Schrift, Bild, Handlung 9783787342433, 9783787342426

Dieses Buch versammelt Beiträge zu einer Ästhetik der Schriftbildakte. Seine pointierten Essays widmen sich – an Beispie

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Schrift, Bild, Handlung
 9783787342433, 9783787342426

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Schrift Bild Handlung Dirk Westerkamp

Meiner

Dirk Westerkamp

Schrift, Bild, Handlung

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4242-6 ISBN eBook 978-3-7873-4243-3

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 SCHRIF TBILDAK TE

Begriff, Probleme, Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 MEDE AS AUGENBLICK

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 DEO GR ACIAS

Daseinsdank als Schriftbildrätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 AMBIGE OBJEK TE

Die Unerschöpflichkeit des Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 SCHRIF TBILDAK TIVISMUS

Typen, Thesen, Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Vorbemerkung

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ieses Buch versammelt Beiträge zu einer Ästhetik der Schriftbildakte. Sie beziehen sich sowohl auf eine bereits eingeführte Bildakttheorie als auch auf neuere Studien zur Schriftbildlichkeit.1 Im Unterschied zu diesen Ansätzen formulieren die folgenden Überlegungen weder eine »Diagrammatologie« noch eine »Philosophie des Graphismus«.2 Der Anspruch der vorliegenden Essays ist bescheidener. Absicht ist eine kleine Ästhetik der Scripicturalia. Verbunden sind sie in ihrem bildpragmatischen Ansatz, philosophisch eingebettet in einen kritischen Pragmatismus. Dieser bildpragmatische Ansatz nimmt eine doppelte Perspektive ein, insofern der stärker deduktive Zug der Theoriebildung mit dem eher deskriptiven Gestus konkreter Phänomenbeschreibung vermittelt wird. Auch dieser bildpragmatische Ansatz will nicht behaupten, dass Schriftbilder von sich her handeln. Eine schlechthin subjektlose Verselbständigung intentionalen Handelns ist keinem Artefakt möglich. Evident ist aber, dass wir mit ihnen, durch sie und an ihnen Handlungen ausführen. Das scheint trivial, wird aber philosophisch gehaltvoll durch die Einsicht, dass unsere Intentionen nicht einfach nur die Schriftbilder beherrschen, sondern diese auch auf jene zurückwirken. Sie erzeugen neue Absichten, Motive und Entschlüsse in den durch sie Handelnden selbst. So tritt neben der ursprünglichen und der abgeleiteten Intentionalität auch eine Form reflexiver Intentionalität hervor. Thematisiert werden drei Arten möglicher Handlungsbezüge von Bild und Schrift. Schriftbildakte können  – repräsentativ  –

Vgl. Horst Bredekamp, Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung 2015, Berlin 2015; Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und ­Rainer Trotzke (Hrsg.), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Ope­rativität von Notationen, Berlin 2012. 2 Manfred Sommer, Stift, Blatt und Kant. Philosophie des Graphismus, Berlin 2020; Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016. 1

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Handlung mitteilen, berichten, erzählen; sie können – evokativ – Handlungen auslösen, anmahnen, herausfordern; und sie können – performativ – selbst Produkt, Wirkung, Ausführung einer Handlung sein. Die Essays folgen diesem systematischen Aufriss, vernachlässigen aber die stets geschichtlichen Kontexte ihrer Phänomene nicht. Nach dem programmatischen Einleitungsessay wid­men sich die Studien in ihren jeweiligen Schwerpunkten der repräsentativen, der evokativen und der performativen Schriftbildhandlung. Deren Handlungstypen werden allerdings nicht isoliert betrachtet. Veranschaulicht sind die ihnen zugrundeliegenden drei Handlungsaspekte an einem antiken, einem mittelalterlichen und einem modernen Beispiel; schließlich auch an den unter­schied­ lichen Materialformen ihrer Bildträger: Tafelbild, Skulptur, Fresko, Plastik. Der ebenfalls programmatische Schlussessay bündelt die handlungstheoretischen Überlegungen und diskutiert mögliche Typologien von Scripicturalia. Auch in den hermeneutischen Zirkel von konkretem Gegenstand und allgemeiner Theorie muss man letztlich springen. Das gilt insbesondere für einen bildpragmatischen Ansatz wie den hier gewählten. Entsprechend deuten die Studien, im engen Anschluss an die Phänomene, über ihre Vereinzelung hinaus auf eine allgemeinere, materiale Ästhetik.

8 | Vorbemerkung 

SCHRIF TBILDAKTE

Begriff, Probleme, Beispiele

1. Schriftlesen und Bildsehen Schriftakte sind Bestandteile des Vertragsrechts. Sie verschaffen Dokumenten Gültigkeit: durch schriftliche Anweisung, durch briefliche Einwilligung, durch wechselseitige Unterschrift der Beteiligten. Die damit verbundene Geltung des Vereinbarten schafft nicht nur eine bestimmte Tatsache, sondern setzt auch eine bestimmte Norm: Die niedergelegten Bestimmungen sollen eingehalten, ihren Vorgaben soll Folge geleistet werden. Im Rückgriff auf die klassische Typologie der Sprechakte könnte man von einer Mischform aus kommissivem und deklarativem Schriftakt sprechen. Doch sind Schriftakte nicht nur auf juridische Formen beschränkt; auch Post-its mit Anweisungen, E-Mails mit Appellen, Briefe mit Erklärungen sind Schriftakte, die entweder (repräsentativ, deskriptiv, deklarativ) von Handlungen berichten oder (evokativ, expressiv, appellativ) zum Handeln bewegen oder (performativ) selbst Handlungen sind. Anders als Sprechakte im engeren Sinn sind Schriftakte nicht akustisch, sondern visuell präsent. Sie sind grundsätzlich lesbar; und zwar selbst dort, wo Text oder Unterschrift unleserlich sein mögen. Schriftakte erfüllen die zentralen Voraussetzungen von Skripturalität:1 Sie funktionieren auch unter Bedingung der Abwesenheit der Schreibhandelnden und über deren Existenz hinaus; sie bleiben auch nach dem Verschwinden von Sender und Empfänger lesbar; sie haben eine unhintergehbar optisch-sinnliche Präsenz; die Zweidimensionalität ihrer Schriftfläche erlaubt einen synoptischen und daher flexiblen Zugriff auf die versammelten Zeichen; Schriftakte sind identifizierbar, iterierbar und kopierbar; sie lassen sich dekontextualisieren, anderswo wiedereinfügen, zuweilen Vgl. Dirk Westerkamp, Sachen und Sätze, Hamburg 2014, 109–113.

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in ihrer Notation auch operationalisieren; Schriftakte sind differenziert (und daher von anderen unterscheidbar) und disjunkt, insofern sich ihre Räumlichkeit noch einmal spatial in sich selbst unterscheidet; sie sind konventionell, d. h. folgen den Regeln der symbolischen Ordnung, innerhalb derer sie erscheinen (etwa der Logik, des Rechts o. ä.); sie sind reflexiv bzw. metaskripturell in dem Sinne, dass sie sich qua Schrift auf anderes Schriftliches oder Schriftbildliches (etwa auf Tabellen oder ein Periodensystem) beziehen können. Schon aufgrund ihrer zweidimensionalen Flächigkeit besitzen Schriftakte allerdings auch ein ikonisches Moment, einen Zug nicht bloß des schriftsprachlichen Sagens, sondern auch des bildlichen Zeigens. Schriftakte sind keine Bilder im engeren Sinne, doch in unseren Lektürepraktiken zeigen sich Ähnlichkeiten zum ›Einlesen‹ von Bildern: Wir versuchen uns an bestimmten Zeichen zu orientieren, den Sinn unmittelbar zu erfassen, die Blick- und Leserichtung zu bestimmen. Anders als bei Bildern oder Bildakten haben die Zeichen, im Unterschied zu Farben, Figuren oder Figurationen, keinen vergleichbar starken autosemantischen Sinn. Während in Bildern – jedenfalls solchen der Kunst – das Gezeigte weitgehend um seiner selbst willen da ist, sind die meisten Schriftakte um ihrer deskriptiven, evokativen oder performativen Funktionshandlung willen da. Um ihrer selbst und der entsprechenden Handlung willen da zu sein, ist allerdings ein wesentliches Moment auch von Bild­a kten. Horst Bredekamp unterscheidet zwischen schematischen, substi­tu­ tiven und intrinsischen Bildhandlungen. Die Bildakttheorie strebt eine »Philosophie der Erfahrung autonomer und gleichsam pseudo­ lebendiger Formen« an, die das Subjekt »seiner zentralen Stellung der Welterschließung«2 entrücken will. Subjektdezentrierung soll sich durch die Latenz der Bildobjekte gleichsam von selbst ergeben. Anders nun als beim Schriftlesen scheint beim Bildsehen dem Anblick der Sinn regelrecht zuzufallen. Damit jedoch verhält es sich dort wesentlich komplizierter, wo auch Bilder ›gelesen‹ werden wollen, weil die Deutung immer schon in den Bildanblick miteingehen Horst Bredekamp, Der Bildakt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Neu­ fassung 2015, Berlin 2015, 10. 2

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muss. Das gilt für ungegenständliche Kunst ebenso sehr wie für gegenständliche. Es scheint, als würden die maßgeblichen Charakteristika des Bildsehens zwar nicht aufs Textlesen, wohl aber auf den Anblick von Schriftbildern zutreffen. Im Bildanblick sehen wir stets das Bildsein des Bildes mit. Die immer schon mitgesetzte »ikonische Differenz« fällt in das Verhältnis von Bild und Bildanblick.3 Zugleich ist der Phänomensinn des Sehens-von-etwas als ein Sehen-in-etwas auch ein Sehen-als:4 In Vermeers Mädchen mit dem Weinglas (ca. 1662) können wir im schlichten Sehen von Interieur und Personen zugleich die Charakterzüge der Maßhaltung (temperantia) erblicken und die gesamte Darstellung wiederum als einen Höhepunkt niederländischer Malerei oder als Ausdruck eines bestimmten Genres, Zeitgeistes, technischen Könnens begreifen. Folgt man Mitchells Typologie der Familienähnlichkeiten von Bildern, 5 dann würden Schriftbildakte wohl in eine Mischkategorie von grafischen (Gemälde, Zeichnungen, Pläne etc.) und sprachlichen Bildern gehören. Ihr kategoriales Pendel kann nach der einen oder anderen Seite ausschlagen – wie die folgenden Beispiele zeigen werden. Dort, wo Schriftbildakte ihre eigene Sprachlichkeit suspendieren, sind sie eher grafische Bilder und betonen ihre Ikonizität; dort, wo sie ihre Bildlichkeit stärker in die Schrift aufheben, sind sie Schriftbilder und betonen ihr skripturales Moment. Aufgrund der unhintergehbaren Metaphorizität natürlicher Sprachen dürfte auch vielen Schriftbildern ein (wie auch immer ausgeprägter) sprachbildlicher Gehalt zukommen. Genauer zu fragen ist erstens nach dem Handlungscharakter der Schriftbildakte und ihrer möglichen systematischen Parallelität zu Bildakten (2.); zweitens nach der spezifischen Zeitlichkeit dieser Handlungen und dem Verhältnis von Bild und Bildzeit (3.); drit Vgl. Gottfried Boehm, Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), 170–178; Dieter Mersch, Blick und Entzug. Zur Logik ikonischer Strukturen, in: Figur und Figuration, hrsg. von Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter und Achatz von Müller, München 2006, 55–69. 4 Vgl. Richard Wollheim, Art and its Objects, Cambridge/New York 21980, 205–226; ich verwende das »Sehen-als« indes in einem anderen Sinn als Wollheim. 5 Vgl. W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, hrsg. von Gustav Frank, Berlin 2018, 15–77, 20. 3

Begriff, Probleme, Beispiele | 11

tens (anhand von Beispielen) nach der unterschiedlichen Zeit- und Handlungsdimension dessen, was man temporale Schriftbildakte nennen könnte (4.–7.); viertens schließlich nach einer Art Typologie von Schriftbildhandlungen, die einigermaßen zwanglos ihren jeweiligen Handlungsaspekten entspringt (8.). 2. Schriftakte, Bildakte, Schriftbildakte Schriftbildakte sind mehr als die Summe der zentralen Charakteristika von Schriftakten und Bildakten. Als deren Synthesis entwickeln sie neue und andere Eigenschaften. Entsprechend schließen Schriftbildakte einige Wesenseigenschaften von Schriftakten und Bildakten zugleich aus  – wenngleich als eingeschlossene. Einfacher gesagt: Schriftbildakte oszillieren zwischen Bild und Schrift, zwischen Lesen und Nichtlesen, zwischen Sagen und Zeigen. Robert Barrys, Jörg Immendorffs, Ferdinand Kriwets oder Astrid Kleins Schriftbildakte zwingen zu einem Lesen, dessen Gelingen sie zugleich verweigern; oder zu einem Bildsehen, das misslingt, weil erkannt wird, dass es sich nicht um ›reine‹ Bilder handelt. Ein Moment ihrer Handlung besteht folglich darin, Lese-, Entzifferungs- und Dechiffrierhandlungen zu stören, Lesen ins Bildsehen umschlagen oder Sehen-in ins Sehen-von kippen zu lassen. Entsprechend gehören Schriftbildakte zu einer bestimmten Art von Diagrammatica. Sie changieren zwischen dem Ikonischen und dem Skripturalen, zwischen Zeug und Kunstding, zwischen Werk und Gebrauchsgegenstand; manche von ihnen oszillieren zwischen Kunst und – ein neuerer Trend – »künstlerischer Forschung«. Zuletzt schweben Schriftbildhandlungen zwischen Handeln und Nichthandeln. Dort, wo sie deskriptiv von Handlungen berichten, zumal von vergangenen, sind sie evidenterweise nicht diese Handlungen selbst, möglicherweise aber deren einziger Textzeuge und damit die einzig verbliebene Gestalt der bezeugten Handlung selbst. Dort, wo sie appellativ zu einer Handlung veranlassen, können sie selbst nicht zum Ausführenden dieser Handlung werden. Dort schließlich, wo sie performativ Handlung sind (oder zumindest Bewegung anzeigen)  – etwa im elektrischen Flackern von Schriftzeichen –, sind sie doch als Artefakte nicht selbst der Grund 12 | Schriftbildakte 

ihrer Handlungsäußerung. In jedem Handlungsmoment verbirgt sich demnach irgendein Moment von Nichthandlung, in jedem Bestimmen auch ein Bestimmenlassen. 6 Den Handlungsaspekt der Bildakte hat Horst Bredekamp vor allem in der »Wechselwirkung«7 von Bild und ­Bildbetrachterin aufgesucht, genauer: in der Relation zwischen Bildobjekt und Bild­anblick. Diese Relation wandelt sich notwendig gemäß den Handlungsweisen, die den Bildakt bestimmen. Bei schematischen Bildakten gelingt dies durch die Verwandlung zum Bild geformter Körper: Automaten, tableaux vivants, Körperschemata. Ihre bewegten Verkörperungen simulieren Verlebendigung. 8 Das kann auch die »transgene Kunst« der Biofakte einschließen, deren Bildhandlung etwa darin besteht, im Bild, und zwar als Bild, zu verrotten (Wolf Vostell,9 Eduardo Kac10 u. a.). Bei substitutiven Bildakten ist es der Austausch von Bild und Körper, der das Bild statt des Körpers handeln lässt oder zum Objekt von Handlungen macht – man denke an die durch rituelle Waschungen ruinierte Sancta-SanctorumIkone.11 Beim intrinsischen Bildakt ist es die Kraft des Blicks, die das Bild dem Bildanblick gleichsam entgegenwirft, um die Handlung in der Einbildungskraft des Betrachters wirksam werden zu lassen. Die Wirklichkeit der Handlung des intrinsischen Bildakts bestünde dann in der Wirksamkeit auf einen sie erschließenden Geist. Auch der intrinsische Bildakt changiert zwischen grafischem und geistigem Bild. Von Anbeginn hat die Bildakttheorie dem Verdacht des Animismus, der Bildmagie, der ›Simulacreitivität‹ begegnen müssen, um die Rede von der Latenz des Objekts nicht mit der Behauptung seines Eigenlebens zu verwechseln. Eine Theorie der Schriftbildakte setzt sich weniger Einwänden aus, weil Schriftbildhand Vgl. Martin Seel, Sich bestimmenlassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002. 7 Bredekamp, Der Bildakt, 60. 8 Vgl. ebd., 112. 9 Vgl. Klaus Gereon Beuckers, dé-coll/age und Poesie. Bemerkungen zu Wolf Vostell, in: dé-coll/age als Manifest, Manifest als dé-coll/age, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Klaus Gereon Beuckers, München 2014, 221–235. 10 Vgl. Bredekamp, Der Bildakt, 171. 11 Vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 78. 6

Begriff, Probleme, Beispiele | 13

lungen durch die klare Betonung ihrer skripturalen Produziertheit jeder Mythologisierung überhoben sind. Das heißt indes nicht, dass nicht auch Schriftbildakte etwas objektiv Ergreifendes haben, das sich der subjektiven Intention (vor allem auch der ihrer hervorbringenden Ursache: der Künstlerin, des Künstlers) entzieht. Doch ist ihre Wirkungsweise durch die Ambiguisierung, Überschreitung oder Selbstaufhebung von Schrift eindeutig motiviert. Das trifft auf deskriptive, expressive und performative Schriftakte gleichermaßen zu. Für künstlerische Schriftbildakte gilt, dass in ihnen diese drei Handlungsebenen tendenziell zusammenfallen  – wie etwa in den performativen Schriftbildwidersprüchen von Magrittes Ceci n’est pas une pipe (1964), Jörg Immendorffs Hört auf zu malen (1966), Joseph Beuys’ Ich trete aus der Kunst aus (1968). Handlungen haben ein dreifaches Verhältnis zur Zeit: einmal zur linearen Zeit der relational in ›früher-als‹ oder ›später-als‹ geordneten Handlungsereignisse (Lagezeit); sodann zur modalen Zeit, die eine Handlung in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft situiert (Modalzeit); schließlich zu derjenigen Zeitdimension, die einer Handlung Dauer oder Nichtdauer zuspricht (Kontinualzeit). Wo sie Handlungen sind, dort unterhalten auch Schriftbildakte ein Zeitverhältnis. Hinzu kommt eine zweite Trias von Relationen. Sie betreffen die Bildzeit selbst, die sich wiederum als Bildbetrachtungszeit, Bildinhaltszeit und Bildentstehungszeit unterscheiden lässt. Temporale Schriftbildakte sind, wie die Beispiele im Folgenden zeigen werden, näher solche, die einen oder gar alle drei Zeitaspekte selbst zur Darstellung bringen. Anders gesagt: Sie erheben ihre eigene Temporalität zum Bildsujet. Die Weisen dieses Selbstbezugs sind so verschieden wie die Werke, in denen sie sich ereignen. Es gibt keine vorgefertigten Verfahren des Zusammenfallenlassens von Bildzeitmodi. Dennoch könnte man insgesamt von Chronotechniken sprechen, von Verfahren, die die Betrachtungszeit mit der Bildinhaltszeit oder diese mit der Bildentstehungszeit zusammenblenden. In Hiroshi Sugimotos Sea Scapes (2013) etwa wird die stundenlange Belichtungszeit zum Moment der Bildhandlung selbst; ihr Tun offenbart sich in der sedimentierten Belichtungszeit. In Eugène Leroys Atelierstudien (1994), um ein anderes Beispiel zu geben, werden Momente des 14 | Schriftbildakte 

Tageslichts übermalt: die Farbschichten sind Zeitsedimente. Insofern sie verschiedene Momente zu einem Zeitpunkt komponieren, der ein »prägnanter Moment« ist, werden diese Chronotechniken auch zu Kairotechniken. Dann konstruieren sie jeweils Augenblicke, die es realiter, als solche, nicht gab. 3. Bildzeit und Bildanblick: Zum systematischen Ort der Schriftbildakte Die Verhältnisse der Bildzeit sind nicht nur zueinander, sondern auch ins Verhältnis zu den Relationen des Bildanblicks und des Bildobjekts zu setzen. Bilder sind nicht bloß sinnlich-signifikative Gegenstände,12 sondern Relationen ikonischer Relationen. Sie sind ebenso sinnlich-aisthetisch wie geistig gestiftete Beziehungen zwischen Bildanblick, Bildobjekt und Bildzeit. Der Bildanblick richtet sich auf Gestalt, Inhalt und Gehalt des Bildes (1. Relation). Das am Bildträger erscheinende Bildobjekt ist die Vergegenwärtigung von etwas (was auch immer dies sein mag) (2. Relation). Dessen räumlich-flächige Vergegenwärtigung wiederum unterhält als Betrachtungszeit, Bildinhaltszeit und Bildentstehungszeit nicht nur ein Verhältnis zum Raum, sondern eben auch zur Zeit (3. Relation). In den Verhältnissen dieses triadischen Bildrelationsmodells spiegeln sich nicht nur die drei zentralen Begriffsverhältnisse der Sache selbst, sondern auch unterschiedliche, gleichwohl aufeinander beziehbare Zugangsweisen der Bildwissenschaft: Ikonologie, Bildphänomenologie und Ikonik (vgl. Tafel 1). (1)  Für die Relation des Bildanblicks lässt sich auf die Terminologie Panofskys zurückgreifen.13 »Phänomensinn« meint die intuitive Wahrnehmung von Formen, Linien und Farben natürlicher oder künstlicher Objekte. Unser Phänomensinn nimmt die Dinge wahr, wie sie sich von sich her zu zeigen scheinen. Im Unterschied zur vor-ikonologischen Betrachtung des Phänomensinns kann aber erst die ikonographische Analyse auch Sujets identifizieren. Zur Kritik der ›physical-object hypothesis‹: Wollheim, Art and its Objects, 11–34. 13 Vgl. Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, Köln 2006, 33–34; ­Meaning in the Visual Arts, London 1970, 52–53. 12

Begriff, Probleme, Beispiele | 15

Dann ordnen wir Gegenstände stilgeschichtlich ein, ermitteln ihren »Bedeutungssinn«. Allerdings muss sich der Sinn des Betrachteten in dieser forma­ len und stilgeschichtlichen Analyse noch nicht erschöpfen. Zumal es für uns unerschöpfliche Gegenstände geben mag. Im Unterschied zum Inhalt geht der Gehalt des Bildes deshalb auf den »Wesenssinn« des Dargestellten – man könnte mit Benjamin vielleicht sagen: auf seinen Wahrheitsgehalt. Dieser erschließt sich nicht schon der stilgeschichtlichen, sondern erst der philosophischen Analyse. Dann – es hilft nichts – müssen wir interpretieren. Interpretieren aber lässt sich nur, was nicht eindeutig ist; was sich also auch anders deuten ließe. Hier etwa wäre auch der Ort einer Bestimmung, ob und wenn ja, aus welchen Gründen etwas ein Kunstwerk zu sein beanspruchen kann. Im Bildblick schießen phänomenale, ikonographische und ikonologische Sichtweisen zur philosophischen Betrachtung zusammen. (2)  Zur dreifachen Relation des Bildblicks tritt ein zweites tria­ disches Verhältnis. Dessen Bildrelation richtet sich nicht auf das ­Sehen, sondern auf das Sichtbare: die Bilderscheinung, das Gemalte, den Bildgegenstand. Im Anschluss an die phänomeno­ logische Tradition können Bilder als Einheit von Bilderscheinung, Bildsujet und Bildträger verstanden werden.14 Der Bildträger gibt die materielle Grundlage (Holz, Leinwand, Farbe; das Darstellende), durch welche allererst etwas in Erscheinung treten kann (die Darstellung), welches dann einen Gegenstand, das Bildsujet (das Dargestellte) vergegenwärtigt. Der Bildträger ermöglicht in seiner Materialität eine räumliche Gegenwart des Dings als Bildfläche.15 In der modernen Kunst drängt der materielle Träger oftmals von sich her in die Bilderscheinung. Dann lässt sich – etwa an Rahmungen, Brüchen oder Schnitten  – das Bildsein des Bildes mitsehen (»ikonische Differenz«); zuweilen ereignet sich in moderner Kunst das tendenzielle Verschwinden des Bildsujets in seiner materialen Objektivierung (»Ungegenständlichkeit«, »Gegenstandslosigkeit«). Vgl. Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005; vgl. auch Mitchells Differenz von picture und image in: Bildtheorie, 15–77. 15 Zu deren Genese vgl. Manfred Sommer, Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur, Berlin 2016; zur Flächigkeit: 449–475. 14

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(3)  Eine dritte Bildrelationsebene wird durch die Zeitmodi gestiftet, die für alles artifiziell Gegenwärtige charakteristisch sind. Ihre Bildzeit lässt sich dreifach unterscheiden. Als Bildbetrachtungszeit richtet sie sich auf die Zeit, die benötigt wird, um das Bild angemessen ›einzulesen‹. Bestimmt ist diese Betrachtungszeit als lineare »Lagezeit«16: im Früher-als, Später-als oder Zugleichsein der Bild- und Leseeindrücke.17 Der zweite Modus betrifft nicht die erzählende, sondern die erzählte Zeit des Bildes. Ihr galt Lessings Interesse im Laokoon, der für die bildenden Künste die ikonische Prägnanz der Szene forderte. Insofern die Bildkünste präsentisch darstellen, muss ihr Inhalt, mag er auch von großen Zeiträumen erzählen und viel Handlung enthalten, in die Gegenwart eines Augenblicks gefasst und dem Bildblick uno intuitu ansichtig werden. Diese Bildhandlungszeit korrespondiert der Modalzeit, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet, aber als primäre Zeiterfahrung die Gegenwart des Jetzt hat. Die zeitliche Verdichtung im Bild, ihre »Geschehensdichte«18 , vereint mit den zeitlichen Modi auch Modi der dargestellten Handlung: Man glaubt sehen zu können, was, wieviel und »wann« etwas geschieht. Solche Handlungsdichte wird in ungegenständlichen Kunstwerken möglicherweise verschoben, aber nicht einfach suspendiert, sondern kommt in ihrer Strukturdichte zum Ausdruck. Der dritte Modus ist die Bildentstehungszeit. Sie meint zum einen schlicht die Zeit, die das Hervorbringen des Bilds verbraucht (bei Fotografien etwa auch die Belichtungszeit) und an dem Kunstwerk selbst (etwa als Schichten oder Brüche) sichtbar wird; es meint zugleich die  – in einem weiten Sinne  – historische Zeit, der das Bild angehört. Diese Kontinualzeit (auch des Diskontinuierlichen) wird als relative Dauer begriffen. Im Ganzen ergibt sich aus der

Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 1965/1981, 153–157. 17 Zur Unterscheidung von modaler und linearer Zeit (d. h. die A- und BReihe in John Ellis McTaggarts The Nature of Existence, Cambridge 1927) vgl. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt/M. 1972. 18 Max Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Was ist ein Bild ?, hg. von Gottfried Boehm, München 2006, 300–324, 309. 16

Begriff, Probleme, Beispiele | 17

Wechselwirkung der genannten Relationen das folgende, triadische Bildmodell (Tafel 1): Wesenssinn

Phänomensinn

he risc ng ele eru spi r enzi e Diff

ans ch Ver auen we de ilen s

Bildanblick Bedeutungssinn

Bildbetrachtungszeit

Darstellung

Bildzeit

Bild­darstellung Dargestelltes

Bildentstehungszeit

Darstellendes

Bildinhaltszeit

Tafel 1: Das triadische Bildrelationsmodell 19

4. Temporale Schriftbildakte Diesem Modell zufolge sind Bilder nicht bloß materielle Artefakte, keine magischen Akte, auch keine präsentiven Signifikanten, sondern mehrstellige Relationen von Bildanblick, Bilddarstellung und Bildzeit. Das anschauende Verweilen, als ein bestimmter Modus des sich Zurücknehmens aus der Zeit in der Hinwendung auf die Zeitlichkeit von Bildwerken selbst, hat seinen systematischen Ort in dem Verhältnis von Bildanblick und Bildzeit (Tafel 1). Als Zeitmodus des ›Zwischen‹ geht die Weile des Verweilens weder in der metrischen Lage- noch in der situativen Modalzeit auf. Als erfüllte Zeit ist sie vielmehr abhängig von einer uns irgendwie auffallenden »Dehnung oder Streckung«20 . Vgl. Dirk Westerkamp, Das schweigende Tier, Hamburg 2020, 79. Schmitz, System der Philosophie I, 154.

