Dass Du nicht vergessest der Geschichte: Staatliche Gedenk- und Feiertage in Deutschland von 1871 bis heute 9783534401864, 9783534401888, 9783534401871, 3534401867

Gedenk- und Feiertage sind ein Geschichtsbuch mit einem Sitz im Leben. Dies zeigt ein Überblick über die staatlichen Fei

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Dass Du nicht vergessest der Geschichte: Staatliche Gedenk- und Feiertage in Deutschland von 1871 bis heute
 9783534401864, 9783534401888, 9783534401871, 3534401867

Table of contents :
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Title
Impressum
Inhalt
I. Einleitung
II. Kaiserreich
Feiertage
Reichsgründungstag (18. Januar)
Kaisers Geburtstag (22. März/27. Januar)
Sedantag (2. September)
Gedenktage
Gedenktag für Königin Luise (10. März)
Bismarcks Geburtstag (1. April)
Gedenktag der Völkerschlacht (18. Oktober)
Fazit
III. Weimarer Republik
Verfassungstag (11. August)
Volkstrauertag (März)
Diskussionen um den 1. Mai und den 9. November
Fazit
IV. Drittes Reich
Feiertage
Heldengedenktag (Mitte März)
Nationaler Feiertag des Deutschen Volkes (1. Mai)
Erntedankfest (Oktober)
Gedenktage
Tag der nationalen Erhebung/Tag der Machtübernahme (30. Januar)
Parteitag zur Erinnerung an die Verkündung des Parteiprogramms 1920 (24. Februar)
Verpflichtung der Jugend (Sonntag im März)
Führers Geburtstag (20. April)
Muttertag, (2. bzw. 3. Sonntag im Mai)
Sommersonnenwende (22. Juni)
Reichsparteitage (September)
Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung (9. November)
Wintersonnenwende/Weihnachten (21./22. Dezember)
Fazit
V. Bundesrepublik Deutschland (1949 bis 1989)
Feiertage
Tag der Arbeit (1. Mai)
Tag der Deutschen Einheit (17. Juni)
Gedenktage
Gedenktag an das Ende des Zweiten Weltkrieges (8. Mai)
Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes (23. Mai)
Tag des Widerstands (20. Juli)
Antikriegstag (1. September)
Gedenktag an die Pogromnacht (9. November)
Volkstrauertag (November)
Fazit
VI. DDR
Feiertage
Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus (1. Mai)
Tag der Republik (7. Oktober)
Gedenktage
Internationaler Frauentag (8. März)
Tag der Befreiung (8. Mail)
Gedenktag 20. Juli
Weltfriedenstag (1. September)
OdF-Tag (2. Sonntag im September)
Gedenktag an die Pogromnacht (9. November)
Fazit
VII. Deutschland (seit 1990)
Feiertage
Tag der Arbeit (1. Mai)
Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober)
Gedenktage
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar)
Gedenktag Kriegsende (8. Mai)
Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes (23. Mai)
Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen DDR im Jahre 1953 (17. Juni)
Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung (20. Juni)
Jahrestag des Aufstandes gegen Unrecht und Tyrannei des Nationalsozialismus im Jahre 1944 (20. Juli)
Antikriegstag (1. September)
Gedenktag an die Pogromnacht/an den Fall der Mauer (9. November)
Exkurs: der 9. November 2018
Volkstrauertag (November)
Fazit und Ausblick
Bundeseinheitliche Gedenk- und Feiertage (Beflaggungstage) im Überblick
Bildnachweis
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Jörg Koch

Dass Du nicht vergessest der Geschichte

Jörg Koch

Dass Du nicht vergessest der Geschichte Staatliche Gedenk- und Feiertage in Deutschland von 1871 bis heute

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

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Inhalt I. Einleitung ......................................................................................................... 9  II. Kaiserreich .................................................................................................... 19  Feiertage ....................................................................................................... 19  Reichsgründungstag (18. Januar) ....................................................... 19  Kaisers Geburtstag (22. März/27. Januar)......................................... 26  Sedantag (2. September) ...................................................................... 44  Gedenktage .................................................................................................. 61  Gedenktag für Königin Luise (10. März) .......................................... 61  Bismarcks Geburtstag (1. April) ......................................................... 65  Gedenktag der Völkerschlacht (18. Oktober) .................................. 69  Fazit .............................................................................................................. 72  III. Weimarer Republik .................................................................................... 73  Verfassungstag (11. August) ............................................................... 73  Volkstrauertag (März) ......................................................................... 88  Diskussionen um den 1. Mai und den 9. November ....................... 91  Fazit .............................................................................................................. 99  IV. Drittes Reich ............................................................................................. 101  Feiertage ..................................................................................................... 101  Heldengedenktag (Mitte März) ........................................................ 101  Nationaler Feiertag des Deutschen Volkes (1. Mai) ...................... 115  Erntedankfest (Oktober) ................................................................... 125  Gedenktage ................................................................................................ 133  Tag der nationalen Erhebung/Tag der Machtübernahme (30. Januar) .......................................................................................... 133  5

Parteitag zur Erinnerung an die Verkündung des Parteiprogramms 1920 (24. Februar) .............................................. 142  Verpflichtung der Jugend (Sonntag im März) ............................... 147  Führers Geburtstag (20. April) ......................................................... 150  Muttertag, (2. bzw. 3. Sonntag im Mai) ........................................... 161  Sommersonnenwende (22. Juni) ...................................................... 169  Reichsparteitage (September) ........................................................... 170  Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung (9. November)....... 176  Wintersonnenwende/Weihnachten (21./22. Dezember) .............. 188  Fazit............................................................................................................. 191  V. Bundesrepublik Deutschland (1949 bis 1989) ....................................... 193  Feiertage ..................................................................................................... 193  Tag der Arbeit (1. Mai) ...................................................................... 193  Tag der Deutschen Einheit (17. Juni) .............................................. 196  Gedenktage ................................................................................................ 203  Gedenktag an das Ende des Zweiten Weltkrieges (8. Mai) .......... 203  Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes (23. Mai) ....... 209  Tag des Widerstands (20. Juli) .......................................................... 213  Antikriegstag (1. September) ............................................................ 221  Gedenktag an die Pogromnacht (9. November) ............................ 226  Volkstrauertag (November) .............................................................. 234  Fazit............................................................................................................. 242  VI. DDR............................................................................................................ 244  Feiertage ..................................................................................................... 244  Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus (1. Mai)..................................................... 244  Tag der Republik (7. Oktober) .......................................................... 247  Gedenktage ................................................................................................ 252  Internationaler Frauentag (8. März) ................................................ 252  Tag der Befreiung (8. Mai) ................................................................ 260  6

Gedenktag 20. Juli .............................................................................. 262  Weltfriedenstag (1. September) ........................................................ 264  OdF-Tag (2. Sonntag im September) .............................................. 265  Gedenktag an die Pogromnacht (9. November) ............................ 268  Fazit ............................................................................................................ 270  VII. Deutschland (seit 1990) ......................................................................... 271  Feiertage ..................................................................................................... 271  Tag der Arbeit (1. Mai) ...................................................................... 271  Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober) ......................................... 273  Gedenktage ................................................................................................ 281  Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar) .. 281  Gedenktag Kriegsende (8. Mai) ........................................................ 286  Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes (23. Mai) ............. 289  Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen DDR im Jahre 1953 (17. Juni) .......................................................................... 293  Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung (20. Juni) .............................................................................................. 295  Jahrestag des Aufstandes gegen Unrecht und Tyrannei des Nationalsozialismus im Jahre 1944 (20. Juli) ................................. 299  Antikriegstag (1. September) ............................................................ 301  Gedenktag an die Pogromnacht/an den Fall der Mauer (9. November) ..................................................................................... 302  Exkurs: der 9. November 2018 ......................................................... 306  Volkstrauertag (November) .............................................................. 311  Fazit und Ausblick .................................................................................... 321  Bundeseinheitliche Gedenk- und Feiertage (Beflaggungstage) im Überblick ................................................................................................... 327  Bildnachweis.............................................................................................. 328 

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I. Einleitung Im Jahr 2017 bekamen die Deutschen einen Feiertag geschenkt! Das gab es zumindest im 21. Jahrhundert noch nicht. Anlässlich des Reformationsjubiläums, der 500. Wiederkehr des Thesenanschlags Luthers, hatten alle Bundesländer beschlossen, den 31. Oktober 2017, den Reformationstag, zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Der Reformationstag, ein Gedenktag der evangelischen Kirchen, ist bereits seit 1990 Feiertag in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Wegen der großen Bedeutung der Reformation für die Entwicklung auf dem Weg zur Aufklärung erhielt der 31. Oktober 2017 die Funktion eines bundesweiten Feiertages; neben Vertretern der Kirchen hielt auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Ansprache beim Festakt in Wittenberg. Die Gewährung eines neuen staatlichen Feiertages in unserer Zeit ist die große Ausnahme. Zu diesen Ausnahmen gehören die Einführung des „Internationalen Frauentages“ in Thüringen (März 2019) und des „Weltkindertages“ in Berlin (Sept. 2019) als gesetzliche Feiertage. Die meisten gesetzlichen Feiertage haben eine jahrhundertealte religiöse Tradition und werden außerhalb staatlichen Einflusses begangen. Auch wenn die Bindung der Bevölkerung zur Kirche permanent abgenommen hat, überlebten bisher die in religiösen Festen wurzelnden gesetzlichen Feiertage, darunter solche, die zweitägig gefeiert werden (Ostern, Pfingsten, Weihnachten). Nur selten kam es zu einer Verlegung oder gar Abschaffung: Abgesehen vom Josefitag (19. März), der nur in Bayern Feiertag war und dort 1969 abgeschafft wurde, stand lediglich der Buß- und Bettag zur Disposition. Bußtage hatten in den deutschen Ländern eine lange Tradition, doch erst seit 1893 wurde dieser protestantische Feiertag reichsweit am Mittwoch vor dem letzten Sonntag im Kirchenjahr begangen. Im Zweiten Weltkrieg auf einen Sonntag verlegt, wurde der Buß- und Bettag nach Kriegsende als gesetzlicher Feiertag wieder eingeführt (in Bayern bis 1981 zunächst nur in Gebieten mit überwiegend protestantischer Bevölkerung, in 9

der DDR wurde er 1966 im Zuge der Einführung der Fünftage-Woche gestrichen).1 Ab 1990 war dieser Mittwoch im November ein deutschlandweiter Feiertag, der dann jedoch ab 1995 gestrichen wurde, um die neu eingeführte Pflegeversicherung zu finanzieren.2 Der Protest, auch von Seiten der Protestanten, blieb erstaunlich bescheiden, vielleicht, weil dieser Tag in einer eher unattraktiven Jahreszeit liegt. Weitaus heftiger waren im Oktober 2017 die Reaktionen auf den überraschenden Vorschlag des Bundesinnenministers Thomas de Maizière, einen muslimischen Feiertag einzuführen.3 Bei staatlichen Gedenkveranstaltungen, die Teil der kollektiven Erinnerungskultur werden und geworden sind, ist zu spezifizieren zwischen einem Anniversarium, einem in der Regel jährlich wiederkehrenden Gedenken („Tag der Deutschen Einheit“, 3. Oktober) und einem Jubiläum, das erst nach einer gewissen zeitlichen Distanz bzw. regelmäßig in größeren Abständen als erinnerungswürdig begangen wird, z. B. „100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges“/„Beginn der Weimarer Republik“ (2018/19) oder „70 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ (2019). Noch sind es häufig Ereignisse, die in die Zeit des Nationalsozialismus bzw. in die unmittelbare Nachkriegszeit fallen: „80 Jahre Reichspogromnacht“ (9. November 2018), „75. Jahrestag des Attentats auf Hitler“ (20. Juli 2019), „75 Jahre Kriegsende“ (2020), 75 Jahre „Währungsreform“/„Luftbrücke“ (2023) etc. Aber auch Ereignisse der vergangenen Jahrzehnte erhalten bei einem „runden“ Jahrestag zunehmend Aufmerksamkeit: „40 Jahre Deutscher Herbst“/„RAF-Attentate“ (2017), „50 Jahre Studentenunruhen“/“68“ (2018), „30 Jahre Fall der Berliner Mauer“/„Wiedervereinigung“ (2019/20). Die Liste solch runder Gedenktage wie „400. Jahrestag des Beginns des Dreißigjährigen Krieges“ (2018) oder „vor 500 Jahren: Luther auf dem Reichstag zu Worms“ (2021), die erweitert werden könnte mit besonderen Stadtjubiläen, z. B. „1275 Jahre Fulda“ (2019) oder „900 Jahre Stadt Freiburg“ (2020), Geburtsbzw. Todestagen herausragender Persönlichkeiten wie „200. Geburtstag Karl 1

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Allerdings haben am Buß- und Bettag in Bayern die Schüler/Schülerinnen und damit auch die Lehrer/Lehrerinnen unterrichtsfrei! Nur im Freistaat Sachsen besteht der Buß- und Bettag weiterhin als arbeitsfreier Feiertag; dafür bezahlen die Arbeitnehmer einen höheren Beitrag zur Pflegeversicherung. FAZ, 18.10.2017.

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Marx“ (2018) und „200. Geburtstag Theodor Fontanes“ (2019) oder „200. Todestag Napoleons“ (2021) ließe sich beliebig fortführen. Gewürdigt und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht bzw. in Erinnerung gerufen werden solche historischen Gedenktage über die Medien (Bücher, Tages-, Wochenzeitungen, Fachzeitschriften, Rundfunk, Fernsehen) mittels Dokumentationen, Spielfilmen, Reportagen, Ausstellungen, Zeitzeugenbefragungen etc. und häufig – millionenfach gedruckt und in alle Welt verschickt – über Briefmarken. Die Vielfalt der Erinnerungsveranstaltungen, ebenso die nationalen Feiertage, bieten Anlass zur Geschichtsvermittlung und stellen die Frage nach deren Bedeutung und Funktion. Zu welcher Zeit und in welchem geschichtlichen Zusammenhang sind diese Gedenktage entstanden, welche Tradition und welchen Bedeutungswandel haben sie bisher erlebt? Welche historischen Ereignisse bleiben außer Betracht, welche werden gefeiert und in welcher Form? Welchen Stellenwert misst ihnen ein modernes Staatswesen zu, wie stark sind solche Tage im Bewusstsein der Menschen verankert? Sind diese Feste vor missbräuchlichem Umgang geschützt? Sollen Feiertage unangetastet bleiben oder darf an ihnen gerüttelt werden in Form von Auf- oder Abwertung, Verlegung oder gar Abschaffung? Bis 1871 existierte Deutschland weder als geographische noch als politische Einheit; das deutschsprachige Mitteleuropa war geprägt durch einen bunten Flickenteppich unterschiedlich großer, souveräner Einzelstaaten und entsprechend differenziert war die politische Festkultur. Die Revolutionsfeier der Franzosen (ab 1789) hatte nur sehr vereinzelt Nachahmer gefunden. Neben den Geburtstagen der jeweiligen Herrscher waren es hauptsächlich die kirchlichen Feste und die zahlreichen Gedenktage der Heiligen, die den Menschen einen arbeitsfreien Tag bescherten. Wie stark sich der religiöse Feierstil vielerorts noch heute auf alle gesellschaftlichen Ebenen auswirkt, lässt sich daran erkennen, dass kein Schützen-, Turn- oder Musikverein bei seinen Feierlichkeiten auf einen Festgottesdienst und die anschließende Kranzniederlegung am Ehrenmal verzichtet. Der Ablauf solch nichtalltäglicher Feste war genau festgelegt und ist es weitgehend noch immer: Umzüge oder Prozessionen und Paraden, Reden, Predigten und Ansprachen sowie gemeinsame Mahlzeiten gehören zur Festveranstaltung, die das Lebensgefühl der Feiernden steigern und dabei die Gemeinschaft festigen sollen. 11

1814 wurde, auf Betreiben der Nationalgesinnten, in Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813), in vielen Ländern des Deutschen Bundes der 18. Oktober als ein staatsübergreifender Nationalfeiertag ausgerufen. Bei dieser „Solidaritätsfeier“ stand jedoch nicht der freie Bürger im Mittelpunkt, vielmehr die Macht und Leistung der Fürsten und ihrer Heere. Wie bei den Feiern anlässlich der Geburtstage oder Krönungsjubiläen der Herrscher sollte hierbei ein patriotisches Untertanenbewusstsein erzeugt werden, das kurzzeitig zugunsten erlebter Gemeinschaft Standesunterschiede beseitigen half. In wirkungsvollerem Rahmen verlief das Wartburgfest von 1817, dessen Vorbild die französischen revolutionären Volksfeste und die Turnertreffen der Gefolgschaft des „Turnvaters“ Friedrich Ludwig Jahns waren. Die Jenaer Burschenschaft hatte im August 1817 Einladungsschreiben an alle protestantischen deutschen Universitäten versandt. Eingeladen wurde zu einer gemeinsamen Feier auf der Wartburg bei Eisenach anlässlich des dreihundertjährigen Reformationsjubiläums und des Gedenkens an die Völkerschlacht bei Leipzig vier Jahre zuvor. Damit sollte an der Wirkungsstätte Martin Luthers eine innere Verwandtschaft der religiösen Befreiung vom Papsttum mit der nationalen von der französischen Fremdherrschaft hergestellt werden. Doch galt die Reformation von 1517 weniger als ein religiöses, sondern eher als ein nationalpolitisches Ereignis und Geburt der Gedankenfreiheit. Auch wurde Luther mit patriotischer Frömmigkeit als Repräsentant der geistigen und politischen Selbstständigkeit des deutschen Volkes verehrt. Zu den zukunftsweisenden Forderungen dieser nationalen Demonstration und der liberalen Emanzipationsbestrebung gehörte vornehmlich die Verwirklichung der politischen, religiösen und wirtschaftlichen Einheit der deutschen Kleinstaaten. Mit dieser Forderung nach Beendigung der „Vielstaaterei“ bildete das Wartburgfest eine frühe Oppositionsveranstaltung des liberalen Bürgertums.4 Mit den restriktiven Karlsbader Beschlüssen von 1819, die erst in der Revolution von 1848 aufgehoben wurden, war die erste Phase des deutschen Nationalismus beendet. Die Repressionspolitik des österreichischen Staatskanzlers Klemens Fürst Metternich machte national denkende Intellektuelle

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Vgl. Martin Hettling/Paul Nolte: Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993.

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mundtot, zerstörte die wenigen Stützen nationaler Gesinnung und hemmte jede politische Aktivität der Studenten und ihrer Professoren. 1832 fand dann mit dem Hambacher Fest bei Neustadt im Pfälzer Wald die „erste politische Volksversammlung der neueren deutschen Geschichte“ (Theodor Heuss) statt.5 Zu den Hauptforderungen dieses demokratischen Oppositionsfestes, an dem rund 30.000 Menschen teilgenommen haben sollen, gehörten erneut die liberalen Freiheitsrechte und – gegen alle partikularistischen Bestrebungen gerichtet – die Errichtung eines deutschen Nationalstaates. Träger dieser weit über seine Grenzen wirkenden Feier wie auch der pfälzischen, später ebenso der rheinischen Abgeordnetenfeste, die sich alle durch ihren Protestcharakter auszeichneten, waren Bürger verschiedener Herkunfts-, Berufs- und Altersgruppen.

Abbildung 1 Hambacher Schloss bei Neustadt/Weinstraße.

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Joachim Kermann u.a. (Hg.): Freiheit, Einheit und Europa. Das Hambacher Fest von 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen, Mainz 2006.

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Abbildung 2 Die weithin sichtbare „Germania“, eines der bekanntesten und größten deutschen Nationaldenkmäler bei Rüdesheim/Mittelrhein. 14

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Festkultur, die vornehmlich von und für bestimmte Trägerschichten organisiert wurde, die aber weder eine Breitenwirkung erzielte, noch besonders öffentlichkeitswirksam war. Politische Gedenk- und Kampffeste wurden nun veranstaltet von der sich formierenden Arbeiterbewegung. Die vielfältige Festkultur der Vereine stand dem in nichts nach und schließlich organisierten auch die noch jungen Parteien feierliche Versammlungen. Neben diese, meist alljährlich in einem fest umrissenen Rahmen verlaufenden Feierlichkeiten traten pompöse Gedenkveranstaltungen von überregionaler Bedeutung. Zu diesen Festen, die sich stets auch als Forum für nationale Angelegenheiten verstanden, zählen das Kölner Dombau-Fest (1842), der 300. Todestag Luthers (1846), das Schillerfest (1859), die Einweihungsfeiern bedeutender Denkmäler wie die des Wormser Lutherdenkmals (1868), des Hermanndenkmals im Teutoburger Wald (1875), des Niederwalddenkmals/Germania bei Rüdesheim (1883) oder des Kyffhäuser-Ehrenmals (1896). Mit der Reichsgründung 1871 begann sich die Festkultur in Deutschland grundlegend zu wandeln. Im Vordergrund der Jubelfeste standen der Kaiser und die Popularisierung der militärischen Machtüberlegenheit Preußens bzw. des Deutschen Reiches. Ein nationaler Gedenktag war der Sedantag am 2. September, dem Erinnerungstag an die kriegsentscheidende Schlacht über die französische Armee und die Gefangennahme Kaiser Napoleons III. im Spätsommer 1870. Der 2. September war offiziell kein (arbeitsfreier) Nationalfeiertag, er besaß aber im Bewusstsein der Bevölkerung eine große Bedeutung und wurde, für jeden sichtbar, als Festtag der Schulen, Behörden, Vereine und des Militärs begangen. Diese reichsweit zelebrierten Gedenkfeiern dienten als Integrationspotential für das neu geschaffene Deutsche Reich. Als arbeitsfreie Nationalfeiertage galten nun der „Reichsgründungstag“ am 18. Januar und die Geburtstage der Kaiser. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Nationalfeiertag üblich; bislang hießen entsprechende Feiern „Nationalfeste“ bzw. „Volksfeste“, wie auch in einer 1887 erschienenen Enzyklopädie: Volksfeste heißen solche Feste, an denen entweder die Gesamtheit einer durch Sprache, Sitte und Regierungsform zu einem Ganzen verbundenen Bevölkerung teilnimmt (Nationalfeste), oder doch größere Kreise dieser Bevölkerung … Das Lebenselement der Volksfeste sind Öffentlichkeit, Gemeingeist und Freiheit; wie von diesen drei Gütern ihr Gedeihen abhängt, 15

so beruht darauf auch ihre hohe politische und sittliche Bedeutung. Ihr Ursprung ist ebenso mannigfaltig als ihre Gliederung, steht aber stets mit dem Volkscharakter in Wechselwirkung und übt mithin, je nach dem Maße und Art seiner Kraft, einen zwar bestimmenden, aber wiederum durch den Volkscharakter bedingten Einfluss auf die Gestaltung der einzelnen Feste. Religion und Recht, die ältesten Grundpfeiler aller Gesittung, dann natürliche Neigungen, Verkehr und folgenreiche historische Ereignisse sind die Hauptquellen der Volksfeste von allgemeiner und weitreichender Geltung …6 Die Weimarer Republik tat sich schwer mit einem Nationalfeiertag. Je nach politischer Richtung wurde weiterhin am 18. Januar festgehalten, die linken Parteien dagegen plädierten für den 9. November als Todesstunde der Monarchie und Geburtsstunde der Republik (1918). Erst zweieinhalb Jahre nach Ausrufung der Republik kam es zu einer ersten Verfassungsfeier. Bis 1932 wurde dann alljährlich am 11. August, zum Gedenken an die Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung von 1919, der Staatsfeiertag begangen. Die Akzeptanz dieses republikanisch-konstitutionellen Datums war jedoch innerhalb der Bevölkerung gering; zu belastend waren die körperlichen, seelischen und materiellen Folgen des Krieges, die einen Schatten auf die junge Republik warfen. Ab 1933 setzte der Nationalsozialismus mit Massenveranstaltungen und Demagogie auf eine neue Form von Staatsfeiern, wobei technische Errungenschaften (rasche Verbreitung des Rundfunks) gezielt als Beeinflussung instrumentalisiert wurden. Das NS-Feiertagsjahr sah zwölf politisch motivierte Gedenktage vor, die mit pseudoreligiöser Hingabe das ganze Jahr über öffentlichkeitswirksam inszeniert wurden: Vom „Tag der Machtergreifung“ am 30. Januar über „Führers Geburtstag“ am 20. April bis hin zur „Wintersonnenwende“ am 21. Dezember. Auch der 1. Mai erhielt erstmals als „Tag der nationalen Arbeit“ den Rang eines gesetzlichen und arbeitsfreien Feiertages. Gemäß der im „Dritten Reich“ propagierten „Volksgemeinschaft“ sollte dieser Tag die „Arbeiter der Faust“ mit den „Arbeitern der Stirn“ zusammenführen. Besonderes Gewicht als Parteifest erhielt der 9. November. An diesem Tag wurde der „Gefallenen der Bewegung“ von 1923 („Hitler-Ludendorff-Putsch“) gedacht. Mit Fackelzügen und im Gleichschritt von Liedern und Märschen

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Brockhaus Conversations-Lexikon, 13. Auflage, 16. Bd., Leipzig 1887, S. 325.

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wurde an das Gefühl der Massen appelliert. Ob „Heldengedenktag“, der seit 1934 in inhaltsschwerer Umdeutung des Volkstrauertages als Staatsfeiertag begangen wurde, oder ein anderer Gedenktag im nationalsozialistischen Jahresablauf – alle Feiertage standen in Konkurrenz zu den kirchlichen Festtagen und wurden zur kultischen Überhöhung der Ideologie und der Institutionen des Nationalsozialismus benutzt. Vor allem die Reichsparteitage in Nürnberg, die im September stattfanden, demonstrierten auf anschauliche Weise die starke Verbundenheit der gläubigen „Gemeinde“ mit ihrem Oberhaupt gemäß der Devise „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Mit der Kapitulation 1945 gingen sämtliche Symbole deutscher Geschichte zu Bruch; nach staatlichen Feiern war niemandem mehr zumute. Nach dem Missbrauch selbst kirchlicher Feste durch das NS-Regime und angesichts der Besatzungszeit war es für die Politiker der jungen Bundesrepublik schwer, einen konsensfähigen Nationalfeiertag zu finden. Zwei Ereignisse, die geeignet gewesen wären, zum Feiertag der Bonner Republik erklärt zu werden, erhielten lediglich den Charakter eines mehr oder weniger stillen Gedenktages: der 8. Mai als Tag des Kriegsendes und Neubeginns 1945 und der 20. Juli als Tag des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Anlehnung an das Attentat auf Hitler 1944. Ein potentieller Feiertag, der 23. Mai, an dem 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verkündete hatte (dieser Tag gilt als Geburtsstunde der Bundesrepublik), wurde, ähnlich wie der 11. August in der Weimarer Republik, ohne große Teilnahme seitens der Bevölkerung „gefeiert“. Erst der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 löste in der Bundesrepublik eine wirkliche Diskussion über einen arbeitsfreien Feiertag aus. Nach Beratungen des Ausschusses für Angelegenheiten der inneren Verwaltung und des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen verabschiedete der Bundestag am 3. Juli 1953 das „Gesetz über den Tag der Deutschen Einheit“. In der DDR waren es der „Internationale Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ am 1. Mai und der „Tag der Republik“ am 7. Oktober (Staatsgründung 1949), die mit Militärparaden als arbeitsfreie Staatsfeiertage begangen wurden, zudem gab es eine Vielzahl politischer Gedenkveranstaltungen (z. B. Jugendweihe, Internationaler Frauentag, Ehrentage für verschiedene Berufsgruppen). Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei der erste Sonntag im September, der „Internationale Gedenktag für die 17

Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialistischen Krieg“ sowie der 9. November. Allerdings wurde an diesem Datum hauptsächlich der Revolution von 1918 gedacht, erst in den letzten Jahren ihres Bestehens erinnerte auch die DDR an das Pogrom von 1938 („Reichskristallnacht“). In Folge der friedlichen Revolution im Herbst 1989 wurde der 17. Juni als „Tag der Einheit“ als politisch unangebracht, gar spalterisch erachtet. Gesucht wurde nun ein neuer Tag, der die breite gefühlsmäßige Zustimmung der Bevölkerung hinter sich haben sollte. Es sollte kein „von oben“ verordneter Staatsfeiertag sein, sondern ein echter „Volks“-Feiertag. Anzubieten schien sich hierfür der 9. November 1989, an dem die Öffnung der menschenverachtenden Mauer in Berlin von den DDR-Bürgern friedlich erzwungen wurde. Dieses Datum beeinflusste plötzlich die Lebenswelt aller Deutschen und war wie kein anderes als epochales Ereignis präsent. Geeignet für einen neuen Nationalfeiertag wäre auch der Tag gewesen, an dem alle Deutschen in freier Selbstbestimmung über ihre staatliche Ordnung abgestimmt hätten, doch blieb bekanntlich eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung aus. Schließlich entschied ein mehr oder weniger willkürlich gewähltes Datum: Mit der staatlichen Einigung der Bundesrepublik und der DDR am Sonntag, dem 3. Oktober 1990, löste dieser Tag laut Einigungsvertrag den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag ab. Tatsächlich ist der „Tag der Deutschen Einheit“ durch den Bund geregelt, die Regelung aller anderen gesetzlichen Feiertage fällt dagegen in die Kompetenz der einzelnen Bundesländer. Alle Gedenkveranstaltungen ähneln sich in ihrem Ablauf, der aus folgenden Elementen besteht: Musik (überwiegend klassische Musik bzw. Choräle), Reden/Predigten, Kranzniederlegung, Nationalhymne; zudem werden diese Feiern im Fernsehen und Rundfunk übertragen. Dass diese Tage im Jahresverlauf etwas Außergewöhnliches darstellen, wird jedem historisch und politisch noch so unbedarften Zeitgenossen augenfällig: an öffentlichen Gebäuden (Rathäuser, Gerichte, Schulen) ist die Bundesflagge gehisst. Der vorliegende Band bietet einen Überblick über die staatlichen Feier- und Gedenktage in Deutschland seit 1871 bis zur Gegenwart. Er verweist auf den geschichtlichen Hintergrund, stellt den Wandel der Feiertagskultur dar und gibt die Diskussionen über Einführung, Verlegung und Abschaffung der Nationalfeiertage wider. 18

II. Kaiserreich Feiertage Reichsgründungstag (18. Januar) Die Geburtsstunde des neuen deutschen Kaiserreichs lag nicht in Berlin, sondern im Spiegelsaal des Versailler Schlosses: Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König Wilhelm I., zum Deutschen Kaiser (ausdrücklich nicht zum „Kaiser von Deutschland“) proklamiert. Diesem Akt vorausgegangen war der preußisch-deutsche Krieg gegen Frankreich, den die deutschen Truppen mit der Gefangennahme Kaiser Napoleon III. bei Sedan/Lothringen am 2. September 1870 für sich gewinnen konnten. Die Verfassung des neuen Reiches war schon am 1. Januar 1871 in Kraft getreten, d. h. seitdem bestand das Reich staatsrechtlich. Doch der 18. Januar galt als Reichsgründungstag und war damit fortan nationaler Feiertag. Das Datum war von Otto von Bismarck, dem preußischen Ministerpräsidenten, mit Bedacht gewählt. In Preußen war der 18. Januar bereits Feiertag. 170 Jahre zuvor, also am 18. Januar 1701, hatte sich der brandenburgische Markgraf und Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches Friedrich III. in Königsberg selbst als Friedrich I. zum „König in Preußen“ gekrönt. Dieser Tag markierte seitdem den Beginn des Königreichs Preußen. Jahr für Jahr wurde das preußische Ordensfest begangen, nun sollte dieser Tag zudem reichsweit an die Kaiserproklamation, an die Gründung des Deutschen Kaiserreichs und den Beginn einer neuen Epoche erinnern. Nicht nur in Berlin, am kaiserlichen Hofe und im Reichstag wurden patriotische Reden gehalten, sondern auch auf lokaler Ebene fanden Reichsgründungsfeiern statt, zu denen der jeweilige Stadtchef die Honoratioren zu einem Festessen einlud. Zum Zeremoniell des Tages in Schulen, Universitäten und staatlichen Institutionen gehörten nicht nur Gottesdienste, sondern auch Beförderungen und die 19

Verleihung von Orden. In den Festreden wurde die Einheit und Geschlossenheit des Reiches beschworen. Gerade die Universitäten nutzen den Tag als akademischen Festtag – der 2. September, der Sedantag, schied als geeigneter Gedenktag aus, da Anfang September noch Semesterferien waren.

Abbildung 3 Proklamation des Deutschen Kaisers im Spiegelsaal des Schlosses Versailles, 18. Januar 1871; Gemälde von Anton von Werner. Die Presse berichtete regelmäßig und ausführlich zum Reichsgründungstag, erst recht bei einem Jubiläum, etwa der Feier des 25. Jahrestages im Januar 1896:7 Des deutschen Reiches Mission Aller Deutschen Sinn und Gedanken richten sich heute nach jenem Spiegelsaale im Versailler Königsschlosse hin, wo vor einem Viertel7

Berliner Tageblatt, 18.1.1896.

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jahrhundert die Wiederherstellung der deutschen Kaiserwürde durch den damaligen norddeutschen Bundeskanzler, Graf Otto v. Bismarck, vor den deutschen Fürsten, der Abordnung des norddeutschen Reichstages und den Vertretern des siegreichen Heeres dem jubelnden deutschen Volke und der erstaunten Welt feierlichst verkündet wurde. Man weiß es aus untrüglicher Zeugen Mund, wie schwer dem bescheidenen Herrscher auf Preußens Throne der Entschluss wurde, die ihm angetragene Kaiserwürde anzunehmen…Der im deutschen Volk niemals erstorbene Wunsch nach einer politischen Einigung aller Stämme zu einem kraftvollen, Achtung gebietenden Gemeinwesen ging endlich seiner Erfüllung entgegen. Der deutsche Einheitsgedanke war endlich in dem Erbkaiser aus dem hohenzollernschen Königshaus genau so, wie das der Erbkaiserpartei im Frankfurter Parlamente vorgeschwebt hatte, herrlich verkörpert. Preußen war nunmehr wirklich in Deutschland aufgegangen und zugleich an die Spitze des neuen Reiches getreten … Das jetzige Geschlecht, das unter den schirmenden Fittichen des neuen Reiches aufgewachsen ist, das den Jammer der politischen Zerrissenheit Deutschlands nicht mehr mitempfunden hat, vermag sich in die Stimmung gar nicht mehr zurückzuversetzen, von welcher das deutsche Volk vor 25 Jahren erfüllt war, als es nun mit einem Male hieß: „Wir haben einen deutschen Kaiser wieder!“ Aber gerade deshalb ziemt es, in dieser Zeit der Erinnerungen an unvergängliche Ruhmestaten der Heeresleitung und der Staatskunst auch derer zu gedenken, die in selbstlosem Streben für Deutschlands Größe und Freiheit sich verzehrten und verbluteten … Der erste, entscheidende Spatenstich zu diesem neuen weltgeschichtlichen Bau wurde an jenem unvergesslichen 18. Januar 1871 in Versailles vollzogen, als König Wilhelm die Würde und den Titel „Deutscher Kaiser“ annahm. Damals trat die positive Seite des Kampfes in die Erscheinung. Der Tag von Sedan schloss den Krieg im großen Stile ab; der Tag von Versailles bedeutete den äußerlichen Abschluss der politischen Arbeit im großen weltgeschichtlichen Stile. Der neue „deutsche Kaiser“, den das Volksheer durch seine unvergleichlichen kriegerischen

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Erfolge aus der Feuertaufe gehoben hatte, sollte indessen nichts weniger als ein neues, der alten Kette hinzugefügtes Glied sein … Das deutsche Kaisertum findet in den nunmehr zusammen geschlossenen deutschen Gebieten sein fest umgrenztes Gebiet, über welches hinaus zu greifen nicht in seiner Absicht liegt. Deutschland gehört, wie sein erster Kanzler zu sagen pflegte, zu den „saturierten“ Staaten…Das neue deutsche Reich hat, was es an Ländermassen zu seinem staatlichen Dasein bedarf, und darum ist es ein Reich des Friedens. Ein Vierteljahrhundert hat es mit starker Hand die friedliche Entwicklung der europäischen Völkerfamilie beschützt, ja gewährleistet. An diesem gewaltigen deutschen Machtfaktor sind bisher noch alle kriegerischen Gelüste zerschellt. Man kann mit einer gewissen Sicherheit den Satz aussprechen, dass mit der Neubegründung des deutschen Reiches die Ära der großen nationalen Kriege auf absehbare Zeiten geschlossen sein dürfte … So ist die Schöpfung des deutschen Nationalstaates nicht bloß ein ungemeiner Segen für das deutsche Volk, sondern auch eine Quelle des Heils, eine Gewähr der friedlichen Entwicklung für Europa, für die Welt geworden … Es ist allerdings im höchsten Maße kennzeichnend und vorbildlich zugleich, dass der Festtag zur Erinnerung an die Wiederaufrichtung der deutschen Kaiserwürde durch die Vollendung des Entwurfes für das Bürgerliche Gesetzbuch eingeleitet wird. Das Reich, das den Frieden nach außen hin wahrt, soll im Inneren das Recht des Bürgers sichern. Ein Recht soll fortan in deutschen Landen gelten. Auch dieser Wunsch des deutschen Volkes nach einem einheitlichen Rechte, er soll ihm endlich erfüllt werden, und wie die erhabene Gestalt Kaiser Wilhelms I. fortlebt für alle Zeiten als des Neubegründers des deutschen Reiches, so wird sich an die Regierung seines Enkels die nicht minder glorreiche Tat der Einführung eines einheitlichen deutschen bürgerlichen Rechtes knüpfen.8

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Nach langjähriger Beratung trat das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zum 1.1.1900 in Kraft.

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Paraden in Berlin und Festveranstaltungen in ganz Deutschland würdigten die Reichseinigung von 1871. In Preußen war der 18. Januar seit Jahrzehnten „besetzt“ als „Krönungstag von Königsberg“, daher wäre auch ein anderer Tag als „neutraler“ und im ganzen Reich akzeptierter Feiertag in Frage gekommen: etwa der 10. Mai, der Tag, an dem 1871 in Frankfurt offiziell der Friedensvertrag mit Frankreich unterzeichnet worden war. Da der Weimarer Republik ein Nationalfeiertag fehlte, wurde auch nach dem Ende der Monarchie der 18. Januar gefeiert, insbesondere 1921, als Reichspräsident Friedrich Ebert des Reichsgründungstages vor 50 Jahren gedachte. Insbesondere die Studentenschaft hielt an dem traditionsreichen Tag fest. So hieß es in den „Mitteilungen des Verbandes der deutschen Hochschulen“ für das Jahr 1923:9 Der III. Hochschultag spricht die Erwartung aus, dass nach wie vor alle deutschen Hochschulen den 18. Januar, den Tag der Reichsgründung, als einen Tag vaterländischen Gedenkens und geistiger Erhebung festhalten, um dadurch zugleich der Einheitlichkeit der deutschen Hochschulen Ausdruck zu geben. Auch führten einige Professoren in den 1920er Jahren den Brauch weiter, anlässlich des Reichsgründungstages eine Rede zu halten. So sagte Eduard Schwartz, Professor für klassische Philologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München, in seiner Ansprache zum Reichsgründungstag 1925:10 Solange das Reich noch stand, ist der Tag seiner Gründung nur selten, bei besonderen Gelegenheiten, gefeiert; der monarchische Sinn der Deutschen zog es vor, die Geburtstage seiner Kaiser mit freudigem Hochgefühl zu begehen. Das ist alles vorüber: das Erbe Bismarcks, die Frucht langen Sehnens, Wollens und Ringens, ist nur noch eine sorgenschwere Hoffnung und eine jämmerliche Gegenwart, die zu Festen nicht begeistert. Und doch können wir uns jetzt am wenigsten dazu entschließen, den Gedenktag deutscher Größe in das gemeine Alltagsgetriebe 9

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Zit. nach Peter Longerich (Hg.): Die Erste Republik. Dokumente zur Geschichte des Weimarer Staates, München 1992, S. 131. Zit. nach Eduard Schwartz: Rede zur Reichsgründungsfeier der Universität München, 17.1.1925, in Münchener Universitätsreden, Heft 2, München 1925, S. 3-18.

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hinabzustoßen, es wäre ein Verrat an der jetzigen Wirklichkeit, die uns geblieben ist, an der Erinnerung. Von jenen ferne gewordenen Zeiten selbst zu reden und zu hören wird freilich vielen schwer fallen und gar den Greisen, über deren Jugend die Sonne des Reiches geleuchtet hat, schließt sich der Mund … Ein anderes ist die Erinnerung an die Jahre, deren gewaltiges Geschehen uns gerade jetzt, alle zusammen und jeden einzeln, von Neuem schüttelt, wo ihre Zahlen zum ersten Male im Rhythmus der Jahrzehnte wieder abrollen und mit gebieterischem Zwange das Gedenken zurückdrängen zu den Tagen, Monaten und Jahren, in denen wir, verlassen und abgesperrt, dem wilden Hasse der uns neidenden und fürchtenden Welt Trotz geboten haben. Dass das deutsche Volk am Ende nicht seinen Feinden, sondern der eigenen Willensschwäche und Uneinigkeit erlegen ist, wird auf lange hinaus wie ein böser Dämon auf seinem Dasein lasten … Eins aber ist nötig, für das wir selbst verantwortlich sind und das wir nicht mit träumender Hoffnung von einer ungewissen Zukunft ersehnen dürfen: wir müssen wieder ein Volk werden, das sich einen freien und einen wahrhaften Staat schafft, einen Staat, der sich zunächst innerlich, dann aber auch im wirklichen Wortsinn nicht entwaffnen lässt und imstande ist, keine fremde Übermacht in seinen Grenzen zu dulden …

Auch wenn am 18. Januar 1937 das Richtfest für ein neues Dienstgebäude der Reichskanzlei in Berchtesgaden stattfand, spielte der Tag im nationalsozialistischen Feiertagsjahr keine Rolle mehr. Das Kaiserreich existierte nicht mehr, Adolf Hitler verstand sich als „Führer“ eines neuen, des Dritten Reiches, folglich hatte der 18. Januar ausgedient. An seiner Stelle folgte die alljährliche Inszenierung des 30. Januar, der den Beginn einer neuen Epoche markierten sollte. Hatte bereits im Jahr 1900 die Reichspost mit einer 5-Pfennig-Sonderbriefmarke an die Reichsgründung erinnert (die Unterschrift des Motivs, das die Reichsgründungsgedenkfeier 1896 im Weißen Saal des Berliner Schlosses zeigte, lautete „Ein Reich, ein Volk, ein Gott“), so gab 1971 die Deutsche Bundespost eine 30-Pfennig-Sonderbriefmarke anlässlich des 100. Jahrestags der Reichsgründung heraus; abgebildet waren der Reichsadler mit der Kaiserkrone. 24

Abbildung 4 Briefmarke 100. Jahrestag Reichsgründung, 1971 Zum selben Anlass erschien eine 5-DM-Gedenkmünze, die auf der Vorderseite das Reichstagsgebäude in Berlin und die Inschrift „Dem deutschen Volke“ zeigte, auf der Rückseite den deutschen Wappenadler. 30 Jahre später, im Januar 2001, brachte die Deutsche Post eine 110-Pfennig-Sonderbriefmarke zum „300. Jahrestag der Gründung des Königreichs Preußens“ heraus; es war eine der letzten Briefmarken, die in „DM-Zeiten“ erschien, ab 2002 galt auch auf Briefmarken die Cent-Angabe.

Abbildung 5 Briefmarke 300. Jahrestag Preußen, 2001 25

Kaisers Geburtstag (22. März/27. Januar) Waren in den Fürstentümern traditionell die Geburtstage der Landesherren arbeitsfreie Feiertage, so galt dies ab 1871 überwiegend im ganzen Reich auch für den Geburtstag des Kaisers. Kaiser Wilhelm I. war am 22. März 1797 geboren, folglich wurde zwischen 1871 und 1887 (Wilhelm verstarb am 9. März 1888) der 22. März als nationaler Feiertag begangen. Der Ablauf des Tages entsprach weitgehend der Reichsgründungsfeier: Prachtvolle Paraden und Festbanketts fanden statt, die Städte waren beflaggt, die Presse informierte ausführlich mit Sonderberichten. Während sich die Schulkinder über den ausgefallenen Unterricht freuten, lud der Kaiser die Hofgesellschaft zu einem festlichen Abendessen, worüber die Zeitungen berichteten. Zum Geburtstag selbst huldigten sie dem höchsten Repräsentanten des Staates. Zwar gab es keine Zensur mehr, doch das Strafgesetzbuch sah den Paragraphen der Majestätsbeleidigung vor, folglich glichen solche Berichte in der Regel einer Lobhudelei. Zum 85. Geburtstag Wilhelm I. hieß es im Berliner Tageblatt:11 Wenn Kaiser Wilhelm an seinem Ehrentage Umschau und Rückschau hält, so darf die Brust ihm schwellen vor innerer Genugtuung nicht bloß über das, was er nach außen für Staat und Volk kraftvoll erreicht, sondern auch über das Verhältnis, das sein milder Sinn zwischen Volk und Fürst in so seltener Weise ins Leben zu rufen wusste. Von den Tagen des herben öffentlichen Unglücks, wie sie einst die Zeitgenossen der Königin Luise erlebt, sind wir alle unter dem milden Zepter dieses begnadeten Regenten verschont geblieben … wenn auch oft genug der schwere Ernst des modernen Lebens in mannigfaltiger Gestaltung an uns alle gemeinsam herantrat. Aber in diesen Momenten, da wir trüben Zeiten entgegen zu gehen meinten, verleugnete sich niemals die innige Zusammengehörigkeit der Nation mit ihrem Herrscher, und das ist das schönste Blatt im strahlenden Ruhmeskranz unseres Kaisers, dass er das Band der Liebe und Verehrung, welches Thron und Volk vereint, enger und enger zu knüpfen wusste, dass er

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Berliner Tageblatt, 22.3.1882.

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es verstand, ganz im Sinne seiner unvergesslichen Mutter sich in den Herzen der Staatsbürger eine bleibende Stätte dankbarer Erinnerung und anteilvoller Verehrung zu errichten…Kaiser Wilhelm lebt mit seinem Volk und für sein Volk – das ist die ruhevolle Gewissheit, die uns mit froher Zuversicht für alle Zeit erfüllt, und die uns die ehrfurchtsvollsten, aber auch herzlichsten Wünsche eingibt für das Wohlergehen des Hochbetagten… so wollen wir Lebenden, die Zeitgenossen des frommen Helden, aus voller Brust ausrufen: Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser!

Abbildung 6 Über die Wormser Zeitung wurde die Bevölkerung zu Feiern anlässlich des 85. Geburtstages von Kaiser Wilhelm eingeladen. 27

Auch fernab der Hauptstadt wurde Wilhelms Geburtstag gefeiert, so etwa im 600 Kilometer entfernten Worms, wo es gleich mehrere Veranstaltungen national-liberal gesinnter Gruppen gab. Tage vor dem 22. März wurde die Bevölkerung über die Wormser Zeitung aufgerufen:12 Einladung Mittwoch, den 22. März 1882, nachmittags 4 Uhr, findet in dem großen Saale des Casino´s zur Feier des Allerhöchsten Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers ein Fest-Mahl statt … Einladung Zur Feier von Kaisers Geburtstag. Um der unsere Vaterstadt beseelenden Liebe und Treue gegen unseren verehrten Kaiser Wilhelm einen Ausdruck zu verleihen, werden hiermit alle zu Kaiser und Reich stehenden Bewohner von Worms, ohne Unterschied der Parteistellung, eingeladen, zu einer am Vorband des Kaiserlichen Geburtstages Dienstag, den 21. März 1882, Abends 8 Uhr, in den Sälen von Worret´s Etablissement stattfindenden festlichen Versammlung. Trinksprüche und Reden in dieser Versammlung müssen vorher zur Erteilung des Wortes dem Vorsitzenden angemeldet werden. Unsere Mitbürger sind gebeten, am 22. März die Häuser durch Flaggen zu schmücken …

Nach den Feierlichkeiten berichtete die Zeitung ausführlich über die Veranstaltungen, zitierte die unterschiedlichen Ansprachen der Honoratioren, zu denen auch Mitglieder des Stadtvorstandes und des hessischen Landtags gehörten und ließ Wilhelm als die „greise Heldengestalt“ hochleben:13 Die Feier des kaiserlichen Geburtstages hat sich in unserer Stadt, ähnlich wie der Gedenktag von Sedan, zu einem allgemeinen Festtage ausgebildet, an welchem alle Stände und Kreise freudig Anteil nehmen.

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Wormser Zeitung (WZ), 17.3.1882. Ebd., 23.3.1882.

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So hatte sich auch gestern wieder, am Vorabende desselben, in Worrets Sälen eine zahlreiche, festlich gestimmte Versammlung eingefunden, um ihrer Liebe und Verehrung für den ehrwürdigen Heldengreis, sowie ihrem Dank dafür und ihrer Freude darüber, dass es dem geliebten Monarchen abermals vergönnt ist, ein neues Lebensjahr in ungetrübter Gesundheit anzutreten und seines hohen Amtes mit voller Rüstigkeit auch fernerhin zu walten, öffentlich Ausdruck zu geben.

Gedichte von eher minderer Qualität und ohne Angabe eines Verfassers lockerten die Berichte auf: Zum Geburtstage unseres Kaisers am 22. März 1882 Was rauscht durch den deutschen Eichenwald, Was tönt durch Fluren und Auen, Was ist´s, was hell durch die Berge schallt, hinab in die sonnigen Gauen? Des Berges Echo tut mir´s kund, Es ist der Ruf aus deutschem Mund: Dem Kaiser Heil! Ihm jauchzt es zu von fern und nah, Dem Greis im silbernen Haare! Wie fest und kraftvoll steht er da Trotz lastender Bürde der Jahre! Wie führt er noch mit sicherer Hand Das deutsche Volk, das deutsche Land – Dem Kaiser Heil! Wer blickt begnadet wie er zurück Auf solch gesegnetes Leben? Des Reiches Wohl und Volkes Glück, Das ist sein Trachten und Streben, Das ist sein Wirken früh und spät Sein brünstig´ und sein heiß´ Gebet! Dem Kaiser Heil!

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Und soll ich aus seiner Krone Euch Die edelsten Perlen nennen, So köstlich schimmernd und so reich, Wer sollte sie wohl nicht kennen? Die Weisheit ist´s, die Gerechtigkeit, Gepaart mit ernster Frömmigkeit! Dem Kaiser Heil! Dem Kaiser Heil! Es erhalt´ ihn Gott Noch lange den deutschen Landen, An die er so fest in Glück und Not Geknüpft mit den heiligsten Banden! Erhalt´ ihn Gott dem Volke sein! Ihr Deutschen, stimmet betend ein: Dem Kaiser Heil!

Eine vergleichbare „Huldigung“ erlebten wenige Jahre später Otto von Bismarck und Anfang des 20. Jahrhunderts Ferdinand Graf Zeppelin. In vielen evangelischen Gemeinden fanden Festgottesdienste anlässlich des besonderen Geburtstages statt. Sogar Pfarrer Philipp Jakob Fehr, Propst am (katholischen) Dom zu Worms, hatte, um sein „patriotisches Verhalten“ unter Beweis zu stellen, die Gemeinde zu einem Gottesdienst am 22. März 1882 eingeladen. Groß inszeniert wurde Wilhelms 90. Geburtstag im Jahr 1887. Die Theater in der Hauptstadt brachten bereits Tage vorher Festvorstellungen, Gesangsvereine boten Sonderkonzerte, Beförderungen im Militär und innerhalb der Verwaltung fanden statt, der Reichskanzler gab ein „Diner für die hier beglaubigten Botschafter, Gesandten und sonstigen Chefs fremder Missionen“, der Präsident der Handelskammer brachte an der Börse ein „Hoch auf den Kaiser“ aus, die Studentenschaft im ganzen Land feierte „akademische Feste“, in den Hauptstädten der Bundesländer, aber auch in Wien, London, St. Petersburg oder Warschau fanden „Kaiserfeiern“ statt.

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Abbildung 7 Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) Für damalige Verhältnisse waren auch für einen Monarchen 90 Jahre ein hohes, seltenes Alter. Anlässlich dieses Geburtstages hatte das Berliner Tageblatt, die 1872 von Rudolf Mosse gegründete, im Kaiserreich auflagenstärkste Tageszeitung, sogar ein mit 10.000 Mark dotiertes Preisausschreiben veranstaltet:14 Es gilt, die Entwicklung des Einheitsgedankens im Deutschen Volke, seinen Entschluss auf die Bildung und Stellung der politischen Parteien und seine Verwirklichung durch das deutsche Kaisertum auf Grund wissenschaftlicher Forschung in Form abgerundeter Geschichtsbilder von Anfang dieses Jahrhunderts ab bis zur Kaiserproklamation von Versailles zu einer volkstümlichen, möglichst gedrängten Darstellung zu bringen. 14

Berliner Tageblatt, 22.3.1887.

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Die Laudatio auf der ersten Seite der Zeitung lautete: Am heutigen Tage, da Millionen und Abermillionen treuer deutscher Herzen des greisen Kaisers gedenken und ihm aus tiefstem Gemüte Glück und Segen wünschen zur Feier des Tages, da er vor 90 Jahren das Licht der Welt erblickt, am heutigen Tage, da die gesamte Nation in innigster Dankbarkeit ihr Denken und Fühlen dem Kaiser widmet… fehlt auch das „Berliner Tageblatt“ nicht, um den Ausdruck seiner Freude und Dankbarkeit an den Stufen des Thrones in ehrfurchtsvoller Verehrung niederzulegen. Wie unser Monarch als König von Preußen durch seine nie erlahmende Pflichttreue, die Schlichtheit seines Wesens und die Strenge, die er gegen sich selbst stets geübt, sich im Laufe der Jahre die immer herzlichere Verehrung des gesamten Preußenvolkes errungen, so auch ward er im ganzen deutschen Reiche, da ihm das Geschick beschieden, unserer Nation der Helfer und Vollbringer ihrer sehnsuchtsvollsten Träume zu sein, in begeisterter Liebe von allem Volk ins Herz geschlossen. Als Hort und Schirmer jener Einheit des deutschen Reiches, für die unsere Väter auf den Schlachtfeldern geblutet oder in den Kerkern geschmachtet, war es Kaiser Wilhelm vergönnt, rings im Lande die hingebungsvollste Liebe für seine Person und für die Idee, die er verwirklichte, zu säen und zu ernten, so dass das Dankgefühl aller treuen deutschen Herzen mächtig emporloderte.

Die Zeitung würdigte den Kaiser als „Weltfriedensfürst“:15 Die Blicke der gesamten zivilisierten Welt sind heute auf die deutsche Reichshauptstadt gerichtet, in deren Mauern ein Fest gefeiert wird, wie es kaum jemals in den Annalen der Geschichte verzeichnet worden. In voller geistiger und körperlicher Frische begeht Kaiser Wilhelm sein 90. Geburtsfest. Alle Dynastien Europas entsendeten hervorragende Vertreter, um dem Nestor der Fürsten die herzlichsten Glückwünsche zu entbieten.

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Ebd.

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Das an gewaltigen Ereignissen so überreiche Leben des greisen Heldenkaisers hat uns in seinen Gedenktagen schon oft Gelegenheit geboten, unserer Verehrung und Bewunderung am wärmsten und aufrichtigsten Ausdruck zu geben … Und dennoch drängt uns der heutige, so einzig dastehende Gedenktag, wiederum zurückzukommen auf jenes Charakteristikon, welches unserem Kaiser neben dem ruhmvoll erworbenen Beinamen des „Siegreichen“ den noch klangvolleren Beinamen des „Friedensfürsten“ für alle Zeiten sichert.

Am anderen Tag berichtete die Zeitung ausführlich über die Feier bei Hofe und ließ die Leser teilhaben an der „glänzenden Gesellschaft von etwa 900 geladenen Damen und Herren“, die sich im Weißen Saal des Königlichen Schlosses um den Gastgeber versammelt hatten. Zu den Gästen zählten der König von Sachsen, das rumänische Königspaar, der österreichische Kronprinz Rudolf, Großfürst Wladimir von Russland und weitere Vertreter des deutschen und europäischen Hochadels. Mitgeteilt wurden ebenso die festlichen Veranstaltungen in Berlin und im ganzen Reich; in den Großstädten hatten zu Ehren des Kaisers Gottesdienste, Glockengeläute, Paraden, Zapfenstreiche, Festessen etc. stattgefunden. Rückblickend betrachtet, was es Wilhelms letzter Geburtstag. Einen anschaulichen Bericht verfasste auch die Salonnière Hildegard Freifrau von Spitzemberg, die als Gattin eines württembergischen Gesandten am preußischen Königshof in Berlin eine aufmerksam-kritische Beobachterin des Zeitgeschehens war: Der Tag begann mit hellem Sonnenschein, dann aber überzog sich der Himmel, und am Nachmittag begann es leider zu regnen…trotzdem waren am Abend Zehntausende von Menschen unterwegs, sich die wirklich sehr schöne und allgemeine Beleuchtung anzusehen. Dabei herrschte musterhafte Ordnung, so dass ich flott durch nach dem Schlosse fahren konnte und als eine der ersten dort ankam. Allmählich füllte sich der Weiße Saal, und präzise wie immer erschien erst die Kaiserin mit Prinz Wilhelm, dann der teure greise Geburtstäger mit all den fürstlichen Festgästen …

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Als ich zum Souper gehend durch das Hofzimmer kam, hatte ich Gelegenheit, persönlich dem teuren Kaiser gratulieren zu können, was mir, die ich doch so manche Gedächtnistage hier miterlebte, eine große Freude war…Heute hatte man so recht das stolze Gefühl, einem großen, mächtigen, einigen Volke anzugehören. Ach, dieser wird wohl der letzte der herrlichen Gedenktage sein, die es mir vergönnt war, mit dem teuren Kaiser und seinen Paladinen zu erleben! So nahe stehen sie alle dem Ziele des Lebens, dass, was noch zu erwarten steht, leider nur Tage der Trauer sein können, und was danach kommt, wissen die Götter.16

Da Wilhelms Sohn, Kaiser Friedrich III., geboren am 18. Oktober 1831 und verstorben am 15. Juni 1888, also wenige Wochen nach seinem Vater, nur kurz im Amt war, fiel in seine Regierungszeit kein eigener Feiertag. Mit dessen Sohn Wilhelm II. Thronbesteigung war „Kaisers Geburtstag“ am 27. Januar, erstmals 1889 gefeiert, letztmalig 1918. Doch wie zuvor von seinem Vater und ab 1888 für seinen Sohn, gab es auch von dem „99-Tage-Kaiser“ Münzen mit dem Porträt Friedrichs, die als Zahlungsmittel im Kaisereich gültig waren. An seinen Ehrentagen huldigten nicht nur die Honoratioren der allerhöchsten Autorität im Land, schon die Jüngsten im Kaiserreich nahmen Anteil an den Paraden, Musikzügen, Fackelumzügen, an Festreden, Lobpreisungen und Hymnen. Während des Schuljahres kam „Kaisers Geburtstag“ ein besonderer Stellenwert zu, er war mindestens genau so wichtig wie die alljährliche Einschulung oder Verabschiedung der Schulabgänger. In der Aula oder den Klassenräumen wurde gefeiert, das Portrait des Kaisers bzw. des Herrscherpaares mit Efeu begrünt und die Heldentaten Seiner Majestät waren Gegenstand der Ansprachen. Die Vergangenheit wurde glorifiziert, die Gemeinschaft beschworen. So hieß es in einer „Kaisergeburtstagsrede“ des Jahres 1908: Liebe Schüler! Jeder Festtag, der uns aus dem gleichmäßigen Gange unserer Arbeit herausreißt, der den unablässig heraufsteigenden und wieder flüchtenden Stunden, in denen unser Leben dahin rollt, gleichsam halt gebieten 16

Rudolf Vierhaus (Hg.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen 1961, S. 229f.

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scheint, gibt uns Veranlassung, den Blick mit größerer Ruhe, als die Unrast des Tages uns sonst gewährt, dem Ganzen des Lebens zuzuwenden. Aber wenn an den Tagen persönlicher Feste, wie sie jeder zu feiern immer wieder Gelegenheit hat, Vergangenheit und Zukunft des eigenen Lebens unser Denken beherrschen, persönlich Erlebtes und Erreichtes gegeneinander abgewogen, ein neues Ziel ins Auge gefasst wird, wenn andererseits an den zahlreicheren Festtagen kirchlichen Charakters unser Inneres angeregt wird…und die Gefühle allgemeiner, über alle persönlichen, ständischen und nationalen Unterschiede hinausreichender Menschenliebe erweckt werden, so lenkt ein Tag wie der heutige, an dem wir den Geburtstag unseres Kaisers feiern, der für uns Preußen zugleich der Geburtstag unseres Landesherrn ist, von jeher ein Festtag in preußischen Landen, unsere Gedanken hin auf das große Ganze, von dem wir alle Teil sind, auf das Vaterland. Verehren wir doch in unserem Kaiser den lebendigen und tatkräftigen Repräsentanten der Staatsgewalt nicht nur, sondern auch der ganzen Unsumme von schaffenden, drängenden und sich behauptenden Kräften, die das große, in aller seiner Mannigfaltigkeit doch einheitliche und gewaltige Ganze unseres Volkslebens ausmachen. Daher pflegen wir an diesem, wie an allen hohen nationalen Festtagen unsere Blicke zurückzuwenden zur Vergangenheit. Das Bild bedeutender Männer oder Ereignisse längst verflossener oder näher zurückliegender Zeiten pflegen wir vor unserem geistigen Auge emporsteigen zu lassen, getragen von der einen Empfindung, dass an solchem Tage nur eins uns erfüllen soll: der Gedanke, dass wir Teile sind einer großen staatlichen Gemeinschaft …17

Die Schulkinder erhielten einen „Kaiserwecken“, sie beteten für den höchsten Repräsentanten des Deutschen Reiches und ließen ihn hochleben. Der Untertanengeist und die Autoritätsgläubigkeit der Zeit spiegelten sich in solchen Kinderliedern wider; abgedruckt auf zeitgenössischen Postkarten:

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Udo Gaede: Vaterland und Kinderland. Eine Kaisergeburtstagsrede. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums zu Berlin, Ostern 1908, Berlin 1908, S. 3.

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Der Kaiser ist ein lieber Mann und wohnet in Berlin, und wär` es nicht so weit von hier, so lief ich heut` noch hin und was ich bei dem Kaiser wollt, ich reicht ihm meine Hand und reicht die schönsten Blumen ihm, die ich im Garten fand und sagte dann: Aus treuer Lieb bring ich die Blumen dir, und dann lief ich geschwind hinfort und wär` bald wieder hier.

Abbildung 8 Kaiser Friedrich III. (1831-1888) Ein weiteres Lied, ebenfalls von dem Lehrer Ernst Lausch (1836-1888), lautet: Hurra, heut ist ein froher Tag des Kaisers Wiegenfest. Wir freuen uns und wünschen ihm von Gott das allerbest´. Wir singen froh und rufen laut, der Kaiser lebe hoch! Der liebe Gott erhalte ihn recht viele Jahre noch!

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Abbildung 9 Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) Hinter diesen Kaisergeburtstagen verbarg sich ein aufwändig inszeniertes Großereignis, das einerseits für jedermann sichtbar die Persönlichkeit des Kaisers glorifizieren und damit das Ausland beeindrucken sollte, andererseits vermittelte es bereits den Kleinsten nationales Gedankengut. Kaum an der Regierung, ordnete Wilhelm II. an, „dass in sämtlichen Schulen der Monarchie die Geburts- und Todestage der in Gott ruhenden Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. fortan als vaterländische Gedenk- und Erinnerungstage begangen werden“ sollten.18 Der neue Herrscher förderte den Personenkult um seine Vorgänger, ebenso eine Prachtentfaltung, wie sie in Preußen bislang 18

Erlass vom 9.7.1888, in: Centralblatt für die gesamte preußische Unterrichtsverwaltung, Nr. 196/1888, Berlin 1888, S. 620.

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unbekannt war. Wilhelm II. verbrachte den Abend seines Geburtstages gerne im Opernhaus (heutige Staatsoper Unter den Linden), wo er in seiner Loge von „Seinesgleichen“ umgeben war, andererseits öffentlichkeitswirksam vom nationalgesinnten, kulturbeflissenen Bürgertum gesehen – und gehuldigt werden konnte. Zu diesen öffentlichkeitswirksamen Feiern zählte auch der 22. März 1897, als in Berlin ein Huldigungszug anlässlich des 100. Geburtstages Wilhelm I. und die Einweihung des (1950 abgetragenen) Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals an der Westseite des Berliner Stadtschlosses stattfand. Nicht nur über die Tageszeitungen, auch dank der Baronin Spitzemberg ist dieses Ereignis überliefert. In ihrem Tagebuch vom 23. März 1897 heißt es: … gewaltig und imponierend war der Anblick dieser 24.000 Männer, die flott und rasch marschierend, von Musikkapellen geleitet, ihre Kränze am Denkmale niederlegten und vor dem Kaiser, zum Teil im Paradeschritt, defilierten. Den Männern gefiel nichts besser als dieser Vorbeimarsch…Kriegervereine, Gewerke, Turner, Forstleute, Radfahrer, Ruderer, zuletzt die Studenten in vollem Wichse – alles war vertreten.19

Abbildung 10 Noch heute erinnern zahlreiche Plätze und Straßen an Wilhelm, den ersten Deutschen Kaiser (1871-1888); hier das Straßenschild des Kaiser-Wilhelm-Rings in Mainz. Weitere Kaiser-Wilhelm-Denkmäler in Form eines Reiterstandbildes wurden an einem 22. März enthüllt, so in Geislingen/Steige (1894), Gera (1894), 19

Spitzemberg, S. 354.

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Straßburg (1899) oder in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln, 1902). Unzählige Jungen wurden im Kaiserreich nach ihm benannt, erst recht, wenn auch sie an einem 22. März (oder 27. Januar) geboren waren. Ebenfalls viele Mädchen erhielten den Namen seiner Frau und wurden auf Augusta bzw. Auguste getauft. Beliebt waren auch die Vornamen Friedrich und Friedericke in Anlehnung an den Sohn und kurzzeitigen Nachfolger Friedrich. Deutschlandweit präsent ist der erste Kaiser des 1871 gegründeten Reiches noch heute mit 26 Straßen, Alleen, Wege, Brücken und Plätzen, die sich ausdrücklich auf Wilhelm I. beziehen. Nur einmal wurde auf eine größere öffentliche Inszenierung am 27. Januar verzichtet; im Jahr 1901, da fünf Tage zuvor die englische Königin Victoria, die Großmutter Kaiser Wilhelm II., verstorben war. Ansonsten aber ließ sich Wilhelm II. feiern und die Huldigungen und Berichterstattungen der Presse klangen wie zu Zeiten seines Großvaters, ganz so euphorisch waren sie allerdings nicht mehr, sogar Kritik war zwischen den Zeilen zu lesen. Anlässlich seines 50. Geburtstages 1909 hieß es im Berliner Tageblatt:20 Mit erfreulicher Einmütigkeit versammeln heute die Bundeshäupter sich vor dem Kaiser zur Darbringung ihrer Glückwünsche; gern und aufrichtig schließt sich ihnen das deutsche Volk an…Ist es auch noch zu früh, die Gesamtsumme eines Lebensertrages zu ziehen, so sind doch die Grundlinien erkennbar, auf denen sich eine Existenz bewegt … Auf dem Hauses des Kaisers liegt ein heller Sonnenstrahl; mit keinem anderen Hause im Reich braucht es den Vergleich zu scheuen. Ein solches Lebensergebnis begrüßt das deutsche Volk mit herzlicher Sympathie. Als Familienvater tritt der Kaiser seinem Empfinden am nächsten. Die Epoche Kaiser Wilhelms hat bis jetzt nicht die großen Staatsmänner und Kriegsführer an das Licht gebracht, wie sie die Regierung des ersten Kaisers verherrlichen … Der Kaiser selbst hat, diese Anerkennung wird man ihm zollen müssen, unser nationales Leben mit einer Idee bereichert, er hat uns von

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Berliner Tageblatt, 27.1.1909.

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der Vorstellung befreit, dass das Meer Deutschlands Grenze sei. Wie vor hundert Jahren das Wort galt: der Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, so hat er in uns allen die Vorstellung lebendig gemacht, dass die Nordsee nicht das Ende unseres Landes, sondern sein historisches Erbe ist … Am nächsten liegt uns heute der Wunsch, dass das wechselseitige Vertrauen zwischen Kaiser und Volk, das einer so schweren Probe ausgesetzt war, wieder zurückkehre. Ohne den festen Glauben des Kaisers an das Volk und des Volkes zu seinem verfassungsmäßigen Führer verlieren wir ein Element nationaler Kraft, werden wir nicht stark nach innen und nicht kraftvoll nach außen sein. Möge das Fest, das der Kaiser heute feiert, zum Symbol des gesicherten Verständnisses gedeihen.

Wilhelms „Leistungen“ als Familienvater wurden zwar anerkannt, doch als Staatsoberhaupt musste er deutlich Kritik hinnehmen. Unter der Überschrift „Die Wünsche des Volkes“ wurden die Defizite unmissverständlich artikuliert:21 Soll die Masse des Volkes an den Festtagen im Kaiserhause einen warmen inneren Anteil nehmen, dann würde es sich empfehlen, dass der Kaiser an solchen Tagen von dem schönsten Recht, das ihm verliehen ist, Gebrauch machte, von dem Recht auf Gnade. Soviel wir uns entsinnen, hat der Kaiser bisher nur einmal, bei der Taufe seines ältesten Enkels, eine Amnestie erlassen, durch welche ein Dutzend Majestätsverbrecher begnadigt wurde…der Kaiser hat es in der Hand, wenigstens im Bereich der preußischen Monarchie schon jetzt die Wirkungen der Strafgesetzbuchnovelle vorweg zu nehmen und einer großen Anzahl von Verurteilten Gnade zuteil werden zu lassen … so bietet der heutige Tag auch die beste Gelegenheit dar, die Forderung der weitaus überwiegenden Mehrheit der preußischen Staatsbürger nach einer Beseitigung der Klassenwahl zu unterstützen …

21

Ebd.

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Die Liste der Volkswünsche ließe sich noch weiter vermehren, sowohl was die Sparsamkeit auf militärischem Gebiet, bei Paraden und Festen anbetrifft als in unseren Beziehungen zum Auslande, für deren Verschlechterung zwar Wilhelm II. ganz zweifellos mit Unrecht allein verantwortlich gemacht worden ist, die aber doch auch durch sprunghafte Entschlüsse mehrfach gestört wurden. Der Grundfehler lag darin, dass die Stimme des Volkes nur sehr selten bis zum Throne dringen konnte. Nur so ist es zu erklären, dass Kaiser und Volk sich vielfach nicht mehr recht verstanden. Dieses gegenseitige Verständnis, das auf die Dauer nicht entbehrt werden kann, wird wachsen, wenn die Entwicklung des Reiches und Preußens immer bestimmter in konstitutionelle Bahnen gelenkt wird. Dann wird auch das alte Wort, dass der König nicht Unrecht tun kann, eine Erweiterung dahin erfahren, dass sich in seiner Erscheinung das Prinzip der Stetigkeit, der ausgleichenden Gerechtigkeit und der lebensspendenden Gnade verkörpert.22

In den Kriegsjahren 1915 bis 1918 fanden die öffentlichen Feiern in eingeschränktem Maße statt. So verfügte etwa das Kriegsministerium Militärgottesdienste, die die patriotischen Ansprachen ersetzen sollten, längst hatten die Feiern ihre integrative Wirkung eingebüßt.23 Nach dem Ende der Monarchie waren Feiern anlässlich „Kaisers Geburtstag“ nicht mehr zeitgemäß, doch muss sich dieser Brauch bei einigen Offizieren gehalten haben. Nach einer entsprechenden Beschwerde der Verwaltung nämlich nahm Generalleutnant Ludwig von Estdorff, Kommandeur der Reichswehr-Brigade 1 in Königsberg, in einem Brief an Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe, den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, Stellung zu dem Vorwurf, sein Offizierskorps hätte den Geburtstag des Kaiser gefeiert:24

22 23 24

Hinweis: die erhoffte Amnestie blieb aus. Schellack, S. 59-66. Zit. nach Longerich, S. 128.

