vom »überschleichen und verstricken«, die an die platonische Tradition der Rhetorikkritik anknüpft,213 qualifiziert Kant die Beredsamkeit zu einer falschen Kunst der Überredung ab. »Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), und nicht bloße Wohlredenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, die von der Dichtkunst nur so viel entlehnt, als nötig ist, die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu benehmen; kann also weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angeraten werden.« (KU, B 216) Der Ehrlichkeit der Dichtkunst setzt Kant die Hinterlist der Rhetorik entgegen, die selbst dem guten Zweck durch ihre Überredungskunst noch schaden könne. Die Kritik der Beredsamkeit geht wiederum auf ein moralisches Urteil zurück. Bereits in den einleitenden Worten ist der Begriff der Rhetorik hochgradig moralisch besetzt. Zwar definiert Kant die Beredsamkeit zunächst im Einklang mit Cicero und Quintilian durchaus wertfrei als »ars oratoria«. Zugleich gibt er die Redekunst jedoch als »die Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen«, aus. Damit wird die Rhetorik ganz auf die Kraft der Überredung verkürzt. Auf die reduktionistische Tendenz von Kants Definition der Beredsamkeit hat Peter L. Oesterreich hingewiesen. »Allerdings setzt Kant bei seiner Kritik der Beredsamkeit und der Rednerkunst (ars oratoria) eine reduktionistische Rhetorikkonzeption voraus. Insofern die Beredsamkeit speziell für die schöne Form der Rede zuständig
213 | Zu den gemeinsamen Grundlagen von Platons und Kants Kritik der Rhetorik vgl. Brian Vickers, In Defense of Rhetoric, Oxford 1989, S. 201f.
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ist, reduziert sie sich auf die elocutio.«214 Wie Oesterreich zeigt, erfolgt die Abwertung der Rhetorik in einem doppelten Schritt. Kant reduziert die Kunst der Rede zunächst auf die Persuasion, um deren Macht in einem zweiten Schritt als eine Kunst der Täuschung zu disqualifizieren. Da es ihr Ziel sei, »die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu benehmen«, rät er in einer kunstvoll aufeinander abgestimmten Argumentationsfolge vom öffentlichen Gebrauch der Rhetorik schlechterdings ab. Zum einen verstoße die »Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft«, die die Beredsamkeit auszeichnet, gegen die »Würde eines so wichtigen Geschäftes« als Gesetz, Recht und Pflicht des Bürgers seien. Selbst im Falle der objektiven Rechtmäßigkeit der von ihr vertretenen Interessen, so Kant, werden durch die Rhetorik »die Maximen und Gesinnungen subjektiv verderbt werden«. In einer Metaphorik, die die Rhetorik als eine bloß mechanische Kunst der Manipulation erscheinen lässt, meint er, dass die politische Rede bereits ohne die »Maschinen der Überredung« »schon an sich hinreichenden Einfluss auf menschliche Gemüter« haben sollte. In Kants Kritik überwiegen die moralischen Untertöne, mit deren Hilfe die grundsätzliche Verwerflichkeit der Rhetorik dargestellt wird, die nur auf die sinnliche Überredung des Hörers zugunsten des eigenen Zweckes aus sei.215 In einer langen Fußnote spricht Kant seine Verachtung der Rhetorik dann auch offen aus: »Ich muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen 214 | Peter L. Oesterreich, Das Verhältnis von ästhetischer Theorie und Rhetorik in Kants Kritik der Urteilskraft. In: Kantstudien 83 (1992), S. 324-335, hier S. 329. 215 | Es versteht sich beinahe von selbst, daß Kant die klassische Rhetorik damit geradezu auf den Kopf stellt. Cicero betont in seiner Abhandlung Über den Redner gerade den Zusammenhang zwischen Rhetorik und Sittlichkeit. »Die wahre Redekunst jedoch ist so umfassend, daß sie den Ursprung, die Auswirkung und die Abwandlung aller Dinge, Tugenden und Pflichten und der gesamten natürlichen Voraussetzungen, auf die sich Sitten, Sinn und Leben der Menschen gründen, in sich schließt«. Cicero, Über den Redner, Drittes Buch, 76.
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versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Ac ht u ng würdig.« (KU, B 218) So gut sie auch gemeint sei, die Kunst der Rede sei »gar keiner Achtung würdig«, schreibt Kant und führt damit einen der Leitbegriffe seiner Ethik ins Feld. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte Kant die Achtung vor dem Gesetz als Leitbegriff seiner sittlichen Theorie der Pflicht eingeführt. »Pf lic ht ist d ie Not wend ig keit einer Hand lu ng aus Ac ht u ng f ü rs Geset z .«216 Während Kant zunächst nur den moralischen Begriff der Achtung an die Instanz des Gesetzes zu binden scheint, entfaltet sich auch die Kritik der Beredsamkeit in der Kritik der Urteilskraft vor dem Hintergrund des inneren Zusammenhangs von Pflicht, Achtung und Gesetz. Dass die Beredsamkeit keiner Achtung würdig sei, resultiert letztlich aus der Tatsache, dass sie selbst im bloßen Spiel mit den Ideen das Gesetz nicht achte. So widerspricht die Rhetorik den Forderungen der Kantischen Aufklärung nach dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Kunst der Rede erlaubt es nicht, den Menschen in die Autonomie des eigenen Handelns zu entlassen, sie unterwirft ihn vielmehr den geheimen Absichten anderer. Allein in der reduzierten Form der Wohlberedtheit lässt Kant die Kunst der Beredsamkeit gelten, und selbst da schränkt er ihr Recht ein: »der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck«, so lautet das Ideal des Rhetors, das Kant in der Kritik der Urteilskraft entwirft. Kants Ideal der kunstlosen Rede ist nicht schlechterdings rhetorikfeindlich. Einen Teilbereich der Rhetorik lässt auch Kant zu: »ohne Verstoß wider die Regeln des Wohllauts der Sprache, oder der Wohlanständigkeit des Ausdrucks« müsse selbst die kunstlose Rede sein. Oesterreich wertet Kants Kritik der Beredsamkeit daher weniger als Zeichen für einen historischen Paradigmenwechsel, der die Rhetorik durch die Ästhetik ab216 | Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 14. Kant meint dort weiterhin, »daß die Notwendigkeit meiner Handlungen aus r e i n e r Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines a n s i c h guten Willens ist, dessen Wert über alles geht.« Ebd., A 20.
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löse, denn als einen Wandel innerhalb der rhetorischen Tradition selbst. »Die Destruktion der Kunstrhetorik wird begleitet von der Idealisierung unartifizieller Eloquenz, die sich selbst als Cicero-Rezeption versteht und somit das Erbe der klassischen Rhetorik beansprucht. […] Gegen den asianischen Stil der elocutio-Rhetorik vertritt Kant einen attisch-strengen ›plain-style‹.«217 Die Kritik der Beredsamkeit erfolgt in der Kritik der Urteilskraft im Rahmen einer zweischneidigen Auseinandersetzung mit der Rhetorik, da sich Kants Vorbehalte gegenüber der ars oratoria auf eine natürliche Form der schlichten Rede berufen, die selbst in einer rhetorischen Tradition steht. Das Ideal der rednerischen Eloquenz wird durch ein Pathos der schlichten Größe abgelöst, das sich in der Rede voller Nachdruck, aber ohne Kunst vollenden soll. Vor diesem Hintergrund unterstreicht Oesterreich das ambivalente Verhältnis, das Kants Ästhetik zur Rhetorik unterhält. »Kants Kritik der Urteilskraft gehört nur auf den ersten Blick zu den strikt rhetorikfeindlichen Texten der deutschen Philosophiegeschichte. Auf den zweiten Blick erscheint hinter dem berühmten Diktum von der ars oratoria als einer ›hinterlistigen Kunst‹ eine mehrschichtige und differenzierte Affinität der ästhetischen Theorie Kants zur Rhetorik.«218 Damit wird einmal mehr deutlich, dass die philosophische Begründung der Ästhetik durch Kant der Rhetorik mehr schuldet, als auf den ersten Blick zu vermuten ist.219 So kommt auch Rodolphe Gasché zu dem Schluss, »daß die argumentative Kraft und Reichweite der Kritik der Urteilskraft von der elementaren und konstruktiven Rolle des Begriffs einer eigentlichen Rhetorik abhängt, die für Kant ein integraler Bestandteil der schönen Kunst ist und nichts mit der von ihm abgelehnten ars oratoria zu tun hat.«220 Trotz der dezidierten Kritik der Rhetorik bleibt 217 | Peter L. Oesterreich, Das Verhältnis von ästhetischer Theorie und Rhetorik in Kants Kritik der Urteilskraft, S. 331. 218 | Ebd., S. 325. 219 | Das betont v.a. Klaus Dockhorn, der Kants Unterscheidung des Schönen und Erhabenen an die Unterscheidung von ethos und pathos in der aristotelischen Ethik zurückverweist. Vgl. Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, Bad Homburg u.a 1968, S. 13f. Gadamer macht darüber hinaus geltend, daß der Leitbegriff der dritten Kritik, die Urteilskraft, der rhetorischen Kategorie des iudicum entspricht. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 36. 220 | Rodolphe Gasché, Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant, in: Christian L. Nibbig (Hg.): Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M. 1994, S. 152.
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auch Kants Ästhetik der rhetorischen Tradition verpflichtet. Besonders deutlich wird das in der Theorie des Erhabenen als einem widersprüchlichen Seitenstück zur Analytik des Schönen, die im Zentrum der Kritik der Urteilskraft steht.
2. D as S chöne versus das E rhabene Die Kritik der Rhetorik gibt der Ästhetik freien Zugriff auf die Bestimmung der Kunst. Zwei unterschiedliche und in mancherlei Hinsicht gegensätzliche Begriffe stehen in ihrem Mittelpunkt. Kant unterteilt die Lehre des Geschmacks in der Kritik der Urteilskraft in die Analytik des Schönen und die Analytik des Erhabenen. Er stellt sich damit in eine Tradition, die Carsten Zelle unter dem Stichwort »doppelte Ästhetik der Moderne«221 zusammengefasst hat. Wie Celle verdeutlicht, lässt sich die Unterscheidung des Schönen und des Erhabenen, die Kant vor allem Burke entlehnt hat und die in dieser Form bereits seine frühe Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen bestimmte, nicht allein als Ausdruck der Komplementarität zweier unterschiedlicher ästhetischer Begriffe deuten, sondern ebenso als Zeichen für einen impliziten Widerspruch innerhalb von Kants Ansatz, der die Ästhetik des Erhabenen als Revision des Schönen bestimmt. Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass gerade Kants Theorie des Erhabenen in den letzten Jahren in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft gerückt ist. Das gilt nicht nur für postmoderne Theoretiker wie Derrida, Lyotard oder de Man, die Kants Theorie des Erhabenen auf unterschiedliche Weise nachgegan-
221 | »Im Medium der Ästhetik vollzieht sich Aufklärung über Aufklärung als Kritik des Schönen durch das Erhabene. Ästhetik in der Moderne ist daher stets doppelte Ästhetik gewesen. In dieser Gestalt setzen sich ›postmoderne‹ Bedenklichkeiten der Moderne gegenüber von Anfang an als ästhetische Revisionen des Schönen ins Werk«, mit diesen Worten beginnt die Abhandlung. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen und des Erhabenen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u.a. 1995, S. 3. Um so erstaunlicher ist es, dass Zelle, der sich vor allem an Schiller orientiert, Kant in seiner Arbeit kaum berücksichtigt.