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Im anschauenden Verweilen sind Bildanblick und Bildzeit aufeinander bezogen. Indem wir uns in den Anblick einer Sache versenken, scheinen wir der Zeit entrückt. Im Verweilen verschränkt sich die Zeit in sich selbst; sie konzentriert, kontrahiert, konkretisiert sich. Im Verweilen geht uns intuitiv etwas auf, weil wir uns, unabgelenkt, auf dieses Etwas sammeln. Dabei mag die Betrachtungszeit Minuten betragen, fühlt sich aber an wie ein Augenblick. Quantitative Lagezeit und relationale Modalzeit schießen zum qualitativen Moment zusammen. Das Verweilen wird weitgehend von der Kontinualzeit regiert. In spielerischer Differenzierung wiederum beziehen sich Bildanblick und Bilddarstellung aufeinander. Differenziert ist dieser Blick, weil er in Etwas zugleich etwas Bestimmtes, aber etwas bestimmtes Anderes nicht sieht. Spielerisch ist diese Differenzierung, weil sie mühelos zwischen den Einstellungen wechseln, mit ihnen spielen kann. In dem Etwas als Etwas-Anderes-Sehen spielerischer Differenzierung stecken die Vermögen der Imagination und der Negation. Um zu prüfen, um welches Sujet es sich handelt, können wir uns beim Anblick einer Judith mit dem Haupt des Holofernes eine Salomé mit dem Haupt des Täufers hinzuimaginieren, um zu entscheiden, was der Fall sein könnte. Ähnliches gilt für Schriftbildakte. Die Zahl 0 könnte auch als Buchstabe O gelesen werden, eine Ziffern- oder Buchstabenreihe als Bild. Meist sehen wir auf den ersten Blick, ob ein schriftliches Dokument ein Formular, eine Urkunde oder eine Betriebsanleitung sein soll. Zugleich sind viele dieser Textdokumente Schriftakte mit abgeleiteter Intentionalität. Waschzettel oder Einkaufslisten verfolgen selbstverständlich keine intrinsischen Absichten. Wohl aber können sie eine abgeleitete, d. h. von Urhebern auf das Dokument übertragene Intentionen aufweisen. Die abgeleitete Intention des Einkaufszettels wäre dann etwa der Auftrag, die vermerkten Produkte zu besorgen; die abgeleitete Intentionalität einer Arbeits­ losen­statistik könnte den Appell einschließen, Maßnahmen gegen Massenarbeitslosigkeit zu ergreifen. Schriftbildakte haben ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit. Manche bezeugen sogar die Dauer, von der sie selber handeln. Die Sig­ na­tur unter einem Vertrag muss zwar nicht so lange überdauern wie die Gültigkeit des Vertrages währen soll. Die erzählende Begriff, Probleme, Beispiele | 19

Handlungszeit ist nicht unbedingt der erzählten Handlungszeit des Schriftaktes gleich. Von einem Vertrag lassen sich jederzeit Kopien oder Abschriften anfertigen. Doch das Beispiel zeigt, dass die Unterschrift, vielleicht der Schriftbildakt par excellence, dem Dokument eine Zeitdauer verleiht, die die Gültigkeit des Dokumentierten sichert. In solchen Schriftbildakten beziehen sich Zeit, Schrift, Bild und Handlungsintention unmittelbar aufeinander. Von den zahlreichen Schriftbildhandlungen, die einen Zeitbezug haben, lässt sich eine Gruppe unterscheiden, die in Schrift und Bild selber Figurationen von Zeit zum Gegenstand machen. Man könnte sie die Gruppe der temporalen Schriftbildakte nennen. Die folgenden Beispiele für temporale Schriftbildakte zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie zum einen Bildbetrachtungszeit und Bild­ inhaltszeit zusammenfallen lassen, zum anderen die Beziehungs­ möglichkeiten von Lage-, Modal- und Kontinualzeit durchspielen. Dieser Zeitbezug stiftet in solchen temporalen Schriftbildakten, die als Kunstwerke gelten oder auftreten, ein eigentümliches Zwischen. Sie bringen ihre Darstellung – sei es als Vexierbild, Sehtext oder Schriftbild  – in eine Schwebe zwischen Lesen und Sehen, zwischen Handeln und Nichthandeln, zwischen Bestimmen und Bestimmenlassen. In ihnen fallen die unterschiedlichen Modi der Bildzeit in eins zusammen. Dies jedoch so, dass genau deren Unterschiede anschaulich werden. Offenbar kommt dieses Zwischen der eigentümlichen, nicht zuletzt zeitlichen Verfassung des Verweilens entgegen. Temporale Schriftbildakte lassen exakt jene Differenzen zwischen Bildhandlungszeit, Bildbetrachtungs- und Bildentstehungszeit verschwimmen, von denen ihre Wirkung abhängt. Sie verschränken die unterschiedlichen Aspekte der Lage- und Modalzeit in die Erfahrung von Dauer und Weile. Solche Techniken des Verschwimmenlassens von Zeitaspekten können ›Chronotechniken‹ genannt werden. Dort, wo sie Handlung oder Struktur auf einen erfahrbaren, aber eben: artifiziell gestalteten Augenblick verdichten (im Sinne eines kairós), lässt sich auch von ›Kairotechniken‹ sprechen. Wenn Kunstwerke zuweilen auf ihre eigene Medialität referieren, so reflektieren sie in der genannten Weise auch ihre eigene Zeitlichkeit. Es gibt Kunstwerke, die die Reichweite und Grenzen ihrer vier Grundmedien selbst thematisieren: Bild, Ton, Wort und 20 | Schriftbildakte 

Zahl.21 Für die Subsysteme der Wort- und der Bildkünste sind dies die unterschiedlichen Modi des Sagens und des Zeigens. Von ihrem Wechselspiel zehren Schriftbildhandlungen. Sagen und Zeigen sind in ihnen ebenso unhintergehbar wie nicht aufeinander reduzierbar. In Schriftbildakten mögen sie sich zuweilen über- oder gar durchkreuzen. Bemerkt wird ihre Differenz als Differenz insbesondere an Kunstwerken, die die Demarkationslinien zwischen dem Sagen und dem Zeigen bewusst verletzen – wie etwa in dem ersten der folgenden Beispiele. 5. Schriftbildchiasmus: René Magritte Schriftbildakte entlehnen den Bildern das Präsentische des Zeigens, der Schrift aber die Negativität des Sagens. Deshalb können Schriftbilder expliziter negieren. Bildern steht die Durchstreichung, Tilgung oder Übermalung als Mittel der Verneinung durchaus offen; doch bleibt in der Streichung das so Verneinte stets mitpräsent, folglich unbestimmt. Bilder können sich deshalb offenbar schlecht selbst dementieren.22 Schriftbilder hingegen zeigen das Negierende, welches auf ein zuvor noch nicht Negiertes folgt, gerade nicht im lagezeitlichen Nacheinander, sondern in ihrem Zugleichsein. René Magritte hat diese Überschreibung des Bildes und des Zeigens durch das Sagen ironisch den »Verrat der Bilder« genannt und in seinem berühmten Pfeifenbild inszeniert (Abb. 1). Die Ironie kommt in der Unentschiedenheit zwischen genetivus subjectivus und genitivus objectivus zum Ausdruck, die dem Schweben des Bildes zwischen Bild und Text selbst angemessen ist. Sind »des images« Subjekt (genitivus subjectivus) so sind sie die Verräterinnen – aber wen verraten sie  ? Offenbar niemand anderen als sich selbst, insofern das Pfeifenbild in der Form des Bildes sich selbst hintertreibt, weil es nicht nur Bildliches, sondern auch Sprachliches und Schriftliches zeigt. Das Bild würde dann den Modus des Zeigens – als das Wesen des Ikonischen – verraten, indem es auch den sagenden Text – als das Wesen des Diskursiven – in sich aufnimmt. Im Vgl. Dieter Mersch, Kunst und Medium, Kiel 2002, 131–253. Vgl. ebd., 186.

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Abb. 1: René Magritte, La trahision des images (1928/29), 60 × 81 cm, Los Angeles County Museum of Art. © bpk Bildagentur.

Falle des genitivus objectivus wären die Bilder nur (unschuldiges) Objekt des Verrats (nicht auch schon Subjekt ihres eigenen Selbstverrats) und würden durch ihre Ergänzung durch Schrift betrogen. Das jedoch werden sie immer schon, denn in der Regel haben selbst die abstraktesten Kunstwerke einen (wenn auch möglicherweise irreführenden) Titel und kommen ohne die Diskursivität des Sagens nicht aus. Ihr Titel kann nicht selbst ein Bild sein. Wittgenstein hat dies zu der These geführt, Bilder könnten »nicht hinstellen, was nicht der Fall ist«23. Entsprechend kann kein Bild präsentieren, »dass es kein Bild ist«24 . Auch Magritte benötigt den Satz, um das Gezeigte unterlaufen und die Aporie, die es inszeniert, ausdrücken zu können. Worin besteht nun näher die Aporie des Bildes ? Sie ist in zwei Richtungen zu analysieren. (1) Natürlich zeigt das Bild keine Pfeife, sondern nur das Bild einer Pfeife. Damit wird auf ein entscheidendes Moment des Ikonischen gegenüber dem Diskursiven hingewiesen: Bildern fehlt etwas; aber nicht aus Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 520, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, 438. 24 Mersch, Blick und Entzug, 66. 23

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Mangel, sondern aus Prinzip. Das Bild einer Pfeife ist nicht nur keine Pfeife, sondern es zeigt auch »das Abgebildete immer nur parziell«25; wir sehen z. B. die andere Seite der Pfeife nicht, sie ›fehlt‹ dem Bild. Bilder von Gegenständen zumindest können nicht ganz dem Paradigma der Ähnlichkeit, Mimesis, Abbildung entraten. Das ist bei dem Wort »Pfeife« anders. Weil es nichts abbildet, fehlt ihm auch nichts. Das Wort »Pfeife« ist vollständig (und auch der Satz, in dem es steht), seine Intension deckt sich mit der Extension (und es könnten auch Wasserpfeifen, Trillerpfeifen, Orgelpfeifen etc. darunter fallen). Magrittes Bild der Pfeife hat zur Extension nur diejenigen Pfeifen, die so aussehen wie die abgebildete. Nach dieser ersten Perspektive wäre der Satz im Bild »richtig«. (2) In der zweiten Perspektive wäre er »falsch«. Denn natürlich sehen wir eine Pfeife; warum sollte es keine sein ? Emmanuel Alloa erinnert daran, nicht nur auf die Negation des Satzes zu sehen, die für sich interessant genug ist, weil Ipsoflexivitäten in der Negation Widersprüche produzieren. Denn sie zehren genau von diesem ipse, der Deixis. Das ist der Grund, warum der Satz »Ein Satz ist falsch« oder gar »Der folgende Satz ist falsch« kein Problem sind, wohl aber »Dieser Satz ist falsch«. Performative Selbstwidersprüche hängen nicht nur an der Negation (wie der Imperativ »Sei spontan« zeigt), sondern an dem durch Deixis hergestellten Bezug auf eine Situation oder auf genau diesen Gegenstand. Deiktika schränken den Sinn einer Aussage auf Bestimmtes ein. Was aber ist hier dieses Bestimmte ? Wiederum zwei Möglichkeiten: (a) Der Satz bezieht sich auf die Pfeifendarstellung als das Bestimmte. Dann bezöge sich das Indexikalium und Demonstrativpronomen »dies« auf die abgebildete Pfeife und würde so den Gegensatz von Satz und Bild im Bild hervorbringen. Oder (b): Der Satz bezieht sich auf sich selbst. Dann wäre er wiederum »wahr«, denn der Satz »Dies ist keine Pfeife« ist tatsächlich keine Pfeife; nicht einmal das Wort »Pfeife« selbst ist eine Pfeife. Geht es hier zweifellos um eine Unterscheidung und Beziehung von Sagen und Zeigen, so nähert sich offensichtlich das Sagen (also der Satz) durch das Deiktikum selbst schon dem Modus des Zeigens an. Alloa argumentiert, dass bei Magritte das übliche Verhältnis von Transparenz Emmanuel Alloa, Das durchscheinende Bild, Zürich 2011, 278.

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Begriff, Probleme, Beispiele | 23

und Opazität aus den Fugen gerät, welches gemeinhin durch die Bildunterschrift vereindeutigt wird, »indem es einerseits semiotisch definiert, wovon das Bild ein Bild ist, und andererseits topologisch bestimmt, an welchem Ort das Bild materiell sich befindet«26 . Unklar bleiben soll, wovon es ein Bild ist und worin es sich unterscheidet. An dieser plausiblen Deutung bleibt allerdings die Zuordnung des Satzes der Bildinschrift zum Titel fragwürdig. Dieser lautet La trahision des images und taucht – wie in der Regel bei Gemälden – nicht im Bild selbst, sondern in seiner diskursiven Beischrift auf. Magrittes Schriftakt aber ist nicht Klärung, sondern selbst Teil der Ambiguität seines Schriftbildakts. Die Inschrift ist nicht selbst der Titel, sondern gehört zum Dargestellten und zur Darstellung des Bildes selbst – so wie die Pfeife auch. Damit lässt das Bild zugleich seinen eigenen geschichtlichen Ort in der Moderne sehen. Wir können von modernen Kunstwerken nicht mehr einfach sagen, wovon sie handeln. Und diese Einsicht äußert Magritte im Bild selbst. Es zeigt ein zentrales Motiv der klassischen Moderne: die Auflösung strenger Gattungsgrenzen, die Verwirrung eindeutigen Sinnverstehens, den Zug zum Diagrammatischen. Als ästhetisches Beispiel ist Magrittes Schriftbild heute einigermaßen verschlissen; es bleibt aber so etwas wie die Urszene des Schriftbildakts. Denn in reflexiver Intentionalität handelt das Bild tatsächlich. Es verrät das Bild an die Schrift geradeso wie die Schrift ans Bild. 6. Sehtexte: Ferdinand Kriwet »Wir leben inmitten von Schrift. […] Wir leben in einer Welt von Zeichen – darauf wollte ich hinweisen, mehr nicht.«27 Früh schon hat Ferdinand Kriwet die ästhetische, soziale und politische Verfassung moderner Schriftkulturen reflektiert – ihre »gemeinschaftsbildende Kraft« ebenso wie ihre »kontrollierende« Funktion.28 Schrift ist allgegenwärtig, nur selten noch eröffnet sich ein Außer Ebd., 280. So Ferdinand Kriwet in der Dokumentation »Mediawakening«. 28 Ferdinand Kriwet: COM.MIX. Die Welt der Bild- und Zeichensprache. Communication mixture/mixtum compositum, Köln 1972 (unpag.), Abschnitt I. 26 27

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halb des Textes. Zeitgleich mit der Philosophie der différance hat Kriwet Einsicht nicht nur in den Informations-, sondern auch in den Handlungscharakter der Schrift gewonnen: Schrift stört, manipuliert, beirrt. Dass die Welt für uns grundsätzlich lesbar sein muss, um in ihr zurechtzukommen, bedeutet nicht, dass sie für uns auch immer leserlich wäre. Deshalb schlägt die weltorientierende Funktion der Schrift in Kriwets Werk stets um in ihre erratische Präsenz. Aus dem performativen Gehalt der Skripturalität in all ihren Variationen – von der Knotenschrift über die Bilderschrift hin zur Alphabetschrift – gewinnt Kriwet seit den frühen 1960er Jahren die spezifische Form jener »Sehtexte«, Rundscheiben und »Lesebögen«, die ein genus mixtum von Bild und Text erzeugen (noch vor wenigen Jahren hat er den Faden dieser frühen Mixed-media-Kunst mit dem Photokopiewerk »Transskript« wieder aufgenommen). Ähnlich der zeitgenössischen op-Art nutzen die frühen Sehtextrundscheiben verschiedene wahrnehmungspsychologische Effekte, um eigentümliche Wechselwirkungen zwischen Sehen und Lesen, Lesbarkeit und Unleserlichkeit, Aktivität und Passivität zu erzeugen. Es ist eine eigentümlich aktive Passivität, die der Rezeptionsmodus der Sehtexte und Schriftbilder fordert. Sie sind, ganz im Geist der Zeit, Performanz, Initiative, Aktion. Zeitgleich mit Derrida hat Kriwet in den 1960er Jahren tiefe Einsicht in die ursprüngliche Skripturalität unseres modernen Weltzugangs gewonnen. In dem Maße jedoch, wie diese Schriftlichkeit und Lesbarkeit der Welt allgegenwärtig wird, es kaum noch ein Außerhalb der Schrift gibt, in dem Maße schwindet indes auch die Möglichkeit des Verweilens in ihr. Die Schrift, schreibt Kriwet in den leserattenanfaengen (1965), rücke uns »auch physisch direkt zu Leibe (wer hätte sich nicht einmal hinter einer Litfasssäule versteckt). Der Leser versenkt sich heute nicht mehr in den Text, er tritt vor ihn hin, er geht an ihm vorbei oder er lehnt sich an ihn, ohne ihn zu lesen.«29 Anders als Magrittes oder Beuys’ Schriftbilder sind Kriwets drehbare Textscheiben und Leuchtschriftwände temporale Schriftbildakte, die in der Regel keine Malerei und in der Regel auch nicht Ferdinand Kriwet, leserattenanfaenge, Köln 1965.

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lesbar sind. Ihre Schrift erlaubt meist keine oder keine eindeutige, oft nicht einmal zweideutige Semantisierung. Kriwets »Text-BildHybride«30 ziehen eine ambivalente Konsequenz aus dem Chiasmus von Bild und Schrift, von Sammlung und Zerstreuung. Zuletzt bilden sie jene allgegenwärtige Zerstreuung ab, die der Grund allen Unverweilens ist. Muster informationsverarbeitender Flüchtigkeit ist für Kriwet die Zeitungslektüre, die »verschiedene Wahrnehmungsprozesse innerhalb kürzester Zeit«31 vollbringt. Kriwets Sehtexte greifen das Moment des Quer- und Diagonallesens zwar auf, aber so, dass es sich der raschen Sinnentschlüsselung zugleich entzieht. Seine Textkreise und beschrifteten Rundscheiben bringen Sichtbarkeit und Lesbarkeit in einen Zwischenzustand, um durch inszenierte Kollisionen von Sehen und Lesen Nischen eines anschauenden Verweilens zu öffnen. Mit Kant könnte man sagen: Sie richten sich ein in jener Grenze zwischen reiner Anschauung (Intuition) und Verstand (Reflexion) und bringen die Einbildungskraft ins Schweben. In der Rundscheibe Nr. XIII (1963, Abb. 2) wird die Sichtbarkeit der Wörter und Wortfetzen zwar erhöht, doch zu Lasten ihrer Lesbarkeit. Andere werden in Durchschuss und Schriftgrad herabgesetzt, um Quadratraster entstehen zu lassen, die eine optische, aber keine semantische Ordnungsfunktion erfüllen. Dieser Auflösung von Semantisierbarkeit korrespondiert die Auflösung der Wörter in ihre Buchstaben, ihre tendenzielle Unleserlichkeit. Alphabetschriftliche Wortsysteme sind für gewöhnlich disjunkt und distinkt: Zwischen den Buchstaben ›s‹ und ›t‹ fehlt kein dritter Buchstabe, es gibt keine Buchstabenübergänge (Disjunktivität); und es gibt 6- und 7-buchstabige Wörter (oder gar 1000-buchstabige), aber keine 6,5-Buchstabenwörter (Distinktivität), kein ›Zwischen‹ inmitten der distinkten Einheiten. Die Manipulation der Buchstaben in Kriwets Rundscheibe Nr. XIII löst sowohl die Distinktivität der Buchstaben auf als auch tendenziell ihre Disjunktivität – etwa durch Beschneidung, Einfall oder Überschreibung von Wörtern. Brigitte Weingart, »Sehtextkommentar«: Schriftbilder, Bilderschriften (Kriwet), in: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, hrsg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart, Berlin 2014, 519–554, 519. 31 Zit. nach ebd., 524. 30

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Abb. 2: Ferdinand Kriwet, Rundscheibe XIII, wen labal new (1963), Köln: DuMont Schauberg 1970, 60 × 60 cm. © Nachlass Ferdinand Kriwet.