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Abbildung 11 Titelseite der Wormser Zeitung vom 27. Januar 1912 anlässlich „Kaisers Geburtstag“. Ich muss jedoch die Tatsache hervorheben, dass die weitaus größere Anzahl der Angehörigen der Reichswehr innigen Anteil nimmt an dem Geschick des ehemaligen Allerhöchsten Kriegsherrn, unter dessen Führung die Armee in den Jahren des Weltkrieges Unvergleichliches geleistet hat und der nunmehr im tiefsten Unglück fern von der Heimat weilen muss. Ich sehe keine Veranlassung, auch alle die Feiern zu verbieten, die in rein geselliger Art und geschlossenem Kreise dem Andenken an unseren früheren Kaiserlichen Herrn gewidmet sind.

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Anhand dieses Schreibens ist davon auszugehen, dass nicht nur innerhalb des Militärs, sondern auch in anderen Kreisen und Vereinen (Kriegervereinen, Burschenschaften) die Tradition der „Kaisergeburtstage“ weitergeführt wurde und der 27. Januar, wenn auch „im Stillen“, zu patriotischen Veranstaltungen und Trinkgelagen genutzt wurde. Viele Jahre später, anlässlich des 75. Geburtstag Wilhelms, erinnerte die Presse mit wenigen Zeilen an den im holländischen Exil lebenden ehemaligen Kaiser. Über einem Foto, das Wilhelm, längst zivil gekleidet, mit seiner Frau am Teetisch zeigt, steht:25 Eine der größten und politisch meist umstrittenen Persönlichkeiten, Wilhelm II., der vor dem Krieg und während des Krieges Mittelpunkt des Weltgeschehens war, feiert in stiller Abgeschiedenheit in Doorn seinen 75. Geburtstag. Wie über der Häuslichkeit und der Landschaft in Doorn ein friedlicher Schimmer liegt, so hat sich in Deutschland und in der Welt seiner Person gegenüber eine menschlichere und abgeklärtere Auffassung durchgesetzt.

Abbildung 12 3-Mark-Gedenkmünze aus Silber zum 25-jährigen Thronjubiläum des Kaisers. Sie zeigt Wilhelm II. in Kürassier-Uniform mit der Kette des Ordens vom Schwarzen Adler, der höchsten preußischen Auszeichnung. 25

Berliner Illustrirte Zeitung, 27.1.1934.

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In den Festkalender des Kaiserreichs gehörte vor dem Ersten Weltkrieg auch der 15. Juni, der Tag der Thronbesteigung Wilhelm II. im Jahre 1888. Groß gefeiert wurde besonders Wilhelms 25-jähriges Thronjubiläum als Deutscher Kaiser und König von Preußen im Jahr 1913, das die Reichsbank zur Herausgabe einer 2-, 3und 5-Mark-Gedenkmünze aus Silber nutzte. Bereits 1906 hatte es vergleichbare Feiern anlässlich der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaares gegeben.

Sedantag (2. September) Nicht nur der Ort der Denkmäler, sondern auch der Tag ihrer Einweihungsfeierlichkeiten war mit Bedacht gewählt: Häufig fanden diese am Sedantag, dem Jahrestag des Sieges über Frankreich, statt. Dieser Gedenktag wurde alljährlich am 2. September oder dessen Vorabend gefeiert und erinnerte an die Schlacht von Sedan in Nordostfrankreich am 2. September 1870, in der preußische, bayerische, württembergische und sächsische Truppen den entscheidenden Sieg über die französische Armee errungen und dabei Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft genommen hatten. In einem 1886 erschienenen Lexikon findet man unter dem Stichwort „Sedan“ auch einen Hinweis auf den Sedantag. Nach der allgemeinen Beschreibung der Stadt Sedan heißt es: In der neueren Kriegsgeschichte hat Sedan eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangt durch die Schlacht bei Sedan am 1. September 1870 und die derselben folgende Kapitulation des französischen Heeres und Gefangennahme des Kaisers Napoleon III. am 2. September.26

Der Abschnitt endet folgendermaßen: In Deutschland wird seitdem regelmäßig alljährlich der Sedantag (2. September) als Nationalfesttag gefeiert, da kein anderes Ereignis des großen Krieges so allgemeinen Jubel hervorrief, wie die Kunde von der Gefangennahme Napoleons III.27

26 27

Brockhaus´ Conversations-Lexikon, 14. Bd., Leipzig 1886, S. 636. Ebd., S. 638.

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In früheren Zeiten bildeten auch in unserem Kulturkreis Staat und Kirche bzw. Thron und Altar eine Einheit. Immerhin war Wilhelm I. als Landesherr auch oberster Bischof der Landeskirche in Preußen. Daher wundert es nicht, dass bereits im März 1871 führende Protestanten ein „allgemein deutsches, von allen Konfessionen gleichmäßig zu feierndes Volks- und Kirchenfest“ vorschlugen. 28 Und in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Westfälischer Hausfreund“ vom 19. März desselben Jahres plädierte Friedrich von Bodelschwingh für ein „fröhliches, frommes Friedensfest“ nach Vorbild der Oktoberfeiern aus der Zeit nach den Freiheitskriegen; allerdings hatte der bekannte Bielefelder Pastor in einer weiteren Ausgabe seiner Zeitschrift zunächst den 18. Juni, den Schlusstag der Berliner Siegesfeier, vorgesehen.29 Erst in der ersten September-Ausgabe des „Westfälischen Hausfreunds“, die am 2. September 1871 ausgeliefert wurde, erwähnte Bodelschwingh nun den Sedantag als „großes, nationales Volksfest“: All Deutschland sei nun auch eins in seiner Freude, in seinem Dank! Die Stimmung neigt immer mehr zur Wahl des 2. September hin. Entscheiden wir uns alle für diesen Tag! Alljährlich brause an diesem Tage Sieges- und Jubeldank durch alle Gaue unseres Vaterlandes, auf dass jeder Deutsche sich sagen kann: Heute feiern mit mir alle Millionen im deutschen Vaterlande. Alle reichen mir die Bruderhand und geloben: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr! Damals legte Kaiser Napoleon seinen Degen zu den Füßen unseres Kaisers nieder. Keine schönere Dankesgabe könnte unser deutsches Volk am Throne seines Heldenkaisers niederlegen, als ein solches Nationalfest, so dass er in diesem, und so Gott Gnade gibt, noch in vielen folgenden Jahren an diesem Tage ein Volk um sich geschart weiß, das 28

29

Hartmut Lehmann: Friedrich von Bodelschwingh und das Sedanfest, in: Historische Zeitschrift, hg. von Theodor Schieder und Walther Kienast, Band 202, München 1966, S. 547. Ebd., S. 546 und S. 550.

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so dem Herrn der Heerscharen zu danken, so die gefallenen Helden, die triumphierenden Sieger zu ehren weiß. Darum im weiten deutschen Lande kein Dorf, sei es noch so klein, keine Stadt, sei sie noch so groß, wo man nicht feierte ein patriotisches wahres Volksfest am 2. September!30

An anderer Stelle meinte von Bodelschwingh, der spätere Leiter der Betheler Anstalten bei Bielefeld, der als Feldgeistlicher selbst Kriegsteilnehmer von 1870/71 gewesen war: „Am 2. September hat die Hand des lebendigen Gottes so sichtbar und kräftig in die Geschichte eingegriffen, dass es dem Volke grade bei diesem Gedenktag am leichtesten in Erinnerung zu bringen sein wird, wie Großes der Herr an uns getan hat“.31

Abbildung 13 Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), Mitinitiator des Sedantages. 30 31

Ebd., S. 555f. Zit. nach Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933, Bonn 2006, S. 207.

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Abbildung 14 Anlässlich des "Drei-Kaiser-Jahres" 1888 wurden zahlreiche Bäume, überwiegend Eichen, in Deutschland gepflanzt; hier die Eiche in Gimmeldingen/Pfalz. 47

Zunächst hielt sich die Begeisterung Wilhelm I. und Bismarcks für eine solche Idee in Grenzen, doch schließlich griffen sie Bodelschwinghs Anliegen auf. Das mag auch an den persönlichen Beziehungen zwischen dem Pfarrer und dem Königshaus gelegen haben: 1831 in Tecklenburg geboren, wuchs Friedrich von Bodelschwingh als Schüler in Trier, Koblenz und in Berlin auf, wo er, Sohn des preußischen Finanz- und Innenministers Ernst von Bodelschwingh, Spielgefährte des späteren Kaisers Friedrich III. war.32 Schließlich wurde dann offiziell ab 1873 auf Anordnung des preußischen Kultusministeriums der Sedantag mit Festveranstaltungen in Schulen und Universitäten begangen. In einigen Bundesstaaten war der 2. September sogar ein Staatsfeiertag, doch auf Reichsebene wurde er nicht zum (arbeitsfreien) Feiertag erklärt, da Wilhelm I. sich weiterhin vornehmlich als König von Preußen sah und mit dem Sedantag die Errichtung eines Reiches verbunden war, dessen Kaiserkrone er nur widerwillig entgegengenommen hatte.33

Abbildung 15 Hinweisschild zur 1888 gepflanzten Eiche. 32 33

Jörg Koch: Bielefeld vor 100 Jahren, Erfurt 2013, S. 86f. Zur Entstehung und den ersten Feiern des Sedantages s. Schellack, S. 69-107.

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Abbildung 16 Die 1873 eingeweihte Siegessäule in Berlin erinnert an die drei „Einigungskriege“, hier eine Aufnahme von 1966. Mit seinem Regierungsantritt im Juni 1888 wertete Kaiser Wilhelm II. den Sedantag politisch auf. Betont wurde nun, mit zeitlicher Distanz zum Anlass der Feierlichkeiten, die Reichseinigung. Mit den militärisch geprägten Feiern sollte eine gesamtdeutsche Identität propagiert werden, bei der konfessionelle und Standesgrenzen keine Rolle mehr spielten. Als Forum für seine Auftritte nutze Wilhelm II. auch die kaiserlichen Herbstmanöver, die um den Sedantag stattfanden. Zudem war es für den Regenten nur konsequent, weitere Denkmäler, Standbilder und Büsten zu Ehren seines Großvaters an einem historisch bedeutsamen Tag wie dem 2. September einweihen zu lassen. Bereits 1873 hatte an diesem symbolträchtigen Tag die Einweihungsfeier der Siegessäule in Berlin stattgefunden; dieser Festakt war beispielgebend für 49

alle weiteren Denkmalseinweihungen. Der Baubeginn der Siegessäule war nach dem Deutsch-Dänischen Krieg erfolgt, den Preußen, d.h. die verbündeten Truppen des Deutschen Bundes, 1864 für sich hatten entscheiden können; rund 2.200 Gefallene bzw. an ihren Verwundungen verstorbene Soldaten waren auf deutscher Seite zu beklagen. Da innerhalb weniger Jahre zwei weitere siegreiche Kriege hinzugekommen waren (Deutsch-Deutscher Krieg, auch Preußisch-Deutscher Krieg genannt, 1866, und Deutsch-Französischer Krieg, 1870/71), galt die Siegessäule fortan als Nationaldenkmal der Einigungskriege. Vor allem aber war der Sedantag zugleich ein Ehrentag für Bismarck. Häufig fanden an diesem Tag bzw. in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum 2. September die Einweihungsfeiern, gelegentlich auch die Grundsteinlegungen zu Bismarck-Denkmälern statt. Im Kaiserreich wurden am bzw. um den 2. September insgesamt 64 Denkmäler zu Ehren des (ehemaligen) Reichskanzlers enthüllt oder eingeweiht. Dazu zählen Türme (u.a. in Suhl, 1896; Herford, 1906; Altenburg, 1915), Standbilder (u.a. in Freiberg, 1895; Duisburg, 1898; Zittau, 1900; Lübeck, 1903), Büsten (in Worms, 1890; Lengefeld, 1900; Weida, 1906), Brunnen (Wolfenbüttel, 1895; Arnstadt, 1909; Pirmasens, 1912) und Gedenksteine (Aue, 1895; Wittenberge, 1900; Zeitz, 1910).34

Abbildung 17 Auf dem Sedan-Festplatz anlässlich des Sedanfestes in Worms, September 1903, waren auch die Winzer aus Bad Dürkheim mit einer eigenen Weinhalle vertreten. 34

S. Sieglinde Seele: Lexikon der Bismarck-Denkmäler, Petersberg 2005, S. 460-468.

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Regional kam dem 2. September eine unterschiedliche Bedeutung zu. In Bayern etwa gedachte man eher der Schlacht bei Wörth (6. August), bei der hauptsächlich bayerische Truppen beteiligt gewesen waren und bei der auf deutscher Seite insgesamt 10.642 Männer zu Tode kamen. Im Großherzogtum Baden feierten die örtlichen Kriegervereine vor allem die Schlachten von Nuits (18. Dezember) und Belfort (15.-17. Januar) – noch heute erinnern das „Siegesdenkmal“ in Freiburg oder die beiden Leibgrenadierdenkmäler in Karlsruhe an diese Kriegsschauplätze. Im neuen Reichsland Elsass-Lothringen erhielt der Sedantag, wie übrigens auch der 27. Januar, mit Rücksicht auf den französischen Bevölkerungsanteil keine besondere Aufmerksamkeit. Im Großherzogtum Hessen-Darmstadt fanden entsprechende Feierlichkeiten am 2. September statt, allerdings hatte hier 1874 der Mainzer Bischof von Ketteler das Glockenläuten für den 2. September verboten, da für ihn der Sedantag weniger den militärischen Sieg Deutschlands über Frankreich und die darauf folgende nationale Einheit symbolisierte als vielmehr die Niederlage der katholischen Kirche gegenüber Bismarck und dem national-liberalen Protestantismus; für die katholische Kirche waren Sedanfeiern „Satansfeiern.“35 Doch Kritik an den Kriegervereinen und den ausgelassenen Zusammenkünften ihrer Mitglieder bei den Gedenktagen kam nach Jahren auch ausgerechnet von einem Protestanten. Der bereits zitierte Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh missbilligte gegen Ende des Jahrhunderts diese Feiern, da sie „statt Lob- und Dankfeste zu sein“ für das, „was Gott an uns getan“, in „pure Sauf- und Tanzfeste“ ausgeartet seien. Bodelschwingh kritisierte jedoch lediglich die Ausschweifungen an solchen Tagen, nicht dagegen die Existenz der Kriegervereine, vielmehr plädierte er für die Gründung „christlicher Kriegervereine“!36 Ebenfalls nicht in den allzu patriotischen Jubel einstimmen wollte die „Volkswacht“, die zudem die Ablehnung sozialdemokratisch eingestellter Mitglieder durch die Kriegervereine verurteilte. Die der SPD nahe stehende Tageszeitung in Bielefeld verwies auf die vielen Opfer der Kriege und darauf, dass gerade 35 36

S. Winkler, S. 218. Offener Brief Friedrich von Bodelschwinghs, abgedruckt in „Neue Westfälische Volkszeitung“, 20.6.1897, zit. nach Reinhard Vogelsang: Geschichte der Stadt Bielefeld, Band II. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Bielefeld, 22005, S. 233.

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die Arbeiterschaft nicht von den Einigungskriegen profitiere: „Wir fragen, hätten wir nicht viel mehr Ursache, an den Gedenktagen der Schlachten von Weißenburg, Vionville, Sedan u.a. zu trauern, ob der Ströme Blutes, die damals um…was? vergossen worden sind? `Die Einheit und Freiheit Deutschlands´, antworten uns die Politiker und Geschichtsschreiber der herrschenden Klasse. Wir haben für die arbeitende Klasse nichts von großer Freiheit bemerkt.“37 Mit ihrer Einstellung entsprach die Zeitung der Haltung der Sozialdemokratie, die statt Krieg und Militarismus den Internationalismus propagierte und aufgrund der 1878 erlassenen „Sozialistengesetze“ den Feiern am 2. September sowieso kritisch gegenüber stand. Wie auch in anderen Ländern, war an hessischen Volksschulen eine „Sedanfeier“ gemäß Schreiben der Großherzoglichen Oberstudiendirektion vom 26. August 1872 Pflicht. Den „sonntäglich gekleideten“ Kindern sollte, „je nach Alter und Fassungsgabe, ein Bild jener großen geschichtlichen Ereignisse“ entworfen und „ihnen eine Vorstellung von der Bedeutung des Tages“ beigebracht werden. Angeordnet war: Dass der Unterricht an dem Sedantag auszufallen hat, und dass dafür eine Schulfeier zu veranstalten ist, bei welcher geschichtliche Vorträge über Anlass und Verlauf des Krieges von 1870–71, das Singen vaterländischer Lieder und, wenn tunlich, Ausflüge und Spiele im Freien die wesentlichen Bestandteile bilden sollen, dass aber im Übrigen die nähere Anordnung dem Ermessen des Schulvorstandes anheimgestellt bleibt.38

Eine größere Aufmerksamkeit erfuhr der 2. September im Jahre 1895, als reichsweit mit Beflaggung, Militärparaden, Fackelzügen und Feuerwerken der 25. Jahrestag der Schlacht bei Sedan gefeiert wurde. An jenem Tag erhielten die Arbeiter und Angestellten in staatlichen Betrieben und in einigen privaten Unternehmen frei oder zumindest ein paar Stunden arbeitsfrei, je nach Arbeitgeber wurde der Lohn gezahlt oder nicht. In Berlin war das Brandenburger Tor festlich illuminiert; ein weithin sichtbarer Schriftzug verkündete: „Sedan – Welch eine Wendung durch Gottes Fügung.“ Dieser Spruch war bereits im Juni 1871, bei Einzug

37 38

„Volkswacht“, 9.8.1895, zit. nach ebd. Zit. nach WZ, 2.9.1905.

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der Truppen in Berlin, an der Siegesstraße zu lesen gewesen. Diese oftmals zitierten Worte greifen den Schlusssatz des Telegramms auf, das König Wilhelm I. am 2. September 1870 nach der Kapitulation Napoleons III. an seine Frau, Königin Augusta, gesandt hatte. Der Originalsatz lautete aber: „Welch eine Wendung durch Gottes Führung.“ Bereits am Vortag des Sedantages wurde durch Kaiser Wilhelm II. die zu Ehren seines Großvaters benannte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin eingeweiht (die Grundsteinlegung im Jahr 1891 hatte ebenfalls an einem symbolträchtigen Tag, dem 22. März, Wilhelm I. Geburtstag, stattgefunden). Anlässlich der Parade zum Jubiläum gab Kaiser Wilhelm II. folgenden Trinkspruch aus: Wenn Ich am heutigen Tage einen Trinkspruch auf Meine Garden ausbringe, so geschieht es froh bewegten Herzens; denn ungewöhnlich feierlich und schön ist der heutige Tag. Den Rahmen für die heutige Parade gab ein in Begeisterung aufflammendes ganzes Volk, und das Motiv für die Begeisterung war die Erinnerung an die Gestalt, an die Persönlichkeit des großen verewigten Kaisers. Wer heute und gestern auf die mit Eichenlaub geschmückten Fahnen blickte, der kann es nicht getan haben ohne wehmütige Rührung des Herzens; denn der Geist und die Sprache, die aus dem Rauschen dieser zum Teil zerfetzten Feldzeichen zu uns redeten, erzählten von den Dingen, die vor 25 Jahren geschahen, von der großen Stunde, von dem großen Tage, da das Deutsche Reich wieder auferstand. Groß war die Schlacht und heiß war der Drang und gewaltig die Kräfte, die aufeinander stießen. Tapfer kämpfte der Feind für seine Lorbeeren; für seine Vergangenheit, für seinen Kaiser kämpfte mit dem Mute der Verzweiflung die tapfere französische Armee. Für ihre Güter, ihren Herd und ihre zukünftige Einigung kämpften die Deutschen; darum berührt es uns auch so warm, dass ein jeder, der des Kaisers Rock getragen hat oder ihn noch trägt, in diesen Tagen von der Bevölkerung besonders geehrt wird – ein einziger aufflammender Dank gegen Kaiser Wilhelm I.! Und für uns, besonders für die Jüngeren, die Aufgabe, das, was der Kaiser gegründet, zu erhalten …39 39

Ernst Johann (Hg.): Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 21977, S. 66f.

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Baronin Spitzemberg, die Berliner Salonnière, verbrachte das Jubiläum in ihrer Heimat, in der kleinen Gemeinde Hemmingen bei Ludwigsburg, wo sie als Wohltäterin im nationalen Sinne in Erscheinung trat: Die letzten Tage hatte ich alle Hände voll Arbeit wegen der Sedansfeier, die auf mein und des Pfarrers Betreiben hier auch in unserem sonst arg nüchternen Dorfe festlich begangen werden soll. Die Mutter, Axel und ich legten zusammen, um für die 183 Schulkinder Würste und kleine Preise für Wettrennen, Klettern usw. zu stiften; die Gemeinde gab Wecken und Most. Ich stiftete der Schule eine schöne deutsche Fahne…Der Pfarrer hielt eine sehr gute, warme, patriotische Rede und der Gesangverein sang…Axel musste abends in den Adler zum Bankett, das die Veteranen … und alle „bessern Leute“ vereinte und recht nett verlief.40

Sogar in den Betheler Anstalten fand am 2. September 1895 ein von Friedrich von Bodelschwingh initiierter Umzug der Kinder aus den Kinderheimen statt, der einem „Siegeszug mit Fahnen und Helmen und kleinen Uniformen“ glich. Ebenso unternahm der epileptische Jünglingsverein einen Festumzug und eine gemeinsame Feier aller Bewohner unter Einbeziehung der Veteranen von 1870 rundete den Sedantag in Bethel ab.41 Von der Jubiläums-Veranstaltung des Jahres 1895 abgesehen, blieb der Sedantag vor allem ein Feiertag der Schulen und Behörden, des kaisertreuen Bürgertums, des Militärs und insbesondere der preußischen Beamtenschaft. Und wo Feiern stattfanden, gerade in ländlichen Gebieten, hatten sich diese gewandelt. Nicht mehr das Militärische stand im Vordergrund, sondern das volksfestartige, gesellige Miteinander, das, vor allem Ende des Sommers, gerne im Freien praktiziert wurde. Mit zeitlichem Abstand zum Krieg prägten turnerische Darbietungen der Jugend, Vorführungen der neu aufgekommenen Radfahrervereine und der übrigen Ortsvereine das bunte Treiben. Die einstige Bedeutung des Sedantages hatte sich so sehr gewandelt, dass im Jahr 1900 sogar der öffentlichkeitswirksame, im ganzen Reich bekannte Historiker Theodor Mommsen für seine Abschaffung plädierte, da die Feier nicht mehr zeitgemäß sei: 40 41

Spitzemberg, S. 338. S. Lehmann, S. 567.

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… wenn überhaupt die Jahrestage der großen Siege im Wechsel der Geschlechter sich auf die Dauer zu Nationalfesten nicht eignen, so kommt in diesem Falle hinzu, dass jede derartige Feier alte immer noch blutende Wunden von Neuem aufreißt. „Gedenkt unendlicher Gefahr, des wohl vergossnen Blutes“, sagte Goethe vom 18. Oktober. Das soll auch ferner geschehen; des 18. Oktober wie des 2. September wird der Deutsche eingedenk bleiben, solange es ein Deutschland gibt. Aber dazu bedarf es weder der Böllerschüsse noch der Raketen.42

Auch wenn in der Bevölkerung das Interesse am Sedantag stetig abgenommen hatte, gehörte er nach wie vor zum Festkalender der zahlreichen Kriegervereine, die sich gleich nach dem deutsch-französischen Krieg gegründet und um 1900 rund eine Million Mitglieder hatten (bis 1913 stieg die Zahl sogar auf annähernd drei Millionen).43 Diese Vereine, die eine militärische Gedankenund Gefühlswelt kultivierten, waren in fast jeder Gemeinde vertreten und prägten damit entscheidend den Alltag im Kaiserreich. Doch auch nach der Jahrhundertwende wurde der Sedantag als besonderer Tag wahrgenommen, der sich für allerlei Feierlichkeiten anbot. So feierte man am 2. September 1903 das Richtfest des Bielefelder Rathauses. Eine größere Beachtung erhielt der Tag 1910, anlässlich des 40. Jahrestages. Vier Jahre später war die Erinnerung an 1870 wieder zur traurigen Realität, war „Sedan“ zum verhängnisvollen „Erlebnis“ geworden. Am 1. August 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen, das Kaiserreich seinen Nachbarn Frankreich und Russland den Krieg erklärt. Die Sedanfeiern waren nun von einer besonders patriotischen Stimmung geprägt:44

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Theodor Mommsen: Ninive und Sedan, in: Die Nation 17, 1899/1900, 25. August 1900, S. 658f. Vgl. Dieter Düding: Die Kriegervereine im wilhelminischen Reich und ihr Beitrag zur Militarisierung der deutschen Gesellschaft, in: Jost Dülffer/Karl Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914, Göttingen 1986, S. 101. WZ, 31.8.1914.

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Der Sedan-Gedenktag wird in diesem Jahr wieder zum ersten Male seit langen Jahren als „Kriegs-Gedenktag“ gefeiert werden. Um den Herren Franzosen nicht nahezutreten, beging man schon seit Mitte der 80er Jahre den Sedan-Gedenktag nicht als Feier der Gefangennahme des französischen Kaisers und seines 80.000 Mann starken Heeres mit 500 Geschützen und 10.000 Pferden, sondern man feierte am 2. September die Erinnerung an die Schaffung des einigen Deutschland. Das wird in diesem Jahr anders sein. Auf Anordnung des Kaisers werden im ganzen Reich am 2. September Fest- und Bittgottesdienste stattfinden, der Schulunterricht fällt aus und an seine Stelle treten Schulfeiern. Der Grundton dieser Feiern wird die Freude und der Dank an Gott für die vor 44 Jahren erfolgte Gefangennahme Kaiser Napoleons und seines Heeres sein, verbunden mit der Freude über die bisherigen Siege der verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Heere. Es ist anzunehmen, dass an diesem nationalen Festtage im ganzen Reich kein Haus ohne Fahnen- und Flaggenschmuck sein wird.

Der scheinbar glorreichen Zeit huldigten jedoch nicht nur Denkmäler und immer wiederkehrende Gedenkveranstaltungen, sondern auch literarische Verarbeitungen des gewonnenen Deutsch-Französischen Krieges. Weit verbreitet war das bereits im Oktober 1870 von Kurt Moser getextete Lied „Fern bei Sedan auf den Höhen“, das Eingang in den Volksliederschatz fand und im Ersten Weltkrieg als Soldatenlied sehr populär war: Fern bei Sedan auf den Höhen, Steht ein Krieger auf der Wacht, Neben seinem Kameraden, Den die Kugel tödlich traf. Leise flüstern seine Lippen, Du, mein Freund kehrst wieder heim, Siehst die teure Heimat wieder, Kehrst in unsrem Dörflein ein. In dem Dörflein, in der Mitte, Steht ein kleines weißes Haus,

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Rings umrahmt von Rosen, Nelken, Drinnen wohnet meine Braut. Nimm den Ring von meinem Finger, Nimm den Ring von meiner Hand, Drück auf ihre weiße Stirne, Einen Kuss als Abschiedspfand. Der Soldat, der hat's gesprochen, Der Soldat, der hat's gesagt, Seine Augen sind gebrochen, Dort bei Sedan ist sein Grab.

Auch in den Lesebüchern, die nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, wurden die nachwachsenden Generationen weiterhin mit der patriotisch-nationalistischen Lyrik eines Ferdinand Freiligraths („Hurra Germania!“, „Die Trompete von Gravelotte“) oder Emanuel Geibels („Am 3. September 1870“) bekannt gemacht. Ferdinand Freiligrath: „Die Trompete von Gravelotte“45 Sie haben Tod und Verderben gespie´n, wir haben es nicht gelitten. Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien, wir haben sie niedergeritten. Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt, tief die Lanzen und hoch die Fahnen, so haben wir sie zusammengesprengt, Kürassiere wir und Ulanen. Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt; Wohl wichen sie unseren Hieben; 45

Zit. nach Saat und Ernte. Deutsches Lesebuch für die höheren Schulen Hessens, 2. Teil, Frankfurt/M. 1935, S. 188f.

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Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt, unser zweiter Mann ist geblieben. Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft, so lagen sie bleich auf dem Rasen, in der Kraft, in der Jugend dahingerafft – „Nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!“ Und er nahm die Trompet´, und er hauchte hinein; Da, – die mutig mit schmetterndem Grimme Uns geführt in den herrlichen Kampf hinein, Der Trompete versagte die Stimme! Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz Entquoll dem metallenen Munde; Eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz, Um die Toten klagte die Wunde! Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein, um die Brüder, die heut gefallen; um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein, erhub sie gebrochenes Lallen. Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann, rundum die Wachtfeuer lohten; die Rosse schnoben, der Regen rann, und wir dachten der Toten, der Toten!

Eine andere Intention verfolgten dagegen Heinrich Mann mit seinem Roman „Der Untertan“ (1914), in dem er die Denkmalsucht der Kaiserzeit verhöhnt und Carl Zuckmayer, der in seiner Tragikomödie „Der Hauptmann von Köpenick“ (1931) die Verhältnisse in der kaiserlichen Armee – der Sedantag spielt hier eine zentrale Rolle für die Hauptfigur- und die vom Militarismus und blinder Autoritätsgläubigkeit geprägte Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg karikiert. 58

Geradezu kurios in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Karl May seinen Titelhelden Winnetou am 2. September 1874 sterben lässt. Dies kann kein Zufall sein. Doch nicht der Tod des „edelmenschlichen“ Blutsbruders von Old Shatterhand steht an diesem nationalen Siegestag im Vordergrund, sondern dessen Konversion zum christlichen Glauben in der Todesstunde und damit Karl Mays missionarisch-christlicher Fundamentalismus. Gegen Ende des 15. Kapitels („Am Hancock-Berg“) berichtet der Autor aus der Sicht Old Shatterhands: Als der letzte Ton verklungen war, wollte Winnetou sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er: „Scharlih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!“46

So siegte am 2. September nicht nur Deutschland, sondern ebenso das Christentum. Aber auch zeitgenössische Musiker brachten dem gewonnenen Krieg ihre Verehrung zum Ausdruck. So etwa Johannes Brahms, der angesichts des deutschen Sieges 1870 sein „Triumphlied“ komponierte, dessen erster Teil am 7. April 1871 anlässlich eines Karfreitagskonzerts „Zum Andenken an die im Kampfe Gefallenen“ im Bremer Dom uraufgeführt wurde. 47 Die Widmung des heute weitgehend unbeachteten Werkes lautet „Seiner Majestät den Deutschen Kaiser Wilhelm I. ehrfurchtsvoll zugeeignet vom Komponisten“. Patriotische Stücke zu Beginn der „Gründerzeit“, die als musikalisches Denkmal des neuen Kaiserreiches erklingen sollten, schufen ferner Richard Wagner („Kaisermarsch“, 1871), Max Bruch („Das Lied vom deutschen Kaiser“, 1871) oder Carl Reinthaler („Bismarckhymne“, 1876).

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Karl May: Winnetou, 3. Bd, Bamberg 1951 (Erstveröffentlichung 1893), S. 435. Brahms beendete den 1. Teil des „Triumphliedes“ nach der Kaiserproklamation Ende Februar 1871, den 2. und 3. Teil komponierte er nach dem Friedensschluss im Sommer 1871; der Erstdruck erschien 1872; s. Max Kalbeck: Johannes Brahms, Bd. II, Neudruck, Tutzing 1976, S. 346ff.

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Am 27. August 1919 verkündete das Reichsinnenministerium, dass es offiziell keine (staatlichen) Sedanfeiern mehr geben werde, da diese nicht mehr in die Zeit passten: Die früher geltende Verfügung, dass Gedächtnistage der Schlacht von Sedan die öffentlichen Gebäude beflaggt werden sollten, entspricht nicht mehr den Zeitverhältnissen. Unser Volk soll in dieser Zeit tiefsten Unglücks nicht nur die demonstrative Erinnerung an frühere Siege darüber hinweggetäuscht werden, dass all sein Denken und Streben einer neuen Zukunft gewidmet sein muss.48

Dennoch blieb der 2. September in der Weimarer Republik als Gedenktag des Kaiserreiches weiterhin im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, auch wenn er als Feiertag der Kriegervereine und als Tag feierlicher Denkmalsenthüllungen nicht mehr in Betracht kam. Die Gestaltung dieses Tages war regional sehr unterschiedlich und hing stets von den politischen Mehrheitsverhältnissen vor Ort ab. Da der Weimarer Republik ein Staatsfeiertag fehlte und die monarchischen Feiertage wie „Kaisers Geburtstag“ oder „Geburtstag des Landesherrn“ obsolet waren, andererseits eine jahrzehntelange Tradition nicht per Erlass unterbunden werden konnte, wurde der Sedantag in seiner einstigen Bedeutung erst durch das nationalsozialistische Feiertagsjahr verdrängt, das neue Gedenktage zelebrierte.

Abbildung 18 Noch heute erinnern 105 Plätze und Straßen an den 2. September 1870 in Form von Straßenschildern; hier die Sedanstraße in Worms-Herrnsheim.

48

Telegramm des Reichsinnenministers an die Landesregierungen vom 27.8.1919, zit. nach Schellack, S. 132.

60

Gedenktage Gedenktag für Königin Luise (10. März) Im Gegensatz zum Sedantag, der während des Kaiserreichs im öffentlichen Raum mit einem genau festgelegten militärischen Zeremoniell die kollektive Erinnerung an den deutschen Sieg über Frankreich in Szene setzte, fand die individuelle Erinnerung an die Gefallenen des Krieges 1870/71 innerhalb der Familien an Allerseelen (2. November) bzw. am Totensonntag statt. Totensonntag, der Sonntag vor dem 1. Advent und damit der letzte Sonntag im Kirchenjahr, wurde per Verordnung im November 1816 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. zum „allgemeinen Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen“ bestimmt. Der Tag galt ursprünglich dem Andenken der 1810 verstorbenen Königin Luise, seiner Frau, und zugleich den Gefallenen der Befreiungskriege. Im Laufe der Jahrzehnte übernahmen alle evangelischen Landeskirchen Deutschlands und der Schweiz den Totensonntag als Trauerund Gedenktag, an dem die Verstorbenen des abgelaufenen Kirchenjahres verlesen wurden. Der Totensonntag, heute auch Ewigkeitssonntag genannt, genießt als „stiller Feiertag“ wie auch der Volkstrauertag einen besonderen Schutz. So wundert es nicht, dass Kaiser Wilhelm I. die institutionalisierte Erinnerung an seine Mutter Luise wichtiger war als der Sedantag. Mit der Gründung des Kaiserreiches war es auch zu einer Renaissance der Luisen-Verehrung gekommen. Die einstige, jung verstorbene preußische Königin Luise (17761810) sollte schon den Kindern, insbesondere den Mädchen, als Vorbild nahe gebracht werden. Im Februar 1876, anlässlich ihres 100. Geburtstages, erließ die preußische Schulverwaltung eine Anordnung zur Gestaltung von Feiern an Volksschulen: Ich bestimme daher, dass am 10. März in allen öffentlichen und PrivatMädchenschulen der Unterricht ausfallen und an dessen Stelle eine

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Feier treten soll, in welcher der Geschichtslehrer oder der Dirigent der Anstalt den Schülerinnen im freien Vortrage das Lebensbild der erlauchten Frau vorführt, welche in den Zeiten des tiefsten Leidens so opferfreudig an der Erhebung des Volkes mitgearbeitet und allen kommenden Geschlechtern ein hohes Beispiel weiblicher Tugend gegeben hat.49

Abbildung 19 Die preußische Königin Luise (1876-1810).

49

Zit. nach Wulf Wülfing u.a.: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991, S. 103.

62

Abbildung 20 Zeugnisbuch der (noch heute bestehenden) Luisen-Schule Bielefeld, 1926. Erstmals 1814 durch König Friedrich Wilhelm III. gestiftet und von seinen Nachfolgern stets erneuert, zuletzt 1890 durch Wilhelm II., war der Preußisch-Königliche Louisenorden (auch Luisenorden) der höchste Damenorden im Königreich. Die Zahl der mit diesem Orden ausgezeichneten Frauen, die die preußische Staatsangehörigkeit besitzen mussten, war auf 100 beschränkt. Vor allem während des Kaiserreichs, allerdings nur in Preußen, diente Königin Luise als Identifikationsfigur, deren Verehrung geradezu grenzenlos schien. Ihr Leben wurde mehrfach verfilmt, bereits 1913 erschien „Der Film von der Königin Luise“, die bislang letzte Verfilmung hieß „Königin Luise – Die preußische Madonna“ (2013). Abgesehen von einigen Kirchen und einem Krankenhaus erinnern noch heute etliche Plätze und Straßen an die Mutter Wilhelm I., sogar Schulen, etwa das Königin-Luise-Gymnasium in Erfurt, die Luisen-Realschule in Bielefeld oder die Luisen-Grundschule in Aschersleben. Wie präsent die preußische Königin auch in unseren Tagen ist, zeigt die Eröffnung der „Königin-Luise-Promenade“ in Tilsit/Russland im Juli 2018. In der Stadt gibt es bereits ein Denkmal und eine nach Litauen führende Brücke zu Ehren Luises. Ein Gedenkstein an der neu errichteten Promenade 63

trägt folgende Inschrift in russischer und deutscher Sprache: „Im Gedenken an Luise – Königin der Herzen – und im Geiste deutsch-russischer Völkerverständigung. Gespendet von den einstigen Bewohnern der Stadt Tilsit.“50

Abbildung 21 Vor allem in Ländern, die einst zu Preußen gehörten, erinnern noch heute zahlreichen Straßen an Königin Luise, hier das Straßenschild der Luisenstraße in Bielefeld.

Abbildung 22 a und b Nachdem 1989 die Deutsche Bundespost innerhalb ihrer Dauerserie „Frauen der deutschen Geschichte“ Königin Luise auf einer 250Pfennig-Briefmarke herausgebracht hatte, war sie 2018 erneut auf einer 85Cent-Sonderbriefmarke abgebildet; mit ihrer Schwester Friederike als Teil der „Prinzessinnengruppe“ von Johann Gottfried Schadow.

50

Preußische Allgemeine Zeitung (PAZ), 5.10.2018.

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Bismarcks Geburtstag (1. April) Mitte Juli 2014 berichteten die Medien mehr oder weniger ausführlich über den 60. Geburtstag der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Solche Berichterstattung hat Tradition. In der vermeintlich „guten alten Zeit“ ließ die Presse ihre Leser teilhaben an den Feierlichkeiten zu runden oder halbrunden Geburtstagen der Monarchen oder zu Feiern anlässlich eines besonderen Ehe- oder Thronjubiläums. Doch kein Fürst, auch kein Politiker vor oder nach ihm stand bei Geburtstagen so sehr im Rampenlicht wie Bismarck, so am bzw. um den 1. April 1885 anlässlich seines 70. Geburtstages, ebenso fünf Jahre später. Vor allem aber wurde Bismarcks 80. Geburtstag im Jahre 1895 reichsweit als „nationales Fest“ begangen. In den meisten deutschen Städten waren die öffentlichen Gebäude dekoriert, die Straßen geflaggt und die Schüler hatten sogar schulfrei. Nach einer Zählung wurde Bismarcks 80. Geburtstag in 64 deutschen und 15 österreichischen Städten als Feiertag begangenen, von Kleinstädten, Dörfern und Vereinen abgesehen.51 Auch Kaiser Wilhelm II. in Berlin hatte hohe Beamte, Minister sowie Angehörige des Bundesrates, des Reichsund Landtages zu einem Bankett ins Schloss eingeladen. Solch einen „Nationalfeiertag“ hatte es bislang nur bei Geburtstagen der regierenden Monarchen und am Sedantag gegeben. Zahlreiche Delegationen pilgerten nach Friedrichsruh, um dem Altreichskanzler ihre Aufwartung zu machen sowie Glückwunschschreiben und Geschenke zu überreichen. Zu den Ehrungen dieses Tages gehörten auch 439 Ehrenbürgerschaften deutscher Städte und Gemeinden. Ferner bot sich der 1. April, neben dem 2. September, als Tag der Enthüllung zahlreicher Bismarckdenkmäler an.

51

Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, S. 653.

65

Abbildung 23 Postkarte zu Bismarcks 80. Geburtstag, 1895. Auch noch nach seinem Tode im Juli 1898 wurde rückblickend Bismarcks Leistung als Politiker einer stabilen, verlässlichen Friedenspolitik anerkannt, sogar von seinen einstigen politischen Gegnern. Der Bismarckkult steigerte sich zu einer schichtübergreifenden Angelegenheit und gipfelte in nationalen Feierlichkeiten anlässlich seines 100. Geburtstages am 1. April 1915. Das heißt, im späten Kaiserreich galt der 1. April als besonderer Gedenk- und Huldigungstag, der vom Alltag ablenkte und an dem die breite Masse der Bevölkerung Bismarck würdigte. In der Weimarer Republik waren es dann monarchisch gesinnte Kreise, Burschenschaften und die Deutsche Volkspartei (DVP) sowie die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die sich weiterhin zu BismarckFeiern am 1. April trafen. Im Dritten Reich galt der Personenkult nur noch Adolf Hitler. Immerhin veröffentlichte die NSDAP-Tageszeitung „Völkischer Beobachter“ zum 1. April 1938 und damit 14 Tage nach dem „Anschluss Österreichs“ folgenden „Bismarck-Gedanken“:52

52

Völkischer Beobachter (VB), 1.4.1938.

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Wo stünden wir heute – wäre Bismarck nicht gewesen? Die Frage lässt sich nicht beantworten. Wohl aber haben wir in diesem Jahre, da die großdeutsche Einheit Wirklichkeit wurde, doppelten Anlass, des Wirkens und Werkes des Altreichskanzlers mit einem Überblick zu gedenken… Adolf Hitler aber musste erst kommen, um die neuen starken Kräfte zu wecken und zusammenzufassen, die fähig waren, die neue Einheit zu tragen; sein überlegenes Planen, Wirken und Wagen erst – im Erfolge nun deutlich jedem Volksgenossen erkennbar – schuf die Vollendung, die wir als kämpferisch bereite deutsche Menschen miterleben durften! Kennzeichnend für die Politik ist es, welche Feinde sie hatte. Bismarck war in seinem Leben zwei Attentaten aus nächster Nähe ausgesetzt: das eine verübte ein Jude, der deshalb besonders aus London nach Berlin gekommen war, das andere ein vom politischen Katholizismus verführter und verhetzter junger Mann. Wir, die wir Rassen- und Weltanschauungskämpfe unserer Zeit und die Feinde unseres völkischen Wollens kennen, erblicken jetzt klarer denn je die einheitlich-gerade Linie des einzig möglichen, wirklich deutschen Weges unseres Volkes.

Im Gegensatz zu den Presseberichten der Kaiserzeit wurde nicht mehr Bismarcks Leben und Werk gewürdigt – im Gegenteil; der langjährige Reichskanzler wurde degradiert, seine Leistung geschmälert. Aus nationalsozialistischer Sicht war Bismarck nun nichts weiter als ein Wegbereiter Adolf Hitlers und des von ihm geschaffenen „Großdeutschen Reichs“.

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Abbildung 24 Briefmarken zu Ehren Bismarcks erschienen zu seinem 150. Geburtstag (1965)…

Abbildung 25 und zu seinem 200. Geburtstag (2015).

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Gedenktag der Völkerschlacht (18. Oktober) Vor allem in Preußen war der 18. Oktober im 19. Jahrhundert ein beliebter Gedenktag, der ab 1871 auch reichsweit eine gewisse Bedeutung erlangte. An diesem Tag wurde an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 erinnert, als rund 205.000 Mann der alliierten Armeen die etwa 190.000 Mann der französischen Armee erfolgreich Richtung Westen zurückdrängen konnten. Damit waren die Befreiungskriege (1813/1815) zugunsten des Koalitionsheeres entschieden, der Herrschaft Napoleons in Mitteleuropa war ein Ende gesetzt. Vier Jahre später griffen Jenaer Studenten dieses Ereignis auf und luden protestantische Kommilitonen aus ganz Deutschland zum Wartburgfest nach Eisenach ein. Sie gedachten der siegreichen Schlacht und damit dem Ende der französischen Vorherrschaft über Deutschland, zugleich aber feierten sie das 300. Reformationsjubiläum. Wie präsent die Erinnerung an die Befreiungskriege im 19. Jahrhundert war und wie gerne Jubiläen inszeniert und instrumentalisiert wurden, belegen auch die Monumentalbauwerke in Kelheim/Bayern und in Leipzig. Von König Ludwig I. von Bayern bereits 1842 in Auftrag gegeben, entstand nach Plänen von Friedrich von Gärtner bzw. Leo von Klenze bei Kelheim, oberhalb der Donau, die Befreiungshalle, die anlässlich des 50. Jahrestags der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1863 eingeweiht wurde. Und in Leipzig erinnert, umgeben von einer 80.000 Quadratmeter großen Parkanlage, das Völkerschlachtdenkmal, das größte Denkmal Europas, ebenfalls an die Befreiungskriege. Eine erste Grundsteinlegung am Ort der Niederlage Napoleons fand schon zum 50. Jahrestag der Schlacht statt, doch erst ein 1895 ausgeschriebener Ideenwettbewerb führte zu einer erfolgreichen Grundsteinlegung am 18. Oktober 1898. Genau 15 Jahre später weihte Kaiser Wilhelm II. diesen kolossalen „Tempel für Tod und Freiheit“ ein, heute das wichtigste Wahrzeichen der Stadt Leipzig.53 Anlässlich dieser Einweihung und der Jahrhundertfeier der Schlacht wurde am bzw. um den 18. Oktober 1913 im ganzen Reich gefeiert. Zahlreiche Veröffentlichungen,

53

Volker Rodekamp: Völkerschlachtdenkmal, Altenburg 2003.

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Zeitungsartikel, Gedenkmünzen und sonstige Devotionalien stimmten auf dieses Ereignis ein, überall erklang Militärmusik, es fanden Fackelzüge und in den Schulen Turnveranstaltungen statt. 54 Zu den weiteren Denkmälern, die an einem 18. Oktober eingeweiht wurden, zählen das pompöse Kaiser-Wilhelm-Denkmal bei Porta Westfalica/Wiehengebirge (1896); das insgesamt 88 Meter hohe Bauwerk ist, nach dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das zweitgrößte Denkmal in Deutschland. Enthüllt wurden an diesem denkwürdigen Tag ebenso die Reiterstandbilder für den ersten Kaiser des Reiches in Siegen (1892), Bremen (1893), Elberfeld (1893), Mannheim (1894), Düsseldorf (1896) Karlsruhe (1897) oder Aachen (1901). Und anlässlich Bismarcks zehnten Todestag verfügte im katholischen Bayern Prinzregent Luitpold die Aufnahme der Büste des Reichskanzlers in die Walhalla. Bei diesem Festakt am 18. Oktober 1908 wurde der ehemalige Kanzler als „größter ungekrönter Walhalla-Genosse“ gefeiert.55

Abbildung 26 15-Pfennig-Briefmarke „Völkerschlachtdenkmal“, DDR 1988.

54

55

Massenhaft verbreitet wurde z. B: Die Befreiung 1813-1814-1815. Urkunden, Berichte, Briefe, hg. von Tim Klein, München 1913. Bismarck-Bund, Mai 1908, S. 63.

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Wie beschrieben, war der 18. Oktober im Kaiserreich ein identitätsstiftender Gedenktag, dem eine noch größere Aufmerksamkeit zuteil gekommen wäre, hätte Kaiser Friedrich III. länger gelebt. Dieser Tag nämlich, sein Geburtstag, wäre dann arbeitsfreier Nationalfeiertag im ganzen Reich gewesen! Vom Tode abgesehen, widmete ihm die Presse nur zweimal eine ausführliche Würdigung: Sonderberichte erschienen am 18. Oktober 1881 anlässlich des 50. Geburtstages des Kronprinzen und am 18. Oktober 1888, ein halbes Jahr nach seinem Ableben, zu seinem Gedächtnis. Die Bedeutung des einst so wichtigen und gefeierten Tages ist längst in den Hintergrund getreten, immerhin erinnerten die DDR 1988 mit einer 15-Pfennig-Briefmarke und die Deutsche Post 2013 an die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig, des größten Nationaldenkmals Deutschlands, vor 75 bzw. 100 Jahren.

Abbildung 27 45-Cent-Sonderbriefmarke "100 Jahre Völkerschlachtdenkmal", 2013.

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Fazit Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches war in Mitteleuropa eine neue politische Macht entstanden, die ihre Rolle auf dem Kontinent erst noch finden musste. Der neue, territorial und wirtschaftlich mächtige Nationalstaat vereinte bislang heterogene Gebiete und Völkerschaften. Ein zentraler, reichsweiter Feiertag, nun symbolischer Ausdruck der neuen Einheit, hätte eine integrative Funktion übernehmen können, doch verblieb die Kompetenz der Feiertagsgesetzgebung bei den Bundesstaaten. Immerhin wurde in allen Ländern mit Veranstaltungen am und zum Sedantag Anfang September schichtübergreifend das entscheidende militärische Ereignis von 1870 gefeiert. Stand in den ersten Jahren der Sieg über Frankreich im Vordergrund, so wurde zunehmend die Reichsgründung und Einheit gewürdigt. Das neue Volksfest, meist über mehrere Tage veranstaltet, war nicht nur politisch, sondern auch kirchlich motiviert. Traditionsreicher dagegen waren die „Kaisergeburtstage“, die ein offizieller Festtag und die, vor allem in Preußen, von gewissem Personenkult geprägt waren. Huldigungsfeiern zu Ehren der Monarchen gab es nämlich bereits seit Jahrzehnten in fast allen Ländern. Sie waren fester Bestandteil im Feierjahr der Hofgesellschaft, des Militärs, der Beamtenschaft und der Honoratioren, während sich die Arbeiter und Schüler über einen freien Tag freuten. Von vergleichbarem Charakter war der „Reichsgründungstag“, der bereits in Preußen, dem größten und einwohnerstärksten Land innerhalb des Kaiserreiches, als Gründungstag des Königreiches arbeitsfrei war; die Festkultur konnte sich hier auf Kontinuität berufen. An allen Tagen galt es jedenfalls, Loyalität gegenüber Kaiser und Reich zu zeigen; diese etablierte Verbundenheit wurde endgültig erst durch die neuen Feiern ab 1933, die im Zeichen des Hakenkreuzes standen, aufgelöst.

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III. Weimarer Republik Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und in den wirtschaftlich desolaten Anfangsjahren der Weimarer Republik mangelte es an Staatssymbolen, die von der breiten Bevölkerung akzeptiert wurden. Wie im Kaiserreich blieb die Feiertagsregelung eine Angelegenheit der Länder. Die Reichsverfassung gab zunächst keine Auskunft über einen Staatsfeiertag. In Artikel 139 hieß es lediglich: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Unter Schutz gestellt waren damit die kirchlichen Feste Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Bußtage, Fronleichnams- und Reformationstag.

Verfassungstag (11. August) Am 11. August 1919 unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert wärend seines Urlaubs in Schwarzburg / Thüringen die Verfassung der seit 9. November 1918 bestehenden (Weimarer) Republik, nachdem eine deutliche Mehrheit der Nationalversammlung diese am 31. Juli verabschiedet hatte. In Kraft trat die erste demokratische Verfassung, mit der das Deutsche Reich zu einer föderativen Republik mit einem gemischt parlamentarischen und präsidialen Regierungssystem wurde, per Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt vom 14. August 1919. Folglich bot sich der 11. August, der „Verfassungstag“, als deutscher Nationalfeiertag an. Doch schon im nächsten Jahr verzichtete die Reichsregierung auf eine Beflaggung, da „man in einer Zeit der nationalen Erniedrigung nicht gut flaggen könne“.56 Erst 1921 fand in der Berliner Staatsoper eine erste Verfassungsfeier statt, bei der der württembergische Staatspräsident Johannes Hieber die Ansprache halten sollte. Für den erkrankten Festredner übernahm dann Reichskanzler Joseph Wirth diese 56

Zit. nach Scheellack, S. 182.

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Aufgabe. Das Opernhaus, das mehr Plätze als das Reichstagsgebäude bot, war in den Farben Rot und Gold dekoriert. Zu den Anwesenden gehörten, neben Reichspräsident Ebert, alle Reichsminister, die Minister der Länder, Reichstags- und Landtagsabgeordnete der DDP, der SPD, des Zentrums und der DVP sowie zahlreiche Vertreter aus Wissenschaft, Kunst, Industrie und Handel. Die Feierstunde wurde musikalisch umrahmt mit Werken von Carl Maria von Weber und Beethoven, interpretiert vom stadtbekannten Blüthner-Orchester. Der Reichskanzler appellierte an den Zusammenhalt des Volkes:57 In ernster Stunde haben wir uns zusammengefunden, um gemeinsam den Tag zu begehen, an dem vor nunmehr zwei Jahren in Weimar das Verfassungswerk beendet worden ist. In ernster Stunde sind wir zusammengekommen, in der über das Schicksal Deutschlands und vielleicht auch Europas drüben in Paris die Würfel geworfen werden. Darum keine laute Feier, kein äußerer Glanz … Wir wollen offen reden: Ziel und Sinn unserer politischen Lebensarbeit ist die Rettung des deutschen Volkes, ist die Sicherung seiner nationalen Einheit, die Wiederbegründung seiner materiellen Wohlfahrt. Beides ist nach unserer Auffassung nur möglich durch die demokratische deutsche Republik. So findet der deutsche Nationalgedanke seinen festen Ausdruck in der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 … Wo wäre das deutsche Volk hingekommen, wenn nicht die Nationalversammlung, die inneren Gegensätze zurücklassend, alle Kräfte an die Schaffung der Reichsverfassung gesetzt hätte? Das Jahr 1918 brachte die schmerzliche und ungeheuerlich sich auswirkende Tatsache des verlorenen Krieges. Die staatliche Autorität war geschwunden, das Chaos schien sich vorzubereiten. Teile des deutschen Volkes richteten den Blick nach dem Osten, aus dem das Heil kommen sollte. Da setzte das Ringen um die Erhaltung der demokratischen Grundlage des Staatswesens ein, um das System der Repräsentation und um die Verfassung…Es war ein nationalpolitisches, vielleicht ein weltpolitisches Ereignis, dass sich damals, die übergroße Mehrheit des Volkes zusammenfand in der

57

Berliner Tageblatt, 12.8.1921.

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Forderung, dass die alte Form des modernen Staates, die nationale Repräsentation, als System beizubehalten sei … Die Verfassung ist Menschenwerk. Viele ihrer Bestimmungen sind durch die Zeit der Entstehung bedingt. Aber die großen Prinzipien, welche die Verfassung tragen, liegen in der Richtung der großen geschichtlichen Entwicklung und werden Bestand haben, so lange die großen geschichtlichen Voraussetzungen gelten. Diese Prinzipien sind: Ableitung der Regierungsgewalt von dem Volkswillen…also Demokratie, Bestimmung der Staatsform durch den Willen des Volkes, Versöhnung der Klassen und Stände durch sozialen Geist der Gesetze und, alles beherrschend und überragend, die Einheit des Reiches bei Aufrechterhaltung seiner geschichtlich gewordenen Länderstruktur … Ohne die demokratisch-republikanische Basis des staatlichen Lebens wäre es nicht möglich gewesen, den verwickelten Problemen des öffentlichen Lebens, den wirtschaftlichen Daseinsbedingungen und den sozialen Gegensätzen und Konflikten der Zeit überhaupt näher zu treten. Das furchtbare Erbe des Krieges, das mit atlasschwerer Wucht auf unseren Schultern lastet, kann nur getilgt werden, wenn an Stelle des Obrigkeitsstaates der Volksstaat steht. Aber kann der Krieg liquidiert werden, wenn ein Teil des Volkes in ablehnender Stellung steht zum Volksstaate? Kann das geschehen, wenn nicht das Volk bis in seine letzten Kreise hinein den geschlossenen eisernen Willen hat, sein alles daran zu setzen für das Reich, seine Einheit und für das deutsche Vaterland? Die Antwort kann nur: Nein sein. Nur durch Zusammenfassen aller Kräfte, nur durch Mitwirkung auch der breitesten Massen des Volkes wird es möglich sein, das unendlich schwere Los, das aus schicksaldurchstürmter Zeit uns geblieben, zu tragen und nach Jahren der Arbeit und der Opfer auch schließlich zu meistern. Darum musste die Verfassung von Weimar eine demokratische sein, das erfordert die Logik der Entwicklung … Jene Welt der Freiheit und Gerechtigkeit ist die ewig bleibende…wir werden dem Gedanken der sozialen Freiheit und sozialen Wohlfahrt folgen, wir werden aufwärts schreiten, wenn wir nur selbst dem treu sind, was in den Gründungsgedanken der Verfassung in schwerer Stunde niedergelegt ist.

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Die Presse bescheinigte der Verfassungsfeier, sie könne „als Sinnbild dafür genommen werden, dass die neue Reichsverfassung an Leben gewinnt, dass sie Gemeingut der schaffenden und aufbauenden Stände und Kreise wird“: Ein solcher Erinnerungstag tut not … Allmählich setzt sich für den Verstand wie für das Gefühl die Einsicht durch: es gibt keine andere Möglichkeit für den nationalen Einheitsstaat als die deutsche Republik. Keine andere Grundlage für diese als die Demokratie. Keine andere Form als den Parlamentarismus.58

Abbildung 28 Am 11. August 1919 unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert die Verfassung des Deutschen Reiches, hier eine Postkarte des Reichspräsidenten anlässlich seines Todes, 1925. 1922, im Rahmen der Republikschutz-Gesetzgebung, die aufgrund des Mordes an Reichsaußenminister Walther Rathenau erlassen worden war, erhielt der Verfassungstag den Rang eines „Nationalfeiertags des deutschen Volkes“, 58

Ebd.

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er war aber kein reichsweiter gesetzlicher (und damit arbeitsfreier) Feiertag. Die Rechtsparteien lehnten den 11. August als Nationalfeiertag ab, sie bevorzugten, wie auch führende Persönlichkeiten und große Teile der Bevölkerung, weiterhin den 18. Januar, den einstigen Reichsgründungstag. Dennoch hielt die Reichsregierung an einer besonderen Feiertagsgestaltung des 11. August fest und stellte die Feier im Jahr 1922, die nun im Reichstag stattfand, unter das Motto „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Reichspräsident Ebert hielt an diesem Tage nicht nur eine Ansprache, sondern er erklärte zudem das 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben gedichtete „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne:59 Vor drei Jahren, am 11. August, hat sich das deutsche Volk seine Verfassung gegeben, das Fundament seiner Zukunft. Diesen Tag wollen wir, trotz aller Not der Gegenwart, mit Freude und Hoffnung begehen. Wir wollen keinen Bürgerkrieg, keine Trennung der Stämme. Wir wollen Recht. Die Verfassung hat uns nach schweren Kämpfen Recht gegeben. Wir wollen Frieden. Recht soll vor Gewalt gehen. Wir wollen Freiheit. Recht soll uns Freiheit bringen. Wir wollen Einigkeit. Recht soll uns einig zusammenhalten. So soll die Verfassung uns Einigkeit, Recht und Freiheit gewährleisten. Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Lied des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck, er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten. Sein Lied, gesungen gegen Zwietracht und Willkür, soll nicht Missbrauch finden im Parteikampf; es soll nicht der Kampfgesang derer werden, gegen die es gerichtet war; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung. Aber so, wie einst der Dichter, so lieben wir heute, „Deutschland über alles“. In Erfüllung seiner Sehnsucht soll unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Sang von Einigkeit und Recht und Freiheit der festliche Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle sein …

Nun hatte die Weimarer Republik ihre Nationalhymne, aber noch immer nicht ihren gesetzlichen Feiertag. Im Jahr 1923 stand die Feier in Verbindung 59

Zit. nach Ulrich Günther: … über alles in der Welt? Studien zur Geschichte und Didaktik der Deutschen Nationalhymne, Neuwied 1966, S. 109.

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mit einem „Rhein- und Ruhr-Tag“, alle Ansprachen thematisierten die seit Januar des Jahres anhaltende Besetzung des Rheinlandes und des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen. Ein Jahr später wiederum, anlässlich des 5. Jahrestages, waren die öffentlichen Gebäude reichsweit beflaggt und Arbeitnehmern, die an Festveranstaltungen und Gottesdiensten teilnehmen wollten, wurde Dienstbefreiung gewährt. Nach und nach etablierte sich der Verfassungstag, zumal für die Ausgestaltung der zentralen Feier aus Berlin seit 1921 der Reichskunstwart Edwin Redslob zuständig war. Er sollte eine Verbindung zwischen Regierung und Volk schaffen. Gemäß dieser Idee fand während der offiziellen Feier im Reichstag vor dem Gebäude ein Volksfest mit Militärmusik statt. Dennoch scheiterten mehrere Initiativen von SPD und DDP, den 11. August endlich zum reichsweiten gesetzlichen (und damit arbeitsfreien) Feiertag zu proklamieren, der Verfassungstag wurde trotz aller Bemühungen kein Symbol demokratischen Selbstverständnisses. Es blieb weiterhin den einzelnen Ländern überlassen, ob sie den Tag zum gesetzlichen Feiertag erhoben oder nicht. In Baden war der Verfassungstag seit 1923, im Volksstaat Hessen seit 1929 ein staatlich anerkannter Feiertag.60 1927 führten alle Reichsbehörden für den 11. August den Sonntagsdienst ein, d. h. der Dienst endete bereits um 13 Uhr, so dass die Arbeitnehmer an Veranstaltungen teilnehmen konnten (ohne Verdienstausfall). Der offizielle Festakt fand vormittags im Reichstag statt, abends trafen sich Tausende Zuhörer zu einer Kundgebung in der Charlottenburger Funkhalle, die auch von mehreren Rundfunksendern übertragen wurde, ein Fackelzug vom Kaiserdamm zum Lustgarten beendete den Feiertag. Harry Graf Kessler, der bekannte Chronist dieser Jahre, notierte in sein Tagebuch: Verfassungstag. Fahrt durch die innere Stadt…Die Regierungsgebäude alle beflaggt, auch die Omnibusse, Elektrischen, Untergrund, die großen privaten Geschäftshäuser, Warenhäuser, Hotels und Banken meistens nicht oder nicht in den Reichsfarben. An den anderen Privathäusern mäßige 60

Bereits im Juli 1932 beschloss die inzwischen antirepublikanische Mehrheit des hessischen Landtags ein Abänderungsgesetz, mit dem der Verfassungstag seinen Status als gesetzlicher Feiertag verlor.

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Beflaggung in Schwarz-Rot-Gold. Aber alles in allem wohl mehr Flaggen als in den früheren Jahren.61

Ausgerechnet in diesem Zusammenhang meldete sich Joseph Goebbels, seit Mai 1928 Reichstagsabgeordneter der NSDAP, erstmals im Parlament zu Wort. Am 10. Juli 1928 nutzte er seinen Auftritt, um den Verfassungstag zu diffamieren. In seinem Tagebuch vermerkte er: Ich habe zum ersten Male im Reichstag geredet. Unter endlosem Lärm diesen Schweinen die Meinung gegeigt, dass ihnen Hören und Sehen verging. Und gesessen hat´s. Die Sensation des Reichstags. Wie wird morgen die Journaille wettern!62

Vorausgegangen war die Beratung über den „Gesetzentwurf über den Nationalfeiertag":63 § 1 der Regierungsvorlage lautet: „Nationalfeiertag des deutschen Volkes ist der Verfassungstag (11. August). Er ist gesetzlich anerkannter Feiertag im Sinne des Artikels 130 der Reichsverfassung." Mit der Beratung wird verbunden der kommunistische Antrag auf Einsetzung des 1. Mai als gesetzlichen Feiertag, ebenso der Antrag der Deutschnationalen auf Bestimmung des 18. Januar zum Nationalfeiertag. Reichsinnenminister Severing begründet den Gesetzentwurf: Vor genau sechs Jahren haben Zentrum, Sozialdemokraten und Demokraten einen Initiativantrag gleichen Inhalts eingebracht. In den verflossenen sechs Jahren hat der Gedanke des Verfassungstages im Volke Wurzeln geschlagen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll also eigentlich nur 61

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63

Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt/M. 1961, S. 529. Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 1/III, München 2004, S. 50f. Karlsruher Zeitung, 11.7.1928.

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der bestehende Zustand gesetzlich sanktioniert werden. Gegen den 11. August wird eingewandt, dass er in die Schulferien und in die landwirtschaftlichen Erntearbeiten fällt. Die Verfassungsfeiern können so gestaltet werden, dass auch die Jugend daran teilnehmen kann. Hinsichtlich der Erntearbeiten werden die Landes- und Kommunalverwaltungen Ausnahmen vom § 1 des Gesetzes zulassen können. Als seinerzeit der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte in einem Beschluss die Einberufung der Nationalversammlung beschloss, da wurde dieser Beschluss auch von den Kreisen begrüßt, die heute an der Weimarer Verfassung kein gutes Haar lassen. Alle Bemühungen der Obersten Heeresleitung, von Hindenburg, usw. wären zwecklos geblieben, wenn sich nicht damals die Arbeiterorganisationen mit ihrem Verwaltungsapparat in den Dienst der allgemeinen und nationalen Sache gestellt hätten. Der 11. August habe das vollendet, was der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte begonnen habe, er habe den Rechtsboden geschaffen, auf dem heute im Sinne des Fortschrittes auf politischem, sozialem und kulturellem Gebiete weiter gearbeitet werden könne. Auch die Tatsache, dass sich das deutsche Volk, wie es in der Verfassung heiße, diese Verfassung selbst gegeben habe, rechtfertige es, den Tag ihrer Schöpfung zum Feiertag zu erheben. Nicht alles in dieser Verfassung ist vollkommen, vieles ist noch Verheißung; aber schließlich war auch die Bismarcksche Verfassung nicht der staatspolitischen Weisheit letzter Schluss. Die Weimarer Verfassung hat mit der Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für Reich, Länder und Gemeinden ein einigendes Band um alle Schichten des deutschen Volkes geschlungen, das sich auch in den bösesten Tagen bewährt hat. Der 18. Januar wird um deswillen niemals ein wirklicher Nationalfeiertag für die breiten Massen werden, weil mit der Gründung des Bismarckschen Reiches der Gedanke an das Dreiklassenwahlrecht verbunden ist. Der 9. November als Geburtstag der Republik ist auch wenig geeignet, denn am 9. November gab es keinen Bastillensturm, sondern den endgültigen Zusammenbruch eines Systems, das schon vorher Tag für Tag morscher geworden war. Der 11. August, an dem die Weimarer Verfassung in Kraft trat, ist der Tag des nationalen Aufbaues,

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der Wiedergewinnung des nationalen Selbstvertrauens. Abg. Sollmann (Soz.) erklärte: Der 18. Januar als Tag der Reichsgründung sei unmöglich und würde der geschichtlichen Logik widersprechen. Ebenso der kommunistische Antrag, den 1. Mai zum Feiertag zu machen...Der deutschnationale Abgeordnete Schlange wandte sich gegen den Entwurf und hielt es für angebracht, statt eines nationalen Feiertages, einen nationalen Trauertag einzuführen. Abg. Bell (Ztr.) stimmte grundsätzlich dem Gedanken des Nationalfeiertages zu, forderte aber, da der 11. August mitten in die Erntezeit falle, entweder die Festsetzung des dem 11. August folgenden Sonntage, oder eines weder in die Erntezeit noch in die Schulferien fallenden Werktages als Nationalfeiertag und beantragte die Überweisung an den Rechtsausschuss. Der kommunistische Abg. Dietrich, Berlin, wandte sich gegen die Vorlage und trat für den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag ein. Abg. Dr. Modenbauer (D.Vpt.) war der Meinung, dass der Tag für einen Nationalfeiertag erst gekommen sei, wenn der letzte Franzose die deutsche Erde verlassen habe, oder wenn der Zusammenschluss mit Österreich erreicht sei... Die Abg. Dr. Herlacher (D. Vpt.) und Dr. Wendthausen (Chr. Nationale Bauernpartei) bekämpften die Vorlage, desgl. der nationalsozialistische Abg. Dr. Göbbels, während Abg. Fehr (Deutsche Bauernpartei) sich zwar nicht grundsätzlich gegen eine Nationalfeier erklärte, jedoch gegen den 11. August wegen der damit zusammenfallenden Ernte Verwahrung einlegte. Mit 214 gegen 136 Stimmen wurde sodann die Überweisung der Vorlage an den Rechtsausschuss beschlossen. Es kommt zu zahlreichen Zwischenrufen. Um 7½ Uhr vertagt sich das Haus auf Mittwoch 15 Uhr.

Die Debatte um den Gesetzesentwurf zeigte eindrucksvoll, wie sehr der 11. August als Nationalfeiertag parteipolitischen Interessen unterlag. Für die Sozialdemokraten, die bei der Reichstagswahl im Mai 1928 mit fast 30 % 81

bzw. 153 von 491 Mandaten die weitaus stärkste Fraktion im Parlament stellten, galt eine Feier am Verfassungstag als Bekenntnis zu der am 9. November 1918 entstandenen Republik. Die liberalen und konservativen Parteien dagegen lehnten den 11. August als „Zwangsruhetag“ ab. Mit der Begründung, das „verarmte Deutschland“ könne sich einen „neuen Tag der Arbeitsruhe“ nicht leisten, sprachen sie sich gegen den Gesetzesentwurf aus.64 Letztlich offenbarte die Diskussion zwei geradezu feindliche Lager im Reichstag. Auch der Rechtsausschuss kam zu keinem Ergebnis, folglich veranstalteten die einzelnen Länder weiterhin Verfassungsfeiern ohne eine gesetzliche Regelung. Der zehnte Jahrestag der Verfassung im August 1929 wurde groß gefeiert. Die Presse brachte bebilderte Rückblicke auf die Unterzeichnung der Verfassung, stellte die „Verfassungsväter“ vor und zeichnete überwiegend ein positives Bild des Verfassungswerkes und der Republik. Der 11. August, ein Sonntag, sollte als Volksfest begangen werden, folglich war die Hauptstadt festlich dekoriert: der Franz-Joseph-Platz am Opernhaus, wo eine Tribüne errichtet worden war, stand voller Lorbeerbäumen und weiterer Grünpflanzen, über der Friedrichsstraße war ein Triumphbogen gespannt und zahlreiche Fahnenmasten mit Flaggen in Schwarz-Rot-Gold bereicherten das Zentrum. Am Vortag der Verfassungsfeier waren 23 Sonderzüge aus dem ganzen Reich eingetroffen, ein großer Zapfenstreich am Abend des 10. August eröffnete die Veranstaltungen. Der Berliner Magistrat hatte folgenden Aufruf erlassen:65 Vor zehn Jahren – am 11. August 1919, dem Ehrentage der Deutschen Republik – hat sich das deutsche Volk, „einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“ seine Verfassung gegeben! Dieses große Werk von Weimar, das in unserem Vaterlande den Grundstein für eine starke Demokratie legte und diese mit freiheitlichem und sozialem Geiste erfüllte, ist zum wahren Lebensbuche des deutschen Volkes geworden. Bei aller politischen, wirtschaftlichen und

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WZ, 11.7.1928. Berliner Volks-Zeitung, 10.8.1929.

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seelischen Not, die uns noch bedrückt und für lange Zeit nicht von uns genommen werden soll, kann uns ein Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Deutschen Republik und des deutschen Verfassungswerkes nur mit Stolz und Freude erfüllen. Die Weimarer Verfassung hat nach den Ideen der Besten unseres Volkes einen Volksstaat aufgebaut, der, geliebt und gestützt von der Gesamtheit der deutschen Bürger, schon nach dem ersten Jahrzehnt seines Bestehens eine nationale Einheit für alle Zeiten sichern konnte und zur Heimstätte wahrer Freiheit und Gerechtigkeit geworden ist. Bürger unserer Stadt! Lasst uns, beseelt von starkem Glauben an unsere Zukunft, rastlos weiter schaffen im Dienste und zum Besten des Volksganzen! Gelobt am 11. August, der Verfassung der Deutschen Republik getreulich und mit aller Kraft und Hingabe zu dienen und zeigt zur Bekräftigung eures Treuegelöbnisses das Banner deutscher Einheit und Größe: die Farben Schwarz-Rot-Gold!