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gen sind,222 sondern ebenso für Paul Guyer, der in der Aufsatzsammlung Kant and the experience of freedom seinen Kritikern zugesteht, das Erhabene in seiner grundlegenden Studie Kant and the claims of taste vernachlässigt zu haben. »I might also claim that the real heart of Kant’s aesthetic theory and the underlying motivation for its creation is the connection to his moral theory which appears in his discussion of the sublime, of aesthetic ideas as the content of works of artistic genius, and of beauty as the symbol of morality.«223 Guyers spätes Eingeständnis weist nicht nur daraufhin, welch zentrale Bedeutung dem Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft zukommt. Es unterstreicht darüber hinaus den engen Zusammenhang, der das Erhabene mit Kants Theorie der Moral verbindet. In der Perspektive, die Guyer aufwirft und der im folgenden näher nachgegangen werden soll, scheint gerade das Erhabene den Verbindungspunkt zwischen Natur und Freiheit zu markieren, der Kants Ästhetik insgesamt bestimmt. Die Analytik des Schönen und des Erhabenen stellt Kant einleitend vor einen Hintergrund, der es nicht auf den ersten Blick erlaubt, eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen zu erkennen. Die Theorie des Schönen bezeichnet Kant als »die Kritik des Geschmacks« (KU, 67), die des Erhabenen hingegen als »die Kritik des Geistesgefühls« (KU, 67). Die Unterscheidung von Geschmack und Geist verrät bereits die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Begriffe. Während das Geschmacksurteil des Schönen im Zentrum von Kants Ästhetik steht, verweist das Geistesgefühl des Erhabenen darüber hinaus auf die wechselseitigen Implikationen von Ästhetik und Ethik in der Kritik der Urteilskraft. Der Leitbegriff für Kants Theorie des ästhetischen Geschmacksurteils in der Analytik des Schönen ist das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand: »der Geschmack, als subjektive Urteilskraft, enthält ein Prinzip der Subsumtion, aber nicht der Anschauung unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d. i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d. i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt.« (KU B 146) Im Unterschied zum logischen Urteil, das 222 | Vgl. vor allem Jacques Derrida, La vérité en peinture, Paris 1978, sowie Jean-François Lyotard, L’intérêt du sublime, in: Jean-Francois Courtine u.a.: Du sublime, Paris 1988, S. 189-227. 223 | Paul Guyer, Kant and the experience of freedom, Cambridge 1993, S. 3.
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auf der Subsumtion der Anschauung unter den Begriff beruht, ist für das ästhetische Geschmacksurteil die Einstimmung von Einbildungskraft und Verstand konstitutiv. Der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand entspricht die von Freiheit und Gesetz: »in seiner Freiheit« soll das Vermögen der Einbildungskraft zum Verstand »in seiner Gesetzmäßigkeit« zusammenstimmen. Kants Theorie des ästhetischen Geschmacksurteils ruht auf dem paradoxen Begriff einer freien Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft. »Wenn man das Resultat aus den obigen Zergliederungen zieht, so findet sich, daß alles auf den Begriff des Geschmacks herauslaufe: daß er ein Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes in Beziehung auf die freie Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft sei.« (KU, B 69) Die Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand als die von Freiheit und Gesetz bezieht Kant dabei dem Leitbegriff der formalen Zweckmäßigkeit entsprechend auf die Form eines Gegenstandes, der in seinem subjektivzweckmäßigen Verhältnis zur Einbildungskraft für schön beurteilt wird. Wenn nun im Geschmacksurteile die Einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden muß, so wird sie erstlich nicht reproduktiv, wie sie den Assoziationsgesetzen unterworfen ist, sondern als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauung) angenommen; und, ob sie zwar bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist und sofern kein freies Spiel (wie im Dichten) hat, so läßt sich doch noch wohl begreifen, daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde. Allein daß die Einbildungskraft frei und doch von selbst gesetzmäßig sei, d. i. daß sie eine Autonomie bei sich führe, ist ein Widerspruch. Der Verstand allein gibt das Gesetz. (KU, B 69)
Kant bestimmt die Einbildungskraft in dieser Passage nicht allein als eine reproduktive Kraft, sondern als »produktiv und selbsttätig«. Scheint er damit einerseits auch an den umstrittenen Begriff der produktiven Einbildungskraft aus der Kritik der Vernunft anzuknüpfen,224 so schränkt er 224 | Vgl. KrV, A 118. Kant erörtert die produktive Synthesis der Einbildungskraft in der ersten Fassung seiner transzendentalen Deduktion als Grund der transzendentalen Einheit der Apperzeption.
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die ästhetische Selbsttätigkeit der Einbildungskraft andererseits ein. Die Freiheit der Einbildungskraft bindet er in letzter Instanz an die Gesetzmäßigkeit des Verstandes. In Kants Darstellung der Einbildungskraft überwiegt der Konjunktiv: »wenn sie sich selbst frei überlassen wäre« und »entwerfen würde«, »daß sie eine Autonomie bei sich führe«, mit dieser Fülle von Einschränkungen versieht Kant die Theorie einer freien Einbildungskraft, um sie letztlich doch auf die Gesetzmäßigkeit des Verstandes zurückzuführen: »Der Verstand allein gibt das Gesetz«, heißt es im abrupten Wechsel vom Konjunktiv zum Indikativ. Die Idee einer vollständig freien Einbildungskraft, die sich selbst das Gesetz geben könnte, wehrt Kant ab, um sie unter die Aufsicht des Verstandes zu stellen. Das Schöne als das Zusammenspiel von freier Einbildungskraft und dem Gesetz des Verstandes verdankt sich einer Regulierung der Einbildungskraft, die nicht von ihr selbst, sondern von der rationalen Kraft des Verstandes ausgeht.225 Das Erhabene scheint dagegen die Möglichkeit einer völligen Entgrenzung der Einbildungskraft bereitzuhalten. In der Analytik des Erhabenen verschieben sich die Momente, die die Theorie des Schönen bestimmen, auf doppelte Weise. An die Stelle des Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand tritt das von Einbildungskraft und Vernunft, an die des ästhetisch bestimmten freien Spiels der moralisch bestimmte Ernst. Mit dem Erhabenen rückt das widersprüchliche Verhältnis von Einbildungskraft und Vernunft in den Mittelpunkt der dritten Kritik, das »als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung mit der Einbildungskraft zu sein scheint.« (KU, B 76) Der Ernst, der aus dem Erhabenen resultiert, verweist dabei nicht mehr wie noch die Analytik des Schönen auf die Gesetzmäßigkeit des Verstandes, sondern auf die übersinnliche Macht der Vernunft. Im Erhabenen offenbart sich damit zugleich ein Bezug des Ästhetischen zum Ethischen, der die Kritik der Urteilskraft im Einklang mit Kants Intentionen einer Verbindung der drei Kritiken als den möglichen Übergang zwischen den getrennten Bereichen von Natur und Freiheit bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die spezifisch moralische Bedeutung des Erhabenen von der Kantforschung häufig hervorgehoben worden. Paul Crowther hat in seiner Untersuchung The Kantian Sublime 225 | Kulenkampff bestimmt Kants Theorie des Geschmacksurteils daher völlig zu Recht als »eine rationalistische Ästhetik«. Jens Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt a.M. 1978, S. 10.
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auf den »stipulative link between sublimity and moral consciousness«226 hingewiesen, um gleichwohl zu schließen, »that Kant links sublimity and morality rather too closely. In effect, he reduces the sublime to a kind of indirect moral experience.«227 Die Kluft, die die Analytik des Erhabenen von der des Schönen trennt und zugleich mit Kants Theorie der Sittlichkeit verbindet, betrifft zunächst den Zusammenhang von Zweckmäßigkeit und Form. Im Unterschied zum Schönen entspringt das Erhabene nicht der subjektiven Zweckmäßigkeit der Form des Gegenstandes, sondern »einem formlosen Gegenstand« (KU 165), der dementsprechend auch als zweckwidrig beurteilt wird. Die Zweckwidrigkeit des Gegenstandes im Erhabenen scheint Kants ästhetischer Theorie der subjektiven Zweckmäßigkeit jedoch nicht entgegenzustehen. Im Gegenteil: Der Gegenstand des Erhabenen sei »der Form nach zwar zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen, und gleichsam gewalttätig für die Einbildungskraft […], aber dennoch nur um desto erhabener« (KU,B77), lautet Kants erstaunliches Urteil. Das Kunststück einer Vereinbarung von Formlosigkeit und Zweckwidrigkeit mit den Grundprinzipien seiner Ästhetik gelingt ihm, indem er die Zweckwidrigkeit des formlosen Gegenstandes zu einer subjektiven Zweckmäßigkeit der Vermögen umdeutet. »Denn, so wie Einbildungskraft und Verstand in der Beurteilung des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Einbildungskraft und Vernunft hier, durch ihren Widerstreit, subjektive Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben« (KU, B 100). Die Zweckmäßigkeit des Erhabenen entspringt demnach im Unterschied zum Schönen nicht der formalen Beschaffenheit eines Gegenstandes, sondern dem inneren Gefühl der Vernunft. Wie Kant bemerkt, rufen Einbildungskraft und Vernunft im Erhabenen durch ihren Widerstreit gleichwohl eine subjektive Zweckmäßigkeit im Gemüt hervor. Diese Bestrebung, und das Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungskraft, ist selbst eine Darstellung der subjektiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüts im Gebrauche der Unangemessenheit der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung, und nötigt uns, subjektiv die Natur selbst in ihrer To226 | Paul Crowther, The Kantian Sublime, Oxford 1989, S. 27. 227 | Ebd., S. 166.
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talität, als Darstellung von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objektiv zu Stande bringen zu können. (KU, B 115)
Kant begründet seine Theorie des Erhabenen durch eine paradox anmutende Argumentation. Die subjektive Zweckmäßigkeit des Erhabenen leitet er aus der grundsätzlichen Unangemessenheit der Einbildungskraft für die Darstellung von Vernunftideen ab. »Le sublime est l’enfant d’un malheur de rencontre, celle de l’Idée avec la forme«228, kommentiert JeanFrançois Lyotard den Widerstreit von endlicher Form und unendlicher Idee bei Kant. Die Zweckwidrigkeit des Gegenstandes wird durch die innere Zweckmäßigkeit der Vermögen aufgehoben, da die Unangemessenheit von Einbildungskraft und Vernunft angesichts der grundsätzlichen Undarstellbarkeit der übersinnlichen Ideen durchaus sinnvoll sei und zudem als Zeichen für die subjektive Empfänglichkeit des Geistes für die Vernunft zu werten ist.229 Kants in gewisser Weise waghalsige Argumentation zeigt in diesem Kontext aber auch, dass sich der Begriff der reflektierenden Urteilskraft im Vergleich zur Analytik des Schönen verschiebt. Im Erhabenen reflektiert die Urteilskraft nicht mehr über etwas, sondern auf sich selbst zurück. Die Ohnmacht der Einbildungskraft, das als das Vermögen der sinnlichen Darstellung auf einen Gegenstand reflektiert, den es in keine adäquate Form bringen kann, löst eine zweite Reflexion aus, die sich nicht mehr auf den sinnlichen Gegenstand richtet, sondern auf das eigene Scheitern der Darstellung, das als zweckmäßig empfunden wird, insofern es die Existenz der übersinnlichen Vernunftideen im subjektiven Gemüt offenbare. Damit vollzieht gerade das Erhabene auf paradigmatische Weise die Subjektivierung der Ästhetik, die Kants Kritik der Urteilskraft auszeichnet. Indem es den Akzent von der Reflexion über einen Naturgegenstand zu dem einer Reflexion über die unendlichen Vernunftideen verschiebt, stellt das Erhabene die Begründung des subjektiven Geistgefühls zugleich in einen inneren Zusammenhang mit Kants Theorie der Sittlichkeit. 228 | Jean-François Lyotard, L’intérêt du sublime, S. 167. 229 | »La présentation est inadéquate à l’idée de la raison mais elle se présente dans son inadéquation même, adéquete à son inadéquation«, so kommentiert Derrida die paradoxe Logik von Kants Darstellungsbegriff. Jacques Derrida, La vérité en peinture, S. 151.
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Das Erhabene dient der Kritik der Urteilskraft demnach als Schauplatz für eine im Vergleich zu früheren Bestimmungen unerwartete Vermittlung zwischen Ästhetik und Ethik. Als sinnliches Zeichen der Vernunft verbindet das Erhabene in der Verknüpfung von Einbildungskraft und Vernunftideen die bei Kant sonst strikt getrennten Bereiche von Sinnlichkeit und Moral. In der Tat läßt sich ein Gefühl für das Erhabene der Natur nicht wohl denken, ohne eine Stimmung des Gemüts, die der zum Moralischen ähnlich ist, damit zu verbinden; und, obgleich die unmittelbare Lust am Schönen der Natur eine gewisse Liberalität der Denkungsart, d. i. Unabhängigkeit des Wohlgefallens vom bloßen Sinnengenusse, voraussetzt und kultiviert, so wird dadurch doch mehr die Freiheit im Spiele, als unter einem gesetzlichen Geschäfte vorgestellt, welches die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist, wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß. (KU, B 116f.)