Alles an Rundscheibe Nr. XIII strebt nach einem ›Zwischen‹. Sie oszilliert, dreht, pendelt zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit, Wort und Halbwort, Wort und Bild, Sehen und Lesen, Intuition und Reflexion. Angeregt wird eine Sinnsuche, die – zuletzt vergeblich  – nach vollständigen Sätzen, passenden Wörtern oder optischen Mustern fahndet. Diese Irre ist nicht subjektiv, sondern objektiv: Es gäbe niemanden, der ihr entginge. Rundscheibe Nr. XIII suspendiert die bestimmende Urteilskraft zugunsten einer reflektierenden. Brigitte Weingart macht darauf aufmerksam, dass sich Kriwets Verfahren »bestens in die Tradition des wissenschaftlichen Kommentierens«32 einfüge. Zu denken wäre wohl weniger an »wissenschaftliche« denn an jene schriftbildlichen Kommentarstrategien, zu denen das reale Sprechen aufgrund seiner Sukzessivität Ebd., 527; vgl. dort auch die eingehende Interpretation von Rundscheibe Nr. XIII. 32

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niemals fähig wäre: an die Spalten und Kommentarquadratfelder der Talmud-Editionen etwa (oder auch an Derridas Glas), an das Verhältnis von Haupttext und Anmerkung, das nur im Schriftbild erscheinen, aber niemals gesprochen werden kann. Diese Lektürestrategien verdanken sich Überlagerungen oder Juxtapositionen, mithin diagrammatischen Simultaneisierungsstrategien, die jede Linearität und Sukzessivität der gesprochenen Sprache übersteigen. Konsequenterweise hat Kriwet ab den späten 1960er Jahren auch zu Gestaltungsformen gefunden, die horizontale Sukzessivität in die Vertikalität von Schichten oder Sedimenten bringen. Dazu war allerdings auch in andere Trägermedien überzugehen, etwa vom opaken Papier oder von der Leinwand zum transparenten Glas. In der Lichtbox Rotor (ca. 1970), die eine rotierbare Sehtextscheibe einschließt, werden auf das im Unterschied zur opaken Bildleinwand von sich her transparente Plexiglasmaterial beidseitig Worte oder Wortfetzen aufgeprägt. Es sind Palimpseste von Sinnschichten, die zugleich Zeitschichten sind. An ihnen bricht sich der Leseblick, weil entweder die Wörter oder ihr Zusammenhang keinen Sinn ergeben – oder weil sie schlicht nicht zu entziffern sind. Die Transparenz des Bildträgers bedingt gerade die Opazität des Textsinns. Der Bildanblick prallt gleichsam ab; unsere Bildbetrachtungszeit wird vom Lesen aufs Sehen zurückgeworfen; im reinen Anschauen kann der Blick jedoch auch nicht bleiben, weil er stets wieder zum Lesenwollen verführt wird. So wird die Bildbetrachtungszeit – die Zeit, die wir zum ›Einlesen‹ des Bildes benötigen – zur Bildinhaltszeit selbst. Nur in dem Versagen einer befriedigenden semantischen Sinnentschlüsselung kann der Bildanblick möglicherweise noch in ein Verweilen am Ineinanderumschlagen von Lesen und Sehen kommen. Ähnliches widerfährt dem Bildanblick mit der Betrachtung der Leuchtschriftwand (1984) im Kunstmuseum Gelsenkirchen. Verstärkt durch Spiegelungen innerhalb der gläsernen Struktur verwischen die Neonröhren einen Wortbildtext, der – ohne Anfang und Ende, ohne erkennbare Syntax – kaum diskriminierbare Wortfolgen präsentiert. Der Leseblick wird, nach Sinn suchend, von der einen Zeile des Wortbandes zur nächsten getrieben. In die erkennbaren alltagssprachlichen Wörter »Kunst«, »Medium« usw. mischt sich das lateinische »Movens« und deutet auf die Bewegung der Entzifferung selbst. Die Zeilen lauten: 28 | Schriftbildakte 

MUSEUMEDIUMEDIUMUSEUM VARIANTEMOVENSPIELICHT SCHOCKULTURZEITHEMA MUTECHNIKUNSTRAUMWELT

Auch hier verlangsamt sich die Bildbetrachtungszeit in einem Maße, dass uns darüber Sehen, Lesen und Wortsinn vergehen – so wie wir den Sinn eines Wortes verlieren, wenn wir es hundertmal hintereinander aufsagen. Die gezeigten Worte selbst aber, in ihrer Überlappung hintereinander gelesen, referieren auf Ort und Situation der Installation: Museum, Medium, Technik, Kunst etc. – zuletzt auf die Zeit selbst. 7. Schriftbilder: Astrid Klein Während Kriwet die Linearität der Schrift zwar suspendiert, ihr aber noch den Grundzug der Sukzessivität lässt – und damit das Moment linearer Zeit: des Früher und Später, des Erst und des ­Danach –, verschiebt Astrid Klein zum einen das lagezeitliche ­Früher und Später in ein Zugleichsein und überführt zum anderen die Sukzessivität der Schrift in ihre optische Simultaneität. Dies kann – wie in Leap into the Void (1999) – durch Überlagerung der Schriftebenen gelingen (Abb. 3). Das Palimpsest dieser Schichtungen erschwert die Lesbarkeit, stört sie oder macht sie unmöglich. Zugleich kommentiert der Titel des raumgreifenden Formats die Praxis des Entzifferns (und damit das Wesen des Schriftbildaktes) selbst: Die Leserin muss an irgendeiner Stelle in den unübersichtlichen Lesefluss wie in eine »Leere« springen, die zugleich Buchstabenüberfülle ist. In den Rändern dieses Flussbettes (in den les­ baren, aber ungrammatischen Zeilen »as best i could best«) geht die Schrift in den dunkelgrünen Malgrund über, versickert geradezu in ihm. Dieser Bildgrund, der gewollt an die großen monochromen Bildwerke Newmans und Rothkos erinnert, 33 verschluckt die Schrift. Vgl. Dorothea Zwirner, Schriftbilder, in: Astrid Klein, Schriftbilder 1977– 2007, Köln 2007, 1. 33

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Abb. 3: Astrid Klein, Untitled (Leap into the Void) (1999), Acryl, ­A labasterstaub, Quarzkristalle auf Leinwand, 300 × 180 cm. © mit freundlicher Genehmigung durch Astrid Klein und Sprüth Magers 2022.

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Sosehr Leap into the Void auf die »Ikonen der Moderne«34 referieren mag (explizit auf die berühmte Fotomontage Yves Kleins), so sehr indes wird der Bildgrund nicht bloß zum gelehrten Bildzitat, sondern auch zum sicheren Terrain. Denn nur hier, im Bildgrund, sind wir vor der Unsicherheit, Unbestimmtheit und Unleserlichkeit des Textes sicher. Nur hier ist das Zeigen eindeutig Zeigen und nicht mit der Zweideutigkeit des Sagens kontaminiert. Während die Schriftpartien als Figur des Bildes im Zwielicht bleiben, retten sich die Bildpartien in den Grund der Ikonizität. Das Ikonische lässt sich nicht lesen, es will und braucht nicht gelesen zu werden. Es enthebt uns des Lesezwangs, es befreit von der Last des Entzifferns und Dechiffrierens, es entlastet von semantischer oder syntaktischer Deutung des Textinhalts. Die Aufhebung des Texts ins Ikonische und damit die Aufhebung der Sukzessivität von Schrift in die Simultaneität des Bildes, schließlich die Aufhebung des Früher- und Späterseins von Buchstabenketten in das Zugleichsein von Farbe ist wohl das eigentliche Sujet dieses Schriftbildes. Zu diesem Zweck verkehrt sich in der »vertikalen Zentralkomposition«35 auch die gewohnte, horizontale Leserichtung. Der Kopf muss sich neigen, um die 90°-Linksdrehung der Schrift zu erfassen. Zugleich wird der Text in seiner Verwobenheit und Überlagerung von Buchstabenschichten tatsächlich Textur: eine Art Gewebe, aus dem keine Buchstabenfäden oder Syntagmen ohne Folgen für die gesamte Matrix herauszulösen wären. Wenn Tiefe durch die Schichtung von Oberflächen entsteht, dann erwecken die Schriftpartien von Leap into the Void nicht nur den Eindruck, sie würden im Bildgrund versanden – so als wäre das Skripturale als Figur ein bloßes Oberflächenphänomen (das Bodenlose), während das Ikonische als Bildgrund zum Boden der skripturalen Tatsachen wird. Es wirkt vielmehr, als würden die Schriftpartien zugleich tiefer in den Grund ragen; als würden sich Schrift und Farbe in einem Vexierbild konfundieren. Der Farbgrund ist keineswegs ein Erstes und die Schriftfiguration nur Zweites. Vielmehr oszi­llieren Figur und Grund, insofern der Grund – Christina Pohl, Zeichen, Sprache, Bilder. Schrift in der Kunst seit 1960, in: Zeichen, Sprache, Bilder – Schrift in der Kunst seit 1960, Städtische Galerie Karlsruhe 2013, 106. 35 Zwirner, Schriftbilder, 21. 34

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insbesondere auf der rechten Hälfte – in die roten Schriftfiguren ebenso übergeht, wie es die Schriftfiguren in den dunkelgrünen Malgrund tun. Wir verweilen dann an der Zeit dieses Oszillierens; wir kontemplieren den Zusammenfall der lagezeitlichen Modi. Das Früher und das Später heben sich in ihr Zugleichsein auf. 8. Kleine Typologie der Schriftbildakte Die angeführten Beispiele künstlerischer Schriftbildakte mögen wertvolles Material für deren Phänomenologie liefern. Eine Theorie der Schriftbildakte wird indes von der materialen Beispielebene auf die systematische Begriffsebene wechseln müssen. Für die entsprechenden begrifflichen Distinktionen, die ihrerseits in eine Art Typologie der Schriftbildakte münden, bietet sich das triadische Bildrelationsmodell an (vgl. Tafel 1). Dieses muss nun, erstens, noch genauer als ein erklärungskräftiges Modell auch für Schriftbildhandlungen bestimmt werden; und es müssen, zweitens, die zentralen Begriffe: Schrift, Bild und Handlung aufeinander bezogen werden. Das triadische Bildrelationsmodell legt eine Typologie nahe, die Schriftbildhandlungen nach ihrer Blickgeste, nach ihrem Zeitverhältnis oder nach ihrer Darstellungsweise klassifiziert. Indem man Anblicksakte, Zeitakte und Darstellungsakte unterscheidet, würde man jeweils einen der drei Aspekte zur Dominante machen, aber nicht schlechthin von den beiden jeweils anderen trennen. Die Komposition der Schriftbildakte aus Schrift-, Bild- und Handlungsaspekt verlangt seinerseits sowohl nach einer genaueren Differenzierung der drei Aspekte als auch nach ihrer sinnvollen Bezugnahme aufeinander. Zunächst lassen sich Schriftbildakte schlicht danach unterscheiden, ob sie eher ihren Schrift- oder ihren Bildcharakter betonen. Man könnte argumentieren, dass Kriwets Rundscheibe XIII zwar ganz Schrift zu sein scheint, aber gänzlich auf deren Lesbarkeit verzichtet. Ihre Schrift ist weitgehend leserlich, aber nicht lesbar im Sinne eindeutigen Sinnverstehens. Wird die Rundscheibe durch diesen Verzicht des Sagens eher zum Bild ? Ist sie eher ein Schriftbildakt oder ein Schriftbildakt ? So unentscheidbar die Frage, so schwierig auch die Bestimmung ihres Handlungsaspekts. Gewiss: 32 | Schriftbildakte 

Kriwets Rundscheiben fordern, appellativ, zum Drehen auf. Sie »wollen« bewegt werden. Diese Intention haben sie evidenterweise aber nicht intrinsisch, sondern in abgeleiteter Intentionalität. 36 Nicht die Schriftbilder selbst handeln, sondern wir handeln mit ihnen, durch sie oder angeregt von ihnen. Handlungen verlangen nach (bewusster oder unbewusster) Urheberschaft, haben in der Regel einen gewissen Vorsatz oder ein bestimmtes Motiv, vollziehen sich in einem faktischen Möglichkeitsspielraum und gründen in ihrer – zumindest nachträglichen – Offenbarkeit, Nachvollziehbarkeit oder Verstehbarkeit. Urheberschaft, Motive und Nachvollziehbarkeit sind nicht auf Individuen beschränkt, sondern gelten auch für kollektive Handlungen. Deren Wir-Intentionalität ist weder ganz ursprünglich noch bloß abgeleitet, sondern zusammengesetzt oder: reflektiert. Die Handelnden verstehen sich dann nicht nur als Ich oder Addition von Ichs, sondern als ein Wir. Ihre Handlungsintentionalität beugt sich in eine überindividuelle Absicht zurück und wird in diesem Sinn reflexiv. Nennt man, dem triadischen Bildmodell gemäß, Anblicksakte solche Schriftbildakte, die das Zeigen über das Sagen, das wahrnehmbare Phänomen über den denkbaren Sinn stellen, dann ließen sich ihnen zum Beispiel Kriwet’sche Rundscheiben, kalligraphische Ornamente oder auch raumbezogene Karten zuordnen. Darstellungsakte können dann solche Schriftbildakte heißen, in denen sich die Bildlichkeit einem kognitiv erfassbaren Sinn unterordnet: Programme, Tabellen, Operativa. Unter Operativa, um nur diese herauszugreifen, können Kalküle, Algorithmen, Schaltkreisdarstellungen, Beweisverfahren und dergleichen verstanden werden (vgl. Tafel 4). Sie lassen sich oft schriftbildlich ›einlesen‹ und mit einem Blick erfassen. Der Kettenschluss: p→q q→r p→r gehört zu solchen Operativa, die bei einem etwas geübten Blick unmittelbar einleuchten. An ihnen kommt zum Tragen, was Kant Zum Verhältnis von »intrinsic« und »derived intentionality« vgl. John R. Searle, Mind. A Brief Introduction, New York/Oxford 2004, 4–5. 36

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reine Anschauung (Intuition) nennt: eine vorbegriffliche Erfassung, die schematisch-bildliche mit kognitiven Leistungen vermittelt. Der Handlungscharakter von Operativa besteht näher darin, einen Beweis zu führen, der in der Konklusion auf den Begriff gebracht wird. Der Schluss mag nicht sein eigener Urheber sein, doch erfüllt er eben jenen Geltungsanspruch, den er selbst erhebt. Zeitakte oder vielleicht besser: temporale Schriftbildakte wiederum bringen an ihnen selbst die Differenzen sowohl zwischen Betrachtungszeit, Handlungszeit und Entstehungszeit als auch zwischen Lage-, Modal- und Kontinualzeit zum Vorschein. Wo sie noch die äußere Form des Tafelbildes gewinnen, stellen sie diese Differenzen als Zeit im Stillstand dar – in gewissem Gegensatz zu schematischen Bildakten. Rotierende Schriftbildrundscheiben wären aufgrund ihrer äußerlich angestoßenen Bewegung zwar näher am schematischen Bildakt, werden aber ganz zum Schriftakt dort, wo erst die Rotation einen lesbaren Sinn zum Vorschein bringt. Bleibt ihr Handlungsaspekt: Was macht Schriftbildakte eigentlich zu Akten ? Offenbar nicht einfach, nicht nur und nicht primär die Intentionen ihrer Urheberinnen. Was Astrid Klein mit Leap Into The Void im Einzelnen beabsichtigt hat, ist für den Gehalt des Werkes nicht entscheidend. Als evokativer Schriftbildakt bringt es uns zu scheiternden Leseversuchen. Das mag ein Motiv der Malerin und Grafikerin sein, würde sich aber auch ohne diese Intention einstellen. Die intrinsische Intentionalität seiner Urheberin kann folglich nicht das Hauptmoment eines Schriftbildaktes sein. Sein Gehalt erschließt sich aber auch nicht nur der Analyse seiner abgeleiteten Intentionalität oder liegt einfach in den Augen der Betrachterin. Die Beliebigkeit dessen, was jemand in etwas sehen mag, ist weder vollkommen irrelevant noch allein entscheidend für die Bedeutung von Schriftbildakten. Es scheint, als schwebe der Gehalt mindestens solcher Schriftbildakte, die sich als Kunstwerke auslegen, zwischen den drei Aspekten der einleitenden Urheberintentionalität, der abgeleiteten Werkintentionalität und der angeleiteten Betrachtungsintentionalität. Der Begriff der Werkintentionalität setzt sich evidenterweise Missverständnissen aus. Nicht gemeint ist, dass das Werk, ein Artefakt, selber etwas ›will‹. Gemeint ist seine objektive, beschreibbare Gestalt und Beschaffenheit, die sich allerdings äußerst ver34 | Schriftbildakte 

schiedenen Perspektiven aussetzt und dennoch einen Wesenskern behält. Man kann darüber streiten, ob Kriwets Rundscheibe ein Kunstwerk ist oder nicht oder ob es eher ein Bild oder eher ein Text sein mag. Nicht zu leugnen ist jedoch, dass wir es eine Rundscheibe nennen und dass es Buchstaben enthält. Welche Intentionalität sie birgt oder welche Wirkung sie entfaltet, mag nicht eindeutig bestimmbar sein, aber eben diese Unbestimmbarkeit ist offensichtlich entscheidend für ihren vermittelten Handlungsaspekt (reflexive Intentionalität). Zu einer reflexiven Handlungsintentionalität kommt es, wenn die abgeleitete auf die ursprüngliche Intentionalität zurückwirkt und sich beide miteinander verwandeln. Anders als bei eindeutigen Schriftakten (etwa juristischen Urteilen) oder interpretationsoffenen Bildakten (einer Ikone etwa) schwebt dieser Handlungsaspekt zwischen Tun und Lassen, zwischen Bestimmen und Bestimmtwerden. Die verschiedenen, hier nur skizzenhaft diskutierten Verhältnisse lassen sich in einem erweiterten Schriftbildrelationsmodell veranschaulichen (Tafel 2): reflexiv

Handlung

n

ion uit Int

abgeleitet

o exi

Lagezeit

ursprünglich

fl Re

(Intentionalität)

Kontinuum/ Moment

Schriftbilder (Scripturalia)

Zeit

Medium Modalzeit Schrift (scriptura)

Bild (pictura)

Tafel 2: Intentionalitätsaspekte von Schriftbildhandlungen Begriff, Probleme, Beispiele | 35

Das rechte untere Begriffsdreieck versammelt die Aspekte des Mediums. Bilder folgen einer Ordnung des Zeigens; sie sind aisthetische Medien.37 Als solche erstrecken sie sich im dreidimensionalen Raum nicht bloß der Anschauung, sondern der Wahrnehmung. Ihre artifizielle Präsenz schließt zugleich das zeitliche Präsens ein: Alles an Bildern ist, wie schon Lessing bemerkt, gegenwärtig. Das verbindet Bilder durchaus mit dem Medium der Schrift, das allerdings ein diskursives Medium ist, dessen Idealtypus im Wort gründet. Schrift lässt sich lesen, sie folgt einer Ordnung distinkter und disjunkter Buchstaben. In unterschiedlichen Leserichtungen kann ihr Sinn erkannt oder ihr Unsinn erfasst werden. Diagrammatica verbinden ikonische und skripturale Elemente; dies in der Regel im Blick auf einen epistemischen Gebrauch: einer Stützung, eines Beweises, einer Veranschaulichung. Der epistemische Gebrauch von Diagrammen betrifft auch die hier angeführten Schriftbildakte. 38 Sie erschöpfen sich aber nicht Vgl. Mersch, Kunst und Medium, 169–253. Die epistemischen Leistungen der Diagrammatica sind inzwischen bestens erforscht: vgl. Jan Wöpking, Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin/Boston 2016. Wie Wöpking hebt auch Christian Stetter (Bild, Diagramm, Schrift, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hrsg. von S. Krämer, W. Kogge und G. Grube, München 2005, 125) die Schematisierungskraft des Schriftbildlichen hervor. Sybille Krämer, die dieses Forschungsfeld maßgeblich erschlossen hat, arbeitet die »operative Bildlichkeit« des Graphismus heraus. Dessen Aktivität und Kreativität entspringt den Charakteristika der Räumlichkeit, Angeordnetheit, Graphizität und Mechanisierbarkeit von Diagrammen (vgl. zuletzt Sybille Krämer, Das Bild in der Schrift. Über ›operative Bildlichkeit‹ und die Kreativität des Graphismus, in: Schrift im Bild, hrsg. von B. R. Gibhardt und J. Grave, Hannover 2018, 209–221). Als Urszene des Graphismus bestimmt Manfred Sommer das Ziehen einer Linie und zeichnet, im Rückgriff auf Kants Schematismuskonzeption, geduldig und materialreich die Praktiken des Diagrammatischen nach (Manfred Sommer, Stift, Blatt und Kant. Philosophie des Graphismus, Berlin 2020). Gemeinsam scheint allen Ansätzen ein leibphänomenologischer, pragmatistischer, verkörperungstheoretischer Zugriff: Diagrammatica und Schriftbilder sind keine technischen oder künstlerischen Abstraktionen, sondern »fundamentale Weise[n] menschlichen Weltbezugs« (Sommer, Stift, Blatt, Kant, 9), die Anlass geben, ein primär logoszentriertes »Paradigma« der Interpretation zugunsten der »Hinwendung zur Aisthetik und Operativität« (Krämer, Schriftbildlichkeit, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von St. Günzel und D. Mersch, Stuttgart 2014, 354–360; 358) abzulösen. 37

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36 | Schriftbildakte 

in der epistemischen Funktion. Sosehr uns Kunstwerke zu denken geben, so sehr geben sie uns auch wahrzunehmen. Von den Diagrammatica, wie sie in Wissenschaft, Informationsmedien oder Computerprogrammen zum Einsatz kommen, unterscheiden sich expressive Schriftbildakte durch ihre Nichteindeutigkeit, durch ihren Zug zum unbestimmt Bestimmten der Kunst. Diese Unbestimmtheit betrifft auch ihren Zeitaspekt, den im Modell das linke untere Dreieck veranschaulicht; und sie bestimmt auch die schwer durchdringlichen Intentionalitätsaspekte, den das obere Dreieck von Begriffsverhältnissen nennt. Es sind diese Vagheiten und Selbstbezüge, die Schriftbildakte auch zum Ausdruck performativer Widersprüche befähigen. Dass dies kein Schriftbild­ akt sei, kann nur ein Schriftbildakt sagen und in seinem Zeigen zugleich dementieren.

Begriff, Probleme, Beispiele | 37

Abb. 4: Medea-Sarkophag (ca. 150 n. Chr.), Marmor, Berlin. Foto: Johannes Laurentius, Inv.-Nr.: Sk 843b. © Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

MEDEAS AUGENBLICK

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand

1. Stillstand Das tragische Bild ist ein Bild des Tragischen. Hinter dieser vermeintlichen Trivialität verbirgt sich ein komplexer Zusammenhang. In tragischen Bildern verbinden sich Sagen und Zeigen, Schrift und Bild, Idee und Handlung. Ansichtig wird eine geschichtliche Kon­stellation, die die Darstellung der schon früh auf Vasen und Friesen, Sarkophagen und Fresken abgebildeten Szenen antiker Tragödien betrifft. Ihre Darstellung variiert von der Abbildung einzelner Szenen bis zum Ausdruck ihres Handlungsganzen im stillgestellten Moment. Erreicht wird in dieser Konzentration eine ikonische Prägnanz, in der sich die Totalität der Handlung in einem fruchtbaren Augenblick tatsächlich anschauen lässt. Dabei fallen auch Vergangenes und Künftiges in die eine Gegenwart der Darstellung. Dieser Gedanke versteht sich keinesfalls von selbst. Anders aber als manche Kritiker annehmen, zeigt der fruchtbare Augenblick – seiner Idee nach – gerade keinen Filmstill. Verstanden werden kann er nur als komponierter Augenblick, als eine Synthesis von Ungleichzeitigkeit. In seinem Moment wird keine der bestehenden dramatischen Szenen herausgegriffen. Vielmehr entfaltet sich aus ihnen ein ganz eigenes, im Stück selbst so nicht vorkommendes Tableau. Das tragische Bild verdichtet den Moment zur sichtbaren Szene und zeigt in dieser Szene den Umschlag (Peripetie) der Handlung. So wie sich in der Peripetie die Tragödie in ihrem konzentriertesten Umschlagspunkt noch einmal spiegelt, so wird das tragische Bild zum ikonischen Reflex ihres höchsten Handlungsmoments. Dramatisch ist ein solches Bild, weil es Handlung konzentriert; zum tragischen wird es, insofern es Wirkungen von Furcht und Mitleid, von Jammer und Schauder evoziert. Solche Bilder sind natürlich selbst keine Tragödien; aber sie sind auch nicht einfach nur Illu­  39

stration ihrer Textvorlage oder Bild ihrer Aufführung. Tragische Bilder sind, auf unterschiedlichen Bildträgern, Vergegenwärtigungen tragischen Leids ganz eigener Art. Sie sind, mit Aby Warburg gesagt, Träger einer »Pathosformel«1. Pathosformeln drücken, so Warburgs Idee, die spannungsvolle Einheit von körperlicher Geste und gerührter Seele aus. Zugleich konservieren sie etwas von der geschichtlichen Unruhe und Unabgegoltenheit ihres jeweiligen Motivs. Nur so kann sich Warburg die Konstanz, aber auch das Abtauchen und die plötzliche Wiederkehr prägnanter Motive über Jahrhunderte erklären. Das tragische Bild kennzeichnet eine solche, in unterschiedlichen Anblicken auftretende Pathosformel. Dessen Prätext, eine der überlieferten Tragödien, wird, mit Benjamin gesagt, in die »Monade«2 eines im Bild stillgestellten Handlungsgefüges gebracht. Von dieser »Monade«, einem verkürzten Bild des Seins, sagt Benjamin, sie wiege mit der »kleinsten angeschauten Zelle Welt« den »Rest aller Wirklichkeit«3 auf. Wer den Moment des Handlungsumschlags begriffen hat, versteht ihr ganzes Gefüge. Man darf vermuten, dass sich schon die antiken Künstler am Darstellungskriterium der ikonischen Prägnanz orientiert haben. Dazu war das Nacheinander der Tragödienhandlung in das Zugleich des Bild­ anblicks zu übersetzen. Der Möglichkeitsspielraum dieser Übersetzung bemisst sich an Funktion und Material ihrer Ausführung. Tragische Bilder sind »dialektisch« in diesem Benjamin’schen Sinn: nicht Abbild oder Illustration, sondern ikonische Kristallisation. In ihrer Verdichtung zeigt sich etwas, das einzig in dieser und keiner anderen Verknüpfung von Handlung zum Vorschein kommt. Aus der Antike sind, bei allem Verlust, eine Reihe solcher tragisch-dialektischer Vasenbilder, Fresken und Skulpturen auf uns gekommen: von der Ödipus-, der Antigone-, der Iphigenie- oder auch der Medea-Handlung. Letztere zeigt ein kaiserzeitliches Sar Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. I/2, hrsg. von H. Bredekamp und M. Diers, Berlin 1998, 446. 2 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), in: Gesammelte Schriften I/1 (im Folgenden: GS), hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, 228. 3 Benjamin, Gottfried Keller (1927), GS II/1, 288. 1