Die Verfassungsfeier der Reichsregierung fand am 11. August mittags im Reichstag statt, bei der Reichsinnenminister Carl Severing die Festrede hielt:66 Die Demokratie von Weimar ist nicht erst in Weimar gewachsen, sondern langsam herangereift auch in der Vergangenheit unter der alten Staatsform. Das Werk des Freiherrn vom Stein, die Kämpfe der Achtundvierziger der Paulskirche, das allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht, die Selbsterziehung in den sozialpolitischen Körperschaften der Arbeiterschaft, all das sind Meilensteine auf dem Weg zur Demokratie … Der äußere Friede, den die Republik erstrebt in der Präambel der Verfassung ist nicht … der weichliche Pazifismus, der es ablehnt, die Grenzen des Landes, die Substanz des Landes, die Kultur des Landes gegen fremde Angriffe zu verteidigen. Unser Friedenswille ist geboren aus der Erkenntnis, dass ein neuer Krieg in Europa, ein neuer Krieg in der Welt die Gefahr in sich schließt, die Kultur der Welt endgültig zu begraben…

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Ebd., 12.8.1929.

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Für das Deutschland des brüderlichen Zusammenhalts, für dieses Deutschland der Solidarität aller Stände, für dieses Deutschland kämpfen wir und schaffen wir. An dieses Deutschland glauben wir, und dieses Deutschland wird von innen heraus und von außen her unüberwindlich sein. Das beweist uns die Betrachtung der letzten zehn Jahre; das beweisen uns die Erfolge unseres gemeinsamen Schaffens in der deutschen Wirtschaft, das beweist uns der Tag, den wir heute begehen: Ursprünglich eine Verfassungsfeier, die nur dem Gedenken an die Verabschiedung des Verfassungswerkes gewidmet war; heute schon ein Tag der Republik und der Republikaner, und, lassen Sie mich die Hoffnung an diese Feststellung knüpfen: morgen und in nächster Zukunft ein Tag der deutschen Nation.

In Vertretung des erkrankten Reichskanzlers Hermann Müller sprach Reichswehrminister Wilhelm Groener. Er erinnerte auch an den 1925 verstorbenen Friedrich Ebert, dessen Nachfolge als Reichspräsident der bekannte Weltkriegs-General Paul von Hindenburg angetreten hatte:67 Das deutsche Volk begeht heute zum zehnten Male die Feier des Tages, an dem die republikanische Verfassung Rechtskraft erlangt hat. Wir gedenken pietätvoll der Vergangenheit, geben Rechenschaft über die letzten zehn Jahre und geloben, für die Gestaltung der Zukunft unser Bestes einzusetzen. Dankbarkeit und Pflicht mahnen uns, an dem zehnjährigen Gedenktage der Weimarer Verfassung des ersten Präsidenten der deutschen Republik zu gedenken, dessen lautere Liebe zu seinem Vaterland uns Wegweiser war. Wir beugen uns mit Ehrfurcht vor der hehren Gestalt unseres jetzigen Reichspräsidenten, der uns in Deutschlands schwerster Zeit Führer war und dessen Leben und Arbeit auch künftighin unser Symbol ist. Das in der Republik geeinte deutsche Volk es lebe hoch!

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Ebd.

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Der gemeinsame Gesang der ersten und dritten Strophe des Deutschlandliedes beendete die offizielle Feier im Reichstag. Im Anschluss schritten Reichspräsident von Hindenburg, Reichstagspräsident Paul Löbe und die Regierungsvertreter die Ehrenkompagnie vor dem Reichstagsgebäude ab. Auch die Kirchen hatten sich mit Gottesdiensten und einem viertelstündigen Glockengeläute beteiligt. In allen Stadtteilen Berlins fanden Volksfeste statt; das Motto lautete: „Verfassungstag ist Volkstag“. Eine der publikumswirksamen Veranstaltungen war das Stadionfest mit rund 9000 Kindern aus Berliner Schulen. Das vielseitige Programm an diesem Sontag bot weiterhin Sport-, Auto- und Luftfahrtveranstaltungen. Abends wurden in den großen Konzert- und Opernhäusern klassische Musik und Opern aufgeführt. In der Kroll-Oper fand mit der Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold die größte Feier statt.

Abbildung 29 a und b Gedenkmünze zu 3-Reichsmark zum 10. Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung (Vorder- und Rückseite). Wie im Kaiserreich, wurden an diesem besonderen Tag Beförderungen vorgenommen. Die beabsichtigte Herausgabe einer Sonderbriefmarke entfiel zwar, doch anlässlich des Jubiläums gab die Reichsbank zwei Gedenkmünzen zu 3- und 5-RM aus Silber heraus. Ganz Berlin sollte einem Flaggenmeer gleichen, doch mangels Material musste auch darauf verzichtet werden. Ein Lichtblick war allerdings der Besuch junger Franzosen, wie die Zeitschrift „Der WeltSpiegel“ vom 11. August 1929 mitteilte:68 68

Der Welt-Spiegel, Nr. 32, 11.8.1929, S. 5.

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Vierzig Schüler aus Frankreich sind im Berliner Rathaus als offizielle Gäste des Magistrats empfangen worden, bevor sie ihre Quartiere im städtischen Landschulheim Birkenwerder bezogen. Dort verleben sie die Ferien mit Berliner Kameraden und erhalten von deutschen Lehrern Sprachunterricht, während ein französischer Lehrer die deutschen Jungen im Französischen unterweist. Diese Unterrichtsstunden sind aber nur Erholungspausen nach den Sport-, Spiel- Bade- und Wanderstunden, in denen die jungen Freunde sich miteinander deutsch und französisch unterhalten. Es ist ein rührender Beweis für die Völkerversöhnung, wie diese Söhne des Jahrgangs 1914, deren Väter im Felde einander gegenüberstanden, jetzt, zehn Jahre nach Friedensschluss, in Eintracht leben, spielen und lernen.

Abbildung 30 Titelblatt der Weimarer Reichsverfassung (WRV), Schülerausgabe 1919. In Art. 148 hieß es: „Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.“ Die Resonanz auf die Feierlichkeiten war überwiegend positiv, nur die Monarchisten und Kommunisten hatten sich den Veranstaltungen fern gehalten. Und Joseph Goebbels übte auch in diesem Jahr wieder Kritik. Unter dem 11. August 1929 notierte er in seinem Tagebuch: 86

Danach schauten wir den Republikfeiertag an. Das Reichsjammer! In der Tat ein Jammer! Soviel Disziplinlosigkeit und Armseligkeit sah ich selten auf einen Haufen. Kein Schwung, keine Begeisterung, keine Idee! Alles amtlich! Am Brandenburger Tor ein scheußliches Denkmal: „Allen Toten des Weltkrieges“…69

Die offizielle Berliner Verfassungsfeier 1930 stand ganz im Zeichen der „Rheinlandbefreiung“ – zum 30. Juni hatte die französische Besatzungsarmee das linksrheinische Deutschland verlassen, fünf Jahre früher als im Versailler Vertrag vorgesehen. Anlässlich der vorzeitigen Räumung der besetzten Zone wurde am 11. August in Berlin ein Massenfestspiel aufgeführt, das von ca. 50.000 Zuschauern besucht wurde. Erstmalig endete der Verfassungstag mit einer Abendfeier im Sportpalast, einer 1910 in Berlin-Schöneberg errichteten Multifunktionshalle, in der bis zu 10.000 Menschen Platz finden konnten. Während 1931 aufgrund der Wirtschaftskrise finanzielle Mittel für größere Aktivitäten fehlten und vor allem das Gedenken an den vor 100 Jahren verstorbenen Staatsmann und preußischen Reformer Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein im Vordergrund gestanden hatte, blieb es 1932 bei Ansprachen des Reichskanzlers und Reichsinnenministers. Die wirtschaftliche und die innenpolitische Lage boten keinen Grund zum Feiern. Wie eine Vorahnung lautete der Tagebucheintrag von Goebbels: „11. August, letzter Verfassungstag. Lasst ihnen die Freude.“ Auch die Berliner Börsenzeitung urteilte: Wir hatten nie Grund, den 11. August zu feiern, wir wollen diesen letzten Verfassungstag im Nachdenken begehen und im bereiten Willen zu einem neuen Reich.70

Tatsächlich fand am 11. August 1932 die letzte Feier des Verfassungstages statt. Ein halbes Jahr später war Adolf Hitler Reichskanzler, sang- und klanglos hatte fortan der 11. August als Erinnerungstag an die Unterzeichnung der 69

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Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 1/III, München 2004, S. 303. Berliner Börsenzeitung, 11.8.1932.

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Weimarer Verfassung im Jahr 1919 ausgedient, er fand im nationalsozialistischen Feiertagsjahr keine Berücksichtigung mehr. Immerhin brachte das Bundesfinanzministerium im August 2019 eine Sonderbriefmarke und eine 20-Euro-Gedenkmünze „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“ heraus.

Abbildung 31 Eine Gedenktafel am Deutschen Nationaltheater Weimar erinnert an die Ausarbeitung der Verfassung (Nachbildung der 1922 von Walter Gropius geschaffenen und 1933 von den Nationalsozialisten entfernten Bronzetafel).

Volkstrauertag Bereits 1919 hatten Abgeordnete der DNVP vorgeschlagen, den 9. November zum nationalen Trauertag zu proklamieren, um der „Millionen Gefallenen unseres Volkes“ zu gedenken. Ein Jahr später forderten Politiker von DVP, Zentrum und DNVP, den 28. Juni als Tag der Unterzeichnung des Versailler Vertrages (1919) zum allgemeinen Trauertag für die Kriegsopfer zu erklären.71 Doch dieser Gesetzesentwurf wurde von der Nationalversammlung abgelehnt. 71

Thomas Peter Petersen: Die Geschichte des Volkstrauertages, Kassel 2002, S. 9.

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Schließlich ging die Initiative für einen Volkstrauertag von dem im Dezember 1919 gegründeten „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ aus. Aus dem Gründungsaufruf des Volksbundes:72 Mehr als zwei Millionen Deutsche gaben ihr Leben für das Vaterland. Ihre Gräber liegen verlassen in fremder Erde, fern der Heimat. Nicht eine deutsche Hand bewahrt sie vor trauriger Verödung oder langsamem Verfall… An das ganze deutsche Volk ergeht der Ruf: Vergesst die Toten nicht, die mit dem Opfer ihres Lebens die Heimat vor dem Schrecken des Krieges bewahrten! Sorgt alle mit, dass die Ehrenstätten der Gefallenen würdig erhalten bleiben! Helft alle mit, dass die Angehörigen aus der Ungewissheit über den Zustand der fernen Kriegsgräber erlöst werden! Einigt Euch zur ersten Pflicht der Totenehrung!

Als Bürgerinitiative von dem Architekten Heinrich Straumer und dem Offizier Siegfried Emmo Eulen initiiert, unterzeichneten diesen Aufruf zur Gründung des Volksbundes Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, u.a. Konrad Adenauer, Otto Dibelius, Michael von Faulhaber, Gerhart Hauptmann, Paul von Hindenburg, Max Liebermann, Max Pechstein oder Walther Rathenau. Nach kontroversen Diskussionen fand die erste zentrale Gedenkfeier des Volksbundes am 5. März 1922 im Berliner Reichstag statt. Festredner war Reichstagspräsident Paul Löbe, der für Versöhnung und Verständigung unter den Völkern warb:73 Ein Volk, das seine Toten ehrt, wird ein gemeinsames Band schlingen um viele Seelen…und wird dieses Band auch ausdehnen auf die Mutter an der Wolga und am Tiber…Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe.

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Zit. nach Dienst am Menschen, S. 19. Ebd., S. 22.

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Abbildung 32 Gedenkfeier zum Volkstrauertag im Plenarsaal des Reichstages, 1. März 1925. Über die erstmals 1921 erschienene Vereinszeitschrift „Kriegsgräberfürsorge“ warb der Volksbund in der Öffentlichkeit für sein Anliegen: Gräberpflege und Unterstützung der Angehörigen von Gefallenen. Auf Wohlwollen stieß die Vereinigung auch bei Reichsinnenminister Martin Schiele, der in einem Erlass vom Januar 1925 empfahl, am Sonntag Invokavit (erster Sonntag der Fastenzeit) an öffentlichen Gebäuden halbmast zu flaggen und Gedenkfeiern zu unterstützen. So fand der erste Volkstrauertag am 1. März 1925 statt. Unerwartet blieb die Trauerbeflaggung eine ganze Woche hängen, da drei Tage zuvor Reichspräsident Ebert verstorben war. Nur in diesem Jahr gab es eine reichseinheitliche Regelung mit einer „reichsweiten Staatstrauer“. Ein Jahr später legte der Volksbund den Volkstrauertag auf den Sonntag Reminiscere (fünfter Sonntag vor Ostern). Die Gedenkfeiern fanden nun überwiegend an den inzwischen in zahlreichen Städten errichteten Gefallenendenkmälern statt. Die Nähe zum Osterfest im Frühling war mit Bedacht gewählt, denn der Glaube an die christliche Auferstehung sollte zugleich die (Wieder-)Auferstehung der Nation suggerieren. Da aber der Volkstrauertag weiterhin kein reichsweit gesetzlicher Feiertag war, begingen Länder wie Bayern und Württemberg diesen Trauertag im November. Thüringen führte den Volkstrauertag 1931 als gesetzlichen Feiertag ein und legte ihn auf den Sonntag Invokavit (erster Fastensonntag der österlichen Bußzeit). Bewusst stellten sich so die Länder gegen eine einheitliche Regelung. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde die zentrale 90

Feierstunde aus dem Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes über das damals moderne Medium Rundfunk übertragen. Auch auf lokaler Ebene waren es die einzelnen Ortsgruppen des Volksbundes, die, in Kooperation mit Vertretern der Behörde, der Kirchen und der Kriegervereine den Gedenktag für die Opfer des Krieges organisierten. Dank steigender Mitgliederzahlen (1929 rund 133.000) und damit höherer Einnahmen konnte sich der Volksbund einem umfassenden Bauprogramm in 14 Ländern widmen, wobei der Schwerpunkt seiner Tätigkeit in Frankreich lag. Zu den weiteren Aktivitäten der Organisation gehörten – wie auch heute noch – die Haus- und Straßensammlungen (seit 1931) sowie die Organisation von Reisen zu den im Ausland gelegenen Kriegsopferstätten. Der Weimarer Republik war es nicht gelungen, den Volkstrauertag reichsweit unter Schutz zu stellen, ein Verbot „öffentlicher Lustbarkeiten“ bestand also nicht; der Trauertag blieb eine Angelegenheit der Länder. Immerhin beteiligte sich die Reichswehr an den Gedenkveranstaltungen, Truppenangehörige konnten an den Gedächtnisgottesdiensten teilnehmen. Träger des Volkstrauertages war in den Jahren bis 1932 der Volksbund.

Diskussionen um den 1. Mai und den 9. November Nach dem Willen der SPD sollte, so ihr Gesetzentwurf im April 1919, der 1. Mai als allgemeiner Nationalfeiertag eingeführt werden. Der 1. Mai als „Feiertag des Weltproletariats“ hatte seinen Ausgang in den USA genommen. 1886 hatten Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen, insbesondere für den Achtstundentag gestreikt, in Chicago war es sogar bei Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und Polizisten zu Todesfällen gekommen. Im Juli 1889 wurde dann von den Delegierten der Zweiten Sozialistischen Internationalen in Paris der 1. Mai zum Tag internationaler Kundgebungen erklärt. Dieser 1. Mai-Beschluss verband das Bekenntnis zum Frieden mit den Forderungen nach einer wirksamen Arbeiterschutzgesetzgebung (z.B. Verbot der Arbeit der Kinder unter 14 Jahren, Festsetzung des 8-Stunden-Tages für jugendliche Arbeiter, Verbot der Nachtarbeit für Frauen unter 18 Jahren, ununterbrochene Ruhepausen von mindestens 36 Stunden die Woche für alle Arbeiter, Verbot der Lohnzahlung in Lebensmitteln). Erste Maifeiern fanden dann in einigen Ländern am 1. Mai 1890 bzw. am darauffolgenden Sonntag (4. Mai) statt, stellenweise auch in Deutschland. 91

In der vorangegangenen „Novemberrevolution“ von 1918 war (vorübergehend) eine zentrale Forderung von 1889 Wirklichkeit geworden: die Einführung des Achtstundentages! Doch der als „Weltfeiertag“ vorgesehene 1. Mai erhielt nur für das Jahr 1919 eine gesetzliche Grundlage, dies galt auch für das von der französischen Armee besetzte linksrheinische Deutschland:74 Der Maifeiertag: Nach einer Bekanntmachung des Oberbefehlshabers der französischen Besatzungstruppen wird der 1. Mai im ganzen von der französischen Armee besetzten Gebiet Feiertag sein. Veranstaltungen und Versammlungen sind verboten, ausgenommen, wenn sie vom kommandierenden General der Armeegruppe erlaubt werden. Jede nicht erlaubte Versammlung oder Veranstaltung, ferner jede Unruhe auf den Straßen und jede Kundgebung gegen die Alliierten werden mit Gewalt unterdrückt und die Schuldigen vor das Kriegsgericht gestellt werden.

In Frankreich war der 1. Mai als „Fété du Travail“ (Tag der Arbeit) erstmals 1919 gesetzlicher Feiertag. Etwa ein halbes Jahr nach Kriegsende verbanden viele Zeitgenossen auch in Deutschland den neuen Feiertag mit der Hoffnung auf Frieden, wie folgender Zeitungsbericht zum Ausdruck brachte:75 Jahrzehntelang hindurch haben wir am 1. Mai den Kampfruf der Internationale gehört. Als Deutschlands schwerste Stunde im August 1914 kam, verbrannten sozialdemokratische Arbeiter in Gelsenkirchen die rote Fahne und gelobten, bis zum letzten Blutstropfen zu ihrem von allen Seiten bedrohten Volke zu stehen. Die Internationale lag am Boden, und alle Versuche schlugen fehl, sie während des Krieges zu erneuern. So hatte die Vaterlandsliebe sich stärker als der Klassenkampfgedanke erwiesen. Die rote Internationale war zu schwach befunden worden, den Frieden zu tragen, denn sie war und ist selber eine Kriegserklärung und eine Verschärfung der Konflikte innerhalb der Menschheit, die ihre Aufgabe nicht im Klassenkampf, sondern als Liebesgemeinschaft erstreben muss. So werden

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WZ, 29.4.1919. Wz, 30.4.1919.

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wir auf den Völkerbund hingewiesen, dass er die Probleme löst, die der Menschheit nach den furchtbaren Erfahrungen des Weltkrieges eindringlicher denn je vor die Seele treten. Der heutige Feiertag möge beherrscht sein von Gedanken des Friedens, des Friedens in der Menschheit und des Friedens im eigenen Volke. Uns blutet das Herz, wenn wir die Desorganisation in unserem Volke sehen. Wir können nicht frohen Gemütes an einem Feste teilnehmen, während unser Volk in schwerer Krankheit fiebert, – das deutsche Bürgertum kann sich an einem Fest nicht beteiligen, das nach dem Willen seiner Urheber der Propaganda für den Klassenkampf dient. Wir kennen nur ein deutsches Volk, dem unsere Liebe gehört, und nichts inniger wünschen wir, als dass Friede in seine Seele einziehe. Dem Frieden sei der Tag gewidmet…Der Friede, den die Menschheit jetzt begründet, kann nicht von Dauer sein, wenn mit ihm nicht der Wille zu sittlicher Erneuerung einherschreitet. Ob wir es nun glauben, oder ob wir es Herr werden können, eine Wirklichkeit bleibt doch unser sittliches Streben nach Vervollkommnung! Es ist uns gegeben, dahin zu streben, dass die Völker im Frieden miteinander leben und dass sie ihre Konflikte friedlich schlichten. Das geht niemals ohne Macht, weil der Widerstreit der Interessen zu groß ist; aber umso mächtiger wird der Völkerbund sein, der jetzt gegründet werden soll, wenn er über den Egoismus der Einzelnen die sittlichen Rechte stellt, die allein dem neuen Bunde Halt und Dauer geben können. Ein Völkerbund, der Deutschland ausschließt, ist ohne sittliche Berechtigung.

Wie bekannt, wurden diese Hoffnungen enttäuscht: Das linksrheinische Deutschland blieb bis Mitte 1930 von Frankreich besetzt, der Versailler Friedensvertrag, der im Januar 1920 in Kraft treten sollte, sah sogar eine fünf Jahre längere Besatzung vor. Der ebenfalls im Januar 1920 gegründete Völkerbund schloss eine Mitgliedschaft Deutschlands zunächst aus; erst 1926 trat das Reich der internationalen Organisation bei. Die Maifeiern 1919 verliefen in ganz Deutschland ohne nennenswerte Zwischenfälle, sieht man von den allgemeinen Unruhen in München ab. Dort war wenige 93

Wochen zuvor Ministerpräsident Kurt Eisner ermordet worden, nun standen Reichswehrtruppen vor der bayerischen Hauptstadt. In Köln hatten die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) rund 15.000 Teilnehmer zu einem Umzug durch die Innenstadt mobilisieren können, mehrere Musikkapellen begleiteten den Marsch, die Stimmung glich einem Volksfest. Die Forderungen des Tages lauteten:76 Gedenkt der Kriegsopfer. Glaubt an die Zukunft, die Freiheit, die Gleichheit. Nieder mit dem Krieg. Für Völkerfrieden und Völkerbund. Das Recht auf Arbeit. Nieder mit den Dreiklassenmännern. Es lebe die Sozialdemokratie …

Auch die christlichen Gewerkschaften in Köln hatten ihre Mitglieder zu einer Versammlung geladen, um im „Sinne des Weimarer Beschlusses in diesem Jahr den 1. Mai für die Verwirklichung des Weltfriedens und des Völkerbundes“ begehen zu können; die „Verherrlichung des sozialistischen Maifeiergedankens“ lehnten sie jedoch ab.77 Aus Berlin wurde folgender Bericht mitgeteilt:78 Im Großen und Ganzen zeigte das Straßenbild Großberlins ein ödes Aussehen. Die Straßen waren leer, sämtliche Verkehrseinrichtungen versagten, deshalb waren die Familien zu Hause geblieben. Nur wenige Droschken waren auf der Straße zu sehen … Sämtliche Restaurants, Dielen und Theater waren geschlossen. Unruhen sind nirgends entstanden. Patrouillen durchzogen zu Fuß und auf Kraftwagen die inneren Teile der Stadt. In der Stadt haben die Mehrheitssozialisten sieben Versammlungen einberufen, in den Vororten 26. Die völlige Verkehrseinstellung verhinderte den Massenzustrom. Die Versammlungsplätze waren soweit auseinanderliegend gewählt, dass ein mehrstündiger Weg von der

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WZ, 2.5.1919. Ebd. Ebd.

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Wohnung zum Versammlungsplatze hätte zurückgelegt werden müssen. Die Mehrheitssozialisten hatten ihre Haupttagung am Königsplatz vor dem Reichstagsgebäude. Die Unabhängigen Sozialdemokraten führten ihre Leute im Humboldthain, im Friedrichshain und Treptower Park zusammen … In der Versammlung vor dem Reichstagsgebäude sprach Ministerpräsident Scheidemann. Er sagte u.a.: Ich bin nicht hierhergekommen als Ministerpräsident, sondern als schlichter Volksgenosse, um mit ihnen die Maifeier zu begehen. Seit 30 Jahren müht sich die Sozialdemokratie darum, in der ganzen Welt den Tag als internationalen Feiertag festlich zu begehen. Langsam und mit vieler Mühe ist es jetzt erst möglich gewesen, diesen Tag, so wie wir ihn heute feiern können, auch in Deutschland zu begehen. Seit 6 Monaten hat die Republik in Deutschland Boden gefasst. Was wir in dieser Zeit getan haben, ist ungeheuerlich groß. Viele, die nicht mit uns einverstanden sind, müssen darauf hingewiesen werden, dass die Zeit dieser 6 Monate in der Weltgeschichte nur eine Sekunde bedeutet. Und was haben wir in dieser Zeit nicht alles getan? Wir haben das ganze deutsche Volk befreit von der Diktatur der Monarchie. Wir haben dem Volke den 8-Stunden-Tag gebracht und haben die demokratischen Grundlagen verankert. Wir wissen recht wohl, dass wir noch nicht alles durchgesetzt haben … Man ist mit uns nicht zufrieden, aber auch wir von der Regierung sind mit dem Volke oft nicht zufrieden. Jedes Mal, wenn wir an unserer besten Arbeit sind, fällt uns ein Teil des Volkes in die Arme. Man streikt und verhindert so Lebensmittel zu beschaffen ... man wirft uns auch vor, dass wir die Sozialisierung nicht durchführten. Solange nicht gearbeitet wird, gehen die Betriebe zugrunde, bankrotte Betriebe können wir aber nicht sozialisieren … mit der Sozialisierung darf keineswegs experimentiert werden. Von heute auf morgen kann das nicht gemacht werden … In dieser Stunde müssen wir unsere Augen aber auch nach Versailles richten, wo unsere Delegierten bereits eingetroffen sind. Sie haben

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die schwerste Aufgabe, die je eine Friedensdelegation zu erfüllen hatte. Unsere Pflicht ist es, ihnen bei dieser schweren Aufgabe einen festen Rückhalt zu bieten. Wir erwarten einen Frieden des Rechts, einen Dauerfrieden, wie ihn die Sozialdemokratie immer verlangt hat … An die Arbeiter der ganzen Welt richten wir uns und fordern sie auf, für die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller einzutreten.

Soweit der Redeausschnitt Philipp Scheidemanns, der die damalige Stimmung anschaulich wiedergibt. Beherrschendes Thema jener Wochen waren die Verhandlungen in Versailles. Nur wenige Tage später, am 7. Mai, wurden der deutschen Delegation erste Ergebnisse der Beratungen als Vertragsentwurf vorgelegt. Der deutschen Seite blieb kaum Verhandlungsspielraum, so dass Scheidemann zurücktrat. Unter hohem Druck stimmte schließlich die Nationalversammlung für die Annahme des Friedensvertrages, der dann von Außenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnet wurde und am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Nachdem 1919 der Freistaat Gotha den 1. Mai zum „revolutionären Feiertag“ erklärt hatte, deklarieren 1920 auch die Länder Baden, LippeDetmold, Mecklenburg-Schwerin und Anhalt diesen Tag zum gesetzlichen Feiertag. Preußen als größtes Land dagegen, lehnt einen solchen Schritt entschieden ab. Für die Geschichte Mitteldeutschlands ging der 1. Mai 1920 aus folgendem Grund in die Geschichtsbücher ein: aus dem Zusammenschluss der bislang eigenständigen thüringischen Freistaaten SachsenWeimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt sowie Schwarzburg-Sondershausen und dem Volksstaat Reuß entstand das Land Thüringen; Hauptstadt wurde Weimar. Ein Jahr später wurde auch in diesem neuen Flächenstaat der 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag proklamiert. 1926 nutzte Adolf Hitler die Maifeiern des Landesverbandes Hamburg der NSDAP zu einem Redeauftritt. In der Hansestadt, ebenso in Lübeck und Braunschweig, war der 1. Mai bereits seit 1919 Feiertag. 1929 nahmen die Maifeiern in Berlin ein blutiges Ende. Bei Barrikadenkämpfen der Kommunisten kamen sieben Männer zu Tode, rund hundert Personen wurden verletzt und 1228 Menschen festgenommen. 96

Rund 10.000 Demonstranten waren unterwegs, gegen sie waren mehr als 13.000 Polizisten mobilisiert. Seitdem ist dieser Tag als „Blutmai“ bekannt. Ein Jahr später organisierte die KPD anlässlich des 40. Jahrestags der Maifeiern einen Massenstreik in der Hauptstadt, dem Tausende Arbeiter folgten. Nachdem die Maifeiern jahrelang weitgehend friedlich verlaufen waren, kam es am 1. Mai 1932 in Bremen, München, Stuttgart und Trier zu Zusammenstößen zwischen rechten und linken Gruppierungen. In der Weimarer Republik war dieser Tag vor allem ein Bekenntnistag der Sozialisten und ein Kampftag für die Forderungen der Arbeiterschaft. Von dem freien Tag profitierten nur rund 7,5 Millionen Einwohner, für die große Mehrheit der Deutschen, nämlich rund 65 Millionen Bewohner, war der 1. Mai ein gewöhnlicher Arbeits- und Schultag. Dies sollte sich ab 1933 grundlegend ändern. Ähnlich kontrovers waren in diesen Jahren die Diskussionen um den 9. November als Feiertag verlaufen. Bereits zum ersten Jahrestag, 1919, hatten in Berlin „revolutionäre Feiern“ der MSPD und der USPD (Unabhängige Sozialdemokraten) stattgefunden, auch im folgenden Jahr erinnerten diese Parteien mit entsprechenden Veranstaltungen an den Sturz des Kaisers. Am 9. November 1918 war es in ganz Deutschland zur fundamentalen Änderung der alten Ordnung gekommen. Nicht nur die Abdankung Kaiser Wilhelm II. war verkündet worden, auch alle anderen Fürsten hatten mehr oder weniger bereitwillig ihrem Thron entsagt. Die jahrhundertealte Monarchie war sang- und klanglos beseitigt worden, stattdessen bildeten sich flächendeckend „Arbeiter- und Soldatenräte“, die in den Kommunen die Regierung übernahmen. In Berlin hatte am 9. November 1918 um 14 Uhr der MSPD-Politiker und Staatssekretär Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die „deutsche Republik“ proklamiert, die dann als „Weimarer Republik“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Zwei Stunden später, um 16 Uhr, rief der Marxist Karl Liebknecht von einem Balkon des Berliner Stadtschlosses die „freie sozialistische Republik“ aus, doch er fand kaum Gehör, Scheidemann war ihm erfolgreich zuvor gekommen. In diesen unruhigen Stunden des Übergangs wurde Friedrich Ebert, der erste Reichspräsident der Weimarer Republik, kurzzeitig Reichskanzler. Einen Tag später, am 10. November trat die neue Regierung zusammen, die sich nun „Rat der Volksbeauftragten“ nannte. 97

Abbildung 33 Philipp Scheidemann ruft von einem Fenster des Reichstags die Republik aus, 9. November 1918. Daher ist es nahe liegend, dass die Sozialdemokraten für den 9. November als Feiertag plädierten, doch ihr Gesetzesentwurf stieß auf Ablehnung vor allem bei DDP, DVP und DNVP. Mit dem 9. November verbanden die einen die Abdankung des Kaisers, das Ende der Adelsherrschaft und des Krieges sowie Revolution und Neuanfang, die anderen dagegen sahen gerade in der Revolution und der Abschaffung der jahrhundertealten Monarchie keinen Grund zur Freude. So wurde nur in den Ländern Sachsen, Thüringen, Anhalt und Braunschweig der 9. November landesrechtlich zum Feiertag erklärt.79 Mit dem beabsichtigten Putsch der NSDAP in München am 8./9. November 1923 erhielt dieser Tag in jenem Jahr deutschlandweit eine große Aufmerksamkeit, doch da er nun von den Nationalsozialisten in anderer Hinsicht okkupiert schien,

79

Zu den Debatten um den 1. Mai und 9. November als Feiertag, s. Schellack, S. 136-147.

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spielt er in den kommenden Jahren im Reich keine besondere Rolle. Auch dies sollte sich dann mit dem Machtantritt Hitlers 1933 ändern; der 9. November galt den Nationalsozialisten als „Geburtsstunde der NSDAP“, die alljährlich gefeiert wurde.

Fazit Die parteipolitische Heterogenität und damit die innenpolitisch instabile Lage wirkten sich auch auf die fehlende Kompromissbereitschaft hinsichtlich eines gemeinsamen, reichsweit gesetzlichen Feiertages aus. Der vor allem in Preußen als Nationalfeiertag bevorzugte Verfassungstag war etwa in Bayern genau so wenig akzeptiert wie bei den rechten Parteien. Der 11. August war ein unpopulärer, geradezu unbequemer Feiertag, der, von 1929 und 1930 abgesehen, in der Bevölkerung kaum wahrgenommen wurde, so wie heute etwa der Verfassungstag der Bundesrepublik (23. Mai). Lediglich die „Vernunftrepublikaner“ waren sich der Bedeutung dieses Tages bewusst. Viele Deutsche trauerten dem Reichsgründungstag nach, der sich, wie der Sedantag, etabliert hatte, und mit dessen Feierlichkeiten viele Zeitgenossen groß geworden waren. Hatte 1921 Reichspräsident Ebert und die Leitung der Reichswehr des 50. Jahrestags der Reichsgründung gedacht, wiederholte sich der Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung des 18. Januar im Jahr 1931. Reichswehrminister Wilhelm Groener schrieb im November 1930 an Reichskanzler Heinrich Brüning: Gerade in unserer heutigen Lage halte ich es für notwendig, dass die Reichsregierung jede Gelegenheit ergreift, das deutsche Volk auf die Großtaten seiner nationalen Geschichte hinzuweisen. Ich bin auch überzeugt, dass die Feier dieses Jubiläums vom Herrn Reichspräsidenten, der den Reichsgründungstag persönlich miterleben durfte, freudigst begrüßt werden wird.80

80

Schreiben des Reichswehrministers Groener an Reichskanzler Brüning, 5.11.1930, zit. nach Schellack, S. 261.

99

Tatsächlich fand dann 1931 im Reichstag ein Festakt der Reichsregierung in Anwesenheit Hindenburgs statt, militärisch geprägt waren ebenso die Feiern in anderen Großstädten wie in Stuttgart oder München. Noch intensiver verankert im Bewusstsein der Menschen war nach wie vor der Sedantag, der weiterhin der Tag der Kriegervereine war, die im Jahr 1900 als Dachverband den Kyffhäuserbund gegründet hatten und die immer noch im dörflichen Vereinsleben ihre Rolle spielten. Vielerorts richteten diese Vereine die Sedanfeiern aus, die eher einem Volksfest glichen und in der Regel am ersten Septemberwochenende begangen wurden. Von integrativer Funktion war ebenso der Volkstrauertag, der bei den meisten Parteien und der Bevölkerung als Erinnerungstag an die Gefallenen des Krieges geschätzt und würdevoll-feierlich zelebriert wurde, auch wenn ihm eine gesetzliche Verankerung fehlte, wie auch eine reichseinheitliche Regelung.

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IV. Drittes Reich Das NS-Feiertagsjahr sah eine Vielzahl politisch motivierter Gedenktage vor, neben den christlichen Feiertagen, die unangetastet blieben. Die Gedenktage waren keine gesetzlich verankerten arbeitsfreien Feiertage, lediglich der 1. Mai erhielt diesen Rang. Im „Gesetz über die Feiertage“ vom 28. Februar 1934 heißt es laut Reichsgesetzblatt:81 Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: § 1 Der nationale Feiertag des deutschen Volkes ist der 1. Mai. § 2 Der 5. Sonntag vor Ostern (Reminiszere) ist Heldengedenktag. § 3 Der 1. Sonntag nach Michaelis ist Erntedanktag… 7 (2) Die Bestimmungen über die Gestaltung der nationalen Feiertage (§§ 1 bis 3) erlässt der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern.

Feiertage Heldengedenktag (Mitte März) Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde von führenden Repräsentanten des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge begrüßt, die Gefallenen des Ersten Weltkrieges wurden nun zu „Schöpfern der Grundlage des Dritten Reiches“ erklärt. Mit einer neuen Satzung, die „nach dem 81

Reichsgesetzblatt (RGBl), Teil 1, 1934 (veröffentlicht 28.2.1934), hg. vom Reichsministerium des Innern, Berlin 1934, S. 129.

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Führergrundsatz“ verfasst war, und seiner ideologischen Nähe kam der Volksbund einer Auflösung zuvor und nahm die „Gleichschaltung“ faktisch selbst vor.82 Schon die erste Feier des Volkstrauertages unter nationalsozialistischer Herrschaft am 12. März 1933 bedeutet eine Abkehr bisherigen Gedenkens. Anlässlich der zentralen Veranstaltung in Berlin, für die ein letztes Mal der Volksbund zuständig war, unterzeichnete Reichspräsident von Hindenburg eine Verordnung, nach der die Hakenkreuzfahne neben der schwarz-weißroten Fahne des Kaiserreiches zu hissen sei. So war erneut ein sichtbares Merkmal der Demokratie, nämlich die schwarz-rot-goldene Fahne, beseitigt. Im Februar 1934 verwirklichte sich ein langjähriges Anliegen des Volksbundes: Der Volkstrauertag, von den Landesverbänden je nach konfessionellen und regionalen Rücksichtnahmen zu unterschiedlichen Terminen begangen, wurde endlich per „Gesetz über die Feiertage“ zum landeseinheitlichen Staatsfeiertag erklärt. Allerdings wurde der einst pazifistisch ausgerichtete Trauertag in Heldengedenktag umbenannt: „Die Reichsregierung hat das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: „… § 2 Der 5. Sonntag vor Ostern (Reminiszere) ist Heldengedenktag.“83 Eine besondere Unterschutzstellung des Tages erfolgte drei Wochen später:84 Am Heldengedenktag sind, abgesehen von…verboten: 1. In Räumen mit Schankbetrieb musikalische Darbietungen jeder Art. 2. Alle anderen der Unterhaltung dienenden öffentlichen Veranstaltungen, sofern bei ihnen nicht der diesem Tage entsprechende ernste Charakter gewahrt ist.

Dieses Gesetz deutete den bisherigen Gedenktag an die Gefallenen des Weltkrieges inhaltlich um: Von nun an sollte der Tod der Kriegsopfer nicht mehr Anlass zur Trauer sein, vielmehr wurde der Heldentod für das Vaterland zum Ziel junger Männer erklärt. Auch wurden die im Parteikampf ums Leben gekommenen Anhänger der NSDAP in das öffentliche Gedenken der Kriegstoten eingeschlossen.

82 83 84

Dienst am Menschen, S. 38f. RGBl, Teil 1, 1934 (28.2.1934), S. 129. Ebd. (17.3.1934), S. 200.

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Abbildung 34 Heldengedenktag 1934: Kranzniederlegung durch Reichspräsident Paul von Hindenburg (Mitte) und Adolf Hitler am Ehrenmal „Unter den Linden“, Berlin, 25. Februar 1934. Damit hatte sich die bisherige Funktion des Volkstrauertages gewaltig geändert; nicht mehr die individuelle Tröstung der Hinterbliebenen stand im Vordergrund, sondern die Einstimmung auf die „stolze Trauer“ einer heldenhaften „Volksgemeinschaft“. Zum Zeremoniell ums Ehrenmal gehörten erneut Paraden, Reden, Kranzniederlegung und Musik. Ab 1934 fand die zentrale Gedenkstunde in der Staatsoper Unter den Linden statt, eine Kranzniederlegung am nahegelegenen Ehrenmal „Neue Wache“ schloss sich an. In einem Ratgeber für nationalsozialistische Feiern hieß es zur „Heldengedenkfeier“: Die Feiern müssen kurz und schlicht sein, um die Teilnehmer im Gefühl der Dankbarkeit und Ehrfurcht ohne weichliche Sentimentalität zu erschüttern. Ein Maß von nicht mehr als einer Stunde ist hinreichend. Die

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Gestaltung der Heldengedenkfeier geschieht durch Musik (möglichst keine Blechmusik, sondern Orchestermusik), Gesang, Gedenkworte, eine kurze Vorlesung und insbesondere durch den Sprechchor. Die Ausstattung des Raumes soll dunkel und würdig sein. Vor kriegerischer Dekoration und allen auffälligen Äußerlichkeiten ist zu warnen. Die Feier kann auch im Freien und bei Dunkelheit im Fackelschein stattfinden.85

In den alljährlich herausgegebenen Richtlinien zu „Feiern im nationalsozialistischen Jahresablauf“ hieß es dann in den Kriegsjahren: Der Heldengedenktag gilt dem Andenken und der Ehrung der gefallenen Helden des deutschen Volkes. Wir gedenken der Toten des Ersten Weltkrieges und der Gefallenen des jetzigen Krieges. Das Gedenken soll aber keiner schwächlichen Trauer dienen, und daher soll dieser Tag besonders der Pflege des deutschen Wehrgedankens gewidmet sein. Im Wehrgedanken, im unbedingten Wehrwillen des deutschen Volkes liegt der Erfolg der deutschen Wehrmacht begründet.

Der Heldengedenktag steht im Zeichen der Verbundenheit der Partei und ihrer Gliederungen mit der Wehrmacht. Die Anweisungen zur „Feiergestaltung“ lauteten: Im Gedenken an alle Gefallenen schmücken wir die Soldatengräber. Die Gestaltung der Feiern des Heldengedenktages wird entsprechend der Bedeutung des Tages würdig und machtvoll sein. Aus der engen Verbundenheit von Partei und Wehrmacht ergebenen sich gemeinsame Aufgaben: Die Veranstaltungen an diesem Tage werden von Partei und Wehrmacht gemeinsam durchgeführt. In den Gedenkakten, in den Aufmärschen und Paraden der Wehrmacht, der Wehrformation und Wehrverbände der Partei wird diese Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommen. 85

Volksspiel und Feier. Alphabethisches Sachbuch nebst Stoffsammlung für Brauch, Freizeit und Spiel, München/Hamburg/Berlin 1936, S. 59.

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Die Veranstaltungen von Partei und Wehrmacht werden im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführt. Das gilt auch für den Reichskriegerbund, das Rote Kreuz usw. Für die Abstimmung, das Programm und die Durchführung der Veranstaltungen der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände ist der Hoheitsträger verantwortlich… Für einen besonders würdigen Ablauf der Feierlichkeiten und Vorführungen ist Sorge zu tragen. Für die Kriegsopfer, Kriegerwitwen und Angehörigen der Gefallenen sind Ehrenplätze vorzusehen.86

Die Ausschmückung des Feierraumes sollte vom Bund Deutscher Mädel vorgenommen werden, die Gedenkfeiern sollten musikalisch umrahmt werden, etwa mit dem Lied „Der gute Kamerad“, dem „Horst-Wessel-Lied“ und dem „Deutschlandlied“ sowie Märschen und als literarische Beiträge wurden folgende Gedichte empfohlen: „Den Soldaten des großen Krieges“ (Baldur von Schirach)87 Sie haben höher gelitten als Worte sagen. Sie haben Hunger, Kälte und Wunden schweigend getragen. Dann hat man sie irgendwo gefunden: Verschüttet, zerschossen oder erschlagen. Hebt diesen Toten hoch zum Gruß die Hand! Sie sind so fern vom Vaterland gefallen, die Türme aber ihrer Treue ragen uns allen, allen mitten im Land.

86

87

Hauptkulturamt der NSDAP (Hg.): Unser Jahr. Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1942, München 1942, S. 7f. Baldur von Schirach (1907-1974) war Reichsjugendführer der NSDAP, seit 1941 Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien.

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„Am Tag der Toten“ (Gustav Falke)88 Am Tag der Toten lasst uns männlich trauern, streut Rosen auf ihr Grab und Lorbeer auch, und lasst das eine euch zutiefst durchschauern: Deutschland zu schirmen bis zum letzten Hauch, und gilt es Opfer unerhört – bei unsern Toten: schwört!

1935 hatte Hitler den Heldengedenktag genutzt, um die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zu verkünden; dies war ein Verstoß gegen den Versailler Vertrag. Am Vortag der Feierlichkeiten teilte er in einer Erklärung das neue „Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht“ mit. Fortan zeigten die Fahnen am Heldengedenktag Vollstock, nicht mehr Halbmast, da es nach Hitler keine Trauer mehr über Gefallene, sondern nur noch Zuversicht und freudiges Gedenken über bisherige und künftige Helden geben sollte. In der Hauptstadt paradierten in der Prachtstraße Unter den Linden Truppenteile des Heeres, der Luftwaffe und der Marine. Ab sofort war das Militär wie im Kaiserreich wieder in der Gesellschaft präsent, bei nationalsozialistischen Feiern oder Denkmalseinweihungen traten die Soldaten selbstbewusst und als selbstverständlicher Teil der Inszenierungen auf. Sogar mit zwei Sonderbriefmarken zu 6 und 12 Pfennige, die jeweils einen Soldaten mit Stahlhelm zeigen, wurde auf den Gedenktag hingewiesen. Wie eng die Beziehung zwischen Volksbund und Regime inzwischen war, belegt das Motto der 17. Reichstagung der Institution Ende Oktober 1936 in Köln; es lautete: „Wehrmacht und Jugend“:89 Denn die Wehrmacht ist der unmittelbare Erbe des Frontkämpfergeistes, der die gefallenen Kameraden beseelte und zu ihrer größten Tat fähig machte. Die Jugend aber als Trägerin der deutschen Zukunft, in der die Kraft der kommenden Jahrhunderte lebendig ist, muss den Ruf des deutschen Frontsoldaten vernehmen und ihn als eigene Verpflichtung 88

89

Gustav Falke (1853-1916), norddeutscher Schriftsteller, dessen national-konservatives Werk von den Nazis vereinnahmt wurde. VB, 28.10.1936.

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weitertragen, ihm dienen. Wehrmacht und Jugend – beide werden in Köln teilnehmen. Und wenn die Abordnungen des Volksbundes und der HJ von den Grabstätten gefallener deutscher Soldaten im Ausland zurückkehren und mit den Fahnen der Wehrmacht zur Kundgebung einmarschieren werden, dann wissen jene tapferen Kameraden draußen, dass das Deutschland lebt, für das sie gefallen sind.

Abbildung 35 Im Dritten Reich standen der Volksbund und damit seine "Mitteilungen und Berichte" ganz im Zeichen des Hakenkreuzes; im November 1938 zierte eine Karte "Großdeutschlands" die Titelseite: "Das Großdeutschland Adolf Hitler, für das unsere Brüder fielen." 107

Zwei Jahre später fand am Vortag zum Heldengedenktag ein folgenschweres Ereignis statt: Am 12. März 1938 marschierten widerstandslos deutsche Truppen in Österreich ein. Von den Nazis als „Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich“ propagiert, war damit das Nachbarland annektiert und das „Großdeutsche Reich“ geschaffen. Ein halbes Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkrieges sagte Hitler im Berliner Zeughaus anlässlich des Heldengedenktages 1940, der nun auch (seit 1939) „Tag der Wehrfreiheit“ bezeichnet und zum Gedenktag der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges erweitert wurde: Jeder dieser Helden aber hat sein Leben gegeben nicht in der Meinung, damit spätere Generationen von der gleichen Pflicht befreien zu können…Es hat daher niemand das Recht, Helden zu feiern, der nicht selbst einer ähnlichen Gesinnung fähig ist.

Hitler erklärte diejenigen zu Helden, „… die bereit waren, sich selbst aufzugeben, um der Gemeinschaft das Leben zu erhalten.“90 Und ein Jahr später wiederum appellierte er an die Bereitschaft der Frauen zum Kriegseinsatz: Auch die Heimat muss in diesem Krieg schwerere Opfer bringen als früher. Auch ihr Heldentum trägt dazu bei, den entscheidendsten Kampf der deutschen Geschichte zu einem erfolgreichen zu gestalten. Und hier ist es nicht nur der Mann, der sich in seiner Widerstandskraft bewährt, sondern vor allem auch die Frau.91

Ebenfalls am Heldengedenktag 1941 verfügte Hitler die Bestellung eines Generalbaurates für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe: Die Errichtung würdiger Kriegerfriedhöfe zur Beisetzung der Gefallenen dieses Krieges ist vorzubereiten. Mit der Durchführung beauftrage 90

91

Aus der Rede Hitlers zum Heldengedenktag am 10.3.1940, zit. nach: Der großdeutsche Freiheitskampf, hg. von Philipp Bouhler, München 1940, S. 182. Aus der Rede Hitlers zum Heldengedenktag am 16.10.1941, zit. nach Der großdeutsche Freiheitskampf, hg. von Philipp Bouhler, 2. Bd., München 21942, S. 248.

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ich den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Zur Bearbeitung der mit der Gestaltung der Ehrenfriedhöfe zusammenhängenden künstlerischen Aufgaben bestelle ich einen Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe. Ausführungsbestimmungen erlässt der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht.92

Zum „Generalbaurat“ ernannt wurde der renommierte Architekt und bisherige Rektor der Architekturabteilung der Staatlichen Hochschule Dresden Prof. Wilhelm Kreis, nach dessen Plan zur Jahrhundertwende nicht nur 58 Bismarcktürme errichtet worden waren, sondern der auch dem Verwaltungsrat des Volksbundes seit dessen Gründung angehörte. Die besondere Nähe zwischen Volksbund und Partei, sicherlich auch die zunehmenden Gefallenenzahlen bescherten dem Volksbund einen beachtlichen Mitgliederzuwachs.93 Vorgesehen war, Kriegerehrendenkmäler in allen Ländern zu errichten, in denen die Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges kämpfte. Doch diese monumentalen Gedenkstätten, auch Totenburgen genannt, wurden angesichts des Kriegsgeschehens nicht verwirklicht. Das größte Bauwerk mit einem Durchmesser von 280 Metern und einer Höhe von 130 Metern sollte am Dnepr/Ukraine entstehen, doch gebaut wurde es ebenso wenig wie die geplanten Kriegerehrendenkmäler für Warschau, Narvik, Nordafrika und am Olymp.94 Vereinzelt widmete man Ehrenmale, die in den Jahren der Weimarer Republik errichtet worden waren, im nationalsozialistischen Sinne um bzw. ergänzte sie; größere Kriegsgräberstätten wurden nur provisorisch angelegt. Mit dem Erlass von 1941 sollten die eigenmächtigen Aktivitäten der Kirche hinsichtlich „der Errichtung von Grabdenkmälern für Gefallene“ unterbunden werden. So hatte im Juli 1940 der Sicherheitsdienst der SS aus Braunschweig erfahren, 92

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Zit. nach Gerd Albrecht: NS-Feiertage in Wochenschauen 1933-1945, hg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart o.J., S. 71. Ende 1943 hatte der Volksbund fast eine Million Mitglieder; s. Dienst am Menschen, S. 57. Gunnar Brands: Bekenntnisse eines Angepassten. Der Architekt Wilhelm Kreis als Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe, in: Ulrich Kuder (Hg.): Architektur und Ingenieurwesen zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945, Berlin 1997, S. 124-156.

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dass sich dort „verschiedene Pfarrämter“ bemühten, „für bereits gefallene und nach dort überführte bzw. in Lazaretten verstorbene Soldaten der Gemeinde einheitliche Grabsteine herzustellen und errichten zu lassen, die für alle Zukunft als Grabdenkmäler für Kriegsopfer gelten sollen. Es werde dabei das Ziel verfolgt, die kirchlichen Friedhöfe in Weihestätten zu verwandeln, die dann laufend von der Gemeinde besucht werden und der Kirche die Möglichkeit geben sollen, die Bevölkerung enger an sich zu binden.“95 Während der Wehrmachtgräberdienst einheitliche Grabzeichen entwarf (Eisernes Kreuz mit Hakenkreuz und Todesjahr), herrschte weiterhin Unklarheit hinsichtlich der „Heldenehrungsfeiern“. Offiziell war es den Kirchen untersagt, Gefallenenfeiern abzuhalten, doch „im Rahmen ihres seelsorgerischen Kultus“ nahmen sie „Ausweichmöglichkeiten“ wahr, „von denen sie in Form von Gedächtnisgottesdiensten, Sondermessen u. dgl. auch reichlich Gebrauch“ machten. Der Partei blieb nichts anderes übrig, als die kirchlichen Trauergottesdienste zu dulden, da sie „bisher darauf verzichtete, planmäßig Feiern für die Gefallenen durchzuführen“. Diese wiederholt vorgetragenen Meldungen belegen, dass der Runderlass des Reichsinnenministeriums zur „Ehrung der für das Vaterland Gefallenen und Pflege und Erinnerung an die Waffentaten des Großdeutschen Freiheitskampfes“ vom September 1940 bislang nicht in die Praxis umgesetzt worden war. Eigene „Feiern der Partei fanden nur vereinzelt und in einzelnen Kreisen statt. Vielfach wurde wegen Fehlens geeigneter Räume und Redner davon abgesehen.“ Wiederholt beklagten die Meldungen aus dem Reich den „Mangel an Kräften zur Gestaltung der Heldenehrungsfeiern“: „Die Ortsgruppen seien hier vor große Schwierigkeiten gestellt und oftmals nicht in der Lage, sie zu meistern, da ihnen junge und geistig bewegliche Kräfte infolge der Einziehung zur Wehrmacht nicht zur Verfügung stehen.“ Kritisiert wurde, dass „viele Ortsgruppenleiter“ es nicht verstünden, „den persönlich herzlichen Ton zu finden, der bei einer solchen Rede notwendig“ sei, oder aber dass die Redner Gefahr laufen, „aus der Gedenkfeier eine Propagandakundgebung werden zu lassen“. So hätte, wie aus Schlesien berichtet wurde, „der Redner die Unzufriedenheit und Meckereien der Volksgenossen bei der Feier angeprangert“. Ein

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Meldungen aus dem Reich, Bd. 5, S. 1428.

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„anderer Ortsgruppenleiter habe“, so die beim Sicherheitsdienst eingegangene Beschwerde, „an die Heldenehrungsfeier über Tagesfragen wie Flaschensammlung, Kartoffelablieferung usw. gesprochen“. Einem weiteren Bericht zufolge „bringe es eine Feier um ihre ganze Wirkung, wenn der Feierredner von Opfer, Treue und Pflichterfüllung bis in den Tod spreche, seine persönliche Lebensführung, die allen Erschienenen bekannt sei, aber das genaue Gegenteil darstelle“.96 Mit Argwohn beobachteten Vertreter der NSDAP, dass die Kirchen die Kriegszeit nutzten, „um ihre auf diesem Gebiet an und für sich schon führende Stellung im Denken und Brauch der Bevölkerung noch weiter auszubauen und zu festigen. Besonders durch die äußerliche Gestaltung, die Umrahmung entsprechender Gottesdienste, Ausschmückung der Kirchen, das Anbringen von Stahlhelm und Hakenkreuzfahne auf der Tumba“, werde „ein starker Eindruck auf die Gläubigen erzielt.“ 97 Kritisiert wurde ferner, dass einige Geistliche versuchten, „den Sinn und Wert des Heldentodes abzuschwächen und zu verringern“; „das Sterben derer, die nicht an Christus glauben“, werde als sinnlos bezeichnet.98 Aus Bayreuth stammte ein Bericht über eine Gedächtnisfeier, bei der „es niemandem auffiel, dass der Pfarrer weder vom Führer noch von den Taten des siegreichen Heeres sprach, sondern lediglich hervorhob, dass der Tote für Gott und die Kirche gefallen sei.“99 Aufgrund solcher Beobachtungen wurde aus „Kreisen der Parteigenossenschaft“ der Wunsch geäußert, „dass auch die Partei sich in dieser Hinsicht stärker in den Vordergrund stellen möchte“.100 Nach Propagandaminister Goebbels sollten Gedenkfeiern „die Gemeinschaft immer wieder auf die Größe dieses Opfers und die ihr übertragene Verantwortung“ hinweisen: „Es handelt sich nicht darum, traurige Stimmungen zu erzeugen, sondern immer wieder im Namen und unter Voranstellung des Beispiels derjenigen, die Blut und Leben für uns gaben, die

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Alle Zitate in diesem Absatz., Bd. 10, S. 3833. Ebd., Bd. 8, S. 2884-2889. Ebd., Bd. 5, S. 1388. Ebd., Bd. 5, S. 1427. Ebd., Bd. 5, S. 1388

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Kampfentschlossenheit des Volkes zu stählen.“101 Doch da Anweisungen zur inhaltlichen Gestaltung fehlten, gingen mehrfach beim Sicherheitsdienst der SS Meldungen über „Unklarheiten in der Durchführung von Gedächtnisfeiern für Gefallene“ ein: „Während einige Ortsgruppenleiter von sich aus die Teilnahme an den kirchlichen Gedächtnisfeiern verbieten, nehmen sie an anderen Orten die Vereine, besonders der Kyffhäuserbund, geschlossen an den Gedenkfeiern teil…Es werde mit Missfallen davon gesprochen, dass die Mitglieder der Ortsgruppenleitung an den Trauerfeierlichkeiten in der Kirche nicht teilnehmen, andererseits aber von der Partei auch keine Feierlichkeiten durchgeführt werden. Äußerungen der Bevölkerung wie wenn sie nicht einmal die Gefallenen ehren, sollen sie daheim bleiben, seien nicht selten. Die politischen Leiter selbst machten geltend, dass es immer noch besser wäre, sie würden an den kirchlichen Feierlichkeiten teilnehmen, solange die Partei von sich aus keine entsprechenden Feiern veranstalte, die Angehörigen seien dann zufrieden und hätten weiterhin Achtung vor der Partei.“102 Das Nebeneinander von religiösem und nationalsozialistischem Gedankengut und damit von „Gott“ und „Führer“ spiegelte sich auch in den Todesanzeigen wider. So hieß es z.B.: „In Christus Jesus erwartet seine Auferstehung… Obergefreiter im Regiment Großdeutschland, der am 6. März 1942 im 23. Lebensjahr in der Sowjetunion den Heldentod fand…“ Wie auch auf den Denkmälern waren die Bezeichnungen für die Gefallenen vielfältig und oftmals euphemistisch ausgedrückt: Für „Führer und Vaterland“ gefallen, den „Opfertod gestorben“, „von einer Feindfahrt nicht zurückgekehrt“, „im Felde geblieben“, „im Luftkampf gefallen“, „den Heldentod gefunden“ – so lauteten die oftmals hilflosen Formulierungen für das schreckliche Ende eines jungen Menschenlebens. Und wie bei manchen, von Parteileitern durchgeführten Trauerfeiern, mangelte es auch bei der Gestaltung bzw. Platzierung der Todesanzeigen an Sensibilität, wie aus den „Lageberichten des Sicherheitsdienstes“ hervorgeht: So waren neben Gefallenenmeldungen die Ankündigung einer „Großen Volksbelustigung“ bzw. die „Einladung zu einem Tanzstundenkursus“ zu lesen. Unter einer anderen Todesmitteilung stand „eine

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Zit. nach Schneider, S. 236. Meldungen aus dem Reich, Bd. 5., S. 1427f.

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Anzeige des Inhalts, dass zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung lebenslustige Damen gesucht“ würden oder aber die schwarz umrahmten Todesanzeigen erschienen im Umfeld von Kleinanzeigen über den „Verkauf von Alteisen, Wanzenbekämpfung, Trauerkleiderverleih, Blähungen, Verstopfungen oder andere Verdauungsstörungen vermeidende Nährmittel, Möbeltransporte usw.“103

Abbildung 36 Propagandakarte mit 12-Pfennig-Sonderbriefmarke zum Heldengedenktag 1942. Anlässlich des Heldengedenktages 1942 erschien eine 12-Pfennig-Sonderbriefmarke (mit Zuschlag von 38 Pf.), die einen gefallenen Soldaten mit seinem Stahlhelm zeigt. Der Erlös aus dieser Zuschlagsmarke sollte den Angehörigen gefallener Soldaten zugute kommen (eine Serie mit verschiedenen Motiven 103

Ebd., Bd. 4, S. 1325f.

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erschien auch zu den Gedenktagen 1943 und 1944). Propagandaminister Goebbels ließ die Opfer in der Zivilbevölkerung, d.h. die „durch Feindeinwirkung getöteten oder infolge erlittener Verletzungen gestorbenen, nicht zur Wehrmacht gehörenden deutschen Staatsangehörigen“ ebenfalls „Gefallene“ nennen. Die meist bei Luftangriffen ums Leben gekommenen Zivilisten wurden daher mit militärischen Ehren auf einem besonderen Ehrenhain, in „Ehrengräbern der Nation“, beigesetzt. Während Hitler am letzten Heldengedenktag im Dritten Reich, dem 11. März 1945, eine Frontfahrt unternahm, legte Göring den „Kranz des Führers“ am Ehrenmal Unter den Linden nieder. Noch in den letzten Tagen ihres Bestehens inszenierte die Partei Bestattungen mit Trommelwirbel und zahlreichen Reden, in denen den Feinden Vergeltung angedroht und andererseits der „eiserne Wille“ zum Durchhalten bis zum „Endsieg“ verkündet wurde. Drei Särge, nun nicht mehr aus schwerem Eichenholz, sondern schmucklos, einfach und schnell gezimmert, standen stellvertretend für alle Gefallenen am Eingang der Friedhofskapelle. Sie waren mit der Hakenkreuzfahne bedeckt; in ihrer Mitte stand auch dort der „Kranz des Führers“ als letzter Gruß des Vaterlandes. Doch nur wenige Wochen später, beim Einmarsch der alliierten Truppen, hatten die Embleme des Dritten Reichs ausgedient. Hakenkreuze, Führerportraits oder „Mein Kampf“ wurden eilig vernichtet, vergraben oder einem Sarg mit in die Erde gegeben. Mit der Umbenennung des Volkstrauertages in Heldengedenktag, mit der Verherrlichung alles Militärischen und der Inszenierung des Gefallenenkultus war es vereinzelt auch zur Umdeutung vorhandener Kriegerdenkmäler mittels Veränderung sowie Demontage und Neubau von „Gegendenkmälern“ gekommen, da aus nationalsozialistischer Sicht bestehende Mahnmale wie etwa in Hamburg, Düsseldorf oder Magdeburg zu pazifistisch und nicht kriegerisch genug waren. Nicht mehr Trauer um die Verstorbenen und das Leid sollten im Vordergrund stehen, sondern die Bereitschaft zum Kampf sowie der Opfer- und Siegeswille.

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Nationaler Feiertag des Deutschen Volkes (1. Mai) Der 1. Mai ist der Feiertag in Deutschland mit der längsten Tradition. Erst wenige Wochen im Amt, hatte die neue Regierung am 10. April 1933 mit dem „Gesetz über die Einführung eines Feiertags der nationalen Arbeit“ den 1. Mai zum gesetzlichen und arbeitsfreien Feiertag erklärt: „§ 1. Der 1. Mai ist der Feiertag der nationalen Arbeit.“104Auch wurde bestimmt, dass „der regelmäßige Arbeitsverdienst für die ausfallende Arbeitszeit zu zahlen“ sei.105 Ein Jahr später wurde dieser Paragraf per Reichsgesetz ersetzt durch die Formulierung: „Der nationale Feiertag des deutschen Volkes ist der 1. Mai.“106 Zudem hieß es im „Gesetz über die Lohnzahlung am nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ vom 26. April 1934, in Kraft getreten am 1. Mai 1934: Fällt der nationale Feiertag des deutschen Volkes (1. Mai) auf einen Wochentag, so ist für die infolge des Feiertags ausfallende Arbeitszeit … der regelmäßige Arbeitsverdienst zu zahlen.107

Damit war eine jahrzehntelange Forderung der Arbeiterschaft und der linken Parteien in Erfüllung gegangen. Mit dieser Maßnahme wollte Hitler die Arbeiter für sich bzw. die Partei gewinnen, immerhin waren 1933 nur fünf Prozent der insgesamt 25 Millionen Arbeitnehmer Mitglieder der NSDAP. Nach der Machtübernahme mobilisierten die Feiern zum 1. Mai 1933 erstmals die Massen nach den Vorgaben des Propagandaministeriums. Joseph Goebbels hatte die Feiern wochenlang zuvor generalstabsmäßig geplant, nichts sollte dem Zufall überlassen werden: „1. Mai beraten. Aufmarschplan fertig. Grandiose Demonstration“, hieß es etwa in seinem Tagebuch unter dem 19. April 1933. Allerdings notierte er auch: „Am 2. Mai werden wir dann die Gewerkschaftshäuser besetzen. Gleichschaltung.“108 104 105 106 107 108

RGBl. 1933, Teil 1, S. 191. Ebd., S. 212. RGBl 1934, Teil 1, S. 129. Ebd., S. 337. Fröhlich, Teil 1, Bd. 2/III, München 2006, S. 171 (19.4.1933) und S. 170 (18.4.1933).

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Abbildung 37 Ganz Deutschland glich am 1. Mai 1933 einem Flaggenmeer. Auch die Bewohner der Brandenburger Straße in Bielefeld flaggten ihre Häuser mit der Stadtfahne und dem Hakenkreuz. Die Vorbereitungen und die Generalprobe zum großen Ereignis sind tagelang vor dem 1. Mai Thema in den Tagebüchern von Goebbels: Ich arbeite tagelang an der technischen Durchführung des 1. Mai. Es soll ein Meisterwerk der Organisation und Massendemonstration sein…Wir veranstalten im Lustgarten und auf dem großen Festplatz, dem Tempelhofer Feld, eine Art Generalprobe für den 1. Mai. Nach menschlichem Ermessen wird alles präzise und reibungslos verlaufen. In Tempelhof sind gigantische Anlagen gebaut worden. Sie bieten ein grandioses Bild nationalsozialistischen Gestaltungswillens. Der 1. Mai wird ein Massenereignis, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Das ganze Volk soll sich vereinigen in einem Willen und in einer Bereitschaft…

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Ein kompliziertes Räderwerk soll nun in Bewegung gesetzt werden. Jetzt kommt uns die vielfältige Erfahrung auf dem Gebiete der Massenführung zunutze. Keine andere Bewegung als die unsere, die die Massen zu dirigieren versteht, wäre zu einer gleichen Riesendemonstration fähig.109

Und tatsächlich: Am 1. Mai 1933 war in vielen Straßen und auf öffentlichen Plätzen die Hakenkreuzfahne gehisst, vor allem die Hauptstadt war in ein rotes Fahnenmeer getaucht, im ganzen Lande herrschte Feiertagsstimmung. Banner verkündeten: „Es gibt nur noch einen Adel – den Adel der Arbeit!“ Schicht- und generationenübergreifend wurde die Regierung für die Proklamierung des „Tags der nationalen Erhebung“ gelobt, die Begeisterung ging sogar soweit, dass Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, seit 1931 Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen Industrie, im Arbeitgeberbereich das Führerprinzip vertrat. Über dem Tempelhofer Feld in Berlin kreiste das Luftschiff „Graf Zeppelin“, erstmals mit Hakenkreuzfahne, der bekannte Kampfflieger Ernst Udet vollbrachte über den feiernden Massen Kunstflüge. Am Nachmittag empfing Reichspräsident von Hindenburg eine Delegation von Arbeitern, die mit elf Sonderflugzeugen aus ganz Deutschland angereist waren und am Abend hielt Hitler bei einer Massenkundgebung auf dem Tempelhofer Feld eine Ansprache, deren Schlussworte an einen Gottesdienst erinnerten: Deutsches Volk, vergiss 14 Jahre des Verfalls, hebe Dich empor zu 2000 Jahren deutscher Geschichte … Herr, das deutsche Volk ist wieder stark in seiner Beharrlichkeit, stark im Ertragen aller Opfer. Herr, wir lassen nicht von Dir! Nun segne unseren Kampf um unsere Freiheit und damit unser deutsches Volk und Vaterland!110

Und Goebbels notierte in sein Tagebuch: Der große Tag des deutschen Volkes ist angebrochen. Gestern drohte noch Regen, heute strahlt die Sonne. Richtiges Hitlerwetter! Nun wird alles zum Besten verlaufen...

109 110

Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, München 1934, S. 304f. VB, 2.5.1933.

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Morgens sind im Lustgarten die Berliner Schulkinder aufmarschiert. Schon die Anfahrt ist überwältigend. Wohin man schaut, Unter den Linden, im ganzen Lustgarten, Kinder, Kinder, Kinder…Dann ein Jubelsturm: im Auto erscheinen, nebeneinander sitzend, der Reichspräsident und der Führer. Alter und Jugend vereinigt. Ein wunderbares Symbol des neuen Deutschlands, das wir aufgerichtet haben… Die Durchfahrt durch die Massen der Jungens und Mädels gleicht einem Triumphzug. Auf dem Tempelhofer Feld herrscht ein unbeschreibliches Menschengewimmel. Der Berliner ist schon unterwegs mit Kind und Kegel, Arbeiter und Bürger, hoch und niedrig, Unternehmer und Untergebener, jetzt sind die Unterschiede verwischt, nur ein deutsches Volk marschiert … Auf dem Flugplatz empfangen wir die Arbeiterdelegationen aus dem ganzen Reich, die im Flugzeug nach Berlin gekommen sind...Mittags sind sie beim Führer zum Essen eingeladen und werden danach vom Reichspräsidenten empfangen…Ein toller Rausch der Begeisterung hat die Menschen erfasst …111

Einen Tag später lautete Goebbels` Resümee: Gestern der große Tag. Überwältigend. Ganz unfassbar noch in seinen Ausmaßen. Der Verlauf ist nicht das Wichtige. Wichtig ist der Gehalt. Morgens: Lustgarten, Kinder. Schon die Anfahrt überwältigend. Kinder, Kinder! Ich rede in guter Form. Dann kommt der alte Herr. Er ist sehr nett zu mir…Hitlers Hoch auf ihn. Dann Durchfahrt durch die Massen. Ein Triumphzug! Bei Hitler zu Hause. Er ist restlos glücklich! ... Auf dem Feld Transformator heiß gelaufen. Lautsprecher setzt aus. Tolle Stunde. In Ordnung. 1 ½ Millionen Menschen da. Herausfahrt ein Triumphzug. Ich eröffne … Dann redet Hitler. Sehr gut. Toller Rausch der Bevölkerung.112

111 112

Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 305ff. Fröhlich: Teil 1, Bd. 2/III, S. 178f.

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Der Rundfunk, mit dessen „Gleichschaltung“ in diesen Tagen gerade begonnen worden war, berichtete ausführlich über die Feiern. Übertragen wurden Kundgebungen, Ansprachen, Hörberichte und Hörspiele, die stets die neue Größe Deutschlands propagieren sollten.113 Das jedoch war des Guten zu viel; die Hörer schalteten ab. Im folgenden Jahr – die Nazis hatten schnell gelernt, bei der Programmgestaltung die Wünsche der Hörer zu berücksichtigen – wurden die Wortbeiträge zum 1. Mai aufgelockert durch Musik.

Abbildung 38 Zum "Nationalen Feiertag" 1934 brachte die Reichspost Propagandapostkarten heraus. Zur geschichtlichen Wahrheit des 1. Mai 1933 gehört aber auch der 2. Mai. Am Tag nach den deutschlandweiten Feiern besetzten SA und SS im ganzen Land alle Häuser des Deutschen Gewerkschaftsbundes sowie die Redaktionsbüros der Gewerkschaftspresse, das Vermögen der Gewerkschaftsorganisationen wurde beschlagnahmt, führende Funktionäre verhaftet. Unverblümt steht auch dieser brutale Akt in Goebbels´ Tagebuch: „Gewerkschaften wie 113

Heinz Pohle: Der Rundfunk als Instrument der Politik. Zur Geschichte des deutschen Rundfunks von 1923/38, Hamburg 1955, S. 293f.

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verabredet planmäßig besetzt. Kein Zwischenfall. Bonzen verhaftet. Das geht wie am Schnürchen.“114 Wie auch am 30. Januar, hielt Hitler fortan am 1. Mai eine Rede, in der Regel im Berliner Lustgarten. Nach der Premiere im Jahr 1933 verlief der 1. Mai 1934 in einem noch prachtvolleren Rahmen: „Das nationalsozialistische Deutschland hat seinen Nationalfeiertag so begangen, wie es des neuen Reiches würdig ist. Der 1. Mai, einst der Tag des Klassenkampfes und der Zersetzung, zeigte im neuen Deutschland das Bild einer im Nationalsozialismus geeinten Nation und einer einzigen großen Kameradschaft der Arbeit.“ Den ganzen Tag über wurde geredet, marschiert und gefeiert, bei jeder Gelegenheit die Volksgemeinschaft propagiert. Als Höhepunkt der Demonstration galt auch in diesem Jahr Hitlers Ansprache auf dem Tempelhofer Feld. Der Redner verstand es, mit direkten Botschaften und Appellen die jeweilige Zielgruppe für sich zu gewinnen. Die Arbeiterschaft jubelte ihm genau so begeistert zu wie die Jugend, zu der er sagte:115 Meine deutsche Jugend! Ihr seid hier an dieser Stelle schon zum zweiten Male, um in einem neuen Deutschland den 1. Mai mitzufeiern. Dieses neue Deutschland soll Erfüllung bringen der Sehnsucht vieler deutscher Generationen. Ein Reich soll entstehen, stark und kraftvoll. Seine Kraft und seine Stärke aber kann nur liegen in seinen Bürgern. Seine Bürger aber werden einst nur das sein, was sie zu sein vorher gelernt haben. Was wir vom kommenden Deutschland ersehnen und erwarten, das müsst Ihr, meine Jungens und Mädchen erfüllen. Wenn wir ein Deutschland der Stärke wünschen, so müsst Ihr einst kraftvoll sein. Wenn wir ein Deutschland der Ehre wieder gestalten wollen, müsst Ihr einst die Träger dieser Ehre sein. Wenn wir ein Deutschland der Ordnung vor uns sehen wollen, müsst Ihr die Träger dieser Ordnung sein. Wenn wir wieder ein Deutschland der Treue gewinnen wollen, müsst Ihr selbst lernen, treu zu sein. Keine Tugend dieses Reiches,

114 115

Fröhlich, Teil 1, Bd. 2/III, S. 179. VB, 2.5.1934.