Dem »Moralischen ähnlich« sei das Geistesgefühl des Erhabenen, schreibt Kant, und durch seine Vernunftbestimmtheit der ästhetischen Lust am Schönen noch überlegen. Markiert das Erhabene damit einerseits den Einsatzpunkt für eine grundsätzliche Vermittlung von Ästhetik und Ethik in der Kritik der Urteilskraft, so bleibt seine Geltung andererseits problematisch. Denn einen Übergang von der Sinnlichkeit zur Sittlichkeit vollzieht das Erhabene nur im Verlust der Freiheit der ästhetisch bestimmten Einbildungskraft zugunsten der sittlichen Freiheit der Vernunft. Bestimmt Kant die Vernunft in moralischer Hinsicht auch als Idee der Freiheit, so offenbart sie sich in ästhetischer Hinsicht als Zwang an der Natur.230 Hatte bereits die Analytik des Schönen die Einbildungskraft letztlich an die Gesetzmäßigkeit des Verstandes gebunden, so zeugt das Erhabene noch darüber hinaus von der Gewaltherrschaft der Vernunft über die Einbildungskraft. Die »Liberalität der Denkungsart«, die der Lust am Schönen zugrunde liegt, tritt, als »Freiheit im Spiele«, vollständig hinter dem »gesetzlichen Geschäfte« zurück, »welches die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist, wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muß«. Zeigt sich im Schönen das freie Spiel der Einbildungskraft 230 | Kants Theorie des Erhabenen ließe sich vor diesem Hintergrund in der Prozess der Dialektik der Aufklärung einordnen, wie Horkheimer/Adorno ihn festgehalten haben.
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unter dem Gesetz des Verstandes, so offenbart die Entgrenzung der Einbildungskraft im Erhabenen keineswegs deren selbstbestimmte Freiheit, sondern die Gewalt, die die Vernunft auf das sinnliche Darstellungsvermögen ausübt. Gerade diejenigen Theorien, die nicht an den sittlichen, sondern an den ästhetischen Grundlagen der Kritik der Urteilskraft interessiert sind, haben das Moment der Gewalt entsprechend hervorgehoben. So betont Jacques Derrida am Erhabenen »le rapport essentiel à la moralité (Sittlichkeit) qui suppose aussi la violence faite aux sens«231, und in ähnlicher Weise stellt Lyotard fest: »La violence, la ›vigueur‹, est nécessaire au sublime, il s’arrache, il s’enlève. […] L’imagination doit être violentée«232 . Wie Kants Kritiker vermerken, vollzieht sich der Übergang von der Natur zur Vernunft, den das Erhabene in Kants Kritik der Urteilskraft markiert, nicht ohne ein Moment der Gewalt. Er bedeutet daher zugleich eine Absage an eine Idee der Freiheit, die nicht an Verstand oder Vernunft gebunden wäre. In der Analytik des Erhabenen thematisiert Kant die Möglichkeit einer vollständigen Entgrenzung der Einbildungskraft, um sie im Blick auf die übermächtige Gewalt der Sittlichkeit zugleich abzuwehren.
3. D as E rhabene , der E nthusiasmus und die negative D arstellung Kants Analytik des Erhabenen bedeutet vor diesem Hintergrund eher einen Bruch als eine Kontinuität mit der antiken Lehre des Enthusiasmus. Zwar kennt Kant den Begriff des Enthusiasmus in der Kritik der Urteilskraft noch. Er gewährt ihm jedoch nur noch einen marginalen Platz im Anhang seiner Analytik des Erhabenen.233 Zugleich disqualifiziert er den Enthusiasmus als eine Form der Zügellosigkeit, die nicht nur dem Schönen, sondern auch dem Erhabenen widerspreche: »Im Enthusiasmus, als Affekt, ist die Einbildungskraft zügellos; in der Schwärmerei, 231 | Jacques Derrida, La vérité en peinture, S. 148. 232 | Jean-François Lyotard, L’intérêt du sublime, S. 168. 233 | Kants Theorie des Enthusiasmus ist vor diesem Hintergrund insbesondere von Lyotard aufgenommen worden. Vgl. Jean-François Lyotard, L’enthusiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris 1986. Lyotard wertet den Enthusiasmus dort allerdings nicht vorrangig ästhetisch aus, sondern nimmt ihn als Ansatzpunkt für eine politische Kritik der Vernunft.
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als eingewurzelter brütender Leidenschaft, regellos.« (KU,B126) Diente der Begriff des Enthusiasmus bei Platon und Longin noch als Ausgangspunkt für eine Theorie des Erhabenen, die auf der Inspiration des Menschen durch göttliche Mächte beruht,234 so wird er Kant im Bunde mit der Schwärmerei zum Beispiel für die Zügellosigkeit und Regellosigkeit der Einbildungskraft, die sich von jeder Gesetzmäßigkeit gelöst hat. In Kants Darstellung stellt der Enthusiasmus daher nur noch einen defizienten Modus des Erhabenen dar, der nicht in das übersinnliche Reich der Vernunft, sondern geradewegs in den »Wahnsinn« (KU, B 126) führe. An die Stelle der antiken Lehre des Enthusiasmus als Beseelung des Dichters durch den Gott tritt in der Kritik der Urteilskraft die Unterscheidung zwischen dem Mathematisch- und dem Dynamisch-Erhabenen als Zeichen einer Größe und Macht, die allein der Vernunft zukomme. Kants Begriff des Enthusiasmus verweist wiederum auf das widerspruchsvolle Verhältnis von Ästhetik und Ethik in der Kritik der Urteilkraft. Er wirft zugleich ein kritisches Licht auf die Theorie der Einbildungskraft in der dritten Kritik. Sowohl begrifflich wie auch moraltheoretisch lässt sich Kants Theorie des Enthusiasmus als genaue Umkehrung seines Begriffs des Erhabenen fassen. Während im Erhabenen die Einbildungskraft an ihre Grenzen geführt und angesichts der Gefahr einer vollständigen Deregulierung durch die Gewalt der Vernunft gebändigt wird, zeichnet sich der Enthusiasmus durch eine Zügellosigkeit der Einbildungskraft aus, die durch keine Macht der Vernunft mehr eingeschränkt wird. Zwar definiert Kant den Enthusiasmus als die »Idee des Guten mit Affekt« (KU, B 121) und bringt damit wieder eine sittliche Bestimmung zur Geltung. Gleichzeitig aber verhindert die Zügellosigkeit des Enthusiasmus den in der moralischen Idee des Erhabenen gültigen Vertrag zwischen Einbildungskraft und Vernunft. »Also kann er auf keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen.« (KU,B122) Der Enthusiasmus nennt eine Form des Erhabenen, die von Vernunftbestimmungen grundsätzlich frei 234 | Zu Longin und Kant vgl. Winfried Menninghaus, der Kants Theorie als »Verwandlung des Erhabenen aus einem pathetisch-enthusiastischen Überwältigungs- in ein tendenziell moralisches Widerstandsprinzip« versteht. Winfried Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand, S. 12. Vor diesem Hintergrund lassen sich in der Theorie des Enthusiasmus in der Kritik der Urteilskraft noch Spuren des pathetischen Begriffs des Erhabenen bei Longin finden, während das Kantische Erhabene vor allem den Bezug zur Sittlichkeit akzentuiert.
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ist. Gleichwohl gewährt Kant ihm eine ästhetische Bedeutung zu. »Ästhetisch gleichwohl ist der Enthusiasmus erhaben, weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ideen ist, welche dem Gemüte einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorstellungen.« (KU, B 122) Im Unterschied zum moralisch besetzten Begriff des Erhabenen offenbart sich mit dem Enthusiasmus in der Kritik der Urteilskraft eine spezifisch ästhetische Dimension des Erhabenen. Zeugt das Erhabene als der paradoxe Schauplatz einer Vermittlung von ästhetischen und sittlichen Momenten zugleich von der unhintergehbaren Gewalt der Vernunft über die Sinnlichkeit, so offenbart der von Kant nur als defizienter Modus des Erhabenen anerkannte Begriff des Enthusiasmus gleichwohl die Möglichkeit einer grundsätzlichen Freiheit der Einbildungskraft, die ohne die sittliche Macht der Vernunft auskommt und so eine genuin ästhetische Begründung des Erhabenen leisten könnte. Dass Kant sich in der Kritik der Urteilskraft vor allem am Sittlich-Erhabenen und nicht am Enthusiasmus orientiert, verrät demnach zugleich, dass er letztlich vor allem an einer moralischen Begründung der Ästhetik interessiert ist, ihre poetologischen Hintergründe aber ausblendet oder an den Rand seiner Untersuchung verschiebt. Die verborgene poetologische Dimension der Kantischen Ästhetik zeigt sich jedoch nicht nur in der Unterscheidung zwischen dem Erhabenen und dem Enthusiasmus. Besonders deutlich wird sie in der mit dem Erhabenen eng zusammenhängenden Begriff der negativen Darstellung. Kants Ästhetik will keine Poetik sein. Dennoch ist sie wie die Poetik an der theoretischen Bestimmung der Dichtkunst interessiert. Im Unterschied zu Platon, an dessen Rhetorik- und Dichtungskritik er anknüpft, rettet Kant die Dichtkunst für die ästhetische Theorie, indem er sie aus dem Verbund von Rhetorik und Poetik löst und zur höchsten Form der Kunst erklärt. Obwohl er die Dichtkunst in der Kritik der Urteilskraft als Paradigma der redenden Künste einführt, entwickelt Kant in seiner Ästhetik keine Poetik, die eine angemessene Bestimmung der Dichtkunst begründen könnte. Vielmehr sind die zentralen Begriffe von Kants Ästhetik im Unterschied zur ganz auf die Sprache bezogenen Tradition der Poetik und Rhetorik an einer Theorie der Bildlichkeit ausgerichtet, die die Kritik der Urteilskraft unbefragt aus den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Kritik der reinen Vernunft entlehnt. So verweist schon die Funktion der Urteilskraft, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft noch auf den Schematismus der Verstandesbegriffe bezogen hatte, auch in der
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Kritik der Urteilskraft auf eine Theorie der bildlichen Gegenständlichkeit, die sich insbesondere an der zentralen ästhetischen Funktion der Einbildungskraft als dem Vermögen der sinnlichen Darstellung ablesen lässt.235 Kant kennt in der Kritik der Urteilskraft allerdings auch eine spezifisch unbildliche Theorie der Darstellung, die nicht zufällig im Kontext seiner Analytik des Erhabenen steht. Impliziert das Erhabene ein Aussetzen der Einbildungskraft, so kommt gerade im Scheitern der Einbildungskraft, ein sinnliches Bild der Vernunftideen herzustellen, ein Modus der Darstellung zur Geltung, der sich der Bildlichkeit grundsätzlich entzieht. »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u.s.w.« (KU, B 125), mit diesen Worten kommentiert Kant die sittliche Erhabenheit der jüdischen Religion. Nicht nur im Kontext der jüdischen Religion offenbart sich für Kant ein spezifisch unbildlicher Darstellungsmodus. Im Zusammenhang mit der These, die Schönheit fungiere als Symbol der Sittlichkeit, unterscheidet Kant in seiner Ästhetik die symbolische von der schematischen Darstellung. »Die letztere (die intuitive) kann nämlich in die sc hemat isc he und in die sy mbolisc he Vorstellungsart eingeteilt werden. Beide sind Hypotyposen, d. i. Darstellungen« (KU, B 255). Verweist der Begriff der schematischen Darstellung dabei auf die bereits in der Kritik der reinen Vernunft thematisierte Funktion der bestimmenden Urteilskraft als Versinnlichung der Verstandesbegriffe durch die Anschauung, so bestimmt Kant die symbolische Darstellung als Versinnlichung der Vernunftideen: Alle H y p o t y p o s e (Darstellung, subiectio sub adspectum), als Versinnlichung, ist zwiefach: entweder s c h e m a t i s c h, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder s y m b o l i s c h, da 235 | In der Kritik der reinen Vernunft ist der Schematismus auf das Bild bezogen, insofern Kant das Schema als eine transzendentale Form des Bildes einführt, als »ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach Bilder erst möglich werden«. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 181. In der Kritik der Urteilskraft hält Kant an der bilderschaffenden Funktion der Einbildungskraft fest, bezieht sie nun aber auf die Theorie des Schönen, ohne der Frage nach dem Verhältnis von bildlicher Erkenntnis und der Sprachkunst der Dichtung, geschweige denn der nach der Sprachlichkeit menschlichen Verstehens, weiter nachzugehen.