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kophagrelief im Neuen Museum zu Berlin (Abb. 4) (ca. 150 n. Chr.). Worin besteht das Tragische des Reliefbildes, worin die ikonische Prägnanz seiner Handlungsverdichtung ? 2. Bann Schon die antiken Darstellungen des Mythos der Medea suchen dessen Tragik in der Spaltung ihrer Seelenkräfte. Ein verlorenes antikes Gemälde soll Medea in der Entzweiung von Eifersucht und Mutterschmerz, von Zorn und Zärtlichkeit gezeigt haben, das Antlitz zerfallen in eine rachsüchtige und eine weinende Seite.4 Nun ist nach Aristoteles die Charakterdarstellung nur das sachlich zweite Moment der Tragödie, der Bau ihrer Handlung hingegen das erste.5 Die Tragik der Medea im Drama des Euripides kann also nicht primär in ihrem Charakter, sondern muss in der Handlungsverknüpfung seines Mythos begründet sein – auch wenn Aristoteles der euripideischen Medea die aus der Handlung selbst motivierte Lösung ihres Handlungsknotens abspricht. 6 Der Zweiheit von Zorn und Mitleid, die sich in Rache löst, korrespondiert auf der dramaturgischen Ebene eine doppelte Spannung von Verlassenheit und Heimatsuche, die in Flucht umschlägt, und von Treue und Untreue, die sich im Mord entlädt. Ihren Grund hat die Tragik der Medea in ihrer Ortlosigkeit. Im Drama gehen Glück und Unglück der Handelnden aus identischem Ursprung hervor. Die Aufgabe ihrer Heimat  – von Medea selbst als ihr ursprünglicher Fehler (hamartía, V. 800) bezeichnet – macht die Magierin zur rastlos Flüchtenden. Medea bleibt die Fremde, die Barbarin, die Kolchierin, gleichgültig wohin sie kommt. Als Enkelin des Helios ist sie Göttin unter Menschen; fremd aber hier wie dort. Ihr unabwendbares Schicksal ist der Bann, der sich auf jeder ihrer Stationen erneuert. Denn nicht Heimatlosigkeit und Flucht sind schon Vgl. Erika Simon, Medea in der antiken Kunst. Magierin – Mutter – Göttin, in: Medeas Wandlungen. Studien zu einem Mythos in Kunst und Wissenschaft, hrsg. von A. Kämmerer, M. Schuchard und A. Speck, Heidelberg 1998, 13–53; 40. 5 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450a40–a42. 6 Poetik, Kap. 15, 1454a38–1454b2. 4

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 41

tragisch. Tragisch ist erst, dass Medea für jeden ihrer Versuche, neu heimisch zu werden, den Preis eines Verbrechens entrichtet. Tragisch ist ihr Lebensweg, weil er durch Mord den Bann zu brechen sucht. »Ich bin tot« (oíchomai, V. 226), lässt Euripides die so Getriebene schon bei ihrem ersten Auftritt sagen. Für Jason verlässt Medea die kolchische Heimat, für ihn erschlägt sie ihren Bruder. Ohne Aussicht auf Heimkehr folgt sie den Argonauten; nur mit ihrer Hilfe erringt Jason das Goldene Vlies. Aber auch die Peliaden, auf deren Geheiß die Argonauten reisen, werden Medea nicht zur zweiten Familie. In Jolkos muss der alte König Pelias den Orakelspruch fürchten, er werde durch Jasons, seines Neffen Hand umkommen. Doch es ist nicht Jason, der Pelias töten lässt; es ist Medea, die seine Töchter zum Vatermord aus Vaterliebe überredet. Medeas Ohnmacht ist der Bann, ihre Macht der Fluch – sei es als Überredung (der Peliaden, Kreons, Aigeus’), als Zauber (der Verjüngung: Aison, Jason), als Gift (Theseus, Kreusa). Der Fluch ihrer eigenen Taten aber ist die Flucht. Flucht steht am Anfang, Flucht auch am Ende der euripideischen Trägödie. Kolchische Heimat, peliadisches Jolkos: hier wie dort gebannt, wird auch Korinth nicht zum Asyl. Jason zuliebe macht sich Medea die ganze Welt zum Feind. Doch die mit Überredung, Zauber und Gift Jason treu Ergebene erwartet in Korinth nur die Untreue Jasons und der Bann des Kreon. Sosehr jedoch Medeas Macht in Ohnmacht umschlägt, so wenig verkehrt sich ihre Treue in Verrat. Denn noch in der Vernichtung von »Jasons ganze[m] Haus« (dómos, V. 794) bleibt sie ihm im Unglück der Rache treu. Noch im Opfer der gemeinsamen Kinder steckt nicht nur die Rache der Untreue, sondern auch ein Wille zur Treue: diese Familie oder keine. In Jasons Bestrafung straft Medea auch sich selbst. Ihre Verbindung, auf diese Weise ein letztes Mal tragisch geeint, kann nur der Tod der Söhne und die Flucht im Schlangenwagen lösen. Im Unterschied zu Medea scheinen Gefühlstiefen Jason fremd. Aus seiner Rationalisierung spricht das Kalkül einer strategischen Vernunftheirat: Was kann dem nach Korinth Verbannten Besseres passieren, als die dortige Königstochter zu freien, Wohlstand zu erwerben, die Söhne durch künftige Halbgeschwister zu nobilitieren: »Mir aber nützt es, durch die Kinder zweiter Ehe die früheren zu 42 | Medeas Augenblick 

fördern« (V. 566–567). Was Jason als Nachkommenssicherung begreift, erkennt Medea als Quelle der Gefahr. Kreons Bann bedroht auch ihre Söhne, deren Schicksal als potentielle halbgeschwisterliche Rivalen vorgezeichnet wäre. Den geplanten Nachkommen des Jason und der Kreusa eine Gefahr, sind sie selbst zuhöchst gefährdet. Auch hier bleibt Medeas Einblick in die Macht- und Ohnmachtverhältnisse einer man’s world so unbestechlich wie gebrochen. Stets verdoppelt sich, Ausdruck ihres Gemüts (thymós), der Blick: rächend und mitleidig, beherrscht und wild, barbarisch und hellenisch. In Medeas thymotischer Janusköpfigkeit, in der schroffen Zweiheit von Zorn und Besinnung, blitzt ein Stück ungebändigter Natur auf. Die Handlung des euripideischen Dramas wird durch einen zweiten Fehler angetrieben: den des Kreon. Kreon spricht den Bann über Medea und lässt sich doch von ihr zu einem Aufschub über­ reden. Listenreich wie Odysseus erwirkt Medea den Aufschub ihrer Flucht aus Korinth um einen Tag. Kreon ahnt: »Auch jetzt, obwohl ich weiß, es ist ein Fehler, werde ich dieses veranlassen« (V. 350– 351). Mit seinem Fehler besiegelt Kreon nicht nur das Schicksal der Kreusa, die er durch Verbannung Medeas ihrer Rache entziehen will, sondern auch das eigene. Medeas Plan erfordert jedoch die ungewollte Unterstützung zweier Könige. Kreons Aufschub wird erst durch Aigeus’ Asylofferte zu einer Rettung durch Vernichtung.7 Der kinderlose Athener König erhofft von Medeas Hilfe Nachkommen für das eigene Königshaus. Er wünscht, zeugen zu können, was Medea und Kreon verlieren werden, und erhält es im Tausch für seine Gastfreundschaft. Aigeus’ Versprechen, Medea weder an die Peliaden noch an die Korinther auszuliefern, wird durch einen Eid besiegelt, der Medeas fatalem Plan den Weg ebnet. 8 Zum dialektischen Verhältnis von Rettung und Vernichtung als eines Grundzugs des Tragischen vgl. Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frank­ furt/M. 1961, 65. 8 Auch deshalb scheint Aigeus’ Auftritt in der euripideischen Medea nicht vollkommen unmotiviert. Erika Simon (Medea in der antiken Kunst, 27) und Manfred Fuhrmann (Aristoteles, Poetik. Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1982, 141) beziehen Aristoteles’ Satz »Der Vorwurf der Ungereimtheit (alogía) und Schlechtigkeit (mochthería) ist berechtigt, wenn ein Dichter ohne zwingenden Grund davon Gebrauch macht, wie Euripides im Falle des Aigeus von Ungereimtem und wie im Falle des Menelaos im Orestes von Schlechtigkeit« 7

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 43

Der kausale Handlungsnexus entfaltet einen Zwang, in dem Wiederholung und Überwindung zusammenfinden. Es wiederholt sich der Mord als Preis des Asyls; überwunden wird die Flucht durch Medeas Entkommen als dea ex machina.9 Medeas Racheplan hält die Treue zum Jason’schen Haus, indem es dieses auslöscht. Jason und Kreusa sollen, um den Preis der eigenen, keine Nachkommen haben. Der Chor, dem Medea ihren Plan enthüllt, der sich zugleich gegen sie selbst wendet, fragt zurück: »Und du, dürftest du nicht selbst zur unglücklichsten Frau werden ?« (V. 818). Der Schock des Kindermords, Euripides’ einschneidende Verwandlung des mythologischen Stoffs und dramaturgische Neuerung, wurde bereits in den antiken Darstellungen abgemildert, rationalisiert, verdrängt:10 als Tat einer Barbarin, als Raserei, als Sühneopfer.11 Im Stück des Euripides ist er jedoch Konsequenz sowohl des Konflikts zwischen göttlichem Recht und menschlicher Hybris als einer Rettung im Untergang. An den Konflikt zwischen höherem Gesetz (das Bindende des Treueschwurs) und niederen Motiven (Jasons Untreue als Selbsterhaltungskalkül) erinnert die Nachfahrin des Helios selbst durch die rhetorische Frage: »Oder glaubst du, die damaligen Götter herrschten jetzt nicht mehr ? Oder dass jetzt neue Satzungen für die Menschen gelten ?« (V. 493–494). An die Notwendigkeit des Kinderopfers muss sich Medea in ihrer Verzweiflung selbst erinnern: »Niemals darf ich zulassen, dass ich den Feinden meine Kinder ausliefere, damit sie diese misshandeln« (V. 1060–1061). Eingespannt werden sollen die Kinder in den Racheplan und doch zugleich der (Poetik, Kap. 25, 1461b19–b22) auf die Aigeus-Szene der Medea. Möglich immerhin, wenn auch nicht eben wahrscheinlich, dass Aristoteles Euripides’ Stück Aigeus im Ganzen meint. Seneca verzichtet in seiner Medea bezeichnenderweise auf die Aigeus-Szene, um den Preis allerdings eben jener Handlungsverknüpfung, »die bei Euripides den Kindermord durch die Absicherung von Medeas Zukunft erst möglich macht« (W. Schubert, Medea in der lateinischen Literatur der Antike, in: Medeas Wandlungen, 55–91; 77). 9 Vgl. Aristoteles’ Kritik in Poetik, Kap. 15, 1454a38–1454b2. 10 Vgl. Simon, Medea in der antiken Kunst, 28–31; vgl. Verena ZinserlingPaul, Zum Bild der Medea in der antiken Kunst, in: Klio 61 (1979), 407–438; 410–411. 11 Benjamin gründet die antike Tragödie bekanntlich auf die Idee des Opfers: vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I/1, 285–286. 44 | Medeas Augenblick 

Revanche der Feinde entzogen. Mit dieser Verknüpfung lässt Euripides tief in die Logik der Rache blicken, aus der es von Anbeginn kein Entrinnen gab. Rache eilt ihr selbst voraus, ihre Idee lebt im ständigen Potentialis: Weil in allen Gedanken der Rache bereits der der Rache an ihr selbst mitgedacht ist, zeugt sie sich endlos fort. Aus Revanche an ihrer Rache an Jason würde Jasons neues, korinthisches Haus mit dem Mord ihrer Kinder wiederum Rache an Medea nehmen müssen. Rache, Revanche, Ressentiment kennzeichnen den menschlichen Teil des Gemüts (thymós) der Medea. Als thymotische Kippfigur kann es sowohl in den unvernünftigen Zorn als auch in die rationalisierte Leidenschaft umschlagen: »Und ich erkenne das Schlechte, das ich zu tun gedenke, doch stärker als meine Ratschlüsse ist das Gemüt (thymós), das doch Ursache ist für das größte Übel der Sterblichen« (V. 1078–1080). Entsprechend wird die Überwindung der Vernunft durch Leidenschaft zum entscheidenden Motor der Handlungstragik. Medeas Selbsteinsicht hallt im Stoßseufzer des Chors wieder: Menschen, die nie Kinder gezeugt, haben es besser getroffen (V. 1094–1097). 3. Opfer Unaufhaltsam vollendet sich die Logik der Rache: Medea will, zum Schein, die Kinder in Jasons neuem Haus lassen, unter der Bedingung, dass Kreon sie nicht bannt. Zu diesem Zweck soll Jason Kreusa bitten, Kreon günstig zu stimmen. Um wiederum Kreusa günstig zu stimmen, sollen die Kinder ihr jene Geschenke überbringen, die von der Magierin Medea vergiftet sind. Der zögernde Jason wird, wie zuvor schon Kreon, durch Medea überredet, Kreusa das Danaergeschenk annehmen zu lassen. Das ist Jasons zweite handlungszuspitzende hamartia. Euripides erspart seinen attischen Zeitgenossen weder den Botenbericht von Kreusas und Kreons qualvollem Flammentod noch die Agonie der Medeasöhne. Unwissentlich hatten die für sich unschuldigen Kinder in der Geschenkübergabe an Kreusa nicht den Weg ihrer Rettung durch Aufnahme ins korinthische Königshaus, sondern den ihres Untergangs beschritten. In aller Unschuld machen sich die Söhne schuldig am Feuertod der Kreusa. Umgekehrt Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 45

macht sich Medea an den Kindern schuldig, lange bevor sie diese selber erdolcht. Der hellsichtige Chor ahnt es bereits. Nicht erst mit dem Schwert, sondern mit dem Botengang des Überreichens der »Höllengabe« hat Medea ihre Kinder bereits getötet, da sie noch leben. An Jason richtet der Chor die Frage: »Ahnst nicht, dass du die Kinder ins Verderben führst und deiner Geliebten den abscheulichen Tod ?« (V. 992–994). Unwillentlich leitet Jason das Ende nicht nur Kreusas, sondern auch seiner Kinder ein, indem er sie auf den Weg der Versöhnung schickt, der in Wahrheit ihr Untergang ist. Das Versöhnungsopfer des Geschenks verkehrt sich, unter der List der Rache, in das Sühneopfer, das zu bringen Medea Jason zwingt. Unwillentlich schließlich reißt Kreusa mit ihrer Versöhnungsgeste der Geschenkannahme nicht nur sich, sondern auch ihren Vater in den Tod. In das dramatische Handlungsgefüge webt Euripides eine letzte Scheinberuhigung: Kreon erlässt den Kindern den Bann, Kreusa schließt mit ihnen ihren Frieden. Die Nachricht des Erziehers der Kinder lässt Medea ein letztes Mal zweifeln und verzweifeln: »Ich kann nicht anders [als weinen], denn dies haben die Götter und ich in meiner schlechten Besinnung so verhängt« (V. 1013–1014). Der sich zuziehenden Handlungsschlinge dieses Verhängnisses entkommt am Ende tragischerweise nur das ihrer Kinder beraubte Elternpaar, das keines mehr ist. Auch dies ein letztes, verkehrtes Dokument ihrer Verbundenheit. Dem klagenden Jason verwehrt die auf dem Zauberwagen des Helios mit den Kinderleichen entfliehende Medea auch noch einen letzten Abschied. Die Tragik des Jason und der Medea besteht nicht darin, dass sie sterben, sondern dass sie weiterleben. Die Opferidee, von der Benjamin als vom Kern der Tragödie spricht, vollzieht sich in Medeas letzter Flucht. Aristoteles hat die Szene getadelt, weil Medeas Flucht nicht aus der Handlung selbst, sondern durch einen aus dem Nichts kommenden Wagen des Helios motiviert scheine. Doch ist nicht schon die Flucht die Lösung (lýsis) des Handlungsknotens der Medea (wie Aristoteles vermuten könnte), sondern ihr Sühneopfer. Erst der Mord als Opfer durchbricht, eben als ein letzter Mord, den teuflischen Zirkel einer Rache, die niemanden, auch nicht die Rächerin, verschonen würde. Denn nicht nur um der Rache an Jason willen ließen Medeas Söhne 46 | Medeas Augenblick 

ihr Leben, sondern auch, um einen sühnenden Kult zu begründen: »Damit kein Feind, um ihren Leib zu schänden / Die Gräber öffnet; und dem Sisyphusland / Stift’ ich für alle Zukunft feierlich / Ein Weihefest zur Sühne meiner Mordtat« (V. 1380–1383, Übers.: Hans von Arnim). Aus Racheopfer soll Versöhnungsopfer werden. Denn die Sisyphusarbeit der Rache, die unablässig von vorn beginnt, kann durchbrochen werden nur durch die Stiftung eines ebenso sühnenden wie versöhnenden Kults. Um die letzte Ruhe der Söhne nicht zu entweihen, weiht Medea ihr Andenken der akrä­ ischen Hera. 4. Faltenwurf Das Berliner Sarkophagrelief (Abb. 4) hat die Medea-Tragödie des Euripides, nicht die des Seneca zum Gegenstand. Sein Thema sind deshalb auch nicht die passiones und deren Moderation, sondern die fatale Kausalität der durch thymós bestimmten Handlung. Anders als die bedeutenden Medea-Fresken in Herkulaneum und Pompeji, die von der Stillstellung der Gesamthandlung in ein Bild motiviert sind, erzählt das Sarkophagrelief deren Tragik szenisch. Diese Episierung wäre selbst den älteren gattungspoetischen Bestimmungen nach keineswegs tadelswürdig. Denn des Tragischen fähig ist nach Aristoteles das Epos ebenso gut wie die Tragödie.12 Worauf es ankommt, ist allein die pointierte Zusammenfügung der Handlung (sýstasis pragmátôn).13 Die aber kann sich im epischen Erzählen ebenso verdichten wie im dramatischen Dialog. Und dennoch ist die Darstellung des Berliner Medea-Sarkophagreliefs aufgrund seiner Handlungsverdichtung dramatisch zu nennen. Der Sarkophag, 1887 vor Rom gefunden, stellt vier Handlungsschritte der euripideischen Medea dar (nicht unbedingt ihre durch Chorpartien zu unterscheidenden »Akte«). Denn »erzählt« wird ab derjenigen Handlungsverdichtung, von der an es kein Zurück mehr gibt: In Begleitung ihrer Amme überreichen die Söhne der Medea das Danaergeschenk des vergifteten Diadems. Jason, von Aristoteles, Poetik, Kap. 23, 1459a16–a30. Poetik, Kap. 6, 1450a15–a23.

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dem das Gesamtrelief auf der linken Seite geradeso gerahmt wird wie von der im Helioswagen fliehenden Medea auf der rechten, blickt mit Wohlgefallen auf die Szene, die sich, angezeigt durch die drei Säulen, im Königspalast zu Korinth ereignet. Ebenso gütig wie majestätisch empfängt Kreusa die puttenhaft dargestellten Söhne auf ihrem Thron. Ihr Brautführer, mit schon besorgtem Gesichtsausdruck, deutet in seiner Person sowohl zurück auf die Untreue der Verbindung, die die Tragödie auslöst, wie er zugleich auf die Vermählung vorausdeutet, die nie vollzogen wird. Die verschlungenen Hände des Brautpaares stellen die Verbindung zur nächsten Szene her. Sie spielt, wie der Vorhang im Hintergrund andeutet, im Brautgemach der Kreusa. Was im euripideischen Drama nur durch den Botenbericht zu hören ist, wird gleichsam mit den Augen des Jason, die sich auf die Folgen des vergifteten Geschenks richten, in seiner ganzen Grausamkeit ansichtig. Das Feuer verzehrt die fliehende Kreusa, die – wie im Drama vom Boten berichtet  – im Schütteln ihrer Haare das Feuer nur noch anfacht, um bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Schild und Helm des Jason liegen ohnmächtig am Boden, der in den Nacken geworfene Kopf der Kreusa fährt in die Höhe. Ebenso ohnmächtig rauft der entsetzt von den Schreien herbeigerufene Kreon die Haare. So kunstvoll wie zu Szenenbeginn Kreusa und Jason im Glück des Händehaltens vereint sind, so kunstvoll werden am Szenenende auch Kreon und Kreusa im Unglück verbunden. Der Herrscher von Korinth verschlingt sich mit dem linken angewinkelten Bein in das rechte ausgestreckte Bein seiner von den Flammen verzehrten Tochter. Vergeblich sucht noch Kreons Hand schützend die Kreusa zu umgreifen und deutet überleitend bereits auf die nächste Szenerie: Über den sorglos ballspielenden Söhnen erhebt sich drohend die schwertziehende Mutter. Rechter Arm und Schwert der Medea, beide dürften weit aus dem Relief geragt haben, sind heute verloren. So liegt alles Gewicht der Szene nicht auf dem tödlichen Schwert, sondern auf dem mitleidigen Blick der Medea. Er spiegelt Leid und Entschlossenheit, Zaudern und Zorn. Dargestellt ist sie nicht, wie so oft in der antiken Kunst, mit Tiara und persischem Gewand – nicht als Barbarin also. Ihr Chiton-Gewand hängt so ermattet he48 | Medeas Augenblick 

rab wie ihr (kontrapunktisch zur emporfliehenden Kreusa) nach unten auf die Söhne blickendes Haupt. Das Gewand bereitet den fließenden Übergang in die Dea-exmachina-Schlussszene. Treu der euripideischen Vorlage entflieht Medea auf dem geflügelten Schlangenwagen mit den für das Heiligtum der Hera bestimmten Kinderleichen – in hellenistischer Darstellungstradition den einen Sohn schulternd, den anderen zu ihren Füßen im Wagen. Spätestens mit dieser Szene verlässt das Relief den unmittelbaren Darstellungskreis und verweist auf seinen Ort in der Sepulkralkunst. Die kaiserzeitlichen Sarkophage spiegeln die geschichtlichen Veränderungen sowohl im Bestattungsritus als auch in der Bildungsrepräsentation. Die reichen Patrizier äschern nicht mehr ein; und sie stellen auch in der Bestattung ihr Bildungsgut aus. Dadurch gewinnt die Sarkophagkunst des 2. Jahrhunderts eine doppelte Symbolik. Ihre Darstellung vergegenwärtigt die Bildwelten eines römischen Hellenismus, deren Thema das Verhältnis von Diesseits und Jenseits ist. Die auffahrende Medea überwindet irdisches Leid und fährt in eine höhere Welt; das Leiden der Kreusa dagegen verbleibt im Kreis des Irdischen und Menschlichen. Medea ist die Inkarnation der Schuld, aber auch die Personifikation ihrer Entsühnung durchs Opfer. 5. Thymos Das Berliner Sarkophagrelief ist eigentlich ein einziger Faltenwurf. Die Gewänder fließen mühelos ineinander über, verfugen die Szenendarstellungen und verleihen ihren Figuren eine Flüssigkeit und Lebendigkeit, die sie schwerelos aus dem wuchtigen Marmor hervortreten lässt. Hier konnten sich die antiken Bildhauer schon die vorhandenen Text-Bild-Korrespondenzen nicht entgehen lassen, etwa wo es bei Euripides heißt, Kreusa betrachte »wieder und wieder« ihr »mannigfaltiges Festgewand« (péplos poikìlos, V. 1159) – exakt in dem Moment, bevor es in Flammen aufgehen wird. Vor allem spiegeln Gewand und Faltenwurf das Gemüt der Medea; sie sind »Ausdruck ihres thymós«14 . Die antiken Darstellun14