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die nicht von Euch selbst vorher geübt wird. Keine Kraft, die nicht von Euch ausgeht. Keine Größe, die nicht in Eurer Disziplin ihre Wurzel hat. Ihr seid das Deutschland der Zukunft, und wir wollen daher, dass Ihr so seid, wie dieses Deutschland der Zukunft einst sein soll und sein muss …

Gefeiert wurde an diesem Tag in der Hauptstadt, ebenso im ganzen Reich, ein Jahr Nationalsozialismus. Das neue Regime hatte sich etabliert, Hitler war mehr als ein Jahr im Amt und damit nicht, wie im Januar 1933 von vielen noch gedacht, ein Übergangs-Reichskanzler, den man „einrahmen“ und „zähmen“ könne. Ganz im Gegenteil: die Opposition war mundtot gemacht, der Prozess der Gleichschaltung war weitgehend und erfolgreich abgeschlossen. Die inszenierten Ausschreitungen vom 1. April (Boykott jüdischer Geschäfte) und die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 schienen vergessen. Kaum einer konnte angesichts der Jubelstimmung ahnen, zu welchem Terror das Regime noch fähig sein sollte.

Abbildung 39 Über zwei Millionen Menschen marschierten am 1. Mai 1934 auf dem Tempelhofer Feld auf, um die Rede Hitlers zu hören. 121

Jahr für Jahr wiederholte sich der „Appell des Führers an seine Arbeiter“. 1936, wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele, lautete das Motto des 1. Mai: „Freut euch des Lebens“. Tatsächlich war die Stimmung bei den meisten Deutschen gut, die Kinder freuten sich über schulfrei, die arbeitende Bevölkerung ebenso über einen freien Tag, der im Freien verbracht werden konnte. Geprägt war der Tag von Massenveranstaltungen und Musikdarbietungen, auch wurden Beförderungen und Auszeichnungen vorgenommen, vor allem aber wurde die Volksgemeinschaft propagiert, so auch 1937: 120.000 Mitglieder der Hitlerjugend waren im Olympiastadion aufmarschiert, bei dem traditionellen Festakt im Lustgarten sagte Hitler vor 1,2 Millionen Besuchern: Einst war dieser 1. Mai das große Frühlingsfest unseres Volkes gewesen. Jahrhundertelang! Später wurde dieser Tag zum Symbol des Kampfes unseres Volkes untereinander. Heute ist dieser Tag Staatsfeiertag, weil wir an ihm die wieder errungene oder besser, die zum ersten Mal errungene deutsche Volksgemeinschaft feiern.116

Und Goebbels schrieb am 2. Mai 1937 in sein Tagebuch: Gestern: der schönste 1. Mai, den wir bisher feierten. In einem strahlenden, wärmenden Wetter … Alles auf das Beste vorbereitet … morgens … zum Sportfeld. Ein überwältigendes Bild. 150.000 Teilnehmer. Und eine tolle Stimmung. Zuerst sprechen Schirach und ich. Dann kommt der Führer und erhält einen stürmischen Empfang. Er spricht sehr zu Herzen gehend zu der Jugend. Eine schöne und ergreifende Feier. Fahrt Opernhaus … Die Kundgebung selbst ist sehr schön … Triumphfahrt mit dem Führer zum Lustgarten. 1 ½ Million Menschen stehen da aufgebaut und jubeln dem Führer zu. Die Sonne scheint, die Fahnen leuchten; es ist eine unbeschreibliche Stimmung … Kanzlei: Vom Balkon aus mit dem Führer die tobende Menge begrüßt … Der Führer ist begeistert von unserem 1. Mai … Im Garten des 116

Ebd.

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Präsidentenpalais Arbeiterempfang. Das ist rührend. Wie vertrauensvoll alle mit dem Führer sprechen.117

Auch wenn es sich hier mit der Tagebucheintragung um eine subjektive Wahrnehmung handelt, so kann man, auch anhand späterer Zeitzeugenaussagen davon ausgehen, dass die Stimmung des Tages treffend wiedergegeben ist. Mit dieser Feier propagierte der Staat nicht nur die „Volksgemeinschaft“, er praktizierte sie auch, sogar erfolgreich. Dass diese Gemeinschaft auch Menschen ausschloss, steht auf einem anderen Blatt. Zwei Jahre später eröffnete Goebbels den inzwischen ritualisierten Staatsakt im Berliner Lustgarten. Der 1. Mai 1939 war der letzte Nationalfeiertag in Friedenszeiten:118 Mein Führer! Zum Nationalfeiertag des Jahres 1939 hat sich Ihr deutsches Volk um Sie versammelt. In Stadt und Land ist es millionen- und millionenfach aufmarschiert, um aus Ihrem Munde die politische Parole zu empfangen. Dieser Tag, der der Feiertag unseres Volkes ist, ist zugleich auch ein Huldigungstag für Sie. Denn an diesem Tag will die Nation Ihnen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Wiederum haben Sie in einem Jahr das Volk größer und das Reich mächtiger gemacht! Und wenn eine feindliche und neidische Welt Ihnen und uns Schwierigkeiten entgegensetzt, so können Sie sich blind darauf verlassen, dass dieses Volk, Ihre Nation, gehorsam und gläubig hinter Ihnen steht! Niemals wieder wird es auf Sirenengesänge, die aus dem Ausland an sein Ohr dringen, hereinfallen. Einen 9. November 1918 hat es nur einmal in der deutschen Geschichte gegeben! Das will Ihnen das deutsche Volk heute durch seine riesigen Treuekundgebungen zum Ausdruck bringen. Und zum Zeichen dessen begrüßen wir Sie heute, an unserm Nationalfeiertag, mit unserm alten Kampfruf: Adolf Hitler – Sieg Heil!, Sieg Heil!, Sieg Heil!

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Fröhlich, Teil I, Bd. 4, S. 119f. VB, 2.5.1939.

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Mit Kriegsbeginn traten die öffentlichen Feiern in den Hintergrund, nichts erinnerte mehr an die fröhlich-ausgelassene Stimmung der vergangenen Jahre, dessen war sich selbst Goebbels bewusst. Sein Tagebucheintrag am 2. Mai 1940 lautete: „Gestern: ein herrlicher 1. Mai. Ich kann viel lesen und auch etwas ausruhen. Welch Unterschied gegen den 1. Mai früher. Da ein rauschender Festtag, heute Ruhetag.“119 Immerhin erschien 1940, übrigens erstmals in den Jahren des Nationalsozialismus, eine 6+4-Pfennig-Briefmarke zum „Tag der Arbeit“. Ansonsten blieb es bei Beflaggung und kurzen Ansprachen, die 1940 Rudolf Hess, der „Stellvertreter des Führers“, und 1943 Reichsorganisationsleiter Robert Ley hielten. 1942 wurde der „Feiertag der Nationalen Arbeit“ vom 1. Mai, einem Freitag, auf den nächsten Tag verlegt. 1944, auf dem Höhepunkt des Bombenkrieges, fand der Feiertag letztmalig statt; noch einmal stand er im Dienst der NS-Propaganda. So wurden etwa neu ernannten „Pionieren der Arbeit“ und den zu „Kriegsmusterbetrieben“ ausgezeichneten Unternehmen Urkunden und Ehrenzeichen verliehen. Geehrt wurden außerdem in Dresden 300 Jungen und Mädchen als Reichssieger im Kriegsberufswettkampf der Deutschen Jugend 1943/44. Am 1. Mai 1945 war die Naziherrschaft am Ende. Über den Rundfunk erfuhr die Bevölkerung vom Tode Hitlers, der am Vortag Selbstmord begangen hatte: Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.

Am Abend des 1. Mai beging auch Propagandaminister Goebbels mit seiner Familie Selbstmord. Eine Woche später, am 8. Mai 1945, war mit der Kapitulation der Wehrmacht das Dritte Reich offiziell beendet.

119

Fröhlich, Teil I, Bd. 8, München 1998, S. 88.

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Erntedankfest (Oktober) Im September 1933 ordneten Propagandaministerium und Innenministerium für Sonntag, den 1. Oktober, den „Tag des deutschen Bauern“ an. An diesem Tag sollten reichsweit die Bauern geehrt werden, ihre gesellschaftliche Stellung sollte aufgewertet werden, Beflaggung im ganzen Reich war angeordnet. Im Vorfeld der Feiern sollten die Schüler über die Bedeutung der zum „Reichsnährstand“ zusammengefassten Bauern informiert werden, daher unternahmen Schulklassen aus der Stadt einen Ausflug aufs Land, um einen Bauernhof zu besichtigen. Mit dieser Maßnahme vereinnahmten die Nazis ein bereits in der Bevölkerung verankertes volkstümliches Brauchtum, nämlich den kirchlichen Erntedanktag für ihre Zwecke. Auf Berufung der Blut-und-Boden-Ideologie sollte nun auch die Landbevölkerung emotional an das Regime gebunden werden. Im Zusammenhang mit dem ersten Erntedankfest wurde ebenso der „Eintopfsonntag“ eingeführt: Im Winterhalbjahr, also von Oktober bis März, sollte in den deutschen Haushalten einmal im Monat auf den sonst üblichen „Sonntagsbraten“ verzichtet und stattdessen Eintopf gegessen werden. Die eingesparten Kosten sollten dem „Winterhilfswerk“, einem Hilfswerk des Staates, zugute kommen. Vor allem das öffentliche Eintopfessen diente als Propagandamittel, sollte es doch sichtbar die Volksgemeinschaft stärken. Die Presse berichtete ausführlich und mit zahlreichen Bildern über das „Ernte-Dankfest auf dem Bückeberg: Der erste Kampf gegen Hunger und Kälte“ und zeigte das „Eintopfgericht auf dem Tisch des Führers“.120 Welche Verehrung Hitler wenige Monate nach Beginn seiner Kanzlerschaft zuteil wurde, belegt auch folgende Begebenheit:121 Anlässlich des Empfangs der Reichsbauernführer am Erntedanktag überreichte der Reichsbund Deutscher Diplom-Landwirte dem Reichskanzler Adolf Hitler die Schreibfeder Bismarcks als Gabe der deutschen Bauern. Die Schreibfeder, ein Gänsekiel, befindet sich in einem…historischen Schmuckkasten aus Eichenholz vom Sachsenwald. Eine Silberplakette 120 121

VB, 2.10.1933. VB, 3.10.1933.

125

trägt folgende Aufschrift: „Dem Volkskanzler Adolf Hitler am Erntedanktag am 1. Oktober 1933 als Gabe der deutschen Bauern überreicht.“

Dr. Kummer, der Führer des Reichsbundes, richtete dabei folgende Ansprache an den Reichskanzler: Hochverehrter Herr Reichskanzler! Die deutschen Diplom-Landwirte, die nach Herkommen und Ausbildung wie kein anderer Stand im deutschen Bauerntum verwurzelt sind, und die sich durch ihre Berufsausübung verpflichtet fühlen, in erster Linie Diener des deutschen Bauerntums zu sein, überreichen Ihnen als dem Erneuerer des Deutschen Reiches…die Schreibfeder Bismarcks. Diese Schreibfeder hat der Begründer des Deutschen Reiches an dem Tag geführt, als er die Worte festlegte: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt.“ Wir sind stolz darauf, diese Gabe an dem Wendepunkt unserer Agrargeschichte mit heißem Dank überreichen zu können, an dem Tage, an dem die deutschen Bauern unter Führung ihres Volkskanzlers und ihres Reichsbauernführers mit neuer Zuversicht ans Werk gehen. Das durch diese Gabe geschaffene Symbol einer Brücke zwischen dem Eisernen Kanzler und dem Volkskanzler, zwischen dem Begründer des Deutschen Reiches und seinem Erneuerer wird in allen deutschen Herzen lebhafte Freude auslösen.

Rund ein halbes Jahr im Amt, wurde Hitler auf eine Stufe mit Bismarck gestellt. Der Größenwahn im Dritten Reich kannte keine Grenzen. Ab 1934 wurde das Erntedankfest, inzwischen per Reichsgesetz zum gesetzlichen Feiertag erhoben122, immer am Sonntag nach dem Michaelistag (27. September) und damit entweder am letzten Sonntag im September oder am ersten Sonntag im Oktober begangen. Das neu geschaffene „Reichserntedankfest“ fand auf dem Bückeberg südlich von Hameln/Westfalen statt. Das zentral gelegene Gelände war im Besitz des 122

RGBl, Teil 1, B, Nr. 22, 28.2.1934, S. 129.

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preußischen Staates und unter Planung von Albert Speer und Mitwirkung des Reichsarbeitsdienstes (RAD) zu einem weiträumigen Aufmarschplatz hergerichtet worden. Wie bei den Reichsparteitagen in Nürnberg erhielt auch dieser Ort eine Ehrentribüne, einen Festplatz, eine Rundfunkzentrale, einen „Führerweg“, unzählige Fahnenmasten, Parkplätze etc. Nicht nur die günstige Lage und die Erreichbarkeit mit der Bahn waren für die Wahl des Ortes ausschlaggebend, sondern auch die Nähe zur Weser, die als „deutscher Fluss“ galt.

Abbildung 40 Anlässlich des Erntedankfestes am 1. Oktober 1933 fuhren festlich geschmückte Erntewagen durch das Brandenburger Tor zum Bauerntreffen im Berliner Lustgarten. 127

Und wie in Nürnberg folgte der Ablauf dieser Massenkundgebung einem festgelegten Zeremoniell, bei dem die Reden Hitlers und des Reichsbauernführers Walther Darré als Höhepunkt galten. Ein besonderer Moment war die Übereichung der Erntekrone an Hitler. Mit der Nationalhymne und einem Höhenfeuerwerk endete das eintägige Fest, bei dem – im Unterschied zu den anderen Großveranstaltungen im Dritten Reich – der Anteil der Frauen unter den Besuchern überwog. Zur Eröffnung der Kundgebung zum zweiten Erntedanktag hielt Propagandaminister Joseph Goebbels die Ansprache:123 Deutsches Landvolk! Die größte deutsche Bauernkundgebung zur Feier des Erntedanks auf dem Bückeberg ist eröffnet! Mein Führer! Am 1. Mai dieses Jahres standen Sie auf dem Tempelhofer Feld in Berlin vor zwei Millionen schaffender Menschen aus der Stadt. Heute, am 30. September, stehen Sie vor 700.000 deutschen Bauern, die aus dem weiten Gebiete Niedersachsens und aus dem ganzen Reich hierhergeeilt sind, um aus Ihrem Munde Weg, Richtung und Ziel für ihr kommendes Arbeitsjahr zu vernehmen. Diese 700.000 deutsche Bauern, Menschen der Scholle und aus bestem deutschen Blut, sagen Ihnen, mein Führer, den Dank der Nation. Sie haben nach 14 Jahren Schmach und Demütigung unserem Volke seine nationale Ehre zurückgegeben. Sie haben nach 14 Jahren, in denen die Novemberdemokratie die Zeit des deutschen Volkes mit fruchtlosen Phrasen und Debatten verbrauchte, dem deutschen Volke wieder die Möglichkeit gegeben, sich in Ehren und Anstand sein tägliches Brot zu verdienen. Diese 700.000 deutsche Bauern, mit denen sich in dieser Stunde, durch die Wellen des Äthers verbunden, die ganze deutsche Nation vereinigt, legt Ihnen ihre Huldigung zu Füßen. Sie haben ein Reich der Bauern, Arbeiter und Soldaten wiederaufgerichtet. Wie tief dieses Reich im Herzen des ganzen Volkes befestigt und verankert ist, das konnte Ihnen diese Fahrt von Goslar zum Bückeberg durch bestes deutsches Bauernland zeigen, die einem wahren Triumphzug geglichen hat. Sie, mein Führer, gaben uns unsere Ehre zurück;

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VB, 1.10.1934.

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Sie, mein Führer, gaben uns wieder unser tägliches Brot. Dafür steht eine 66-Millionen-Nation wie ein Kraft- und Stahlblock geeint und zusammengeschweißt hinter Ihnen! Und diese 66 Millionen vereinigen sich mit uns, wenn 700.000 deutsche Bauern zur Eröffnung des deutschen Erntedankfestes die Hände erheben und rufen: Unser Reich und unser Führer – Sieg Heil!, Sieg Heil!, Sieg Heil!

Die größte Massenveranstaltung auf dem Bückeberg fand 1937 statt. Der Höhepunkt des Treffens war ein Staatsakt in der Kaiserpfalz Goslar, mit einem Großen Zapfenstreich der Wehrmacht ging das Fest zu Ende. Vor mehr als einer Million Menschen sagte Hitler: Wir haben an diesem heutigen Tag eine wunderbare Sonne. Ein Jahr vor uns gab es strömenden Regen. Was es das nächste Jahr geben wird, weiß ich nicht. Aber dass wir immer wieder hier stehen werden, das weiß ich, ganz gleich, wie das Wetter sein wird… Wenn wir uns aber nach einem Jahr hier wieder treffen, dann werden wir aufs Neue bekennen können: Das Jahr ist um, und es ist wieder alles gut gegangen. Es ist für uns ein Glück, in Deutschland leben zu dürfen. Unser Deutsches Reich und unser Deutsches Volk Sieg Heil!

Doch entgegen Hitlers Prophezeiung fand 1937 das Erntedankfest zum letzten Mal auf dem Bückeberg statt. Danach verlor dieser Tag als Teil des NS-Feiertagjahres an Bedeutung, wohl auch, weil die Diktatur inzwischen erfolgreich etabliert war und vor allem ein Großteil der Landbevölkerung hinter Hitler stand. Nach einer kriegsbedingten Pause wertete das Regime 1942 die Landwirtschaft wieder auf; eine Anweisung des Propagandaministeriums zum Erntefest lautete:124 Das deutsche Volk wird an diesem Tage der Bauernschaft und vor allem der deutschen Landfrau für den heldenhaften Einsatz an der Heimatfront seinen Dank abstatten. Damit werden verbunden seien Ehrungen von verdienten Bauern, Bäuerinnen, Landarbeitern und Arbeiterinnen, Auszeichnung der Landarbeiterjubilare, Freisprechung von Landarbeiterlehrlingen. 124

Zit. nach Schellack, S. 339.

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Der 4. Oktober 1942 stand unter dem Motto „Dank an Stadt und Land“. Der offizielle Festakt in der Reichskanzlei, Ansprachen auf dem Lande und Ehrungen sollten die Landwirte motivieren, immerhin war ihr Einsatz ausschlaggebend für die gesamte Ernährungslage. Auf einer Kundgebung im Berliner Sportpalast versprach Reichsmarschall Hermann Göring jedem Wehrmachtsurlauber ein „Führerpaket“ mit Lebensmitteln. Die Feiern waren von Region zu Region unterschiedlich, auf dem Lande naturgemäß wesentlich stärker ausgeprägt als in der Stadt. Propagiert wurde, dass der „Führer“ dem Erntedanktag „neues Leben und neuen Sinn für die ganze Volksgemeinschaft“ verliehen habe: „Daher hat das Erntedankfest der Gegenwart seine Wurzeln in der Idee des Nationalsozialismus. Seine Gestaltung hat deshalb wesentlich aus dieser Idee heraus zu erfolgen.“125 In den Richtlinien zur Feiergestaltung des Erntedanktags hieß es: … Feierstunden auf dem Dorfanger oder Festplatz und Dorfgemeinschaftsabende werden den Abschluss der schweren Erntearbeit bilden. Die Feiern zum Erntedanktag finden je nach den örtlichen Gegebenheiten am Sonntagvormittag oder -nachmittag statt. Die Dorfgemeinschaft versammelt sich mit oder ohne Umzug auf dem Dorfanger, dem Festplatz oder einem sonst wie geeigneten Ort im Freien auf dem vorher ein Erntebaum aufzustellen ist. Vielfach wird am Vorabend der Erntebaum in feierlichem Umzug „eingeholt“ und in Verbindung mit einem „Einsingen“ des Erntedanktages aufgerichtet. Im Mittelpunkt der Feiern steht die Übergabe des Erntekranzes bzw. der Erntekrone durch den Ortsbauernführer an den Hoheitsträger. Der Ortsbauernführer dankt in seiner Ansprache dem Allmächtigen für die Ernte, der Hoheitsträger oder sein Beauftragter bringt den Dank des ganzen deutschen Volkes an die Bauernschaft, vor allem aber den Dank an die Landfrau für ihren heldenhaften Einsatz an der Heimatfront zum Ausdruck… Im Anschluss an diese Feiern wird…eine Festwiese eröffnet, die ihr Gepräge durch volkstümliche Darbietungen von Musik, Liedern,

125

Unser Jahr 1944, S. 27.

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bodenständigen Tänzen, Spielen, sportlichen Wettkämpfen usw. erhält… In den Städten werden zumeist am Erntedanktag vormittags in geschlossenen Räumen vor allem Morgenfeiern der NSDAP unter dem Gedanken des Erntedanks durchgeführt werden … Alle Veranstaltungen zum Erntedanktag sollen die ganze Gemeinschaft des Ortes erfassen. Die Landbevölkerung wird ihre Verwandten, Freunde und Bekannten zu diesem Tage einladen. Weiter werden auch Verwundete aus benachbarten Lazaretten, sowie Angehörige von Gefallenen dieses Krieges besonders eingeladen und betreut …126

Da aber Parteifeiern am Sonntagvormittag mit Gottesdiensten kollidierten und die Kirchen besser besucht waren als die NS-Veranstaltungen, machte der Sicherheitsdienst der SS im November 1943 folgende Vorschläge für die Zukunft:127 1. Das Erntedankfest muss das Fest des bäuerlichen Jahres werden. Der bäuerlichen Mentalität entspricht es wie kaum ein anderes Fest. 2. Der Charakter dieses Festes darf nicht der einer politischen Kundgebung sein, sondern muss noch mehr und allgemeiner als bisher aus z.T. noch vorhandenem Brauchtum zur bäuerlichen Gemeinschaftsfeier werden. 3. Verantwortliche Gestaltung des Festes wird noch mehr als bisher den Bauern selbst bzw. auch den lebensfähigsten volkskulturellen Vereinen oder Verbänden zu übertragen sein. Die Partei als solche soll selbstverständlich die Linie angeben und beratend zur Seite stehen, nach außen hin aber organisatorisch nicht so sehr in Erscheinung treten. Der Bauer muss das Gefühl bekommen, dass er „sein Fest“ gestaltet. 4. Dem bäuerlichen Bedürfnis des Danksagens an eine höhere Macht muss in irgendeiner Form innerhalb des Feierprogramms entsprochen werden…

126 127

Ebd., S. 27f. Meldungen aus dem Reich, Bd. 15, S. 6014.

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5. Der an alte Sitte anknüpfende Brauch der symbolischen Übergabe der Erntekrone an den Hoheitsträger muss in dieser neuen Form viel stärker in seiner Bedeutung ins Bewusstsein der bäuerlichen Bevölkerung gerückt werden. 6. Da erfahrungsgemäß ein Machtkampf mit der Kirche z.Zt. mit Erfolg noch nicht aufgenommen werden kann, wird im Interesse einer besseren Beteiligung der Bevölkerung empfohlen, nicht in eine zeitliche Konkurrenz mit den kirchlichen Erntedankgottesdiensten zu treten…

Das Reichserntedankfest fand zwar nur fünf Mal statt, doch es gehörte neben den Veranstaltungen am 1. Mai und den Reichsparteitagen in Nürnberg zu den größten Massenveranstaltungen der Nazis. Dennoch gelang es der Partei nicht, diesen Tag für sich zu vereinnahmen, das traditionsreiche Erntedankfest blieb ein Festtag der christlichen Kirchen, statt NS-Parolen und dem Horst-Wessel-Lied sangen die Leute lieber „Wir pflügen und wir streuen“ von Matthias Claudius. Heute gilt das Gelände bei Bückeberg als denkmalgeschütztes Kulturdenkmal, dessen einstige Bedeutung ansatzweise noch erkennbar ist.

Abbildung 41 Am 1. Oktober 1933 versammelten sich Hunderttausende von Bauern auf dem Bückeberg bei Hameln und feierten das erste Erntedankfest. 132

Gedenktage Tag der nationalen Erhebung/Tag der Machtübernahme (30. Januar) Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Nun hatte die NSDAP auf legalem Wege ihr Ziel von 1923 erreicht: sie stellte in Deutschland die Regierung, sie war mit dem Reichskanzler und zwei Ministern an einer neuen Regierung beteiligt. Erst nach und nach schieden parteilose Minister und Minister, die der DNVP angehörten, aus. NSDAP-Leute ersetzten diese, bzw. wurden Leiter neu geschaffener Ministerien. Am Abend des 30. Januar 1933 fand ein Fackelzug durch Berlin statt, den Joseph Goebbels, seit 1928 NSDAP-Reichstagsabgeordneter und Gauleiter von „Groß-Berlin“, anschaulich überlieferte: Um 7 Uhr gleicht Berlin einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Und dann beginnt der Fackelzug. Endlos, endlos, von 7 Uhr abends bis 1 Uhr nachts marschieren unten an der Reichskanzlei die Menschen vorbei. SA-Männer, SS-Männer, Hitlerjugend, Zivilisten, Männer, Frauen, Väter, die ihre Kinder auf dem Arm tragen und zum Fenster des Führers emporheben. Es herrscht ein unbeschreiblicher Jubel. Wenige Meter von der Reichskanzlei entfernt steht der Reichspräsident an seinem Fenster, eine ragende Heldengestalt … Hunderttausende und Hunderttausende ziehen im ewigen Gleichschritt unten an den Fenstern vorbei. Das ist der Aufbruch der Nation! Deutschland ist erwacht!128

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Joseph Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 253

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Der abendliche Fackelzug durchs Brandenburger Tor war für das Selbstverständnis der neuen Machthaber so bedeutend, dass Goebbels, inzwischen Propagandaminister, im Sommer 1933 die Szene professionell und technisch geschickt nachstellen und drehen ließ und in den Propagandafilm „S.A.Mann Brandt“ integrierte. Fortan galt der 30. Januar, mit dem aus Sicht der Nazis eine neue Epoche, das „Dritte Reich“, begann, als besonders wichtiger Tag im nationalsozialistischen Feiertagsjahr, ohne allerdings gesetzlicher Feiertag zu sein. Überliefert sind für diesen Erinnerungstag mehrere zeitgenössische Bezeichnungen: „Tag der Machtübernahme“, „Tag der Machtergreifung“ und „Tag der nationalen Erhebung“. Unter dem Titel „Unser Jahr – Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage“ informierte eine Richtlinie für die NS-Feier- und Freizeitgestaltung: Der 30. Januar eröffnet als Tag des ewigen Deutschen Reiches das politische Jahr. Die Partei begeht den Tag der Machtergreifung im Gedenken an das Ringen um den Kampf um die Macht. Am 30. Januar wollen wir uns wieder zu den alten Grundsätzen der Bewegung aus der Kampfzeit und der nationalsozialistischen Revolution bekennen, um sie für immer in der Partei wachzuhalten. Alle Feiern an diesem Tage sind Feiern des Sieges, zugleich aber Stunden des erneuten Bekenntnisses zum nationalsozialistischen Reich und zur Bewegung. Wir Nationalsozialisten stellen daher den 30. Januar und alle Feiern dieses Tages unter den Begriff: das Reich!129

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Zit. nach Hauptkulturamt der NSDAP (Hg.): Unser Jahr. Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1942, München 1942, S. 6.

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Abbildung 42 Zum ersten Jahrestag der "nationalen Erhebung vom 30. Januar 1933 erschienen Sonderpostkarten, hier abgestempelt in Hannover am 30. Januar 1934. Sofern der 30. Januar auf einen Wochentag fiel, fanden die Feiern abends statt. In den Richtlinien hieß es weiterhin: Die Gestaltung unserer Abendfeierstunden soll die Stärke, die Macht und die Kraft der Bewegung ausdrücken. Die Feierstunden werden von der Partei durchgeführt unter Beteiligung aller Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Vertretungen der Wehrmachtsstandorte sind einzuladen.130

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Ebd.

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Zum Ritual des 30. Januar gehörten alljährlich bis 1939: eine Regierungserklärung Hitlers vor den Reichstagabgeordneten in der Krolloper und seine Ansprache „an Partei und Volk“, meist im Sportpalast vorgetragen, sowie durch ihn vorgenommene Beförderungen und Auszeichnungen, weiterhin eine Rundfunkansprache Goebbels, Fackelzüge und eine Parade der SS. In der Presse, im Rundfunk und in der Wochenschau wurde ausführlich über die Feierlichkeiten des Tages berichtet. In den Friedensjahren versammelte sich das Reichskabinett in der Reichskanzlei, um Hitler zum Jahrestag der Machtübernahme zu gratulieren. Der Tag wurde gerne genutzt, um Gesetze zu verkünden. So trat 1934, zum ersten Jahrestag der Machtergreifung, das „Gesetz zum Neuaufbau des Reiches“ in Kraft. Mit Art. 1 wurden die Parlamente der Länder aufgehoben und mit Art. 3 die Landesregierungen der Reichsregierung unterstellt. Damit war der Föderalismus in Deutschland abgeschafft. Ein Jahr später erklärte Hitler die bevorstehende Rückkehr des Saargebiets als „das größte Fest des Jahres“; ab März 1935 gehörte das seit Endes des Ersten Weltkrieges unter französischer Verwaltung stehende Gebiet als Saarland wieder zum Deutschen Reich. 1937 verlängerte der Reichstag das Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) vom 24. März 1933, mit dem Hitler am Parlament vorbei und ohne an die Verfassung gebunden zu sein, regieren konnte, um weitere vier Jahre; eine erneute Verlängerung erfolgte am 30. Januar 1939. Welchen Stellenwert der Tag innerhalb der NSDAP besaß, zeigt ebenfalls der 30. Januar 1937, an dem Hitler Albert Speer zum Generalbauinspektor für Berlin ernannte. Außerdem verlieh er an diesem Tage und den folgenden Jahrestagen das Goldene Parteiabzeichen an hohe Beamte und Offiziere. 1939, anlässlich des 6. Jahrestages der „nationalen Erhebung“, trat in der Berliner Krolloper erstmals der „Großdeutsche Reichstag“ zusammen (nach „Eingliederung der Ostmark und des Sudentenlandes“), vor dem Hitler eine zweieinhalbstündige Regierungserklärung hielt, in der er ein „eindeutiges Bekenntnis zur deutsch-italienischen Schicksalsgemeinschaft“ ablegte und eine „prophetische Warnung an das Weltjudentum“ richtete. In der Sitzung fanden Görings Wiederwahl zum Reichstagspräsidenten und die Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes bis zum 10. Mai 1943 statt. Die Presse berichtete seitenlang über diese Reichstagssitzung und über Hitlers Begegnung mit den „Trägern des Nationalpreises“: „Am 6. Jahrestag der 136

Machtergreifung übereichte der Führer den Trägern des Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft 1938 … Generalinspektor Dr. Todt, Dr. Porsche, Prof. Heinkel und Prof. Messerschmitt, die mit dem Nationalpreis verbundenen Ordenszeichen.“ Zitiert wurde Hitlers „gewaltige Rede“, die nichts anderes als eine ungeheuerliche Hetze gegenüber den Juden darstellte. Er sagte, rund ein halbes Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges:131 Und eines möchte ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tag nun aussprechen. Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wurde meistens ausgelacht ... Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.

Auch am Jahrestag 1942, wenige Tage nach der berüchtigten Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung der Juden“ beschlossen worden war, wiederholte Hitler seine Drohungen gegenüber den Juden: „Wir sind uns dabei im Klaren darüber, dass der Krieg nur damit enden kann, dass entweder die arischen Völker ausgerottet werden, oder dass das Judentum aus Europa verschwindet …“

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VB, 31.1.1939.

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Abbildung 43 Auch über Hitlers Ansprache zum „Tag der nationalen Erhebung“ berichtete die Presse alljährlich ausführlich, "Völkischer Beobachter", 31. Januar 1939. 1943, auf dem bisherigen Höhepunkt des Krieges, wurde der 10. Jahrestag der „Machtergreifung“ gefeiert. Hitler ernannte Admiral Karl Dönitz zum neuen Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und verlieh ihm die Bezeichnung Großadmiral, andere „verdiente Männer“ zeichnete er mit dem Titel Professor aus. Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und seit 1940 im Range eines Reichsmarschalls, hielt im Ehrensaal des Reichsluftfahrtministeriums eine Ansprache und Propagandaminister Goebbels sprach auf der Kundgebung im Sportpalast. Seine lange Rede einschließlich der ebenfalls umfangreichen „Proklamation des Führers“, wurde auch im Rundfunk übertragen:132

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VB, 31.1.1943.

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Meine deutschen Volksgenossen und Volksgenossinnen! Parteigenossen und Parteigenossinnen! Seit der Machtergreifung am 30. Januar 1933 hat der Führer jedes Jahr persönlich, meistens vom Sportpalast aus, zum deutschen Volke gesprochen und ihm die Parole für das kommende Kampfjahr gegeben. Der Führer hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass es sein herzlichster Wunsch gewesen ist, auch heute zur deutschen Nation zu sprechen. Er bedauert ebenso tief wie wir, die uns allen zu einem inneren Bedürfnis gewordene Tradition der Begehung dieses Gedenktages dieses Jahr unterbrechen zu müssen … Partei und Staat werden in der Vorbereitung des totalen Krieges beispielhaft vorangehen…Allerdings erwartet die Führung vom Volke, dass nicht nur Befehle und Gesetze durchgeführt werden. Jeder stellt sich darüber hinaus für jede kriegsnotwendige Arbeit zur Verfügung, weil er weiß, dass er dazu vom Führer aufgerufen ist. Die Kriegsgesetze sind selbstverständlich für alle bindend, Ausnahmen können da nicht gemacht werden! Ob hochgestellt oder niedrig, ob arm oder reich, im Lebenskampf des deutschen Volkes ist keiner zu schade, seine ganze Kraft und alles, was ihm gehört, dem Vaterlande zur Verfügung zu stellen … Der Führer wendet sich nun an diesem geschichtlichen Erinnerungstage in einer Proklamation an das deutsche Volk. Von seinem Hauptquartier aus richtet er seinen Appell an die Nation. Es ist für mich in dieser denkwürdigen Stunde eine stolze Ehre, vor dem ganzen deutschen Volke die Proklamation des Führers zur Verlesung bringen zu dürfen. Sie hat folgenden Wortlaut: „Zum zehnten Mal jährt sich heute der Tag, an dem mir der Reichspräsident Generalfeldmarschall von Hindenburg die Verantwortung für die Führung des Reiches übergab. Das 14jährige Ringen der nationalsozialistischen Bewegung um die Macht, die, selbst aus kleinsten Anfängen entstehend, nunmehr als weitaus stärkste Partei des Reiches

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das legale Recht der Regierungsbildung besaß, erhielt damit seinen erfolgreichen Abschluss … Das also war das Erbe, das mir am 30. Januar 1933 verantwortlich übergeben wurde … So wie damals im Innern nur zwei Möglichkeiten bestanden: entweder der Sieg der nationalsozialistischen Revolution und damit den planmäßigen sozialen Neuaufbau des Reiches oder der bolschewistische Umsturz und damit die Zerstörung und Versklavung aller, so gibt es auch heute nur diese beiden Alternativen: Entweder es siegen Deutschland, die deutsche Wehrmacht und die mit uns verbündeten Länder und damit Europa oder es bricht von Osten her die innerasiatisch-bolschewistische Welle über den ältesten Kulturkontinent herein, genau so zerstörend und vernichtend, wie dies in Russland selbst schon der Fall war … Angefangen vom hohen Norden bis zur afrikanischen Wüste, vom Atlantischen Ozean bis in die Weiten des Ostens, von der Ägäis bis nach Stalingrad, erklingt ein Heldenlied, das Jahrtausende überdauern wird … Das Großdeutsche Reich und die mit ihm verbündeten Nationen werden sich darüber hinaus aber auch noch jene Lebensräume gemeinsam sichern müssen, die für die Erhaltung der materiellen Existenz dieser Völker unentbehrlich sind. Hauptquartier, den 30. Januar 1943.“ Soweit die Proklamation des Führers. Sie enthält alles das, was wir in dieser Stunde wissen müssen, und die Befehle, auf die das deutsche Volk mit Ungeduld gewartet hat. Hier finden wir die Parolen des Kampfes und einer wilden Entschlossenheit, die unsere Herzen erheben und unsere Gemüter stärken und aufrichten. Die deutsche Nation weiß nun, was sie zu tun hat! Ein kriegführendes und kriegsbereites Volk geht jetzt wieder an die Stätten seines Kampfes und seiner Arbeit zurück. Gläubiger denn je wollen wir uns dabei vor allem in diesen schicksalhaften Stunden dem Führer verpflichtet fühlen ...

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Wir erheben uns von den Plätzen. Mit uns erhebt sich das ganze deutsche Volk in Ehrfurcht vor seinen Helden und grüßt den Führer in diesem Augenblick fanatischen Kampfeswillen mit unserem alten Ruf: Adolf Hitler – Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil.

Doch nicht wegen der „Proklamation“ oder dem propagierten Kampfeswillen blieb den Berlinern der zehnte „Jahrestag der Machtergreifung“ in Erinnerung, sondern weil die britische Luftwaffe, um die Feiern zu stören, erstmals am Tag die Reichshauptstadt angriff. Am 30. Januar 1945 meldete sich Hitler ein letztes Mal über den Rundfunk an das deutsche Volk; er rief dazu auf, dass jeder Deutsche „seine Pflicht bis zum Äußersten“ erfülle und dass er jedes Opfer, das von ihm gefordert werde und werden müsse, auf sich nehme.

Abbildung 44 Sonderbriefmarke "50 Jahre Verfolgung und Widerstand" (30. Januar 1933), 1983. Viele Deutsche hatten zu diesem Zeitpunkt gar keine Gelegenheit mehr, Radio zu hören, da ihre Wohnungen und damit die Rundfunkgeräte zerstört waren. Der Krieg war militärisch entschieden; in Aachen befanden sich bereits seit Oktober 1944 die West-Alliierten, im Osten marschierte die SowjetArmee Richtung Berlin. Für rund 9000 Menschen endete an diesem Tag das Leben: Am 30. Januar 1945 wurde die „Wilhelm Gustloff“, das ehemalige 141

Kreuzfahrtschiff der NS-Organisation „Kraft-durch-Freude“, das nun flüchtende Bewohner aus Ostpreußen nach Westen bringen sollte, von einem sowjetischen U-Boot vor der Küste Pommerns versenkt. So blieb auch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der 30. Januar ein Gedenktag – ein Tag der Erinnerung an die Opfer dieses größten Schiffsunglücks aller Zeiten. Doch auch mittels Publikationen, TV-Dokumentationen und Vorträgen wurde immer wieder mahnend an diesen Tag erinnert, der die deutsche Geschichte nachhaltig verändern sollte. So erschien sogar 1983 eine 80-Pfennig-Sonderbriefmarke unter dem Motto „1933–1945 – Verfolgung und Widerstand“. Heutzutage allerdings spielt der 30. Januar innerhalb der Erinnerungskultur der breiten Masse keine Rolle.

Parteitag zur Erinnerung an die Verkündung des Parteiprogramms 1920 (24. Februar) Am 24. Februar 1920 erfolgte im Münchner Hofbräuhaus die Umbenennung der im Jahr zuvor gegründeten Deutschen Arbeiterpartei in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Auf dieser ersten Massenversammlung der Partei verkündete der damals noch unbekannte Adolf Hitler 25 Punkte des Parteiprogramms. Auch andere Tage Ende Februar waren für die Parteigeschichte von Bedeutung: Nach dem Parteiverbot 1923 infolge des „Hitler-Ludendorff-Putsches“ (9. November) kam es zur Neugründung der NSDAP am 26. Februar 1925; an diesem Tage erschien erneut der „Völkische Beobachter“. Einen Tag später sprach Hitler erstmals nach seiner Haftentlassung wieder in der Öffentlichkeit. Und am 23. Februar 1930 verstarb in Berlin Horst Wessel, der als „Märtyrer der Bewegung“ verehrt wurde und dessen von ihm verfasstes „Kampflied der SA“ als „Horst-Wessel-Lied“ ab 1933 Bestandteil der Nationalhymne war. Vor allem ab der „Machtübernahme“ spielte der 24. Februar als „Geburtstag der Partei“ eine wichtige Rolle, allerdings blieben offizielle Feiern beschränkt auf Berlin und München. Eine Breitenwirkung hatte dieser Tag nicht, im Gegensatz zu den anderen Feiertagen wurde in der Presse nur marginal darüber berichtet. Zur ersten Feier, am 24. Februar 1933, waren rund 2000 Parteimitglieder, unter ihnen vor allem Gründungsmitglieder, nach München gekommen, wo 142

Hitler im Hofbräuhaus eine Ansprache hielt. Eine weitere Massenveranstaltung fand zeitgleich im Berliner Sportpalast mit den Hauptrednern Goebbels und Prinz August Wilhelm statt. Der Prinz war der vierte Sohn von Kaiser Wilhelm II. und der Partei 1930 beigetreten. Als Vertreter des ehemaligen Kaiserhauses wurde er gerne von der NSDAP als Wahlredner eingesetzt, er sollte vor allem konservativ und monarchisch gesinnte Menschen, die dem Nationalsozialismus bislang fern gestanden hatten, für Hitler begeistern. 1934 begannen die Feiern zum „Ehrentag der Bewegung“ am Vorabend mit einem Treueversprechen der politischen Leiter der NSDAP, der HJ und des BDM: „Ich schwöre Adolf Hitler unverbrüchliche Treue, ihm und den mir von ihm bestimmten Führern unbedingten Gehorsam.“ Ein Jahr später hielt Hitler im Hofbräuhaus eine Rede vor Amtsträgern der Partei: Was wir in zwei Jahren schufen, ist erst die Ankündigung dessen, was einmal sein wird … Ihr kehrt niemals mehr zurück. Das, was heute ist, wird nimmer vergehen und das, was war, wird niemals wieder sein ... Ich habe die Demokratie durch ihren eigenen Wahnsinn besiegt, uns aber kann kein Demokrat besiegen … heute haben wir die Macht, und ihr habt nichts! Ihr besiegt uns wirklich nicht.133

Alljährlich am 24. Februar hielt Hitler eine vergleichbare Ansprache am „Geburtsort der NSDAP“. 1940, anlässlich des 20. Jahrestags der Verkündung des Parteiprogramms, fielen die Feiern größer aus. In seinen Ausführungen bewertete Hitler den ein halbes Jahr zuvor geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) als „segensreich für beide Völker“: „Die Hoffnung, es könnte doch morgen oder übermorgen wieder anders sein, diese Hoffnung ist vergeblich.“ Seine Rede über die Leistungen der vergangenen Jahre beendete er mit einem Zitat Martin Luthers: „Und wenn die Welt voll Teufel wär´, es muss uns doch gelingen.“134 Im folgenden Jahr äußerte sich Hitler ausführlich zum U-Boot-Krieg und meinte auf die gegenwärtigen

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VB, 25.2.1935. VB, 25.2.1940.

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Entbehrungen des deutschen Volkes, er hoffe, dass „einmal die Stunde kommen wird, da der Herrgott diese Prüfung als beendet erklärt“. Mit diesem Auftritt endete eine jahrelange Tradition, denn es war Hitlers letzte Rede im Hofbräuhaus anlässlich des Gedenktages. 1942 vertrat ihn in München Gauleiter Adolf Wagner, ein bekannt böswilliger Antisemit, der in seiner Rede die „Ausrottung der Juden“ als „das endgültige Ergebnis des Krieges“ bezeichnete.

Abbildung 45 Auch der Parteigründungstag als wichtiger NS-Gedenktag fand in der Presse große Beachtung; "Völkischer Beobachter", 25.2.1936. 144

Im folgenden Jahr ließ sich Hitler von seinem frühen Gefolgsmann Hermann Esser, Staatssekretär im Propagandaministerium, vertreten, der eine „Proklamation des Führers“ verlas. 1944 fand in Berlin eine Tagung unter Vorsitz von Reichsleiter Martin Bormann statt, auf der die aktuelle militärische Lage erörtert wurde. Während zur Mittagszeit amerikanische Bomberverbände zahlreiche Städte in Mittel- und Süddeutschland angriffen, bezeichnete Reichsorganisationsleiter Robert Ley den „Führer“ als „leuchtendes Vorbild für jeden Deutschen“. Aus Anlass des Parteigründungstages verlieh Hitler seinem Leibarzt Theo Morell das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes“. Noch für 1944 hieß es in den Richtlinien zu den „Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf“: … In dem gewaltigen Ringen des Zweiten Weltkrieges stehen wir vor der Erfüllung unseres Programms – vor dem Sieg um unseres Volkes Leben und Dasein, vor des deutschen Volkes Freiheit! Unter diesen Gedanken gestalten wir unsere Feierstunden zum 24. Februar. Wir halten dabei einen stolzen Rückblick über die Zeit, die hinter uns liegt und die von unseren Kämpfen, unseren großen Leistungen und erhabenen Siegen kündet. Dann geht unser Blick in unerschütterlichem Glauben fest und treu in die Zukunft, die uns den Endsieg bringen wird.

Und zur Durchführung der Feier hieß es: Es ist selbstverständlich, dass die Feiern zum Tage der Verkündung des Parteiprogramms in einer würdigen Form gestaltet werden. Dabei wollen wir daran denken, dass es nicht dem Sinn dieses Krieges entspricht, unsere Veranstaltungen in äußerlich repräsentativer Form durchzuführen. Unsere Feiern müssen auf das Geschehen unserer Zeit ausgerichtet sein. Wir stehen im Kampf um das Sein oder Nichtsein unseres Volkes. Im Mittelpunkt der Feiern steht die Ansprache des Hoheitsträgers oder seines Beauftragten. Die Feiern werden von der Partei durchgeführt unter Beteiligung aller Gliederungen und angeschlossenen Verbände und darüber hinaus der gesamten Volksgemeinschaft.

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Zur Gestaltung der Feiern sollen in erster Linie uniformierte Kapellen, Chöre und Gemeinschaften der Partei, ihrer Gliederungen und Verbände herangezogen werden. Außerdem wird sich besonders auf dem Lande der Reichsarbeitsdienst zur Verfügung stellen. Darüber hinaus können auch Gemeinschaften des Nationalsozialistischen Volkskulturwerkes mitwirken.135

1944 ließ sich Hitler in München bei der Versammlung der „Alten Kämpfer“ erneut von Hermann Esser vertreten, der wieder die „Proklamation des Führers“ verlas; darin hieß es u.a., dass das nationalsozialistische Deutschland diesen Kampf so lange weiterführen werde, bis am Ende „die geschichtliche Wende“ eintrete. Was die Heimat erdulde, sei entsetzlich und was die Front zu leisten habe, sei übermenschlich, doch am Ende siege Deutschland. Ein letztes Mal empfing Hitler in der Reichskanzlei die Reichs- und Gauleiter sowie hohe Funktionäre der Partei. Diesen gab er „Richtlinien für die siegreiche Fortführung des Kampfes“ und an die Gauleiter in Breslau und Königsberg sandte er Telegramme, in denen er sie aufforderte, bis zum „endgültigen Sieg“ an ihren „schweren Posten auszuharren“. Der Bevölkerung war schon lange nicht mehr zum Feiern zumute, ihr Tagesablauf war seit vielen Monaten von Luftalarmen bestimmt. In der Nacht auf den 24. Februar 1945 kamen bei einem Angriff britischer Bomber alleine in Pforzheim rund 17.600 Einwohner ums Leben, mehr als ein Fünftel der Bevölkerung. Am Tag selbst wurden Bielefeld, Bremen und Hamburg schwer beschädigt. So war der 25. Jahrestag der „Verkündung des Parteiprogramms“ zugleich der letzte, ein halbes Jahr später, am 10. Oktober 1945 wurde die NSDAP aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 2 des Alliierten Kontrollrates offiziell verboten, bei den Nürnberger Prozessen wurde die Partei sogar zur „verbrecherischen Organisation“ erklärt.

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Unser Jahr 1944, S. 11f.

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Verpflichtung der Jugend, Sonntag im März Die noch heute praktizierte Jugendweihe gab es bereits in der Weimarer Republik, wo sie Teil der Arbeiterkulturbewegung war. Wie so oft, bedienten sich die Nationalsozialisten vorhandener Institutionen und Bräuche und deuteten diese in ihrem Sinne um. Als ein Ersatzritual für die bisherige Jugendweihe bzw. Konfirmation sowie Firmung wurde nun die „Verpflichtung der Jugend“ eingeführt, die sich an den politisch geprägten Schulentlassungsfeiern des NS-Lehrerbundes am Ende des Schuljahres orientierte.136

Abbildung 46 Die Jugend wurde von klein auf von den Nationalsozialisten vereinnahmt. Eine Propagandapostkarte von 1933 zeigt einen Vertreter des Jungvolks. 136

Albrecht Döhnert: Die Jugendweihe, in: Etienne Francois/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Band 3, München 2001, S. 351ff.

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Die Feier, veranstaltet von der örtlichen Partei, sollte in Anwesenheit der Eltern stattfinden und den jungen Menschen einen neuen Lebensabschnitt eröffnen. Anders als bei den Feierlichkeiten zum 30. Januar oder zum 9. November, wo historischer Ereignisse gedacht wurden, oder zum 20. April, an dem die „Verehrung des Führers“ im Mittelpunkt stand, galt der Tag der „Verpflichtung“ dem einzelnen Jungen oder Mädchen der Hitler-Jugend. Erstmals 1940 durchgeführt, fand der besondere Tag ab 1942 reichseinheitlich an einem Sonntag im März statt, in der Regel eine Woche oder 14 Tage nach dem „Heldengedenktag“. Gemäß den entsprechenden Richtlinien, lautete der „Sinn des Tages“:137 Im Leben der deutschen Jugend gibt es drei besondere Ereignisse, die jeden Jungen und jedes Mädchen persönlich betreffen. Es sind dies die Feiertage der Jugend, die in ihrem Kern nicht so sehr die Formation berühren, sondern den einzelnen Menschen erfassen und ihn an den Führer und die Gemeinschaft binden: 1. die Aufnahme der Zehnjährigen in das Deutsche Jungvolk bzw. in den Jungmädelbund; 2. die Verpflichtung der Vierzehnjährigen am Tage ihrer Überweisung in die eigentliche Hitler-Jugend bzw. in den Bund Deutscher Mädel, damit zusammenfallend die Schulentlassung und der Berufseintritt; 3. die Überweisung der Achtzehnjährigen in die NSDAP – Aufnahme in die Partei – und ihre Erwachsenenformationen …

Die Verpflichtung der Jugend bedeutet für die vierzehnjährigen Jungen und Mädel einen wichtigen Lebensabschnitt. Die meisten von ihnen verlassen die Schule und treten ins Berufsleben ein. Zum ersten Male werden sie sich ihrer Verantwortung gegenüber Volk und Führer bewusst und sprechen ein feierliches Gelöbnis auf den Führer und die Fahne aus… Die Verpflichtung der Jugend ist somit eine Feier der ganzen Volksgemeinschaft, an der außer den vierzehnjährigen Jungen und Mädeln ihre Eltern und

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Unser Jahr. Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf 1942, S. 9f.

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Verwandte, die Partei mit ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden, die Schule, die Behörden, die Wirtschaft usw. teilnehmen. Nach der Gemeinschaftsfeier werden die Eltern an diesem hohen Tage ihrem Kind ein kleines Fest in der Familie bereiten und – soweit dies im Kriege möglich ist – ein Geschenk überreichen Zur musikalisch umrahmten Feier gehörten die Ansprache eines Hoheitsträgers sowie die Verpflichtungsformel: Ich gelobe, dem Führer Adolf Hitler treu und selbstlos in der Hitlerjugend zu dienen. Ich gelobe, mich allezeit einzusetzen für die Einigkeit und Kameradschaft der deutschen Jugend. Ich gelobe Gehorsam dem Reichsjugendführer und allen Führern der HJ. Ich gelobe bei unserer heiligen Fahne, dass ich immer versuchen will, ihrer würdig zu sein, so wahr mir Gott helfe!

Bemerkenswert ist, dass auf die religiöse Bekenntnisformel „so wahr mir Gott helfe“ nicht verzichtet wurde. So wurde auch hier wieder eine Nähe zur Kirche hergestellt, die nicht gegeben war. Anlässlich der ersten Reichsfeier sprach Reichsjugendführer Arthur Axmann am 22. März 1942 zur Jugend: Verehrt die großen Heroen des Geistes und des Kampfes! Verehrt die Helden dieses Krieges, unter denen ihr mit Stolz eure Väter und Brüder wisst, und entzündet eure Herzen an ihren unvergleichlichen Taten! Seid vor allem dankbar euren Eltern, denn dieser Tag ist ihr Feiertag. Sie haben euch in eurem Leben alles gegeben! Gebt es ihnen zurück durch Liebe und Anständigkeit!138

Während Axmann die Jugend an ihre „soldatische Pflichterfüllung“ gemahnte, verlasen an diesem Sonntag die Pfarrer ein Hirtenwort der katholischen Bischöfe gegen den nationalsozialistischen „Kampf gegen Christentum und Kirche“. Die „Verpflichtung der Jugend“ war als staatliches Ersatzritual für die Konfirmation gedacht, doch angesichts des Krieges und des baldigen Endes der

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VB, 23.3.1942.

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Naziherrschaft konnte sich diese Form der Lebensfeier nicht etablieren. In der NS-Zeit erschien nur einmal, nämlich im März 1943, eine 6+4-Pfennig Sonderbriefmarke zum „Tag der Verpflichtung der Jugend“.

Abbildung 47 Auch der Jugend wurden Briefmarken gewidmet; hier Briefmarken von 1944 mit einer jungen Frau und einem jungen Mann des Reichsarbeitsdienstes (RAD).

Führers Geburtstag (20. April) In Anlehnung an die Geburtstage der Kaiser im Deutschen Kaiserreich war auch der 20. April, der Geburtstag Adolf Hitlers, ein besonderer Tag, allerdings kein arbeitsfreier Nationalfeiertag. Hitlers Geburtstag, „Führers Geburtstag“ oder auch „Führergeburtstag“ genannt, wurde erstmals 1933 begangen. Reichspräsident Paul von Hindenburg gratulierte dem seit wenigen Wochen amtierenden Reichskanzler telegrafisch zur erbrachten „großen vaterländischen Arbeit“. Anlässlich dieses Tages wurde Hitler von zahlreichen Städten die Ehrenbürgerwürde verliehen, ebenso wurden Straßen und Plätze nach Hitler benannt. Joseph Goebbels, seit fünf Wochen Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, notierte für den 20. April 1933 in sein Tagebuch: Der Führer hat Geburtstag. Er selbst weilt irgendwo in Bayern und entzieht sich allen Ovationen in Berlin. Hier stehen die Menschen vor der

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Reichskanzlei und schauen zu seinem Fenster empor. Heute ist für die Reichshauptstadt die Parole ausgegeben worden, dass keiner hungern darf. Ein großes soziales Hilfswerk sorgt für die Armen der Stadt, wie hier so im ganzen Reich. Sie sollen wenigsten nicht wie in alten Zeiten bei Geburtstagsfeiern mit leeren Phrasen abgespeist werden. Ich rede mittags in der Städtischen Oper über Hitlers Geburtstag vor den Künstlern der Reichshauptstadt … Abends spreche ich über alle Sender zum Geburtstag des Führers und schildere ihn als Menschen aus meiner persönlichen Bekanntschaft. Ich glaube so am besten diesem denkwürdigen Tag gerecht zu werden.139

Und einen Tag später heißt es: Beim Führer, der vormittags nach Berlin zurückkehrt, liegt das ganze Haus voll von Geburtstagsgeschenken. Es ist rührend, was die Menschen ihm nicht alles geschickt haben. Vom wertvollsten Präsent bis zur kleinen, bescheidenen Kinderzeichnung oder Strickerei eines alten Mütterchens aus dem Volk. Wie glücklich muss ein Mensch sich schätzen, der so von der Liebe des Volkes umgeben ist …140

Ein Jahr später verherrlichte Reichsminister Ernst Röhm den Tag, „an dem vor 45 Jahren das Schicksaal der Nation in ihm ihren Retter schenkte“. Der blinde, bedingungslose Gehorsam gegenüber Hitler gipfelte 1935 in der Wochenzeitschrift „Der NS-Erzieher“: Adolf Hitler! Dein Name ist Deutschland, Dein ist unser Wir, Dein Wille ist unser Gebot, Dein Kampf ist unser Kampf. Dein Leben ist das seit 2000 Jahren ersehnte Gottesgeschlecht.141

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Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, S. 301. Ebd., S. 301f. Zit. nach Overesch, S. 206.

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Wie ein Glaubensbekenntnis klingen diese Worte und so waren sie auch gedacht. Hielt sich Hitler an seinem Ehrentag 1933 und 1934 noch aus der Öffentlichkeit zurück, da er mit Rücksicht auf den Reichspräsidenten einen übertriebenen Kult um seine Person vermeiden wollte, änderte sich dies nach Hindenburgs Tod (2. August 1934). Mit geradezu religiöser Verehrung wurde Hitler als „zweiter Messias“ gepriesen. Mit solchen Bekenntnissen waren die Geburtstagsgratulationen für Hitler den traditionsreichen „Kaisergeburtstagen“ weit entrückt. Das ganze Land war an jedem 20. April geflaggt, die „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ huldigte dem Kanzler, anschließend nahm dieser die Militärparade in der Reichshauptstadt ab. Dieser Tag wurde ebenfalls gerne für Beförderungen und Auszeichnungen genutzt. So erhielt am 20. April 1936 Reichskriegsminister Werner von Blomberg als erster General überhaupt den Titel Generalfeldmarschall, am selben Tag wurden die Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, und des Heeres, Werner von Fritsch, zu Generalobersten und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Erich Raeder zum Großadmiral befördert. Als „Gegenleistung“ sammelte Goebbels Jahr für Jahr Geldspenden, die er Hitler „zur Schaffung neuer großer Kulturwerte“ überreichte. Der Propagandaminister schrieb am 21. April 1937 in sein Tagebuch: Gestern: herrlicher Tag. Führergeburtstag. Sonne. Berlin im Flaggenschmuck. Gott schenke dem Führer Gesundheit und ein langes Leben … Vorbeimarsch Leibstandarte. Riesenkerls! … Sonst noch viele Beförderungen. Vor allem eine ganze Masse auch in meinem Ministerium. Meine Rede an den Führer wird überall groß gebracht. Große Parade vor dem Führer an der Technischen Hochschule vor Hunderttausenden. Ein imposantes militärisches Schauspiel. Unbeschreiblich in seiner Kraft und Pracht. Und das bei strahlender Sonne. So weit also sind wir nun. Der Führer sieht ganz glücklich aus.142

In der Weimarer Republik, nur wenige Jahre zuvor, hatte es an Flaggen in Berlin gefehlt, so dass der Bevölkerung ein sichtbares Zeichen der Bedeutung des

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Fröhlich, Teil I, Bd. 4, München 2000, S. 104f.

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Verfassungstages fehlte, nun wehten überall die Hakenkreuzfahnen und Hitler, einem Regenten gleich, wurde von der Mehrheit der Deutschen bejubelt. Wie einst am 2. September, fanden am 20. April auch Grundsteinlegungen oder Einweihungsfeiern statt. 1937 etwa eröffnete Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht die neue Ehrenhalle des „Hauses für Wirtschaft und Arbeit“. Und hatte sich Wilhelm II. an seinem Geburtstag gerne in der Oper blicken lassen, so saß Hitler begeistert vor der Leinwand; an seinem 49. Geburtstag nahm er an der Uraufführung des Olympiafilms von Leni Riefenstahl im UfaPalast am Zoo teil. Zum Ritual des Tages gehörten auch die Überweisungsfeier vom Deutschen Jungvolk bzw. Jungmädel in die Hitler-Jugend bzw. in den Bund Deutscher Mädel. Die Aufnahme in die HJ erfolgte offiziell mit dem zehnten Lebensjahr. Seit 1936, mit Einführung des jahrgangsweisen Aufbaus, fanden die Aufnahmen nur noch einmal jährlich statt. Als Datum in den entsprechenden Urkunden war symbolisch der 20. April vermerkt; der Beitritt der Kinder in die HJ galt folglich als besonderes „Geburtstagsgeschenk“ für Hitler. Außerdem fand an diesem Tag die Vereidigung der Politischen Leiter der NSDAP statt, die alljährlich von Rudolf Hess in München vorgenommen wurde. Die Richtlinien des Hauptkulturamtes der NSDAP zum 20. April lauteten:143 Der Geburtstag des Führers ist (obwohl er noch nicht zum Staatsfeiertag erklärt worden ist) einer der Feiertage des deutschen Volkes, die bereits tief ins Bewusstsein des Volks eingegangen sind. Der 20. April wird neben den Feiern der Bewegung durch die Verbundenheit des Führers mit der Wehrmacht als deren Oberster Befehlshaber stets auch zum guten Teil ein militärisches Gepräge haben und es wird diese Verbundenheit durch etwaige militärische Feierlichkeiten, besonders nach dem Kriege bei der großen traditionellen Führerparade zum Ausdruck kommen. Schon seit der Kampfzeit hat die Partei aber gerade an diesem Tage in den Gauen, Kreisen und Ortsgruppen besondere Aufgaben.

143

Unser Jahr. Feiern im nationalsozialistischen Jahreslauf und Gedenktage 1942, S. 11f.

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Die Feier selbst sollte folgendermaßen durchgeführt werden: Am Vortage, am 19. April, erfolgt die feierliche Aufnahme der Zehnjährigen in das Deutsche Jungvolk bzw. in den Jungmädelbund. Diese Feier ist nicht allein Sache der Formation, vielmehr wird sich an ihr die Bevölkerung, besonders die Elternschaft beteiligen… Der 20. April ist als Werktag ein Tag der Arbeit für Führer und Volk. Am Abend vereinigt die Partei alle Gliederungen und Verbände und alle Volksgenossen zu einer Feierstunde. Die Gesamtverantwortung für die Parteiveranstaltungen und ihrer Gliederungen trägt auch hier der Hoheitsträger.

Seit 1938 fanden am 20. April auch Feiern in Österreich statt. 1939 – Hitler wurde 50 Jahre alt – fielen im „Großdeutschen Reich“ (und im „Protektorat Böhmen und Mähren“) die Veranstaltungen nicht nur großzügiger aus, der Tag wurde zudem erstmals (allerdings auch zum einzigen Mal) zum arbeitsfreien Staatsfeiertag erklärt:144 Auf Grund des Gesetzes über einmalige Sonderfeiertage vom 17. April 1939…wird im Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsminister und dem Reichswirtschaftsminister aus Anlass des 50. Geburtstages des Führers verordnet: Der 20. April 1939 ist in Großdeutschland nationaler Feiertag. Berlin, den 17. April 1939, Der Reichsminister des Innern Frick

Die offiziellen Feierlichkeiten in Berlin begannen bereits am Vorabend mit einem Zapfenstreich und einem Fackelzug von 6000 Ehrenzeichenträgern. Zudem hielt Goebbels eine Rundfunkrede, in der er Hitler, einem Gottgesandten gleich, hochleben ließ:145

144 145

RGBl. 1939, Teil I, S. 764. Zit. nach Archiv der Gegenwart, die weltweite Dokumentation für Politik und Wirtschaft, Wien 1939, S. 4032.

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Der Name Hitler sei heute für die ganze Welt ein politisches Programm. Einer geschichtlichen Epoche seinen Namen zu geben, sei das Höchste, was ein Mensch auf Erden erreichen könne. Adolf Hitler habe nicht nur der geschichtlichen Entwicklung seines Landes, sondern auch ganz Europa eine neue Richtung gewiesen; er sei gewissermaßen der Garant der neuen Ordnung in Europa. Zu einer großen Politik gehöre zweierlei: Fantasie und Realismus, beides Eigenschaften, die beim Führer in einer einmaligen nur selten festzustellenden Harmonie vereint seien …

Eine Parade der SS-Leibstandarte eröffnete dann die Feier am 20. April. Dem Reichskanzler gratulierten neben den Ministern und den Vertretern der Wehrmachtsführung auch ausländische Staatsgäste wie Staatspräsident Emil Hácha aus Prag, Ministerpräsident Stefan Tiso und Außenminister Ferdinand Durcansky aus der Slowakei sowie der päpstliche Nuntius Cesare Orsenigo. Auf der Ehrentribüne vor der Technischen Hochschule nahm Hitler mit seinen Gästen die Parade der Wehrmacht ab. Zum Festprogramm gehörten mehrere Empfänge und musikalische Veranstaltungen, u.a. empfing Hitler eine von Albert Speer, dem Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, angeführte Delegation von Künstlern und Wissenschaftlern. Wie einst an nationalen Feiertagen im Kaiserreich, nutzte die NS-Führung den Tag für Einweihungen und Beförderungen. So wurde Generalmusikdirektor Herbert von Karajan zum Staatskapellmeister ernannt, neu gestiftet wurde das „Großkreuz des deutschen Adlers in Gold“, die nun höchste Auszeichnung für Ausländer, und in Berlin fand die Eröffnung der Akademie für Jugendführung als zentrale Ausbildungsstätte der Hitlerjugend statt. Die traditionsgemäß an „Führers Geburtstag“ erfolgende Vereidigung der politischen Leiter im ganzen Reich bildete den Abschluss der Feiern. In seinem Tagebuch gab Goebbels die Stimmung des Feiertages und dessen Vorabend wider:146 Berlin ist unterdess eine wahre Feststadt geworden. Noch nie war das Volk so glücklich und so aufgeräumt wie in diesen Tagen … Die alte Garde, die aus ganz Deutschland nach Berlin gekommen ist, versammelt sich bei 146

Tagebucheintrag vom 20. und 21.4.1939, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 6, München 1998, S. 321ff.

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Kroll … Die Geburtstagsgeschenke für den Führer sind nun fertig: von mir ein Überblick über das deutsche Filmschaffen mit den dazugehörigen Filmen, vom Gau Berlin die gesamten historischen Baupläne der Stadt und von der alten Garde die Originale aller früheren gegnerischen Karikaturen über den Führer. Das wird ihm sicherlich Freude machen. Ich verteile die Beförderungsurkunden für eine ganze Reihe von Beamten des Ministeriums. Wir sind diesmal gut weggekommen … Um ½ 7 h halte ich meine Führergeburtstagsrede. Sie wird fast in die ganze Welt übertragen…Dem Führer meine Geburtstagsgeschenke überreicht. Er freut sich sehr darüber. Sie sind auch besonders originell. Vor allem die Baupläne gefallenen ihm gut. Fahrt über die Ost-West-Achse. Ein Triumphzug. An die 2 Millionen Menschen stehen Spalier. Ein Jubel ohnegleichen. Die Straße liegt in einem märchenhaften Lichterglanz. Und eine Stimmung wie nie. Der Führer strahlt vor Freude. Zapfenstreich der Wehrmacht. Fackelzug der alten Garde aus dem ganzen Reich. Die hat den Staat erobert. Und huldigt nun dem Führer. Es sind die alten, lieben Kameraden aus den Jahren des härtesten Kampfes. Ein ergreifendes Bild… Noch lange mit dem Führer erzählt. Mitternacht. Wir gratulieren ihm alle zum Geburtstag. Möge er uns noch viele Jahre gesund erhalten bleiben. Dann ist Deutschlands stolzeste Zukunft gesichert … Gestern: morgens in aller Frühe geht´s auf dem Wilhelmplatz schon los. Das Volk gratuliert. In rührendster Weise. Es ist ergreifend. Gratulation der Reichsregierung. Göring spricht zum Führer. Kurz und gut … Parade vor dem Führer. Sie dauert fast 5 Stunden. Ein glänzendes Bild deutscher Macht und Stärke. Unsere schwerste Artillerie wird zum ersten

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Male gezeigt. Alles ist maßlos erstaunt und verblüfft. Stürme des Beifalls. Der Führer wird vom Volk gefeiert, wie nie sonst ein sterblicher Mensch gefeiert worden ist. So also stehen wir da. Im gleißenden Sonnenlicht leuchtet die Siegesgöttin. Ein wunderbares Vorzeichen. Das Publikum rast vor Begeisterung. So sah ich das Volk noch nie …

Abbildung 48 Anlässlich des 50. Geburtstages Hitlers erschien eine Propagandapostkarte mit der "Erfolgsliste des Führers". 157

Wie bereits zum 20. April 1937 und 1938 brachte die Reichspost auch zum 50. Geburtstag eine Sonderbriefmarke (zu 12 Pfennig mit 30 Pfennig Zuschlag) heraus, die Hitler vor dem Hintergrund der Kirche seines Geburtsortes Braunau zeigt. Bis 1944 erschien alljährlich zu „Führers Geburtstag“ eine Sonderbriefmarke mit dem Porträt Hitlers. Die Feiern am und zum 20. April 1939 stellen, rückblickend betrachtet, eine Wende der „Führergeburtstage“ dar. Ein Jahr später befand sich Deutschland im Kriegszustand. Noch erschien Hitler vielen als der unbestrittene „Gröfaz“ („größter Feldherr aller Zeiten“), bevor er sich wenig später zum „Grövaz“ („größter Verbrecher aller Zeiten“) entpuppte. Noch war die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung gut, doch die Feiern und Paraden fielen von nun an bescheidener aus. Über den 51. Geburtstag Hitlers notierte Goebbels in sein Tagebuch: Gestern: ein wundervoller Frühlingstag. Führergeburtstag! Das Volk steht schon vom frühen Morgen an auf dem Wilhelmplatz und bringt dem Führer Ovationen dar. Die deutsche Presse steht ganz im Zeichen dieses Tages. Meine Rundfunkrede gibt den Tenor an. Auch das Ausland stimmt mit ein … Militärische Lage gut … Die Front will im Rundfunk etwas Sport. Wir gehen nun mehr darauf ein. Unser Rundfunkprogramm ist nun wirklich großartig und ausgezeichnet. Besonders zum gestrigen Tage boten wir ein Klasseprogramm.147

In den kommenden Kriegsjahren entfielen die Feierlichkeiten und Paraden in der Hauptstadt, Hitler hielt sich an diesem Tag meistens außerhalb von Berlin auf, entweder in seinem Hauptquarttier Wolfsschanze in Ostpreußen oder auf dem Berghof bei Berchtesgaden. Gerne wurden nun an einem 20. April Beförderungen und Auszeichnungen innerhalb der Wehrmacht vorgenommen. So erhielt 1940 der Befehlshaber der U-Boote, Konteradmiral Karl Dönitz, das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes, 1941 wurde Reichsleiter Alfred Rosenberg zum „Beauftragten des Führers für Fragen des osteuropäischen Raumes“ ernannt und 1944 verlieh Hitler Generaloberst Hans Hube das Eichenlaub mit Schwertern und Brillanten zum Ritterkreuz, den bis dahin höchsten

147

Fröhlich, Teil I, Bd. 8, München 1998, S. 65.

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militärischen Orden. Anlässlich seines 55. Geburtstages überreichte eine Delegation der Waffen-SS Hitler eine Spende der „Leibstandarte SS Adolf Hitler“ in Höhe von zweieinhalb Millionen RM, die für das Kriegswinterhilfswerk gedacht war und Reichsmarschall Göring erließ einen Aufruf an die Wehrmacht und das deutsche Volk, der Durchhalteparolen enthielt. Die Bevölkerung jedoch hatte zu diesem Zeitpunkt längst andere Sorgen, als an die „Leistungen“ des „Führers“ zu denken und diesem zu danken. Auch war vielen Menschen es nicht mehr möglich, die Rundfunkansprache, die Propagandaminister Goebbels am Vorabend von Hitlers 56. Geburtstag hielt, zu hören. Zwar beschönigte der Redner die verheerende Lage für Deutschland nicht, doch zeigte er sich noch immer als treuer, blindgläubiger Gefolgsmann des „Führers“:148 Meine deutschen Volksgenossen und Volksgenossinnen! In einem Augenblick des Kriegsgeschehen, in dem – so möchte man glauben – noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, alle Mächte des Hasses und der Zerstörung…gegen unsere Fronten anrennen, um sie zu durchbrechen und dem Reich den Todesstoß zu versetzen, trete ich, wie immer noch seit 1933, am Vorabend des 20. April vor das deutsche Volk hin, um zu ihm vom Führer zu sprechen. Es gab in der Vergangenheit glückliche und unglückliche Stunden, in denen das geschah. Aber noch niemals standen die Dinge so wie heute auf des Messers Schneide, musste das deutsche Volk unter so enormen Gefahren sein nacktes Leben verteidigen und das Reich in einer letzten Gewaltanstrengung den Schutz seines bedrohten Gefüges sicherstellen… Die glänzendste Kultur, die die Erde jemals getragen hat, sinkt in Trümmern dahin und hinterlässt nur noch ein Andenken an die Größe einer Zeit, die diese satanischen Mächte zerstörten. Die Völker werden erschüttert von schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die Vorboten kommender furchtbarer Ereignisse sind…

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VB, 20.4.1945.