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einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch, d. i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach, übereinkommt. (KU, B 255)
Im Zusammenhang mit der Theorie des Erhabenen kommt der symbolischen Darstellung in der Kritik der Urteilskraft die Aufgabe einer Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft zu. Die Unterscheidung von schematischer und symbolischer Darstellung macht Kant dabei von zwei Kriterien abhängig, die eng miteinander zusammenhängen. Zunächst definiert er das Schema in Übereinstimmung mit den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Kritik der reinen Vernunft als Versinnlichung der Verstandesbegriffe durch die Anschauung, bezieht das Symbol dann jedoch auf die Ideen der Vernunft, denen keine sinnliche Anschauungsform entsprechen kann. Schema und Symbol unterscheiden sich demnach nicht nur durch ihr gegenständliches Korrelat, sondern auch durch ihr spezifisches Darstellungsverfahren. Im Unterschied zur schematischen Darstellung, die einen Begriff demonstrativ unter die Anschauung bringt, bestimmt Kant die symbolische Darstellung als ein analogisches Verfahren, das eine an sich nichtdarstellbare Vernunftidee nur indirekt anzeige. Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder S c h e m a t e oder S y m b o l e, wovon die erstern direkte, die zweiten indirekte Darstellungen des Begriffs enthalten. Die erstern tun dieses demonstrativ, die zweiten vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden. (KU, B 256)
Wie die Unterscheidung von schematischer und symbolischer Darstellung verdeutlicht, erfordert die paradoxe Aufgabe einer Versinnlichung von Vernunftideen ein komplexes Darstellungsverfahren, das auf einer Analogiebeziehung zwischen zwei unterschiedlichen Gegenständen beruht. Kant betont allerdings, dass der Grund der Analogie in der sym-
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bolischen Darstellung nicht im Gegenstand selbst liege, sondern in der Reflexionsform der Urteilskraft, die die Regel ihrer Reflexion über einen ersten Gegenstand auf einen davon unterschiedenen zweiten Gegenstand übertrage. In diesem Sinne hatte Kant den Begriff der Analogie bereits in den Prolegomena definiert: Die Analogie meine »nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweener Dinge, sondern eine vollkommene Ähnlichkeit zweener Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen.«236 In der symbolischen Darstellung werden demnach durch die Reflexion der Urteilskraft zwei vollkommen voneinander unterschiedene Dinge in ein Analogieverhältnis zueinander gebracht. Kant definiert das Symbol als eine indirekte Form der Darstellung, da der eigentliche Gegenstand der Darstellung im Unterschied zum Schematismus nicht unmittelbar in ihr vorliege, sondern nur durch die Analogie erschlossen werden kann. Die indirekte Darstellung meint eine Form der Versinnlichung, die sich im Vergleich zur verbildlichenden Funktion des Schemas durch den Bezug auf ein Anderes der Darstellung konstituiert, das von ihr nur negativ angezeigt wird. Kants voraussetzungsreiche Definition der indirekten Darstellung gibt allerdings noch keinen Aufschluss darüber, warum er gerade den Begriff des Symbols verwendet. Die Wahl des Ausdrucks »symbolische Darstellung« rechtfertigt sich in der Kritik der Urteilskraft erst durch den Zusammenhang von Schönheit und Sittlichkeit. »Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten« (KU, B 258). Analog zu seiner Theorie des Erhabenen spricht Kant dem Symbol die grundlegende Aufgabe einer Vermittlung von Ästhetik und Ethik zu, insofern die indirekte Darstellung eine Verbindung zwischen der anschaulichen Darstellung und den undarstellbaren Vernunftideen herstellt, die letztlich die Urteilskraft selbst in eine Analogiebeziehung zur Vernunft treten lässt: In diesem Vermögen sieht sich die Urteilskraft nicht, wie sonst in empirischer Beurteilung, einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen: sie gibt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens tut; und sieht sich, sowohl wegen dieser innern Möglichkeit im Subjekte, als wegen der äußern Möglichkeit einer damit übereinstimmenden Natur, auf etwas im Subjekte selbst und außer ihm, was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, 236 | Kant, Prolegomena, A 176.
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nämlich dem Übersinnlichen verknüpft ist, bezogen, in welchem das theoretische Vermögen mit dem praktischen, auf gemeinschaftliche und unbekannte Art, zur Einheit verbunden wird. (KU, B 259)
In der symbolischen Darstellung – und allein in ihr – gewährt Kant der Urteilskraft eine unbegrenzte Freiheit, da sie die Reflexionsregel, mit deren Hilfe sie zwei unterschiedliche Gegenstände in eine Analogiebeziehung zueinander setzt, selbst herstellt. Die Autonomie der ästhetischen Urteilskraft, die Kant in der dritten Kritik zu beweisen sucht, findet ihre Begründung erst in dem vom Symbolischen gestifteten Zusammenhang von Schönheit und Sittlichkeit. Dem ästhetischen Begriff der Freiheit kommt die Aufgabe zu, zwischen Schönheit und Sittlichkeit auf der einen Seite und zwischen Urteilskraft und Vernunft auf der anderen Seite zu vermitteln. Die Freiheit, die die Urteilskraft in der symbolischen Darstellung erlangt, setzt Kant in eine Analogie zu der Freiheit der Vernunft, um so den Übergang von der ästhetischen Darstellung zu der sittlichen Bedeutung der Ideen zu sichern: »so leuchtet ein, daß die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwickelung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls sei« (KU, B 264). Kants Ästhetik findet ihre Vollendung in der moralischen Begründung des Geschmacksurteils durch das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten. Bestätigt der Begriff der symbolischen Darstellung als Vermittlung von Schönheit und Sittlichkeit damit einerseits den die Kritik der Urteilskraft leitenden Zusammenhang von Ästhetik und Ethik, so weist er andererseits auf die rhetorischen und poetologischen Grundlagen von Kants Theorie der Darstellung hin. Die Bedeutung der Rhetorik für Kants Darstellungsbegriff hat Rodolphe Gasché unterstrichen. »Doch ist es nicht verwunderlich, daß Kants Versuch, die Darstellung an sich, d.h. das eigentliche Prinzip des Gemütslebens, zu thematisieren, auf einen Begriff zurückgreift, der ganz offensichtlich in der rhetorischen Tradition wurzelt? In § 59 der Kritik der Urteilskraft […] spricht Kant von der Darstellung als Versinnlichung und greift dabei auf den griechischen Begriff der hypotyposis zurück.«237 Gasché stellt Kants ästhetische Theorie der Darstellung daher ganz in die rhetorische Tradition zurück. »Die ästhetische Theorie, und dies gilt auch noch für Kant, ist in erster Linie 237 | Rodolphe Gasché, Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant, S. 157.
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eine Poetik, und zwar eine in hohem Maße als Rhetorik angelegte.«238 Auf die rhetorischen Grundlagen des Kantischen Hypotyposebegriffs hat auch Winfried Menninghaus hingewiesen, demzufolge Kants Theorie der Darstellung einerseits auf Quintilian zurückgehe, andererseits Longins Begriff der phantasía in der Bedeutung einer erhabenen Form der Vergegenwärtigung neu gestalte.239 Menninghaus bewertet Kants Theorie der Darstellung als Hypotypose dabei durchaus positiv. »Kant hat der Hypotypose eine Möglichkeit erschlossen, die bei Quintilian und Longin nicht vorgesehen ist: ihre Anschaulichkeit und VergegenwärtigungsLeistung braucht nicht auf objektiv-mimetischer Nachbildung zu ruhen, sondern kann auch ›indirect‹ mittels einer ›Analogie‹ in den subjektiven ›Verfahren‹ der Reflexion erzeugt werden, die gar ›nicht (die) Anschauung selbst‹ betrifft.«240 Die poetologische Leistung von Kants Begriff der symbolischen Darstellung liegt demnach in der Begründung einer dezidiert ungegenständlichen Darstellungsform, die sich vom Vorbild der aristotelischen Mimesistheorie zu lösen beginnt. Die Theorie der symbolischen Darstellung erscheint in der Kritik der Urteilskraft damit nicht nur als der zentrale Verknüpfungspunkt von Schönheit und Sittlichkeit. Sie ist zugleich der Knoten, der Ästhetik und Rhetorik ineinander schlingt. Während Kant mit der Theorie des Erhabenen und des Symbols vor allem die moralische Seite des Ästhetischen betont, nennt seine Theorie der indirekten Darstellung zugleich einen poetologischen Ansatz, der seinem Versuch einer moralischen Begründung der Ästhetik in dem Begriff des Sittlich-Schönen allerdings tendenziell zuwiderläuft. Der Begriff der symbolischen Darstellung erlaubt es somit, Kants Begründung der Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft gegen ihre eigenen Intentionen in die Tradition der Poetik zurückzustellen. Wo die Analytik des Schönen ganz von logischen Gesetzen bestimmt ist, die Kant im Wesentlichen der Kritik der reinen Vernunft entnimmt, da öffnet sich in seiner Theorie des Erhabenen eine Verbindungslinie zur antiken Poetik. Zwar deutet Kant, wie Menninghaus gezeigt hat, Longins Lehre des Erhabenen als Überwältigung des Zuhörers durch die Macht der Sprache zu einer Kraft des Widerstandes gegen die Überwältigung des Menschen durch die Natur um. Die Offenbarung der Vernunft in der symbolischen 238 | Ebd., S. 172. 239 | Winfried Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand, S. 15. 240 | Ebd. S. 16.
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Darstellung des Zusammenhangs von Schönheit und Sittlichkeit bringt aber zugleich poetologische Gesetze ins Spiel, die in dem Versuch einer neuen Begründung der Ästhetik eine größere Rolle spielen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Das gilt mehr noch als für den kritischen Begriff des Enthusiasmus, den die Kritik der Urteilskraft entwickelt, für den der indirekten Darstellung, der das Zentrum des Zusammenhangs von Schönheit und Sittlichkeit markiert. Kant legt mit seiner Theorie der indirekten Darstellung den Grundstein zu einer modernen Poetik der unbildlichen Darstellung, die er nicht weiter ausarbeitet, da ihn der Zusammenhang von Schönheit und Sittlichkeit in eine andere Richtung lenkt und er die Spannung von Ästhetik und Rhetorik in der Kritik der Urteilskraft nicht im Sinne einer auf die Dichtkunst bezogenen Poetik auflöst. Das Versäumnis der Kantischen Ästhetik, eine adäquate Theorie der Dichtkunst vorzulegen, die an die Antike anknüpfen und zugleich neue Akzente setzen kann, hat erst Friedrich Hölderlin beseitigt.