Simon, Medea in der antiken Kunst, 32. Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 49

gen widmen dessen Wiedergabe größte Sorgfalt. Gerade um die Mordtat nicht allein dem Übermaß ihrer Affekte oder der Raserei zuzuschreiben, wird Medeas thymós, bei aller Wildheit, nuanciert gezeichnet. Zentraler Charakterzug ist die Selbstsicherheit, Rücksichtslosigkeit, Eigensinnigkeit der Medea: ihre authadía. Ihr kontrastieren die mütterlichen Affekte und feministisch kraftvollen Klagen ihrer Monologe. Ihr sowohl kühler als auch leidenschaft­ licher Verstand vereint Mitleid und Unverbrüchlichkeit ebenso wie Raserei und Maßlosigkeit. Auch das Berliner Sarkophagrelief versucht sich an dieser Differenziertheit. Die mit offenen Haaren wagenlenkende Medea der Schlussszene wird zum Inbegriff der Wildheit und Unberührbarkeit. Der Jason’schen Revanche an ihrer Rache überhoben, entrückt sie zuletzt dem menschlichen Bezirk im Ganzen. In der Szene zuvor aber ist ihr Blick nicht wild und leidenschaftlich, sondern mitleidig und verzweifelt. Überhaupt schöpft der Berliner Sarkophag die gesamte Empfindungsskala aus. In den vier ausbalancierten Szenenfolgen, in denen Jason, Kreusa und Medea als Hauptpersonen jeweils zweimal vorkommen, wird der Weg von Freud zu Leid, von der Scheinberuhigung bis zur Katastrophe dargestellt. Entsprechend verdichtet sich die Handlung des letzten Drittels. In ihrem Zentrum die ebenso entschlossene wie trauernde Medea. Anders als auf anderen Darstellungen, etwa einer campanischen Halsamphore des 4. Jahrhunderts v.  Chr., wird nicht der Mord selbst gezeigt. Der Tod Kreusas ist zu sehen, nicht aber der der Söhne. Ganz im Sinne der Idee Lessings, nicht den höchsten Punkt des Leidens und der Leidenschaft zu zeigen, sondern genau den Moment davor (oder danach), zeigt auch das Sarkophagrelief die über die Tat sinnende, vor ihr zögernde Medea. Nicht in ihrer Unmenschlichkeit, in der zugleich Göttlichkeit liegt, wird sie festgehalten, sondern in ihrer Menschlichkeit. Anders als die notorische Schlaffheit des Jason, in der er auch auf vielen antiken Darstellungen erscheint, ist die Schwäche der Medea das genaue Gegenbild ihrer Stärke. Aus der epischen Szenenfolge der Sarkophagdarstellung ist ihr trauernder, klagender Blick nicht zu isolieren. Ganz auf den Moment der Reflexion gehen dagegen zwei Wandgemälde aus Herku50 | Medeas Augenblick 

laneum und aus Pompeji. Das herkulaneische Fresko mit der Medea des Timomachus friert den einsamen Moment ihres Entschlusses ein, das Abwägen der Tat. Gesichtsausdruck und Kleidung reflektieren den Gefühlskonflikt. Die Hände gefaltet, die Daumen gegeneinander gespreizt, hält Medea fast grazil das umgekehrte, schwerelos wirkende Schwert. Im Ausdruck ringen Zorn und Mitleid. Diesen prägnanten Augenblick hebt das Sarkophagrelief in eine Bewegung dramatischer Steigerung auf. Der Moment von Medeas äußerster Anspannung ist der letzte Augenblick vor der Tat – ein Bild ihres thymós im Stillstand. 6. Dionysos Euripides, wird Nietzsche behaupten, habe die ältere Tragödie nicht mehr verstanden. Waren die Tragödien seit ihrer »ältesten Gestalt« allesamt Leidensdarstellungen des Dionysos und alle ihre Charaktere zuletzt »Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysos«15 , so strebe ihre Idee seit Euripides einem epigonalen Verfall zu. Die Tragödie zerstöre ihre eigene Idee. Der Ausgleich zwischen den »Kunsttrieben« des Dionysisch-Rauschhaften und des Appolinisch-Ordnenden werde einseitig zugunsten des Letzteren aufgehoben. Als Rückseite des Verfalls macht Nietzsche das Aufstreben einer sokratischen Dialektik aus, »mit der Euripides die aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte«16 . Indem Euripides das Drama fortan auf das »Undionysische« verpflichtete, blieb ihm nur noch der Weg eines »dramatisierten Epos«, das keine tragische Wirkung mehr entfaltet. Ist auch das Berliner Sarkophagrelief ein solches, dramatisiertes Epos oder, ärger noch, ein episiertes Drama ? Die philosophische Analyse des Schopenhauer’schen Pessimismus, den Nietzsche, durchsichtig genug, in die vermeintlich schon dekadente sokratische Kultur des periklesischen Athens retrojizieren möchte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach der sophistisch-philo Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, KSA 1, 71. 16 Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 83. 15

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 51

sophischen Aufklärung und Entmythologisierungstendenz der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts tatsächlich die Realität des Mythos in den Dramenprologen beglaubigt, ja beschworen werden musste – ein unübersehbares Krisenphänomen. Es hieße aber das von Nietzsche durchschaute 19. Jahrhundert allzu umstandlsos in das fünfte Athener Jahrhundert rückzuprojizieren, wollte man Nietzsches suggestive Deutung unbefragt übernehmen und verfallsgeschichtliche Interpretation mit geschichtlicher Faktizität verwechseln. Eine andere Frage ist, was es mit der Episierungstendenz auf sich hat. Auffällig ist tatsächlich der Einfluss euripideischer Tragödienstoffe auf die antike, hellenistische wie römische Ikonographie – was interessanterweise ausgerechnet für die euripideische Medea lange nicht nicht gesehen wurde. Ihre Zumutung schien allzu groß für die kultisch-künstlerischen Bilder- und Bildungswelten der Antike. Umso bemerkenswerter ist ihr Reflex in der kaiserzeitlichen Sepulkralkunst, die sich mehrheitlich an der euripideischen, nicht an der senecaschen Medea zu orientieren scheint. Dem Münchner Medea-Sarkophag steht ein mindestens ebenso bedeutender in Basel zur Seite. Mit ihm geht, soweit rekonstruierbar, die Linie der spätantoninischen Medea-Sarkophage grandios zu Ende.17 Was aber bedeutet die Episierungstendenz für das tragische Bild einer Dialektik im Stillstand ? Wenn die Schlussszene der euripideischen Medea selbst ein »›allegorisches Bild‹ von schuldhafter Handlungsweise einerseits und schuldhaftem Opfer andererseits«18 ist, so muss das tragische Bild dieses Bildes selbst noch einmal in sich reflektiert sein. Dazu bedarf es der Korrespondenz von Text und Bild, von Sagen und Zeigen, von Schrift und Figur. Da das Tragische auch dem Epischen nicht fremd bleiben muss, ist es eine funktionale Entscheidung (Sepulkral- oder Repräsentationskunst, Kult- oder Ausstellungswert), ob das tragische Bild im erzählenden Marmorrelief oder im präsentischen Wandfresko seine gemäße Gestalt findet. Für die Medea kann es kein tragischeres Bild geben als das ihres Blicks im Moment vor der Tat – wahrhaft ein Vgl. Margot Schmidt, Der Baseler Medeasarkophag. Ein Meisterwerk spät­ antoninischer Kunst, Tübingen 1968. 18 Zinserling-Paul, Zum Bild der Medea in der antiken Kunst, 434. 17

52 | Medeas Augenblick 

Augenblick. Der Berliner Sarkophagfries ist ein tragisches Bild der Medeahandlung im Stillstand ihrer Dialektik; das herkulaneische Wandfresko hingegen die Medeahandlung als tragisches Bild ihrer Dialektik im Stillstand.

Das tragische Bild: Dialektik im Stillstand | 53

Abb. 5: Deo gracias, Wandmalerei (um 1326), Heiligen-Geist-Kirche, Wismar. commons.wikimedia.org

DEO GR ACIAS

Daseinsdank als Schriftbildrätsel

1. Dankschreibung Danken ist eine uns wohlvertraute Geste. Ständig danken wir irgendjemandem für irgendetwas. In seiner fast schon aufdringlichen Gegenwart gehört der Dank zu den selbstverständlichen, aber gerade darin rätselhaften Sprechhandlungen. Auch wenn die Danksagung in der Regel einen Adressaten kennt, auch wenn sie ursprünglich auf Respondenz angelegt ist, so gelingt ihre Geste doch meist auch ohne Erwiderung. Ihre Äußerung bedarf keiner Gegenseitigkeit. Wer dankt, muss nicht Dank empfangen. Wer nicht dankt, wird nicht notwendig Undank erfahren. Wir danken selbst dann, wenn der Dank niemanden mehr erreichen kann. Als Gabe gelingt der Dank vielleicht überhaupt nur in der Nichterwiderung. Auch sind die Formen des Dankens so vielseitig wie die Anlässe, die es hervorrufen. Wir danken in Wort und Schrift, in Mimik und Gestik. Gedankt wird für Empfangenes, für Ausbleibendes nicht weniger als für Eintretendes. Gedankt wird Freunden, Gegnern oder Unbekannten ebenso wie juristischen Personen, Organisationen oder anonymen Mächten. Dass die Umgangssprache von Danksagung spricht, schließt nicht aus, auch unausgesprochen oder imaginär danken zu können. Zur Handlung allerdings, die in einer Weise »in der Welt« ist, dass man sich handelnd auf sie beziehen kann, wird der Dank nur als gesprochener  – oder geschriebener. Oft genug ist die Dank­ sagung eine Dankschreibung; zuweilen gelingt sie überhaupt nur als Schriftakt. Fast merkwürdig deshalb, dass die Sprechakttheorie das Danken übergangen zu haben scheint. Zu den Gründen könnte gehören, dass es sich eindeutiger Zuordnung versperrt. Als Wertschätzung könnte die Danksagung ein verdiktiver, als Machtspruch auch ein exerzitiver Sprechakt sein; wo Dank Versprechen impliziert, wäre er eine kommissive Handlung, wo er primär ein So 55

zialverhalten dokumentiert, auch ein konduktiver Sprechakt. Am wenigsten noch passt das Danken wohl in die Gruppe der expositiven Sprechakte. Doch selbst dafür ließen sich vermutlich sprachpragmatische Kontexte finden, die entsprechende Zuordnungen erlaubten. Wichtiger als eindeutige Taxonomie dürfte deshalb die Einsicht in die pragmatische Vielseitigkeit des Dankens sein. Wie alle symbolisch-reflexiven Handlungen ist auch das Danken ein sozialphänomenologischer Proteus. Schließt diese Vielseitigkeit der Zwecke, Formen und Anlässe auch ein ikonisches Moment des Dankens ein ? Anders gefragt: Können wir durch Bilder, mit Bildern, in Bildern – und sogar: Bildern danken ? Was eigentlich könnten Bilder des Danks sein ? Ja, können Bilder selbst danken ? Für all dies, Letzteres vielleicht ausgenommen, dürften sich Beispiele finden. Wofür aber ist die rätselhafte Dankschreibung des mittelalterlichen DEO-GRACIASFreskos der Heiligen-Geist-Kirche zu Wismar (Abb. 5) ein Beispiel ? Seine Betrachtung, das wäre die provisorische These, führt tiefer nicht nur in das Handlungsgefüge des Dankens, sondern auch in die Eigenart von Schriftbildakten. 2. Spielraum Wie so vieles verdankt sich die Entdeckung der DEO-GRACIASWandmalerei dem Zufall. Viele Jahrhunderte unter Kalkübermalungen aus der Reformationszeit verborgen, wurde das Fresko 1968 bei Restaurierungsarbeiten freigelegt. Das Bild stammt aus der Erbauungszeit der 1326 geweihten Heiligen-Geist-Kirche, sein Ort an der südlichen Innenwand in der Nähe des Hauptaltars weist ihm einen besonderen Platz im Bildprogramm des Sakralbaus zu. Dass die Spitalkirche sowohl Kirche als auch Hospital war, lässt die Dankesformel deo gracias, Gott sei Dank, auch als Dank für die Genesung von Krankheit deuten; da das Hospiz Bedürftigen offenstand, wohl auch als Dank für die Caritas der dort erfahrenen Barmherzigkeit. Auf die medizinische Funktion des Wandbilds mögen die Pflanzenornamente deuten, die sich unter dem Podest der rechten Figur, des Hospitalmagisters, sowie über dem Baldachin der linken Figur, der Hospitalmagistra, befinden.1 1

Vgl. Michael Bunners, Das mittelalterliche Fresko DEO GRACIAS in der

56 | Deo Gracias 

Ebenso augenfällig wie rätselhaft ist das rechteckige Rebus im Zentrum des Freskos. Seine Buchstabenkonfiguration erlaubt es, die Dankesformel deo gracias in mehrere Richtungen zu lesen. Die weder rein horizontal noch vertikal, sondern nur getreppt mögliche Spruchbildung wirft die Frage nach der genauen Zahl mög­ licher Buchstabenfigurationen auf. Sie lädt ein zu mathematischen, exegetischen und historischen Spekulationen über Zahlensymbolik, Textbezüge und Querverweise. Hält man sich zunächst an das Sichtbare, so zeigt sich kein Quadrat, sondern ein Rechteck von 11 mal 9, also 99 Feldern mit neun verschiedenen Majuskeln, von denen einzig das A wiederholt wird, weil es in GRACIAS zweimal vorkommt. Erkennbar wird ferner eine Kreuzstruktur, die durch Zeile 5 einen horizontalen, durch Spalte 6 einen vertikalen Balken stiftet. Ihre Kreuzung verdankt sich, wie die mathematische Analyse gezeigt hat, einer Zusammenfassung der mittleren, vormals gedoppelten Zeilen und Spalten, deren Zweiheit sozusagen getilgt wurde, um sowohl die mathematische Zahlenkombinatorik als auch die ästhetische Zentrierung des Anfangsbuchstabens D im Rebus zu ermöglichen. Das zahlen- und buchstabenkombinatorische Rätsel des Weimarer Schriftbildfreskos haben Mathematiker elegant gelöst.2 Zerlegbar ist das Rebus in vier Teilfresken, deren Quadranten sich in ihrer Buchstabenverbindung jeweils auf doppelte Pascal’sche Dreiecke zurückführen lassen. Deren Zahlen- bzw. Buchstabendreiecke ergeben eine Summe von 126 möglichen Wegen einer DEO-­GRACIASBuchstabenbildung für jeden Quadranten. Da die Viertel unabhängig voneinander sind, ergibt sich durch die Vervierfachung eine Gesamtsumme von 504 Möglichkeiten der Reihung.3 Über fünfhundert unterschiedliche Wege der Danksagung, über fünfhundert gangbare Weisen der Dankschreibung – kein Zweifel: Das Fresko ist ein Exerzitium des Dankens. Sein Rebus stiftet den Spielraum einer 504-fachen Spruchbildung DEO GRACIAS. Dabei Heiligen-Geist-Kirche zu Wismar, in: Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte 11 (2008), 9–18; 11. 2 Vgl. Herbert Müller und Eberhard Vilkner, Die Entschlüsselung des DEO GRACIAS-Freskos der Wismarer Heiligen-Geist-Kirche, in: Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte 11 (2008), 19–34. 3 Vgl. ebd., 21–27. Daseinsdank als Schriftbildrätsel | 57

muss man nicht unbedingt rechnen können, um die Danksagung zu vollziehen. Man muss nicht einmal lesen können, um sie zu verstehen. Die meisten Menschen des Mittelalters dürften Texte primär als Schriftbilder wahrgenommen haben. Tatsächlich kann die Ermahnung des Magisters tempta si vis problemlos auch sinnlich verstanden werden: »Betaste/begreife, wenn Du willst«. Es reicht der Finger auf den Graphemen, der tastende Nachvollzug der Buchstabenwege, der auch Illiteraten offensteht. Es reicht das Bewusstsein der zwar endlichen, aber doch virtuell unendlichen Möglichkeiten der Danksagung an den Schöpfer, dessen Wege unergründlich sind (Röm. 11, 33). Leibniz hätte an diesem Rebus seine Freude gehabt. Modalontologisch hat er das Wirkliche als das aus der unendlichen Kombinatorik des zufällig Möglichen Entstandene interpretiert. Sein Hervorgehen unterliegt allerdings notwendigen Prinzipien. Denn das Kontingente geht auf eine Notwendigkeit zurück, die Konsequenz göttlicher Wahlkriterien ist. Diese beruhen nämlich ihrerseits auf Vernunftprinzipien: Satz vom Grund und Satz vom Widerspruch. Für diese vernünftige Wahl ist dem Schöpfer zu danken. Aber auch dafür, dass er der menschlichen Vernunft Einsicht in seine rationalen Prinzipien gewährt. Mit der Notwendigkeit ihrer Konstruktionsprinzipien prägt sich der Welt eine Freiheit und Kombinationsmöglichkeit auf, die allererst Individualität ermöglicht. Kombinatorik und Rationalität, Notwendigkeit und Freiheit, Einzelheit und Einmaligkeit gehören zusammen. Aus der unendlichen Kombinierbarkeit möglicher, weil widerspruchsfrei zusammenstellbarer Weltbestandteile hat Leibniz den Gedanken der Kompossibilität gewonnen.4 Seine Konsequenz ist die Idee einer besten aller möglichen Wahlentscheidungen der Kombinatorik. Rechnerisch möglich mag vieles sein. Doch ideal zusammenstimmen können die Weltkomponenten nur in derjenigen möglichen Welt, die innerhalb ihres notwendigen Kausal­ zusammenhangs größtmögliche Freiheit und Individualität erlaubt. In der besten aller Welten wäre Dank ihr Lohn. Gottfried Wilhelm Leibniz, Definitiones: ens, possibile, existens (ca. 1687), in: Sämtliche Schriften und Briefe (Akademieausgabe), Berlin 2016, AA VI/4, 867; vgl. Sebastian Bender, Leibniz’ Metaphysik der Modalität, Berlin/Boston 2016, 162–208. 4

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3. Kombinatorik Das Wismarer Wandbild ist ein Logogriph, ein Buchstabenrätsel. Sein Sinn erschöpft sich allerdings nicht schon in seinem mathematisch-geometrischen Geheimnis. Dieses ist selbst ein Abgeleitetes, insofern es einem theologischen Bildprogramm antwortet. Die Idealität mathematisch-geometrischer Verhältnisse kommt, wie Nikolaus von Kues hundert Jahre später sagen wird, der reinen Begrifflichkeit göttlicher Selbstverhältnisse am nächsten.5 Auch hier gehen mathematische und theologische Auslegung Hand in Hand, etwa in der Deutung der Zahl Neun. Die Quersumme sowohl von 126 als auch von 504 ist 9, und Neun die zweite Potenz der trinitarischen Drei; kirchengeschichtlich prägend für das Mittelalter wurde die dreifache Sphäre der Trinität der Engel in der Himmlischen Hierarchie und die dreifache Trinität der kirchlichen Würdenträger in der Kirchlichen Hierarchie des Dionysius Areopagita. 6 Im Lukas­evangelium (Lk 15,1–9) spricht Jesus von den 99 Selbstgerechten, die der Buße nicht zu bedürfen glauben und geradeso in der Wüste verbleiben, wie die 99 Schafe, die ihr Hirte auf der Suche nach dem einen verlorenen zurücklässt. Spekuliert wurde, ob das Rebus von der ars combinatoria des Raimundus Lullus (1232–1316) beeinflusst sein könnte. Bislang blieb dies im Bereich lockerer Assoziationen, der man eine ebenso unbeweisbare noch hinzusetzen könnte: Die Buchstabenkombinatorik des Freskos erinnert nicht weniger an Praktiken der ihm zeitgenössischen jüdischen Mystik, namentlich an die ekstatische Kabbala Abraham Abulafias (1240 – ca. 1291), insbesondere an seine Lehre der Buchstabenkombination und -permutation.7 Die kabbalistische Gematrie, die Lehre von den Zahlenwerten der Buchstaben, kennt ähnliche Buchstabenrebus. Doch sind dies Assoziationen, die für sich noch nichts austragen. Der Zahlenwert von deo gracias ergäbe 88, der von deo gratias (des Rebus in Acuto, Italien) 103. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, 11–17. Dionysius Areopagita, De caelesti hierarchia 10, 1–3; De ecclesiastica hierarchia 5, 1–7. 7 Abraham Abulafia, Sefer raze chajej ha-olam ha-ba, hrsg. von A. Gross, Jerusalem 1999, 118–127. 5 6

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Nicht nur konkreter fassbar, sondern auch theologisch anschlussfähiger scheint das Motiv der durchgehend vierfachen Triplizität der ars inventiva Raimundus Lullus’. In der frühen Fassung seiner ars compendiosa inveniendi veritatem war Lullus noch von 42, also 16 unhintergehbaren Prädikaten Gottes ausgegangen, die, jeweils »dual kombiniert, nach der Kombinationsformel (16 × 15): 2, also 120 Paare (oder ›camarae‹, wie Lull sagt) ergeben«. 8 Es sind folglich 120 »Gewölbe« (camerae) an Eigenschaftspaaren, die sich aus den Grundattributen herleiten lassen. Später hat Lullus konsequent an der potenzierten Trinitarisierung seiner Attributenlehre gearbeitet und, wie Hösle zusammenfasst, »die Zahl der absoluten Prinzipien auf neun beschränkt (bonitas, magnitudo, aeternitas; potentia, sapientia, voluntas; virtus, veritas, gloria); dazu kommen neun relative Prinzipien (differentia, concordantia, contrarietas; principium, medium, finis; aequalitas, maioritas, minoritas), neun […] Fragen (utrum, quid, de quo, quare, quantum, quale, quando, ubi, quomodo/cum quo) sowie neun ›subjecta‹, d. h. Seinssphären (instrumentativa, elementativa, vegetativa, sensitiva, imaginativa, ratiocinativa, caelestis, angelica und divina) […].«9 Da diese Bestimmungen eine Lull’sche Systematik wiedergeben, die der des Freskos äußerlich bleibt, trägt der Hinweis auf die ars combinatoria Lulls offensichtlich wenig aus. Dass hier kunstvoll kombiniert wird, ist evident – keineswegs aber, ob auch im Sinne der Kombinatorik Lulls. Das tiefere, nicht nur mathematische, sondern auch aesthetico-theologische Geheimnis des Freskos dürfte anderswo zu suchen sein. 4. Spruchbänder Das Rebus und seine ars combinatoria allein machen das Wismarer Fresko keineswegs schon einmalig. Es existiert ein fast identisches Logogriph in der Kirche des Heiligen Sebastian und Rochus in Acuto, Italien.10 Auch deshalb lässt sich das Wismarer Wandbild nicht auf Vittorio Hösle, Einleitung, in: Raimundus Lullus, Die neue Logik, lat.-dt., hrsg. von Ch. Lohr, Hamburg 1985, xliv. 9 Ebd., xlv. 10 Vgl. Giancarlo Pavat, I segreti della chiesa SS. Sebastiano e Rocco ad Acuto 8

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das Faszinosum seines mathematisch-geometrischen Schrifträtsels reduzieren. Erst die Gesamtkomposition, zu der auch die Figuren und Ornamente gehören, machen es einzigartig. Ihr Rebus ist von jener Gesamtkonfiguration nicht zu lösen; und diese erschöpft sich nicht schon in der rechnenden Rationalität ihrer Schriftlichkeit, sondern bedarf der Anschauung ihrer Schriftbildlichkeit. Eine Schriftbildhandlung ist das Fresko zunächst durch die konkreten Anweisungen, die es enthält. Links mahnt die Meisterin des Hospitals: »Lese, wenn Du verstehst« (Lege, si s[c]is). Der Imperativ verweist auf die nötige Aktivität des Betrachters, der nicht bloß in die Anschauung, sondern auch in die verständige Lektüre kommen muss. Nur lesend kann der Dank wissentlich vollzogen werden. Das lege reflektiert die Schriftlichkeit des Freskos selbst. Doch ist es eine gemalte Figur, d. h. ein Bild im Bild, welches den Imperativ ausspricht. Weil Bilder nichts sagen, sondern zeigen, muss der Ausspruch explizit geschrieben werden. Bilder können, als Bilder, weder Imperative zeigen noch aussprechen. Wie der Konjunktiv (si vis, siehe unten) ist auch der Imperativ (lege) ein unhintergehbarer Modus des Sagens, den das Zeigen nicht leisten kann. Zwar mögen manche Bilder zum Imperativ werden, etwa Bilder eines Verbrechens, die den Imperativ seiner Aufklärung auszusprechen scheinen. Doch auch solche Bilder können imperativisch nur durch den perlokutionären Gehalt des Kontextes und seiner explizit sprachlichen Subtexte sein. Zu seiner imperativischen Funktion bedient sich das Schriftbild des Freskos eines durchaus geläufigen Mediums mittelalterlicher Ikonographie: der Spruchbänder. Die linke Hand der Magistra hat eine Banderole im Griff, während ihre rechte die Botschaft des Spruchbandes mit der Geste des mahnenden Zeigefingers untermalt. Spiegelbildlich dazu stehen Geste und Spruchband des Magisters auf der rechten Seite. Er mahnt, genauer zu prüfen: »Prüfe, wenn Du willst« bzw. »wenn es gefällig ist« (tem[p]te [eigentlich: tempta] si vis). Was aber ist zu prüfen ? Der Selbstverweis im Bild könnte auf das Rebus zielen. Dann wäre es eine Anweisung, die Buchstabenkombinationen, ihre rechnerischen Möglichkeiten, in Ciociaria, Acuto/Lazio 2015, 143–152. Die beiden Logogriphe unterscheiden sich in Typographie und Schreibweise: DEO GRACIAS (Wismar) vs. DEO GRATIAS (Acuto). Daseinsdank als Schriftbildrätsel | 61

ihre Wege als Wege Gottes zu prüfen. Der Imperativ könnte auch als Anweisung verstanden werden, die Anlässe des Dankens sorgfältig zu prüfen. Wir haben für vieles, zuletzt für unser Dasein zu danken, das wir nicht selbst hervorgebracht haben. Dann wäre der Dank für diese Gabe auch der Dank an ihren Geber: deo gracias. Der Magister hat das Spruchband eng an den Körper gezogen. Seine Geste verleiht der Banderole Dynamik; sie wird selbst zur Zeigegeste, zu einer Art Pfeil, der aus dem Bild hinausweist und doch zugleich wieder auf es zurückkommt. Der zeigende Finger des spruchbandhaltenden Magisters deutet auf das S, welches als einziger Buchstabe sämtliche Winkel des Logogriphs beherrscht. D und S sind gleichsam das A und O, das Αlpha und Omega dieses Schriftbilds. In der Konfiguration des R stiftet das Rebus in seinem Zentrum zugleich eine Raute aus schwarzen Buchstaben. Das einzig im Zentrum vorkommende D ist ebenfalls schwarz; E, G, I und S sind stets rot. Die Farbdifferenz verweist auf eine weitere Besonderheit: Als einziger Buchstabe kann das zweimal vorkommende A sowohl schwarze als auch rote Farbe annehmen. In der ersten Silbe von GRACIAS erscheint es rot, in der dritten schwarz. Dies findet seinen Grund nicht nur in der Doppelung des A, sondern auch in der streng alternierenden Juxtaposition von roten und schwarzen Buchstaben im Logogriph.11 Auch in dieser Farbwirkung, die sich den virtuell aus dem Fresko ragenden Rautenbildungen mit roten As, schwarzen Cs und roten Is verdankt, um im roten S schließlich in ihre Endlichkeit zurückzusinken, unterscheidet es sich deutlich von seinem italienischen Geschwisterrätsel in Acuto. Alle Details verweisen auf eine hochgradig graphisierte Sprache, auf ein Ineinander von Schrift- und Bildelementen, die sich wechselseitig aufheben und doch als Aufgehobene bestehen bleiben. Das Wismarer Fresko ist ein Diagrammaticum im vollen Sinn: in den Figuren, Ornamenten und im Spruchband ganz Bild, Illustration, Grafik; doch in den Buchstaben, der Sukzessivität und Serialität ihres Spruchbandes ganz Spur, Schrift, Graphie. Und doch kommen Bild und Schrift gerade in der Räumlichkeit, Spatialität und Simultaneität reiner Anschauung zusammen: als Schrift-Bild. Summiert man übrigens, der kabbalistischen Gematrie folgend, die Zahlenwerte der lateinischen Buchstaben, so erhält man für diese hübsche Spielerei sowohl bei den schwarzen als auch den roten Zahlenwerten dieselbe Summe: 39. 11