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Deutschland wird nach diesem Kriege in wenigen Jahren aufblühen wie nie zuvor. Seine zerstörten Landschaften und Provinzen werden mit neuen, schöneren Städten und Dörfern gebaut werden, in denen glückliche Menschen wohnen. Ganz Europa wird an diesem Aufschwung teilnehmen… Die deutsche Geschichte ist nicht reich an großen Staatsmännern. Wo sie aber in ihr auftraten, da hatten sie meistens nicht nur ihrem Volke, sondern auch der Welt etwas zu sagen und zu geben. Was würde an Europa noch europäisch sein, hätten sich nicht deutsche Kaiser und Könige, Fürsten und Feldherren mit ihren Heeren dem immer wiederholten Anstürmen aus dem Osten auch immer wieder entgegengeworfen … Sollte es heute anders sein? Das eine aber kann heute schon nicht mehr bestritten werden: Gäbe es keinen Adolf Hitler, würde Deutschland von einer Regierung geführt wie etwa Finnland, Bulgarien und Rumänien… Unser Unglück hat uns reif, aber nicht charakterlos gemacht. Deutschland ist immer noch das Land der Treue. Sie soll in der Gefahr ihren schönsten Triumph feiern. Niemals wird die Geschichte über diese Zeit berichten können, dass ein Volk seinen Führer oder dass ein Führer sein Volk verließ. Das aber ist der Sieg. Worum wir so oft im Glück an diesem Abend den Führer baten, das ist heute im Leid und in der Gefahr für uns alle eine viel tiefere und innigere Bitte an ihn geworden: Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war – unser Hitler!

Seinen letzten Geburtstag verbrachte Hitler im Bunker der Reichskanzlei, wo er u.a. Göring, Goebbels, Speer und Dönitz empfing. Reichsführer-SS Heinrich Himmler übermittelte dem Jubilar das „Bekenntnis der ganzen deutschen Jugend zum Führer“ und Benito Mussolini schickte, acht Tage vor seinem eigenen Tod, ein letztes Glückwunschtelegramm. Diese Rede war Goebbels vorletzte Ansprache im Rundfunk. Nur wenige Tage später, am 30. April 1945, erschoss sich Hitler, einen Tag später beendete auch Propagandaminister Goebbels sein Leben. „Führergeburtstage“ gehörten der Vergangenheit an; nur in rechtsextremen Kreisen wird auch heute noch dieser Tag „gefeiert“. 160

Abbildung 49 Sonderbriefmarke anlässlich Hitlers 53. Geburtstages, 1942.

Muttertag, (2. bzw. 3. Sonntag im Mai) Der Ursprung des heutigen Muttertages liegt in den USA, dort wurde er erstmals 1914 als nationaler Feiertag begangen. In Deutschland unterstützte der Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber die Idee eines Ehrentages für die Mutter. Als unpolitischer Tag, an dem Blumengrüße im Vordergrund stehen sollten, wurde der Muttertag zum ersten Mal am 13. Mai 1923 gefeiert. Der eigens für die Aktion gegründete „Vorbereitende Ausschuss für den Deutschen Muttertag“ wurde zwei Jahre später in die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit“ integriert. Diese Arbeitsgemeinschaft wiederum war 1919 gegründet worden mit dem Ziel, die „guten Sitten“ und die „deutsche Würde“ zu propagieren und dem „Verfall der Familie“ entgegenzuwirken. 1929 beklagte der „Vorbereitende Ausschuss für den Deutschen Muttertag“ die gesellschaftlichen Zustände, die mit der Feier des Muttertages bekämpft werden sollten:149

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Vorbereitender Ausschuss für den Deutschen Muttertag (Hg.): Der Tag der Mutter. Muttertag. Rückschau auf 1928 und Ausblick auf 1929, Berlin 1929, zit. nach Longerich, S. 226f.

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Im Gedanken des Muttertages liegt in einer suchenden und irrenden Zeit wie der jetzigen eine starke aufbauende Kraft. Das kam in fast allen Ansprachen am Muttertag beredt zum Ausdruck … Wenn wir ins Leben der Gegenwart blicken, begegnen wir allenthalben Schund und Schmutz. Schon an unsere Kinder tritt er in widerlicher Weise auf Schritt und Tritt heran. Die Sinneslust treibt in weiten Kreisen traurige Blüten. Ein wüstes Sichausleben, ein Mangel an Pflichtgefühl und ernstem Verantwortungsbewusstsein macht sich weithin bemerkbar. Es sind in großem Ausmaß zerstörende Mächte am Werk, die weithin zu einer Auflösung des Familienlebens führen. Hier will der Muttertag einen Damm aufrichten, indem er hinweist auf die hohen Kulturgüter, die im Schoße unseres Familienlebens ruhen. Er will zur Besinnung auf die ehernen Grundpfeiler eines starken Volkstums, nämlich die kinderreichen Familien, hinweisen. Es ist nicht mehr selten, dass unsere jungen Frauen und Mütter aus Eitelkeit, Selbstsucht oder Bequemlichkeit keine Freude mehr an Kindern empfinden und deshalb keine Kinder haben wollen! Eine ernste Mahnung will der Muttertag an alle Frauen und Mütter zur gemeinsamen Bekämpfung der zersetzenden Einflüsse und zur Stärkung des deutschen Familienlebens richten.

Die konservative Bewegung wandte sich gegen das nach dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung tretende Bild der „modernen Frau“, wie es nun vor allem von den Filmschauspielerinnen verkörpert wurde. Nicht der selbstbewussten Frau, die ihr Wahlrecht wahrnimmt, ihr eigenes Geld verdient, womöglich übertrieben geschminkt und gar rauchend in der Öffentlichkeit auftritt, galt das Interesse der Arbeitsgemeinschaft, sondern der Frau als Mutter. Folglich sollte der Muttertag in diesen Jahren als „Familienfeiertag“ begangen werden, an dem die (möglichst kinderreiche) Mutter mit Geschenken geehrt werden sollte.150

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Zur „Vorgeschichte“ des NS-Muttertags s.: Irmgard Weyrather: Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter“ im Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1993, S. 18-39.

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Unter den Nationalsozialisten erfuhr dieser bislang unpolitische Tag eine Aufwertung. Zum Muttertag 1933 griff der „Völkische Beobachter“ das in der Weimarer Republik vermittelte Mutterbild auf: Die nationale Revolution hat alles Kleinliche hinweggefegt! Ideen führen wieder…Die Idee des Muttertages ist dazu angetan, das zu ehren, was die deutsche Idee versinnbildlicht: die deutsche Mutter ... Mit diesem Begriff „Mutter“ ist „Deutschsein“ ewig verbunden – kann uns etwas enger zusammenführen als der Gedanke gemeinsamer Mutterehrung?151

Bereits ein Jahr später war der „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“, der am 3. Maisonntag 1934 stattfand, Teil des nationalsozialistischen Feiertagsjahres. Fortan verliehen öffentliche „Mütterweihen“ der Mutter einmal im Jahr eine besondere Aufmerksamkeit und zwar sonntagvormittags, d.h. auch diese Feier stand in Konkurrenz zum Gottesdienst der Kirchen. Die organisierten Feiern waren allgemein akzeptiert, schließlich handelte es sich um einen schon vorhandenen und nicht um einen spezifisch nationalsozialistisch geprägten Gedenktag, den auch dem Regime fernstehende Menschen begehen konnten. Dennoch wurde auch dieser Tag politisch vereinnahmt. Schon 1934 nutzte Propagandaminister Goebbels den Muttertag für seine Zwecke; er rief den „Reichsmütterdienst im deutschen Frauenwerk“ ins Leben und verkündete die entsprechenden Richtlinien. Damit hatte sich das Ziel der „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ erfolgreich erfüllt: „Mit Freude begrüßen wir es, dass nunmehr in großem Ausmaß die staatlichen Mittel der Propaganda dazu dienen werden, den Gedanken des Muttertags zu vertiefen unter Betonung seines ideellen Charakters. Und Rudolf Knauer, der Geschäftsführer des Verbandes der deutschen Blumengeschäftsinhaber, der als „Begründer des Deutschen Muttertages“ galt, frohlockte: Es war uns deshalb eine lebhafte innere Freude, dass wir der nationalsozialistischen Regierung unser Werk rein übergeben konnten … So geht nun der Deutsche Muttertag, getragen vom Amt für Volkswohlfahrt und dem Deutschen Frauenwerk mit Unterstützung der

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VB, 13.5.1933.

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altbewährten Organisation, in die neue Zeit zur gesegneten Wirkung für unser ganzes Volk … Schaffet der Mutter Freude … und reicht ihr einen Strauß von Blumen zum Zeichen der unvergänglichen Liebe.152

Künftig wertete der Muttertag nicht nur die Mutterschaft der „arischen“ Frau auf, er stand auch in Verbindung mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Schon im Parteiprogramm stand: „Der Staat muss für die Hebung der Volksgesundheit durch den Schutz der Mutter und des Kindes sorgen“.153 Dass der Kult um die „deutsche Mutter“ Teil derselben NS-Rassenideologie war, zu der auch „Zwangssterilisationen“ und die Ermordung „nicht-arischer“ Mütter und Kinder gehörten, sei hier am Rande erwähnt. Die Aufmerksamkeit galt ausschließlich derjenigen Frau, die als „Hüterin des Familienlebens“ für die Erziehung künftiger Generationen wirkte.154 Nach Ansicht des Reichsärzteführers Gerhard Wagner kam der Mutter in der NS-Volksgemeinschaft eine besondere Stellung zu: Die deutsche kinderreiche Mutter soll den gleichen Ehrenplatz … erhalten wie der Frontsoldat, denn ihr Einsatz von Leib und Leben … war der gleiche wie der des Frontsoldaten im Donner der Schlachten.155

Mit dieser Aufwertung war die Rolle der Frau im Nationalsozialismus festgeschrieben; sie hatte Kinder zu gebären, ihr oblag die Erziehung der Kinder und die Haushaltsführung. Eine Erwerbstätigkeit der Frau war jedenfalls nicht erwünscht und eine politische Betätigung, wie das im Ansatz noch in der Weimarer Republik möglich war, war geradezu ausgeschlossen. Als Anreiz stiftete die NSDAP kinderreichen Müttern eine Auszeichnung, die erstmals 1939 verliehen 152

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155

Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung, 2.5.1934, Nr. 10, S. 3 und S. 10. Gottfried Feder: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundgedanken, München 1933, S. 21. Max Matter: Entpolitisierung durch Emotionalisierung. Deutscher Muttertag – Tag der Deutschen Mutter – Muttertag, in Rüdiger Voigt (Hg.): Symbole der Politik. Politik der Symbole, Opladen 1989, S. 129. VB, 25.12.1938.

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wurde. Frauen mit mindestens vier oder fünf Kindern erhielten das „bronzene Mutterkreuz“, Mütter mit sechs oder sieben Kindern das „silberne Kreuz“ und Frauen mit acht oder mehr Kindern das „goldene Mutterkreuz“.156 Mitgeliefert wurden zugleich Mustertexte, Gedichte und Ansprachen, die bei den „Weihefeiern“ als angemessen schienen. Auch bei „Morgenfeiern“ des BDM, bei denen die „Einsatzbereitschaft der Frau“ propagiert wurde, wurden Texte mit entsprechender NS-Ideologie vorgetragen:157 Im starken Volke dienen still die Frauen, sie sind die Heimat, und sie sind das Haus. Wenn Männer wagen, schenken sie Vertrauen, was Männer schaffen, schmücken sie erst aus. Sie sind die frohen Mütter stolzer Söhne, die wollen sie als ihren hellsten Ruhm, sie tragen in die Jahre alles Schöne, sie wirken für ein hohes Menschentum. Von solchem Volke wird viel Kraft genommen, was leuchten soll, muss stark durch Leiden gehen. Und wenn das Schwere düster ist gekommen, groß muss die Frau dem Mann zur Seite stehn.

Zur Motivation gehörte auch ein „Wort des Führers“, der den jungen Frauen unmissverständlich ihre Rolle in der Gesellschaft zuwies: Wenn man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, die Welt des Mannes ist sein Ringen, die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, so könnte man vielleicht sagen, dass die Welt der Frau eine kleinere sei. Denn ihre Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder und ihr Haus.

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Zur Verleihungspraxis, Ablehnung und Entziehungsmöglichkeiten des Mutterkreuzes s.: Weyrather S. 55-161. Die Mädelschaft. Blätter für Heimabendgestaltung im Bund Deutscher Mädel, Berlin 1937, S. 67f.

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Wo wäre aber die größere Welt, wenn niemand die kleinere Welt betreuen wollte? Wie könnte die größere Welt bestehen, wenn niemand wäre, der die Sorgen um die kleinere Welt zu seinem Lebensinhalt machen würde? Nein: Die große Welt baut sich auf dieser kleinen Welt auf! Diese große Welt kann nicht bestehen, wenn die kleine Welt nicht fest ist. Die Vorsehung hat der Frau die Sorgen um diese ihre eigenste Welt zugewiesen, aus der sich dann erst die Welt des Mannes bilden und aufbauen kann. – Diese Welten stehen sich daher nie entgegen. Sie ergänzen sich gegenseitig, sie gehören zusammen, wie Mann und Weib zusammengehören.

Abbildung 50 Die Frau als Mutter wurde offiziell von den Nationalsozialisten verehrt; zu den "Wohltaten" der Mutter gegenüber gehört auch das 1934 gegründete "Hilfswerk Mutter und Kind“, hier drei Sonderbriefmarken zum 10jährigen Bestehen. Mit Kriegsbeginn wurden zunehmend Frauen zum Arbeitseinsatz herangezogen, auch für sie galten der Reichsarbeitsdienst (RAD) und der Kriegshilfsdienst (KHD). Wo erforderlich, mussten ebenso Mütter die Arbeit von Männern übernehmen, etwa in der Rüstungsindustrie oder in der Landwirtschaft. Soweit durchführbar, wurde der Muttertag auch in den Kriegsjahren zelebriert. In den entsprechenden Richtlinien, die, ebenso für alle weiteren Gedenk- und Feiertage erst ab 1942 erlassen wurden, hieß es:158

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Unser Jahr 1944, S. 23ff.

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Die deutsche Mutter trägt die Ewigkeit des deutschen Volkes. Ihr zu Ehren ist ein besonderer Tag im Jahr gewidmet, an dem das deutsche Volk zu seinen Müttern kommt, um ihnen für alle Sorgen und Mühen, für alle ihre Liebe zu danken. Zum Muttertag im Kriege wollen wir vor allem daran denken, welchen großen Anteil die deutsche Frau und Mutter an dem gewaltigen Freiheitskampfe des deutschen Volkes hat. Diesen Anteil besonders zu würdigen und den Frauen und Müttern den Dank der Partei und des ganzen deutschen Volkes für ihre stillen Opfer und ihre unbeugsame Kraft zum Ausdruck zu bringen, ist Aufgabe des diesjährigen Muttertages. Unser Dank und unsere Ehrung soll allen deutschen Müttern gelten. Neben den Müttern, die mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet werden und die während des Krieges dem deutschen Volk Kinder geboren haben, stehen ganz besonders im Mittelpunkt der Ehrung der Mütter, die einen Sohn oder ihren Mann im Ringen um Deutschlands Freiheit verloren und die Mütter, die bei Fliegerangriffen Kinder und Angehörige geopfert haben. Außerdem wollen wir der Mütter gedenken, die heute im Kriegseinsatz stehen und mithelfen für Deutschlands Rüstung und Wehrkraft.

Die Durchführung der Feier war folgendermaßen vorgesehen: … Nach Möglichkeit sollten die zur Feierstunde eingeladenen Mütter von BDM.-Mädeln, Jungmädeln, Hitler-Jungen oder Pimpfen in ihrer Wohnung abgeholt und zur Feier geleitet werden, ebenso soll ihnen auch nach der Feier das Geleit gegeben werden… Als Ehrengäste sind die Mütter unter folgenden Gesichtspunkten einzuladen: Mütter, denen das Mutterehrenkreuz verliehen wird; Mütter, die früher bereits das Mutterehrenkreuz verliehen bekommen haben;

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Mütter, die ihren Mann oder einen Sohn im Krieg verloren haben; Mütter, die bei Fliegerangriffen Kinder oder Angehörige geopfert haben; Mütter, die dem deutschen Volke in diesem Kriege Kinder geboren haben; Mütter, die in besonderem Kriegseinsatz stehen. … Die als Ehrengäste einzuladenden Mütter erhalten bevorzugte Ehrenplätze. Es hat sich inzwischen als Brauch durchgesetzt, den Müttern, die als Ehrengäste geladen sind, nach der Verleihung des Mutterehrenkreuzes durch BDM.-Mädel, Jungmädel oder Pimpfe Blumensträuße zu überreichen … Die Feierstunden der NSDAP zum Muttertag – Mutterehrungsfeiern – sollen in diesem Jahre auch wie sonst einen besinnlich-frohen Charakter haben, trotzdem aber der Größe unserer Zeit Rechnung tragen. Sie sollen keine Trauerfeiern oder Gefallenenehrungsfeiern werden, sondern den auszuzeichnenden Müttern mitten in den harten Tagen des Krieges eine Stunde der inneren Entspannung und seelischen Stärkung bieten … Alle Feiern zum Muttertag müssen musikalisch umrahmt werden. Zur Gestaltung sollen Bund Deutscher Mädel und Hitler-Jugend, Jungvolk und Jungmädelbund, NS-Frauenschaft und Jugendgruppen der NS-Frauenschaft, sowie alle verfügbaren, einsatzfähigen Kräfte der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände herangezogen werden … Jungmädel- oder Mädel-Einheiten oder Kindergruppen der NS-Frauenschaft besuchen die alten und kranken, oft sehr einsamen Frauen in den Altersheimen und Krankenhäusern, singen ihnen fröhliche alte und neue Volkslieder und bringen ihnen Blumen usw. …

Für viele Mütter allerdings gestaltete sich mit Fortdauer des Krieges der Muttertag zum Trauertag, dann nämlich, wenn ihre Söhne gefallenen waren, dieser „Weihetag“ bot dann keinen Trost.159 159

Zu den „Mütterehrungsfeiern“ s. Weyrather, S. 206-215.

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Sommersonnenwende (22. Juni) Zweimal im Jahr findet die Sonnenwende statt: im Juni und im Dezember. Auf der Nordhalbkugel der Erde erreicht die Sonne am 20., 21. oder 22. Juni ihren mittäglichen Höchststand über dem Horizont, am 21. oder 22. Dezember erreicht sie die geringste Mittagshöhe. In vorchristlicher Zeit, insbesondere in der keltischen Religion, galt die Sommersonnenwende als ein mystischer Tag, der besonders gefeiert wurde. Das Christentum übernahm diese Feiern, verband sie aber mit der Feier zu Ehren des Heiligen Johannes des Täufers, dessen Geburtstag am 24. Juni gefeiert wird. In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni werden noch heute in vielen, überwiegend katholischen Gemeinden Johannisfeuer veranstaltet. Ab Ende des 19. Jahrhunderts fanden überall im Reich entsprechende Feiern auch an den zahlreichen Bismarcktürmen statt, zumindest an solchen, die als Feuersäule errichtet waren und über Feuerkörbe bzw. Feuerschalen verfügten.160 Initiiert wurden diese Feuer, die an Bismarck und seine Leistung erinnern sollten und die häufig auch an dessen Geburtstag (1. April), Todestag (30. Juli) und am Sedantag (2. September) entzündet wurden, von der Studentenschaft. Lediglich katholische Studentenverbindungen hielten sich in der Regel solchen Veranstaltungen fern, da sie diese als heidnischen Brauch missbilligten. Die Nationalsozialisten wollten an die altgermanische Tradition der Sommersonnenwende anknüpfen und überließen diesen Tag ihrer Jugendorganisation, der HJ, und dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), die ihre Treffen mit einem abendlichen Feuer beendeten. In der NS-Richtlinie zur Sommersonnenwende während des Krieges hieß es:161 Wenn wir die Sonnenwende in diesem Jahr auch nicht so feiern können, wie wir es seit der Kampfzeit getan haben, so soll die Sonnwendfeier doch in unseren Gedanken lebendig bleiben als eine unserer schönsten Feierstunden. 160

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Jörg Koch: Bismarckdenkmäler und Bismarckgedenken am Oberrhein, UbstadtWeiher 2015, S. 134ff. Unser Jahr 1942, S. 15

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Nach dem Krieg werden zur Sonnenwende unsere großen Feuer auf allen deutschen Bergen aufflammen und Künder unserer festen, ewigen Gemeinschaft sein. Durchführung: Die Sonnwendfeier ist eine Feier, die nicht nur von einzelnen Gliederungen getragen werden kann, sondern von der ganzen Bewegung. Die Gestaltung der Feier darf aber zu keiner Massenveranstaltung führen.

Mit dem Entzünden der Feuer anlässlich der sommerlichen Sonnwendfeier schufen die Nazis also nichts Neues, sie griffen auch hier auf einen bereits verwurzelten Brauch in der Bevölkerung zurück, ohne dass sich dieser jedoch in der NS-Zeit gefestigt oder gar vertieft hätte.

Reichsparteitage (September) Die Reichsparteitage waren keine Feiertage im eigentlichen Sinne, sie hatten aber dennoch ihren festen Platz im NS-Feiertagsjahr. Sie waren Massenveranstaltungen, die der Vermittlung der NS-Ideologie dienen und eine Brücke zwischen Parteifunktionären und Bevölkerung bilden sollten. Der erste Reichsparteitag der NSDAP hatte bereits im Januar 1923 in München stattgefunden. Nach Verbot und Neugründung der Partei folgten Veranstaltungen in Weimar (1926) und Nürnberg (1927 und 1929). Ab 1933 fanden die Versammlungen als „Reichsparteitage des Deutschen Volkes“ in Nürnberg und zwar stets Anfang September statt. Mit ihrer zentralen Lage und geeigneten Örtlichkeiten bot die Stadt günstige Voraussetzungen für solche Massenveranstaltungen, an denen mehr als eine Million Menschen teilnahmen. Wochen vorher wies ein aufwändiger Werbefeldzug mit Plakaten, Presseund Rundfunkberichten sowie Filmen auf die Reichsparteitage hin. Mit Sonderzügen aus ganz Deutschland reisten die Mitwirkenden (Angehörige der Wehrmacht, der SS, der Hitler-Jugend etc.) und Besucher an. Eine ausgeklügelte An- und Abreiselogistik sorgte für einen weitgehend reibungslosen Ablauf, ebenso standen genügend Toiletten und Verpflegungseinrichtungen zur Verfügung. 170

Abbildung 51 Alljährlich erschienen Sonderbriefmarken und Propagandapostkarten anlässlich der Reichsparteitage, hier eine Karte... 171

Neben der „Rede des Führers“ und anderer prominenter Parteigrößen gehörten Paraden, Sportdarbietungen, Tänze oder die Vereidigung der Politischen Leiter und abschließend der Große Zapfenstreich zum Programm der achttägigen Veranstaltungen, die ab 1933 unter einem Motto standen: „Reichsparteitag des Sieges“ (1933), „Reichsparteitag des Willens“ (1934), „Reichsparteitag der Freiheit“ (1935), „Reichsparteitag der Ehre“ (1936), „Reichsparteitag der Arbeit“ (1937), „Reichsparteitag Großdeutschland“ (1938). 1939 sollte die Kundgebung „Reichsparteitag des Friedens“ lauten und am 2. September eröffnet werden, doch dieser Reichsparteitag wurde Ende August abgesagt; am 1. September begann der Zweite Weltkrieg. In die Geschichtsbücher ging vor allem der Reichsparteitag vom September 1935 ein, da auf ihm die „Nürnberger Rassegesetze“ verkündet wurden. Bekannt ist auch die Veranstaltung von 1934, da dieser Reichsparteitag als „Triumph des Willens“, einem 1935 uraufgeführten Dokumentations- und zugleich Propagandafilm von Leni Riefenstahl, Filmgeschichte geschrieben hat. Während der Parteitage, die einem überdimensionierten Volksfest glichen, bei dem einerseits der Führermythos zelebriert wurde, andererseits die Volksgemeinschaft sich selbst feierte, versank ganz Nürnberg in ein Meer roter Hakenkreuzflaggen. In den Jahren 1934 bis 1939 erschienen anlässlich der Reichsparteitage Sonderbriefmarken. Die Wochenschauen, der Rundfunk und der „Völkische Beobachter“ berichteten ausführlich über die Veranstaltungen und ließen somit die Zuhausegebliebenen am Geschehen teilhaben.

Abbildung 52 ... und eine Briefmarke mit Sonderstempel aus dem Jahr 1935. 172

Typisch für eine Ansprache Hitlers ist dessen Schlussrede auf dem Parteitag vom 3. September 1933:162 … Die Nation aber fühlt allmählich die Entstehung einer neuen politischen Führung, der sie sich steigernd mehr und mehr ergibt, weil sie instinktiv in ihr etwas von jener Kraft wittert, der sie einst ihre Entstehung zu verdanken hatte. Dasselbe Volk aber, das in dieser liberalen Epoche mit seiner Führung in ewigem Hader liegt, steht mehr und mehr wie ein Mann hinter seiner neuen. Das Wunder, an das unsere Gegner niemals glauben wollten, ist Wirklichkeit geworden. In diesem vierzehnjährigen Kampfe hat sich in unserem Volke eine neue, nach vernünftigen und entscheidenden Gesichtspunkten durchgeführte Gliederung vollzogen. Aus 45 Millionen erwachsenen Menschen haben sich drei Millionen Kämpfer organisiert als Träger der politischen Führung der Nation. Zu ihrer Gedankenwelt aber bekennt sich als Anhänger heute die überwältigende Mehrheit aller Deutschen. In diese Hände hat sich das Volk vertrauensvoll sein Schicksal gelegt. Die Organisation hat aber damit eine feierliche Verpflichtung übernommen: Sie muss dafür sorgen, dass dieser Kern, der bestimmt ist, die Stabilität der politischen Führung in Deutschland zu gewährleisten, erhalten bleibt für immer. Die Bewegung hat dafür zu sorgen, dass durch eine geniale Methode der Auswahl nur jene Ergänzung stattfindet, die das innerste Wesen dieser tragenden Gemeinschaft unserer Nation niemals mehr verändert… Wir dürfen nie davor zurückscheuen, aus dieser Gemeinschaft zu entfernen, was nicht seinem inneren Wesen nach zu ihr gehört. Wir müssen 162

Zit. nach Werner Conze: Der Nationalsozialismus II, 1933-1945, Stuttgart 1962, S. 2f.

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daher im Laufe der Zeit die Bedingungen für die Zugehörigkeit verschärfen und nicht vermindern oder schwächen. Niemals aber darf dieser Kern vergessen, dass er seinen Nachwuchs im ganzen Volk zu suchen hat. Er muss daher in steter Arbeit die ganze Nation nach seinen Prinzipien führen, das heißt sie lebendig erfassen. Nur aus dieser ununterbrochenen Arbeit mit und für und um das Volk entsteht ein wirklich innerer Bund und aber auch die Fähigkeit, das zu dieser Auslese Gehörende im Volk zu erkennen …

Diese Rede, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme gehalten, zeigt einen hohen Grad an Emotionalität, zugleich einen irrationalen und pseudoreligiösen Charakter. Hitler schätzt seine Zuhörerschaft ein als gefühlsbetont, unterordnungs- und unterwerfungswillig, hingabebereit und autoritätsgläubig. Er unterstellt seinem Publikum die Bereitschaft, jede Selbstständigkeit im Denken und Handeln aufgeben zu wollen, sich von ihm und seiner Partei bereitwillig führen zu lassen. Zumindest im Jahr 1933 mag er die Lage richtig eingeschätzt haben, denn die hier beschworene „Geschlossenheit“ und der „bedingungslose Gehorsam“ zwischen „Volk und Führer“ zerbrachen erst sehr spät. Ein Jahr später, 1934, reisten 770.000 Personen mit der Bahn nach Nürnberg, um Teil des Reichsparteitages zu sein. Legendär sind die Worte, mit denen Rudolf Hess, der „Stellvertreter des Führers“, nach Hitlers Rede, den Parteikongress am 10. September 1934 beendete: „Die Partei ist Hitler, Hitler aber ist Deutschland, wie Deutschland Hitler ist.“163 Im März 1938, mit dem „Anschluss Österreichs“, hatte sich die „Volksgemeinschaft“ um rund sechseinhalb Millionen Menschen erweitert. Auf dem „Reichsparteitag Großdeutschlands“ wurde dieser Zuwachs gefeiert, Hitler als „Vollender des neuen Reiches“ gepriesen. In seiner Schlussrede in der Kongresshalle sagte er:164 … Eine Schar von Kämpfern war damals [1923] durch diese Stadt marschiert. Eine kämpfende Nation ist heute aus ihnen geworden. Was damals die Kampffahne der Kompanien und Bataillone war, ist heute

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VB, 11.9.1934. VB, 13.9.1938.

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die Flagge von 75 Millionen Menschen allein in diesem Reich. Seit sieben Tagen marschiert in unserer Bewegung wieder ganz Deutschland durch diese Stadt. In stärkster Einprägsamkeit wird uns bewusst, dass damit die Zersplitterung der Nation beendet und zum ersten Mal in unserer Geschichte eine wahrhafte Reichseinheit – weil Volkseinheit – gefunden wurde …

Noch heute erinnert das ehemalige, von Albert Speer entworfene Reichsparteitagsgelände im Südosten der Stadt Nürnberg an die Massenkundgebungen der 1930er Jahre. Den Krieg überdauert haben die für 50.000 Besucher konzipierte, aber nicht vollendete Kongresshalle, die seit 2001 als Dokumentationszentrum dient, und die Zeppelinhaupttribüne vor dem Zeppelinfeld, dem einstigen Hauptaufmarschgelände.

Abbildung 53 Auch 1939 erschien eine Sonderbriefmarke zum "Reichsparteitag des Friedens", der dann jedoch aufgrund des Kriegsbeginns nicht stattfand.

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Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung (9. November) Am Abend des 8. November 1923 hatten sich im Münchner Bürgerbräukeller rund 3000 Personen versammelt – nationalistisch und monarchistisch gesinnte Vereinsmitglieder, Honoratioren, derzeitige und ehemalige Politiker, Verwaltungsbeamte sowie Offiziere -, die während einer „Vaterländischen Kundgebung“ der epochalen Ereignisse vor fünf Jahren gedachten. Gefeiert wurden jedoch nicht die Errungenschaften der Demokratie, in den zahlreichen Reden wurde vielmehr das Ende der Monarchie bedauert, gegenüber der Reichsregierung in Berlin wurden Vorwürfe erhoben, deren Minister als „Novemberverbrecher“ diffamiert. Diese Versammlung nutzte Adolf Hitler, der mit einer bewaffneten Einheit der SA aufmarschiert war; er verkündete, die „nationale Revolution“ sei ausgebrochen: Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Niemand darf den Saal verlassen. Die bayerische und die Reichsregierung sind gestürzt. Eine provisorische nationale Regierung ist gebildet worden …165

Angesichts Hitlers Drohung gingen führende Persönlichkeiten auf Hitlers Ansinnen ein, u.a. Gustav von Kahr, ehemaliger bayerischer Ministerpräsident und nunmehriger Generalstaatskommissar, dem die in Bayern stationierten Einheiten der Reichswehr unterstanden. Am Vormittag des 9. November marschierte Hitler mit seinen Sympathisanten vom Bürgerbräukeller durch die Innenstadt Richtung Feldherrnhalle. Diesem Demonstrationszug, der von dem bekannten Weltkriegs-General Erich von Ludendorff angeführt wurde, schlossen sich rund 1500 Bürger an. Hitlers Vorbild war der erfolgreiche „Marsch auf Rom“ im Jahr zuvor, unternommen von Benito Mussolini. Da ihm ein „Marsch auf Berlin“ nun doch zu gewagt schien, wollte Hitler zunächst die bayerische Regierung stürzen. Auf dem Odeonsplatz aber bereitete die bayerische Landespolizei der Demonstration ein Ende. Bei dem Schusswechsel kamen vier Polizisten zu

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Zit. nach Jörg Koch: Der 9. November in der deutschen Geschichte, Freiburg 2009, S. 67.

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Tode, 15 Anhänger Hitlers und ein Schaulustiger starben. Hitler selbst gelang zunächst die Flucht. Angeklagt wegen Hochverrats, nutzte er, ein österreichischer Staatsbürger, die in der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgten Prozesstage im Frühjahr 1924 zu Propagandareden. Während seiner Haft in der Festung Landsberg verfasste Hitler sein Buch „Mein Kampf“. Bereits zu Weihnachten 1924 wurde er „aufgrund guter Führung“ vorzeitig entlassen. Nachdem das im November 1923 verhängte Parteiverbot aufgehoben war, gründete Hitler im Februar 1925 die NSDAP neu, von nun an entwickelte sie sich zur „Führerpartei“. Im Rückblick waren für Hitler der gescheiterte Putschversuch „ein Segen“ und der „eigentliche Geburtstag“ der Partei,166 folglich erhielt der 9. November künftig einen besonderen Stellenwert. Schon an diesem Tag 1925 wurde innerhalb der NSDAP die Schutzstaffel (SS) gegründet, ein Jahr später schickte Goebbels sein erstes Rundschreiben als Gauleiter von Berlin-Brandenburg an alle Ortsgruppen und Sektionsführer. Nach der Machtübernahme 1933 erhielt der 9. November die Bezeichnung „Marsch auf die Feldherrnhalle“ und wurde zum Gedenktag der Partei. Bereits seit 1928 wiederholten Hitler und die „Alten Kämpfer“, d.h. die Beteiligten von 1923, alljährlich am 9. November den Marsch vom Bürgerbräukeller über die Ludwigsbrücke zur Feldherrnhalle. Dabei wurde die von ihnen zum Kultgegenstand erhobene Blutfahne – eine Hakenkreuzfahne, die angeblich mit dem Blut des am 9. November 1923 erschossenen Fahnenträgers getränkt war – vorangetragen. Seit 1926 wurden neue Standarten der SS und andere Parteifahnen durch Berührung mit dem Tuch dieser Blutfahne geweiht. Im November 1933, am 10. Jahrestag des Putsches, enthüllten die Nazis an der Feldherrnhalle ein bronzenes Erinnerungsmal. Tausend Mann der „Leibstandarte Adolf Hitler“, hundert Mann der „Stabswache Göring“ sowie 50 Mann der „Stabswache Röhm“ schwuren dabei, jederzeit Blut und Leben einzusetzen. Mit dem Ende des Nationalsozialismus verschwand dieses Denkmal. 2010 und damit 87 Jahre nach dem Putschversuch enthüllten der bayerische Innenminister Joachim Herrmann und der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude eine Gedenktafel an der Westfassade der Residenz, mit der die vier am 9. November 1923 getöteten Polizisten geehrt werden.

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Zit. nach ebd., S. 73.

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Der 10. Jahrestag im Jahr 1933 wurde vor allem in München groß gefeiert:167 München, die Geburtsstadt der Bewegung, steht seit den späten Abendstunden des 7. November im Zeichen des größten Tages der nationalsozialistischen Freiheitsbewegung. Die Stadt ist, von den Vorstädten bis ins Stadtinnere, ein einziger Wald von Fahnen und Transparenten.

Bei einer „Riesenkundgebung im Zirkus Krone“ hielt Propagandaminister Goebbels eine Ansprache und Hitler sprach im Bürgerbräukeller „vor den Mitkämpfern vom 9. November 1923“: „Wir handelten im Auftrage einer höheren Gewalt:“168 … Zum ersten Mal hat damals unsere Bewegung Blutzeugen gestellt, zum ersten Mal hat sie tapfer und mutig dem alten Staat die Stirne gezeigt, nicht hinterher etwas bereuend oder widerrufend, sondern auch hinterher sich zur Tat bekennend. Wir haben damals die Voraussetzung geschaffen für den endgültigen späteren Sieg …

1934 hatte Hitler den „Blutorden“ als höchstes Ehrenzeichen der Partei gestiftet. Träger dieses Ordens konnten zunächst nur die Teilnehmer des Putschversuches vom November 1923 werden. Ab 1938 wurde der Blutorden auch an Parteimitglieder verliehen, die entweder im Kampf um die Macht der Partei zum Tode verurteilt und zu lebenslänglicher Kerkerstrafe begnadigt worden waren, oder die Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr verbüßt hatten und an Parteigenossen, die besonders schwer verletzt worden waren. Die Männer, die „als Soldaten der nationalsozialistischen Revolution im Kampfe um Deutschlands Befreiung und Neugestaltung gefallen“ waren, wurden als „Blutzeugen“ verehrt.169 Ihnen widmete Hitler seine Schrift „Mein Kampf“. Am 9. November 1935 wurden die 15 getöteten Nationalsozialisten des Putsches von

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VB, 9.11.1933. Ebd. Aus Hitlers Vorwort in: Gedenkhalle für die Gefallenen des Dritten Reiches, hg. von Hans Weberstedt und Karl Langer, München 1934.

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1923 während einer pseudoreligiösen Weihefeier in einem neu errichteten Ehrentempel beigesetzt.

Abbildung 54 Auch anlässlich des Gedenktages 9. November erschienen regelmäßig Sonderbriefmarken, hier eine rote 12-Pfenig Marke „Gedenke des 9. November 1923“; 1935. Bislang hatte der Feiertagsschutz für den 9. November nur in München gegolten, ab Oktober 1937 galt dieser Tag reichsweit als gesetzlicher Feiertag, arbeitsfrei war er aber nicht.170 Mit der von Innenminister Wilhelm Frick erlassenen neuen Feiertagsregelung war der „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ aufgewertet worden; mit dem „Heldengedenktag“ im März, dem 1. Mai und dem Erntedanktag war er nun ein besonderer nationaler Feiertag, an dem besondere Schutzvorschriften galten (z.B. Verbot von Tanzveranstaltungen). Zum Ritual der Erinnerung gehörte fortan auch eine Ansprache Hitlers im Bürgerbräukeller am Abend des 8. November sowie um Mitternacht die Vereidigung der SS-Rekruten auf die Person Hitlers vor der Feldherrnhalle:171

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Schellack, S. 321. VB, 11.11.1937

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Ihr sollt Träger sein der Ehre und des Ansehens unseres Volkes und überall und zu jeder Stunde sollt ihr dessen eingedenk bleiben. Dann sind all die Opfer, die unser Kampf bisher erforderte, nicht umsonst gewesen. Denn aus ihnen hat sich das erhoben, was zahllose deutsche Generationen vergeblich ersehnt hatten: ein Volk, ein Reich, eine nationale Ehre und eine Bereitwilligkeit, diese Ehre zu schützen und zu verteidigen, wenn notwendig, unter Einsatz des Lebens.

Abbildung 55 Der 9. November war der wichtigste Gedenktag der Partei, über den die Presse umfangreich berichtete; „Völkischer Beobachter“, 9. November 1935. Neben Hitler versammelten sich stets auch die höchsten Repräsentanten des Staates bzw. der Partei in München, etwa Propagandaminister Goebbels, der am 10. November 1937 in sein Tagebuch notierte: „Gestern um 12 h Marsch vom Bürgerbräu zum königlichen Platz. Nach altem Zeremoniell und Ritus. 180

Immer wieder aufs Neue ergreifend. Durch unübersehbare Menschenmassen. Auf dem Königsplatz eine sehr feierliche Vergatterung.“172 Der 9. November 1938 ging aufgrund eines anderen Ereignisses in die Geschichtsbücher ein. Dieser Tag stand ganz im Zeichen des 15. Jahrestages des Putsches. Eigens zu diesem Anlass waren Erinnerungspostkarten mit der Aufschrift „Und Ihr habt doch gesiegt“ und dem Sonderstempel „München, Hauptstadt der Bewegung, 9.11.1923 – 9.11.1938“ gedruckt worden. Hauptgesprächsthemen waren die „genialen Taten des Führers“: der Anschluss Österreichs, womit das Großdeutsche Reich geschaffen worden war (13. März) und das Münchner Abkommen, das die Sudentendeutschen „heim ins Reich“ geführt hatte (29. September 1938). Zum Auftakt der Gedenkfeiern hielt Hitler am 8. November im Bürgerbräukeller seine traditionelle Rede, wobei das Attentat vom Vortag unerwähnt blieb: Am 7. November hatte der 17 Jahre alte jüdische Hermann Grünspan (Herschel Grynspan) Ernst vom Rath, Legationssekretär an der Deutschen Botschaft in Paris, angeschossen. Am anderen Tag, nach dem zelebrierten „Marsch auf die Feldherrnhalle“, trafen sich die „alten Kämpfer“ im Münchner Rathaussaal zu einem Kameradschaftsabend. Während des Essens, gegen 21 Uhr, erhielt Hitler per Telegramm die Nachricht, dass Ernst vom Rath seinen Verletzungen erlegen sei. Nach einer „außerordentlich eindringlichen Unterredung“ mit seinem Tischnachbarn Goebbels verließ Hitler die Versammlung früher, ohne, wie sonst üblich, zu den Teilnehmern zu sprechen. Er zog sich in seine Münchner Wohnung zurück. Kurz nach seinem Abgang, um 22 Uhr, teilte Goebbels den versammelten Parteiführern den Tod vom Raths mit und hielt eine Rede, in der er auf judenfeindliche Kundgebungen in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt hinwies. „Der Führer“, so fuhr Goebbels fort, „habe auf seinen Vortrag entschieden, dass derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien, soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzuwirken.“ Die anwesenden Reichs- und Gauleiter verstanden die mündlich gegebenen Weisungen des Propagandaministers so, „dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstration in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte.“45

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Fröhlich, Teil I, Bd. 4, S. 398.

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Abbildung 56 Die führenden Nationalsozialisten feierten in München den 15. Jahrestag des gescheiterten Putsches groß unter dem Motto „Und Ihr habt doch gesiegt“; wenig später brannten in ganz Deutschland die Synagogen. 182

Gegen 22.30 Uhr löste sich der Kameradschaftsabend auf. Noch aus dem Alten Rathaus gaben die nationalsozialistischen Parteifunktionäre ihren regionalen Dienststellen Instruktionen zu antisemitischen Aktionen. Der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, der sich an diesem Abend mit SS-Führern im Hotel „Vier Jahreszeiten“ aufhielt, wurde um 23.15 Uhr von der Staatspolizeistelle München angerufen, die ihm von dem Befehl der Gaupropagandaleitung zum Ausbruch einer „Judenaktion“ unterrichtete und mitteilte, die Staatspolizei hätte sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen. Auf Weisung Hitlers sollten sich SA und Polizei auf den Schutz „arischen“ Eigentums beschränken. Um Mitternacht trafen Hitler und Himmler, der Reichsführer der SS, auf dem Odeonsplatz ein, um die Vereidigung der SS-Rekruten abzunehmen. Anschließend kam es im Hotel „Vier Jahreszeiten“ zu einer Besprechung zwischen Himmler und Heydrich. Von dort aus ließ Heydrich den antisemitischen Wahn in einem Blitz-Fernschreiben an alle Staatspolizeileitstellen übermitteln. Daraufhin kam es in ganz Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu einem Pogrom unvorstellbaren Ausmaßes und unglaublicher Konsequenzen. Bei „spontanen Kundgebungen“ – so die offizielle NS-Propaganda – wurden 91 Juden ermordet, 267 Synagogen in Brand gesteckt oder beschädigt, mehr als 7000 in jüdischem Besitz befindliche Geschäfte zerstört, fast alle jüdischen Friedhöfe geschändet. Etwa 30.000 der noch rund 550.000 in Deutschland lebenden Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt. Unwiederbringlich verloren gingen zudem Kunstgegenstände, Thorarollen, Gemälde, Handschriften etc. Am 11. November erstattete Heydrich dem preußischen Ministerpräsidenten Göring einen Vollzugsbericht, der das beabsichtigte und geplante materiellökonomische Ausmaß des Pogroms dokumentiert:173 ... Die bis jetzt eingegangenen Meldungen der Staatspolizeistellen haben bis zum 11.11.1938 folgendes Gesamtbild ergeben: In zahlreichen Städten haben sich Plünderungen jüdischer Läden und Geschäftshäuser ereignet. Es wurde, um weitere Plünderungen zu 173

Zit. nach Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT), Nürnberg 1948, Bd. XXXII, S. 1f.

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vermeiden, in allen Fällen scharf durchgegriffen, Wegen Plünderns wurden dabei 174 Personen festgenommen. Der Umfang der Zerstörungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen lässt sich bisher ziffernmäßig noch nicht belegen. Die in den Berichten aufgeführten Zahlen: 815 zerstörte Geschäfte, 29 in Brand gesteckte oder sonst zerstörte Warenhäuser, 171 in Brand gesetzte oder zerstörte Wohnhäuser, geben, soweit es sich nicht um Brandlegungen handelt, nur einen Teil der wirklich vorliegenden Zerstörungen wieder. Wegen der Dringlichkeit der Berichterstattung mussten sich die bisher eingegangenen Meldungen lediglich auf allgemeinere Angaben, wie „zahlreiche“ oder „die meisten Geschäfte zerstört“ beschränken. Die angegebenen Ziffern dürften daher um ein Vielfaches überstiegen werden. An Synagogen wurden 191 in Brand gesteckt, weitere 76 vollständig demoliert. Ferner wurden 11 Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und dergleichen in Brand gesetzt und weitere 3 völlig zerstört. Festgenommen wurden rund 20.000 Juden, ferner 7 Arier und 3 Ausländer. Letztere wurden zur eigenen Sicherheit in Haft genommen. An Todesfällen wurden 36, an Schwerverletzten ebenfalls 36 gemeldet. Die Getöteten bzw. Verletzten sind Juden. Ein Jude wird noch vermisst. Unter den getöteten Juden befindet sich ein, unter den Verletzten zwei polnische Staatsangehörige. Heydrich

Die Ausschreitungen der „kochenden Volksseele“, die als Antwort für den „feigen jüdischen Meuchelmord“ in Paris propagiert wurde, so die NS-Presse, war nichts anderes als das von der Partei organisierte und von SA-Männern inszenierte Pogrom. Hitler selbst hielt sich bedeckt. Zwar spricht sein Verhalten am Abend des 9. November für seine Kenntnis der Pogrom-Vorbereitungen, doch „offiziell“ war er unbeteiligt. Je stärker er sich von der Dimension der Ereignisse „überrascht“ zeigte, desto glaubwürdiger war seine Rolle als Unwissender. Die nach dieser Aktion vielfach sprachlose deutsche Bevölkerung verhielt sich, bis auf einige Ausnahmen, weitgehend passiv. Die Reaktionen und Empfindungen 184

waren sehr unterschiedlich: Zustimmung, Empörung, Verärgerung, Ablehnung, Gleichgültigkeit; Auflehnung und einhellige Verurteilung der Ausschreitungen gab es kaum. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ging als „Reichskristallnacht“ in die Geschichtsbücher ein. Dieser euphemistische Begriff, der das Zerschlagen von Fensterscheiben und Kristallleuchtern versinnbildlicht, reduziert zwar einerseits die Gewaltmaßnahmen gegenüber den jüdischen Bürgern auf eine Nacht, andererseits ist die Bezeichnung anschaulich, da mit ihr bestimmte Bilder im Kopf entstehen. Erst ab den späten 1980er Jahren setzte sich nach und nach für dieses Geschehen die Bezeichnung Pogromnacht durch. Auch der 9. November 1939 hätte in die Geschichtsbücher eingehen können: Wieder hatten sich die Nazis in München versammelt, wieder hielt Hitler seine Ansprache, die bereits ganz im Zeichen des Krieges stand und einer „Abrechnung“ mit England gleichkam. Früher als gedacht, verließ er den Bürgerbräukeller, in dem es zu einer Explosion kam, bei der sieben Menschen getötet und 63 Menschen verletzt wurde. Der Schreiner Georg Elser hatte mit seinem Attentat versucht, Hitler auszuschalten.174 1940 hielt Hitler seine Ansprache erstmals im Löwenbräukeller, auch diesmal blickte er auf den November 1923 zurück: Für uns war das Jahr 1923 ein Höhepunkt des Kampfes um die Macht in Deutschland. Diesen Kampf und damit die Bedeutung des Tages, den wir feiern, begreift nur derjenige, der sich zurückerinnert an die Zeit, in die wir damals gesetzt waren, und vor allem derjenige, der sich die Vorgeschichte dieses ganzen gewaltigen Ringens wieder vor Augen führt.175

1941 thematisierte Hitler den „Russland-Feldzug“, 1942 den Krieg in Nordafrika, 1943 nahm er ein letztes Mal in München an Gedenkfeiern teil und sagte: 174

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Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Georg Elser. Der Hitler-Attentäter, Berlin 2010, S. 133-174. Rede Hitlers am 8. November 1940 in München „vor der Alten Garde“, in: Der großdeutsche Freiheitskampf, II. Band, Reden Adolf Hitlers vom 10. März 1940 bis 16. März 1941, hg. von Philipp Bouhler, München 2. Auflage 1942, S. 111.

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„Wenn die Stunde ruft, müssen wir … dem Kampf erneut ins Auge sehen, um zu verteidigen, was uns die Vorsehung an Lebenswerten gegeben hat.“176 Die Bevölkerung nahm die Reden über die Presse und den Rundfunk zur Kenntnis, doch im Vordergrund stand der Kampf ums eigene Überleben. Kaum eine west- und norddeutsche Stadt war bislang von alliierten Bombenangriffen verschont, es herrschte Mangel an Wohnraum, an Kohlen, es bestand Lebensmittelknappheit, die Postzustellung funktionierte nur noch eingeschränkt, die Gefallenenmeldungen mehrten sich. Daher wundert es nicht, dass der Parteigedenktag inhaltlich erweitert wurde, wie es in den Richtlinien von 1944 heißt: Der 9. November, den das deutsche Volk bisher nur als den Gedenktag für die Gefallenen des Marsches zur Feldherrnhalle 1923 feierte, gilt heute im weitesten Maße als allgemeiner Totengedenktag. Der 9. November verbindet die gesamte Volksgemeinschaft im Gedenken an die Toten der Bewegung, aber auch im Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und des jetzigen Krieges. Die Toten des 9. November 1923 gaben durch ihr Opfer die Voraussetzung für die Machtergreifung und die Wiedererstarkung des Reiches. Die 16 Toten der Feldherrnhalle und alle Blutopfer der Bewegung stehen deshalb in einer festen Verbundenheit mit den Gefallenen dieses Krieges. Wir gedenken aber auch der Ahnen, die vor uns waren und uns das Leben gaben. Sie zu ehren, schmücken wir ihre Gräber … Die Gestaltung unserer Feiern muss der Würde und Bedeutung des Tages entsprechen.

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VB, 10.11.1943.

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Nicht in versunkener Trauer stehen wir, sondern stolz in der Gewissheit, dass der Geist und das Erbe unserer Toten weiterleben im ewigen deutschen Reich. Im Mittelpunkt der Feiern steht das Gedenken an die 16 Toten der Feldherrnhalle, an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und die Blutopfer der Bewegung und an die Gefallenen des jetzigen Krieges, an die Bombenopfer und das Gedenken an all unsere Ahnen. Die Gesamtverantwortung für die Feiern hat der Hoheitsträger … Die Partei vereinigt in den Feiern alle Gliederungen und Verbände (NS.-Kriegsopferversorgung und Kriegerkameradschaften sind besonders zu beteiligen) und alle Volksgenossen. Vertreter der Wehrmacht sind einzuladen. Die Angehörigen von Gefallenen erhalten eine besondere Einladung und werden entsprechend betreut. Die Feiern werden grundsätzlich in geschlossenen Räumen, deren Gestaltung und Ausschmückung einfach und würdig gehalten ist, abgehalten. Zur Gestaltung der Feiern sollen alle Gliederungen und angeschlossenen Verbände herangezogen werden. Außerdem werden sich der Arbeitsdienst männlicher und weiblicher Jugend, sowie die Gemeinschaften des NS.-Volkskulturwerkes zur Verfügung stellen. An den Heldenehrungsmalen werden wir Kränze niederlegen. Wir werden aber auch die Gräber der im politischen Kampf Gefallenen oder sonstiger verstorbener Parteigenossen, die Grabdenkmäler und Ehrenmale großer Deutscher ausschmücken. Außerdem wollen wir auch die Grabstätten aller unserer Toten besuchen und sie mit Blumen schmücken. Auch die Bevölkerung soll angeregt werden, zum Gedenktag des 9. November die Gräber ihrer Angehörigen zu besuchen und zu schmücken. Auch im häuslichen Kreis wird aller Toten der Familie gedacht.177

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Unser Jahr 1944, S. 29f.

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In den letzten Jahren des Dritten Reichs hatte der 9. November den Charakter eines Volkstrauertages angenommen. Nicht mehr die Erinnerung an die „Gefallenen der Bewegung“ von 1923 stand im Zentrum der Parteifeiern, sondern die Ehrung der Kriegstoten.

Wintersonnenwende/Weihnachten (21./22. Dezember) Mit der winterlichen Sonnenwendfeier um den 21./22. Dezember versuchten die Nationalsozialisten das traditionelle, christlich geprägte Weihnachtsfest mit einer eigenen Feier zu ersetzen. In den NS-Richtlinien hieß es:178 Deutsche Weihnacht – zur Zeit der Wintersonnenwende – ist ein Fest der Wiedergeburt des Lichtes und damit allen Lebens, ein Fest der Freude in der dunkelsten Nacht. Seit Urzeiten vollzieht sich in der Natur der stete Wechsel von Leben und Tod, das große „Stirb und Werde“. Unter diesem Naturgesetz steht der ewige Kreislauf allen Lebens. In der Familie fühlen wir die Kraft, die in jenem Gesetz liegt. Aus dieser Kraft wissen auch wir um den Ursprung jener seelischen Macht, aus der auch Weihnachten geboren wurde: die Gemeinschaft der Familie, der Sippe, ja des ganzen Volkes, denn Weihnachten ist ein nur dem deutschen Volke ureigenes Fest. Durchführung: Die Weihnachtszeit bringt uns im Wesentlichen drei Feiern: Die Wintersonnenwende und die Volksweihnachtsfeier als Feiern der Gemeinschaft und das Weihnachtsfest als Fest der Familie. Es muss darauf geachtet werden, dass an Vorweihnachtsfeiern des Guten nicht zu viel getan wird. Wir dürfen das Erlebnis des Weihnachtsfestes und des Lichterbaumes nicht vorwegnehmen.

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Unser Jahr 1942, S. 19.

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Die Durchführung der auch Julfest genannten Wintersonnenwendfeier während des Krieges sollte folgendermaßen verlaufen;179 … Die in der Vorweihnachtszeit sonst üblichen, von Einheiten der Gliederungen und Verbände, von Betrieben und Vereinen usw. veranstalteten kameradschaftlichen Zusammenkünfte sind keine „Weihnachtsfeiern“. Man sollte diese Veranstaltungen nur im engsten Kreise als vorweihnachtliche Feiern oder Kameradschaftsstunden durchführen. Ihr Sinnbild ist auch nicht der Weihnachtsbaum, sondern der vorweihnachtliche Lichterkranz. Auch die Feierstunde der NSDAP ist eine vorweihnachtliche Feier, die die Gemeinschaft der Ortsgruppe oder des Dorfes vereinigt, um das Erlebnis der Gemeinschaft in das Weihnachtsfest der Familie hineinzutragen. Ihr Sinnbild wird im Kriege, unter Berücksichtigung, dass viele Frauen und Mütter kein rechtes Weihnachtsfest in der Familie feiern können, der Weihnachtsbaum sein … Die Gestaltung und Ausschmückung des Feierraumes muss einfach und würdig gehalten werden. Neben den Fahnen und Symbolen der Bewegung steht als Sinnbild des Weihnachtsfestes ein Weihnachtsbaum im Mittelpunkt. Jede Häufung von Symbolen ist zu vermeiden. Der Weihnachtsbaum soll nach Möglichkeit wirkliche Kerzen und nicht elektroinstallierte tragen. An dem Baum bleiben in der Mitte, möglichst auffällig sichtbar am Anfang der Feier, vier Kerzen ohne Licht, die im Laufe der Feier angezündet werden … Die von der NSDAP in allen Ortsgruppen durchzuführenden vorweihnachtlichen Feierstunden sollen unter der Bezeichnung Feierstunde der NSDAP „Deutsche Kriegsweihnacht“ stehen.

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Unser Jahr 1944, S. 31f.

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Man soll im Übrigen eine Häufung von vorweihnachtlichen Feiern und Veranstaltungen vermeiden, um das Erlebnis des Weihnachtsfestes in der Familie nicht vorwegzunehmen …

Eine ernsthafte Konkurrenz zum christlichen Weihnachtsfest waren diese Feiern jedoch nicht, auch sie blieben eine Randerscheinung, die allenfalls von der abenteuerlustigen Jugend aufgegriffen wurde.

Abbildung 57 Trotz aller Bemühungen konnte die "Wintersonnwendfeier" das christliche Weihnachtsfest nicht ersetzen, das war auch den Nationalsozialisten bewusst. 1941 gab das Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP für die Frontsoldaten das Büchlein "Deutsche Kriegsweihnacht“ mit Geschichten und Gedichten heraus – und mit einem Vorwort von „Dr. Goebbels zum Weihnachtsabend 1941“. 190

Fazit Das nationalsozialistische Feiertagsjahr, dem 12 gedenkwürdige Ereignisse zugrunde lagen, unterschied zwischen National- und Parteifeiertagen. Von den Sommermonaten Juli und August abgesehen, wurde das ganze Jahr über gefeiert und erinnert, wobei sich die Feiern auf Ereignisse der jüngsten Geschichte bezogen, jene aus vergangenen Epochen wurden bewusst negiert. In Verbindung mit neuen Fahnen und Emblemen sollte so für jedermann sichtbar eine neue Tradition begründet werden. Lediglich der 1. Mai und der „Heldengedenktag“ konnten an bestehende Gedenkrituale anknüpfen, wobei die groß inszenierten Feiern zum 1. Mai weitgehend entpolitisiert wurden und der „Heldengedenktag“ schnell eine revanchistische Sinngebung erhielt. Nicht mehr die Ehrung der Gefallenen stand im Mittelpunkt des Gedenkens, sondern die Überhöhung des Opfertodes. Ein halbes Jahr nach der „Totenehrung“ im März wiederholte sich mit dem Gedenktag für die „Gefallenen der Bewegung“ die Inszenierung des übertriebenen Totenkults. Alle Feiern waren akribisch geplant, nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Für die praktische Umsetzung der jeweiligen Richtlinien waren das Propagandaministerium und hier das „Amt Rosenberg“, die „Dienststelle des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung der NSDAP“, zuständig. Mit einem neuen Feierstil, der deutliche Parallelen zur gottesdienstlichen Liturgie zeigte, sollten christliche Feiern ersetzt werden. Statt der aus dem Gottesdienst gewohnten „Schriftlesung“ waren die „Führerworte“ zu hören, statt der Predigt gab es die „Ansprache des Führers“ oder eines anderen hohen NS-Funktionärs, das christliche Glaubensbekenntnis wurde durch das „Gelöbnis“ ersetzt und anstelle der Choräle erklangen die zahlreichen, neu geschaffenen „Lieder der Bewegung“. Und wie im Gottesdienst die Gläubigen die Gemeinde bildeten, sollte bei allen NS-Feiern die Geschlossenheit der Volksgemeinschaft im Vordergrund stehen. Wer die Veranstaltungen nicht selbst besuchen konnte, schaltete das Radio ein, hörte die Reden und die Musik und nahm so, zumindest für einen Augenblick, teil an dieser Gemeinschaft. Alle Feiern, vom „Tag der Machtergreifung“ im Januar über „Führers Geburtstag“ im April bis zum „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ im 191

November dienten ausschließlich der Vermittlung der nationalsozialistischen Weltanschauung. Auch wenn das Regime und seine Verantwortlichen im Propagandaministerium mit großem Aufwand bemüht waren, die Feiern und Rituale der christlichen Religion zu imitieren und zu ersetzen, misslang dieses Vorhaben. Das von den Machthabern vereinnahmte Erntedankfest konnte das kirchliche Erntedankfest genau so wenig verdrängen oder ersetzen wie die Feier zur Wintersonnenwende das traditionelle Weihnachtsfest. Die über den Rundfunk und die Wochenschauen propagierten Feiern waren im Krieg kaum bzw. nur sehr eingeschränkt durchführbar, das bedeutet, die „neuen Feiertage“ konnten sich mangels Zeit nicht etablieren. Heute sind sie allenfalls noch auf NS-Propagandakarten und Briefmarken präsent.

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V. Bundesrepublik Deutschland (1949 bis 1989) Feiertage Tag der Arbeit (1. Mai) Nach dem Untergang des Dritten Reichs, nach der großen Zäsur im Jahr 1945 waren zunächst alle Nationalsymbole, Flaggen, Gedenktage und Hymnen verboten und verpönt, doch ausgerechnet der Tag, den Hitler zum Feiertag deklariert hatte, blieb als freier Tag erhalten: der 1. Mai. Vom Alliierten Kontrollrat bereits 1946 bestätigt, nahmen die neu gegründeten Länder den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag in ihre Landesverfassungen auf. 1948, also ein Jahr vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR, fanden die zentralen Mai-Kundgebungen in Berlin statt:180 Zwei große Demonstrantenzüge zogen einander vorbei zu ihren Massenversammlungen: Die erste Kundgebung fand im russischen Sektor von Berlin, im Lustgarten, statt, wo sich Kommunisten und ihre Anhänger versammelt hatten. Die zweite Kundgebung wurde vor dem Reichstagsgebäude im britischen Sektor von Berlin abgehalten, zu der die Landesverbände der Sozialdemokraten, der Christlich-Demokratischen Union und der Liberal-Demokraten aufgerufen hatten.

180

WZ, 4.5.1948.

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Abbildung 58 In den 60er und 70er Jahren zogen die 1. Mai-Kundgebungen noch ein Massenpublikum an. Hier eine Kundgebung mit Heinz Andersch, dem stellvertretenden rheinland-pfälzischen DGB-Landesvorsitzendem auf dem Wormser Marktplatz, 1. Mai 1970. Jahrelang war der 1. Mai der Tag der Gewerkschaften. Doch nachdem die soziale Marktwirtschaft keine wirtschaftliche Neuordnung mehr verlangte, setzten sich die Arbeitnehmervertretungen für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ein. Legendär ist das DGB-Plakat „Samstags gehört Vati mir“ zum 1. Mai 1955. Im Jahr 1967 hatten sich die Forderungen nach 40 Stunden und einer 5-Tage-Woche erfüllt. 1990 feierten die Gewerkschaften „100 Jahre Erster Mai“ – zu diesem Anlass gab die Deutsche Bundespost eine 100-PfennigSonderbriefmarke heraus –, doch die Teilnehmerzahlen bei den Kundgebungen hatten seit den 1970er Jahren kontinuierlich abgenommen. Der freie Feiertag wurde gerne für Ausflüge, zum Grillen oder je nach Wochentag zu einem verlängerten Wochenende genutzt. Statt Gewerkschaftskundgebungen präsentieren sich in den Städten Vereine, Kulturinitiativen und ausländische Mitbürger, ein "Markt der Möglichkeiten", Flohmärkte und Musikdarbietungen dominierten, wo einst wirtschaftspolitische Forderungen erhoben wurden. In 194

Großstädten wie Berlin und Hamburg nutzten Autonome und Antifa-Gruppen den Tag für gewalttätige Ausschreitungen; seit 1987 finden in Berlin-Kreuzberg "Revolutionäre 1. Mai-Demonstrationen" statt, die ursprüngliche Bedeutung des Tages ist längst in den Hintergrund geraten. Der 1. Mai ist, von den Niederlanden abgesehen, ein europaweiter gesetzlicher Feiertag. 181 In den meisten Bundesländern wird der 1. Mai „Tag der Arbeit“ genannt, in NordrheinWestfalen heißt er gemäß Artikel 25 der Landesverfassung von 1950 „Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde“.

Abbildung 59 1990 brachte die Bundespost eine 100-PfennigSonderbriefmarke „100 Jahre 1. Mai“ heraus.

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In Irland wird der (arbeitsfreie) 1. Mai am ersten Montag im Mai gefeiert.

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Tag der Deutschen Einheit (17. Juni) Ende Mai 1953 hatte der Ministerrat der DDR eine Erhöhung der Arbeitsnormen ohne Lohnausgleich beschlossen, dies führte zum einen zu einer weiteren Fluchtbewegung nach West-Deutschland, zum anderen zu Unruhen. Zur schlechten Stimmung im Land trugen auch die allgemein desolate Versorgungslage und staatliche Repressionen bei. Da trotz Protesten die Normerhöhung nicht rückgängig gemacht wurde, kam es am 16. Juni 1953 zu Streiks und Demonstrationen der Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee (heutige Karl-Marx-Allee). Aus diesem lokalen Ereignis entwickelte sich am nächsten Tag landesweit ein Volksaufstand, an dem sich rund zehn Prozent aller Arbeitnehmer beteiligten. Nun ging es nicht mehr nur um die wirtschaftlichen Forderungen, sondern auch um politische; gefordert wurden etwa der Rücktritt der Regierung, die Ablösung des SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht und freie Wahlen. Die Schwerpunkte der Demonstrationen lagen neben Berlin in Halle, Leipzig, Magdeburg und Dresden, doch Proteste gab es in rund 700 Orten der DDR. Die SED-Führung beherrschte die Lage nicht mehr, sie ließ sowjetische Truppen aufmarschieren und durch diese die Volkserhebung niederschlagen. Die Behörden verhängten in Ost-Berlin und zahlreichen Kreisen der DDR den Ausnahmezustand. Die Erhebung kostete mindestens 55 Menschen das Leben, es gab hunderte Verletzte und Verhaftungen, einige Demonstranten wurden nach einem Todesurteil hingerichtet. Die DDR-Führung machte den „faschistischen Westen“ verantwortlich für den Aufstand, dessen brutale Niederschlagung gezeigt hatte, wie stark das Land Teil des sowjetischen Machtbereichs war. Die Westalliierten verhielten sich weitgehend passiv, um ein Kriegsrisiko zu vermeiden. In der Bundesrepublik aber wurde der Volksaufstand zum Symbol der deutschen Einheit. Am 4. August 1953 beschloss der Bundestag das folgende Gesetz:182 Am 17. Juni hat sich das deutsche Volk in der Sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit 182

Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1953, Teil 1, Nr. 45, 7.8.1953, S. 778 (durch den Einigungsvertrag aufgehoben).

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bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden. § 1 Der 17. Juni ist der Tag der Deutschen Einheit. § 2 Der 17. Juni ist gesetzlicher Feiertag.

Abbildung 60 a und b Bereits im August 1953 brachte die Deutsche Post Berlin zwei Sonderbriefmarken (zu 20 und 30 Pfennige) anlässlich des Volksaufstandes vom 17. Juni heraus. Als weitere Reaktion der Solidarität brachte im selben Monat die Deutsche Post Berlin eine 20- und eine 30-Pfennig-Briefmarke heraus, auf denen zwei kettensprengende Hände bzw. das Brandenburger Tor zu sehen waren. Bereits am 22. Juni 1953 hatte der Berliner Senat beschlossen, die als „Ost-WestAchse“ bezeichnete Straße im Ortsteil Tiergarten, westlich des Brandenburger Tores, die bis nach Charlottenburg (bis zum heutigen „Ernst-Reuter-Platz“) führt, in „Straße des 17., Juni“ umzubenennen. Die rund dreieinhalb Kilometer lange und 85 Meter breite Straße, die die Straße „Unter den Linden“ mit der Bismarckstraße verbindet, war in den vergangenen Jahren immer wieder ein beliebter Ort für Großveranstaltungen. Jahrzehntelang diente sie den Westalliierten für ihre Truppenparaden, in den Jahren vor und nach der Jahrtausendwende fand hier die „Loveparade“ statt, schließlich Veranstaltungen 197

anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Auch in weiteren zehn deutschen Städten gibt es eine „Straße des 17. Juni“.

Abbildung 61 Bereits im Juni 1953 beschloss der Berliner Senat die Straßenbenennung "Straße des 17. Juni"; hier ein altes Berliner Straßenschild. Eine andere direkte Folge des Volksaufstandes war die am 14. Juni 1954 erfolgte Gründung des überparteilichen Kuratoriums Unteilbares Deutschland, dessen Ziel es war, den Gedanken der deutschen Einheit in der Öffentlichkeit wach zu halten und für die Wiedervereinigung zu werben. Das Kuratorium organisierte Jahre für Jahr Gedenkveranstaltungen und Tagungen, ebenso den Versand von Päckchen in die DDR und es initiierte den Brauch, an Weihnachten Kerzen in die Fenster zu stellen, um an die deutsche Einheit zu mahnen. Ganz im Sinne dieses Kuratoriums brachten alle offiziellen Redner in den ersten Jahren, mindestens bis zum Mauerbau im Jahr 1961, bei der Gedenkstunde im Bonner Bundestag die Hoffnung auf Wiedervereinigung und die Anteilnahme mit den Unterdrückten des SED-Regimes zum Ausdruck. Als Redebeispiel zum 17. Juni in diesen Jahren sei ein Beitrag von Ernst Lemmer, damals Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen aus dem Jahr 1960, zitiert:183 Wenn wir in diesen Tagen des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gedenken, so beabsichtigen wir damit mehr als die Würdigung lediglich 183

Ernst Lemmer: Zum Tag der Deutschen Einheit in: politische Welt. Monatsschrift für Information und Diskussion, hg. von Hans-Edgar Jahn und Horst RögnerFrancke, Heft 22, Bonn 1960.

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eines historischen Datums. Dieser Tag soll vielmehr die Menschen in dem freien Teil unserer geteilten Heimat mahnen, dass ihre eigene Freiheit noch auf dem Spiel steht, und zwar so lange, wie sie jenseits des Eisernen Vorhangs unseren Landsleuten vorenthalten wird. Es wäre für uns verhängnisvoll, diesen inneren Zusammenhang zwischen unserem und dem Schicksal der anderen zu vergessen und uns gedankenlos dem Genuss eines durch einen Gedenktag verlängerten Wochenendes hinzugeben. Und dies womöglich in dem kurzsichtigen Wahn, es werde immer so bequem weitergehen. Die Freiheit ist unteilbar: Wo der eine Teil eines Volkes in Unfreiheit lebt, da ist unweigerlich auch der andere bedroht, wenn er nicht bereit ist, seine Freiheit für die Unterdrückten zu nutzen. Es liegt im Wesen der Freiheit, dass sie Opfer verlangt. Einmal, um überhaupt errungen, dann aber auch, um erhalten zu werden. Zur Bewahrung der Freiheit gehört auch, dass man sie unablässig für diejenigen fordert und zu erringen sucht, die ihrer beraubt wurden oder noch nicht teilhaftig sind! Mögen diese Mitmenschen in fernen oder nahen Ländern leben, das ist im Prinzip gleich … Der Kommunismus wird solange bemüht sein, sich auch auf den noch freien Teil des Landes – und Europas – auszudehnen, wie ihm die Macht in dem von ihm eroberten Gebiet nicht streitig gemacht, sondern widerspruchslos belassen wird. Die Kommunisten der Sowjetzone haben wiederholt verkündet, dass sie in „Westdeutschland“ jene „demokratischen“ Verhältnisse herbeiführen möchten, die unter dem UlbrichtRegime eine leidvolle Tatsache sind. Es ist deshalb keine Phrase, wenn wir die Freiheit für die Menschen in der Zone auch im Interesse unserer eigenen Freiheit immer und immer wieder fordern. Wir würden vielleicht in unserer Verpflichtung zum tätigen Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber unseren Landsleuten bestärkt werden, wenn wir uns immer vor Augen hielten, wie viel allein die Tatsache, dass es einen freien Teil Deutschlands, dass es die freie Welt gibt, im Bewusstsein der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs bedeutet. Als die Bauarbeiter der Stalinallee am 16. Juni 1953 begannen, gegen die Normenschraube zu Felde zu ziehen, war dies noch eine aus der

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Empörung heraus entstandene spontane Demonstration. Als sich aber dann die ganze Bevölkerung Mitteldeutschlands der Erhebung anschloss, hat erwiesenermaßen das Bewusstsein, im freien Westen zumindest einen Rückhalt und eine Zuflucht zu haben, eine entscheidende Rolle gespielt. Und was nie vergessen werden darf: Der Aufstand war – mag er auch nicht zur Beseitigung der von der sowjetischen Besatzungsmacht geschützten Machthaber geführt haben – nicht vergebens. Nicht nur, dass das Regime wenigstens zeitweise auf seinen radikalen Kurs verzichten musste. Der eigentliche Erfolg war viel tiefgreifender: Zum ersten Mal stieß der Kommunismus in Deutschland auf einen Widerstand ausgerechnet der Klasse, mit der er sich zu identifizieren pflegt. Der Kommunismus wird die Lust an einem Eroberungszug durch die ganze Welt verlieren, wenn er auf den unbeugsamen Widerstand der freien Welt stößt...Bis dahin gilt es den Zusammenhalt unseres Volkes zu bewahren und jene Widerstandskräfte und jenen Freiheitswillen zu stärken, der sich am 17. Juni 1953 – wenn auch nur für Tage – Bahn brechen konnte. Die Kräfte der freien Welt und der Freiheitsdrang der mitteldeutschen Bevölkerung werden, davon bin ich zutiefst überzeugt, den Sieg über den Kommunismus erringen und uns den Tag der Wiedervereinigung in Freiheit erleben lassen.