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne 1. H ölderlins P oe tik der M oderne In der Kritik der Urteilskraft hat Kant die antike Lehre des Enthusiasmus aus dem Zentrum des Erhabenen an den Rand der Ästhetik gedrängt, um zugleich den inneren Zusammenhang zwischen Dichtkunst und Sittlichkeit zu sichern, der seine Überlegungen leitet. Hölderlin geht einen anderen Weg als Kant. In der Auseinandersetzung mit geschichtlich vorliegenden Mustern der Dichtkunst fragt er nach den Grenzen der antiken Poetik, um aus diesen zugleich die Notwendigkeit einer von der Antike unterschiedenen modernen Theorie und Praxis der Dichtkunst abzuleiten. Den Ausgangspunkt seiner poetologischen Überlegungen bildet die antike Lehre des Enthusiasmus, die er aufnimmt und umformuliert, um so die Gesetze auch der modernen Dichtkunst sichtbar machen zu können. Wie kein anderer Denker seiner Zeit hat sich Hölderlin der doppelten Ausbildung der Poetik als Theorie und Praxis der Dichtkunst verschrieben und so die Grundlagen einer spezifisch modernen Reflexion der Dichtkunst erarbeitet. Hölderlins voraussetzungsreiche Überlegungen zur Poetik sind alles andere als leicht verständlich. Sie sind in seinem Werk weit verstreut, begleiten die dichterische Produktion von den Anfängen bis zum Ende, ohne jedoch wie bei seinen Jugendfreunden Schelling und Hegel zu der systematischen Form einer voll ausgebildeten Ästhetik zu finden. Die fragmentarische Überlieferung der poetologischen Entwürfe Hölderlins steht jeder Systematik entgegen und verweist zugleich auf die Verknüpfung der Poetik mit Problemstellungen, die stets das einzelne Werk und dessen figurale Gestaltung betreffen. Im Mittelpunkt von Hölderlins Überlegungen steht zumeist die kritische Auseinandersetzung mit den griechischen Vorbildern, mit Homer, Sophokles, Pindar und, nicht zuletzt, mit der Dichtungstheorie von Platon und Aristoteles. Hölderlin
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sucht das Gespräch jedoch nicht allein mit den antiken Theorien der Dichtkunst, sondern mehr noch mit den Dichtern, die in ihren Werken eine implizite Poetik vorgelegt haben, deren Gesetze es seiner Meinung nach zu reformulieren gilt, um aus ihnen zugleich neue Formen ableiten zu können. Die Schwierigkeit, Hölderlins poetologischen Reflexionen zu folgen, ergibt sich vor diesem Hintergrund nicht allein aus ihrer oft nur fragmentarisch überlieferten Form, sondern darüber hinaus aus ihrem eigenen, extrem verdichteten Duktus des Sprechens. Die dunkel anmutende Sprache Hölderlins resultiert jedoch keineswegs, wie ihm schon zu Lebzeiten oft angelastet wurde, aus einem Mangel an sprachlicher Ausdruckskraft. Im Gegenteil: Hölderlins Überlegungen vollziehen in ihrer extremen Verdichtung den z.T. enigmatischen sprachlichen Gestus mit, der auch seine dichterische Praxis bestimmt. Als Theorie und Praxis der Dichtkunst ist Hölderlins Poetik zugleich integraler Bestandteil seiner Dichtung, kein Sprechen über, sondern ein Sprechen mit der Poesie aus der Poesie heraus. In ihrem Zentrum steht die Frage, wie Dichtung in der unmittelbaren Gegenwart noch möglich ist. Ihre Innovationskraft für die Poetik der Moderne gewinnt Hölderlin durch die Antwort, dass dies nicht durch den Begriff der Nachahmung zu leisten sei, der die aristotelische Poetik bestimmte und in ihrer Reichweite zugleich begrenzte. Hölderlins Kritik der Nachahmung richtet sich auf die beiden Momente, die der Begriff der mimesis in sich versammelt: Die Dichtung der Moderne kann keine bloße Nachahmung der Natur oder der Wirklichkeit sein, sie kann aber ebensowenig eine Nachahmung der antiken Vorbilder sein. Vielmehr muss sie ihre eigenen Gesetze schaffen, und dies auf eine Weise, die sie klar von den Vorgaben der Antike unterscheidet. Vor dem Hintergrund dieser keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen verfolgt Hölderlin in seltener Beharrlichkeit das Ziel der Herausarbeitung einer Poetik der Moderne, die sich von antiken poetologischen wie von zeitgenössischen ästhetischen Modellen unterscheidet, da sie nicht nach der zeitlosen Idee der Kunst überhaupt, sondern nach dem Status des singulären Kunstwerks in seiner historischen Bestimmtheit fragt.
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne
2. Ä sthe tische P hilosophie und P oe tik der B egeisterung An den zeitgenössischen ästhetischen Entwürfen partizipiert Hölderlin, da er in ähnlicher Weise wie Schelling oder der junge Hegel den Begriff der intellektualen Anschauung in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Schon in dem frühen Entwurf Urteil und Sein beruft er sich auf die Macht der »intellektualen Anschauung«241 , um die von Kant initiierte Trennung von Subjekt und Objekt aufzuheben. Der Leitbegriff der intellektualen Anschauung soll es erlauben, einen Zugang zum Absoluten zu eröffnen, den Kants strikte Trennung von Anschauung und Verstand unmöglich gemacht hatte. Mit der Idee, dass es der Philosophie und der Kunst um die Darstellung des Absoluten gehe, schreibt sich Hölderlin in die Geschichte des deutschen Idealismus ein. Eine Sonderstellung nimmt er in ihr ein, da er der Kunst und insbesondere der Dichtung einen Vorrang zuspricht, die Darstellung des Absoluten erreichen zu können. Schon im ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das meist Hegel zugeschrieben wird, jedoch in diesem Punkt ganz von Hölderlin beeinflusst ist, heißt es: »Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter.«242 Aus der platonischen Trias des Wahren, Guten und Schönen rückt das Schöne in das Zentrum der Philosophie. Der Kunst traut Hölderlin am ehesten zu, die Darstellung des Absoluten zu erreichen, um die sich die Philosophie bemüht. Was er sucht, ist eine ästhetische Philosophie, die sich mit der Poesie vereinigt. Die ästhetische Philosophie, auf dessen Suche er sich begibt, gewinnt Hölderlin aus dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Antike und Moderne. Hölderlin fragt aus der Erfahrung der eigenen Gegenwart heraus nach den Differenzen zwischen Antike und Moderne. Das wird schon im frühen Entwurf Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzuse241 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 2. Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1994, S. 502. 242 | Ebd., S. 576.
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hen haben deutlich. Dort heißt es einleitend: »Wir träumen von Bildung, Frömmigkeit p.p. und haben gar keine, sie ist angenommen – wir träumen von Originalität und Selbständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles dies ist doch Reaktion, gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten gegen das Altertum«243 . Die Antike empfindet Hölderlin weniger als Vorbild denn als Knechtschaft, von der sich die Moderne zu lösen habe. Die poetologische Bestimmung einer neuen Form der dichterischen Freiheit geht bei Hölderlin mit der politischen Idee einer Befreiung von jeder Form der Herrschaft einher, die nicht den Willen des Volkes achtet. Ausschlaggebend für seine Bestimmung des Verhältnisses von Antike und Moderne im doppelten Zeichen von Poetik und Politik ist die Einsicht, dass beide nicht nur verschieden sind, sondern in ihrer Verschiedenheit wechselseitig aufeinander als Gegensätze verweisen. »Das schwerste dabei scheint, daß das Altertum ganz unserem ursprünglichen Triebe entgegenzusein scheint, der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche Natürliche zu vervollkommnen«244 . Von Beginn an rückt die Differenz zur Antike in den Mittelpunkt von Hölderlins poetologischen Überlegungen, eine Differenz, die Hölderlin nicht anders als Hegel auf dialektische Weise als Entgegensetzung auseinandergetretener Extreme begreift. Seine Aufgabe sieht er jedoch weniger in einer Versöhnung der Gegensätze miteinander als vielmehr darin, die Extreme ganz auszubilden, um so die Eigenart der modernen Poesie herausstellen zu können. Wie er schon in Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben andeutet, besteht diese Eigenart in dem Bildungsgang der modernen Dichtung, der es darum geht, eine Vervollkommnung der Natur in der Kunst zu erreichen. Wie diese Vervollkommnung genau aussieht, entwickelt er in seinen späteren Schriften in einer engen Auseinandersetzung mit der historischen Gattungsform der Tragödie. Der Ausgangspunkt der Neubestimmung der modernen Poesie bleibt zunächst der antike Begriff des Enthusiasmus. Unter dem Titel der »Begeisterung« findet er Eingang in Hölderlins Poetik: »Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser 243 | Ebd., S. 507. 244 | Ebd.
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auf und abzusteigen ist Beruf und Wonne des Dichters.«245 Hölderlin versteht die Begeisterung der antiken Lehre des Enthusiasmus entsprechend als eine Form der Beseelung, die den Menschen ganz ergreift und fortreißt. Die Beseelung kann schwächere oder stärkere Formen annehmen und erlaubt es so, zwischen Graden der Begeisterung zu unterscheiden. Scheint sich die Begeisterung in der heroischen Figur des Feldherrn zu vollenden, so ist es dem Dichter vorbehalten, die unterschiedlichen Grade der Begeisterung zur Darstellung zu bringen. »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist«246, so beginnen seine Überlegungen Über die Verfahrensweise des poëtischen Geistes. Entscheidend ist für Hölderlin in diesem Zusammenhang, dass die Begeisterung nicht unmäßig wird. Daher ordnet er ihr als begrenzenden Pol die Nüchternheit zu, die als eine Form der inneren Begrenzung der Begeisterung dient: »Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, daß der eine bei größeren, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Grenze deiner Begeisterung.« In enger Auseinandersetzung mit Longins Poetik des Erhabenen, die Schwulst und andere Formen als defiziente Modi des Enthusiasmus begriffen hatte, fordert Hölderlin nach einer Balance zwischen Begeisterung und Nüchternheit, die nach beiden Seiten hin ausdifferenziert werden kann: So wie ein Übermaß an Begeisterung die poetische Form zerstört, so verhindert ein Übermaß an Nüchternheit die lebendige Form der Dichtung. Zwischen diesen Extremen zu vermitteln ist Aufgabe des Zusammenspiels von Begeisterung und Nüchternheit – einem Zusammenspiel, das Hölderlin zufolge in der antiken Form der Tragödie allerdings auf ein Spitze getrieben wurde, die für die Moderne nicht mehr Leitbild sein kann.
245 | Ebd., S. 519. 246 | Ebd., S. 527.
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3. H ölderlins P oe tik der Tr agödie Hölderlins Poetik ergibt sich in ähnlicher Weise wie Hegels Ästhetik zu wesentlichen Teilen aus der Beschäftigung mit der griechischen Tragödie.247 Hölderlin ist jedoch nicht so sehr an einer Philosophie des Tragischen interessiert als vielmehr an poetologischen Fragen der Übersetzung. Der Begriff des Übersetzung ist vor diesem Hintergrund doppelt zu verstehen: Zum einen geht es Hölderlin darum, ausgewählte griechische Tragödien wie den König Ödipus und die Antigone von Sophokles aus dem Griechischen ins Deutsche zu übersetzen. Auf der anderen Seite übersetzt und überträgt Hölderlin die Verfahrensweise der antiken Tragödie auf die der modernen Poesie. In beiden Fällen, der sprachlichen wie der poetologischen Übersetzung der antiken Vorgaben in die moderne Dichtkunst, bedeutet Übertragung nicht einfach Nachahmung oder Repräsentation der Vorlage, sondern deren bewusste Verfremdung. Die nicht geringen Verständnisprobleme, vor die Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen und die damit verbundenen poetologischen Anmerkungen den Leser stellen, resultieren aus diesem eigenwilligen Umgang mit den antiken Vorlagen, der zugleich in Übereinstimmung mit der Forderung nach einer von ihnen unterschiedenen modernen Poetik steht. Hölderlins Interesse an der griechischen Tragödie ist daher von Beginn an in einer Poetik verwurzelt, die aus der Differenz zur Antike heraus die Eigengesetzlichkeit der modernen Poesie zu sichern sucht. Hölderlin blickt auf die poetische Logik der Antike, um das »gesetzlichen Kalkul«248 der attischen Tragödie zugleich als Grundlage für die Regeln moderner Poesie darstellen zu können: »Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur der μηχαυη alten erhebt.«249 Mit der Frage nach dem ge247 | Zur vieldiskutierten Frage nach dem Verhältnis von Hegel und Hölderlin vgl. Dieter Henrich, der seine Überlegungen mit der Feststellung über Hegel abschließt: »Im Anschluß an Hölderlin und im Abstoß von ihm ist er zum Philosophen seiner Epoche geworden.« Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a.M. 1971, S. 9-40, hier S. 40. Das Scheitern von Hegels Subjektphilosophie mache, so Henrich, eine erneute Hinwendung zu Hölderlin möglich. 248 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke in drei Bänden. Band 2, S. 849. 249 | Ebd.