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5. Schriftbildakte Gewiss: Spruchbänder sind ästhetisch keine besonders überzeugende Idee. Kaum zu Unrecht mokiert sich Lessing im Laokoon über die Kontamination von Text und Bild durch jene »beschriebenen Zettelchen, die auf alten gotischen Gemälden den Personen aus dem Munde gehen«.12 Dennoch haben die Banderolen der Schriftbilder eine andere Funktion als die Sprechblasen der Comics. Auch im Wismarer Fresko dienen sie nicht bloß der Mitteilung, Ermahnung oder Handlungsanweisung, sondern zuletzt der Reflexion auf den Handlungscharakter des Schriftbildaktes selbst. Schriftbildakte kennen drei Arten möglicher Handlungsbezüge. Sie können – repräsentativ – Handlung mitteilen, berichten, erzählen; sie können – evokativ – Handlungen auslösen, anmahnen, herausfordern; und sie können – performativ – selbst Produkt, Wirkung, Ausführung einer Handlung sein. Das Wismarer Logogriph ist Schriftbildhandlung vor allem in der zweiten und dritten Hinsicht. Der zweite Handlungsaspekt ist der auf den ersten Blick unproblematischere. Appellativ ruft das Fresko zum Dank Gottes auf. Es nennt keine Anlässe und kann dies getrost offenlassen, weil es deren unzählige gibt. Es mag auch evokativ dazu aufrufen, die schriftbildlich verrätselte Dankesformelkombinatorik zu prüfen (tempta si vis). Dann kann der Nachvollzug selbst als Einübung im Danken verstanden werden. Während die Magistra zum genauen Lesen des Danks auffordert, gemahnt der Magister, die Formeln zu prüfen. Auch dies kann doppelt verstanden werden. Zum einen wäre zu prüfen, wofür Gott Dank gebührt. Etwa, in welcher Schuld wir stehen, die aber durch seine dankenswerte Gnade vergeben wird. Zum anderen kann geprüft werden, was es mit dem Buchstabenrätsel selbst auf sich hat. Dann wären die einzelnen Wege der Dankesformel zu ergründen, die das Logogriph eröffnet. Dieser zweite, ingressive, handlungsanhebende Aspekt der Schriftbildhandlung leitet von sich her über in den dritten, den performativen Aspekt. Denn indem das Fresko im Ganzen bereits Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, in: Werke und Briefe, hrsg. von W. Barner et al., Frankfurt/M. 1985–2003, Bd. 5/2, 107. 12

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sämtliche 504 Lösungen enthält, zu deren Enträtselung es aufruft, erfüllt es mit dem Rebus an sich selbst eben jene Imperative, die seine Seitenfiguren aussprechen. Der Zweck des Exerzitiums fällt mit seiner Ausführung, der Appell mit seiner konkret anschaulichen Gestalt zusammen. Zuletzt ist das Fresko selbst der Dank, an den es gemahnt. Diese Autosemantik kann nicht allein durch seine ikonischen Momente gelingen. Es bedarf auch der skripturalen. Während in Bildern, jedenfalls in Kunstwerken, der autosemantische Gehalt evident ist, weil das Bild als Kunstwerk allenfalls Bild, nie Abbild der Welt  – und also selbständig  – ist, kann sein performativer Gehalt, als Dankeshandlung, nicht anders denn durch jene Buchstaben erzeugt werden, die allererst eine Bezugnahme auf anderes als sich selbst zulassen. Wem aber dankt das Bild ? Und wofür ? Offensichtlich dankt es nicht seinem, sondern dem Schöpfer. Und es dankt ihm durch sich selbst hindurch auch für die Ermöglichung seines Daseins. Dank stattet es dafür ab, dass es erscheinen, in die Sichtbarkeit treten konnte. Von Haus aus hat der Dank etwas Selbstreferentielles. Bereits in seinem lateinischen Ausdruck referiert der Dank auf die gratia. Wofür auch immer gedankt sein mag, stets impliziert der Dank, christlich-mittelalterlichem Selbstverständnis nach, auch und allem zuvor den Dank über die göttliche Gnade. 6. Palindrom Kein Bild kann leugnen, dass es ein Bild ist; kein Bild kann zeigen, dass es unendlich ist. Die triviale Endlichkeit der Bildfläche, das Bretterwerk des Bildrahmens, die Substanz des Bildträgers – all das bedingt die Endlichkeit des Erscheinenden. Was sichtbar und mit einem Blick erfassbar, ist endlich. So auch die genau berechenbare Begrenztheit der sichtbaren (oder mit dem Zeigefinger nachvollziehbaren) Buchstabenkombinatorik: 504 Möglichkeiten. Genauso aber, wie das einfach nur stets ver-unendlichte Endliche mit Hegel »das Schlecht-Unendliche«13 heißen darf, kann die verendlichte Un G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein, in: Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von F. Hogemann und W. Jaeschke, Hamburg 1984, 127. 13

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endlichkeit auch das »Schlecht-Endliche« genannt werden, mit dem es zusammensänke. Mögen in diesem Fresko die Möglichkeiten des Danks an den Schöpfer endlich sein, so ist doch evident, dass die 504 Kombinationen, dass also die endlichen Möglichkeiten bloß Chiffre für die virtuell unendlichen Weisen des Danksagens sind. Das Wismarer Wandbild insistiert nicht auf 504 Möglichkeiten, sondern es verweist im Rahmen seiner Endlichkeit auf etwas, das religiös sinnvoll nur als ein Unendliches zu verstehen ist, aber nicht anders denn im »Schlecht-Unendlichen« vergegenwärtigt werden kann. Dazu tragen nicht nur die unterschiedlichen Leserichtungen bei, sondern auch die Möglichkeit der Rückwärtslektüre. Palindrome (von παλίνδρομος, »rückwärts laufend«) sind stets ein Vorschein »schlechter« Unendlichkeit: das Vor- und Zurücklaufen kommt virtualiter zu keinem Ende. Das Wismarer Logogriph ist zwar kein Palindrom im eigentlichen Sinne. Denn anders als Wörter wie »Anna«, »Dienstmannamtsneid« oder Sätze wie der spätantike Zauberspruch des Sator-Quadrats (sator arepo tenet opera rotas) ist die Formel DEO GRACIAS nicht in beide Richtungen lesbar, nicht konvertibel. Im Ganzen aber hat das Rebus palindromische Züge. Stets nämlich kehrt die Bewegung in das zentrale D als in seinen Ursprungsort zurück. Die Leserichtung ist nie linear, sondern wird gegabelt, abgebogen, zurückgewandt. In der Praxeologie des Schriftbildes liegt, wie in der Pragmatik des Dankens selbst, ein Akt der Umkehr. Man wendet sich im Dank auf den Bedankten ebenso zurück wie im Schriftbild stets wieder auf den Beginn der Buchstabenfolge. Auch darin ist die Bewegung unendlich; man kann, man muss stets von Neuem beginnen. Dies spiegelt sich zuletzt auf der Ebene der Buchstaben selbst. Während G, R, C und S in den beiden linken Quadranten des Rebus verkehrt werden (ein weiterer entscheidender Unterschied zum Rebus in Acuto), bleiben D, A und I unverkehrt, also recte: geradeaus, richtig, gut.14 Warum das D nicht gewendet (vertere) werden kann, ist theologisch evident: Der Ursprung allen Seins ist weder in-, con- noch pervertierbar. Dass A und I nicht umkehrbar sind, ist dagegen graphisch evident: das (horizontal) gewendete A bleibt A, das (horizontal und sogar vertikal) gewendete I bleibt stets I. 14

Vgl. Aurelius Augustinus, De civitate dei XII, 6. Daseinsdank als Schriftbildrätsel | 65

Das Wismarer Logogriph (und nur es) unterscheidet zwischen konvertierbaren und nichtkonvertierbaren Buchstaben, zwischen umkehrbarem und unumkehrbarem, zwischen korruptiblem und inkorruptiblem Sein. Auch darin erinnert die Praxeologie des Schriftbildaktes an Heilung, Reinigung, Umkehr. Dankbarkeit wäre dann, ganz augustinisch, eine Form der Conversio. Sie ist zugleich Abkehr von der Perversio des Vergessens – des Vergessens der göttlichen Gnade als des Ursprungs von Dasein.15 Konsequenz solchen Vergessens wäre der Selbstdank; und Eigendünkel nichts anderes als ein Vergessen dessen, was man anderen verdankt, indem man dem Trug verfällt, man schulde es keinem als sich selbst. Dieser tiefsten perversio als einer aversio a deo kann nur die conversio ad creaturam des Danks aufhelfen.16 Augustinus’ Confessiones sind eine einzige Meditation über die Notwendigkeit einer solchen Umkehr. 7. Umkehr Auf diesen locus classicus der Konversion scheint das Wismarer Fresko im Imperativ der Magisterin anzuspielen. Ihr lege bezieht sich auf die berühmte Gartenszene der Confessiones: tolle, lege, »Nimm und lies«. Die Szene ist auch deshalb so echt und lebensvoll, weil sie Augustinus’ Konversion zum Christentum gerade nicht als bruchlose Offenbarungs-, sondern als eine glaubwürdige Entzweiungsgeschichte erzählt. Die Entscheidung, der Wahrheit zu folgen und der bisherigen Lebensweise zu entsagen, will sich keineswegs reibungslos durchsetzen. In der Stimmung tiefer Verzweiflung zieht sich Augustinus mit Freunden auf ein Landgut bei Mailand zurück. Eine Unterredung mit dem christlichen Freund Ponticians bringt den ersten Schritt der Wende: »Du wandest mich während seines [Ponticians] Redens zu mir selbst herum«17. Eindringlich schildert Augustinus des Willens Widerwillen gegen die Wahrheit. Zwar gehorcht der Körper dem Geist, etwa wenn wir willentlich Augustinus, De natura 58; 68. Augustinus, De liberum arbitrium II, 53. 17 Augustinus, Confessiones VIII, 7, 16: inter verbas eius retorquebas me ad me ipsum. 15 16

66 | Deo Gracias 

unsere Hand bewegen, nicht aber gehorcht der Geist immer dem Geist. In solchen Momenten führt die Entzweiung der Seele in zwei Willen18 – in den einen, der an dem alten Leben hängt, und in den anderen, der ein neues, wahreres Leben, also die vera vita, will – zur Zerreißprobe (dissipatio): »ich spaltete mich von mir«19. Die Stunde der Entscheidung in Alypius’ Garten wird gerade nicht bestimmt durch heroischen Entschluss, nicht durch große Opfergeste, nicht durch mächtige Entsagungsrhetorik. Es sind leise Kinderstimmen, die von unbestimmt zu Augustinus’ Ohr dringen. Sie raunen: Tolle, lege, tolle, lege ! Unwillkürlich schlägt Augustinus das erste greifbare Buch an einer beliebigen Stelle auf. Es ist Röm. 13,13: sicut in die honeste ambulemus – lasst uns ein ehrliches Leben führen, das das Licht des Tages nicht scheuen muss. Erst mit diesem Schlag lösen sich die Zweifel, ist die conversio als Entzug der aversio a deo endgültig vollzogen: Convertisti enim me ad te – »Du hast mich zu Dir hin gewendet«. Eine solche Offenbarungserfahrung illustriert das Fresko. Alles an ihm ist auf conversio gestimmt. Danksagung ist die Bestätigung der Umkehr, Umkehr die Hinwendung zur Quelle unausgesetzter Dankbarkeit. Dank tendiert zu jenem »Schlecht-Unendlichen« als wohl einziger Endlosigkeit, die endlichen Wesen offensteht. Denn selbst dann, wenn wir allen gedankt haben sollten, denen er gebührt, werden sich inzwischen neue Notwendigkeiten des Dankens ergeben haben. Vielleicht sollten wir den unendlichen Schuldzusammenhang, in den wir verstrickt sind, statt als heillosen Verblendungszusammenhang als unendlichen Verbindungszusammenhang des Dankens begreifen. Auch uns Säkularen muss dieser Gedanke nicht fremd bleiben: Niemand muss ständig vor Dank auf die Knie fallen. Aber man kann auch nie genug danken.

Confessiones VIII, 9, 21; VIII, 10, 23: duos voluntates in homine uno adversari sibi sentient. 19 Confessiones VIII, 10, 22: dissipabar a me ipso. Die beiden folgenden Zitate: Confessiones VIII, 12, 29; Confessiones VIII, 12, 30. 18

Daseinsdank als Schriftbildrätsel | 67

Abb. 6: Daniel Kuge, BMV2-G3WG1L-17 (2017), Mixed Media, 25 × 45 × 18 cm. © Daniel Kuge, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers 2022.

AMBIGE OBJEKTE

Die Unerschöpflichkeit des Gegenstands

1. Unbestimmtheit Nur selten begegnet uns vollkommen Unbestimmtes. Alles scheint säuberlich vermessen, geordnet und benannt. Umso irritierender ist die Begegnung mit unvorgreiflichen Ereignissen, unbekannten Situationen oder ungedeuteten Objekten. In seinem pseudoplatonischen Dialog Eupalinos ou l’architecte (1921) schildert Paul Valéry eine solche Begebenheit. Der Fund eines merkwürdig ungestalten Gegenstands, objet ambigu, wird zur Urszene der Genesis von Bedeutung aus dem Geist der Unbestimmbarkeit. Valérys Dialog lässt Sokrates, ins Gespräch mit Phaidros vertieft, am Ufer des Unterweltmeeres auf einen weißen Gegenstand (une certaine chose blanche) stoßen. Das Objekt widersetzt sich jedem Begriff, jeder Definition. Die bestimmende Urteilskraft kann ihn nicht fixieren; der ambige Gegenstand bleibt offen für unterschiedliche Perspektiven. Dabei besteht das Rätsel weniger in der Unbestimmbarkeit als in der unbestimmten Bestimmtheit des Gegenstandes. Denn sehr wohl ist das ambige Objekt unzweideutig handgreiflich: weiß, abgeschliffen, zart, leicht, faustgroß, hart. Nur deshalb kann seine Betrachtung, so schildert es Valéry, beständig zwischen Erkennen (connaître) und Konstruieren (construire) umschlagen. Einzelne Eigenschaften sind bestimmbar, nicht aber ihre Einheit – vielleicht, spekuliert Valérys Sokrates, das »Bruchstück einer Muschel«. Nach einem solch zweideutigen Gegenstand lässt sich nicht suchen; man kann ihn allenfalls finden. Das objet ambigu ist ein objet trouvé und sein Fund so zufällig wie die natürlichen Kräfte, die an ihm wirkten. Das immerhin lässt sich von Sokrates’ ambiger Trouvaille wohl sagen: Eher mutet sie an wie ein bizarr Naturschönes denn wie ein künstlich geschaffener Gegenstand. Bleibt offen, wie es ins Meer kam, so war es doch der Hadesozean, der es ans Land  69

warf. Allerdings gibt es ambige Objekte nicht nur als Naturschönes. Der Plastik, Skulptur und Installation der Gegenwartskunst sind mehrdeutige Situationen, ungewisse Erscheinungen und rätselhafte Objekte mindestens seit den ready mades Marcel Duchamps ein wohlvertrautes Thema. Die Spannbreite der ambigen Kunst­ objekte reicht von artifiziellen Biofakten über biomorphe Formen hin zu morphoplastischen Gebilden. Die »Plastiken« des Künstlers Daniel Kuge (*1984) – von ihm selbst als »Objekte«, nicht als »Skuplturen« verstanden – bilden in diesem Spektrum einen der äußeren Pole. Während Eduardo Kac aus genetisch veränderten Zellmassen ambige organische Kreaturen herstellt, Luca Trevisani in ungesteuerten chemischen Prozessen biomorphe Gefüge entstehen lässt, verharren die sterilen räumlichen Gebilde Daniel Kuges ausdrücklich nicht an der Grenze zwischen Natur und Kultur, sondern siedeln ganz in der Sphäre des planvoll und künstlich Hervorgebrachten (vgl. Abb. 6). Alles Naturwüchsige ist von Kuges plastischen Objekten abgezogen. Sie sind befreit von den manuellen Spuren des Werkprozesses, wirken wie maschinelle Artefakte aus dem 3D-Drucker. In Wahrheit aber sind sie durch und durch handwerkliche Produkte, entsprungen einer konzeptionellen Strenge, materialen Präzision und formalen Konsequenz, von der man mit Valérys Sokrates sagen könnte: »Die größte Freiheit geht aus der größten Strenge hervor.« 2. Funktionslosigkeit Die Funktionslosigkeit der frühen ready mades war noch das Resultat einer Umfunktionierung: das Urinal als Exponat, das abmontierte Speichenrad als Ausstellungsstück. Das jeweilige Zeug wurde seiner Funktion als Gebrauchsding entfremdet und verlor den Charakter der Zuhandenheit. Urinal und Fahrrad waren benutzungsunfähig geworden, hatten Tausch- und Gebrauchswert eingebüßt, aber im Gegenzug einen Ausstellungswert gewonnen. Ihnen wuchs eine sekundäre Funktion zu: Anstoß zu einer Erfahrung von Kunst zu werden; sei es durch Schock, Empörung oder Einsicht. Dass die Form der Funktion folge, war das Prinzip des Funktionalismus; dass die Funktion der Form folge, die des Formalismus. 70 | Ambige Objekte 

Beide Richtungen blieben, über die Mitte der Abstraktion vom ursprünglichen Zeugsein, an die Funktion gebunden. Dagegen simulieren Daniel Kuges Solitäre eine Funktionalität, die sie im nächsten Moment verweigern. Zu dieser Suggestion verhilft, wie etwa in dem Werk BMV2-G3WG1L-17 (2017) (Abb. 6), ihr Schweben zwischen Architektur, Skulptur und Bild. Man ist versucht zu fragen, ob es sich um ein Postament, ein Sockelgesims oder ein Kapitell handelt. Hat man es mit einem Baustein, einem technischen Prototyp, einer Stele oder einem Sarkophag zu tun ? Rasch wird klar, dass keine Funktion, keine unzweideutige Bestimmung auszumachen ist. Stattdessen drängt sich die Materialität der Objekte auf. Sie lassen fragen, woraus sie bestehen, wie sie gemacht sind, warum sie diese Form gewannen. Motiviert scheint die Gestaltung vom physiognomischen Blick des Kindes. Die frühkindliche Begriffsstutzigkeit gegenüber einer scheinbar planvoll eingerichteten Alltagswelt heftet sich an selbstverständliche, aber rätselhaft unheimlich werdende Objekte: die Spurrille im Boden, die mechanischen Bewegungen einer Maschine, die Steckdose in der Wand. Es ist das Erstaunen über Objekte, die von ihrer Heimeligkeit ins Unheimliche kippen; vom Vertrauten ins Geheimnisvolle, vom Leichten ins Schwere – zuweilen auch umgekehrt. An solche Objekte heftet sich der morphosemiotische Blick des Kindes, um sich ebenso vertraute wie undurchsichtige Bild- und Körperschemen unserer Lebenswelt einzuprägen. Von diesem Staunen steckt etwas in Kuges materialen Objekten. Wie die meisten seiner dreidimensionalen Werke besteht auch BMV2-G3WG1L-17 aus geschnittenen und verleimten MDF-Platten. Es gleicht zwar keinem der fünf idealen platonischen Körper (oder deren Verbindung). Doch auch die Gestalt von BMV2G3WG1L-17 ist die eines regelmäßigen, symmetrischen Polyeders, genauer gesagt: eines Achtzehnflächners. Dieser Oktokaidekaeder trägt eine Farbe, der am ehesten vielleicht die Violettschattierung »maroon« nahekommt. Aber auch dies soll zuletzt im Unbestimmten bleiben. Den Eindruck größtmöglicher Unbestimmtheit zu erzeugen, erfordert die handwerkliche Präzision sowohl der Form- als auch der Farbgebung. Die »Plastik« ist unendlich fein geschliffen, ihre ausdrucksvolle, aber unbestimmt bleibende Farbe in zahlreichen Schichten aufgespachtelt. Auch sie wird derart homogenisiert, Die Unerschöpflichkeit des Gegenstands | 71

dass so wenig Arbeits- und Spachtelspuren mehr erkennbar sind wie an seinen Bildern Pinselspuren. Kuges Objekte, die nicht aus störrischem Stein gemeißelt, sondern aus kantigen Platten gefügt sind, verleugnen an jeder Stelle ihren Herstellungs- und Formwerdungsprozess. Es ist, als wollten sie einfach nur da sein: funktionslos, kontextlos, zeitlos. Der Zug dieses umgebungslosen Daseins verleiht Kuges Arbeiten ihre eigentümliche Ruhe. Sie wirken wie Solitäre und sie scheinen wie Monolithen. Als Solitäre verweigern sie sich dem Musealen: Sie dulden eigentlich keine anderen Exponate neben sich; als Monolithe stehen sie gelassen im Raum wie künstliche Findlinge. Entsprechend verbindet sich in den Skulpturen das Prototypische der Form mit dem Archetypischen eines Überzeitlichkeitsgefühls. Die Gebilde wirken der Zeit entrückt – nur weiß man nicht recht, ob sie aus der Gegenwart in die Archaik gefallen oder ob sie aus dem Jetzt ins Futur gesprungen sind. Das gibt ihrer Form den Gestus der Absolutheit; und der paradoxalen Gegenwärtigkeit. Zugleich ist ihnen das Kantige und Geordnete, das Harte und Abgrenzende anzusehen. Auch die Farben sind im Wortsinn abstrakt: Sie setzen sich ab von den reinen Farben und sie lösen sich ab von der Farbgebung sowohl der Natur- als auch der Alltagsgegenstände. Form und Farbe sind bis ins Letzte durchdacht, entworfen, gemacht. Indem sich, ganz wie in BMV2-G3WG1L-17, Form und Farbe absolut setzen, verdrängen Kuges geometrische Gebilde zugleich die Subjektivität des Künstlers. Sie tritt zurück, verschwindet in der Autonomie des Werks. Anders jedoch als in den formalen Abstraktionen der Aleatorik oder als im reduzierten Dezisionismus der Konzeptkunst, in denen die Subjektivität der hervorbringenden Ursache (der Künstlerin, des Künstlers) ganz zugunsten der Formalund Materialursachen getilgt wird, stellt BMV2-G3WG1L-17 den Rest künstlerischer Subjektivität, den die Objektivität des Werks verdrängt, selbst noch einmal in dessen materialer Bestimmtheit und in seinem codierten Namenstitel aus.