1963, kurz vor dem zehnten Jahrestag erklärte der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke den 17. Juni zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“.184 Dem Anlass entsprechend wurde auf die Betonung Nationalfeiertag verzichtet. Etwas unpassend war es allemal, dass die in einem sicheren und freien Staat lebende Bevölkerung einen Aufstand „feiern“ sollte, den andere mit hohem Einsatz riskiert, verloren und teilweise mit dem Leben bezahlt hatten. Kurz nach Bildung der ersten sozial-liberalen Koalition im Jahr 1969 wurden Forderungen laut, den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen, da er von vielen nur als zusätzlicher arbeitsfreier Tag gesehen werde, kein Bezug mehr zu den Ereignissen von 1953 bestehe und die permanente Erinnerung an den

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BGBl. 1963, Teil 1, S. 397f.

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Aufstand die Bemühungen um einen Ausgleich mit der DDR stören könne. Die Gewerkschaften hielten an dem Feiertag als „sozialen Besitzstand“ fest, bei Streichung forderten sie vorab schon einen „Ersatz-Feiertag“; sie schlugen den 23. Mai, den Verfassungstag, als Alternative vor. Die CDU dagegen war vehement für die Beibehaltung des Gedenktages. Ihr Bundestagsabgeordneter Manfred Abelein, ein scharfer Kritiker der Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Bundesregierung, sagte: „Eine Abschaffung des 17. Juni als Feiertag ist völlig indiskutabel, denn kein anderer Tag zeigt so wie der 17. Juni die besondere Problematik des gespaltenen Deutschland.“185 Nachdem selbst das „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ die Anzahl seiner Gedenkveranstaltungen kontinuierlich reduziert hatte, verkam in den folgenden Jahren der 17. Juni als „Tag der Deutschen Einheit“ mehr und mehr zu einem Tag gut gemeinter Sonntagsreden, in denen anfänglich noch über Begriffe wie Vaterland und Nation nachgedacht wurde. Ab 1974, unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, wurde der Gedenktag zu einem „Berichtstag zur Lage der deutschen Nation“ degradiert. Die eigentliche Bedeutung des Tages trat in den Hintergrund, im Vordergrund stand die Deutschland- und Außenpolitik der Regierung, dies änderte sich erst wieder ab 1983 unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Bei der Bevölkerung erfreute sich dieser gesetzliche Feiertag großer Beliebtheit, bot er doch, dank seiner günstigen Lage zu Sommeranfang, Gelegenheit zu Ausflügen und privaten Vergnügungen, ab und zu diente er gar zu einem verlängerten Wochenende. Als arbeitsfreier Tag war der 17. Juni willkommen, kaum aber als Gedenktag für die Menschen in der DDR. Diskussionen um Abschaffung dieses als Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges beibehaltenen Tages, der in den Jahren der Entspannungspolitik einem Teil der Bevölkerung anachronistisch und geradezu unrealistisch erschien, verstummten nicht. Doch auch wenn mit zeitlichem Abstand der ursprüngliche Sinn dieses Tages als Feiertag immer stärker in den Hintergrund trat, hätte seine Streichung die offizielle Absage an die Einheit der deutschen Nation bedeutet. Die DDR-Führung wiederum hatte von Anfang an die Ereignisse des 17. Juni 1953 als vom Westen betriebener faschistischer Putsch bezeichnet. Seitdem baute die SED ein neues Feindbild auf und „Faschismus“ wurde zum Kampfbegriff gegen alle

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WZ, 6.6.1974.

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politischen Gegner im eigenen Land und zur Abgrenzung der DDR zur Bundesrepublik. Mit Errichtung der als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichneten Berliner Mauer (1961) erlebte diese Kampfansage an den Westen einen weiteren Höhepunkt.

Abbildung 62 Jahrelang wurde am 17. Juni an die brutale Niederschlagung des Volksaufstandes von 1953 erinnert; hier ein 1963 aufgestellter Gedenkstein am Rathaus in Worms. Rückblickend gesehen, war der 17. Juni 1990 letztmalig ein gesetzlicher Feiertag. An diesem Sonntag gedachten rund 900 Abgeordnete des Bundestages und der Volkskammer gemeinsam der Ereignisse von 1953. Die Gedenkstunde der beiden Parlamente fand im Ostberliner Schauspielhaus statt. Die Ansprachen hielten die Präsidentinnen Rita Süssmuth (Bundestag) und Sabine Bergmann-Pohl (Volkskammer) sowie Manfred Stolpe, der Konsistorialpräsident der Berlin-brandenburgischen Kirche. Stolpe (der spätere Ministerpräsident von Brandenburg, 1990 bis 2002) erinnerte an die 202

friedlichen Massendemonstrationen des Vorjahres und betonte, was am 17. Juni 1953 misslang, sei am 9. Oktober 1989 vollendet worden. Rita Süssmuth sagte, der 17. Juni, an dem die Westdeutschen bisher nur trauernd hätten gedenken können, sei diesmal ein „Tag der Freude über den Sieg der Freiheit und Demokratie im östlichen Deutschland und in Ost-Europa“. Die Ereignisse im Herbst 1989 hätten gezeigt, dass die Opfer des brutal niedergeschlagenen Aufstandes von 1953 nicht umsonst gewesen seien: „Heute können wir sagen, der Widerstand setzte sich fort.“ Allerdings meinte die Rednerin bereits damals, „dass es dieses nationalen Feiertages nicht mehr unbedingt bedarf“.186 So euphorisch die Stimmung im Schauspielhaus war, so angeheizt war sie vor dem Gebäude. Als Bundeskanzler Helmut Kohl vorfuhr, erntete er zahlreiche Pfiffe und Buhrufe der demonstrierenden linken Bürgerbewegung und der PDS (ehemalige SED, heutige Linkspartei).

Gedenktage Gedenktag an das Ende des Zweiten Weltkrieges (8. Mai) In der Nacht zum 7. Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Reims/Frankreich, sie trat am 8. Mai in Kraft und wurde am 9. Mai im Hauptquartier der sowjetischen 5. Armee in Berlin-Karlshorst wiederholt. Damit gilt der 8. Mai 1945 offiziell als Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Je nach Sicht wurde dieses Datum als Kapitulation, Niederlage, Zusammenbruch, Erlösung oder Befreiung bezeichnet. Für die Mehrheit der Deutschen damals bedeutete der Tag eine komplette Niederlage. Nicht nur die nationalsozialistische Herrschaft war beendet, auch Deutschland als Staat hatte aufgehört zu existieren. Weite Teile des Landes, erst recht die Städte, lagen in Trümmern. Transportwege, Versorgungseinrichtungen und Wohnungen waren zerstört. Bereits an diesem Tag war das gesamte Deutsche Reich von den alliierten Siegermächten besetzt. Existenznot, Ungewissheit 186

Zitate nach WZ, 18.6.1990.

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über Familienangehörige und die Angst vor der Zukunft prägten jene Zäsur, die gerne auch als „Stunde Null“ bezeichnet wurde. Eine Teilung Deutschlands mit zwei völlig unterschiedlichen politisch-wirtschaftlichen Systemen, wie sie dann mit Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und der DDR im Oktober 1949 festgeschrieben war, war 1945 noch nicht in Sicht gewesen. Während einige Länder wie Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei den 8. bzw. 9. Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärt hatten, wurde dem 8. Mai in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit keine erinnerungswürdige Aufmerksamkeit geschenkt. Immerhin hatte auf Initiative von Konrad Adenauer, dem späteren ersten Bundeskanzler, der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 für das Grundgesetz gestimmt.187 Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, meinte jedoch: „Ich weiß nicht, ob man das Symbol greifen soll, das in solchem Tag liegen kann. Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.188 Ab 1955 war ein anderer Tag Anfang Mai wichtiger für die Geschichte Westdeutschlands geworden: am 5. Mai 1955 erfolgte die Souveränität der Bundesrepublik. Im Jahr 1955 stand ohnehin der 150. Todestag Friedrich Schillers im Vordergrund der allgemeinen Berichterstattung, nicht das Gedenken an den 10. Jahrestag des Kriegsendes. Zehn Jahre später, als Andrei Andrejewitsch Smirnow, der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik, anlässlich des „20. Jahrestages des vom sowjetischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 errungenen Siegens“ einen Empfang gab, blieben die Bonner Politiker der Einladung fern.189 Erst zum 25. Jahrestag des Kriegsendes 1970 trat der Bonner Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen, bei der Bundesskanzler Willy Brandt für eine Verständigung mit dem Osten und für Aussöhnung mit den Opfern warb. Und fünf Jahre später würdigte Bundespräsident Walter Scheel bei einer Ansprache in der Schlosskirche der Bonner Universität den 8. Mai als besonderen Tag, der ein „Augenblick der Selbstprüfung“ 187

188

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Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1848-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 1998, S. 174-178. Zit. nach Peter Reichel: Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole, Bonn 2005, S.79 Reichel, S. 278f.

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sei. Deutlich benannte er die Schuldfrage: „Wir nahmen es hin, dass unser Recht, das Recht unseres Nächsten, das Recht unserer Nachbarn mit Füßen getreten wurde. In unserem Namen geschah millionenfacher Mord …“190 Den 8. Mai 1980 nutzten rund 50.000 Menschen in Hannover, Mannheim, und München, um gegen die atomare Rüstung zu demonstrieren, bei dieser Gelegenheit wurde auch auf 35 Jahre „Befreiung vom Hitlerfaschismus“ hingewiesen. Während die Nachbarländer den „Tag der Befreiung“ bzw. den „Tag des Sieges“ mit Paraden gefeiert hatten, war seine historische Bedeutung bislang in der westdeutschen Öffentlichkeit ohne Relevanz Eine besondere Beachtung erhielt der Tag erst mit dem Rückblick auf den 40. Jahrestag zum und am 8. Mai 1985.191 Überall im Land fanden ökumenische Gottesdienste statt, mehrfach wurde Benjamin Brittens „War Requiem“ aufgeführt. Schriftsteller wie Günter Grass, damals Präsident der Akademie der Künste zu Berlin, meldeten sich zu Wort: „Die Deutschen verloren ihre Identität. Sie können sich nicht mehr begreifen seitdem. Es fehlt ihnen etwas, das sich, bei allem Fleiß, nicht wettmachen ließ. Dieses Loch in ihrem Bewusstsein.“192 In den Monaten zuvor hatten Tageszeitungen und Rundfunkanstalten Berichte von Zeitzeugen als wichtige Quelle zur Aufarbeitung der Geschichte entdeckt. In Gesprächen und Veröffentlichungen wurde offenbar, wie verschieden die Zeitzeugen den Tag einst erlebt hatten, die kontroverse Diskussion zeigte, wie unterschiedlich interpretierbar das Kriegsende war. Für Verwirrung und Irritation sorgte der Gedenktag bereits im Vorfeld, denn der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan besuchte während seines kurzen Deutschland-Aufenthalts am 5. Mai den Soldatenfriedhof Bitburg, auf dem auch Angehörige der Waffen-SS bestattet liegen. 193 Ein kurzfristig ins Programm aufgenommener Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen konnte die Gemüter nicht beruhigen. Am 8. Mai selbst hielt Reagan eine Ansprache vor dem Europäischen Parlament, in Paris fanden aufwändig inszenierte Siegesfeiern statt.

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FAZ, 7.5.1975. Jan-Holger Kirsch: „Wir haben aus der Geschichte gelernt.“ Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999, S. 71ff. Die Zeit, 10.5.1985. Theo Hallet: Umstrittene Versöhnung – Reagen und Kohl in Bitburg 1985, Erfurt 2005.

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Abbildung 63 Millionenfach gedruckt und verbreitet wurde die Ansprache Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985; hier in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung Bonn. Zum Jahrestag fand dann im Plenarsaal eine gemeinsame Gedenkfeier von Bundestag und Bundesrat statt, bewusst ohne ausländische Staatsgäste als Redner. Die Begrüßung nahm Bundestagspräsident Philipp Jenninger vor, der die verschiedenen Wahrnehmungen des Tages zitierte und meinte: „Die Menschheit musste von Hitler befreit werden.“ Die Hauptrede, die bis heute Maßstäbe gesetzt hat, hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er betonte die Bedeutung des Jahres 1945 für die Deutschen und erinnerte an die unterschiedliche Wahrnehmung des Kriegsendes, ließ aber keinen Zweifel daran, dass der 8. Mai für die meisten ein Tag der Befreiung war. Der Beginn seiner Rede lautete:194

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Zit. nach Reden, die die Welt bewegten, Stuttgart 1989, S. 629-642.

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Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdenherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen … Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe alleine finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Weizsäckers Rede endete mit den Worten: Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder gegen Türken, gegen Alternative oder gegen Konservative, gegen Schwarz oder gegen Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.

Weizsäckers Rede stieß überwiegend auf Zustimmung, doch nicht jeder bezeichnete sie wie Yitzhak Ben Ari, der israelische Botschafter, als „Sternstunde 207

der deutschen Nachkriegsgeschichte“. 195 Am heftigsten widersprach der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, der meinte, man solle die Vergangenheit „in der Versenkung“ verschwinden lassen, denn „die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftspolitische Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk“.196 Mit dieser aufsehenerregenden Rede, die vielfach im In- und Ausland zitiert wurde und deren Text während Weizsäckers Amtszeit in zwei Millionen Exemplaren gedruckt wurde, hat sich der 8. Mai als Gedenktag zwar etabliert, doch da er in der Regel ein Arbeitstag wie jeder andere Tag ist, blieb ihm eine größere Aufmerksamkeit auch weiterhin versagt. In den späteren Jahren thematisierten auf vielfältige Weise zahlreiche Publikationen, Dokumentationen und Spielfilme die letzten Kriegstage, Flucht und Vertreibung, Neuanfang und die Nachkriegsgeschichte. Der 8. Mai wurde ebenso Gegenstand des Geschichtsunterrichts, doch ins öffentliche Bewusstsein trat er allenfalls an „runden“ Gedenktagen.

Abbildung 64 Vielfältig sind die Erinnerungen ans Kriegsende; hier eine Gedenktafel in der evangelischen Johanneskirche in Garmisch-Partenkirchen; angebracht zum 40. Jahrestag am 8. Mai 1985.

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Die Welt, 11.5.1985. Bayernkurier, 29.11.1986.

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Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes (23. Mai) Von September 1948 bis Mai 1949 tagte in Bonn der Parlamentarische Rat, der aus 65 Abgeordneten der westdeutschen Länderparlamente und fünf Delegierten West-Berlins bestand, unter ihnen befanden sich vier Politikerinnen. Präsident dieses Gremiums war Konrad Adenauer. Bereits im August 1948 hatte ein von den Ministerpräsidenten berufener Verfassungskonvent in Herrenchiemsee einen ersten Verfassungsentwurf vorgelegt, den nun der Parlamentarische Rat ausarbeiten sollte. Da eine weitere Spaltung zwischen West und Ost, die vor allem durch die Währungsreform im Juni 1948 sichtbar geworden war, nicht vertieft werden sollte, verzichteten die Politiker der ersten Stunde bewusst auf die Bezeichnung „Verfassung“. Mit dem Begriff „Grundgesetz“ sollte das provisorische Gebilde des neu errichteten Staates hervorgehoben werden, aus diesem Grund war auch auf eine Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf verzichtet worden. Vier Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1949, stimmte der Parlamentarische Rat mehrheitlich für das Grundgesetz, vier Tage später wurde dieses von den drei Militärgouverneuren der Westalliierten genehmigt, am 23. Mai wurde das Grundgesetz verkündet, einen Tag später trat es in Kraft. Die Verkündung der neuen „Verfassung“ kann als Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland gewertet werden. Doch trotz dieses Neuanfangs war das Ziel der Wiedervereinigung nicht aufgegeben; in der Präambel des Grundgesetzes hieß es: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, …um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutsche gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

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Zudem hieß es in Art. 146: Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes war die Bundesrepublik Deutschland als parlamentarische Demokratie entstanden. Der Begriff „Bundesrepublik“ bezeichnete die Staatsform, die eine Aufteilung der staatlichen Aufgaben zwischen dem Bund als Gesamtstaat und den Ländern als Teilstaaten vorsah. Die Hinzufügung „Deutschland“ sollte darauf hinweisen, dass dieser Teilstaat den Anspruch erhob, für das ganze Deutschland zu sprechen. In Erinnerung an die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft hatte der Parlamentarische Rat größten Wert auf die Verankerung der Grund- und Menschenrechte in der Verfassung gelegt. Die Verfassung hieß bewusst Grundgesetz, um den provisorischen Charakter dieser Gesetzessammlung deutlich zu machen. So beginnt das GG in Artikel 1 mit dem Bekenntnis zur Würde des Menschen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt …“ In der Weimarer Verfassung von 1919 fand sich ein solcher Artikel nicht. Dennoch bildete diese Verfassung die Grundlage des heutigen Grundgesetzes, bzw. in mancherlei Hinsicht zogen die Verfassungsväter und -mütter von 1949 Lehren aus der Weimarer Zeit. So, um nur zwei Beispiele zu nennen, erhielt der Bundespräsident nicht die Kompetenz, wie sie der Reichspräsident hatte, und die in Weimarer fehlende 5%-Hürde wurde eingeführt. Nach dem Missbrauch staatlicher Symbole und der propagandistischen Vereinnahmung bisheriger Gedenk- und Feiertage durch die Nazis ist die Zurückhaltung der politisch Verantwortlichen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bezüglich neuer Feiertage verständlich. Solange West-Deutschland als Staat noch nicht existierte, bestand keine Notwendigkeit, das traf auch auf eine neue Nationalhymne zu. Nun aber, mit Verabschiedung des Grundgesetzes, wäre der 23. Mai ein geeigneter Tag für einen neuen Staatsfeiertag gewesen, da er einen Neuanfang markiert. Doch 210

dieser Tag, der einem Verwaltungsakt glich, fand keine Verwurzelung in der Bevölkerung. Für die Menschen der Nachkriegszeit war ohnehin der 20. Juni 1948 ein weitaus bedeutenderer Tag. Mit der Währungsreform hatte sichtbar ein Neuanfang stattgefunden. Noch Jahrzehnte später konnten sich die meisten Zeitzeugen an diesen Tag erinnern und daran, dass die Schaufenster über Nacht wieder lang vermisste Waren präsentierten. Jahrzehntelang blieb der 23. Mai mehr oder weniger unbeachtet in der Bevölkerung, auch wenn die öffentlichen Gebäude wie Gerichte, Rathäuser oder Schulen geflaggt waren. Erst 1974, zum 25. Jahrestag des Bestehens der Bundesrepublik, wurde dem Verfassungstag eine angemessene Bedeutung geschenkt: Bei einem Staatsakt im Plenarsaal mit 1200 Gästen hob Bundespräsident Gustav Heinemann die prägende Kraft des Grundgesetzes für Staat und Gesellschaft hervor. Seiner Meinung nach habe das Grundgesetz seine „Lebensfähigkeit“ bewiesen und sei mit seinen „Wertfestsetzungen“ in das Denken der Bevölkerung eingedrungen. Es sei die erste deutsche Verfassung, die die Zustimmung der „weit überwiegenden Mehrheit unseres gesunden Volkes“ habe. Vor der Festrede, an der auch 21 noch lebende Mitglieder des Parlamentarischen Rates teilnahmen, hatte Bundestagspräsidentin Annemarie Renger die Tätigkeit dieses Parlamentarischen Rates als verfassungsschöpfendes Organ gewürdigt. Anlässlich des Jubiläums brachte die Bundesrepublik im Mai 1974 eine 5-DM-Gedenkmünze heraus.

Abbildung 65 5-DM-Gedenkmünze zum 25-jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, 1975.

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Fünf Jahre später, zum 30jähirgen Verfassungsjubiläum, hatte der damalige Bundestagspräsident Karl Carstens die Bundesversammlung einberufen, es galt, einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Carstens selbst wurde dann Nachfolger von Walter Scheel. Auch 1984 und 1989 fand die Wahl des Bundespräsidenten (Richard von Weizsäcker) an einem 23. Mai statt, der Amtsantritt erfolgte zum 1. Juli.

Abbildung 66 Zum 40. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes brachte die Deutsche Bundespost eine 100-Pfennig-Sonderbriefmarke heraus. Die Bundespost widmete dem 23. Mai 1969 und 1989 eine Sonderbriefmarke über 30 bzw. 100 Pfennig, außerdem erschien 1989 eine 10-DM-Gedenkmünze, die auf der Vorderseite die Wappen der elf Bundesländer und auf der Rückseite einen stilisierten Reichsadler zeigte, zehn Jahre später folgte die 10-DM-Gedenkmünze „50 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“.

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Abbildung 67 Ebenfalls 1989 erschien eine 10-DM-Gedenkmünze zum 40jährigen Bestehen der Bundesrepublik.

Tag des Widerstands (20. Juli) Genau wie der 8. Mai war auch der 20. Juli viele Jahre als Gedenktag ambivalent. Am 20. Juli 1944 versuchten Offiziere um Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg den Diktator Adolf Hitler zu beseitigen. Dieser fehlgeschlagene Staatsstreich ging als „Attentat auf Hitler“ oder als „20. Juli“ in die Geschichtsbücher ein. Der Anschlag mittels einer Bombe fand in der „Wolfsschanze“, dem Führerhauptquartier bei Rastenburg/Ostpreußen, statt. Die Detonation tötete vier Männer und verletzte neun weitere Personen schwer, doch Hitler blieb weitgehend unverletzt. Damit war die Aktion „Walküre“ gescheitert, auch wenn Stauffenberg, inzwischen im Heeresersatzamt in Berlin, mit der Umsetzung der lange vorbereiteten Staatsstreichpläne begonnen hatte. Noch in der Nacht wurde der Oberst mit weiteren Offizieren erschossen, rund 200 Männer und Frauen aus dem engeren Widerstandskreis wurden in Folge des Attentats durch den Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet. In der Nachkriegszeit wurden diese Widerstandskämpfer nicht von allen als Helden gesehen, sondern als „Verschwörer“ oder gar „Verräter“ diffamiert. Groß waren in der Bevölkerung und bei ehemaligen Wehrmachtsangehörigen die Vorbehalte gegenüber einer Würdigung des 20. Juli. Selbst Theodor Heuss, seit einem 213

Jahr erster Präsident der Bundesrepublik Deutschland, hatte sich noch 1950 geweigert, über den Rundfunk eine Gedenkansprache zu halten. Vier Jahre später dagegen trat er mit einer offiziellen Stellungnahme an die Öffentlichkeit: Anlässlich des 10. Jahrestages hielt Heuss, am 18. Juli 1954 erneut zum Bundespräsidenten gewählt, eine Gedenkrede in der Freien Universität Berlin, die unter dem Motto „Dank und Bekenntnis“ stand. Er würdigte die Widerstandskämpfer und sagte: „Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt. Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.“197 Zwar machte Heuss einen Unterschied zwischen den Opfern des 20. Juli und anderen Opfern des Nationalsozialismus wie den Geschwistern Scholl, doch mit Gedenkfeiern an den Hinrichtungsstätten in Berlin und ihrer Anwesenheit bei Gedenkgottesdiensten hob die politische Führung Westdeutschlands – neben Heuss waren dies Bundeskanzler Konrad Adenauer, Bundestagspräsident Hermann Ehlers, Bundesratspräsident Georg August Zinn – entschlossen die historische Bedeutung des 20. Juli hervor. Zudem traf sich Heuss mit Angehörigen der Opfer im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Gesinnungswandel war auch den Ereignissen vom 17. Juni 1953 geschuldet. So hatte ein Jahr zuvor, am 19. Juli 1953, Ernst Reuter, der Regierende Bürgermeister von Berlin, gesagt:198 Der Bogen vom 20. Juli 1944 spannt sich heute, ob wir wollen oder nicht, zu dem großen Tage des 17. Juni 1953, zu jenem Tag, an dem sich ein gepeinigtes und gemartertes Volk in Aufruhr gegen seine Unterdrücker und gegen seine Bedränger erhob und der Welt den festen Willen zeigte, dass wir Deutsche frei sein und als ein freies Volk unser Haupt zum Himmel erheben wollen. Wir wissen, dass dieser 17. Juni wie einst der 20. Juli nur ein Anfang war. Aber ich glaube, es ist gut, es ist richtig, wenn wir auch an diesem Tage den Bogen vom 20. Juli zu den Ereignissen schlagen, die uns heute innerlich bewegen.

197 198

Allgemeine Zeitung Mainz (AZ), 20.7.1954. Ebd., 20.7.1953.

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Abbildung 68 Bereits zum 10. Jahrestag des Attentats erschien bei der Deutschen Post Berlin eine 20-Pfennig-Sonderbriefmarke („Mann in Fesseln“), 1954. Doch kontroverse Diskussionen hielten auch in diesen Jahren noch an. Immer wieder ging es um die nicht unumstrittene Persönlichkeit Stauffenbergs, auch wurde gewarnt, ihn nicht als Einzeltäter zu verklären. Hatten er und Seinesgleichen das NS-System zunächst nicht sogar gestützt, unterstützt, hätte er, bei seinen Möglichkeiten und dem direkten Zugang zu Hitler, diesen nicht viel eher beseitigen können? Und wie stand es mit seinen Plänen für die Nachkriegszeit? Ein Demokrat nach unserem heutigen Verständnis war er jedenfalls nicht. War es daher gerechtfertigt, dass Stauffenberg bzw. Vertreter des Militärs, mit diesem Gedenktag besonders herausgehoben wurden? Welche Würdigung sollten etwa die kommunistischen Widerstandskämpfer erfahren? Tatsächlich war die heutige, inzwischen erweiterte Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, deren Grundstein am 20. Juli 1952 gelegt worden war, ursprünglich zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 errichtet worden. Die Bendlerstraße, an der das Mahnmal liegt, wurde 1955 in Stauffenbergstraße umbenannt. Heute erinnern deutschlandweit mit unterschiedlichsten Schreibweisen 224 Straßen an Claus Graf Schenk von Stauffenberg.

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Abbildung 69 Nicht nur Straßen, Plätze und Schulen erinnern an Claus Graf Schenk von Stauffenberg, auch eine U-Bahn-Station in Bielefeld. Zwar brachte die Deutsche Post Berlin zum 10. Jahrestag eine 20-PfennigSonderbriefmarke („Mann in Fesseln“) heraus, insgesamt aber verlief 1954 das Gedenken noch in schlichter Form. Ab 1964 etablierte sich ein institutionalisiertes Erinnerungsritual, das vor allem zu den „runden“ Jahrestagen eine breite Öffentlichkeit fand und das auch Widerstandskämpfer aus anderen Bereichen berücksichtigte. So brachte zum 20. Jahrestag die Bundespost den Briefmarkenblock „Widerstandskämpfer“ heraus mit acht 20-Pfennig-Marken, die neben Stauffenberg und Ludwig Beck als Vertreter des militärischen Widerstands auch die Widerstandskämpfer Sophie Scholl („Weiße Rose“), Dietrich Bonhoeffer (Bekennende Kirche), Carl Friedrich Goerdeler („Goerdeler-Kreis“), Wilhelm Leuschner (Gewerkschaften) sowie Alfred Delp und Helmuth James Graf von Moltke (Kreisauer Kreis) zeigten. In diesem Jahr fanden erstmals größere Gedenkveranstaltungen in allen Teilen der Bundesrepublik statt. Die Tageszeitungen berichteten ausführlich über die „Größe und Grenze des 20. Juli“.

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In einem Aufruf dankte die Bundesregierung allen Deutschen, die der nationalsozialistischen Herrschaft Widerstand entgegengesetzt hatten:199 Der 20. Juli war der sinnfälligste Ausdruck der Auflehnung gegen den Tyrannen. Den Widerstandskämpfern ging es darum, das Bild des Menschen wieder aufzurichten im Herzen des deutschen Volkes … Heute hat das deutsche Volk in der Bundesrepublik Deutschland einen freiheitlichen Rechtsstaat geschaffen, den es bewahren und verteidigen will, um die Einheit Deutschlands in Freiheit zu vollenden. Das freie Deutschland hütet das Vermächtnis der deutschen Widerstandskämpfer gegen die Tyrannei. Sie haben dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft der freien Völker eintreten und zu einem Pfeiler der westlichen Welt werden konnte. … Die Männer des deutschen Widerstands waren beseelt vom Geist der Menschlichkeit und der Liebe zu unserem Volk.

Bundespräsident Heinrich Lübke legte vor der ehemaligen Exekutionsmauer an der Stauffenbergstraße sowie an der ehemaligen Hinrichtungsstelle Plötzensee einen Kranz nieder. Bei der zentralen Feierstunde in der Freien Universität Berlin bezeichnete er den Aufstand als „Symbol der Selbstachtung“. Der Bundespräsident verglich den Aufstand mit dem Juni-Aufstand von 1953 in der DDR und betonte, Berlin sei damit zweimal zum Symbol der deutschen Einheit geworden. Und in Plötzensee hielt Julius Kardinal Döpfner, der Erzbischof von München-Freising, eine Predigt, in der er sagte: „Die Märtyrer für das andere Deutschland sind gestorben, damit wir für das andere Deutschland leben.“ Während Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier im Ehrenhof der Berliner Gedenkstätte der Männer des 20. Juli gedachte, ehrte Altkanzler Konrad Adenauer die Opfer mit einer Kranzniederlegung an der neuen Gedenkstätte für Widerstandskämpfer im Bonner Hofgarten. Herbert Wehner, der stellvertretende SPD-Vorsitzende meinte über die Anschauungen der Widerstandskämpfer: „Wenn man diese Niederschriften liest, darf man als Deutscher stolz darauf sein, dass unser Volk solche Männer

199

AZ, 18./19.7.1964.

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mit solchen Gedanken und Vorsätzen gehabt hat.“200 Auch in den Bundesländern fanden Gedenkveranstaltungen statt, oftmals in Anwesenheit zahlreicher Hinterbliebener der Widerstandskämpfer. So gedachten die hessische Landesregierung und Martin Niemöller, der hessische Kirchenpräsident, der Ereignisse vor 20 Jahren in der Frankfurter Paulskirche. Zudem bezeichnete Generalleutnant Wolf Graf Baudissin in der Bonner Beethovenhalle den 20. Juli als Vorbild für die deutsche Bundeswehr. Genau drei Jahre zuvor war die 1957 eingeweihte Kaserne in Sigmaringen nach Graf Stauffenberg benannt worden. Neben diesem offiziellen Gedenken fanden an lokalen Mahnmalen bundesweit Kranzniederlegungen durch die Vertreter der Kommunen statt. Wie sehr 20 Jahre nach dem Attentatsversuch die Akteure von damals auch geschätzt wurden, zeigt folgendes Ansinnen: Der 1915 geborene Karl Ibach, einst Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, selbst Widerstandskämpfer und mehrfach inhaftiert, nun Sprecher des Zentralverbandes demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen, forderte gar, den „Tag der deutschen Erhebung“ am 20. Juli zum arbeitsfreien deutschen Nationaltag zu machen.201 Auch fünf Jahre später, anlässlich des 25. Jahrestages, brachte die Presse Sonderseiten mit Rückblicken und Kommentaren. Angesichts der Schändung des Erinnerungsortes Plötzensee – in der Nacht zum 20.7.1969 war der Innenraum der Gedenkstätte mit Hakenkreuzen beschmiert – warnte Bundespräsident Gustav Heinemann vor einem neuen Nationalismus: „Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein. Ein nationalbewusster Deutscher kann heute nur Europäer sein.“202 Wichtiger aber als das Nachdenken über den 20. Juli war in diesem Jahr die Berichterstattung über „die ersten Menschen auf dem Mond“; die „Mondlandung“ fand am 21. Juli 1969 statt.

200 201 202

AZ, 20.7.1964. AZ, 21.7.1964. AZ, 21.7.1969.

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Abbildung 70 Zum 20. Jahrestag des gescheiterten Anschlages auf Hitler gab die Bundespost im Juli 1964 einen Briefmarkenblock „Widerstandskämpfer“ heraus. Ganz anders sah es ein Jahr später und in den folgenden Jahren aus, der 20. Juli als Gedenktag spielte nur eine untergeordnete Rolle. 1970 hieß es in der Presse:203 Nur 47 Prozent aller Bundesbürger über 18 Jahren wissen nach Ansicht eines Meinungsforschungsinstituts richtig anzugeben, worum es sich beim Gedenktag 20. Juli handelt. Das ergab eine am Sonntag veröffentlichte Repräsentativumfrage der Tübinger Wickert-Institute. 1964 konnten sich noch 71 Prozent an den Tag des Attentats auf Adolf Hitler erinnern.

Seit 1964 war es üblich geworden, dass Gedenkfeiern der Bundesregierung in Bonn und Berlin stattfanden. Zum 30. Jahrestag wurde erneut öffentlichkeitswirksam berichtet und Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte in seiner Ansprache über Fernsehen und Hörfunk: „Der 20. Juli muss uns an unsere

203

AZ, 20.7.1970.

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moralische Grundpflicht als Staatsbürger erinnern.“ Mit Verweis auf das Grundgesetz betonte er das „Recht auf Widerstand“. 1968 war das „Widerstandsrecht“ (Art. 20 GG Abs. 4) mit Hinweis auf den 20. Juli 1944 ins Grundgesetz aufgenommen worden: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Allerdings lag 1974 ein Schatten über der offiziellen Gedenkfeier: Bei der Feierstunde, der ersten Sitzung im Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes seit 40 Jahren, gab es Tumulte. Die Ansprache des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der in dieser Zeit Bundesratspräsident war, wurde mehrfach von Zwischenrufen wie „Nazi“ unterbrochen. Hintergrund dieser Störung: Filbinger hatte kurz nach Kriegsende als Marinestabsrichter in Norwegen einen jungen Soldaten wegen Gehorsamsverweigerung verurteilt. In seiner Rede, die er in Anwesenheit von Bundespräsident Walter Scheel und Bundestagspräsidentin Annemarie Renger hielt, bezeichnete Filbinger das Geschehen um den 20. Juli als „Rettungstat für das deutsche Gewissen vor der Geschichte“. 204 Dieser Sichtweise konnten sich die Vertreter der 68er-Generation nur schwerlich anschließen, missfiel ihnen doch, dass der Widerstand gegen Hitler ausgerechnet von hohen Offizieren und Adligen ausgegangen war und nicht von Arbeitern oder Deserteuren (die allgemeine Würdigung Georg Elsers, der am 8. November 1939 ein Attentat auf Hitler verübt hatte, erfolgte erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts). 1984, zum 40. Jahrestag, bezeichnete Bundeskanzler Helmut Kohl bei der zentralen Gedenkfeier in Berlin den 20. Juli als „Symbol für ein anderes Deutschland“ und für alle Deutschen, die in einem totalitären Regime für demokratische, religiöse, politische und ethische Gesinnung eingetreten seien und nationalsozialistisches Unrecht bekämpft hätten. Die Würdigungen des Tages fanden in einem großen Rahmen statt, immerhin standen noch Zeitzeugen zur Verfügung, Angehörige von Opfern oder Widerstandskämpfer, die am Leben geblieben waren. Hamburgs Bürgermeister Klaus von Dohnany, in dessen Familie Vater und zwei Onkel als

204

AZ, 20.7.1974.

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Widerstandskämpfer hingerichtet wurden, sprach von einem „Aufstand des menschlichen, sozialen und christlichen Gewissens“. Das Vermächtnis des 20. Juli erfordere, dass „die deutsche Stimme heute und zukünftig auf der Seite der Verfolgten und Entrechteten immer deutlich zu hören sein muss“.205 Nach diesen Feierlichkeiten aber rückte der 20. Juli als Gedenktag in den Hintergrund. Zwar wurden seit 1963 an diesem Tag die öffentlichen Gebäude bundesweit beflaggt und Kränze niedergelegt, doch die Öffentlichkeit interessierte sich zunehmend kaum noch für den historischen Hintergrund, immerhin lag das Ereignis mehr als vier Jahrzehnte zurück.

Antikriegstag (1. September) Der „Antikriegstag“, heute eher unter der Bezeichnung „Weltfriedenstag“ bekannt, hat in der Öffentlichkeit nie die Aufmerksamkeit erfahren wie etwa die Gedenktage 20. Juli oder 9. November. Anlass für die erste Großkundgebung linker Jugendgruppen in Frankfurt/Main am 1. September war die Einführung der Wehrpflicht im Juli 1956. Ab 1962 machte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) den Kampf gegen die beginnende Aufrüstung zu eigenen, bei „Antikriegsveranstaltungen“, die von Jahr zu Jahr ausgeweitet wurden und schließlich in fast jeder größeren Stadt stattfanden, warnten die Gewerkschaftsvertreter vor einem Dritten Weltkrieg. Im Mai 1966 forderte der 7. Bundeskongress des DGB den Bundesvorstand auf, „alles Erdenkliche zu unternehmen, damit der 1. September in würdiger Form als ein Tag des Bekenntnisses für den Frieden und gegen den Krieg begangen wird“. Der Antrag der Delegierten wurde mit großer Zustimmung verabschiedet, auch Willy Bopp, der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), unterstützte das Anliegen:206

205 206

AZ, 21.7.1984. Willy Bopp: in: Protokoll, 7. Ordentlicher Bundeskongress des DGB, Berlin, 9. bis 14. Mai 1966, S. 246.

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Werte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint, dass dieser Antrag in besonderem Maße geeignet ist, unsere jungen Staatsbürger daran zu erinnern, welche Bedeutung die Erhaltung des Friedens für ein Leben in Freiheit und Demokratie in unserer Zeit hat. Diese gewerkschaftliche Initiative, die mit diesem Antrag zum Ausdruck kommt und zum Ziele hat, den 1. September als einen Tag des Bekenntnisses für den Frieden und gegen den Krieg zum Ausdruck zu bringen, scheint mir von uns allen von ganzem Herzen begrüßt werden zu können. Ich meine aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir den Antrag so verstehen sollten, eine solche Veranstaltung nicht nur zu beschränken auf die Teilnahme von Gewerkschaften im DGB, sondern dass wir alle demokratischen Kräfte, Gruppen und Institutionen einschalten, um wirklich nach außen eine Bekundung unseres Friedenswillens zu erreichen. Wer die Möglichkeit hat oder hatte, Erfahrungen aus Gesprächen bei Auslandsreisen oder mit verschiedenen Delegationen auf der internationalen Ebene zu sammeln und darüber Gespräche zu führen, der weiß, wie genau wir beobachtet werden und wie schwierig es ist, unseren Friedenswillen deutlich zu machen, Ich meine deshalb, es wäre gut für unser Anliegen, wenn wir diesen Antrag so verstehen, dass die Worte „alles Erdenkliche“ eine breite Basis von demokratischen Kräften, Parteien und Institutionen mit einzubeziehen. Ich bitte deshalb den Bundesvorstand, mit dem Vollzug dieser Entschließung darauf hinzuwirken, dass wir hierzu eine breite Basis für diese Veranstaltung finden.

In den kommenden Jahren war es vor allem die DGB-Jugend, die unter dem Motto „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“ die Erinnerung an die Geschehnisse des 1. September 1939 wachhielt und zu Kundgebungen „für Frieden“ und „gegen Krieg“ aufrief. 1979, anlässlich des 40. Jahrestags des Beginns des Zweiten Weltkrieges, gab der Bundesvorstand des DGB folgende Erklärung ab:207

207

Erklärung des DGB zum Antikriegstag am 1.9.1979, zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9/1979, Berlin 1979, S. 1150.

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40 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939, der den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, ist es notwendig, an die Lehre zu erinnern, die aus der deutschen Vergangenheit zu ziehen ist: Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg! Die unerträglichen neonazistischen Umtriebe müssen ein Ende haben. Wir fordern alle Demokraten auf, dieses Ziel zu unterstützen. Der beste Kampf gegen den Krieg ist ein aktives Eintreten für die Demokratie. Demokratie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist unteilbar. 30 Jahre friedlicher Entwicklung für die Bundesrepublik Deutschland, 30 Jahre Frieden in Europa können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kriegsgefahr nicht gebannt ist, dass überall in der Welt Krieg geführt wird. Das Arsenal der Armee in Ost und West ist mit hochentwickelten Waffensystemen gefüllt, deren Aufgabe es ist, im Konfliktfall Menschen zu vernichten. Rüstung und Aufrüstung beschränken sich nicht auf die Industriestaaten. Die Entwicklungsländer rüsten ebenso. In Afrika vermischen sich die Interessen der Großmächte mit den Problemen nationalstaatlicher Entwicklung; in Lateinamerika wütet noch immer Bürgerkrieg; in Südostasien wurde und wird Krieg geführt…Krieg ist – wie vor 40 Jahren – grausame Wirklichkeit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund bekennt sich zum Frieden, zur weltweiten Abrüstung, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, die Abrüstungsverhandlungen in Wien und Genf zeigen Etappen auf. Sie müssen ergänzt werden durch eine wirksame Entwicklungspolitik für die „Dritte Welt“. Eine Politik, die sich diesen Aufgaben verpflichtet fühlt, kann neue Kriege verhindern. Für diese Ziele treten wir ein.

In diesen Jahren hatten die „Ostermärsche“, die sich gegen die Neutronenbombe und gegen die Aufrüstung mit neuen Mittelstreckenraketen (NATODoppelbeschluss) richteten, enormen Zulauf, entsprechend groß war in den 1980er Jahren auch das Interesse an den Kundgebungen des DGB zum 223

Antikriegstag am 1. September. Anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsbeginns konnten die Gewerkschaften 1989 ein letztes Mal öffentlichkeitswirksam „für Frieden und Arbeit“ demonstrieren. Auch Roland Issen, der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) forderte in seinem Leitartikel der Verbandszeitschrift:208 … die Abschaffung aller atomaren, biologischen und chemischen Waffen, eine Vereinbarung, die die Entwicklung, Herstellung, Lieferung und den Einsatz von Kern-, chemischen und biologischen Waffen sowie anderen Massenvernichtungsmitteln und neuen Rüstungstechnologien untersagt, die alsbaldige Verringerung der konventionellen Streitkräfte und einen Verzicht auf die Stationierung von Waffen im Weltraum. Die Überwindung der Spaltung Europas in zwei sich feindlich gegenüberstehende Militärblöcke bleibt die große politische Aufgabe. Sie kann nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung erfolgreich gelöst werden.

Wie auch der 1. Mai war der 1. September eher ein Tag der Gewerkschaften, die offizielle Politik hielt sich zurück, die Erinnerung an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges besaß, im Gegensatz zum Gedenken an den 8. Mai, keine Priorität. Zum 50. Jahrestag allerdings fand im Bonner Bundestag eine Gedenkstunde statt, die Bundeskanzler Helmut Kohl zu einer Regierungserklärung nutzte:209 Gewiss: Auch nach 1945 meldeten sich noch manche Unbelehrbaren und Unverbesserlichen zu Wort. Doch wurden sie von den allermeisten Überlebenden entschieden verurteilt und ein für alle Mal zurückgewiesen. Denn diese hatten die Wirkung der alten Unheilslehren am eigenen Leibe erfahren. Allzu viele Menschen in Deutschland – auch manche im Ausland – hatten sich vom Tyrannen blenden und irreleiten

208

209

DAG-Journal, Sept. 1989, zit. nach www.verdie.de/ueber-uns/idee-tradition/..., abgerufen am 15.12.2018. AZ, 2.9.1989.

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lassen. Das Urteil über die NS-Diktatur hängt indes allein von ihren Untaten ab, ihrem Vernichtungsfeldzug und dem Völkermord. Gerade in Deutschland darf die Erinnerung an das Vergangene nicht verlorengehen. Sie ist uns eine schwere Last. Aber sie hat uns auch geholfen, unser Gemeinwesen verantwortungsbewusst zu gestalten. Hitler hatte den Krieg gewollt, geplant und entfesselt. Daran gab und gibt es nichts zu deuteln. Wir müssen entschieden allen Versuchen entgegentreten, dieses Urteil abzuschwächen. Die Spaltung Deutschlands und Europas lässt sich durch den Zweiten Weltkrieg zum Teil erklären, jedoch in keiner Weise rechtfertigen. Deshalb sind Äußerungen, wie jene von Generalsekretär Gorbatschow hier in Bonn im Juni dieses Jahres, wonach die Nachkriegsepoche zu Ende gehe, ein Signal der Hoffnung für alle Menschen und Völker, die unter der Teilung Europas und Deutschlands ganz unmittelbar zu leiden haben – wenn und soweit damit die friedliche Überwindung des gegenwärtigen Zustandes gemeint ist… Wir wollen Verständigung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Mit dem Warschauer Vertrag von 1970 – unterzeichnet vom damaligen Bundeskanzler Brandt – gelang ein weiterer Schritt in diese Richtung. An Buchstaben und Geist dieses Vertrages werden wir uns weiterhin halten. Unsere Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Zeit bis 1933 muss lauten: Extremismus auf der politischen Rechten oder Linken kann nur dann Erfolg haben und zur Macht gelangen, wenn die Bürger sich von den demokratischen Parteien abwenden oder abseits stehen… Wenn wir den Anfängen gemeinsam wehren, hat der Extremismus keine Chance. Dagegen anzukämpfen – dazu ist es nie zu früh. An diesem 1. September wende ich mich besonders an die jungen Menschen in Deutschland. Sie tragen keinerlei Schuld für Diktatur und Weltkrieg – nicht kollektiv, weil es das prinzipiell nicht gibt, aber auch

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nicht individuell, weil ihr Lebensalter sie davor bewahrt. Dennoch tragen sie Verantwortung, weil die Vergangenheit gegenwärtig bleibt.

In den folgenden Jahren schienen sich die Forderungen der Gewerkschaften erfüllt zu haben: die „Überwindung der Spaltung Europas“ hatte begonnen und mit dem Untergang der UdSSR 1991 war das gegenseitige Wettrüsten beendet, friedliche Zeiten schienen in Aussicht, der Kalte Krieg, so die gängige Meinung, war Geschichte.

Gedenktag an die Pogromnacht (9. November) Am 9. November 1918 endete in Deutschland die jahrhundertealte Epoche der Monarchie. In Berlin rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann die demokratische Republik aus, die später die Bezeichnung „Weimarer Republik“ erhalten sollte. Am 9. November 1923 plante Adolf Hitler mit seinem „Marsch zur Feldherrnhalle“ den Sturz der bayerischen Regierung; dieser Tag fand als „Hitler-Ludendorff-Putsch“ Eingang in die Geschichtsbücher. Wie bereits gezeigt, war der 9. November ein von den Nationalsozialisten inszenierter Tag. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war er allenfalls für die Historiker interessant, etwa 1968, anlässlich des 50. Jahrestags der Ausrufung der Weimarer Republik. Dass der Tag dennoch eine gewisse Beachtung erhielt, lag an der „Reichskristallnacht“ bzw. „Pogromnacht“ vom 9./10. November 1938. Doch da in der Nachkriegszeit nur wenige Juden in Deutschland lebten, jüdische Gemeinden sich erst nach und nach restituierten und auch die 1938 zerstörten Synagogen überwiegend erst ab den 1960er Jahren wieder aufgebaut wurden, stand zunächst das Gedenken an den 9. November 1918 im Vordergrund, so auch in den „November-Erinnerungen“ von 1958:210 Der November ist der Monat der Gewissensforschung. Nicht nur, weil er uns auffordert, der Toten zu gedenken, der Verstorbenen und der Gefallenen. Manche Novemberdaten unserer jüngsten Geschichte sind alles andere als stolze Ruhmesblätter, deren die deutsche Geschichte so 210

AZ, 8./9.11.1958.

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manche zu verzeichnen hat. Am 9. November vor 20 Jahren schlugen die Führer des Dritten Reiches in der sogenannten Kristallnacht das deutsche Ansehen in Scherben. Der Tag war bewusst gewählt, um den 9. November 1918 zu „rächen“, was am 9. November 1923 mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle nicht gelungen war. Was aber war es, das „Rache“ verdiente Wer kann schuldig gesprochen werden für das, was in diesen Novembertagen vor 40 Jahren geschah?

Diese Pressemeldung ist ein typisches Beispiel für eine undifferenzierte Pauschalaussage, die vielleicht „gut gemeint“, aber wenig hilfreich ist und die letztlich die Hilflosigkeit im Umgang mit einem „sperrigen“ Gedenktag offenbart. Immerhin war es Bundespräsident Theodor Heuss, der ebenfalls 1958 und zum selben Anlass in einem Schreiben an den Zentralrat der Juden ohne Umschweife erklärte:211 Die Erinnerung an den 9. November weckt das Erschrecken, das wir alle empfinden mussten, als Rohheit, Lüge und Ehrfurchtslosigkeit sich in einer zerstörerischen Wut gegen jüdische Gotteshäuser manifestierten. Dieses Tages zu gedenken ist sonderliche Pflicht in einem Zeitpunkt, da die Zahl derer wächst, die sich in die Annehmlichkeit des Vergessenwollens flüchten möchten oder bereits geflohen sind. Die Infamie hat sich selber damals ein loderndes Denkmal gesetzt. Die Flammen mögen längst in sich zusammengesunken sein, aber ihre düstere Glut wirkt über die Jahrzehnte hinweg als brennende Scham.

Während im Jahr 1958 aber überwiegend der Ereignisse von 1918 gedacht wurden, änderte sich dies ab 1963. Anlässlich des 25. Jahrestags der Pogromnacht brachte es die „Allgemeine Zeitung Mainz“ auf den Punkt; der 9. November 1938 wurde als „Vorspiel zum größten Massenmord der Geschichte“ bezeichnet:212

211 212

Süddeutsche Zeitung (SZ), 12.11.1958. AZ, 9./10.11.1963.

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Der Flammenschein, der vor 25 Jahren den Himmel über deutschen Städten rötete, bildete das Vorspiel zum größten Massenmord in der Geschichte der Menschheit. In der „Kristallnacht“ vom 9. zum 10. November 1938 zeigten die Nationalsozialisten, dass sie gewillt waren, die „jüdische Frage“ mit Gewalt zu „lösen“.

Abbildung 71 Ab den 1980er Jahren wurden zunehmend Gedenksteine, Stelen oder Gedenktafeln aufgestellt, die an die zerstörten Synagogen erinnern; hier ein Gedenkstein in Papenburg.

In der zentralen Gedenkstunde der jüdischen Gemeinden in Berlin hob 1968 deren Vorsitzender Heinz Galinski das Bemühen um eine „deutsch-jüdische Partnerschaft“ hervor. Fünf Jahre später, zum 35. Jahrestag, hielt Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Ansprache in der Kölner Synagoge. Auch wenn der 9. November als „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ vor allem ein Gedenktag der Juden, der Opferverbände und der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit blieb, nahmen von nun an auch Politiker und die deutsche Öffentlichkeit das Geschehen von 1938 stärker wahr; Schweigemärsche zogen durch westdeutsche Städte, Dokumentationen hielten die Erinnerung an die Pogromnacht 228

wach. Neben einer zentralen Gedenkfeier in Bonn fanden auch in Gemeinden mit jüdischer Tradition Mahnwachen und Kranzniederlegungen statt, doch ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit drang dieser Tag nur allmählich. Wie unsensibel mit diesem Datum umgegangen wurde, belegt auch folgende Begebenheit: Laut Plan sollte am 40. Jahrestag des Pogroms, am 9. November 1978, im ZDF die 75. Sendung der Fernsehshow „Dalli Dali“ gesendet werden. Moderator war der 1925 geborene Hans Rosenthal, der die Nazizeit in einem Versteck in Berlin überlebt hatte. Rosenthal, seit 1973 Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte versucht, den Ausstrahlungstermin der Jubiläumssendung zu verschieben, doch das ZDF lehnte dieses nachvollziehbare Ansinnen ab. Rosenthal reagierte darauf, indem er in der Livesendung einen schwarzen Anzug trug und statt der üblichen Schlagermelodien Opernmusik spielen ließ. Zehn Jahre später dagegen hatte sich inzwischen ein angemessener Umgang mit dem Datum eingestellt: 1988, anlässlich des 50. Jahrestages, fanden bundesweit Gedenkveranstaltungen, Tagungen, Ausstellungen etc. statt. Zahlreiche Publikationen, Dokumentationen und Spielfilme setzten sich mit dem Thema der Pogromnacht, der Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland auseinander. Erstmals brachte auch die Bundespost eine 80-Pfennig-Sonderbriefmarke heraus, die eine brennende Synagoge und den Davidstern zeigte. In West-Berlin gab es einen Schweigemarsch zum jüdischen Gemeindehaus, in Frankfurt/ Main wurde das Jüdische Museum durch Bundeskanzler Helmut Kohl eröffnet und der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt rief anlässlich des Gedenktages dazu auf, gegen Unrecht aufzubegehren: „Es gilt, nie mehr wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht.“ Doch dieser Tag blieb lange im Gedächtnis haften wegen einer offiziellen Gedenkrede, die der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger ungeschickt und missverständlich formuliert am 10. November 1988 im Deutschen Bundestag vorgetragen hatte; es war die erste parlamentarische Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht:213 Meine Damen und Herren! Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch

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Zit. nach Reden, die die Welt bewegten, S. 651-664.

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wir Deutschen erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land zutrug, und es ist gut, dass wir dies in beiden Staaten auf deutschem Boden tun; denn unsere Geschichte lässt sich nicht aufspalten in Gutes und Böses, und die Verantwortung für das Vergangene kann nicht verteilt werden nach den geografischen Willkürlichkeiten der Nachkriegsordnung … Heute nun haben wir uns im Deutschen Bundesstag zusammengefunden, um hier im Parlament der Pogrome vom 9. und 10. November 1938 zu gedenken, weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir Deutsche uns klarwerden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft… Die Opfer – die Juden in aller Welt – wissen nur zu genau, was der November 1938 für ihren künftigen Leidensweg zu bedeuten hatte. Wissen auch wir es? Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hatte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und, schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um eine von der damaligen Staatsführung erdachte, angestiftete und geförderte Aktion … Goebbels, der eigentliche Regisseur der ganzen Aktion, hatte sich insofern in seiner Kalkulation geirrt, als niemand im In- oder Ausland an die Fiktion des „spontanen Volkszorns“ glaubte. Dafür sorgten schon die untätig herumstehenden Polizisten und Feuerwehrleute, die die Synagogen niederbrennen ließen und nur eingriffen, wenn „arisches“ Eigentum in Gefahr geriet… Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen Hitlers waren vielleicht

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seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt… Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, musste dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird... Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen? Und wenn es gar zu schlimm wurde, wie im November 1938, so konnte man sich mit den Worten eines Zeitgenossen ja immer noch sagen: „Was geht es uns an! Seht weg, wenn euch graust. Es ist nicht unser Schicksal.“ Meine Damen und Herren, Antisemitismus hatte es in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern auch – lange vor Hitler gegeben. Seit Jahrhunderten waren die Juden Gegenstand kirchlicher und staatlicher Verfolgung gewesen; der von theologischen Vorurteilen geprägte Antijudaismus der Kirchen konnte auf eine lange Tradition zurückblicken …

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Meine Damen und Herren, die Erinnerung wachzuhalten und die Vergangenheit als Teil unserer Identität als Deutsche anzunehmen – dies allein verheißt uns Älteren wie den Jüngeren Befreiung von der Last der Geschichte … Auf den Fundamenten unseres Staates und unserer Geschichte gilt es eine neue moralische Tradition zu begründen, die sich in der humanen und moralischen Sensibilität unserer Gesellschaft beweisen muss. Nach außen bedeutet dies die Pflicht zur kollektiven Friedensverantwortung, zur aktiven Befriedung der Welt. Dazu gehört für uns auch das Existenzrecht des jüdischen Volkes in gesicherten Grenzen. Es bedeutet die systemöffnende Kooperation zwischen West und Ost. Und es bedeutet eine Garantenpflicht für das Überleben der Dritten Welt. Nach innen bedeutet es Offenheit und Toleranz gegenüber dem Mitmenschen ungeachtet seiner Rasse, seiner Herkunft, seiner politischen Überzeugung. Es bedeutet die unbedingte Achtung des Rechts. Es bedeutet das kompromisslose Eintreten gegen jede Willkür, gegen jeden Angriff auf die Würde des Menschen. Dies ist das Wichtigste: Lassen wir niemals wieder zu, dass unserem Nächsten die Qualität als Mensch abgesprochen wird. Er verdient Achtung; denn er trägt wie wir ein menschliches Antlitz.

Jenninger nahm nicht die Sicht der Nazi-Opfer ein, sondern zu sehr die Perspektive der Täter und Mitläufer, er sprach von den „staunenerregenden Erfolgen Hitlers“ und dem „Faszinosum“ seines „politischen Triumphzuges“. Mit derlei Formulierungen verletzte er die sonst übliche Gedenkpraxis und provozierte einen Skandal. Bereits während der Ansprache verließen Abgeordnete der Grünen den Plenarsaal, doch dieser Protest war unabhängig vom Inhalt der Rede bereits im Vorfeld geplant gewesen. Überwiegend wurde Jenningers Beitrag als misslungen bewertet, zumal er ausführlich auch Heinrich Himmlers Posener Rede vom Oktober 1943 zitierte. In seinen Ausführungen, das konnte man später nachlesen, hatte Jenninger kaum Falsches gesagt, doch er hatte alles falsch gesagt, wobei zu berücksichtigen war, dass sich Satzzeichen 232

wie Anführungszeichen, die im Redemanuskript stehen, im gesprochenen Text nur schwer wiedergeben lassen. Etwas voreilig, trat Jenninger am nächsten Tag von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück.

Abbildung 72 Sonderbriefmarke anlässlich des 50. Jahrestags der Pogromnacht vom 9. November 1938, 1988.

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Volkstrauertag (November) Nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte sich der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge neu und kehrte wieder zurück zu den Gedenkfeiern in ursprünglicher Sinngebung. Die erste zentrale Veranstaltung fand 1950 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn statt. Erst 1952 jedoch wurde der Volkstrauertag – in bewusster Abgrenzung zum „Heldengedenktag“ – vom Frühjahr auf den Herbst gelegt. Seitdem findet er am zweiten Sonntag vor dem ersten Advent statt und liegt damit in einer Zeit, die von „Allerheiligen“ (1. November) bis zum „Totensonntag“ bzw. „Ewigkeitssonntag“ (erster Sonntag vor dem 1. Advent, zugleich letzter Sonntag des Kirchenjahres) theologisch durch die Themen Tod, Trauer, Vergänglichkeit und Ewigkeit bestimmt wird. Die Schirmherrschaft der zentralen Gedenkveranstaltung liegt seit Dezember 1952 beim Bundespräsidenten. Auf Landesebene ist es der Ministerpräsident, in Kommunen sind es oftmals die jeweiligen Oberbürgermeister, die in ihrem Zuständigkeitsbezirk die Schirmherrschaft zentraler Feierstunden übernommen haben und jeweils das Totengedenken sprechen.214 Mit dem mehrfach modifizierten „Gräbergesetz“ von 1952, das in seiner ursprünglichen Fassung „Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber“ lautete und seit seiner Neufassung im Jahre 1965 „Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ heißt, wurde beschlossen, dass die entsprechenden Gräber einen besonderen Schutz genießen, d.h. dauernd bestehen und dass sie von den Bundesländern unterhalten werden. Die finanziellen Mittel hierfür kommen jedoch aus dem Bundeshaushalt, die Pflege vor Ort wird über die Kommunen ausgeführt. Im Inland existieren 12.946 „Soldatenfriedhöfe“ mit annähernd 240.000 Opfern. 1954 beauftragte die Bundesregierung den in Kassel ansässigen Volksbund, die deutschen Soldatengräber im Ausland zu suchen, zu sichern und zu pflegen. Nachdem in den Nachkriegsjahren der Schwerpunkt der Arbeit auf der Identifizierung der Opfer und der Anlage neuer Kriegsgräberstätten lag, wurden in späteren Jahren hauptsächlich Instandsetzungsarbeiten auf den großflächigen Anlagen vorgenommen. 214

Alexandra Kaiser: Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertages, Frankfurt/M. 2010.

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Abbildung 73 Bereits in ihren frühen Mitteilungen in der Nachkriegszeit stand die Jugendarbeit im Vordergrund der Vereinstätigkeit des Volksbundes, hier eine Zeitschrift vom Mai 1953. Seit Beginn der Feierstunden haben auf Einladung des Volksbundes, der Hauptträger der Veranstaltung ist, hochrangige Politiker, Wissenschaftler, Geistliche oder Offiziere aus Deutschland, aber auch benachbarter Länder die Gedenkrede gehalten, u.a. Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Joseph Frings, Heinrich Lübke, Alfred Grosser, Ulrich de Maizière, Leo Tindemans, Annemarie Renger, Helmut Kohl oder Hans-Jochen Vogel. 235

Abbildung 74 1969, zum 50jährigen Bestehen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge brachte die Bundespost eine 30-Pfennig-Sondermarke heraus. Zur Feierstunde anlässlich des Volkstrauertages 1952 im Plenarsaal des Bundeshauses in Bonn sagte Bundespräsident Theodor Heuss:215 Zwischen Allerseelen und Totensonntag eingebettet, zwei kirchlichen Festen von ehrwürdiger Tradition und Geschichte – hat sich denn der „Volkstrauertag“ dazwischen gedrängt mit dem Sonderanspruch der eigenen, schier politischen Sinngebung? Ist es ein Vorgang von dem, was man mit einem modischen Wort „Säkularisation“ genannt hat, der Verweltlichung von Werten und Kräften, die im Kultischen und Religiösen gegründet sind? Wer so fragt, hat nie einen Soldatenfriedhof besucht … Man wandert durch die Zeilen der Totengärten, die fremden Namen gehen dich irgendwie an. Sie sagen Jahreszahlen aus, ein Knabe, ein Jüngling, ein reifer Mann – ist er auch für dich gestorben? Dann ein

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Deutscher Volkstrauertag. Ansprache des Herrn Bundespräsidenten Prof. Dr. Theodor Heuss, Bonn 1952.

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Kreuz und wieder eines und wieder eines ohne Namen. Irgendwo sitzen seine Eltern, Geschwister, Gattinnen. Sie wissen nicht, dass hier das Ziel ihres liebenden Gedenkens ruht. Und unsere eigenen Gedanken suchen die Stätten, wo irgendwo im Osten, im Kaukasus, im Danziger Gebiet, im polnischen Raum die Neffen, der geliebte Sohn des Freundes ruht … Solche Betrachtung – vielleicht unbewusst – führt wohl zu dem tieferen Sinn, dass der Begriff des „Heldengedenktages“, bei dem die Fanfaren und die Marschmusik nicht fehlen mochten, sich in dies breitere Begreifen einer Volkstrauer gewandelt hat. Das mindert nicht im mindesten die Würde des soldatischen Sterbens. Aber der Opfer sind tausendfach mehr, bei uns, bei den anderen. Die Mal- und Mahnsteine wachsen, dies gilt den Opfern der Bombenangriffe, dies wächst an dem Rand eines Konzentrationslagers, dies steht auf dem und dem jüdischen Friedhof. Ach, da ist es vorbei mit dem Heroisieren; da ist einfach grenzenloses Leid. Hier die Folge der wüsten technischen Gewalt, dort die Folge der wüsten sittlichen Zerrüttung. Und wir stehen betreten, bedrückt vor beiden steinernen Zeugen. Es wird schon so sein: mancher wird murren, dass ich diese Opfer einer bösen Politik in einem nenne. Ich weiß aber, dass der ernste Soldat an meiner Seite steht. Ihm war das so gesicherte wie hysterische Zivilistengeschrei von dem nach dem totalen Krieg zutiefst zuwider. Denn es proklamierte die letzte Brutalität, verhöhnte, verscheuchte, was als Ritterlichkeit in einer großen Überlieferung vorhanden. Er, der Soldat, trug auch aufs schwerste daran, dass er nicht nur den Boden der Heimat zu schirmen hatte – das tat er gern -, sondern dass auf diesem Boden die Verdrängung von Redlichkeit und Recht durch Zynismus und plumpe Gewalt den inneren Sinn des „gerechten Krieges“ ausgehöhlt hatte, der doch Schutz des Mensch-Seins will … Jener ernste Soldat weiß, dass sein Beruf, auch in aller Technifizierung, nie, nie Selbstzweck, sondern aus der Verantwortung für Volksschicksal und Volksgeschichte seine Werte, auch seine Weihe empfängt…

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Hier wächst die große Aufgabe des Volksbundes, die Verantwortung gegenüber der Heimat und gegenüber der Fremde. Es sind mit einigen der Länder, in denen deutsche Soldaten ruhen, Staatsverträge geschlossen. Bei anderen ist eine freie Übereinkunft erreicht. Bei dritten gilt es noch, die Form der wechselseitigen Verantwortung zu entwickeln. Ich hoffe, ich denke, es wird gelingen. Denn der Volksbund darf spüren, dass er gerade in dieser Aufgabe getragen wird nicht bloß von amtlicher Stütze und Wohlwollen, sondern von dem inneren Empfinden des deutschen Menschen…

Vor allem in der Nachkriegszeit, als der Zweite Weltkrieg noch präsent war und viele Angehörige von gefallenen und vermissten Soldaten beider Weltkriege lebten, nahm das Gedenken in der Öffentlichkeit einen breiten Raum ein. Neben der zentralen Gedenkstunde im Bundestag, fanden auf den kommunalen Friedhöfen Ansprachen und Kranzniederlegungen statt. In der Bonner Republik erfolgte die Kranzniederlegung durch die höchsten Repräsentanten des Staates am Ehrenmal im Bonner Hofgarten. Zum Ritual dieser Feierstunde gehört bis heute die musikalische Gestaltung, das Lied „Der gute Kamerad“ sowie das Spielen bzw. Singen der Nationalhymne. Das dreistrophige Lied „Der gute Kamerad“, eine Dichtung von Ludwig Uhland (1809), vertont von Friedrich Silcher (1825), gehört zum Trauerzeremoniell der deutschen Bundeswehr und des österreichischen Bundesheeres. Die Melodie erklingt, meist von solistischer Trompete gespielt, bei örtlichen Feiern zum Volkstrauertag, gelegentlich ist sie auch bei privaten Trauerfeiern zu hören, in Erinnerung an den verstorbenen Vereins- oder Feuerwehrkameraden oder Bundesbruder. Das Lied ist nicht unumstritten, da es den „Heldentod“ beschönigt und verklärt und einen Kameradschaftsmythos widerspiegelt, der sich nicht nur auf das Militär beschränk:216

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S. auch Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 30ff.

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„Der gute Kamerad“ Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite In gleichem Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen, Gilt’s mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär’s ein Stück von mir. Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew’gen Leben Mein guter Kamerad!

An der zentralen Gedenkstunde beteiligten sich Vertreter der Politik, der Bundeswehr und Repräsentanten der in der Bundesrepublik stationierten NATO-Truppen. Zudem wurden ab 1963 an der Mauer in West-Berlin Kränze für jene Ostberliner niedergelegt, die von den Grenzwachen der Sowjetzone auf der Flucht erschossen worden waren. Je nach Redner und dessen Parteinähe oder gar Parteizugehörigkeit riefen manche Ansprachen Widerspruch hervor. So meinte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger, selbst Offizier im Zweiten Weltkrieg, zum Volkstrauertag 1986 eine „Gegenrede“ zur viel beachteten und damals schon häufig zitierten Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 halten zu müssen. In seiner Bewertung machte er keinen Unterschied zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, zwischen einfachen Soldaten und Angehörigen der Waffen-SS. Im Gegensatz zu Weizsäckers Formulierung, der 8. Mai 1945 sei ein „Tag der Befreiung“ gewesen, meinte Dregger: „Es muss endlich Schluss sein 239

mit der uns von den Siegermächten aufgezwungenen Geschichtsbetrachtung.“ In seiner Ansprache vom 16. November 1986 sagte er:217 … Wir Lebenden sind nur ein Glied in der Kette der Generationen. Wir stehen in der Lebens- und Kulturgemeinschaft unseres Volkes, die keine Generation neu schaffen konnte, die jede nur übernehmen und mit ihren Beiträgen weitergeben kann. Wir Lebenden gehören daher zu den Toten und zu den kommenden Geschlechtern und diese zu uns. Verdienen alle Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft die gleiche Ehrfurcht, die Opfer des Völkermords und der Vertreibung ebenso wie die Opfer des Bombenkrieges, die Soldaten, die an den Fronten fielen ebenso wie die Widerstandskämpfer, die den Aufstand gegen Hitler mit ihrem Leben bezahlen mussten? Ich bin dieser Ansicht und will sie begründen … Es geht nicht an, die toten deutschen Soldaten den anderen Opfern als „Täter“ gegenüberzustellen, wie es leider geschehen ist. „Täter“ waren nicht sie, sondern diejenigen, die aufgrund ihrer politischen Macht Krisen und Kriege auslösen und deren Ablauf, deren Ergebnisse und deren Ende bestimmen konnten. Die Schuld und das Versagen der Verantwortlichen – in Deutschland und anderswo – können nicht auf diejenigen abgewälzt werden, die als Soldaten zu ihren Opfern wurden … Bedrückend ist freilich die Frage, ob es nicht gerade die Tapferkeit der deutschen Soldaten war, die es Hitler während des Krieges ermöglichte, seine schrecklichen Massenmorde, insbesondere an den Juden, verüben zu lassen. Das ist eine Frage, die wir ehemaligen Soldaten uns nach dem Krieg mit Entsetzen gestellt haben, je mehr wir von dem erfuhren, was hinter unserem Rücken geschah … Die meisten deutschen Soldaten…wussten von der 1943 in Casablanca erhobenen Forderung Roosevelts und Churchills nach der bedingungslosen Kapitulation nicht etwa Hitlers, sondern Deutschlands. 217

Zit. nach: Wir gedenken, S. 145-149.

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Spätestens seit diesem Zeitpunkt befanden sich die deutschen Soldaten … in dem für sie unauflöslichen Zwiespalt, dass sie mit Deutschland Hitler verteidigten und mit Hitler Deutschland preisgaben. Das war eine schreckliche Alternative, vor die kein anderes Volk gestellt war. Wer sich in dieser ausweglosen Situation dafür entschieden hat – soweit überhaupt Entscheidungsspielraum blieb –, dem Kriegsgegner bis zuletzt zu widerstehen, der hat für seine Person eine ehrenhafte Wahl getroffen. Das gilt insbesondere für die Soldaten des deutschen Ostheeres und der deutschen Marine, die in den letzten Monaten des Krieges die Flucht von Millionen Ostdeutschen vor der Roten Armee zu decken hatten … Angesichts der tragischen Konfliktsituation unseres Volkes zwischen äußerem Feind und innerer Unterdrückung und angesichts des … durchaus respektwürdigen Verhaltens der meisten Deutschen, die diese schlimme Konfliktsituation durchzustehen hatten, sollte es uns möglich sein, eine Haltung einzunehmen, die christliche Ethik und dem Ehrenkodex Europas allein entspricht: Wer sich persönlich ehrenhaft verhalten hat, der hat Anspruch darauf, dass wir seiner in Ehrfurcht gedenken. Das gilt für alle und für jeden, gleichgültig, welchem Volk er entstammt oder welcher Waffengattung er angehört hat …

In den kommenden Jahren hielten Wolfgang Mischnick, der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag (1987), die Universitätsprofessorin Gertrud Höhler (1988) und der Mainzer Bischof Karl Lehmann (1989) die Ansprachen zum Volkstrauertag. Dieser Tag, an dem die öffentlichen Gebäude halbmast geflaggt sind, gehört zu den sog. stillen Gedenktagen, die einem besonderen Schutz unterliegen.