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setzlichen Kalkül macht Hölderlin von Anfang an klar, dass es ihm um die Ausarbeitung einer Poetik geht, die sich als Theorie wie als Praxis der Dichtkunst gleichermaßen versteht. Aus der Reflexion auf die poetische Logik der antiken Tragödie will Hölderlin die Regeln bestimmen, die die moderne Kunst leiten sollen. Vor diesem Hintergrund diagnostiziert Hölderlin zunächst ein Ungenügen der modernen Dichtung wie der sie begleitenden Dichtungstheorien. Voraussetzung seiner Überlegungen ist ein Mangel als »Zuverlässigkeit«250, der daraus resultiere, dass Kunstwerke wie etwa bei Lessing v.a. nach ihrer Wirkung, nicht aber nach ihrer poetischen Logik beurteilt würden. Hölderlin geht es ausdrücklich darum, das Handwerk des modernen Dichters zu sichern: »Der modernen Poësie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nämlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederholt werden kann.«251 In Übereinstimmung mit den Vorgaben der antiken Poetik und Rhetorik insistiert Hölderlin darauf, dass Dichtung grundsätzlich etwas ist, das gelehrt und gelernt werden kann. Das Handwerksmäßige, das der Kunst zukommt, sichert ihr zugleich jene Zuverlässigkeit, die Hölderlin gegenwärtig noch nicht gewährleistet sieht, aber fordert, um der Antike etwas Gleichwertiges entgegenstellen zu können. Im Unterschied zu den Vorgaben der antiken Poetik und Rhetorik will Hölderlin die von ihm geforderte Zuverlässigkeit nicht aus der Nachahmung der antiken Vorbilder gewinnen, sondern aus der Differenz zu ihnen. Hölderlins Versuch, in den Anmerkungen zu den Trauerspielen des Sophokles auch der modernen Poesie eine feste Regel zu geben, um sie so »zur μηχαυη der alten« zu erheben, weist über Sophokles hinaus auf seine geschichtsphilosophische Unterscheidung von antiker und moderner, oder, in seiner Begrifflichkeit, von griechischer und hesperischer Dichtung. Die Auseinandersetzung mit dem Tragischen ist zugleich der Grund für einen geschichtsphilosophischen Entwurf, der aus dem Geist der Antike heraus die Gesetze der modernen Dichtung zu bestimmen sucht. Wie Peter Szondi gezeigt hat, der »Hölderlins Gattungspoetik als
250 | Ebd. 251 | Ebd.
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Geschichtsphilosophie«252 begreift, zeichnet sich Hölderlins Poetik durch eine Überwindung der klassischen Regelpoetik aus, die weit in die Moderne hinausgreift. Im Mittelpunkt von Hölderlins geschichtsphilosophischer Poetik steht die Unterscheidung von griechischer und hesperischer Dichtung, die ihrerseits auf die im Grund zum Empedokles verhandelte Differenz zwischen dem Aorgischen und dem Organischen, zwischen Natur und Kunst, verweist. Das Wesen der griechischen und der hesperischen Poesie leitet Hölderlin aus dem je unterschiedlichen Verhältnis der unbegrenzten Natur zu der in der anschaulichen Darstellung nach endlicher Begrenzung suchenden Kunst ab. Hölderlins dialektischer Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kunst zufolge verwirklicht sich der griechische Geist, dem die aorgische Natur ursprünglich ist, in seinem Gegensatz, im organischen Kunstwerk, während das Hesperische in umgekehrter Weise von der künstlerischen Darstellungsgabe ausgeht, um sich im aorgischen Naturgang zu vollenden. In Briefen an seinen Freund Böhlendorff fast Hölderlin seine Auffassung der Differenz zwischen der griechischen und der hesperischen Kunst anschaulich zusammen: Deswegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. 253
Hölderlins entwickelt eine eigentümliche Dialektik von Fremdem und Eigenem, der zufolge die Bewegung des Kunstwerks immer vom Eigenen ins Fremde gehe. So verwirklicht sich der griechische Geist, dessen Ursprung im heiligen Pathos, im Feuer des Himmels liegt, in der dem hesperischen Geist ursprünglichen Darstellungsgabe, in der Nüchternheit der Erde, das Hesperische jedoch umgekehrt im griechischen Pathos. »Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen 252 | Peter Szondi, Hölderlin-Studien, in: Schriften I, Frankfurt a.M. 1978, S. 261-412, hier S. 379. 253 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 3. Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, Frankfurt a.M. 1992, S. 460.
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werden diese eher in schöner Leidenschaft, die du dir auch erhalten hast, als in jener homerischen GeistesGegenwart und Darstellungsgabe zu übertreffen sein.«254 Das chiastische Verhältnis von griechischer und moderner Dichtung bei Hölderlin hat Klaus Düsing zusammengefasst. »Die Griechen gehen aus von aorgischer, ungebundener Unendlichkeit, die ihnen natürlich ist, und schaffen in der Kunst Selbstgestaltung und Selbstbegrenzung, so daß sie sich darin als etwas Bestimmtes erfassen können. Die Hesperier, so wird man Hölderlins schwierige Hinweise wohl ausdeuten müssen, gehen aus von künstlich gewordener, unlebendiger Begrenztheit und verfestigter Gesetzlichkeit als ihrem Ursprünglichen; sie streben im Vertrauen auf die Natur oder den ›Naturgang‹ aus der erstarrten Begrenztheit heraus ins aorgische Unendliche«.255 In den Anmerkungen zur Antigonä nimmt Hölderlin die dialektische Bestimmung des Verhältnisses von aorgischer Natur und organischem Kunstwerk wieder auf und bezieht sie in geschichtsphilosophischer Hinsicht auf den Wechsel von der griechischen zur hesperischen Dichtkunst. Für uns, da wir unter dem eigentlicheren Zevs stehen, der nicht nur zwischen dieser Erde und der wilden Welt der Todten inne hält, sondern den ewig menschenfeindlichen Naturgang, auf seinem Wege in die andre Welt, entschiedener zur Erde zwinget, und da dies die wesentlichen und vaterländischen Vorstellungen groß ändert, und unsere Dichtkunst vaterländisch sein muß, so daß ihre Stoffe nach unserer Weltansicht gewählt sind, und ihre Vorstellungen vaterländisch, verändern sich die griechischen Vorstellungen in sofern, als ihre Haupttendenz ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, Geschick zu haben, da das Schicksallose, das , unsere Schwäche ist. 256
Die Gegensätzlichkeit von antiker und moderner Poesie bezieht Hölderlin auf die spekulative Idee einer Wende, in der sich das Verhältnis von aorgischer Natur und organischer Kunst umkehre. War für das Griechische die ungebundene Natur der Ursprung, der in der Kunst durch »die 254 | Ebd. 255 | Klaus Düsing, Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806), Bonn 1988, S. 55-82, hier S. 66. 256 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werk in drei Bänden. Band 2, S. 918.
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Haupttendenz, sich fassen zu können«, ausgeglichen wurde, so vollzieht sich in den »Tragödien der Zeitenwende«257, so Düsing, ein geschichtsphilosophischer Umschlag, der den Gang vom Aorgischen ins Organische in der griechischen Poesie durch die entgegengesetzte Bewegung vom Organischen ins Aorgische in der hesperischen Dichtung ersetzt. In ähnlicher Weise wie in Hegels Theorie der Tragödie kommt der Antigone in Bezug auf die Idee einer abendländischen Wende, in der sich das Verhältnis von Natur und Kunst umkehrt, daher eine ausgezeichnete Stelle zu. So betont schon Lawrence Ryan, es sei »nicht recht erkannt worden, daß für Hölderlin die Antigone einen nicht minder exemplarischen Charakter trägt, allerdings in einem anderen Sinne: nicht als vorbildlich gelungene Ausprägung des tragischen Gleichgewichts, sondern als Umbruch in der Geschichte der Tragödie und somit der Literatur überhaupt: als Umschlagspunkt in der Entwicklung vom Griechischen zum Hesperischen«258 . Der Antigone kommt für Hölderlin eine besondere Bedeutung zu, da sie den geschichtsphilosophischen Umschlag von der griechischen zur hesperischen Dichtung in der Umkehrung des Verhältnisses von aorgischer Natur und organischer Kunst vollzieht. Einen geschichtlichen Umschlag bedeutet die Tragödie des Sophokles in der Vollendung des Tragischen als Verwirklichung des Gottes im Menschen. Die ausgezeichnete Stellung der Antigone resultiert aus der spekulativ-religiösen Einsicht Hölderlins, in der Tragödie fasse sich der unendliche Geist des Gottes im endlichen Geist des Menschen. Wie schon Meta Corssen dargelegt hat, beruht Hölderlins Verständnis des Tragischen auf der Idee einer Begegnung von Gott und Mensch. »Der Wesensgrund der Tragödie ist für Hölderlin, wie er im Schlußteil der beiden Kommentare
257 | Klaus Düsing, Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, S. 61. 258 | Lawrence Ryan, Hölderlins Antigone. ›wie es vom griechischen zum hesperischen gehet‹, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus: Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806), Bonn 1988, S. 103-121, hier S. 103. »Car le texte fondamentale, pour l’interprétation hölderlinienne de la tragédie, c’est bien en réalité Antigone«, meint auch Philippe Lacoue-Labarthe, La césure du spéculatif, in: Hölderlin, L’Antigone de Sophocle, Paris 1978, S. 183223, hier S. 202.
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erklärt, die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen.«259 Während Hegel die Tragödie als den Widerstreit zweier sittlicher Mächte begreift und den Konflikt zwischen Antigone und Kreon in den Mittelpunkt seiner Interpretation stellt, gewinnt Hölderlin seinen Begriff des Tragischen aus der spekulativen Gegenüberstellung von Mensch und Gott: Die tragische Darstellung beruhet, wie in den Anmerkungen zum Oedipus angedeutet ist, darauf, daß der unmittelbare Gott, ganz Eines mit dem Menschen (denn der Gott eines Apostels ist mittelbarer, ist höchster Verstand in höchstem Geiste), daß die unendliche Begeisterung unendlich, das heißt in Gegensätzen, im Bewußtseyn, welches das Bewußtseyn aufhebt, heilig sich scheidend, sich faßt, und der Gott, in der Gestalt des Todes, gegenwärtig ist. 260
Im Mittelpunkt von Hölderlins Deutung der Tragödie steht das Problem der Vereinigung von Mensch und Gott. Am Beispiel der Antigone beschreibt er, wie »in der Tragödie der Gott unmittelbar gegenwärtig wird.«261 Zeigt sich in der Tragödie einerseits die unmittelbare Wirklichkeit des Gottes, so nimmt die »unendliche Begeisterung« durch die Gegenwart des Gottes, der »ganz Eines mit dem Menschen« ist, für den Menschen die »Gestalt des Todes« an. Die Verwirklichung des Gottes im Menschen bedeutet jedoch nicht nur die Vollendung des Tragischen. Sie markiert zugleich jenen geschichtlichen Wendepunkt, der den Weg vom Griechischen zum Hesperischen bestimmt. Denn indem die Antigone exemplarisch vorführt, wie sich das Göttliche im Menschen verwirklicht, vollendet sie in einer nicht mehr zu überbietenden Weise den Gang von der aorgischen Natur in die organische Kunst in der griechischen Poesie. Wie Hölderlins späte Hymnen zeigen, stellt die hesperische Kunst in umgekehrter Weise die vom Menschen ausgehende Erinnerung an das Göttliche in den Mittelpunkt der Dichtung. An die Stelle der tragischen Begegnung von Gott und Mensch tritt so in Hölderlins Lyrik eine Theorie 259 | Meta Corssen, Die Tragödie als Begegnung zwischen Gott und Mensch. Hölderlins Sophokles-Deutung, in: Hölderlin-Jahrbuch 3 (1948/49), S. 139-187, hier S. 141. 260 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 2, S. 917. 261 | Meta Corssen, Die Tragödie als Begegnung zwischen Gott und Mensch, S. 147.