72 | Ambige Objekte 

3. Schriftbildlichkeit Denn was hat es mit dem Titel auf sich; was meint BMV2G3WG1L-17 ? Der Name des Oktokaidekaeders erschließt sich dem Einblick in den Chiffrencharakter seines Produziertseins. Entsprechend hat auch der Code die Materialität des Werks zum Prinzip: Medium, Technik, Größe, Zeit. Wer die Werke auf ihr Entstehungsdatum durchsieht (z. B. BMV1-G3UR2H-17, 2017, oder auch BMV1-G3MM1B-18, 2018), erkennt rasch das Prinzip der Ziffern hinter dem letzten Bindestrich: ein Kürzel des Entstehungsjahres. So auch bei BMV2-G3WG1L-17 (2017). Der Rest ist komplexer. Die Ziffernreihe vor dem ersten Bindestrich chiffriert die Gattung (»Bildhauerisches«), das Material (MDF), die Technik (verleimt, gespachtelt) sowie eine interne Größenklassifizierung des Objekts. Die mittlere Ziffernreihe nennen Dreidimensionalität, Kürzel eines Arbeitstitels (WG für »Waggon«), Häufigkeit des Werkversuchs und Farbschattierung. Alles genau bestimmbar. So gesehen können die Titel als Matrizen fungieren. Sie gewähren, aufs Äußerste verknappt, Einsicht in die Logik ihres Produziertseins. Entsprechend lassen sich die Titelbeischriften, die in den Objekten und Bildern selbst nicht erscheinen, ihnen aber ›eingeschrieben‹ sind, als Schriftbildakte verstehen; allerdings als solche, die zwischen evokativen und performativen Handlungen schweben. Als evokativ können sie dort verstanden werden, wo die Titel als Handlungsanweisungen auftreten. Hier wiederum ist die Anweisung zugleich Einweisung und Unterweisung. Als Einweisung leitet sie unser Verständnis der rätselhaften Objekte an, als Unterweisung könnte sie zum Nachahmen, ja Nachbauen der Objekte aufrufen – und sei es in der reinen Vorstellung. Wenn die Titel die Matrix der Werke anzeigen, dann geben sie zugleich Regeln der reinen Anschauung. Als Schriftbildern ist sie den Codes bereits auf den ersten Blick anzusehen, noch bevor irgendetwas gedeutet wäre. Dabei garantieren die Titelmatrizen so wenig das Glücken einer solchen Ausführung, wie die Partitur schon für das Gelingen einer musikalischen Aufführung sorgen kann. Evidenterweise sind die schriftlichen – und eben nur schriftlichen, nicht mündlichen – Titel der Objekte weder deren Waschzettel noch deren Baupläne. Als moderne Kunstobjekte sind sie zwar prinzipiell nachvollziehbar, Die Unerschöpflichkeit des Gegenstands |  73

wo ihr Prinzip verstanden wurde. Doch zur Nachahmung bedürfte es auch der nötigen Techniken und Fertigkeiten, in denen sich, wie in den Werkentscheidungen, noch die unhintergehbaren Faktoren künstlerischer Subjektivität anmelden. An ihnen dokumentiert sich die Handschrift des Künstlers geradeso wie in den Werkcodes seine Denkschrift. 4. Namenlosigkeit Die Titel der »Skulpturen« und Bildwerke Daniel Kuges lassen sich also dekodieren. In Wahrheit aber verdecken die Titel ihre Namenlosigkeit. Den Künstler interessiert das Unbenennbare. Indem die abstrakten Titel kein Sujet, sondern formalen Bestimmungen, keine Intention, sondern Materialursachen, keinen Sinn, sondern ein Sein benennen, fingieren sie den Namen der Werke mehr, als dass sie sie beim Namen nennten. Anders als Namen, deren Bezug unbestimmt ist und nur durch einen Taufakt fixiert werden kann, referieren die Titel zwar auf Konkretes, verstärken aber im selben Moment die Namen- und Benennungslosigkeit des Ganzen. Darin liegt eine sachliche Konsequenz: Jeder andere Titel drohte dem Gegenstand einen Sinn abzupressen oder aufzudrängen. An die Stelle der Ambiguität des Objekts träte Eindeutigkeit. Kuges Arbeiten wollen aber keinen Sinn ergeben, sondern Bedeutung haben. Ihre Bedeutung jedoch ist keine andere als das Sichselbstbedeuten des Gegenstandes. Es steht nicht für anderes und repräsentiert nichts, was außerhalb seiner selbst läge. Es bezieht sich auf nichts, was schon da wäre. Die Autosemantizität des ambigen Objekts bezeugt seinen Anspruch auf Autonomie. In seinem Nichts-anders-als-sich-selbst-Bedeuten liegt die eigentümliche Evidenz von BMV2-G3WG1L-17. An Kuges drei­ dimensionalen Objekten kommt deshalb ein ähnliches Motiv zum Vorschein wie in seinen abstrakten ›Tafelbildern‹ (z. B. MPM2G37Z2L-16, 2016). Während viele von ihnen eine Dreidimensionalität antäuschen, die in den plastischen Objekten real wird, so beruht ihr Sich-selbst-Bedeuten gleichermaßen auf dem Zusammenfall von Bildträger, Bildsujet und Bilderscheinung. Deshalb gehen Plastik und Tafelbild ineinander über. Beide bestehen in 74 | Ambige Objekte 

Kuges Kunst aus besonderen shaped canvasses. Das Bildsujet ist nichts anderes als der Bildträger selbst und an diesem kommt gar nichts anderes zur Ansicht als die Bilderscheinung. Die Differenz von Skulptur und Tafelbild ist aufgegeben, die Differenz von Darstellung, Dargestelltem und Darstellendem fällt zusammen. Die Titel der Werke zeigen dies an. Sie erinnern eben jene Arbeit des Begriffs (Konzeption) und jene Arbeit am Material (Handwerk), deren Spuren in der scheinbar maschinellen Präzision der Objekte so gut wie getilgt wurden. Die Namenschiffren der Werke lassen, kodiert, jene Materialbearbeitungsprozesse sehen, die unsichtbar gemacht wurden. Es liegt nahe, dem Namenlosen, Numinosen, Unnennbaren einen sakralen Sinn zu unterstellen. Numinosität ist, einer berühmten Deutung zufolge, Charakterzug alles Heiligen. Doch scheint BMV2-G3WG1L-17 ebenso wenig ein Kultgegenstand zu sein wie das objet ambigu, das Valérys Sokrates am Ufer fand  – am Ufer der Totenwelt allerdings. Während ein Naturgegenstand nur durch die bewusste Übertragung von Statusfunktionen nachträglich zu einem sakralen Objekt werden kann (etwa als Reliquie), mag Kunstgegenständen von Anbeginn solch übersinnliche Bedeutung zugeschrieben sein. Auch BMV2-G3WG1L-17 lässt sich zumindest der Schein von Sakralität nicht rundweg absprechen. Dazu sind die Mehrdeutigkeiten und Andeutungen zu stark. Blickt man erst einmal mit solchen Assoziationen auf den Gegenstand, so beginnt er zwischen dem Eindruck von Profanität und Sakralität zu schweben. Seine Autarkie, Autosemantik und Autonomie machen BMV2-G3WG1L-17 ergreifend ambig: vielleicht ein profanes, funktionsloses Kunstding, vielleicht aber auch ein sinnlich-übersinnliches Kultding; vielleicht Sarkophag, vielleicht Opferaltar, vielleicht Waggon ? Modern ist BMV2-G3WG1L-17 wohl auch darin, dass es uns ein Licht über diese Differenz aufsteckt: Kunst und Kult sind nicht mehr eins, aber auch nicht säuberlich zu trennen.

Die Unerschöpflichkeit des Gegenstands | 75

5. Unnatürlichkeit BMV2-G3WG1L-17 hat seine eigene Natürlichkeit, aber nichts Natürliches. Wenn man die überwundene Unterscheidung von Kunst- und Naturschönem zugrunde legen wollte, so weben Kuges Arbeiten nicht einmal an dem Schein des Naturschönen, den sich die biofaktischen Prozesse Eduardo Kacs, die biomorphen Gebilde Luca Trevisanis oder die biologisch verrottenden Kollagen Wolf Vostells noch aneignen konnten. Mag Adornos Ästhetische Theo­ rie für eine Rehabilitierung jenes Naturschönen gesorgt haben, welches Hegels Ästhetik, hellhörig für die anbrechende Moderne, aus dem Bezirk der Kunst verbannt hatte, so hat doch Adorno weder die binäre Differenz von Natur und Kunst erneut befestigen noch beide wieder dem Schönen zuschlagen wollen. Mit dem Primat der nicht-mehr-schönen Künste und der Wiederanerkennung des Naturschönen im Horizont seiner allgegenwärtigen Zerstörung war zugleich der Charakterzug der Erhabenheit in die modernen Kunstwerke zurückgekehrt: the sublime is now. Daniel Kuges Arbeiten siedeln jenseits der Linien von Schönheit und Erhabenheit: le sublime est passé. Sie erheben weder den Anspruch auf das eine noch das andere. Die Unnatürlichkeit seiner ambigen Kunstobjekte ist zunächst eine Absage an Naturwüchsigkeit. Nichts an ihrer Gestaltung ist dem Zufall überlassen; nichts entsteht aus sich heraus oder von sich her. Nichts geht natürlicherweise in anderes über. Kein zureichender Grund ihrer Existenz könnte auch ein anderer gewesen sein. Tatsachenwahrheiten sind Skulpturen wie BMV2-G3WG1L-17 nicht als natürliche, sondern nur als kulturelle Tatsachen. In der Wahl der Materialien dokumentiert sich zweitens Naturlosigkeit. Natürliche Materialien (Holz, Stein, Erde) fehlen, auch die Farbgebung orientiert sich nicht an Naturfarbigkeit, sondern an der Imitation industrieller Massenproduktion. Unnatürlichkeit ist allerdings kein Dogma: Kuges Werkgegenstand S­ B2-KB12-15 (2015) bezeugt noch die Reminiszenz des Natürlichen. Der Bronzeklumpen wirkt wie ein Relikt aus der anorganischen Frühzeit der Erdgeschichte. Seine geologische Rohheit und geometrische Ungestaltheit scheinen sich von ihrer durch und durch menschengemachten künstlichen Umwelt abzuheben. Doch auch diese Dif76 | Ambige Objekte 

ferenz ist bloßer Schein. Die saubere Schnittkante der beiden Teile lässt die Gemachtheit auch ihres Ganzen erahnen. Auch das erdgeschichtliche Relikt ist in Wahrheit künstlerisches Artefakt. Unnatürlichkeit fällt in diesen Arbeiten zusammen mit natürlich wirkender Künstlichkeit. Nichts ist geworden, sondern alles gemacht; nichts ist dem Zufall überlassen, sondern gehorcht einem Ausführungsplan; nichts bleibt ungestalt, sondern wird durchgearbeitet. Das fein Gearbeitete, aber Funktionslose weckt heute, da in der Kunst deren Dysfunktionalität zum guten Ton gehört, den Verdacht des l’art pour l’art. Vor dem allzu angenehm Dekorativen dieser Objekte, die gut in jedes repräsentative Foyer zu passen scheinen, schützt ihre Sprödheit, Widerständigkeit, Ambivalenz. Wenn man weiß, dass ein größerer metallener Oktokaidekaeder Kuges in einer Wolfsburger Ausstellung als Mahnmal der NSZwangsarbeit diente (vgl. BMS2-G3WS1M-18, 2018), dann bekommt man die Assoziation des Waggons nicht mehr aus dem Kopf. ­BMV2-G3WG1L-17 legt uns nicht auf diesen Gedanken fest; aber es kann uns auch nicht mehr von der Assoziation eines Deportationswaggons befreien. Darin besteht das Kippmoment ins Unheimliche, das die Werke von der Selbstgenügsamkeit des l’art pour l’art trennt: vielleicht ein entsetzlich profaner Gegenstand, letzte Station zusammengetriebener homines sacri. Weit davon entfernt, simple Gegenwartsdiagnosen oder gar Thesenstücke zu sein, lassen Kuges Arbeiten jenen Urgrund der Gewalt erahnen, auf dem sich, vermeintlich unschuldig, alle schöne Kultur erhebt. So entlassen die Objekte in eine nicht zu verscheuchende Suche nach Auskunft. In einer letzten Gebärde begrifflicher Ratlosigkeit schleudert Valérys Sokrates das objet ambigu wieder ins Meer. Vielleicht kehrt es in den hadischen Naturzusammenhang zurück, dem es einmal entsprang. Die Begriffsstutzigkeit, mit der man den ambigen Gebilden Daniel Kuges begegnet, ruft keine ähnlich heftigen Reaktionsweisen hervor. Ihre unerhabene Zartheit weckt eher Schutzinstinkte. Alles an ihnen signalisiert, dass sie weder in eine immerseiende Unterwelt noch in eine ewige Überwelt gehören, sondern in die endliche Welt, in der die menschlichen Werke so vergehen wie diese selbst.

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Abb. 7: Szene aus Arrival (2016), Regie: Denis Villeneuve. © Sony Pictures / ­Xenolinguistics, LLC 2016. All rights reserved.

SCHRIF TBILDAKTIVISMUS

Typen, Thesen, Perspektiven

1. Scripicturalia Auch in der Fiktionalität des Films haben Schriftbildakte ihren festen Ort. Der Film Arrival (Regie: Denis Villeneuve, 2016) lässt außerirdische Siebenfüßler in kunstvoll anmutenden Scripicturalia mit den Menschen kommunizieren (Abb. 7). Das Szenario des Films: Zwölf extraterrestrische Flugobjekte landen an verschiedenen Orten der Erde. Die Kontaktaufnahme zu den außerirdischen Wesen durch Militär und Geheimdienste bleibt zunächst ergebnislos. Für ein in Montana gelandetes Raumobjekt rekrutiert das USMilitär durch Colonel Weber (Forest Whitaker) ein Team bestehend aus der Sprachwissenschaftlerin Louise Banks (Amy Adams) und dem Physiker Ian Donelly (Jeremy Renner). Dem Tandem gelingt es, an Bord zu gelangen und Kontakt mit zwei der außerirdischen Heptapoden aufzunehmen. Schrittweise lassen sich die rätselhaften logographischen Zeichen entschlüsseln, in denen sich die fremden Wesen mitteilen. Zu den Besonderheiten ihrer Kommunikationsform gehört zum einen, dass die Schriftbildzeichen keine Repräsentationen gesprochener Sprache sind: die unheimlich wirkenden Laute der Heptapoden haben nichts mit ihrer Schriftsprache zu tun. Zum anderen ist die Schriftbildsprache dieser Spezies nicht linear, sondern – wie ihr Zeitverständnis  – zyklisch und futurisch. Ihre Scripicturalia sind in der Lage, Zukunftsmodi schriftbildlich zu vergegenwärtigen. Einfacher gesagt: Sie setzen ihre Benutzerinnen und Benutzer in den Stand, Zukunft zu »sehen«. Die Schriftbildzeichen enthalten faktische Zukunftsvisionen, in denen sich auch die vermeintlichen Rückblenden der Xenolinguistin Banks als Vorschein ihrer Zukunft erweisen. In der Filmhandlung bleibt das Visionäre der nichtlinearen Schriftbildsprache lange unentdeckt und in demselben Maße, wie  79

die Entschlüsselung der heptapodischen Scripicturalia fortschreitet, kommt es zu Deutungsproblemen, Miss- und Fehlverständnissen, die Teile einer besorgten Weltgemeinschaft an den Rand des Angriffskrieges gegen die Außerirdischen bringen. Die halbdurchdachte Konzeption der Schriftbildsprache in Arrival stellt weitreichende Fragen nach unserem sprachbildlichen Selbst-, Welt- und Fremdverständnis. Es führt ethische Probleme unseres Verhältnisses zum Anderen ebenso vor Augen wie die linguistische Frage nach der Welterschließungskraft natürlicher Sprachen. Der Film geht zwar, eigenen Angaben nach, von der sog. Sapir-Whorf-Hypothese aus, der These also, dass uns jede Sprache eine bestimmte Weltsicht aufpräge, die somit sprachrelativ sei. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass der Film eher von der Urszene radikaler Übersetzung zehrt, wie sie W. V. O. Quine in Word and Object (1960) beschrieben hat. Quine konstruiert diese Urszene zwischen einem Feldlinguisten und dem Sprecher einer vollkommen fremden Sprachgemeinschaft bekanntlich so, dass sie sich in der Situation radikalen Nichtverstehens zunächst mit Ein-Wort-Sätzen über basale Reizbedeutungen verständigen.1 So auch in Arrival: Die Xenolinguistin Banks verweist in Schildern zunächst auf ihren Eigennamen, dann auf ihren Gattungsnamen (»human«)  – ein sprachphilosophisch durchaus fragwürdiger Schritt. Denn der Gedanke, dass sich Stück für Stück aus primitiven extensionalen Grundbedeutungen auch ein komplexes intensionales Zusammenhangsverstehen einstellen würde (hier zuletzt: die nichtlineare Sprache als Geschenk der Heptapoden im Tausch gegen eine tausende von Jahren später zu erfolgende Hilfeleistung durch die Menschen), hat an der erheblichen Reizbedeutungsferne von Gattungsbezeichnungen seine Grenze. An dieser Stelle wird eine weitere, ebenso interessante wie strittige Entscheidung des Teams um Villeneuve ansichtig – und man kann sich fragen, ob ihr sprachwissenschaftlicher Beirat nicht nur Quine durch Davidson, sondern beide auch noch einmal durch Derrida korrigieren wollte. Denn der Einfluss der Dekon­struktion macht sich nicht nur in der Trennung von gesprochener Sprache W. V. O. Quine, Word and Object, Cambridge/Mass. 1960, § 7 (dt.: Quine, Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, 63). 1

80 | Schriftbildaktivismus 

und Schrift bemerkbar, sondern auch in der Trennung von Sprache und Linearität bzw. Sukzessivität. Menschliche Sprache erscheint, als gesprochene wie als geschriebene, linear und sukzessiv. Sie verklingt in ihrer Folge und wird überwiegend auch im Nacheinander gelesen. Ein Zugleich des Gesprochenem gibt es nur in Chor und Gruppen, nicht im einzelnen Sprechen. Sprache und Schrift sind zeitlich und räumlich strukturiert. Umgekehrt gibt es nuancierte Zeitunterscheidungen  – wie etwa die zwischen Futur 1 und Futur 2 – überhaupt nur durch und als Sprache. Bei den Heptapoden in Arrival verhält es sich anders. Ihre Sprache hat schon im Schriftbild eine zirkuläre, ihrem Wesen nach nicht-lineare Struktur. Diese Sprache »spricht« in Kreisen, an deren Fäden sich gleichsam Verknotungen – man darf vermuten: Bedeutungsverdichtungen – anlagern (vgl. Abb. 7). Damit ist ihnen – von Banks und Donelly lange unerkannt  – ein überlagertes, multifunktionales Schreiben mit extremer Bedeutungskonzentration möglich. Die Schriftbildsprache der Heptapoden erweist sich als zu komplex für das lineare Bedeutungsverständnis ihrer menschlichen Erforscher, während deren lineare Sprache den Hepta­poden keine ähnlichen Schwierigkeiten zu bereiten scheint. Erst als es den Heptapoden gelingt, der Linguistin Banks ihre Zeit- und Bedeutungsebenen fusionierende Sprache »einzuflößen«, also verstehen und damit entscheidend in die Zukunft blicken zu lassen, begreift Banks ihre komplexe und für die Menschheit existenzielle Botschaft. Man könnte auch sagen: Einmal von den Heptapoden in den hermeneutischen Zirkel ihrer Schriftbildsprache geworfen, kann sich der Sinnhorizont der Xenolinguistin Banks mit der ihrer extraterrestrischen Schriftbildpartner Abbott und Costello verschmelzen. Diese Horizontverschmelzung wird möglich allerdings einzig durch die triangularische Beziehung von Schreibenden, Lesenden und Schriftbildzeichen in der Welt. Nur indem sie in den komplexen Vorgang eines hermeneutisch zirkulären Schriftbildaktivismus eintreten, in dem auch alle Aspekte der Leiblichkeit unseres Weltzugangs wirksam werden, kann sich zaghaft so etwas wie Verständnis herstellen.

Typen, Thesen, Perspektiven | 81

2. Enaktivismus Für jede Theorie von Schrift, Bild und Handlung ist das Moment der Leiblichkeit zentral. Wahrnehmung vollzieht sich nicht im passiven Empfangen von Eindrücken. Leibliche Perzeption erschöpft sich auch nicht in der Verarbeitung neuronaler Teilchenschauer. So wichtig ihre physiologischen Voraussetzungen sind, so wenig reduziert sich Wahrnehmung auf neuronale Hintergrundprozesse. Sie bestimmt sich stets als Aktivität einer leiblichen Kommunikation mit anwesenden Gegenständen.2 Dabei wird die Wahrnehmungsaktivität gleichermaßen von der Produktivität des Vorstellens wie von der Begrifflichkeit des Denkens durchdrungen. Was und wie wir wahrnehmen, ist durch das bestimmt, was wir tun und dabei denken. Dieser ebenso leibphänomenologische wie verkörperungspragmatische Ansatz grundiert auch die Theorie der Schriftbildakte. Insbesondere ihr Verständnis von Handlung und Erfahrung, von Tun und Lassen ist durch einen enaktivistischen Deutungsansatz (enactivist approach) bestimmt.3 Schriftbildakte nutzen die Besonderheiten unserer leiblich kom­ munizierenden Weltwahrnehmung. Deren vermeintliche Mängel stiften einen ganz eigenen, symbolischen Möglichkeitshorizont: die Unschärfen des Gesichtsfeldes, die Lückenhaftigkeit der Eindrücke, die Grobkörnigkeit der Anschauung, die Ungesättigtheit der sensomotorischen Repräsentation, die Unterschiedsblindheit leiblichen Weltzugangs. Die Dinge, Halbdinge und Atmosphären, an denen wir Erfahrungen machen, erschließen sich uns nicht primär als neuronale Vorgänge oder durch rationale Schlüsse, sondern in leiblicher Gegenwart: »Wir verstehen uns nicht so, dass wir jedes Detail unserer Umwelt in Gleichzeitigkeit im Bewusstsein erleben, sondern nehmen uns als in der Umwelt situiert und leiblich positioniert wahr.«4 Nur so lässt sich auch die Präsenz der wahrnehmungsabgewandten Seite der Dinge erfahren. Die Phänomenologie

Vgl. Hermann Schmitz, Die Wahrnehmung. System der Philosophie III/5, Bonn 1978. 3 Vgl. Alva Noë, Action in Perception, Cambridge/Mass., London 2004. 4 Ebd., 59. 2

82 | Schriftbildaktivismus 

spricht von »Leerintentionen«. Wir erfahren, mit Alva Noë gesagt, »keine visuellen Felder. Wir erfahren Welt.«5 Den Unterschied zwischen der physikalischen und der phänomenologischen Gegenstandsbeschreibung hat auch eine Ästhetik der Schriftbildakte zu bedenken. Stärker aber als bei den phänomenologischen Gegenstandsbereichen der Dingwahrnehmung hat sie aufgrund der Bildlichkeit und Skripturalität des erscheinenden Sinns die imaginativen Leistungen der Vorstellung und die kategorialen Leistungen des Denkens in ihre Theorie einzubeziehen. Dabei weisen die Kontexte der Schriftbildakte über den Bezirk phänomenaler Gegenständlichkeit in den der Handlungswirklichkeit hinaus: in Kunst, Kultur und Politik. Der enaktivistische Unterstrom des bildpragmatischen Ansatzes erweitert sich um handlungstheoretische Gehalte. Was auf der Ebene leiblicher Kommunikation bewegte Aktivität ist, dem entsprechen auf lebensweltlicher Ebene individuelle und kollektive Handlungen. Eine Theorie der Schriftbildakte muss daher nach den Formen, Figuren und Typen von Handlungen fragen, die in Schriftbildakten zum Ausdruck oder überhaupt erst durch sie in die Welt kommen. 3. Handlungstheorie (1): Triangulation Schriftbildakten liegt eine systematische Triangulation von Schrift, Bild und Handlung zugrunde. Das klingt trivial, ist aber theoretisch gehaltvoll – und deshalb erklärungsbedürftig. Schrift ist, grob gesagt, eine differentiell organisierte und dadurch lesbare, eine geregelte und dadurch notierbare, eine wiederholbare und dadurch (re-)kontextualisierbare Visualisierung bedeutungsunterscheidender Zeichen. Bilder wiederum sind mehrstellige Relationen von Bildträger (Darstellendem), Bildsujet (Dargestelltem) und Bilderscheinung (Darstellung). Auch Handlungen werden durch eine dreifache Bestimmung definiert. Anders als das unwillkürliche Verhalten oder das reflexhafte Tun ist das Handeln erstens durch eine bestimmte, in der Regel frei gewählte Absicht gekennzeich5

Ebd., 72. Typen, Thesen, Perspektiven | 83

net. Diese gehaltvolle Absicht wird zweitens durch händischen oder sprachlichen Vollzug geäußert (Äußerung) – ohne dass diese Äuße­rung allerdings bereits für das Gelingen der Handlung garantieren bzw. ohne dass vom Misslingen einer Handlung streng auf deren ursprüngliche Intention zurückgeschlossen werden könnte. Schließlich kann, drittens, eine gehaltvolle Handlungsabsicht auf Nachfrage begründet und die Handlung dadurch gerechtfertigt werden (Grund). Schematisch lässt sich die Triangulation von Schrift, Bild und Handlung wie folgt darstellen (Tafel 3): Grund

Handlung (Intentionalität)