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Fazit Die Bundesrepublik als westdeutscher Teilstaat verstand sich als Nachfolger des Deutschen Reiches und übernahm daher besondere Verantwortung im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Daher wundert es nicht, dass sich bis in die späten 1970er Jahre hinein die öffentliche Erinnerung an die beiden Weltkriege und an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft vor allem auf zwei Gedenktage beschränkte: den 20. Juli und den Volkstrauertag. Erst ab Mitte der 80er Jahre, aufgrund der „runden Daten“ änderte sich auch die Gedenkkultur. Bereits in der Frühphase der Bundesrepublik hätte es mehrere Ereignisse gegeben, die für einen Staatsfeiertag prädestiniert gewesen wären: der 8. Mai, der als Tag des Kriegsendes 1945 zugleich für einen Neuanfang steht und der 20. Juli, der das Aufbegehren gegen ein Unrechtsregime symbolisiert. Beide Tage hätten sich allerdings auf ein Ereignis im Nationalsozialismus bezogen und beide tun dies als Gedenktage noch immer. Noch deutlicher als beim 8. Mai spiegeln die Reden und Stellungnahmen zum 20. Juli den jeweiligen Zeitgeist wider, immerhin bot er mit den Jahren positive Identifikationsmöglichkeiten. Uneingeschränkt positiv besetzt ist ebenso die Erinnerung an den 20. Juni 1948: mit der Währungsreform, der Einführung der DM, die die Reichsmark aus „dunkler“ Vergangenheit drei Jahre nach Kriegsende ablöste, begann eine neue Epoche, die gerne mit dem „Wirtschaftswunder“ der frühen Bundesrepublik in Verbindung gebracht wird. Dieser Neuanfang wäre auch wert gewesen, mit einem Feier- oder Gedenktag gewürdigt zu werden, stärker noch als der 23. Mai 1949, an dem das Grundgesetz verabschiedet wurde und das neue Staatswesen offiziell zu existieren begann. Doch der 23. Mai hatte, obwohl er zu den Beflaggungstagen gehört, nie die Relevanz wie der 8. Mai oder der 20. Juli. Stattdessen entschieden sich die politisch Verantwortlichen, vier Jahre nach Kriegsende, ein Ereignis, das nicht in der Bundesrepublik stattfand und zu dem viele Bundesbürger keinen Bezug hatten, zum gesetzlichen Feiertag zu erheben: den 17. Juni, an dem im Jahr 1953 in der DDR der Volksaufstand geprobt wurde. Folglich lag es nahe, diesen Sommertag lieber 242

beim Baden und mit Ausflügen zu verbringen als an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen. Als „Freizeittag“ war der 1. Mai beliebt (und er ist es noch immer). Obwohl Hitler diesen Tag zum gesetzlichen und arbeitsfreien Tag erklärt hatte, wurde dieser Erlass des Dritten Reichs nicht rückgängig gemacht. Ähnlich dem 17. Juni wurde auch der „Tag der Arbeit“ gerne dem Vergnügen oder der Schwarzarbeit gewidmet, der geschichtliche Hintergrund war vielen fremd oder gleichgültig. Als „stiller Gedenktag“ schließlich rundete der Volkstrauertag das Gedenkjahr der Bundesrepublik ab. Das Gedenken an die Gefallenen beider Weltkriege verlor zwar im Laufe der Jahrzehnte an Rückhalt in der Bevölkerung, schwierig war an diesem Tag auch, dass er völlig verschiedene Opfergruppen zu einer Gemeinschaft verschmolz, doch gehörte der Volkstrauertag zum festen Bestandteil der politischen Erinnerungskultur der Bundesrepublik.

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VI. DDR Feiertage Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus (1. Mai)

Abbildung 75 Alljährlich fand am 1. Mai in Ost-Berlin eine Militärparade statt, doch bereits vor Gründung der NVA gab es Umzüge der Volkspolizisten, hier am 1. Mai 1953. 244

Die höchsten und damit arbeitsfreien Feiertage in der DDR waren der 1. Mai, in den Anfangsjahren der 8. Mai und der Gründungstag am 7. Oktober. Da der neue Staat, der sich bewusst als „Anti-Staat“ zur Bundesrepublik verstand, nicht auf Fundamente in vergangenen Epochen bauen konnte, brauchte er neue Formen und Symbole zur Integration seiner Gesellschaft. Die Ereignisse, an die an den Feier- und Gedenktagen erinnert werden sollte, waren zunächst nicht historisch, sondern bezogen sich auf das Kriegsende 1945 und die folgende Gründung der DDR im Jahre 1949. Allenfalls der 1. Mai hatte eine gewisse Tradition in der Gedenkkultur der Deutschen, doch keinesfalls wollte die Staatsführung an den Maifeierlichkeiten des Nationalsozialismus anknüpfen. Bereits 1946 hatten in Berlin und der übrigen Sowjetischen Besatzungszone Feierlichkeiten zum 1. Mai stattgefunden. Auf den ersten Blick unterschied sich der Ablauf der großen Demonstrationen, die in jeder Stadt und größeren Gemeinde durchgeführt wurden, kaum von den Feiern im Dritten Reich. Statt der Hakenkreuzfahne wurde nun die rote Fahne geschwenkt, auch erklangen andere Marschlieder. In späteren Jahren war die Bevölkerung angehalten, an ihren Häusern die DDR-Flaggen zu hissen. Der „Internationale Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ brachte weite Teile des Volkes auf die Straße. Die Schüler sammelten sich morgens mit ihren Lehrern und zogen an der Tribüne vorbei, auf der Vertreter der Stadt und des Kreises Platz genommen hatten. Auch für die Arbeiter, die Kampfgruppen und Vereine, die Feuerwehr, die Sportgruppen und den Zivilschutz sowie für die Land- und Forstwirtschaft war die Beteiligung an den Umzügen zum 1. Mai eine Pflichtveranstaltung, eine unterlassene Teilnahme bedeutete eine Abmahnung. Nach den Ansprachen der Parteiführung und dem Ende des Demonstrationszuges folgte ein buntes Treiben, das aus musikalischen und sportlichen Darbietungen, Essen und Trinken bestand und daher einem Volksfest gleichkam. Die Jugendlichen und Arbeiter nahmen gerne am Umzug teil, bekamen sie doch ein kleines „Marschiergeld“ und ein Rostbratwürstchen.218 Wie auch in der vorangegangenen Epoche wurde der Feiertag gerne von der DDR-Führung zur Verleihung von Auszeichnungen genutzt. Den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ erhielten Gruppen von Arbeitern, deren

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Sächsische Zeitung, 30.4.2010.

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gemeinschaftlich erwirtschafteten Produktionsergebnisse erfüllt waren, die Auszeichnung „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ bekamen einzelne Werktätige für ihre individuelle Leistung verliehen. Die Belobigung bestand nicht nur aus einer Urkunde, sondern auch aus einer Prämie. Und ähnlich wie bei den Reichsparteitagen in der NS-Zeit und den Maifeiern in der Bundesrepublik, stand der 1. Mai Jahr für Jahr unter einem besonderen Motto. 1953 marschierten Volkspolizisten am „Kampftag für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus“ durch Berlin, in den 60er Jahren klang es ähnlich: Demonstriert wurde für „Frieden, Freiheit und Sozialismus“ und 1986 lautete eine der Losungen: „Schlüsseltechnologien – Tempomacher auf dem Weg in die Zukunft“. In Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, fand die 1.-Mai-Feier in größerem Ausmaße und in Anwesenheit ausländischer Staatsgäste statt. Bei den militärischen Paraden wurden jahrelang die neuesten Waffen präsentiert, auch sollte den Gästen der Staats- und Parteiführung auf der Tribüne die Loyalität des Volkes gegenüber der Regierung eindrucksvoll zur Schau gestellt werden. Militärische Einheiten beteiligten sich seit der Gründung der Nationalen Volksarmee 1956, letztmalig waren Panzer und Raketenlafetten 1976 zu sehen, auf diese Präsentation wurde dann in Zeiten der Entspannung verzichtet. Neun Glockenschläge vom Turm des Roten Rathauses waren das traditionelle Zeichen für den Beginn der großen Parade auf der Karl-Marx-Allee. Diese Prachtstraße, die ab 1950 in mehreren Abschnitten mit repräsentativen „Arbeiterpalästen“ bebaut wurde, hieß ursprünglich Große Frankfurter Straße, ab 1949 wurde sie in Stalinallee umbenannt, seit 1961 heißt sie Karl-Marx-Allee; während der Umzüge glich sie einem Flaggenmeer aus Schwarz-Rot-Gold und Rot. Teilnehmer und Besucher trugen zudem eine rote Nelke aus Papier, die der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) für 50 Pfennige verkaufte. 1986 hielt Harry Tisch, der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in der DDR, die Ansprache zum 1. Mai. Er lobte die Sozial- und Wirtschaftspolitik des Landes, er bekräftigte den Friedenswillen und den „Bruderbund mit der Sowjetunion“ und er schloss seine Rede mit: „Es lebe unsere ruhmvolle sozialistische Heimat, die Deutsche Demokratische Republik“.219

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Neues Deutschland, 2.5.1986.

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1989 wurde der 1. Mai in der DDR letztmalig mit einer großen Parade begangen, zahlreicher als sonst waren die Losungen in diesem Jahr, sie hießen z.B.: „40 Jahre DDR – Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk“, „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“ oder „Kampf gegen den Neonazismus in der BRD – Verpflichtung aller demokratischen Kräfte“. Kurz vor Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik zum 1. Juli 1990 brachte die Münzprägeanstalt in Ost-Berlin eine 10-Mark-Gedenmünze heraus anlässlich „100 Jahre Tag der Arbeit – 1. Mai“. Da die Pflicht zur Teilnahme nicht mehr bestand, konnte die noch existierende SED in diesem Jahr kaum noch Menschen für eine 1.-Mai-Demonstration gewinnen; sang- und klanglos endete eine mehr als 40jährige Tradition. Ihr Staatsverständnis vermittelte die DDR gerne über Briefmarken, die millionenfach, auch ins Ausland, für ihre Ideologie warben. Bereits 1950 erschien eine Sonderbriefmarke anlässlich „60 Jahre 1. Mai“, ebenso 1990 zum 100. Jahrestag.

Tag der Republik (7. Oktober) Am 30. Mai 1949 hatte sich auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone der 2. Deutsche Volksrat gebildet, ebenfalls an diesem Tag genehmigte der Dritte Deutsche Volkskongress die Verfassung, die rund ein halbes Jahr später, am 7. Oktober in Kraft trat. An diesem Tag konstituierte sich aus dem Volksrat die Provisorische Volkskammer als Parlament des neuen, „anderen“ deutschen Teilstaates (Wahlen fanden erst ein Jahr später statt). Wenige Tage später wurden Otto Grotewohl zum ersten Ministerpräsidenten und Wilhelm Pieck zum ersten (und einzigen) Präsidenten der DDR gewählt. Der 7. Oktober galt damit als Gründungstag der DDR und als arbeitsfreier Staatsfeiertag. Die 1946 gegründete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die aus der Zwangsfusion von SPD und KPD hervorgegangene Staatspartei der DDR, pries den neu entstandenen „Arbeiter- und Bauernstaat“ als gerechte und moderne Gesellschaft auf dem konsequenten Weg in den Kommunismus. Zu ihrem Gründungsmythos gehört, dass sich die DDR als Erbe des antifaschistischen Widerstands verstand, eng verbunden mit der siegreichen Sowjetunion, dem „großen Bruder“, der als „Befreier von Faschismus und Kapitalismus“ galt. 247

Diese Überlieferung sollte der DDR eine eigene Identität verschaffen als zweiter, als „besserer“ deutscher Staat in Abgrenzung zur Bundesrepublik Deutschland. Ab 1950 fand alljährlich am 7. Oktober eine Militärparade vor der Parteiund Staatsführung in Berlin statt. Wie auch am 1. Mai beteiligten sich an dem Demonstrationszug weite Teile der Bevölkerung, etwa Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) oder Angehörige der Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Und wie am Maifeiertag fand die Parade in der Karl-Marx-Allee zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz statt. Neben den Flaggen gehörten auch Lieder der Jungpioniere zum Umzug, z.B.: Gruß der Pioniere zum Geburtstag unserer Republik220 Fahnen und Wimpeln wehen auf allen Straßen, heute hat Geburtstag unsere Republik. Wir decken alle den Geburtstagstisch, reich sind unsere Gaben. Bauer auf dem Feld und Bergmann unter Tage, heute hat Geburtstag unsere Republik, Wir decken alle den Geburtstagstisch, reich sind unsere Gaben. Kumpel aus Leuna und Seemann aus Rostock, heute hat Geburtstag unsere Republik, Wir decken alle den Geburtstagstisch, reich sind unsere Gaben. Und auch wir Kinder wollen gratulieren, heute hat Geburtstag unsere Republik. Wir bringen einen bunten Blumenstrauß zu den vielen Gaben. Feiertag in unserer Republik221 220 221

Text: Christel König, Musik: Siegfried Bimberg. Text und Melodie: Christian Lange.

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Bunt geschmückt sind alle Häuser, wie man das zum Festtag macht, und wir haben mitgeholfen, eine gute Tat vollbracht. Hört unsere Lieder, hell klingt Musik: Festtag ist in unsrer Republik. Seht die großen Fahnen wehen Leuchtend rot vom Sonnenschein, und mit unsren blauen Wimpeln wolln wir mit zur Stelle sein. Hört unsere Lieder, hell klingt Musik: Festtag ist in unsrer Republik. Unsre Eltern haben fleißig ihre Arbeit stets geschafft. Nun solln alle Hände ruhen, dieser Tag gibt neue Kraft. Hört unsere Lieder, hell klingt Musik: Festtag ist in unsrer Republik. Und wir spielen, und wir singen stehn zusammen Hand in Hand, wollen immer tüchtig lernen, lieben unser Vaterland. Hört unsere Lieder, hell klingt Musik: Festtag ist in unsrer Republik.

Wochen vor dem 7. Oktober wurde öffentlichkeitswirksam über Banner, Plakate, Zeitschriftenartikel etc. auf den Feiertag und seine gesellschaftspolitische Bedeutung hingewiesen, Tage danach wurde ein Fazit gezogen, so auch in nachstehendem Beitrag. Noch 1959 übrigens war die Wiedervereinigung Deutschlands ein Ziel der DDR, das erst mit dem Mauerbau im August 1961 aufgegeben wurde:222

222

Der Deutsche Straßenverkehr, Heft 11/1959, Berlin 1959, S. 383.

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Der Monat Oktober war für die Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik besonders ereignisreich. Neben den Feierlichkeiten, die allerorts anlässlich des 10. Jahrestages der DDR stattfanden, zu diesen Ehren die Werktätigen neue schöne Erfolge in der Planerfüllung den bereits gezeigten Leistungen hinzufügten, war es das Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, das überall von unseren Menschen besprochen wurde … Was ist das Wichtigste dieses großen Planes? Der Siebenjahrplan ist der Plan des Friedens und des Sieges des Sozialismus. Es ist deshalb ein Friedensplan, weil er den großen nationalen Zielen unseres Volkes dient. Dieser Plan wird den Wohlstand des Volkes mehren, den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland fördern, die Entfaltung eines friedlichen Wettbewerbes zwischen beiden deutschen Staaten ermöglichen und damit die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem friedliebenden demokratischen Staat voranbringen. Jeder Hammerschlag, jeder Federstrich, alles was zur Erfüllung und Übererfüllung dieses Siebenjahrplanes beiträgt, ist Arbeit für den Frieden. Die Erhaltung und Sicherung des Friedens ist für uns höchstes humanistisches Gebot. Das Gesetz über den Siebenjahrplan ist deshalb für jeden Bürger unserer Republik oberstes Gesetz einer jeden Handlung.

Ebenfalls 1959, also zum zehnjährigen Bestehen des Staates, gab sich die DDR eine neue Fahne: Mittig in der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge befand sich nun das Staatswappen der DDR: Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Mit dieser Neuerung sollte die Identifikation mit der SED gefördert werden. 1974 nutzte die DDR den 25. Jahrestag ihres Bestehens, um den Passus in Artikel 1 ihrer Verfassung zu streichen, wonach das Land ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“ sei; fortan verstand sich die DDR als „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“.

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Abbildung 76 In regelmäßigen Abständen erschienen Sonderbriefmarken zum Jubiläum der DDR, hier Briefmarken zum 15., 20., 25. und 30. Jahrestag der DDR (1964, 1969, 1974, 1979). Wie in der Hauptstadt, fanden überall im Land alljährlich Umzüge auch auf lokaler Ebene statt. Nach dem offiziellen Teil verwandelte sich der militärisch geprägte Ablauf zu einem Volksfest, ähnlich wie beim 1. Mai. Nur einmal, 1977, geriet die offizielle Parade auf dem Berliner Alexanderplatz außer Kontrolle, Hunderte Jugendliche protestierten mit Sprechchören gegen die SEDFührung. Ansonsten verliefen die Umzüge ohne Zwischenfälle, die Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 7. Oktober gehörte jahrelang zum Pflichtprogramm eines jeden DDR-Bürgers. Der 40. Jahrestag der Gründung der DDR 1989 sollte groß gefeiert werden, doch das Land steckte in seiner bislang größten Krise. Seit Wochen dauerten die Proteste gegen Erich Honecker und seine Regierung an, seit dem Spätsommer schon verließen Zehntausende Menschen über Ungarn die DDR in den Westen. Auch wenn ausländische Staatsgäste wie Michail Gorbatschow aus der Sowjetunion oder der rumänische Staatschef Nicolae Ceausescu und 251

Palästinenserführer Jassir Arafat als Ehrengäste nach Berlin gekommen waren, von Feierstimmung konnte keine Rede sein. Am Vorabend der Parade waren 100.000 Jugendliche der FDJ mit einem Fackelzug an Honecker, dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und damit dem mächtigsten Mann der DDR, vorbeimarschiert. Am Nachmittag des 7. Oktober, nach der offiziellen Parade, demonstrierten oppositionelle Altersgenossen auf dem Alexanderplatz mit Trillerpfeifen gegen den Staat und für Grundrechte wie Meinungs- und Reisefreiheit, für Rechte und Möglichkeiten, die in der Bundesrepublik als selbstverständlich gelten. Die Demonstration wurde gewaltsam aufgelöst, ebenso wie die Proteste in Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Magdeburg oder Jena. Der 7. Oktober 1989 war der letzte „Republikgeburtstag“, damit hatte die jahrelange Selbstinszenierung des Staates ein unrühmliches Ende genommen. Rund einen Monat später, am 9. November, begann mit dem „Fall der Mauer“ die Auflösung der DDR, die zur „Wiedervereinigung“ am 3. Oktober 1990 führte. Seit 1959 hatte die Post der DDR im regelmäßigen Abstand von fünf Jahren Sonderbriefmarken zum Staatsfeiertag herausgebracht, zuletzt zum 40. Jahrestag im Oktober 1989.

Gedenktage Internationaler Frauentag (8. März) Die Wurzeln des Internationalen Frauentages liegen, wie beim Muttertag oder dem 1. Mai, in den USA. Von sozialistischen Gruppen Anfang des 20. Jahrhunderts initiiert, wollten Frauen gezielt an einem Tag für bessere Arbeitsbedingungen, Gleichberechtigung und fürs Frauenwahlrecht demonstrieren. In Deutschland setzten sich vor allem die Sozialistinnen Clara Zetkin und Rosa Luxemburg für die Rechte von Frauen ein. Nach Einführung des Frauenwahlrechts (12. November 1918) gab es ab 1926 zwei Frauentage, den 252

von der Kommunistischen Partei am 8. März gefeierten und einen von der SPD ohne festes Datum. Eine größere Breitenwirkung hatte er in diesen Jahren nicht entfalten können, es blieb weitgehend bei Appellen. Die Nationalsozialisten verboten den sozialistisch geprägten Frauentag und inszenierten umso erfolgreicher den Muttertag im Mai, der jedoch weniger die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft in den Vordergrund stellte als vielmehr das nationalsozialistische Mutterideal propagierte. Während in den Westzonen und der späteren Bundesrepublik der Frauentag keine besondere Rolle spielte, wurde er bereits zum 8. März 1946 von der sowjetischen Besatzungszone als Ehrentag für die Frauen eingeführt, genau ein Jahr später wurde der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) gegründet. Jahr für Jahr brachten sich die Frauen aktiv auch politisch ein, indem sie die offizielle Linie der Staatsführung unterstützten, die ihrerseits der Frau Zugang zu traditionellen Männerberufen ermöglichte. Frauen waren von nun an häufig als Traktoristin, Ingenieurin, Werkmeisterin, Ärztin etc. anzutreffen, auch in Führungspositionen, doch von der Hausarbeit und Kindererziehung waren sie kaum entlastet, sieht man von staatlichen Einrichtungen wie den Kinderkrippen ab. Allerdings war die Berufstätigkeit der Frau zum Aufbau des Sozialismus eine Notwendigkeit, fehlten doch aufgrund des Krieges viele Männer, gerade in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Als Anerkennung erhielten die Frauen am 8. März Blumen oder Pralinen überreicht. Auch von den staatlichen Auszeichnungen profitierten sie gleichermaßen wie ihre Kollegen, selbst unter dem selten verliehenen Titel „Held der Arbeit“ war der Anteil der Frauen annähernd so hoch wie der der Männer. Immerhin wurde zumindest einmal im Jahr die Gleichberechtigung gefeiert, staatlich inszeniert. Die öffentliche Würdigung der Frauen als Leistungsträger der Gesellschaft sollte die Verbundenheit zwischen Regierung und den weiblichen Werktätigen zum Ausdruck bringen. In welcher Form den Frauen Mitte der 1970er Jahre gedankt wurde, belegt folgender Beitrag von 1975:223

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Freiheit (Vorgänger der Mitteldeutschen Zeitung), 8.3.1975.

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Frauen leisten hohen Beitrag zur Stärkung unserer DDR Erich Honecker würdigt Initiativen und Fleiß der Frauen zur Erfüllung der Hauptaufgabe. 154 Frauen und zehn Kollektive wurden mit der Clara-Zetkin-Medaille ausgezeichnet. Dank und Anerkennung für die hervorragenden Leistungen bei der Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED wurden den Millionen Frauen und Mädchen der DDR mit einem Empfang zuteil, den das ZK der SED gestern Abend in der Hauptstadt anlässlich des Internationalen Frauentages gab. Während der Begegnung im Festsaal des Hauses des Zentralkomitees am Berliner Marx-Engels-Platz nahmen die fast 500 Teilnehmerinnen stellvertretend für alle Arbeiterinnen und Genossenschaftsbäuerinnen, für alle Frauen in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Forschung, in der Bildung und Erziehung, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie in den anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die herzlichsten Glückwünsche des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Erich Honecker, entgegen. In seinem Toast würdigte er den initiativreichen und fleißigen Beitrag der Frauen zur Stärkung des Sozialismus und sagte: „Die jetzt vorliegende Abrechnung der ersten vier Jahre des Fünfjahrplans zeigt, dass wir ein gewaltiges Stück bei der Verwirklichung der vom VIII. Parteitag beschlossenen Hauptaufgabe vorangekommen sind. Wir werden, wenn wir alle weiterhin tüchtig anpacken, zum ersten Mal in der Geschichte der DDR unseren Fünfjahrplan nicht nur erfüllen, sondern übererfüllen.“ Zu den Teilnehmerinnen des festlichen Empfangs gehörten die am selben Tag mit der Clara-Zetkin-Medaille geehrten Kollektive und Frauenpersönlichkeiten sowie Aktivistinnen der ersten Stunde nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus durch das Sowjetvolk vor drei Jahrzehnten …

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Zu dem traditionellen Empfang anlässlich des Internationalen Kampf- und Ehrentages aller Frauen, der ganz im Zeichen des 30. Jahrestages der Befreiung der Völker durch die Sowjetunion vom Hitlerfaschismus begangen wird, waren gemeinsam mit Erich Honecker erschienen … An den blumengeschmückten Festtafeln hatten außerdem Platz genommen weitere Mitglieder des ZK der SED, unter ihnen Minister Margot Honecker, die DFD-Vorsitzende Ilse Thiele, und die stellvertretende Vorsitzende des FDGB-Bundesvorstandes Johanna Töpfer … In Anerkennung hervorragender Verdienste bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR, zur Förderung der Frauen, um die Erhaltung des Friedens, um die Freundschaft und Solidarität mit den Müttern und Frauen der Welt wurden gestern Vormittag 154 Frauen und zehn Kollektive mit der Clara-Zetkin-Medaille geehrt.

Auf einer Festveranstaltung des Ministerrates in Berlin nahm Horst Sindermann, Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Vorsitzender des Ministerrates, die hohe staatliche Auszeichnung vor.

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Abbildung 77 Wie im Nationalsozialismus wurden auch in der DDR die Frauen als Mütter und als Werktätige geehrt; hier eine Sonderbriefmarke anlässlich des 1. und 2. Frauenkongresses der DDR, 1964 und 1969. Im Laufe der Zeit wurde der Frauentag unpolitischer und glich eher dem Muttertag, dennoch richtete alljährlich die Staats- und Parteiführung ein Grußwort an alle Frauen. So lautete im März 1989 Erich Honeckers „Dank und Anerkennung allen Frauen und Mädchen der DDR“:224 Liebe Frauen und Mädchen! Zum 8. März, dem Kampf- und Feiertag der Frauen der ganzen Welt, übermittelt Ihnen das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands die herzlichsten Grüße und Glückwünsche. Den diesjährigen internationalen Frauentag begehen wir inmitten einer breiten demokratischen Volksbewegung zur Vorbereitung der Kommunalwahlen und des 40. Jahrestages der Gründung unserer 224

Zit. nach Neues Deutschland, 8.3.1989.

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Deutschen Demokratischen Republik. Die großen Initiativen und vielseitige Leistungen, mit denen Sie sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens an diesen bedeutenden Ereignissen beteiligen, zeugen davon, wie fest Sie mit unserem Arbeiter- und Bauernstaat verbunden sind und mit welch hohem Verantwortungsbewusstsein an seiner allseitigen Stärkung mitwirken. Dafür möchten wir Ihnen, liebe Frauen und Mädchen, herzlich danken. Unsere besondere Anerkennung und Achtung gilt am heutigen Tag den Müttern unseres Landes, die beruflich und gesellschaftlich engagiert, mit viel Liebe und Fürsorge ihre Kinder zu gebildeten und bewussten Bürgern unseres sozialistischen Vaterlandes erziehen, jene Generation, die unser historisches Werk mit der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft fortsetzten wird. Die Frauen unseres Landes haben einen bedeutenden Anteil daran, dass wir, dank einer hohen wirtschaftlichen Dynamik, unseren bewährten Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik des Volkes auch künftig erfolgreich fortsetzen können. Überall an den Brennpunkten des gesellschaftlichen Lebens stehen Sie mit in den vordersten Reihen, leisten Hervorragendes im sozialistischen Wettbewerb. Dank Ihrer soliden Bildung und den Möglichkeiten, sich weiter zu qualifizieren, beherrschen heute Frauen als Facharbeiter, Meister und Ingenieure die moderne Technik, leiten Betriebe, Schulen, Handelseinrichtungen, Kinderkrippen und -gärten, regieren als Abgeordnete, sind Bürgermeister in Städten und Gemeinden, tragen als Richter und Schöffen zur Stärkung unseres sozialistischen Rechtsstaates bei. Bereits mehrere Frauengenerationen erbrachten den überzeugenden Beweis, dass ein so großes Werk wie der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ohne Sie undenkbar wäre, wie umgekehrt die grundlegenden Veränderungen, die sich in unserer 40jährigen Entwicklung im Leben der Frauen vollzogen haben, nur durch den Sozialismus realisiert werden konnten. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau gehört deshalb genau so zu den Vorzügen und Werten des Sozialismus wie ein Leben in Frieden, sozialer Sicherheit und Geborgenheit …

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Auch künftig bleibt es unser erstrangiges Anliegen, überall so zu wirken, dass sich die Persönlichkeit der Frauen weiter entfalten kann und dass sie in noch größerer Zahl Tätigkeiten ausüben, auch leitende Funktionen, die durchaus ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten entsprechen … Liebe Frauen und Mädchen! Wir sind sicher, dass Sie durch Ihren gewichtigen und unverzichtbaren Beitrag auch im 40. Jahr der Deutschen Demokratischen Republik sowie in Vorbereitung des XII. Parteitages für das Erstarken und Erblühen unseres sozialistischen Vaterlandes ihr Bestes geben werden. Lassen Sie uns auch weiterhin gemeinsam mit ganzer Kraft mutig, optimistisch und zuversichtlich die vor uns stehenden Aufgaben erfüllen. Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wünscht ihnen, liebe Frauen, ihren Kindern und ihren Familien beste Gesundheit, Schaffenskraft, Freude und Glück. Mit sozialistischem Gruß – Erich Honecker

In der ehemaligen DDR erhalten zwar auch heute noch an einem 8. März Frauen Blumen im Betrieb oder zu Hause, doch im wiedervereinigten Deutschland spielt der Internationale Frauentag keine besondere Rolle mehr. Der Tag wird nun gerne von kommunalen Frauenbeauftragten, Gewerkschaften oder Volkshochschulen für Aktionen und Ausstellungen genutzt, noch immer wird auf die ungleiche Bezahlung und die Dominanz der Männer in Politik und Wirtschaft verwiesen. Im Jahr 2018 bot die Presse zum 8. März angesichts des bevorstehenden Jahrestags „100 Jahre Frauenwahlrecht“ einen Rückblick auf die Emanzipation der Frauen, drei Monate später war der „Frauentag“ plötzlich erneut im Gespräch: Im Zusammenhang mit Diskussionen um die 2018 erfolgte Einführung des Reformationstages (31. Oktober) als gesetzlichen Feiertag in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, plädierten einige niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete dafür, den 258

8. März zum Feiertag zu machen. 225 Diese Idee übernahmen im November 2018 auch die Fraktionen der Linken, der SPD und der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, nun allerdings erfolgreich: Als erstes Bundesland erklärte Berlin den Frauentag zum gesetzlichen Feiertag.226 Dieser Tag, so die Begründung, sei ein Symbol der Emanzipation, andererseits gehörte Berlin mit bislang neun Feiertagen zu den Bundesländern mit den wenigsten Feiertagen, daher sei ein zusätzlicher freier Tag gerechtfertigt, so die Vorstellung in der Hauptstadt. Im Großen und Ganzen aber wird der Tag, an dem keine Beflaggung vorgesehen ist, kaum wahrgenommen. 2010 hatte Alice Schwarzer gar die Abschaffung des Frauentages gefordert: „Schaffen wir ihn … endlich ab, diesen gönnerhaften 8. März! Und machen wir aus dem einen Frauentag im Jahr 365 Tage für Menschen, Frauen wie Männer.“227 Ähnlich verhält es sich mit dem „Internationalen Kindertag“, der in der DDR erstmals am 1. Juni 1950 begangen wurde und der für die Schüler ein unterrichtsfreier Tag war. Nicht nur die Kinder standen im Vordergrund, sondern stets auch die vermeintlichen Errungenschaften des sozialistischen Systems. Zwar sah auch die Bundesrepublik den „Weltkindertag“ vor, jedoch am 20. Juni, aber ohne Wahrnehmung in der Bevölkerung; es blieb allenfalls bei Pressemitteilungen der Bundesregierung oder des Deutschen Kinderhilfswerks. Erst im September 2018 legten im Thüringer Landtag die Regierungsfraktionen Linke, SPD und Grüne einen Gesetzesentwurf zur „Änderung des Thüringer Feierund Gedenktaggesetzes“ und zur „Einführung des Weltkindertages als gesetzlichen Feiertag“ erfolgreich vor. Mit dieser Maßnahme sollte nicht nur eine „familienfreundliche Politik“ des Freistaats unter Beweis gestellt werden, ebenso sollte Thüringen mit seinen bislang zehn Feiertagen den Anschluss finden an die Bundesländer, die noch mehr gesetzliche und damit freie Feiertage haben, so war zumindest die Meinung des Linken-Abgeordneten Steffen Dittes.228 Seit 2019 wird der „Kindertag“ in Thüringen als landesweit arbeitsfreier Tag am 20. September gefeiert.

225 226 227 228

FAZ, 20.6.2018. AZ, 22.11.2018. Frankfurter Rundschau, 8.3.2010. Dpa-Meldung vom 27.9.2018.

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Tag der Befreiung (8. Mai) Während dem 8. Mai als Gedenktag in der Bundesrepublik keine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, gehörte er als „Tag der Befreiung“ zum antifaschistischen Staatsverständnis der DDR – und dies bis zum Ende der DDR. Noch im September 1989 verkündete die Tageszeitung „Neues Deutschland“, damals das offizielle Sprachrohr der SED:229 In der Deutschen Demokratischen Republik ist Antifaschismus Verfassungsgrundsatz und Praxis zugleich. Es ist kein Zufall, dass bewährte Antifaschisten in unserem Staat entscheidende Verantwortung tragen und der Widerstandskämpfer Erich der erste Repräsentant des sozialistischen deutschen Arbeiter- und Bauernstaates ist.

Alljährlich fanden am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, das am 8. Mai 1949 eingeweiht worden war und das den in der Schlacht um Berlin gefallenen Soldaten der sowjetischen Truppen gewidmet ist, Kranzniederlegungen statt, ebenso am Denkmal für die polnischen Soldaten und deutschen Antifaschisten sowie an der Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde. Eine Kolossalstatue, die den „Befreier“ symbolisiert, dominiert die großzügige Anlage im Treptower Park. Die Figur des „Befreiers“ wurde in den folgenden Jahren massenhaft auf Münzen und Briefmarken verbreitet, sie gehörte zum Staatskult, der sich in Reden und mit solchen Symbolen gegen die „antifaschistische“ Bundesrepublik wandte. Am 8. Mai 1955 fand an dem Denkmal eine Kundgebung mit rund 200.000 Menschen statt, die sich gegen den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO drei Tage zuvor richtete. Gerne wurden in der DDR an einem 8. Mai „Mahnmale für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ eingeweiht, ebenso im Jahr 1967 das „Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschlands im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“. Von 1950 bis 1967 war der 8. Mai in der DDR sogar ein arbeitsfreier Feiertag und von vergleichbarer staatspolitischer Bedeutung wie der 7. Oktober. In den DDR-Medien und der offiziellen Gedenkkultur des Staates wurden die sowjetischen Truppen stets als Befreier und 229

Neues Deutschland, 11.9.1989.

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untadelige Helden gesehen, deutsche Gefallene spielten keine Rolle. Über Themen wie Vertreibung und Umsiedlung aus den ehemaligen Ostgebieten, Plünderungen, Vergewaltigungen, Demontagen oder Internierungen wurde mit Rücksicht auf die Sowjetunion und die Nachbarn im Osten nicht berichtet.

Abbildung 78 Nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten der DDR legten Junge Pioniere Blumen auf die Grabsteine der gefallenen Rotarmisten; hier am "Tag der Befreiung", 8. Mai 1989, am sowjetischen Ehrenhain des Ostfriedhofs in Leipzig. Im Zeichen der „Normalisierung“ und „Entspannung“ wurde der 8. Mai als Feiertag abgeschafft, sicherlich auch, weil die Akzeptanz des Tages als sowjetischer Ruhmestag kaum vorhanden war. Anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes bzw. der „Befreiung von Hitlerdeutschland“ jedoch war der 8. Mai 1985 ein einmaliger arbeitsfreier Feiertag. In vielen Städten der DDR wurde zwar der Opfer englischer und amerikanischer Luftangriffe gedacht, doch bei den offiziellen Gedenkfeiern in Ostberlin erhielten das Bombardement auf Deutschland, insbesondere auf Dresden in den letzten Kriegstagen, und die gefallenen deutschen Soldaten denselben Stellenwert wie im „Befreiungsmuseum“ in Berlin-Marzahn, nämlich gar keinen. Der „40. Jahrestag des 261

Sieges über den Hitler-Faschismus und der Befreiung des deutschen Volkes“, so die offizielle Bezeichnung des Tages, wurde mit einem aufwändigen Staatsakt in Ost-Berlin, mit Militärparaden, Umzügen, Kranzniederlegungen, Feuerwerk etc. groß gefeiert, als hätte es im ostdeutschen Teilstaat nur Kommunisten und Antifaschisten gegeben. Wie auch zum Staatsfeiertag, erschienen regelmäßig Sonderbriefmarken und schön gestaltete Blockausgaben zu besonderen Jahrestagen der „Befreiung“.

Abbildung 79 Der 8. Mai stand in der DDR ganz im Zeichen der deutschsowjetischen Freundschaft; hier ein Propagandaplakat aus dem Jahr 1985 zum 40. Jahrestag des "Siegs über den Faschismus", das einen Soldaten der Sowjetarmee mit einem Kleinkind aus der DDR zeigt.

Gedenktag 20. Juli Der 20. Juli spielte als Gedenktag in der DDR keine Rolle. Ebenso wenig wurden die militärischen, kirchlichen und bürgerlichen sowie jüdischen Widerstandsgruppen gewürdigt, sogar den Geschwistern Scholl kam nicht die verdiente Anerkennung zu, hätten sie sich doch zu spät, nämlich erst nach der Katastrophe von Stalingrad gegen Hitler gewandt. 262

An die Opfer der NS-Zeit gedachte der Staat am „Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialistischen Krieg“. Dieser „OdF-Tag“ fand am ersten Sonntag im September statt. Jahrelang lag bei der Betrachtung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus der Schwerpunkt der DDR-Geschichtsschreibung auf den „antifaschistischen Kräften“, an deren Spitze die Kommunisten gestanden hatten. Die Berufung auf die „antifaschistische Tradition“ diente auch dazu, eine historische Legitimation der SED zu begründen, aus deren engsten Führungskreis eine Reihe von Mitgliedern im Widerstand war oder verfolgt wurde. Dies traf etwa auf den Staats- und Parteichef Erich Honecker zu, der zehn Jahre lang bis zum Kriegsende politischer Häftling war. Erst als sich die DDR Mitte der 1980er Jahre auf ihr preußisches Erbe besann, bewertete sie die „Männer des 20. Juli“ positiv. 1988, anlässlich des 40. Jahrestags des fehlgeschlagenen Attentats auf Hitler, würdigte auch sie mit einer Reihe von Gedenkartikeln und Sendungen im Fernsehen den Widerstand der Gruppe um Stauffenberg. In beiden Fernsehprogrammen wurden um den 20. Juli eine Diskussion von Historikern sowie Augenzeugenberichte und Dokumentationen gebracht, gesendet wurden ebenso die Filme „Wir haben nichts zu bereuen“ und „Der Leutnant York von Wartenburg“ nach einer Erzählung von Stefan Hermlin. Stauffenberg und seinen Mitstreitern wurde bescheinigt, mit „ihrer mutigen patriotischen Tat“ versucht zu haben, die bei einer Fortsetzung des Krieges „zu erwartenden, noch verheerenderen Folgen für das deutsche Volk abzuwenden“, so jedenfalls formulierte es die SED-Monatszeitschrift „Einheit“. Auch das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ brachte erstmals eine ausführliche Würdigung der Männer des 20. Juli. Das Geschichtsbild der DDR unterschied zwischen „bestimmten Kreisen des deutschen Imperialismus“, die „einen Regierungswechsel ohne Erschütterungen“ angestrebt hätten, und den „realistisch“ eingestellten Kräften um Generaloberst Ludwig Beck und Stauffenberg. Die politischen Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppierungen kämen am deutlichsten zum Ausdruck in den Personen des einstigen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler, der trotz seiner „antinazistischen Ansichten“ auf den Positionen „eines autoritären, ausbeuterischen Klassen- und Obrigkeitsstaates stehengeblieben“ sei, und der 263

Stauffenbergs, „der sich im Zuge seiner politischen und geistigen Entwicklung zum entschiedenen Antifaschismus hin bewegte“. In der Ostberliner Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“ hieß es über die am Attentat beteiligten Männer und ihre Mitverschwörer, ganz ähnlich: unabhängig davon, dass viele von ihnen Illusionen über die Beendigung des Krieges und über den Nationalsozialismus gehabt hätten, komme ihnen allen „für den Einsatz ihres Lebens zum Sturz des Naziregimes und die sofortige Beendigung des Völkermordens ein würdiger Platz in der Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Deutschland“ zu.230 Zwei Jahre später, als das Ende der DDR als selbstständiger Staat abzusehen war, setzte die im März 1990 erste (und letzte) demokratisch gewählte Volkskammer die Neuvereidigung der Nationalen Volksarmee auf den 20. Juli fest. Damit sollte bewusst ein Zeichen gesetzt werden und das in der Geschichtsschreibung der DDR überwiegend neutral oder gar negativ bewertete Geschehen vom 20. Juli und seine Akteure sollten nun endlich positiv gedeutet werden.

Weltfriedenstag (1. September) Zu den zahlreichen Gedenk- und Ehrentagen der DDR gehört auch der 1. September, der Weltfriedenstag. Dieser „Tag des Friedens“ geht auf den am 1. September 1946 begangenen „Weltfriedenstag der Jugend“ in der Sowjetischen Besatzungszone zurück. Der Tag, der unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ stand, erinnerte an den Überfall der Wehrmacht auf Polen und damit an den Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Als „Tag des Friedens“ oder „Weltfriedenstag“ bezeichnet, fanden auch an diesem Tag Kundgebungen und Appelle statt, die den Friedenswillen der DDR in den Vordergrund stellten. Für Generationen von Schülern hat sich der 1. September ins Gedächtnis geprägt, da an diesem Tag stets das neue Schuljahr begann. Am 1. September 1989 forderte DDR-Außenminister Oskar Fischer die Bundesregierung auf, sich vom „verantwortungslosen Gerede über die

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Zitate nach Hartmut Jennerjahn: DDR würdigt Stauffenbergs „patriotische Tat“, in AZ, 20.7.1984.

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Wiedervereinigung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937“ zu verabschieden. Davon war zwar in Bonn nicht die Rede, doch die DDR-Führung war durch die Unruhen im Land geschwächt. In diesen Wochen saßen Tausende DDR-Bürger in Ungarn, denen nun eine legale Weiter- bzw. Ausreise in die Bundesrepublik zugesichert wurde. Im Rückblick betrachtet, begann für die DDR das letzte Jahr ihres Bestehens.

Abbildung 80 Wie viele DDR-Gedenk- und Feiertage stand auch der 1. September im Zeichen der deutsch-sowjetischen Freundschaft.

OdF-Tag (2. Sonntag im September) Unmittelbar nach Kriegsende wurden auf Anordnung der Alliierten in den vier Besatzungszonen „Ausschüsse für die Opfer des Faschismus“ eingerichtet. Bereits im September 1945 sollten mit dem „Tag der Opfer des Faschismus“ die Überlebenden der vom nationalsozialistischen Regime Verfolgten geehrt werden. Nach bestimmten Kriterien sollten diese als Opfer und Widerstandskämpfer anerkannt werden und Sozialleistungen und eine Rente erhalten. In diesem Rahmen entstand auch die antifaschistische Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die sich für die ideelle und finanzielle 265

Wiedergutmachung ihrer Mitglieder, aber auch für die Errichtung von Mahnund Gedenkstätten einsetzte. In den Westzonen und der jungen Bundesrepublik waren die OdF-Ausschüsse nur kurzzeitig aktiv, da das Gedenken an die Kriegsopfer schon bald über den Volkstrauertag institutionalisiert wurde. Die Funktion dieses Gedenktages nahm in der DDR jahrzehntelang der OdF-Tag am zweiten Sonntag im September wahr, wobei die Opfer des politischen Widerstands im Vordergrund standen. Diese Ideologie hatte auch die in der SBZ erschienene „Deutsche Volkszeitung“ vertreten, die bereits am 1. Juli 1945 mitteilte:231 Opfer des Faschismus sind Millionen Menschen und alle diejenigen, die ihr Heim, ihre Wohnung, ihren Besitz verloren haben. Opfer des Faschismus sind die Männer, die Soldat werden mussten und in die Bataillone Hitlers eingesetzt wurden, sind alle, die für Hitlers verbrecherischen Krieg ihr Leben geben mussten. Opfer des Faschismus sind die Juden, die als Opfer des Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und die Arbeitsvertragssünder … Aber soweit können wir den Begriff „Opfer des Faschismus“ nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft.

Folglich wurden die militärischen und zivilen Kriegstoten in der DDR nicht in die staatliche Trauer einbezogen, ebenso wenig wurde für die Pflege ihre Gräber gesorgt, dies blieb der Kirche und privaten Initiativen überlassen. Während der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Westen für die Durchführung des Volkstrauertages zuständig war, war im Osten zunächst die VNN Träger des OdF-Tages, nach deren Auflösung 1953 organisierten das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer, die Nationale Front und die SED die Feiern zum OdF-Tag. An der zentralen Veranstaltung in Berlin, die am Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus in der Straße Unter den Linden (heute Neue Wache) stattfand, beteiligten sich alljährlich rund 100.000 Menschen. Ansprachen und Kranzniederlegungen fanden zudem in den Gedenkstätten statt, die, wie Buchenwald (1958) oder Ravensbrück (1959) an einem OdF-Tag eingeweiht worden waren. Auch

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Deutsche Volkszeitung, 1.7.1945.

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Betriebe und Schulen wurden in dieses Gedenken einbezogen, nur die jüdischen Gemeinden ehrten ihre Opfer mit eigenen Veranstaltungen (anderen Opfergruppen wie Homosexuellen, Roma und Sinti oder Euthanasie-Opfern wurde ein Gedenken versagt). Das Lied „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ bildete den traditionellen Abschluss der Feierstunde. Bis 1966 fanden die Gedenkfeiern am 12. September, dann am 10. September, schließlich am zweiten Sonntag im September statt. Ab 1979 erhielt der OdFTag die Bezeichnung „Internationaler Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialistischen Krieg“.232 Im Laufe der Jahre allerdings standen an jedem zweiten Sonntag im September der Aufbau des Sozialismus und die Leistungen der Partei- und Staatsführung im Vordergrund, zumal nach und nach immer mehr Opfer und deren Angehörige verstarben. Seit 1990 hat die Mobilisierung für dieses Gedenken erheblich nachgelassen, der Tag heißt seitdem „Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung“. In Belgern bei Torgau, Farnstädt im Saalekreis und Leuna jedoch erinnern noch heute „Straßen der OdF“ an diesen einstigen DDR-Gedenktag.

Abbildung 81 Alljährlich am OdF-Tag wurden auch in der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar Kränze durch Junge Pioniere niedergelegt in Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen (1985). 232

Petersen, S. 31.

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Gedenktag an die Pogromnacht (9. November) Abgesehen davon, dass in der DDR kaum Menschen jüdischen Glaubens lebten (1952 noch nicht einmal 1000), war in den Anfangsjahren eine staatliche Erinnerung an die Pogromnacht nicht vorgesehen, erst in späteren Jahren wurde es zum Bestandteil der antifaschistischen Gedenkkultur. Wenn der 9. November im Focus eines Erinnerns stand, dann galt es, die „Novemberrevolution“ von 1918 zu würdigen, betrachtete sich die DDR doch als Vollender dieser Revolution. Entsprechende Veranstaltungen fanden jedoch nicht regelmäßig statt, sondern nur zu besonderen, „runden“ Jahrestagen. 1983, zum 65. Jahrestag der Entthronung des Kaisers, der Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik, titelte die SED-Tageszeitung „Ziele des November 1918 in der DDR verwirklicht“. Wichtiger als der 9. November war der 7. November, der an die Oktoberrevolution von 1917 erinnerte. Erst sehr spät, 1988, anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht, gedachte auch die DDR-Volkskammer mit einer Sondersitzung am 8. November ausführlicher der Judenpogrome. Parlamentspräsident Horst Sindermann nannte die Ausschreitungen der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung die „Generalprobe zum Mord an sechs Millionen Juden und zum Mord an den Völkern Europas.“ Zu den Gästen der Gedenkstunde gehörte auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, und sein DDR-Kollege Siegmund Rotstein. Sie waren vom Staatsratsvorsitzenden Honecker mit dem Orden „Stern der Völkerfreundschaft“ geehrt worden. Zwei Tage später, am 10. November 1988, fand die symbolische Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der Neuen Synagoge in Berlin (Oranienburger Straße) statt, die dann im Mai 1995 eröffnet wurde.

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Abbildung 82 a und b Ein wichtiger Gedenktag war der 7. November, der an den Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 erinnerte, hier zwei Sonderbriefmarken zum 50. und 60. Jahrestag, 1967/1977. 269

Fazit Das Staatsverständnis der DDR lag vor allem in der Abgrenzung vom „Faschismus“, folglich spielte der 8./9. Mai als „Tag der Befreiung“ eine weitaus größere Rolle als das Gedenken an das Kriegsende in der Bundesrepublik. Die DDR verstand sich als „Sieger der Geschichte“, der keinerlei Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen wollte. Während in der Bundesrepublik der 8. Mai als ein „Tag der Schuld und Sühne“ begangen wurde, inszenierte die SED-Führung an diesem Tag ein „Fest der Befreiung“. Unterschiedlicher konnte die Erinnerung an ein und dasselbe Ereignis nicht sein. Vergleichbares gilt für den 9. November, der in der DDR eine völlig andere Bewertung erfuhr als in der Bundesrepublik. Als neuer und moderner Staat waren politische Gedenktage in der DDR von zentraler Bedeutung, sie waren selbstverständlicher Bestandteil der politischen Kultur wie Fahnen, Symbole und Denkmäler. Innerhalb dieser Gedenkkultur wurden vor allem die Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen vom System vereinnahmt, diese boten den Rahmen zur Vermittlung eines einseitigen Geschichtsbildes. Wie im Nationalsozialismus erfüllten insbesondere die Feiern am 1. Mai und zum „Tag der Republik“ am 7. Oktober eine vergleichbare Rolle: die geschlossene Verbundenheit zwischen Staatsführung und Volk sollte eindrucksvoll demonstriert werden. Zugleich wurde der „kapitalistische Westen“ in den zahlreichen Appellen, Ansprachen und Paraden als Klassenfeind diffamiert, sie hatten damit eine integrative und repräsentative Funktion. Erst in ihren letzten Jahren widmete die DDR den Ereignissen der NS-Vergangenheit eine größere Aufmerksamkeit; am 20. Juli und am 9. November wurden ihrer Opfer gedacht. Zu den weiteren offiziellen Gedenktagen zählten das „Gedenken an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs“ (Sonntag vor oder nach dem 15. Januar), die „Woche der Waffenbrüderschaft“ (Ende Februar) und der „Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (7. November). Noch stärker als in der Bundesrepublik verstand es die DDR, ihr Geschichtsbild massenwirksam über Briefmarken zu vermitteln.

270

VII. Deutschland (seit 1990) Feiertage Tag der Arbeit (1. Mai)

Abbildung 83 Wenn auch vor überschaubarem Publikum, finden noch immer Kundgebungen zum „Tag der Arbeit“ statt; hier der Oberbürgermeister der Stadt Worms bei einer Ansprache zum 1. Mai 2018.

271

Der 1. Mai wird in Deutschland seit rund neun Jahrzehnten kontinuierlich als gesetzlicher, arbeitsfreier Tag begangen. Nach dem Fall der Mauer fand am 1. Mai 1990 vor dem Berliner Reichstag die erste freie gewerkschaftliche MaiKundgebung seit 1932 statt. Ernst Breit, der damalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), hielt seine Ansprache vor etwa 60.000 Menschen aus beiden Teilen der Stadt und würdigte dabei den 100. Jahrestag der Maifeier. Die Veranstaltung stand ganz im Zeichen der deutschen Einheit. Breit rief zur Vereinigung der Gewerkschaften noch vor der staatlichen Einheit auf und forderte, ein „Niedriglohnland DDR“ zu verhindern. Die DDR dürfe nicht als „Billiglohnland vor der Haustür“ betrachtet werden, auch forderte er die Erhaltung der DDR-Verfassungsrechte auf Arbeit und Wohnen. Umgeben von Biergärten und Grillständen, forderte Breit außerdem weitere Arbeitszeitverkürzungen: „Wir bleiben dabei: Die 35-Stunden-Woche ist notwendig.“ Auf einer Maikundgebung in Oldenburg appellierte der SPD-Chef HansJochen Vogel, die deutsche Einheit so zu gestalten, dass dabei die soziale Gerechtigkeit nicht auf der Strecke bleibe.233 Noch immer ist der 1. Mai der Tag der Gewerkschaften, an dem sie sich einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren können. In den 1960er Jahren waren rund 6,5 Millionen Männer und Frauen Mitglied im DGB, 1981 waren es fast acht Millionen, ab Ende der 90er Jahre setzte ein Rückgang ein, heute bekennen sich rund sechs Millionen Arbeitnehmer zu den Gewerkschaften. Die zentrale Kundgebung des DGB mit Ansprache seines Vorsitzenden findet an wechselnden Orten statt und steht jeweils unter einem besonderen Motto: 2017 in Gelsenkirchen („Wir sind viele. Wir sind eins.“), 2018 in Nürnberg („Vielfalt, Gerechtigkeit, Solidarität“), 2019 in Leipzig („Europa-jetzt aber richtig“). Längst als „Kampftag“ in den Hintergrund getreten, greifen die DGB-Vorsitzenden wie auch die Gewerkschaftsvertreter auf unterer Ebene aktuelle politische Themen auf. Sie fordern etwa bezahlbaren Wohnraum, weniger befristete Arbeitsverträge, das Recht auf Teilzeit, innerhalb Europas den Aufbau eines solidarischen Systems zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen etc. Doch statt allzu politischer Reden, eingerahmt von Musik, hat sich der Charakter der Veranstaltungen zum 1. Mai deutlich verändert. In

233

Zitate nach WZ, 2.5.1990.

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einigen Städten findet ein „Markt der Möglichkeiten“ statt, auf dem sich neben den Gewerkschaften auch die Parteien, Vereine und Wohlfahrtsverbände präsentieren, ausländische Mitbürger offerieren Essen ihres Heimatlandes, beim „Mai-Gebet der Religionen“ versammeln sich christliche und muslimische Gemeindemitglieder. Aus dem gewerkschaftlichen Kampftag ist längst ein Tag des „Multikulti“ geworden und je nach Wetter ist die Beteiligung unterschiedlich groß. Für viele ist der geschichtliche Hintergrund des Tages unbekannt. Der arbeitsfreie Tag wird gerne für Maifeiern („Tanz in den Mai“, „Maibaumaufstellen“, „Mai-Wanderung“ etc.) oder zum Verreisen genutzt.

Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober) Die Bilder vom 9. November 1989 am Brandenburger Tor in Berlin gingen in alle Welt und als „Fall der Mauer“ ist dieser Tag in die Geschichtsbücher eingegangen. Wie groß war die Freude über dieses Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR in den Wochen zuvor. Der 9. November bildete den Auftakt zur deutschen Wiedervereinigung, letztlich sogar zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks und damit zum Ende der Spaltung Europas. Bereits am 10. November 1989 forderte Rainer Brüderle, der Landesvorsitzende der rheinland-pfälzischen FDP: „Der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit soll durch den 9. November ersetzt werden.“ Die Öffnung der innerdeutschen Grenze nämlich sei „die um 36 Jahre zu spät gegebene Antwort auf den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953“.234 Auf den ersten Blick wäre der Tag des Mauerfalls ideal gewesen für einen neuen, gesamtdeutschen Feiertag. Doch dies freudige Ereignis hätte mit dem 9. November 1938 konkurriert. Tatsächlich war die Befürchtung groß, das Gedenken an die Pogromnacht könnte mit dem Feiern der Grenzöffnung in den Hintergrund treten. Daher schied in der Diskussion um einen neuen Staatsfeiertag, der den bisherigen Tag der Deutschen Einheit am 17. Juni ablösen sollte, schon sehr bald der 9. November aus.

234

AZ, 11.11.1989.

273

Das Datum des heutigen Nationalfeiertages geht auf einen Vorschlag des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl zurück. Der 3. Oktober war der frühestmögliche Beitrittstermin, nachdem die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR Anfang Juli 1990 den 2. Dezember als Tag für die gesamtdeutsche Bundestagswahl vorgesehen hatten (laut Wahlrecht mussten Fristen zur Erstellung von Wählerlisten berücksichtigt werden). Die offizielle Verkündung des Beitrittstermins erfolgte in einer Sondersitzung der DDR-Volkskammer in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990. Sabine BergmannPohl, die Präsidentin der Volkskammer, gab nach einer Abstimmung bekannt: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990.“235 Maßgebend für dieses Datum war auch, dass unmittelbar vor dem 3. Oktober, nämlich am 1. und 2. Oktober 1990 in New York die völkerrechtliche Regelung vorgelegt werden sollte, mit der als Folge der sog. „2+4“-Verhandlungen die völkerrechtliche Souveränität Deutschlands vollständig wiederhergestellt werden sollte. Hinter dem 3. Oktober steckt letztendlich also ein administrativer Akt, der die Eigenstaatlichkeit der DDR beendete. Mit dem Beitritt der DDR wurde die jahrzehntealte Forderung nach Deutschlands Einheit in Freiheit erfüllt. Gemäß Einigungsvertrag über die Wiedervereinigung wurde der 3. Oktober zum gesetzlichen Feiertag erklärt; dort heißt es in Kapitel I, Artikel 2, Absatz 2: „Der 3. Oktober ist als Tag der Deutschen Einheit gesetzlicher Feiertag.“236 In seiner Fernsehansprache am Vorabend des Tages zur Deutschen Einheit sagte Bundeskanzler Kohl:237 Der 3. Oktober ist ein Tag der Freude, des Dankes und der Hoffnung. Die junge Generation in Deutschland hat jetzt – wie kaum eine andere 235 236

237

Zit. nach Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland, München 2009, S. 295ff. Der Einigungsvertrag. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1990, Nr. 104/S. 877. Zit. nach Benno Zanetti (Hg.): Der Weg zur Deutschen Einheit, München 1991, S. 358.

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Generation vor ihr – alle Chancen auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit. Wir wissen, dass unsere Freude von vielen Menschen in der Welt geteilt wird. Sie sollen wissen, was uns in diesem Augenblick bewegt: Deutschland ist unser Vaterland, das vereinte Europa unsere Zukunft.

Abbildung 84 Zum ersten neuen Feiertag "Tag der Einheit" am 3. Oktober 1990 brachte die Deutsche Bundespost eine 50- und eine 100-PfennigSonderbriefmarke heraus. Seither wird am 3. Oktober geflaggt, werden Reden gehalten, der Leistungen und Versäumnisse der Einigung gedacht. Als buntes „Bürgerfest“ beabsichtigt, organisiert jeweils das Bundesland, das den Vorsitz im Bundesrat innehat, die Zentralveranstaltung in seiner Landeshauptstadt. Mit dieser Regelung soll der Föderalismus gestärkt werden. Doch jahrelang gab es Kritik am Datum; immer wieder flammten Diskussionen um diesen Nationalfeiertag auf, formieren sich die Gegner und Befürworter des 3. Oktober mit ihren Argumenten. Aus „Kostengründen“(!) schlug 1995 der SPD-Politiker Hans Eichel, damals hessischer Ministerpräsident, vor, „zugunsten der Pflegeversicherung den Tag der Deutschen Einheit auf den ersten Sonntag im Oktober zu verlegen“.238 Jahre später bezeichnete Außenminister Joschka Fischer den 3. Oktober als „falschen Feiertag“ und plädierte stattdessen für den 9. November.239

238 239

Zit. nach FAZ, 28. 9. 2000. Zit. nach Die Zeit, 5. 10. 2000.

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Sein Regierungschef, Bundeskanzler Gerhard Schröder, riet im November 2004 angesichts zurückgehender Steuereinnahmen für eine Verlegung. Hans Eichel, nun Finanzminister, erinnerte sich seiner einstigen Idee und unterstützte die Empfehlung, zur Förderung des Wirtschaftswachstums und zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes den 3. Oktober wieder zu einem Arbeitstag zu machen.240 Die allseitige Empörung über derartige Pläne war groß. Nach einer Protestwelle, insbesondere aus Reihen der CDU/CSU und von ehemaligen DDRBürgerrechtlern sowie einem Appell des Bundespräsidenten legten die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne ihren Vorschlag auf Eis. Aus dem Briefwechsel zwischen Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 4. November 2004:241 Bundespräsident Köhler: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Sie haben mich gestern über die Absicht der Bundesregierung informiert, den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen. Der Tag der Deutschen Einheit trifft das Selbstverständnis unserer Nation. Dieser Nationalfeiertag ist wertvoll für unser Land. Wir ehren damit die demokratische Revolution von 1989 und drücken unsere Freude über die wiedergewonnene deutsche Einheit aus. Der 3. Oktober als Symbol für die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit ist wichtig für die Zukunft unseres Landes und sollte erhalten bleiben. Ich sehe Ihre Entscheidung mit Sorge. Es können überzeugendere Wege gefunden werden, um auch durch einen zusätzlichen Arbeitstag zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beizutragen. In dieser Frage sollte ein breiter gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden. Mit freundlichen Grüßen Ihr Horst Köhler

240 241

Zit. nach FAZ, 6. 11.2004. Ebd.

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Bundeskanzler Schröder: Sehr geehrter Herr Bundespräsident … Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß der Nationalfeiertag für unser Land ein sehr wichtiger, wertvoller Tag ist. Unser Land muß die Möglichkeit haben, seine Freude über die wiedergewonnene deutsche Einheit ausdrücken zu können und den Tag zu nutzen, an die friedliche Revolution zu erinnern. Deshalb soll dieser Feiertag auch nicht abgeschafft werden, sondern am jeweils ersten Sonntag im Oktober stattfinden. Diese Botschaft ist mir wichtig: der Nationalfeiertag bleibt bestehen. Gleichwohl ist es nach meiner Überzeugung notwendig, die Zahl der gesetzlichen Feiertage zu reduzieren – nicht zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung, sondern um zusätzliche Wachstumsimpulse zu setzen. Wir alle wissen, daß es die deutsche Einigung war, die unserer Volkswirtschaft große finanzielle Lasten aufgebürdet hat. Wir dürfen in unseren Bemühungen bei der Vollendung der Einheit nicht nachlassen. Dazu bedarf es aber auch einer nationalen Kraftanstrengung. In diesem Zusammenhang stellt der zusätzlich gewonnene Werktag einen wichtigen Beitrag dar. Ich habe großes Verständnis für Ihren Wunsch nach einem breiten gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage. Wenn Sie auf überzeugendere Wege hinweisen, will ich mich der Diskussion darüber nicht verschließen. Mit freundlichen Grüßen Gerhard Schröder

Auf den alljährlichen „Bürgerfesten“ präsentieren sich auf der „Ländermeile“ die 16 Bundesländer, für Abwechslungen sorgen weiterhin die „Sportmeile“ und die „Sponsorenmeile“, die Stände der Verfassungsorgane, Kinderbelustigungen usw. Abweichend von der Regelung fanden 2011 die Feiern zum 3. Oktober nicht in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf, sondern in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn statt und fünf Jahre später war Frankfurt/Main und nicht Wiesbaden Austragungsort des auch 277

„Deutschlandfest“ genannten „Bürgerfestes“, für das Hessen verantwortlich war. Die zweitägigen Feste stehen unter einem Motto; dieses lautete 2014 „Einheit in Vielfalt“ (Hannover), 2015 „Grenzen überwinden“ (Frankfurt) und 2016 „Brücken bauen“ (Dresden). 2017 fand die zentrale Veranstaltung zum Nationalfeiertag in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz statt und stand unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschland“. Anwesend waren neben rund 200.000 Besuchern und der Ministerpräsidentin Malu Dreyer als Gastgeberin, hohe Vertreter der Politik, so Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Bundestagspräsident Norbert Lammert, ebenso Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. „Nur mit Euch“ lautete das kurze Motto 2018 beim „Deutschlandfest“ 2018 in Berlin, bei der sich die Bundesländer auf einer Festmeile am Brandenburger Tor präsentierten. Am Vorabend des Feiertages hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an rund 40 Bürgerinnen und Bürger das Bundesverdienstkreuz verliehen – auch dieser Brauch hat Tradition. Der Festakt am 3. Oktober fand, nach einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom, in der prachtvoll sanierten Staatsoper Unter den Linden statt. Festredner waren Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der 1990 als Bundesinnenminister den Einheitsvertrag mit unterzeichnet hatte, und Bundesratspräsident Michael Müller, der Regierende Bürgermeister Berlins. Die Ansprache Schäubles bezog sich auf die aktuelle Politik, sie war aber weitgehend unverbindlich, oberflächlich, letztlich auch ein Seitenhieb auf CSU, AfD und die linke Bewegung „Aufstehen“:242 Misstrauen in die Zukunft ist ein Mangel an Vertrauen in unser Handlungsvermögen…Fortschrittsoptimismus blendet nicht aus, dass es Veränderungsbedarf gibt. Aber er versagt sich dem lähmenden Gefühl, nichts bewirken zu können. Diese Zuversicht braucht es. Die Fähigkeit, an das Gelingen zu glauben. Den Mut, sich den Zukunftsaufgaben zu stellen. Und den Respekt vor denen, die anpacken … Statt nur darüber zu reden, was es abzuwehren gilt, was wir verlieren könnten, sollten wir auch auf Gestaltungschancen blicken. Darauf, was wir erreichen wollen …

242

Zit. nach Die Welt kompakt, 4.10.2018.

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Gefühle sind nicht justiziabel. Niemals. Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechtsstaat hat die Pflicht, das durchzusetzen…Niemand hat das Recht zu behaupten, er alleine vertrete das Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielfalt widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte. Und nur durch Mehrheiten – die sich ändern können… Die Humanität verlangt von uns, Menschen zu helfen. Das ist christliches Abendland. Das verbindet uns. Es ist der Kern des Sozialstaatsprinzips. Das gilt für Bürger in persönlichen Notlagen. Und es gilt für Menschen, die bei uns Schutz suchen...Aber die Herkunft darf nicht dazu missbraucht werden, um herabzusetzen und auszugrenzen…Unsere Möglichkeiten sind aber begrenzt. Weil wir das Recht auf Asyl wahren wollen, müssen wir Migranten, die aus anderen Motiven zu uns kommen, sagen: Das geht nur so weit, wie es für die gesellschaftliche Stabilität zu verantworten ist – und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes notwendig …

Vier Wochen nach einem jeden 3. Oktober endet der Vorsitz im Bundesrat. Zum 1. November 2018 übernahm Daniel Günther, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, das Amt des Bundessratspräsidenten von Michael Müller, folglich fand 2019 das „Bürgerfest“ in Kiel unter dem Motto „Mut verbindet“ statt. Bereits zum ersten Jahrestag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober brachte die Deutsche Bundespost eine 50- und eine 100-Pfennig-Sonderbriefmarke heraus, es folgten im Jahr 2000 eine 110-Pfennig-Briefmarke, dann zum 20. Jahrestag eine 55-Cent-Marke und schließlich zum 25jährigen Jubiläum eine 62-Cent-Sonderbriefmarke. Auch erschienen zu den besonderen Jahrestagen 2000, 2010 und 2015 Gedenkmünzen zu einem Ausgabewert von 10 DM bzw. 10 €. Etwas befremdlich ist allerdings, dass der deutsche Nationalfeiertag seit 1997 von den Moscheevereinen im Land als „Tag der offenen Moscheen“ genutzt wird. Dies sollte zwar, so der Zentralrat der Muslime, der „religionsübergreifenden Verständigung“ dienen, doch einen bewusst areligiösen Feiertag wie den „Tag der Deutschen Einheit“, der der kollektiven Identität des deutschen Volkes dienen soll, zu einem „religiösen Verständigungstag“ zu proklamieren, zeugt von wenig Respekt. 279

Abbildung 85 Zum 20. Jahrestag der Einheit erschien eine 55-CentSonderbriefmarke, 2010.

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Gedenktage Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar) Jahrzehntelang war in Deutschland an einem 27. Januar geflaggt: zwischen 1889 und 1918. Damals waren die Flaggen anlässlich des Geburtstages Kaiser Wilhelm II. gehisst. Wenn heutzutage an einem 27. Januar die Fahnen halbmast gesetzt sind, dann zu Ehren der Opfer des Nationalsozialismus. In Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee proklamierte Bundespräsident Roman Herzog am 3. Januar 1996 den neuen Gedenktag mit der offiziellen Bezeichnung „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. In seiner Proklamation sagte Herzog:243 Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.

Erstmals wurde der neue Gedenktag am 27. Januar 1996 begangen. Aus Termingründen allerdings wurde die offizielle Gedenkfeier des Bundestages und Bundesrates auf Freitag, den 19. Januar 1996, vorgezogen. In seiner Rede, gehalten vor dem Deutschen Bundestag in Bonn, sagte Herzog:244 Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Auschwitz steht symbolhaft für millionenfachen Mord – vor allem an Juden, aber auch an anderen Volksgruppen. Es steht für Brutalität und

243 244

FAZ, 4.1.1996. FAZ, 20.1.1996.

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Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung, für die in perverser Perfektion organisierte „Vernichtung" von Menschen. Die Bilder von Leichenbergen, von ermordeten Kindern, Frauen und Männern, von ausgemergelten Körpern sind so eindringlich, dass sie sich nicht nur den Überlebenden und den Befreiern unauslöschlich eingemeißelt haben, sondern auch denjenigen, die heute deren Schilderungen nachlesen oder Bilddokumente betrachten. Warum diese Rückschau heute, nach über 50 Jahren? Warum vor allem unser Wille, die Erinnerung lebendig zu halten? Wäre nicht auch der Wunsch verständlich, Gewesenes zu vergessen, die Wunden vernarben und die Toten ruhen zu lassen? Tatsächlich könnte heute das Vergessen eintreten; denn Zeitzeugen sterben, und immer weniger Opfer können das Grauen des Erlittenen persönlich weitertragen. Geschichte verblasst schnell, wenn sie nicht Teil des eigenen Erlebens war … Würden wir uns ein Auslöschen dieser Erinnerung wünschen, dann wären wir selbst die ersten Opfer einer Selbsttäuschung. Denn es ist vor allem unser Interesse, aus der Erinnerung zu lernen. Die Erinnerung gibt uns Kraft, weil sie Irrwege vermeiden hilft … Das war der Grund dafür, dass ich vor zwei Wochen den 27. Januar, den Tag der Befreiung von Auschwitz, mit Zustimmung aller Parteien zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt habe. Ich weiß, dass die menschliche Sprache nicht ausreicht, in einer kurzen Formel das zum Ausdruck zu bringen, was damit wirklich gemeint ist. „Opfer des Holocaust" wäre ein zu enger Begriff gewesen, weil die nationalsozialistische Rassenpolitik mehr Menschen betroffen hat als die Juden; die Beispiele habe ich bereits erwähnt. „Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik", „Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns" oder ähnliche Ausdrücke wären andererseits nicht stark genug gewesen, das Entsetzen dieses Teils unserer Geschichte annähernd wiederzugeben. So habe ich es bei der in unseren Sprachgebrauch eingegangenen Formulierung „Opfer des Nationalsozialismus" belassen, wohl wissend, dass manch einer bei weiter Auslegung darunter auch die Opfer des

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nationalsozialistischen Krieges und der Nachkriegszeit die Opfer von Flucht, Vertreibung und Verschleppung verstehen wird. Aber deren erinnern wir uns seit langen Jahren am Volkstrauertag, und dabei soll es bleiben. Ich würde mir nur wünschen, dass auch dieser Gedenktag sich wieder mehr in unserem Bewusstsein verankern wollte. Der 27. Januar soll dem Gedenken an die Opfer der Ideologie vom „nordischen Herrenmenschen" und von den „Untermenschen" und ihrem fehlenden Existenzrecht dienen. Die Wahl des Datums zeigt das unmissverständlich. Ich verbinde damit die Hoffnung, wir möchten gemeinsam Formen des Erinnerns finden, die zuverlässig in die Zukunft wirken. Mir geht es nicht darum, nur die Verantwortlichen in der Politik anzusprechen. Gedenkstunden allein nehmen nur allzu leicht den Charakter von Alibi-Veranstaltungen an, und darum kann es nicht gehen. Die Bürger unseres Landes sollen wenigstens einmal im Jahr über das Geschehene nachdenken und vor allem über die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind. Ganz besonders wichtig aber ist es, unsere jungen Menschen zu erreichen und ihren Blick für – möglicherweise – kommende Gefahren zu schärfen. Ich hoffe hier auf die Hilfe der Medien und vor allem der Lehrer, aber auch aller anderen gesellschaftlichen Kräfte, die dazu beitragen können … Ich weiß, dass unsere Schulen in dieser Frage schon Beachtliches geleistet haben und leisten. Aber es lohnt sich, hier noch weiter nachzudenken. Die theoretische Darstellung von Totalitarismus und Rassismus reicht gewiss nicht aus, und wahrscheinlich reicht nicht einmal die Statistik des Grauens aus, das der Nationalsozialismus hinterlassen hat; denn die erfasst ja schon kaum ein erwachsenes Gehirn … Ich wünsche mir, dass der 27. Januar zu einem Gedenktag des deutschen Volkes, zu einem wirklichen Tag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird. Nur so vermeiden wir, dass er Alibi-Wirkungen entfaltet, um die es uns am allerwenigsten gehen darf. Eine Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des Nationalsozialismus können wir, wie ich schon sagte, nicht anerkennen; ein solches Eingeständnis würde zumindest

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denen nicht gerecht, die Leben, Freiheit und Gesundheit im Kampf gegen den Nationalsozialismus und im Einsatz für seine Opfer aufs Spiel gesetzt haben und deren Vermächtnis der Staat ist, in dem wir heute leben. Aber eine kollektive Verantwortung gibt es, und wir haben sie stets bejaht. Sie geht in zwei Richtungen: - Zunächst darf das Erinnern nicht aufhören; denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft. - Und zum andern zielt die kollektive Verantwortung genau auf die Verwirklichung dieser Lehren, die immer wieder auf dasselbe hinauslaufen: Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Würde des Menschen … Deshalb meine Mahnung zum Erinnern und zur Weitergabe der Erinnerung. Nicht nur am 27. Januar. Aber vielleicht kann dieser Gedenktag uns dabei helfen.