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der Erinnerung, die ihren Ausgang von der Erkenntnis nimmt, dass die in der antiken Tragödie dargestellte Präsenz des Göttlichen in der modernen Poesie nicht mehr herzustellen ist, ohne dass dies allerdings von vorneherein als ein Mangel zu begreifen sei, wie es bei Schiller oder Hegel der Fall ist. Aus der spekulativen Einsicht in die unwiederbringlich verlorene Gegenwart der griechischen Götter entwickelt Hölderlin einen neuen Begriff der Poetik, in dessen Mittelpunkt nicht mehr allein das Vorbild der antiken Tragödie steht, sondern unterschiedliche Gattungsformen ineinanderspielen. Wenn Hölderlin das Verhältnis von Mensch und Gott in den Mittelpunkt seiner Auffassung der griechischen Tragödie stellt, unterscheidet er sich nicht nur von seinem Jugendfreund Hegel, sondern zugleich von den Vorgaben der aristotelischen Poetik. Wie in der Auseinandersetzung mit der Poetik deutlich geworden ist, ging es Aristoteles wesentlich darum, die Tragödie in die Vorgaben seiner Theorie der Rationalität und der Ethik einzupassen. Insbesondere die Übersetzung des Begriffes mythos als Handlung zeugt von diesem Versuch einer umfassenden Rationalisierung der Tragödie, die die abendländische Tradition bis zu Lessing bestimmt hat. Ihr Preis war die Ausblendung all dessen, was sich nicht mit den Vorgaben der dianoia und der Ethik fassen lässt: mythos nicht als Handlung verstanden, sondern als konfliktreiches Verhältnis von Menschen und Göttern. Nicht zufällig neigt Aristoteles in der Poetik daher dazu, die Passagen auszulassen, in denen das Verhältnis von Menschen und Göttern in der Tragödie ausdrücklich thematisiert wird, namentlich die Chorlieder, in denen es immer wieder um die Frage nach der Unterordnung menschlichen Handelns unter göttliche Schicksalsmächte geht. Hölderlins Auffassung der Tragödie entfernt sich vor diesem Hintergrund gleich doppelt von den aristotelischen Vorgaben. Sie tut dies zum einen, indem sie die Tragödie ausdrücklich als Begegnung von Mensch und Gott fasst und den aristotelischen Begriff der katharsis auf die Idee einer spekulativen Vereinigung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen bezieht: »Die Darstellung des Tragischen beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und der Mensch sich paart, und grenzenlos die Naturmacht und des Menschen Innersten im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das grenzenlose Eineswerden durch
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grenzenloses Scheiden sich reinigt.«262 Hölderlin stellt gegen die aristotelische Privilegierung der beiden Momente der Peripetie und der Wiedererkennung nicht nur das Moment des Pathos, des schweren Leids in den Mittelpunkt der Tragödie – in diesem Fall den Zorn, der den Menschen beseelt.263 Er greift damit die antike Lehre des Enthusiasmus auf, um ihr zugleich eine neue Wendung zu geben: Die Tragödie zeigt, wie der Gott vom Menschen Besitz ergreift, diese Paarung jedoch das Verschwinden des rationalen Bewusstseins mit sich führt, dem Aristoteles die Tragödie unterstellen wollte: Anoia, nicht dianoia ist das Charakteristikum des tragischen Helden, wie das Schicksal von Ödipus und Antigone zeigt. Noch auf einer zweiten Ebene aber entfernt sich Hölderlin von den aristotelischen Vorgaben: Zum Inspirationspunkt seiner eigenen späten Dichtung wird die hymnische Form des Chorliedes aus der griechischen Tragödie, die sich bei Hölderlin verselbständigt und zu einer eigenen Form findet, die sich nicht länger aus der antiken Poetik alleine herleiten lässt. Wie der Schluss der Anmerkungen zeigt, bleibt Hölderlin der Frage nach der Verfahrensart der modernen Dichtung treu: »Die vaterländischen Formen unserer Dichter, wo solche sind, sind aber dennoch vorzuziehen, weil solche nicht bloß da sind, um den Geist der Zeit verstehen zu lernen, sondern ihn festzuhalten und zu fühlen, wenn er einmal begriffen und gelernt ist.«264 Das Schlusswort der Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie bleibt das Handwerkliche, die Frage des Lernens, wie Dichtung zu verfertigen sei. Hölderlin hat diese Frage auf eine doppelte Weise zu beantworten gesucht: in einer Theorie der Dichtkunst, die die Wesensart des modernen Gedichts von der der antiken Tragödie zu unterscheiden sucht, und in einer Praxis der Dichtkunst, die mit diesen theoretischen Vorgaben in Übereinstimmung steht.
262 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 2, S. 856. 263 | Vgl. Jochen Schmidt, Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk, in: Hölderlin-Jahrbuch 17 (1967), S. 128-157. 264 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 2, S. 921.
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4. Theorie und P r a xis der D ichtkunst : H älfte des L ebens Hölderlins späte Lyrik ist vor diesem Hintergrund als konsequente Umsetzung seiner Theorie der Dichtkunst zu verstehen. Das wird nicht allein in den späten Hymnen wie Andenken und Mnemosyne deutlich,265 sondern auch in den – zumindest auf den ersten Blick – einfacheren Formen, die Hölderlin unter dem Titel Nachtgesänge zusammengefasst hat. Das wohl berühmteste Gedicht unter ihnen, Hälfte des Lebens, entspricht ganz den poetologischen Vorgaben, die schon Hölderlins kritische Auseinandersetzung mit der Antike geleitet haben: Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 266
Bereits auf den ersten Blick fällt die strikte Zweiteilung des Gedichts auf: Mit der ersten und der zweiten Strophe stehen sich zwei antithetische Hälften einander gegenüber. Die erste ist bestimmt von einem Bild der 265 | Vgl. in diesem Zusammenhang Achim Geisenhanslüke, Nach der Tragödie. Lyrik der Moderne bei Hegel und Hölderlin, München 2012. 266 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Band 1. Sämtliche Gedichte, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1994, S. 320.
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Harmonie und der Wärme, die zweite von einem Zustand der Kälte und der Erstarrung.267 Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht in Anspielung an den berühmten Anfang von Dantes Divina Commedia häufig als Ausdruck einer biographischen Krise gelesen worden, in der sich das lyrische Ich befindet, das erst in der zweiten Hälfte des Gedichts als solches auftritt.268 Jenseits biographischer Erklärungsmuster lässt sich das Gedicht allerdings zugleich in das geschichtsphilosophische Modell einbetten, das Hölderlin in seinen poetologischen Entwürfen entfaltet hat. Dementsprechend stehen sich mit dem Bild der sommerlichen Reife, das die gelben Birnen und die wilden Rosen evozieren, und der winterlichen Kälte zwei unterschiedliche Epochen der Dichtung gegenüber. In der ersten Strophe entsteht so ein harmonisches Bild der Natur, das getrennte Elemente wie Land und See zu einer Einheit zusammenführt. Die Harmonie spiegelt sich auch in der sprachlichen Struktur der ersten Strophe wider, die aus einer syntaktischen Einheit von sieben Versen besteht, die sich um den mittleren Vers gruppieren. Im Mittelpunkt der ersten Strophe stehen die »holden Schwäne«, die ihr Haupt in das »heilignüchterne Wasser« tunken. Mit dem Bild der Schwäne ruft Hölderlin auf traditionelle Weise den Dichter auf,269 und in Übereinstimmung mit der antiken Lehre des Enthusiasmus bestimmt er den Grund der Dichtung als die Inspiration durch Musen und Götter, die der Dichter in den trunkenen Küssen erfährt. Jochen Schmidt hat darauf hingewiesen, dass Hölderlin die dichterische Verfassung der Antike in Hälfte des Lebens in den antiken Poetiken des Erhabenen verankerten Stichwort der sobria ebrietas zusammenfasst: »Die auffälligste und zugleich aufschlußreichste Prägung des ganzen Gedichts ist das Wort ›heilignüchtern‹. Dessen harmonische Entgegensetzung zum ›Trunkenen‹ deutet auf ein Stück klassi267 | »Dem Bild sommerlicher Erfüllung in der ersten respondiert in der zweiten das Bild winterlicher Erstarrung und Lehre«, kommentiert Jochen Schmidt, ›Sobria ebrietas‹. Hölderlins Hälfte des Lebens, in: Gedichte und Interpretationen. Band 3. Klassik und Romantik. Herausgegeben von Wulf Segebrecht, Stuttgart 1984, S. 257-267, hier S. 258. 268 | Vgl. die kritische Darstellung biographischer Deutung des Gedichts als midlife crisis bei Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt a.M. 2005, S. 13ff. 269 | Vgl. Michael Jakob, ›Schwanengefahr‹. Das lyrische Ich im Zeichen des Schwans, München 2000, zu Hölderlin S. 240-268.
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scher Dichtungstheorie: auf den Topos der nüchternen Trunkenheit, der ›sobria ebrietas‹.«270 Hölderlin knüpft an die auch bei Schelling prominente Tradition der Bestimmung des Dichters als eines heilig-nüchternen Wesens an, um deren Ort in der Antike zu fassen und von der Moderne abzugrenzen. Die Bestimmung der Dichtkunst in der ersten Strophe von Hälfte des Lebens entspricht vor diesem Hintergrund der, die Hölderlin in seinem Brief an Böhlendorff an die Adresse der griechischen Dichtung gerichtet hat. Dort hatte er die Kunst der Griechen bzw. deren Bildungsgang als einen beschrieben, der vom Feuer des Himmels zur Klarheit der Darstellung geht. Wenn Hölderlin von trunkenen Küssen und dem heilignüchternen Wasser spricht, dann greift er auf die Unterscheidung zurück, die mit dem Aorgischen und dem Organischen getroffen hat: die trunkenen Küsse als Bild für das heilige Feuer, für das Pathos, das den Dichter beseelt, die Leidenschaft, die ihn ergreift, und das heilignüchterne Wasser als das Medium, das seine Leidenschaft abkühlt, so dass aus dieser Vereinigung des Gegensätzlichen eben die geschlossene Formwelt der griechischen Dichtung entsteht. Vor dem Hintergrund der sinnbildlichen Bedeutung der Schwäne als Dichter kann daher davon ausgegangen werden, dass es sich bei Hälfte des Lebens um ein poetologisches Gedicht handelt, um ein Gedicht, dass auf die Bedingungen der Möglichkeit des Gedichtes selbst reflektiert. Dass die Figuren der Dichter in der ersten Strophe von Hälfte des Lebens in der Form des »Ihr« aufgerufen werden, deutet allerdings von Beginn an darauf hin, dass das lyrische Ich sich von dieser Form der Dichtung unterschieden sieht. Das bestätigt die zweite Strophe, die zunächst eine scharfe Zäsur bedeutet. Die harmonische Struktur der ersten Strophe, die sich auch sprachlich in der syntaktischen Einheit eines Satzes ausgedrückt hat, weicht nun einer zerrissenen Struktur, die mit einer Frage beginnt, die die ersten vier Verse umfasst, und die mit einem einfachen Aussagesatz endet, von dem unklar bleibt, inwiefern er überhaupt eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage gibt. Die Differenzen zwischen der ersten und der zweiten Strophe reichen über die sprachliche Struktur hinaus auch in den Bildbereich des Gedichts. Auf das Bild der sommerlichen Erfüllung folgt eins der herbstlichen bzw. winterlichen Erstarrung, auf die Harmonie der Beschreibung 270 | Jochen Schmidt, ›Sobria ebrietas‹, S. 260.
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne
folgt eine Klage in Frageform, und auf das distanzierende Ihr folgt nun ein sprechendes Ich, das trauernd einen Verlust zu beklagen scheint. In der zweiten Strophe tritt demnach ein lyrisches Ich auf, das in einer Bewegung der Selbstreflexion Trauer zum Ausdruck bringt: Die Apostrophe »Weh mir« gilt dem eigenen Ich, das in einer eigentümlichen Position zwischen dem vergangenen Sommer und dem bevorstehenden Winter steht. Die Mitte des Gedichtes, die Hälfte des Lebens, die der Titel anspricht, bildet der Herbst, die Zäsur, die die beiden Strophen trennt, die Leerzeile, die die Strophen voneinander trennt. »Sowohl die Hälfte des Gedichts in diesem Sinn als auch die skandierende Grenze zwischen den beiden polaren Szenen ist mit der Leerstelle zwischen den beiden gleichlangen Strophen erreicht. Das Gedicht spricht buchstäblich aus dieser Lücke, aus dieser Zäsur heraus: sie ist die Hälfte, der kritische Moment der Mitte, der symbolische Ort, aus dem heraus sich die Antithese ergibt,«271 bemerkt Winfried Menninghaus. Gegenstand der Klage ist das Hereinbrechen des Winters und mit ihm der Verlust der sommerlichen Erfüllung, die die erste Strophe bestimmte: »wo nehm‹ ich die Blumen«. An die Stelle der gelben Birnen und wilden Rosen aus der ersten Strophe treten hier die Blumen, die nicht allein als Chiffre der Natur verstanden werden können, sondern wiederum in einem poetologischen Kontext, der eine lange Tradition in der antiken Rhetorik hat, als Chiffre der Dichtung, als Blumen der Rede. Schon bei Cicero galten die Blumen als Metapher für die dichterische Rede, und in ähnlicher Weise spricht Hölderlin in Brot und Wein von Griechenland als dem Ort, wo »Worte, wie Blumen entstanden«. Wie schon Menninghaus dargelegt hat, können die »Schatten der Erde« so als anagrammatische Anspielung auf die Rede gedeutet werden.272 Das Ich trauert demnach nicht nur um den Verlust der naturgeschenkten Fülle des Sommers, sondern zugleich um den mit dem Winter drohenden Verlust der dichterischen Rede. Die zweite Strophe ist vor diesem Hintergrund Darstellung einer Sprachkrise und zugleich deren Bewältigung in der Form des Gedichts. Die Antwort auf die drohende dichterische Krise gibt der letzte Satz des Gedichts, und das auf zweierlei Art und Weise. »Die Mauern stehn/ Sprachlos und kalt, im Winde/Klirren die Fahnen.« Die Kälte, die die zweite Strophe auszeichnet, wird nun ausdrücklich aufgerufen. Mit ihr 271 | Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, S. 13f. 272 | Ebd., S. 58.