Anlässlich dieses ersten Gedenktages hielt Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eine Fernsehansprache, in der sie sagte, Auschwitz stehe für Ereignisse in der Geschichte des deutschen Volkes, die gegen das Vergessen gesichert werden müssten. Zugleich stehe der 27. Januar 1945 für die Befreiung von der Barbarei. Auch in der Demokratie sei der Weg in die Unfreiheit sehr kurz. Zudem erinnerte Bundesratspräsident Edmund Stoiber an die „unfassbaren“ nationalsozialistischen Gräueltaten: Auschwitz mahne zur Wahrung der Menschenwürde, zum Erhalt eines freiheitlich demokratischen Staates und zu entschiedener Bekämpfung von Extremismus. Ebenso meinte Klaus Engelhardt, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland, der 27. Januar sei ein „würdiges Datum“ für das Gedenken an alle Menschen, „denen damals durch deutsche und in deutschem Namen unendliches Leid und Gewalt angetan wurde“. Gefragt seien nun „Anregungen und Vorschläge“ für die Gestaltung des Gedenktages in den Kirchengemeinden und Schulen.245

245

WZ, 27.1.1996.

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Abbildung 86 1995 erschien anlässlich des 50. Jahrestags der „Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern“ eine 100-PfennigSonderbriefmarke. Seitdem finden in Deutschland an bzw. zu diesem Gedenktag an vielen Orten zahlreiche Veranstaltungen wie Vorträge, Lesungen, Theateraufführungen, Ausstellungen und auch Gottesdienste statt. Im Deutschen Bundestag hält alljährlich in der Regel der amtierende Bundespräsident oder Bundestagspräsident die Ansprache der Gedenkstunde (2012 sprach als Zeitzeuge der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki). 2005 wurde der 27. Januar zudem von den Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt. Mit diesem Gedenken sollte einerseits ein „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit verhindert, andererseits die andauernde Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen der Nazi-Herrschaft gefördert werden. Doch bei allem Verständnis: Der 27. Januar ist ein eher konstruiertes Datum. Es bezieht sich auf ein Ereignis, das fernab der deutschen Grenzen liegt, das zudem zu einem Zeitpunkt stattfand, da das Vernichtungslager Auschwitz weitgehend von den SS-Wachmannschaften evakuiert worden war. Wenn schon (nach Jahrzehnten) ein spezieller Tag an die unaussprechlichen Verbrechen an den Juden erinnern soll, wäre es sicherlich sinnvoller 285

gewesen, ein anderes Datum zu wählen, etwa: den 20. Januar (Tag der „Wannseekonferenz“ 1942), den 8. Mai („Tag der Befreiung Europas“ 1945), den 1. September (Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939) oder gar den 10. November („Reichskristallnacht“ 1938). So aber reiht sich der 27. Januar ein in die Fülle weitgehend inhalts- und resonanzloser Gedenktage wie „Weltkindertag“, „Weltnichtrauchertag“, „Welttag des Buches“, „Tag des Lehrers“, an denen die routiniert mahnenden Worte von Politikern, Publizisten und Repräsentanten der Kirchen am Desinteresse der Bevölkerung kaum etwas ändern werden.246

Gedenktag Kriegsende (8. Mai) Während zum 8. Mai 1990, dem 45. Jahrestag des Kriegsendes weder in Bonn, noch in West-Berlin eine offizielle Gedenkstunde stattfand, erinnerte die erst wenige Wochen zuvor gewählte DDR-Volkskammer an den 8. Mai 1945. Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der Volkskammer, wiederholte inhaltlich die Aussagen von Weizsäckers aus seiner Rede von 1985, übte zugleich aber auch Kritik am gerade untergegangenen SED-Regime. Sie sagte:247 Der 8. Mai 1945 war für alle Völker Europas, auch für unser Volk, ein Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft… Die Versuchung, schnell, allzu schnell auf der Seite der Sieger stehen zu können, machte manchen bald wieder zum Handlanger gewaltsamer Machtausübung. Wir müssen erkennen: Die Last unserer Geschichte geht über das Jahr 1945 hinaus.

Zwar war der 8. Mai kurz im Gespräch als Datum für einen neuen, gesamtdeutschen Nationalfeiertag, doch zu groß war die Ambivalenz des Tages und zu übermächtig die Bilder vom 9. November 1989, der im Sommer 1990 als Gedenktag favorisiert wurde. In den folgenden Jahren blieb der 8. Mai ohne gesellschaftliche Relevanz, lediglich im Gedenkjahr 1995 erhielt er nochmals 246

247

Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München/Wien 1995. FAZ, 9.5.1990.

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eine größere Aufmerksamkeit (Veranstaltungen anlässlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, Befreiungsfeiern und Ausstellungen in deutschen KZ-Gedenkstätten, Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkrieges, insbesondere Dresdens). Die Gedenkfeier fand erstmals im Berliner Reichstagsgebäude statt. Die Hauptrede hielt, eingerahmt von Ansprachen der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und des Bundesratspräsidenten Johannes Rau, der polnische Außenminister Wladylaw Bartoszewski, ein Überlebender des Lagers Auschwitz. Im zweiten Teil des Staatsaktes, nun im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, bezog Bundespräsident Roman Herzog Stellung: 248 Den Holocaust an den Unschuldigen vieler Völker haben Deutsche begangen … Die Deutschen wissen auch heute noch sehr wohl – heute vielleicht sogar deutlicher als vor 50 Jahren -, dass ihre damalige Regierung und viele ihrer Väter es gewesen waren, die für den Holocaust verantwortlich waren und Verderben über die Völker Europas gebracht hatten.

Weitere Redebeiträge lieferten die vier alliierten Vertreter: der russische Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin, der britische Premiermister John Major, der amerikanische Vizepräsident Al Gore sowie Frankreichs Staatspräsident François Mitterand, die jeweils aus ihrer Sicht das Kriegsende und die Folgen bewerteten. Dieser Staatsakt fand erstmals in einem europäischen Kontext statt, eine „neue Zeit“ des Miteinanders und „normale“ Beziehungen in einem vereinten Europa schienen gegenwärtig. Angesichts dieses „gesamteuropäischen“ Erinnerns und der Fülle von Gedenkveranstaltungen im Jubiläumsjahr 1995 plädierten der CDU-Politiker Michel Friedman und der PDSAbgeordnete Stefan Heym dafür, den 8. Mai zum Gedenktag zu proklamieren. Stattdessen war es dann aber der 27. Januar, der, auch auf Initiative von Ignaz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Rita Süssmuth, rund ein halbes Jahr später durch Bundespräsident Herzog zum offiziellen Gedenktag erhoben wurde. Vor allem in Berlin wird noch immer die Tradition aufrecht erhalten, zum Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai

248

FAZ, 9.5.1995.

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Kränze und Blumen am Ehrenmal Treptow niederzulegen. Alljährlich nehmen dort mehrere Tausend Menschen an der vom „Bund der Antifaschisten Treptow e.V.“ organisierten Kundgebung teil.

Abbildung 87 Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 erschien ein Briefmarkenblock mit zwei 100-Pfennig-Briefmarken unter dem neutralen Motto "50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges". Wie sehr der 8. Mai in der Hauptstadt als ein Tag mit politischer Relevanz präsent ist, zeigt auch die Absicht des rot-rot-grünen Senats, den Tag zum 75. Jahrestag des Kriegsendes (2020) zum Feiertag in Berlin zu machen. Die Bundesvorsitzenden der Linkspartei forderten im Frühjahr 2018 sogar, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu proklamieren: „antisemitische Angriffe und Verachtung für Andersdenkende und Andersgläubige“ seien Gründe genug, den 8. Mai als Gedenktag für Humanität, Toleranz und Demokratie zu begehen. Die Berliner AfD hielt dagegen, der 8. Mai 1945 sei ein Tag, an dem „die NS-Herrschaft durch eine andere Diktatur ersetzt wurde“.249 Auch einzelne Ortsgruppen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA) nutzen den Tag für Veranstaltungen und Kundgebungen, doch bei insgesamt nur rund

249

FAZ, 14.5.2018.

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6000 Mitgliedern deutschlandweit ist die Wirkkraft der Vereinigung gering. Der Verband, dem kaum noch Überlebende der NS-Zeit angehören, besteht hauptsächlich aus engagierten Menschen „gegen Rassismus, Militarismus, Nazismus und Antisemitismus“, die den 8. Mai als gesetzlichen Feiertag zum Gedenken an die Befreiung vom Faschismus machen wollen. Ansonsten aber spielt der 8. Mai in der öffentlichen Gedenkkultur keine Rolle, er gehört auch nicht zu den Beflaggungstagen. Wenn der Tag des Kriegsendes zitiert wird, dann in der Regel im Zusammenhang mit dem Europatag, der seit 1986 am 9. Mai begangen wird. Dieser Tag erinnert an die Rede des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950, in der dieser die Schaffung einer gemeinsamen Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug. Diese „Schuman-Erklärung“ war der Grundstein für die 1951 gegründete und ein Jahr später in Kraft getretene Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Am 9. Mai wird überall im Land an den öffentlichen Gebäuden die Europa-Flagge gehisst. Dass der 8. Mai aber nach wie kontrovers diskutiert wird, zeigt eine Äußerung von Erika Steinbach, der ehemaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und derzeitigen Vorsitzenden der AfD-nahen Desiderius-ErasmusStiftung, die im April 2018 kritisch mit den Worten zitiert wurde, der 8. Mai sei „kein Tag der Befreiung“ gewesen: „Für alle, die aus dem KZ befreit wurden, war es eine Befreiung. Aber die Hälfte Europas geriet unter Stalin, das war dann keine Befreiung mehr, sondern die wurden geknechtet.“250

23. Mai (Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes) Wie bereits erwähnt, trat in der „alten“ Bundesrepublik am 23. Mai 1979, 1984 und 1989 die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten zusammen. Auch im „wiedervereinigten“ Deutschland fanden die Wahlen des Bundespräsidenten an einem 23. Mai statt und zwar 1994 (Roman Herzog), 1999 (Johannes Rau) sowie 2004 und 2009 (Horst Köhler). Diese sinnige Tradition wurde nach dem Rücktritt von Horst Köhler am 31. Mai 2010 durchbrochen. Sein Amtsnachfolger Christian Wulff wurde am 30. Juni 2010 gewählt, nach

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FAZ, 20.4.2018.

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dessen Rücktritt trat ebenfalls vorzeitig, nämlich am 18. März 2012, die Bundesversammlung zusammen, um Joachim Gauck zum elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland zu wählen. Mit den letzten beiden Wahlen hatte der 23. Mai seinen symbolischen Charakter verloren. Zwar gehört auch der 23. Mai zu den Beflaggungstagen, doch im Bewusstsein der Bevölkerung spielt er keine Rolle. Und die „hohen Volksvertreter“? – erinnern allenfalls an „runden“ Gedenktagen an die Verabschiedung des Grundgesetzes von 1949. So fand anlässlich des 65. Jahrestages 2014 ein größerer Festakt im Deutschen Bundestag statt. Nach der Begrüßungsansprache von Norbert Lammert, dem Bundestagspräsidenten, hielt der Schriftsteller Navid Kermani die Festrede, Beiträge kamen weiterhin von den Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, Thomas Oppermann, Gregor Gysi, Katrin Göring-Eckardt und Gerda Hasselfeldt. Mit der Nationalhymne endete die Feierstunde. Rede Navid Kermanis vom 23. Mai 2014:251 Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben. Einem Paradox ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie. Und doch beginnt ausgerechnet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit einem Paradox. Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt. Die Würde existierte unabhängig und unberührt von jedweder Gewalt. Mit einem einfachen, auf Anhieb kaum merklichen Paradox – die Würde ist unantastbar und bedarf dennoch des Schutzes – kehrt das Grundgesetz die Prämisse der vorherigen deutschen Verfassungen ins Gegenteil um und erklärt den Staat statt zum Telos nunmehr zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn.

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Die Zeit, 29.5.2014.

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„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“: Wie abwegig muss den meisten Deutschen, die sich in den Trümmern ihrer Städte und Weltbilder ums nackte Überleben sorgten, wie abwegig muss ihnen die Aussicht erschienen sein, so etwas Luftiges wie die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Aber was für ein verlockender Gedanke es zugleich war! „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: Die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Behinderten, überhaupt alle Randseiter, Andersgesinnten und Fremden, sie waren ja vor dem Gesetz gerade nicht gleich – also mussten sie es werden. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“: Der Wochen und Monate währende Widerstand just gegen diesen Artikel zeigt am deutlichsten, dass Männer und Frauen 1949 noch keineswegs als gleichberechtigt galten; seine Wahrheit wurde dem Satz erst in der Anwendung zuteil. „Die Todesstrafe ist abgeschafft“: Das war gerade nicht der Mehrheitswunsch der Deutschen, die in einer Umfrage zu drei Vierteln für die Beibehaltung der Todesstrafe plädierten, und wird heute weithin bejaht. „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“: Der Satz war den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates angesichts der Flüchtlingsnot und des Wohnungsmangels fast peinlich und gilt 65 Jahre später nicht nur im wiedervereinigten Deutschland, sondern in halb Europa. Der Bund kann „in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa“ herbeiführen. Das dachte – 1949! – ein vereinigtes Europa, ja: die Vereinigten Staaten von Europa voraus. Und so weiter: das Diskriminierungsverbot, die Religionsfreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit – das waren, als das Grundgesetz vor 65 Jahren verkündet wurde, eher Bekenntnisse, als dass sie die Wirklichkeit in Deutschland beschrieben hätten. Und es sah zunächst keineswegs danach aus, als würde der Appell, der in diesen so schlichten wie eindringlichen Glaubenssätzen lag, von den Deutschen gehört.

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Das Interesse der Öffentlichkeit am Grundgesetz war aus heutiger Sicht beschämend gering, die Zustimmung innerhalb der Bevölkerung marginal. Befragt, wann es Deutschland am besten gegangen sei, entschieden sich noch 1951 in einer repräsentativen Umfrage 45 Prozent der Deutschen für das Kaiserreich, 7 Prozent für die Weimarer Republik, 42 Prozent für die Zeit des Nationalsozialismus und nur 2 Prozent für die Bundesrepublik. 2 Prozent! Wie froh müssen wir sein, dass am Anfang der Bundesrepublik Politiker standen, die ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen ausrichteten. Und heute? Ich habe keinen Zweifel, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates…zufrieden und sehr erstaunt wären, welche Wurzeln die Freiheit innerhalb der letzten 65 Jahre in Deutschland geschlagen hat. Und wahrscheinlich würden sie auch die Pointe bemerken und zustimmend nicken, dass heute ein Kind von Einwanderern an die Verkündung des Grundgesetzes erinnert, das noch dazu einer anderen als der Mehrheitsreligion angehört. Es gibt nicht viele Staaten auf der Welt, in denen das möglich wäre. Selbst in Deutschland wäre es vor noch gar nicht langer Zeit, sagen wir am 50. Jahrestag des Grundgesetzes, schwer vorstellbar gewesen, dass ein Deutscher die Festrede im Bundestag hält, der nicht nur deutsch ist… „Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen“, sagte vor kurzem der Bundespräsident. Ich kann dem nicht widersprechen. Welchen Abschnitt der deutschen Geschichte ich mir auch vor Augen halte, in keinem ging es freier, friedlicher und toleranter zu als in unserer Zeit…

Die Rede wurde zwar viel beachtet und positiv in den Medien besprochen, doch dem 23. Mai als Gedenktag hat Kermanis Rede nichts gebracht. Waren 1969, 1974, 1989 und 1999 Sonderbriefmarken erschienen, so verzichtete das Bundesfinanzministerium in diesem Jubiläumsjahr auf die Herausgabe einer Briefmarke, ebenso wenig gab es eine Gedenkmünze. Zum Jubiläum im Jahr 1999 hatte die Bundesrepublik eine 10-DM-Gedenkmünze mit der Umschrift „für das gesamte deutsche Volk“ herausgegeben. 292

Anlässlich des Verfassungstages 2018 zeichnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 22. Mai im Schloss Bellevue 24 Damen und Herren im Alter von 20 bis 90 Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Am 23. Mai hatte er in Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung zu einer Diskussionsveranstaltung ins Schloss Bellevue eingeladen. Der Abend innerhalb der Reihe „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“ stand unter dem Motto „Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe.“ Der Bundespräsident mahnte: „Heute, am Tag des Grundgesetzes, wird uns bewusst, wie zerbrechlich und wie wenig selbstverständlich die Demokratie ist.“252

Jahrestag des Volksaufstands in der ehemaligen DDR im Jahre 1953 (17. Juni) Mit dem Einigungsvertrag wurde der 17. Juni als freier Feiertag gestrichen, letztmalig wurde er am 17. Juni 1990 begangen. Erst im Rückblick wurde deutlich, dass dieser Tag der erste Aufstand in einer Folge weiterer Erschütterungen des Sowjetsystems in Ost- und Ostmitteleuropa gewesen war: es folgten die Volkserhebungen 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1981 in Polen. Letztlich führte dieses mutige Aufbegehren gegen die Obrigkeit zum Erfolg, zum Niedergang des Kommunismus, zum Zusammenbruch des Ostblocks, zur deutschen Wiedervereinigung, zu einem freien Europa. Freiheit und Selbstbestimmung, zentrale Forderungen zahlreicher Reden zum 17. Juni, waren Wirklichkeit geworden. Es stimmte, was Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth am 17. Juni 1992 vor dem Bundestag in Bonn sagte: Der Aufstand von 1953 wurde niedergeschlagen, nicht aber der Freiheitswille in West und Ost. Die Flucht in die Freiheit konnte weder durch Mauer noch durch Stacheldraht beendet werden. Der Wille zur Freiheit war unbezwingbar und setzte sich 1989 durch. Der Trauer folgte die Freude. Der Unterdrückung und Teilung folgten Freiheit und Einheit. Dem 17. Juni folgte der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit.253 252 253

AZ, 24.5.2018. Zit. nach Wolfgang Schuller: Der Tag der Brüder und Schwestern, FAZ, 17.6.2003.

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Wie passend aber wäre es gewesen, hätte man den 17. Juni mit der Wiedervereinigung zum gesamtdeutschen Nationalfeiertag erklärt. So aber bleibt der 17. Juni als Beflaggungstag lediglich ein Gedenktag, auch wenn in vielen Kalendern ein Hinweis darauf fehlt. In Berlin findet alljährlich am zentralen, 1955 eingeweihten Mahnmal für die Opfer des Aufstandes vom 17. Juni 1953 auf dem Friedhof an der Seestraße in Wedding das offizielle Gedenken der Bundesregierung mit einer Kranzniederlegung statt. Beim Gedenken anlässlich des 65. Jahrestages im Juni 2018 sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters, das Unrecht der SED-Diktatur müsse klar benannt werden; „dies sind wir nicht nur denjenigen schuldig, deren Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Demokratie am 17. Juni 1953 von sowjetischen Panzern zermahlen wurden“. Der heutigen Generation müsse vermittelt werden, wie hart errungen demokratische Freiheitsrechte seien und welche Gefahr von totalitären Ideologien ausginge. Bei der Kranzniederlegung sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, die Männer und Frauen des Volksaufstandes hätten mit ihrem Mut Zeichen gesetzt, „die immer noch leuchten“. 254 Kranzniederlegungen fanden zudem an Mahnmalen in zahlreichen ostdeutschen Städten statt. Der Journalist Heribert Prantl sieht im 17. Juni ein Tag von europäischer Dimension:255 Der Tag ist Teil der europäischen Befreiungsgeschichte, die von 1789 über 1848 bis 1989 reicht – von der Französischen Revolution über die demokratische Revolution im monarchischen Deutschland bis hin zu den Revolutionen in Mittel- und Osteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts … der Aufstand gegen Zwangsherrschaften ist dieser Gründungsmythos: Deutschland, Ungarn, Prag, Polen, Spanien, Portugal, Griechenland. So viele Staaten haben eine junge Befreiungsgeschichte, es ist eine Geschichte, die sie letztendlich in die Europäische Union führte – und es gibt die Tage, die daran erinnern.

2003, zum 50. Jahrestag, erschien eine 55-Cent-Sonderbriefmarke mit 25 Cent Zuschlag, die zwei Demonstranten vor zwei sowjetischen Panzern zeigt. Auch

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FAZ, 18.6.2018. SZ, 18.6.2018.

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hielten zahlreiche Publikationen, Wanderausstellungen, Dokumentationen und Spielfilme die Erinnerung an den Volksaufstand fest, zum 60. Jahrestag 2013 wiederholte sich Vergleichbares. Immerhin proklamierte 2016 das Land Thüringen den 17. Juni zum „Gedenktag für die Opfer des SED-Unrechts“.

Abbildung 88 Im "Haus der Geschichte", Bonn, erinnert in der Dauerausstellung zur deutschen Geschichte eine Stellwand mit Plakaten, Zeitschriften, Bildern etc. an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953; davor steht ein Original Panzer der Sowjetischen Streitkräfte.

Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung (20. Juni) Im Sommer 2014 beschloss die Bundesregierung die Einführung eines neuen Gedenktages, der an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnern sollte: „Die Bundesregierung hat in ihrer Sitzung am 27. August 2014 beschlossen, ab dem Jahre 2015 jährlich am 20. Juni den „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ zu begehen.256 Bereits drei Jahre zuvor hatte der 256

BGBl. 2014, Teil 1 (vom 6.10.2014), S. 1599.

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Bundestag über einen solchen Gedenktag debattiert, vorgesehen war zunächst der 5. August, da an diesem Tag des Jahres 1950 die Charta der Heimatvertriebenen unterzeichnet worden war. Die Länder Bayern, Hessen und Sachsen hatten schon für 2014 einen eigenen Gedenktag für diese Opfergruppe erlassen. Erstmals auf Bundesebene wurde der Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 mit einer Ansprache im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin begangen. Der 20. Juni wurde als Termin gewählt, da an diesem Tag seit 2001 der von den Vereinten Nationen proklamierte Weltflüchtlingstag stattfindet. Zwar ist auch der 20. Juni ein Beflaggungstag, doch in der Bevölkerung ist er als Gedenktag bislang weitgehend unbekannt. Gastredner der ersten Gedenkfeier war der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, 2016 sprach Bundestagspräsident Norbert Lammert und 2017 hielt der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis die Festrede. Gastgeber der Gedenkstunde am 20. Juni 2018 war Horst Seehofer als Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat. Die Veranstaltung fand genau 70 Jahre nach der Währungsreform (20. Juni 1948) statt. Folglich erinnerte Seehofer daran, dass die vielen deutschen Heimatvertriebenen in Westdeutschland erneut vor dem finanziellen Nichts standen, der Tag zugleich jedoch den Anfang ihres Aufstiegs bedeutete. Den Historiker Christian Graf Krockow zitierend, meinte der Minister, die Vertriebenen hätten wesentlich zum Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit beigetragen:257 Die Vertriebenen erwiesen sich in der Folge wie kaum eine andere Gruppe als leistungsbereit und leistungsstark. Sie suchten ihre Chance dort, wo sie sich boten – waren bereit, mit harter Arbeit ihrem vermeintlich vorbestimmten Leben in Armut zu entkommen. Es schien, als habe der Schock der Vertreibung ungeahnte Kräfte freigesetzt, die – zumindest in der Generationenfolge – den sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg bewirkten.

Nach Horst Seehofers Begrüßung und einem Grußwort des Limburger Weihbischofs Gerhard Pieschl – beide Ansprachen waren von musikalischen Beiträgen

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PAZ, 29.7.2018.

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umrahmt – bot der Arzt und Autor Umeswaran Arunagirinathan, der 1990 als Flüchtlingskind aus Sri Lanka nach Deutschland gekommen war, einen „Erfahrungsbericht“. Danach hielt die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Festrede, in der sie auch auf die aktuelle europäische Asyl- und Migrationspolitik einging: „Migration ist eine europäische Herausforderung“. Mit Blick auf die Opfergruppe, der dieser vornehmlich Tag gewidmet ist, sagte sie:258 Die Heimatvertriebenen waren Opfer, die bitteres Unrecht erlitten haben. Aber wir verkennen auch nicht die Ursache und Wirkung. Vertreibung und Flucht der Deutschen waren eine unmittelbare Folge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieges und der unsäglichen Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur. Doch das ändert nichts daran, dass es für Vertreibung weder eine moralische, noch eine politische Rechtfertigung gab… Die Entscheidung vor vier Jahren war eine ganz wichtige. Dieser Gedenktag zeigt auch, was wir in der Vergangenheit bewältigt haben, wie Vertriebene dazu beigetragen haben, diese Bundesrepublik Deutschland zu formen, und wie wir unsere Verantwortung auch in Zukunft leben müssen.

Den Abschluss der einstündigen Gedenkfeier bildete die Nationalhymne, das Schlusswort sprach Bernd Fabritius, der Präsident des Bundes der Vertriebenen e.V. Die Gedenkstunde blickte einerseits zurück in die Vergangenheit, womit sie ein Stück Erinnerungskultur betrieb, andrerseits bezog sie sich auf die aktuelle Politik und benannte die vielfältigen Aufgaben, die mit dem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung im Zusammenhang stehen. Auch wenn man die Flucht und die Fluchtursachen der Nachkriegszeit mit denen von heute nicht vergleichen kann, so gilt es, den Frieden und die Menschlichkeit als kostbare Güter zu achten und den Wert der Heimat zu schätzen.

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Ebd.

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Abbildung 89 (a-c) Zwar ist der „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ ein neuer Gedenktag, doch bereits in früheren Jahren wurde mit Sonderbriefmarken an das Schicksal der Heimatvertriebenen erinnert, so 1965, 1985 oder 1990.

Jahrestag des Aufstandes gegen Unrecht und Tyrannei des Nationalsozialismus im Jahre 1944 (20. Juli) Im Gegensatz zur Nachkriegszeit genießt der 20. Juli seit Jahrzehnten eine gewisse Aufmerksamkeit in der Bevölkerung, seit einigen Jahren sogar eine Aufwertung. Alljährlich werden an den Mahnmalen in den Kommunen der „Opfer des Faschismus“ gedacht, auch in Berlin finden offizielle Veranstaltungen statt, etwa in der Gedenkstätte Plötzensee mit der Kranzniederlegung durch Vertreter der Verfassungsorgane. Zum 50. Jahrestag 1994 erschien eine 100-Pfenig-Sonderbriefmarke. Seit 1999 legen an diesem Tag Rekruten der Bundeswehr in Berlin in Anwesenheit von Repräsentanten der Bundespolitik ihr Gelöbnis ab. Dieses feierliche Zeremoniell findet vor dem Reichstagsgebäude, meist aber auf dem Paradeplatz des Bundesverteidigungsministeriums im Berliner Bendlerblock statt. Die Ansprache an dem historischen Ort hält 299

traditionell der Verteidigungsminister bzw. die Verteidigungsministerin, auch ein Ehrengast würdigt mit einer Rede die Opfer von 1944 und stellt einen Bezug zur Gegenwart dar; 2017 war dies der Historiker Michael Wolffsohn. In den Beiträgen wird dann an Mut und Zivilcourage appelliert, Freiheitsrechte und Demokratie werden beschworen. Galten die Attentäter einst als „Verräter“, so werden sie heute längst als Vorbild dargestellt; Bewunderung und Respekt bestimmen ihren Nachruhm. Dieses positive Bild vermitteln auch die zahlreichen Publikationen, Dokumentationen und Filme unserer Tage. Bei der Gedenkstunde der Bundesregierung 2018 im Ehrenhof des Bendlerblocks reagierte Außenminister Heiko Maas auf die ambivalente Stimmung im Land. Er sagte, es sei beschämend, wenn sich heute jene auf „Recht zum Widerstand“ beriefen, die Volksvertreter als „Volksverräter“ schmähten, die Erinnerung als „Schuldkult“ abtäten und freie Medien als „Lügenpresse“ diffamierten. Man dürfe nicht schweigen, wenn „Ewiggestrige solche Symbole des Widerstandes perfide umdeuten“.259 Einer breiten, vor allem jungen Zuschauerschaft wurden die Ereignisse und die Folgen des 20. Juli mit dem 2008 uraufgeführten US-Spielfilm „Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat“ (Regie Bryan Singer) mit Tom Cruise in der Hauptrolle als Graf Stauffenberg näher gebracht. Und: 2007 wurden die beiden Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke und Claus Schenk Graf von Stauffenberg letztmalig auf einer 55-Cent-Sonderbriefmarke geehrt; innerhalb der Briefmarkenserie „Aufrechte Demokraten“.

Abbildung 90 Zum 50. Jahrestag des „20.Juli“ erschien eine 100-PfennigSonderbriefmarke, 1994. 259

FAZ, 21.7.2018.

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Antikriegstag (1. September) Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung 1989/1990, mit dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende des Warschauer Pakts (1991) und schließlich der Osterweiterung der Europäischen Union und der NATO gegen Ende des 20. Jahrhunderts schien die Kriegsgefahr in Europa gebannt. Abgesehen vom Balkan-Krieg zu Beginn und in der Mitte der 1990er Jahre hatten sich die jahrzehntelangen Forderungen der Gewerkschaften erfüllt. Dies führte wiederum dazu, dass das Interesse an den Kundgebungen zum 1. September rückläufig war. Aus dem Antikriegstag ist ein Weltfriedenstag geworden. Es sind heutzutage nur noch überschaubare Gruppen, die sich alljährlich am 1. September, der nicht zu den Beflaggungstagen gehört, treffen. Auch haben sich inzwischen die Träger und die Forderungen des Tages verändert; die Antifa demonstriert „gegen rechts“ oder kritisiert die deutschen Rüstungsexporte.

Abbildung 91 Bei einer Ansprache des Oberbürgermeisters der Stadt Worms anlässlich des Antikriegstages demonstrierten auch Vertreter des Aktionsbündnisses „Schöner leben – Nazis stoppen“, 1. September 2018. 301

Gedenktag an die Pogromnacht/an den Fall der Mauer (9. November)

Abbildung 92 Wo einst eine Synagoge stand, erinnert heute ein Gedenkstein an die Zerstörung in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938; hier der Erinnerungsort in Bielefeld. 302

Wäre nicht doch, gerade wegen seiner Ambivalenz, der 9. November der ideale Feier- und Gedenktag? Erst recht, da mit zeitlicher Distanz die Erinnerung an weiter zurück liegende Ereignisse verblasst, der „Mauerfall“ dagegen vielen Menschen als epochales Geschehen im Gedächtnis haften bleibt. Gewürdigt würden die demokratische Bewegung, die friedliche Revolution in der DDR und damit „ostorientierte“ Geschichte. Der 9. November ist der „deutsche“ Tag, er vereinigt wie kein anderes Datum das Gedenken an die Opfer von Gewalt und Terror mit der Erinnerung an Zivilcourage, Aufbruch, Erneuerung und deren Wertschätzung. Genau genommen müsste dieser historisch bedeutsamen Ereignisse an einem Doppelfeiertag gedacht werden, dem 9./10. November. Die Verwüstungen, Brände, Plünderungen und Inhaftierungen 1938 fanden nämlich in den Morgenstunden des 10. November statt – vor den Augen zahlreicher Menschen auf dem Weg zur Arbeit und in die Schule. Ein Tag der Freude leitet über zu einem Tag des mahnenden Gedenkens und vergisst dabei nicht die Erinnerung an Georg Elser, den mutigen Widerstandskämpfer, der in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1939 im Bürgerbräukeller in München mit einer selbst gebastelten Bombe einen Anschlag auf Hitler verübte.

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Abbildung 93 a und b An den Gedenktag 9. November, hier an den Mauerfall vom 9. November 1989, erinnern mehrere Sonderbriefmarken (1990 und 2009). Die Erinnerung an die Ereignisse des 9. November wird nicht nur verbal mittels Reden oder medial (Reportagen, Dokumentationen in Presse und Rundfunk/Fernsehen) wach gehalten, ein sichtbares Zeichen sind vor allem die vielen Gedenktafeln (etwa an den Orten, an denen bis 1938 eine Synagoge stand) und seit Ende des 20. Jahrhunderts die so genannten „Stolpersteine“, ein europaweit angelegtes Projekt des Künstlers Gunter Demnig.260 Diese Gedenktafeln aus Messing, eingelassen in den Gehweg vor ihrem letzten Wohnort, erinnern an das Schicksal der Opfer, die von den Nazis deportiert, ermordet und in den Suizid getrieben wurden oder die ihre Heimat verlassen mussten. Auch hat sich seit etwa Mitte der 90er Jahre die öffentliche Verlesung der Namen deportierter oder ermordeter Juden als Gedenkform etabliert. Zahlreich sind zudem über die gesamte Republik verteilt Mahnmale, die an

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In München allerdings untersagt die Stadt eine Verlegung der Stolpersteine im öffentlichen Raum mit Rücksicht auf die jüdische Gemeinde. Dort werden als „Ersatzsteine“ Stelen mit Messingwürfel aufgestellt, die inhaltlich den Stolpersteinen entsprechen; s. FAZ, 27.7.2018

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die NS-Gewaltherrschaft erinnern, ebenso wird in der Hauptstadt an mehreren Stellen und in vielfältiger Form (Ausstellungen) beider Diktaturen in Deutschland gedacht.

Abbildung 94 Inzwischen erinnern mehr als 70.000 Stolpersteine europaweit an Opfer des Nationalsozialismus; hier die Verlegung durch Gunter Demnig am 23. Februar 2012 in Worms. Auch wenn der Tag des Mauerfalls, ein Ereignis, das mit Enthusiasmus begrüßt und erlebt wurde und das sich mit seinen Folgen in die Erinnerung der Zeitzeugen eingeprägt hat, wie kein anderer Tag die Lebensumstände von Millionen Deutschen veränderte, wurde der 9. November bewusst nicht zum Staatsfeiertag erklärt, sondern der 3. Oktober. Der Historiker Heinrich August Winkler sieht zwar in dem 9. November einen „ideellen Gesamtfeiertag, an dem sich die Deutschen der Höhen und Tiefen ihrer jüngeren Geschichte erinnern“, schränkt aber zugleich ein, dass dieses Datum nicht der richtige Tag der Einheit sein kann: Welcher Redner wäre in der Lage, in ein und derselben Rede Freude und Scham, Stolz und Trauer angemessen zum Ausdruck zu bringen? Welche Zeremonie würde diesem Anspruch gerecht werden?... Der

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9. November 1989 kann nicht aus dem Schatten des 9. November 1938 heraustreten. Die Widersprüche der Empfindungen auszuhalten, die mit dem Datum des 9. November verbunden sind, ist notwendig. Die Widersprüche zu feiern ist unmöglich.261

Es ist bedauerlich und unverständlich, dass dieser für die deutsche und europäische Geschichte so wichtige Tag nicht zu den Beflaggungstagen zählt und dass ihm eine größere Aufmerksamkeit nur an „runden“ Jahrestagen gewährt wird. Wie unsensibel mit dem Gedenktag umgegangen wird zeigt ein Beispiel aus Klosterlausnitz/Thüringen. Dort hatte die Kristall-Therme für den 9. November 2013 zu einer „langen romantischen Kristall Nacht“ mit Kerzen und heißen Aufgüssen eingeladen.262 So etwas passiert, wenn Gedenktage nicht mehr wahrgenommen werden und aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden.

Exkurs: der 9. November 2018 Im Gegensatz zu all den Jahren zuvor, erlebte das Gedenken am 9. November 2018 eine große Aufmerksamkeit, das lag vor allem an den Feierlichkeiten zu „100 Jahre Republik“. Zahlreiche Neuerscheinungen, Ausstellungen, Dokumentationen und Spielfilme hatten im Vorfeld des Gedenktages den „Matrosenaufstand“, den „Kaisersturz“, das Ende der Monarchie und die Ausrufung der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann am 9. November sowie den damit verbundenen 100. Jahrestag des Kriegsendes (Waffenstillstandsabkommen am 11. November 1918) thematisiert. Die Tageszeitungen brachten Sonderseiten unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen der „Novemberrevolution“ auf die lokalen Verhältnisse. Bisher hatte das Gedenken an das epochale Ereignis von 1918 in Deutschland keine Tradition, im Ansatz allenfalls in der DDR, da letztlich das parlamentarische System der Weimarer Republik gescheitert ist. So blieb die „Novemberevolution“ weitgehend eine „vergessene Revolution“. 261

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Heinrich August Winkler: „Jubeln oder trauern – beides geht nicht“, in Die Zeit, 9. 11. 2000. WZ, 5.11.2013.

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Am frühen Vormittag des 9. November 2018 versammelten sich im Bundestag die Abgeordneten und Ehrengäste zu einer Gedenkstunde, die Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eröffnete. In seiner Begrüßung würdigte er den „Mauerfall“ vor 29 Jahren als „friedliche Revolution“; dies sei der „glücklichste Tag der Deutschen“. Der Schauspieler Ulrich Matthes las die überlieferte Rede Scheidemanns und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt die Festrede, in der er eine differenzierte Sicht auf die deutsche Geschichte und eine neue, ausgewogene Erinnerungskultur, einen „aufgeklärten Patriotismus“ forderte. In seinem Rückblick und in seiner Bewertung auf den 9. November 1918 sagte er:263 Was war das für ein gewaltiger Umbruch, den Philipp Scheidemann am 9. November 1918 den Menschen auf den Straßen Berlins verkündete, hier an diesem Ort, von einem Fenster des Reichstags aus: der Zusammenbruch des Kaiserreichs, das Ende einer jahrhundertealten Ordnung, der Beginn einer demokratischen Zukunft für Deutschland … Die Revolution, so ungeplant und improvisiert sie auch war, steht für eine tiefgreifende Zäsur in der deutschen Geschichte, für einen Aufbruch in die Moderne … Der 9. November 1918 ist auf der Landkarte der deutschen Erinnerungsorte zwar verzeichnet, aber er hat nie den Platz gefunden, der ihm zusteht. Er ist ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte – eben auch, weil der 9. November tatsächlich ein ambivalenter Tag ist, weil er für Licht und für Schatten steht, weil wir jene Demokratie, die damals begann, fast nie von ihrem Anfang, sondern meist von ihrem Ende her denken… Der 9. November 1918 ist ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte. Er steht für die Geburt der Republik in Deutschland. Er steht für den Durchbruch der parlamentarischen Demokratie. Und

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FAZ, 10.11.2018.

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deshalb verdient er einen herausragenden Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes.

Steinmeier betrachtete aber nicht nur die Errungenschaften, Leistungen und Versäumnisse der „Novemberevolution“, er ging ebenso auf den 9. November 1938 ein: Dieser 9. November stellt uns, verdichtet in einem einzigen Datum, vor die wohl schwierigste und schmerzhafteste Frage der deutschen Geschichte: Wie konnte es sein, dass dasselbe Volk, das am 9. November 1918 den Aufbruch in demokratische Selbstbestimmung wagte, das in den Folgejahren auf so vielen Gebieten menschlichen Strebens Fortschritte feierte, das in seinen Konzertsälen Symphonien lauschte und in seinen Nachtclubs Swing tanzte, dessen Wissenschaftler Nobelpreise gewannen, dessen Arbeiter genossenschaftliche Siedlungen bauten, dessen Künstler Traditionen über den Haufen warfen, dessen Kinofilme die Welt begeisterten – wie konnte es sein, dass dies selbe Volk innerhalb weniger Jahre in demokratischen Wahlen den Demokratiefeinden zur Mehrheit verhalf, seine europäischen Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog, wegschaute, wenn nicht gar gaffte und jubelte, wenn daheim in der eigenen Straße jüdische Nachbarn, Homosexuelle, seelisch Kranke aus ihren Häusern gezerrt wurden, abgeführt von den Schergen eines verbrecherischen Regimes – eines Regimes, das jüdische Familien in Viehwagen pferchte und Eltern mit ihren Kindern in Gaskammern schickte? Dies bleibt die schwierigste und schmerzhafteste Frage der deutschen Geschichte … Berlin ist nicht Weimar und wird es nicht werden. Die Gefahren von gestern sind nicht die Gefahren von heute. Wer immer nur vor der Wiederkehr des Gleichen warnt, droht neue Herausforderungen aus den Augen zu verlieren. Aber: Erinnerung kann den Blick schärfen für neue Anfechtungen. Und die gibt es gewiss … Wir können stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoa zu verdrängen. Und: Wir

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können uns der historischen Verantwortung für den Zivilisationsbruch bewusst sein, ohne uns die Freude über das zu verweigern, was geglückt ist in unserem Land! Ja, wir dürfen uns diesem Land anvertrauen – auch wenn beides in ihm steckt. Denn wir nehmen uns beides zu Herzen! Das ist der Kern eines aufgeklärten Patriotismus. Es geht ihm weder um Lorbeerkränze noch um Dornenkronen. Er ist niemals laut und auftrumpfend – er ist ein Patriotismus mit leisen Tönen und mit gemischten Gefühlen … Ein demokratischer Patriotismus aber ist kein wohliges Ruhekissen, sondern ein beständiger Ansporn für alle, die nicht sagen: „Die beste Zeit liegt hinter uns“, sondern die sagen: „Wir wollen und wir können die Zukunft besser machen!“ Das ist die Zuversicht von Demokraten!

Zum Schluss blickte der Redner auf den 9. November 1989: Und vor allem denken wir heute an die Frauen und Männer, die im Herbst 1989 auf die Straße strömten – in Leipzig, Dresden, Plauen … und Schwerin. Sie haben den Weg zur Wiedervereinigung unseres Landes bereitet. Ohne ihre friedliche Revolution, ohne ihren Mut und Friedenswillen hätte es ihn nicht gegeben: den Fall der Mauer. Jenen glücklichsten 9. November in unserer Geschichte! Auch daran erinnern wir heute in Dankbarkeit… Wir alle, die wir uns zur Demokratie bekennen, die Millionen, die sich Tag um Tag für dieses Land engagieren, stehen in dieser Tradition! Sie zeigen durch tägliches Beispiel: Ein demokratischer Patriotismus ist keine Abstraktion und keine Kopfgeburt. Das Engagement dieser Bürgerinnen und Bürger entspringt doch nicht allein aus kühlem Verstand, sondern bei den allermeisten aus tiefstem Herzen! Also: Trauen wir uns doch! Trauen wir uns, die Hoffnung, die republikanische Leidenschaft jener Novembertage auch in unserer Zeit zu zeigen. Trauen wir uns, den Anspruch zu erneuern: Es lebe die deutsche Republik! Es lebe unsere Demokratie!

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Nach dieser Feierstunde im Parlament hielt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Berliner Synagoge Rykestraße, der größten Synagoge in Deutschland, eine Gedenkrede anlässlich der Pogromnacht von 1938. Anwesend waren auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Altbundespräsidenten Horst Köhler und Joachim Gauck, Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin, Israels Botschafter Jeremy Issacharoff und Vertreter der Bundesregierung. Während Merkel in ihrem Beitrag den Antisemitismus beklagte, der sich „in einer teils ungehemmten Hetze im Internet wie im öffentlichen Raum“ breit mache, forderte Schuster mehr Zivilcourage. Schließlich gedachten am frühen Nachmittag des Tages Vertreter der Legislative und Exekutive auf Bundes- und Landesebene in der zentralen Gedenkstätte an der Bernauer Straße der Opfer der deutschen Teilung. An vielen Orten in ganz Deutschland fanden am 9. November Gedenkveranstaltungen an 1918 und 1938 statt, wobei erstmals in großem Umfang der Ausrufung der Republik und des Endes des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren gedacht wurde. In Belgien und in Frankreich ist der 11. November, der Tag des Waffenstillstandes, gesetzlicher Feiertag, folglich wurde in diesen Ländern dieser runde Jahrestag besonders groß gefeiert. Am Pariser Triumphbogen hielt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vor rund 70 Staats- und Regierungschefs, unter ihnen waren auch der russische Präsident Vladimir Putin und der US-amerikanische Präsident Donald Trump, eine Ansprache, an der ebenso Bundeskanzlerin Merkel teilnahm. An der nationalen Gedenkstätte in Compiègne hatten zuvor Macron und Merkel eine neue Gedenktafel mit einer Friedensbotschaft auf Französisch und Deutsch eingeweiht: Anlässlich des 100. Jahrestages des Waffenstillstands vom 11. November 1918 haben der Präsident der Französischen Republik, Emmanuel Macron, und die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, hier die Bedeutung der deutsch-französischen Aussöhnung im Dienste Europas und des Friedens bekräftigt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war dagegen in England und legte als erster Deutscher einen Kranz zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten 310

Weltkrieges in London nieder. Alljährlich erinnern die Briten am „Armistice Day“ mit einer Schweigeminute an das Ende des Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde in Deutschland die Bedeutung des 9. November für die deutsche Geschichte deutlich benannt. Erinnert wurde im Zusammenhang mit der Novemberrevolution von 1918 auch an deren positiven Folgen wie die Garantie der bürgerlichen Freiheitsrechte, die Einführung des Frauenwahlrechts und schließlich die Etablierung des modernen Sozialstaates. Angesichts dieser Errungenschaften und zugleich der Ambivalenz dieses Tages wurden in Kommentaren, Umfragen und Diskussionen Stimmen laut, die für den 9. November als Feiertag plädierten anstelle des 3. Oktober. Eine Beflaggung wäre angebracht gewesen, doch sie unterblieb auch in diesem Jahr.

Volkstrauertag (November) Der Volkstrauertag im November, der stets am zweiten Sonntag vor dem 1. Advent stattfindet, wird, anders als der 9. November, flächendeckend begangen. In vielen Gemeinden wird die Gedenkstunde in der Kirche, auf dem Friedhof oder an den Mahnmalen vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisiert in Kooperation mit den Kirchen und den Gemeindeverwaltungen. Oft sind auch Vertreter der Bundeswehr zugegen und je nach Situation vor Ort ist das Gedenken mehr oder weniger religiös geprägt. Auf Bundesebene findet die Gedenkstunde, die auch im Fernsehen übertragen wird, seit 1999 im Reichstagsgebäude statt (zuvor war der Berliner Dom Veranstaltungsort). Bei den Ansprachen der Politiker und prominenter Gastredner wird nicht nur der Opfer des Zweiten Weltkrieges, sondern inzwischen aller Opfer von Gewaltherrschaft gedacht. Das Programm besteht traditionell aus klassischer Musik und Wortbeiträgen. Im Jahre 2018 bereicherten der Landesjugendchor Schleswig-Holstein und ein Holzbläsernonett der Bundeswehr die Veranstaltung musikalisch. Die Begrüßung übernahm der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Schneiderhan, der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr. Anlässlich des 100. Jahrestags des Kriegsendes von 1918 hielt der französische Staatschef Emmanuel Macron die Gedenkrede. Er lobte zunächst die Deutschen für die vorbildliche Aufarbeitung ihrer Geschichte und betonte 311

die Innigkeit und die Bedeutung der deutsch-französischen Aussöhnung. Er forderte eine europäische Armee und appellierte an die gemeinsame Vorbildfunktion hinsichtlich der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Digitalisierung, Klimawandel und Migration. Schüler aus England, Frankreich und Deutschland stellten ihr Gedenkprojekt „Gefallene Fußballer des Ersten Weltkrieges“ vor. Das Totengedenken sprach der Bundespräsident, der üblicherweise Schirmherr der Veranstaltung ist. Nach einer Gedenkminute spielten auf ihrer Trompete nacheinander ein französischer, ein englischer und ein deutscher Militärmusiker das „Totensignal“. Zum Abschluss erklangen die Europahymne und die Nationalhymne.

Abbildung 95 Anlässlich "75 Jahre Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge brachte die Deutsche Bundespost 1994 eine 100-Pfennig-Sonderbriefmarke heraus. Das „Totengedenken“ vom 18. November 2018, gesprochen vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier:264 264

Zum Volkstrauertag am 18. November 2018. Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten, hg. vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel 2018, S. 9.

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Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten. Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren. Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und wir teilen ihren Schmerz. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

Vor der Gedenkfeier im Deutschen Bundestag nahmen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron mit Vertretern der Verfassungsorgane Bundestag (Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth), Bundesrat (Bundesratspräsident Daniel Günther), Bundesregierung (Bundeskanzlerin Angela Merkel) und Bundesverfassungsgericht (Präsident Andreas Voßkuhle) an der Kranzniederlegung in der Neuen Wache 313

in Berlin teil. Die nach historischem Vorbild renovierte Neue Wache dient seit dem Volkstrauertag 1993 als zentrale Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Deutschland. Wie kaum ein anderer Ort vereint dieses Gebäude die so wechselvolle Geschichte Deutschlands: Einst preußische Königswache, dann Gedächtnisstätte der Weimarer Republik, nationalsozialistisches Ehrenmal, schließlich Mahnmal der DDR und nun Gedenkstätte der Bundesrepublik.

Abbildung 96 Die „Neue Wache“ in Berlin, ein geschichtsträchtiger Ort unterschiedlichster Gedenkfeiern, hier eine Aufnahme von 1936. 314

Abbildung 97 Im Inneren der „Neuen Wache“ befindet sich seit 1993 eine vergrößerte Kopie der Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz; im Boden davor ist der Schriftzug „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ eingelassen. Doch auch die Totenehrung hat sich in den vergangenen Jahren verändert, erweitert. Zunächst wurde hauptsächlich der „Opfer von Krieg und Gewalt“ gedacht: „Der Soldaten, die in den beiden Weltkriegen gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in Gefangenschaft gestorben sind, der Männer, Frauen und Kinder, die durch Kriegshandlungen ihr Leben lassen mussten …, die in Folge des Krieges auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus der Heimat und wegen der Teilung Deutschlands und Europas ihr Leben verloren …“265 Dann wurde getrauert „um die Opfer des Terrorismus, der politischen Verfolgung, der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage“, inzwischen werden in das Totengedenken auch die Soldaten und Soldatinnen, die im Auslandseinsatz zu Tode kamen, eingeschlossen. Einen verbindlichen Text für die Gedenkfeiern gibt es nicht, die inhaltliche Gestaltung ist dem jeweiligen Redner überlassen. Im Anschluss an die Trauerfeier findet an einem zentralen Ehrenbzw. Mahnmal auf dem Friedhof die Kranzniederlegung statt, dazu erklingt oftmals das Lied „Ich hatt‘ einen Kameraden“, danach die Nationalhymne. 265

Zit. nach: Wir gedenken. Reden zum Volkstrauertag von 1951-1987, o.O., o.J., S. 2.

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Abbildung 98 Kranzniederlegung am Volkstrauertag, hier auf dem Hauptfriedhof Worms, 2018. Waren in den Jahrzehnten nach dem Krieg die übers ganze Land verteilten Veranstaltungen zum Volkstrauertag vor allem von den Angehörigen der Gefallenen und den Überlebenden des Krieges besucht, so nahm die Zuhörerschaft kontinuierlich ab. Die meisten Zeitzeugen sind verstorben oder eine Teilnahme ist ihnen nicht mehr möglich. Anwesend sind in der Regel die Repräsentanten und Mitglieder von Parteien, Verbänden, Vereinen und Religionsgemeinschaften. Erinnert wird in den Reden nach wie vor an die Gräueltaten der Vergangenheit, werden Kriegsschauplätze der Gegenwart benannt und ein gemeinsames Europa in Frieden und Freiheit beschworen. Unter Einbeziehung von Jugendlichen, die rund 60 Jahre nach Kriegsende geboren und die außerhalb von Krieg und Gewalt aufgewachsen sind, werden Gedichte vorgetragen oder Einzelschicksale zitiert und an die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit appelliert. Die Gedenkveranstaltungen gleichen heutzutage einem ökumenischen Gottesdienst, bei dem die örtlichen Pfarrerinnen, Pfarrer oder Priester mitwirken. Durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr gewann der Volkstrauertag zunehmend an Aktualität. Ab November 2006 gedenken der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin auch der deutschen Soldatinnen und Soldaten, die bei Unfällen, Selbstmordanschlägen und Attentaten im Ausland ums Leben 316

kamen. Das ist der große Unterschied zu den Routineveranstaltungen, den mehr oder weniger gut gemeinten „Sonntagsreden“, die jahrzehntelang üblich waren, galt es doch bisher der Opfer weit zurück liegender Kriege zu gedenken, für die keine Bundesregierung die politische Verantwortung zu übernehmen hatte. Diesem verbalen Gedenken folgte im August 2008 die Stiftung des „Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit“ durch Franz Josef Jung, den damaligen Bundesminister der Verteidigung. Diese erstmals im Juli 2009 verliehene Auszeichnung gilt als höchste Stufe des Ehrenzeichens der Bundeswehr und wird nur bei „außergewöhnlich tapferen Taten“ verliehen. Ebenfalls im Jahre 2009 wurde das „Ehrenmal der Bundeswehr“ eingeweiht, sichtbares Zeichen des „Gefallenengedenkens“. Es steht im „Bendlerblock“, dem Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin und besteht aus einem monumentalen, dennoch schlichten Stahlbetonquader (32 Meter lang, acht Meter breit, zehn Meter hoch).266 Umgeben ist dieses Bauwerk von einer durchbrochenen Bronzehülle, deren Struktur an die im Todesfall halbierten Erkennungsmarken der Soldaten erinnern soll. Die Widmung lautet „Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden, Recht und Freiheit“. Im „Raum der Stille“ werden für jeweils fünf Sekunden die Namen der im Dienst umgekommenen Bundeswehr-Angehörigen an die Wand projiziert. Erinnert wird also nicht nur an diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die bei Auslandseinsätzen verstarben (bislang rund hundert Menschen), sondern um die bislang annähernd 3.200 Soldaten und Zivilbeschäftigten, die seit Gründung der Bundeswehr in Ausübung ihres Dienstes zu Tode kamen. Mit dieser Art des flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Gedenkens soll eine „Heldenverehrung“ vermieden und die Vergänglichkeit des Lebens betont werden. 267 Dies ist der große Unterschied zu den in Stein oder auf Tafeln gemeißelten Namen der Gefallenen der Kriege, die den Anspruch eines dauerhaften, „ewigen“ Gedenkens erheben. Das Denkmal selbst aber stellt im Ansatz zumindest eine neue 266

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Zu Kriegerdenkmälern s.: Jörg Koch: Von Helden und Opfern. Kulturgeschichte des deutschen Kriegsgedenkens, Darmstadt 2013. Ulrike Gramann, Gedenken für die Zukunft. Das Kriegerdenkmal der Bundeswehr im Berliner Bendlerblock, in: Jan Korte/Gerd Wiegel (Hg.): Sichtbare Zeichen. Die neue deutsche Geschichtspolitik – von der Tätergeschichte zur Opfererinnerung. Köln 2009, S. 64-84.

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Hinwendung zum herkömmlichen militärischen Gefallenenkult in Deutschland dar, auch wenn die hier Geehrten nicht als „Opfer von Krieg“ bezeichnet werden dürfen. Das gilt erst recht für die im Auslandseinsatz gefallenen Soldaten, schließlich haben sie sich in Zeiten einer Berufsarmee freiwillig gemeldet. Die neue Gedenkpraxis bedarf auch neuer Begriffe. So sprach bei einer Trauerfeier für zwei in Afghanistan getötete Soldaten im Oktober 2008 Verteidigungsminister Franz Josef Jung erstmals von „Gefallenen“, dabei vermied er jedoch, die kriegerische Auseinandersetzung als „Krieg“ zu bezeichnen („Ich verneige mich in Dankbarkeit und Anerkennung vor den Toten, die für unser Land im Einsatz für den Frieden gefallen sind.“).268

Abbildung 99 Straßensammlung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge ein paar Tage vor dem Volkstrauertag. Hier Schülerinnen und Schüler des Karolinen-Gymnasiums in der Fußgängerzone von Frankenthal/Pfalz, November 2018.

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FAZ, 25.10.2008.

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Heute ist der Volkstrauertag ein weithin akzeptierter und in der Bevölkerung verankerter Gedenktag, auf den durch die Straßensammlungen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, meist von Soldaten oder Schülern durchgeführt, Anfang November eines jeden Jahres regelmäßig hingewiesen wird. Allerdings haben die finanzielle und ideelle Unterstützung des Volksbundes und die Teilnahme an den Veranstaltungen zum Volkstrauertag kontinuierlich abgenommen, seit die Gruppe der Angehörigen der Kriegsopfer zunehmend ausstirbt. Der Volkstrauertag ist ein deutschlandweit staatlich geschützter Gedenktag, wobei er gemäß der einzelnen Landesgesetze „über den Schutz der Sonn- und Feiertage“ („Feiertagsgesetze“) unterschiedlichen Regelungen unterworfen ist. An diesem „stillen Feiertag“ herrschte in Bayern bis Oktober 2012 ein ganztägiges Tanzverbot (seitdem ab 2 Uhr), in den meisten Ländern besteht dies von 4 bis 24 Uhr, in Hamburg dagegen endet ein solches Verbot bereits um 15 Uhr, in Bremen um 17 Uhr und in Nordrhein-Westfalen um 18 Uhr. „Öffentliche sportliche oder turnerische Veranstaltungen“ dagegen sind in der Regel ab 13 Uhr erlaubt, dies gilt ebenso für Volksfeste, Zirkusveranstaltungen und den Betrieb von Freizeitanlagen. Die öffentlichen Gebäude sind am Volkstrauertag halbmast beflaggt. Bei den Gedenkfeiern des Bundestags sprachen in den vergangenen Jahren oftmals Politiker wie Johannes Rau, Wolfgang Thierse, Friedrich Schorlemmer, Norbert Lammert, Angela Merkel, Peter Struck, Jean-Claude Juncker, Horst Köhler und 2018 Emmanuel Macron. Nur einmal, 1995, übernahm mit Michael Wolffsohn ein Historiker die Gedenkrede.

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Abbildung 100 Am 18. November 2018 hielt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Reichstagsgebäude die Gedenkrede zum Volkstrauertag.

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Fazit und Ausblick Abgesehen vom 1. Mai, dessen Feieranlass im späten 19. Jahrhundert liegt und der als Gedenktag eine hundertjährige Tradition und damit vier verschiedene Regierungssysteme erlebt und überlebt hat, geht der Nationalfeiertag des wiedervereinigten Deutschlands auf ein eher willkürliches Datum, auf einen Verwaltungsakt zurück. Der 3. Oktober wurde als Feiertag „zurecht gemacht“, ein Ereignis von emotionaler Tragweite steckt kaum dahinter, auch wenn er Jahr für Jahr an wechselnden Orten als Sinnbild der deutschen Einheit zelebriert wird. Anders verhält es sich mit dem 9. November; er ist der deutsche Gedenktag. Die Bilder vom Mauerfall 1989 haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingeprägt. Doch die Ambivalenz des Tages, die Ereignisse der Pogromnacht, so die Bedenkenträger, verbieten den Tag zu feiern. Als Gedenktag jedoch ist er geradezu einmalig, spiegelt sein Datum die facettenreiche Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert konzentriert wider – und ausgerechnet dieser Tag ist kein „Beflaggungstag“! Da hätte sich doch weiterhin der „Tag der Deutschen Einheit“, der 17. Juni, angeboten. Nach 1990 nicht als „nationaler Gedenktag“, sondern wahrlich als Feiertag, denn erfüllt hatte sich nun, wofür 1953 Menschen in der DDR auf die Straße gegangen waren und ihr Leben geopfert hatten: die Einheit beider Teilstaaten war auf friedlichem Wege geglückt. Diesen Feiertag abgeschafft bzw. ihn zu einem „normalen“, aber inhaltsleeren Gedenktag degradiert zu haben, war eine Fehlentscheidung. Hier sei auch kurz auf den 13. August hingewiesen. Alljährlich erinnert die Bundesregierung an diesem Tag an den Bau der Berliner Mauer von 1961. An der zentralen Mauergedenkstätte in Berlin gedenkt sie mit Kranzniederlegungen und Ansprachen der mindestens 140 Männer und Frauen, die auf der Flucht von Ost- nach West-Berlin ihr Leben verloren.269 Doch dieses Gedenken ist auf die Hauptstadt beschränkt, außerhalb der Stadt wird der 13. August kaum als Gedenktag wahrgenommen.

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FAZ, 14.8.2018.

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Abbildung 101 In vielen Orten gibt es, neben den Kriegerdenkmälern auf den Friedhöfen, feste Orte des Gedenkens, der Ansprachen und Kranzniederlegung, hier das bereits 1950 errichtete „Mahnmal für die Opfer des Faschismus“ in Worms. Es ist bemerkenswert, dass mit zunehmendem zeitlichen Abstand die offiziellen Gedenkveranstaltungen, die der Zeit „vor 45“ gelten, zugenommen haben und das, obwohl kaum noch Zeitzeugen dieser Epoche leben. Damit fehlen die direkten emotionalen Bindungen an die Vergangenheit unter dem Hakenkreuz, den Nachlebenden ist das Geschehen, an das erinnert wird, nur aus „zweiter Hand“ bekannt. Auch sieben Jahrzehnte nach Kriegsende beziehen sich noch heute fünf Gedenktag auf die Zeit des Nationalsozialismus: der 27. Januar, der 8. Mai, der 20. Juni und 20. Juli sowie der 9. November. Damit 322

gehört das Gedenken an die NS-Zeit zur Identität der deutschen Nation. Nimmt man den Volkstrauertag, der, wie der 1. Mai, auf eine hundertjährige Tradition und damit auf mehrere Regierungssysteme zurückblicken kann, hinzu, sind diese Tage mit Schuld und Mahnen verbunden. Vergleichbar ist das Ritual des Gedenkens, das im fünfjährigen, mindestens zehnjährigen Rhythmus in größerem Rahmen stattfindet: eine Feierstunde mit offiziellen Ansprachen, Kranzniederlegungen, Musik, Beflaggung. Damit repräsentieren diese im Jahresablauf besonders hervorgehobenen Tage den Staat, sie sind Teil der Erinnerungskultur unseres Landes und sie stellen eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar, genau wie Denkmäler. Sie sollten identitätsstiftend wirken. Doch erfüllen sie diese Funktion wirklich, erst recht, da sich viele Gedenktage auf den Nationalsozialismus beziehen und damit negativ besetzt sind? Der Staatsakt an den jeweiligen Gedenk- und Feiertagen findet in aller Regel in einem kleinen Kreis statt, es versammeln sich die Vertreter der Verfassungsorgane. Dabei sind es immer die gleichen Redner, die die gleichen Schlagworte von sich geben, oftmals pointiert zusammengefasst in Floskeln wie „Nie wieder“ oder „Gegen das Vergessen“. Die Masse der Bürger aber wird mit solch meist gedankenlosen Ritualen kaum erreicht. Die wenigen Teilnehmer solcher Veranstaltungen auf kommunaler Ebene nehmen zwar das formale Zeremoniell hin, doch eine innere Anteilnahme ist kaum zu spüren, zumal die überlebenden NS-Opfer, die jahrzehntelang die Gedenkveranstaltungen aktiv und passiv geprägt haben, verstorben sind. Anders als im Kaiserreich und im Dritten Reich gibt es heute keine personenbezogenen Feiertage mehr, auch soll kein patriotisches Untertanenbewusstsein erzeugt werden. Erinnert wird vielmehr an Ereignisse der deutschen Geschichte, die von besonderer Bedeutung und die noch heute für die Gegenwart relevant sind. Somit sind Gedenktage zugleich „Denktage“ und „Denkmäler der Zeit“, die zum Innehalten auffordern und fragen: Was ist damals geschehen? Wie kam es dazu? Welche Folgen brachten die Ereignisse für die Gegenwart mit sich? Was können wir schließlich aus der Geschichte lernen? Bei aller kontroversen Betrachtung sollten die Gedenk- und Feiertage, an denen der Staat sichtbar wird, eine integrative Funktion haben, ohne allerdings politisch vereinnahmt zu werden. Noch ist fraglich, wie die Zukunft des Erinnerns aussehen soll angesichts entfallender Zeitzeugen. Eine direkte Befragung von Zeitzeugen wird bald nicht mehr möglich sein. Ob Ausstellungen, 323

die konkrete Einzelfälle dokumentieren, ein angemessener Ersatz sein können, wird sich zeigen. Je konkreter und anschaulicher eine Biografie ist, desto größer ist die Empathie, das hat bislang den Erfolg von „Anne Franks Tagebuch“ ausgemacht. Je abstrakter Denkmäler sind – etwa das 2005 eröffnete Holocaust-Mahnmal in Berlin -, desto schwieriger gestaltet sich der Umgang mit Geschichte. Einzelne Gedenkstätten wie die Konzentrationslager der Nationalsozialisten oder die Gefängnisse der Stasi als authentische Orte des Schreckens sind dagegen viel griffiger und (für die „Nachgeborenen“) nachhaltig „erlebbar“, kombiniert mit individuellen Schicksalen. Bei Denkmälern, Gedenk- und Feiertagen darf es jedenfalls nicht zu einem Gewöhnungseffekt kommen. In unserem säkularen Staat wäre es angemessen, nur staatliche Feiertage zu begehen, immerhin gehören inzwischen rund 45% der Bevölkerung keiner Konfession mehr an. Vielen Bürgern ist der ursprüngliche Gehalt der christlichen Feiertage nicht bewusst, diese Tage werden lediglich als zusätzliche freie Tage wahrgenommen. Zumindest gehörten die „doppelten“ Feiertage (Ostermontag, Pfingstmontag, zweiter Weihnachtsfeiertag) abgeschafft, die ohnehin eine deutsche Eigenart und ein Relikt der Reformationszeit sind (damals, im Zuge der Streichung zahlreicher Heiligenfeste wurden diese zusätzlichen Feiertage erst eingeführt). Sinnvoll wäre zudem eine bundeseinheitliche Feiertagsregelung, dann entfiele die oftmals als ungerecht empfundene derzeitige Verteilung der Feiertage. So hat Bayern (ohne den schulfreien Buß- und Bettag und dem in Augsburg freien „Friedensfest“, aber einschließlich des in den Gemeinden mit überwiegend katholischer Bevölkerung freien Feiertags „Mariä Himmelfahrt“) 13 gesetzliche Feiertage, die nicht grundsätzlich auf einen Sonntag fallen (Oster- und Pfingstsonntag), Länder wie Bremen, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern haben 10 dieser freien Tage. Vielmehr könnte ein neuer nationaler Feiertag erlassen werden, der für die freiheitliche und demokratische Tradition unseres Landes steht: der 18. März. Abgesehen von der Ausrufung der Mainzer Republik am 18. März 1793 steht der 18. März 1848 symbolhaft für das Demokratiebestreben: die Barrikadenkämpfer in Berlin forderten mit schwarz-rot-gelben Fahnen die Einheit und Freiheit Deutschlands (Märzrevolution). Und am 18. März 1990 fanden in der noch existierenden DDR die ersten freien Wahlen zur Volkskammer statt. Ganz bewusst wurde dann am 18. März 2012 Joachim Gauck von der 324

Bundesversammlung zum elften Bundespräsidenten gewählt. Sinnvoll wäre es gewesen, hätte sich dieser Tag als Wahltag des Bundespräsidenten etabliert.270 Eine Aufwertung jedenfalls, wie es die 1978 als Bürgerinitiative gegründete „Aktion 18. März“ beabsichtigt, hätte dieser Tag verdient. Schon die Unterstützer der ersten Stunde, zu denen Heinrich Albertz, der Regierende Bürgermeister von Berlin, und die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz gehört hatten, forderten, den 18. März zum gesetzlichen Feiertag zu machen. Immerhin erreichte das Aktionsbündnis im Juni 2000 die offizielle Umbenennung des „Platzes vor dem Brandenburger Tor“ in Berlin-Mitte in „Platz des 18. März“, auch gehört in der Hauptstadt der 18. März zu den Beflaggungstagen. Zudem hielt Michael Müller, der Regierende Bürgermeister, zum 18. März 2018 eine Ansprache auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain. Die Idee eines neuen nationalen Feiertags erhält parteiübergreifende Zustimmung, so auch von Wolfgang Thierse (SPD), Joachim Zeller (CDU), Hermann Otto Solms (FDP) oder Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und Petra Pau (Die Linke). Volker Schröder, der Sprecher der „Aktion 18. März“, kritisierte, die derzeitigen Gedenktage bezögen sich zu sehr auf Ereignisse des Nationalsozialismus und der DDR-Diktatur, ein „bürgerlicher Revolutionstag“ könne dem entgegenstehen: „Für mich ist die deutsche Seele durch die Nazi-Zeit so beschädigt worden, dass sie geheilt werden muss. Es wäre gut, wenn wir sie durch das Besinnen auf unsere demokratischen Traditionen heilen würden.“271

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Gaucks Nachfolger, Frank-Walter Steinmeier, wurde am 12. Februar 2017 von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt. Sein Amt trat er am 19. März an, seine Vereidigung vor dem Bundestag fand am 22. März 2017 statt. FAZ, 14.5.2018.

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Abbildung 102 Auf Vollmast weht die Deutsche Flagge, etwa am „Tag der Deutschen Einheit“, wie hier am 3. Oktober 2018 in Weinheim/Bergstraße.

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Bundeseinheitliche Gedenk- und Feiertage (Beflaggungstage) im Überblick: 27. Januar: „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ (halbmast) 1. Mai: „Tag der Arbeit“/„Tag des Friedens und der Völkerverständigung“ 9. Mai: „Europatag“ 23. Mai: „Tag der Verkündung des Grundgesetzes“ 17. Juni: „Gedenktag an den Aufstand des 17. Juni“ 20. Juni: „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ 20. Juli: „Jahrestag des Aufstands gegen Unrecht und Tyrannei des Nationalsozialismus“ (halbmast) 3. Oktober: „Tag der Deutschen Einheit“ 2. Sonntag vor Advent: „Volkstrauertag“ (halbmast) Geflaggt wird ebenfalls an Tagen, an denen allgemeine Wahlen (Wahlen zum Europäischen Parlament, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen) stattfinden und aus besonderem Anlass (Staatstrauer); zudem flaggen die einzelnen Bundesländer an ihrem Verfassungstag (z.B. in Rheinland-Pfalz am 18. Mai, in Bayern am 1. Dezember).

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Bildnachweis Bernd Braun: Abb. 1, 92, 94, 97, 98 Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz: Abb. 3 Informationen zur politischen Bildung: Weimarer Republik Nr. 261, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 4. Quartal 1998: Abb. 33 Haus der Geschichte Bonn: Abb. 75, 78, 79, 81, 88 (Aufnahmen Jörg Koch) Barbara Salzwedel: Abb. 100 Stadtarchiv Worms: Abb. 58 (JRO_3676_29) Thorsten Neufeldt: Abb. 14, 15, 71, 101, 102 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Abb. 32 übrige Bilder: Archiv Jörg Koch

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