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rückt eine Verschiebung von der Metaphorik der Natur durch Bilder der Kultur in den Blick: Im Unterschied zu den gelben Birnen und den wilden Rosen der ersten Strophe handelt es sich bei den Mauern und den Fahnen – gemeint sind wohl Wetterfahnen – um Erzeugnisse der Kultur, um Produkte menschlicher Hände. »Die Oppositionen von Sommer und Winter, üppiger Schönheit und kahlem, sprachlosen Mangel werden damit eingetragen in diejenige von Natur und Kultur«273 , kommentiert Menninghaus. Darüber hinaus verweist die Sprachlosigkeit, die in der Verbindung von konkreter und abstrakter Bildlichkeit den Mauern zugesprochen wird, auf das Moment der Sprachkrise, das das Gedicht zum Ausdruck bringt. Die doppelt Antwort, die die zweite Strophe von Hälfte des Lebens gibt, besteht demzufolge auf der einen Seite in der bildlichen Darstellung eines Moments der Erstarrung, zum anderen in der sprachlichen Darstellung eben dieses Bildes der Kälte in der Form eines nüchternen Prosasatzes. Von der dichterischen Begeisterung der ersten Strophe ist nichts mehr zu spüren. An ihre Stelle ist eine Frage getreten, auf die eine Selbstversicherung im Medium der Prosa tritt. Mit der zweiten Strophe geht daher eine Veränderung des Sprachduktus einher, die das Verhältnis der Dichtkunst zu ihrem Gegenstand betrifft. Denn die Sprache der zweiten Strophe will mehr leisten als eine Abbildung der Natur, und sie will auch mehr sein als die bloße Abbildung eines melancholischen Gemütszustandes, in den der moderne Dichter zu verfallen droht. Die dichterische Sprache löst sich von den Dingen und gewinnt ihr Eigengewicht aus der sprachlichen Darstellung der drohenden Sprachlosigkeit. Als Ausdruck der dichterischen Krise, in die die Moderne fällt, da sie sich nicht mehr an den Vorbildern der Antike orientieren kann, ist Hälfte des Lebens zugleich eine Antwort auf diese Krise, und das nicht in der nostalgischen Rückschau auf Griechenland, sondern in dem Blick auf die Eigengesetzlichkeit der modernen Dichtung jenseits Griechenlands. Vor diesem Hintergrund kann Hälfte des Lebens als ein Gedicht gelesen werden, dass die Vorgaben der poetologischen Entwürfe Hölderlins auf geradezu paradigmatische Weise umsetzt. Es gibt zum einen einen Hinweis auf die spezifische Verfasstheit des modernen Dichters, der sich nicht mehr an der Form einer dichterischen Begeisterung orientieren kann, den die Antike unter dem Namen des Enthusiasmus kannte, sondern der seine Ressourcen aus einer Erfahrung der Melancholie gewinnt, 273 | Ebd., S. 60.
9. Hölderlin und die Poetik der Moderne
die in der Klageform des Gedichts zum Ausdruck kommt. Zum anderen zeigt es, dass sich die Dichtung der Moderne nicht nur von der Nachahmung der Antiken zu lösen hat, sondern dass ihre Sprache ihre Macht erst aus der Entfernung von der mimesis gewinnt, die Aristoteles in den Mittelpunkt aller Dichtkunst gestellt hatte. Das Klirren der Fahnen steht für eine Darstellungsform ein, in der sich Sprache von ihrer denotativen Funktion löst, um eine eigene Qualität zu bekommen. Diese Eigengesetzlichkeit der modernen Dichtung in der Abwendung von der Nachahmung der Antike zum Ausdruck gebracht zu haben, ist das Verdienst von Hölderlins Poetik.
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10. Für die Poetik
Der Begriff der Poetik mutet heute in mancherlei Hinsicht etwas antiquiert an. Die Bemühungen der neueren Literaturtheorien und der Erweiterung der Literatur zur Kulturwissenschaft, die sich in der letzten Zeit durchgesetzt haben, scheinen ihn mehr oder weniger überflüssig gemacht zu haben – es sei denn als Kulturpoetik in einem sehr weiten Sinne. Aber der Schein trügt. Denn jeder literaturtheoretische Ansatz egal welcher Prägung partizipiert, solange er sich um ein Denken der literarischen Sprache bemüht, an einer Poetik, die, wie schon Peter Szondi gezeigt hat, Theorie und Praxis der Dichtkunst in sich vereint. Vor diesem Hintergrund bleibt der Begriff der Poetik einer der zentralen Bezugspunkte der Literaturwissenschaft, und das selbst in einem Zeitalter, das sich nach Terry Eagleton als die Epoche »After Theory«274 versteht. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist die nach der Aktualität der Poetik auch im 21. Jahrhundert. Die Bemühungen um die Neubegründung der Poetik im 20. Jahrhundert standen ganz im Zeichen der rivalisierenden Theorien der Hermeneutik und des Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass Vertreter beider Richtungen an dem Begriff der Poetik festzuhalten suchten. So hat Peter Szondi den Begriff der Poetik im Rahmen eines dem deutschen Idealismus entlehnten reflexiv-hermeneutischen Ansatzes erneuert, wohingegen Roman Jakobson die Poetik ganz in der Linguistik verankerte. Dass Szondi sich in seinen späten Schriften, insbesondere in den CelanStudien, verstärkt auch mit strukturalistischen Modellen auseinandersetzte, weist bereits darauf hin, dass der Begriff der Poetik die Grenzen unterschiedlicher Literaturtheorien überschreitet und so etwas wie einen 274 | Vgl. Terry Eagleton, After Theory, London 2003.
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gemeinsamen Ausgangs- und Zielpunkt des Denkens der Literatur verkörpert. Das bestätigen auch die Arbeiten des französischen Linguisten, Literaturwissenschaftlers, Dichters und Übersetzers Henri Meschonnic, der sich wie kaum ein anderer um die Aktualität der Poetik bemüht hat. Die Aufgabe der Poetik definiert Meschonnic als die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Poetik, Ethik und Politik in der Moderne zu denken, und zwar ausgehend von dem Gedicht als der sprachlichen Form, in der die Historizität und Subjektivität als geschichtliche Signatur der Moderne am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Den Ausgangspunkt von Meschonnics Poetik bildet eine historische Anthropologie der Sprache, die sich vor allem in der Tradition Humboldts, Saussures und Benvenistes sieht. Damit setzt sich Meschonnic zwar polemisch von zeitgenössischen strukturalistischen und poststrukturalistischen Positionen ab, um den scheinbaren Gegensatz von historischer Philologie und moderner Linguistik zu überwinden, den noch Michel Foucault in Les mots et les choses formuliert hatte, als er die historische Philologie als eine »Nivellierung der Sprache«275 , die Linguistik hingegen als eine Gegenwissenschaft zu den modernen Humanwissenschaften verstanden hatte. Gegen die vom Strukturalismus vorgenommene Bestimmung der Sprache durch die binäre Struktur des Zeichens hält Meschonnic in seinen Schriften an einer Poetik fest, in deren Mittelpunkt der Begriff des Rhythmus steht. Der Rhythmus nennt in Meschonnics Werk den Gegenbegriff zum strukturalistischen Modell des Zeichens. Beruht die kritische Leistung des Rhythmusbegriffs von Meschonnic vor allem auf der entschiedenen Zurückweisung des strukturalistischen Zeichenmodells, so ergibt sich zugleich die positive Leistung seiner Poetik aus der Begründung einer Theorie der Bedeutung, die sich nicht aus der semiotischen Differenz von Signifikant und Signifikat allein ableiten lässt. Vielmehr sei der Rhythmus notwendig an den Zusammenhang von Sprache und Subjekt gebunden, der seiner Theorie die Grundlage gebe: »Eine Theorie des Rhythmus ist also eine Theorie des Subjekts in der Sprache. Es kann keine Theorie des Rhythmus ohne Theorie des Subjekts, keine Theorie des
275 | Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 361, zur Linguistik als Gegenwissenschaft vgl. ebd., S. 456.
10. Für die Poetik
Subjekts ohne Theorie des Rhythmus geben.«276 Für Meschonnic ergibt sich die poetische Funktion der Sprache aus dem Rhythmus als einer subjektiven und zugleich radikal historischen Verwirklichung der Sprache in der Rede. Mit dem Begriff des Rhythmus, den er im Unterschied zu Aristoteles, der sich in seinen Schriften vor allem an der Tragödie orientierte, an die Form des Gedichtes bindet, findet Meschonnic zugleich zu den Wurzeln der antiken Poetik zurück, in der das Nachdenken über die poetische Funktion der Sprache seinen Ursprung gefunden hatte. Seine Schriften skizzieren so die Umrisse einer modernen Poetik, die wie die Hölderlins ihren Ausgang eher von der Lyrik als von der Tragödie nimmt. Sicherlich kann Meschonnics Poetik nicht ohne Einschränkungen übernommen werden. In ihrer polemischen Kritik an alten wie neuen Literaturtheorien steht sie sich manchmal selbst im Wege. Was so unterschiedliche Theoretiker wie Szondi, Jakobson und Meschonnic aber bereits im 20. Jahrhundert gezeigt haben, ist die Dringlichkeit der Aufgabe einer konsequenten Reflexion auf die sprachlichen Grundlagen der Dichtkunst wie die der Sprache überhaupt. Nichts anderes haben Freud und Benjamin, aber auch Foucault und Derrida in ihren Arbeiten auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen geleistet. Sicherlich hat die literaturtheoretische Reflexion nach ihnen andere Wege eingeschlagen. Das sollte aber nicht vergessen machen, dass sich erst von einer poetologischen Reflexion der sprachlichen Formen der Dichtkunst aus Fragen an die Literatur stellen lassen, die darüber hinaus geschichtliche Kontexte und kulturelle wie politische Zusammenhänge betreffen können. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Fetischisierung der Dichtung zum Sprachkunstwerk, wie sie ältere Literaturtheorien im Zeichen der Autonomieästhetik vorgenommen haben, sondern um die Einsicht, dass die Dichtung in all ihren Gattungsformen und historischen Ausprägungen nicht nur ein Objekt, ein Gegenstand unter anderen, sondern Träger von Historizität und Subjektivität in der ihr eigenen Sprache ist. Schon der Konflikt zwischen Gorgias und Platon in der Antike verweist darauf, dass mit dem Denken der Literatur unterschiedliche Konzepte von Natur, Kultur und Politik verbunden sind, die nicht zu lösen sind vom jeweiligen 276 | »Une théorie du rythme est donc une théorie du sujet dans le langage. Il ne peut pas y avoir de théorie du rythme sans théorie du sujet, pas de théorie du sujet sans théorie du rythme.« Henri Meschonnic, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Lagrasse 1982, S. 71 (Übersetzung A. G.).
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Verständnis dessen, was im Rahmen der Poetik Dichtung heißen soll. Die Aufgabe einer philosophischen Reflexion der Dichtung, wie sie Aristoteles anhand seines Leitkonzepts der Nachahmung leistet, und die ihrer rhetorischen Bestimmung im Zeichen einer Affekttheorie, wie sie Gorgias vorgegeben hat, erscheinen so nicht allein als konkurrierende Modelle, die sie sicherlich sind, sondern zugleich als spannungsreiche Bestandteile einer Poetik, die unterschiedliche Perspektiven zu verbinden sucht, um zu ihrem Ziel einer angemessenen Bestimmung der Literatur in ihren verschiedenen sprachlichen Formen und historischen Ausprägungen zu gelangen. Dass diese Form der Poetik ihren Ort nicht nur in der Antike, sondern auch in der Moderne besitzt, hat schon Hölderlin gezeigt. Dass sie diesen Ort auch in der Gegenwart besetzt, hat die vorliegende Studie zu zeigen versucht.
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Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5
Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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