Absicht

Äußerung

Lesbarkeit

Darstellung

Schrift

Bild

Notierbarkeit

Dargestelltes Wiederholbarkeit

Darstellendes

Tafel 3: Modell der Triangulationsaspekte von Schrift, Bild, Handlung

Alle genannten Elemente finden sich auch in politischen Schriftbildhandlungen. Wir kennen eine bestimmte Gebärde der politischtheatralen Unterzeichnung von Verordnungen, Gesetzesvorlagen und Abkommen aus der Amtszeit des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Schriftbildhandlungen vollzog Trump, oft im Beisein von Predigern und Familienmitgliedern, nicht nur als politischen Akt, sondern performte mit ihnen zugleich einen signature move. Trumps Signatur gewann den Charakter von Schrift, Bild und Handlung: Schrift als Signatur, Bild als großflächiges Mar84 | Schriftbildaktivismus 

kenzeichen, Handlung als performativer Schriftakt. Performative Schriftakte kennen wir vor allem aus dem Vertragsrecht, aber eben auch aus der Politik. Politische Schriftakte sind Handlungen vor allem in dem ingressiven Sinn, dass sie weitere Handlungen (etwa der Exekutive) anweisen und legitimieren. Zugleich gehen legitimierten Schriftakten ihrerseits legitimierende Schriftakte voraus. Trumps Autorität, Erlasse unterzeichnen zu können, beruhte unter anderem auch darauf, per Ernennungsurkunde (ein politischer Schriftakt) als Präsident legitimiert worden zu sein. Autoritätsstiftende Schrifthandlungsketten haben selbst einen virtuell endlosen Vorlauf, in welchem abgeleitete Intentionalitäten geregelt übertragen werden. 4. Handlungstheorie (2): Handlungstypen Trumps performativer signature move wirkt selbst für politische Inszenierungen ungewöhnlich theatralisch. Es ist, als wollte seine großspurige Geste die intellektuelle Kleingeistigkeit des bekanntlich lesemuffligen Ex-Präsidenten kompensieren. Die Großspurigkeit der Schrift soll offensichtlich die Größe der vollbrachten Handlung und die Fülle der mit ihr verbundenen Macht illustrieren. Deren politisch-ökonomische Absicht wird im Unterschriftsetzen durch eine sowohl körperliche als auch schriftsprachliche Äußerung vollzogen, die sich auf Nachfrage durch mehr oder weniger gute Gründe erklären lässt. An dieser Stelle kommt der implizite Bildcharakter des Schrift­ aktes ins Spiel. Bildhaft ist in dem Beispiel nicht nur die Signatur selbst, sondern auch der Rahmen: das Lebendbild der Zeremonie, eine Art tableau vivant. Die andere Vermittlung von Bild und Handlung ist die Schrift selbst. In der Regel bewegt sich alles Bildliche im Bereich des Zeigens, während alles Sprachliche im Bereich des Sagens bleibt. Schrift ist allerdings bereits an sich selbst eine Art Zwittergestalt: Sie sagt etwas, aber tut dies in visu­ell zeigender Weise. Die lesende Lege der Schrift, könnte man heideggernd sagen, ist eine weisende Zeige. Gerade dort aber, wo es – wie in Unterschriften – gar nicht auf die buchstabengetreue Leserlichkeit der Schrift ankommt, verlässt sie den Bereich des Lesbaren in Richtung Typen, Thesen, Perspektiven | 85

auf das Schriftbildliche. Solche Diagrammatica haben starke ikonische oder piktogrammatische Anteile. Ihre Züge gewinnen eine eigene figurative Gestalt, zum Teil kalligraphische Formen; sie lassen etwas sehen, das über das hinausgeht, was sie bedeuten. Diagrammatica sind Hybride von Text und Grafik. 6 Nun lassen sich Handlungen nicht nur kriteriologisch bestimmen, sondern auch nach ihren illokutionären Rollen und perloku­ tio­nären Effekten präzisieren. Aus der Diskurstheorie sind drei Handlungstypen geläufig. Ihre Typologie gliedert erfolgsorientiertes Handeln in instrumentelles und strategisches und trennt von beiden das verständigungsorientierte kommunikative Handeln. Während das instrumentell-zweckrationale Handeln auch außerhalb sozialer Handlungssituationen auftreten kann (etwa im erfolgsorientierten Befolgen »technischer Handlungsregeln«, wie der strikten Orientierung an einer Bauanleitung zwecks erfolgreicher Montage etwa eines Bücherregals), ist strategisches Handeln immer schon in soziale Handlungskontexte eingebettet. Strategisches Handeln richtet sich nicht einfach nur an eigenen Zwecken aus, sondern muss seine Handlungsabsichten im Blick auf mögliche Gegenabsichten rational wählen und abstimmen, um erfolgreich zu sein. Beiden Handlungstypen gegenüber ist das kommunikative Han­ deln durch Verständigungsorientierung motiviert. Es stellt sich immer schon in einen sozialen Handlungskontext und richtet sich darauf ein, mit anderen sprach- und handlungsfähigen Subjekten ein gemeinsames Verständnis oder gar Einverständnis zu erzielen.7 Darunter fallen diskursethisch auch Handlungen innerhalb demokratisch-politischer Willensbildungsprozesse. Weder bloß erfolgs- noch bloß verständigungsorientiert ist dem­gegenüber der Handlungstypus des symbolisch-expressiven Han­delns. Als nicht zweckrational orientierte sind expressive Hand­ lungen keineswegs irrational. Vielmehr bilden die künstlerischautonomen Expressiva innerhalb des Gevierts von strategischem, Vgl. Sybille Krämer, Eva Cancik-Kirschbaum und Rainer Trotzke (Hrsg.), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Nota­ tio­nen, Berlin 2012; Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016. 7 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frank­ furt/M. 1981, 384–386. 6

86 | Schriftbildaktivismus 

instrumentellem, kommunikativem und expressivem Handeln eine eigene Vernunftgestalt. Solche Handlungen können auch als Schriftbildakte auftreten. Dabei fallen sie weder auf die Seite der instrumentellen Rationalität noch auf die der kommunikativen Vernunft, ohne doch deshalb vernunftlos, unvernünftig oder wider­ vernünftig zu sein. Ebenso wenig fallen sie mit den Epistemica zusammen, mit denen sie wiederum der Anspruch auf Erkenntnis verbindet. Die eigentümliche figurative Vernünftigkeit und diagrammatische Erkenntnisorientierung künstlerischer Schriftbildhandlungen liegen in der Autonomie ihrer spielerischen Differenzierung (vgl. Tafel 1) begründet. 5. Handlungstypen (1): Formalia Entsprechend lassen sich auch die Handlungsaspekte von Schriftbildakten unterschiedlich klassifizieren: nach ihrer lokutionären Gestalt, ihren illokutionären Rollen, ihren perlokutionären Wirkungen. 8 Eingangs war bereits die am triadischen Schriftbildmodell orientierte Unterscheidung von Anblicks-, Zeit- und Darstellungs­ akten diskutiert worden (vgl. Tafel 2). Denkbar wäre natürlich auch eine Klassifikation nach dem Grad an Bild- oder Schriftanteilen. Möglich wäre ebenso gut ihre Ordnung gemäß den Handlungs­ typen, denen sie eine materiale Gestalt geben: instrumentelles oder strategisches, kommunikatives und/oder expressives Handeln. Statt jede dieser Unterscheidungen systematisch durchzuführen, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die möglichen illokutionären Rollen schriftbildlicher Performativa. Dabei geht das – keinerlei Vollständigkeit beanspruchende Panorama – von den streng formalen über die dokumentierenden zu den expressiven Performativa über. Ihr Einteilungsgrund ist nicht zuletzt der Streng genommen lässt sich Austins Terminologie, die von der locutio, dem Sprechen, ausgeht (vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge/Mass. 1960, 94–108), nicht unverändert in eine Schriftbildakttheorie übernehmen. Das hier nicht ohne Augenzwinkern eingeführte Kunstwort »Scripicturalia« (oder scripicture acts) macht die Sache allerdings kaum handlicher. Zu sprechen wäre von der scripicturalen Gestalt, der illoscripicturalen Rolle und dem perscripicturalen Effekt solcher Handlungen. 8

Typen, Thesen, Perspektiven | 87

jeweilige Anteil des Sagens im Zeigen (Expressiva) und des Zeigens im Sagen (Formalia) (Tafel 4): Schriftbildakte (Scripicturalia) Formalia

Documenta Expressiva

· Operativa · Testimonia · Aisthetica · Veritativa · Administrativa · Imaginaria · Logica · Rhetorica · Emotiva · Epistemica · Contracta · Politica Tafel 4: Mögliche Einteilung von Schriftbildhandlungen

Operativa und Veritativa können solche Schriftbildhandlungen heißen, die eine formale Funktion in Beweisen, Kalkülen oder Algorithmen haben, zu diesem Zweck aber eine rudimentär ikonische Gestalt gewinnen müssen: Zahlenfolgen, die sich gewollt oder ungewollt zu einem einprägsamen Muster verdichten; Programme, die eine bildhafte Transparenz erreichen; Wahrheitstafeln, die eine ebenso apodiktische wie ikonische Evidenz erzeugen. So lässt sich an aussagenlogischen Wahrheitstafeln zeigen, dass die apodiktische Evidenz ihrer Operativa auch eine Art ikonische Prägnanz nach sich zieht. So ist die Wahrheitstafel des folgenden aussagenlogischen Schlusses p

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88 | Schriftbildaktivismus 

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insofern ikonisch evident, als das fettgedruckte Ergebnis der Wahrheitsverteilungsermittlung auf einen Blick, uno intuitu, zeigt, dass der Schluss allgemeingültig, das heißt in jeder möglichen Wahrheitswertverteilung von wahr (W) und falsch (F) immer wahr ist. Ungewöhnlich sind solche Operativa als Veritativa (oder genauer: als Logica) auch darin, dass sie den Wahrheitsanspruch, den ihre erste Zeile erhebt, hier also: Aus »wenn p so q und r« und »nicht-r« folgt »nicht-p«, im Laufe des Kalküls selber einlöst. Der logische Kalkül ist ein veritativer Schriftakt mit ikonisch-evidenten Elementen, dessen Bewährung sich perlokutionär an sich selbst vollzieht. Epistemica können jene Diagrammatica heißen, die mit Schemata der reinen Anschauung operieren, wie in der Geometrie, oder mit konstruierten Tabellen, Übersichten und Modellen, wie in der Modellierung empirischer Wahrscheinlichkeiten, Prognosen und Hypo­t hesen. Der Beweis über die Summe der Innenwinkel im Dreieck etwa verwendet in der Regel Linien, Winkelkreise und Buchstaben. Ins Spiel gebracht werden bei solchen Schriftbildakten nicht nur kognitive, sondern auch imaginative und sinnliche Leistungen des menschlichen Geistes. Ähnliches gilt für Übersichten zu Projektionen wie »Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre« (woran sich auch die Vermischung mit den Politica zeigt): Im Schriftbild des Säulendiagramms treten farbige Kolumnen für die jeweiligen Parteien auf, ihre Höhe versinnbildlicht die momentane Wahlpräferenz, die Buchstabenkürzel geben den Parteinamen wieder. Das Kontrafaktische solcher Projektionen kann wiederum nur schriftbildlich und damit wortsprachlich durch das Konditional und den Modus des Konjunktivs artikuliert werden. Epistemica haben in der Regel eine gewisse ikonische Evidenz. Lokutionär eindeutig und illokutionär wirksam werden sie allerdings erst im Kontext erläuternder Texte. Statistische Erhebungen wollen erläutert, komplexe Tabellen erklärt, umfangreiche Übersichten kognitiv durchsichtig gemacht werden. Solche Diagrammatica wie Karten, Diagramme, Tabellen haben ebenfalls einen hohen Anteil von Formalität. Auch bei Epistemica ist, wie bei formalen Operativa generell, der Bildanteil gering, wenn man Bild nur als präsentisches Ikon eines Zeigens versteht. Versteht man Operativa oder Epistemica, mit Wittgenstein, jedoch als ›Bilder‹ der Tatsachen, dann ist mit »Bild« auch so etwas wie eine Uno-intuitu-­ Typen, Thesen, Perspektiven | 89

Erfassung, eine Synopse, eine unmittelbare Anschauung gemeint, die weder allein in skripturaler noch allein in ikonischer Präsenz operieren kann. 6. Handlungstypen (2): Documenta und Politica Documenta könnte man solche Schriftbildhandlungen nennen, die etwas fixieren (Demonstrativa), die Handlungen anweisen (Administrativa) oder Sachverhalte, Begebenheiten und Vorfälle bezeugen (Testimonia). Documenta enthalten nicht selten einen Mix aus Schrift und Zeichnung. Nicht alle Dokumente sind Schriftbildakte. Doch diejenigen Documenta, die beides enthalten, gründen in eben jener Doppelaspektivität von scriptura und pictura, auf der Schriftbildhandlungen generell beruhen (vgl. Tafel 3). Der Reisepass ist ein solches Dokument. Er enthält, außer bei Kleinstkindern, Bildund Textteile, inklusive biometrischer Daten, die in abgeleiteter Intentionalität wirksam werden. Auch Testimonia wie Zeugenaussagen können Schriftbildhandlungen sein. Der Tatbeschreibung wird zum Beispiel ein Phantombild beigegeben. Ihr perlokutionärer Effekt ist daher ein zusammengesetzter. Das Phantombild allein löst noch keine Rasterfahndung aus; umgekehrt hätte der Aufruf zur Rasterfahndung ohne Phantombild kaum Erfolgsaussichten. Nur im Verein von Schrift und Bild haben perlokutionäre Schriftbildakte die beabsichtigte Handlungswirkung. Unter Administrativa können auch solche Schriftbildhandlungen firmieren, die aufgrund der Materialität ihres Schriftbildaktes Handlungen überhaupt erst ermöglichen, eröffnen oder freigeben. Dazu gehören Briefmarken und Münzen. Die skripto-ikonographische Bedeutung von Post- oder Geldwertzeichen ist nicht nur Numismatikerinnen und Philateleten evident. Ihre Relevanz als Kulturdokumente, symbolische Funktionen und kulturelle Tatsachen haben Walter Benjamin und Aby Warburg geschichtsphilosophisch interessiert. Eigentümlich ist ihr Handlungscharakter. Auch die Briefmarke handelt mit abgeleiteter Intentionalität. Sie macht das versendete Dokument frei für seinen physikalischen Weg durch Briefkästen, über Bahnschienen, durch Postämter hin zu ihrem Bestimmungsort. 90 | Schriftbildaktivismus 

Münzen wiederum, seien es historische, seien es zeitgenössische, gehören wie Briefmarken nicht nur zu den Administrativa, sondern auch zu den Oeconomica. Darunter lassen sich Schriftbildhandlungen verstehen, die symbolisch den Geld- und Warenverkehr ordnen und in aller Regel mit komplexen Mischformen von scriptura und pictura funktionieren. Der ihnen durch schriftsprachlich-symbolische Statusfunktionen übertragene, gleichwohl variable Wert wird formalisiert, symbolisiert und dokumentiert durch Schriftbildakte: die legitimierte Signatur des EZB-Präsidiums etwa, konventionali­ sierte Bildgrafiken, regelkonforme Ziffernreihen. Schriftbildhand­ lungen repräsentieren symbolische Statusfunktionen, die Geldwerten Geltung und Gültigkeit verschaffen. Deshalb sind die Statusfunktionen, deren Zuschreibung Schriftbildakte legitimiert, ihrerseits noch einmal zu trennen von den Geltungsfunktionen, die von Schriftbildakten erfüllt werden.9 Im Einzelnen mag strittig sein, ob bestimmte Administrativa und Oeconomica bereits zu den Politica gehören. Auch hier lässt sich keine typentheoretische Reinheit herstellen, sondern nur, wie bei allen Phänomenen unserer theoretischen und praktischen Selbstverständigung, eine Reihe von Mischformen feststellen. Zu den Politica gehören Schriftbildakte, die  – im weitesten Sinn  – unsere Polis und uns als politische Wesen betreffen; sie kommen etwa in Wahlplakaten, in völkerrechtlichen Verträgen (Contracta) oder in politischen Karikaturen zum Ausdruck. Administrativa wie Postwertzeichen können ebenfalls den Charakter von Politica oder Historica erhalten (so hat Gottfried Gabriel etwa die Epoche des Kalten Kriegs im Spiegel der west- und ostdeutschen Philatelie dargestellt).10 Fraglich dürfte sein, ob Tattoos mit politischen BildText-Botschaften sowohl zu den Schriftbildhandlungen der Expressiva als auch denen der Politica zählen können. Unzweifelhafter dagegen scheint, dass zu den Politica auch solche schriftbildlichen Rhetorica gehören, wie sie sich mit der jüngeren Geschlechter- und Diversitätspolitik eingebürgert haben. Auch Zur Differenz von Statusfunktionen und Geltungsfunktionen vgl. Dirk Westerkamp, Kulturelle Faktizität, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 6 (2016), 759–772. 10 Vgl. auch Gottfried Gabriel, Präzision und Prägnanz, Paderborn 2019, 161–224. 9

Typen, Thesen, Perspektiven | 91

das »Gendern« ist ein Schriftbildakt mit illokutionär-politischen Rollen und perlokutionär-politischen Effekten. Auch hier gibt es innerhalb des Text-Bild-Hybrids Mischformen, die stärker skriptural oder stärker piktogrammatisch ausgerichtet sind. Dabei können Rhetorica wie der Gender*asterisk, der Gender:doppelpunkt, der Gender_unterschrich oder das Binnen-I ihrerseits kontroversen Binnendiskursen folgen, deren Progressivitätswettbewerb nicht selten Selbstüberbietungsstrategien hervorruft  – bis hin zu der Schwierigkeit, mit der auch schriftbildlich kaum zu beseitigenden Binarität der Bezeichnung eine dritte Option auszuschließen, was wiederum selbst ein Politicum ist. Wahlplakate und politische Werbung sind die vielleicht auffälligsten Beispiele für Politica. Anders als Werbefilme bilden Plakattafeln ein stillgestelltes Bild-Text-Hybrid; zuweilen auch als Filmstill. Das Bild zeigt meist Personen, der Text trägt die mehr oder weniger explizite politische Botschaft. Im Bundestagswahlkampf 2021 wurde der Parteivorsitzende der Liberalen, Christian Lindner, in der Rolle des noch in der Nacht weltgewandt um die Sorgen der Nation sich bekümmernden Staatsmanns inszeniert. Das Dunkel, das ihn einsam umgibt und in das er hineinschreibt, steht offensichtlich für die Finsternis des Status quo, dem gegenüber – so die Wahlbotschaft – nichts so bleiben soll, wie es ist. Die Überwindung des schlechten Bestehenden durch eine bessere Politik – so die abgeleitete Intentionalität dieses Schriftbildaktes. Nun äußern Schriftbildakte die Intentionalität ihrer Urheberinnen und Urheber nie ganz direkt. Diese sprechen ja nicht selbst. Die meisten symbolischen Handlungen, die in Hochkulturen ausgeführt werden, deren Verkehrsformen unendlich vermittelt sind, sind von solcher abgeleiteten Intentionalität. So wie eine Einkaufsliste, die verloren ging, in ihrer abgeleiteten Intentionalität sogar anderen beim Einkauf dienlich sein könnte, so mögen auch Wahlplakate ihren ursprünglichen Kontext verändern. Mitunter kann sich ihre abgeleitete Intentionalität sogar gegen ihre ursprüngliche wenden. Das erwähnte FDP-Plakat von 2021 spielt bewusst oder unbewusst auf ein Wahlplakat der SPD von 2002 an. Auch hier wurde der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder als unermüdlicher Staatsmann gezeigt, der noch des Nachts am Schreibtisch die poli92 | Schriftbildaktivismus 

tischen Geschicke lenkt. Hier jedoch mit einer anderen Botschaft. Während die Botschaft des Lindner-Plakats auf die Überwindung des Status quo zielte, setzte das Schröder-Plakat ganz auf das Gefühl der Sicherheit im Bestehenden. Politischer Schriftbildaktivismus enthält die vielleicht suggestivste abgeleitete Handlungsintentionalität; zugleich entwickeln pol­itische Diagrammatica das vielleicht unabhängigste Eigen­ leben. Das dürfte mit der politischen Imaginationskraft ihrer Nutzerinnen und Rezipienten zu tun haben; und nicht zuletzt mit dem metaphorischen Überschuss, den ihre bildtextlichen Botschaften entfalten. Man denke an die klassische Steuermann-Metaphorik der Staatsführung. Sie kann höchst unterschiedliche Resonanzen entfalten: der sinkende Kahn kann als vom Steuermann gerettet, zugleich aber auch als von ihm verlassen oder gekentert »gelesen« werden. Daher ist die Bildbotschaft in der Regel durch eine Textmessage zu stützen, um unmissverständlich zu werden. Der intentionale Handlungscharakter von Politica besteht in aller Regel darin, das Wahlvolk zum Urnengang zu bewegen oder, wie in Scheindemokratien, dessen Wahloffenheit zu simulieren. 7. Handlungstypen (3): Expressiva Nicht erst seit der Avantgarde, nicht erst seit den Kunstformen der 1960er Jahre vermischen sich Politica und Aesthetica, Oeconomica und Expressiva. Schon die griechische Polis war in ihren politischen Ritualen vom Kultwert der Künste nicht zu trennen. Die Künste hatten ihren Sitz im Leben der Politik, die Politik ihren Sitz im Leben der Kunstformen. Die Trennung von Kunst und Polis scheint selbst eine künstliche; und die Politisierung der Kunst wurde, so schließt Benjamins Kunstwerkaufsatz, höchst empfänglich für die Ästhetisierung der Politik. Dessen ungeachtet gibt es guten Grund, auf der Autonomie der Künste zu beharren – und damit auch auf dem Eigensinn künstlerischer Schriftbildakte. Dass dieser Eigensinn zum Schriftbildaktivismus Anlass geben kann, zur politischen Aktion, schließt nicht aus, dass Expressiva auch ohne unmittelbar politische Subtexte zum Politicum werden können und dennoch ihre Autonomie nicht verlieren. Typen, Thesen, Perspektiven | 93

Innerhalb des Gevierts von strategischem, instrumentellem, kom­munikativem und expressivem Handeln bilden die künstlerisch-autonomen Expressiva eine eigene Vernunftgestalt. Auch für Schriftbildakte gilt, dass ihre Erkenntnisform keine rein propositionale sein kann.11 Ebenso wenig fallen sie mit den Epistemica zusammen, erheben aber dennoch Erkenntnisanspruch. Die eigentümliche figurative Vernünftigkeit und Erkenntnisförderlichkeit künstlerischer Schriftbildhandlungen liegen in der Autonomie ihrer spielerischen Differenzierung begründet. Im spielerisch-differenzierenden Umgang mit der Welt kann sich Der-Fall-Seiendes zu etwas übersteigen, das zugleich nicht der Fall sein – und deshalb auch ganz anders sein könnte. In spielerischer Differenzierung beziehen wir uns so auf Welt, dass Etwas auch als Etwas-Anderes gesehen, gelesen und benutzt werden könnte: die Blechbüchse als Fußball, das Kompliment als Beleidigung, das ausgestellte Urinal als Kunstwerk. Künstlerische Schriftbildakte, Expressiva und Aesthe­tica, bringen Sinnlichkeit, Vorstellungsvermögen und Verstand, mit Kant und Schiller gesprochen, in ein freies Spiel. Ihrer spielerischen Differenzierung von Etwas als Etwas, Etwas als NichtEtwas oder Etwas als Etwas-Anderes entspringen unterschiedliche Perspektiven.12 Nur das Eindeutige bedarf keiner Deutung – und in diesem Sinn trägt der künstlerische Schriftbildaktivismus Deutungsperspektiven in die Welt. Auch deshalb gehört die Ästhetik der Schriftbildakte in den übergreifenden Theorierahmen eines kritischen Pragmatismus. Der Pragmatismus bestimmt Kunst als eine medial fundierte Deutungspraxis menschlicher Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse. In der Kunst artikuliert sich eine bestimmte Unterscheidung des Menschen von sich selbst. Dabei hat die ästhetische Moderne, insbesondere in ihren avantgardistischen Unterströmungen, stets die Canones ihrer eigenen Medialität, den Stand der jeweils avancier Zur Kunst als Form nicht-propositionaler Erkenntnis vgl. Gottfried Gabriel, Bestimmte Unbestimmbarkeit, in: Das unendliche Kunstwerk, hrsg. von G. Gamm und E. Schürmann, Berlin 2004, 141–156. 12 Zu den Expressiva können, wie in der Übersicht von Tafel 4 zwar angezeigt, aber nicht systematisch hergeleitet, auch Imaginaria (wie Phantasiegebilde und ihre abgeleitete Intentionalität) oder auch Emotiva (wie EmojisTM oder IdenticonsTM) gehören. 11

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testen Techniken reflektiert. Insbesondere ist der Übergang von der industriellen zur informationellen Medialität selber Gegenstand der künstlerischen Praxis geworden. Bestimmte Formen der abgeleiteten oder reflexiven Intentionalität kann es überhaupt erst geben, seit es auch die elektronischen Apparaturen der »medialen Moderne«13 gibt: elektronische Datenverarbeitung, Direktübertragung, Internet. Eine kritisch-pragmatische Ästhetik hat diese materielle Basis mit den künstlerischen Überbauphänomenen zu vermitteln, in ihren Wechselwirkungspraktiken zu analysieren und für eine Bestimmung unserer medialen Moderne fruchtbar zu machen. Diese programmatische Bemerkung soll allerdings kein neues Thema eröffnen, sondern abschließend zum Handlungstypus der Expressiva zurückführen. 8. Performativer Schriftbildwiderspruch Näher zeigen lässt sich der deutungsöffnende Zug des künstlerischen Schriftbildaktionismus der Expressiva an Joseph Beuys’ Hiermit trete ich aus der Kunst aus (1968) (Abb. 8). Beuys’ Schriftakt, kaum weniger Bild als Text, kündigt eine Handlung an, die mit dem »hiermit« zugleich als vollzogen behauptet wird. Dadurch gewinnt der Schriftbildakt zunächst den Charakter eines Demon­ strativums. Im selben Moment inszeniert er einen offensichtlichen performativen Widerspruch. Die Ankündigung stammt (wohl auch dem eigenen Selbstverständnis nach) von einem Künstler, der danach nicht aufgehört hat, Kunstwerke zu schaffen. Die Ankündigung des Schriftbildaktes wird ihrerseits in Form der Kunst vollzogen: Die Geste der Austrittsankündigung verleugnet sich selbst. Die Handlung dementiert indes nicht nur den Handlungsvollzug, sie führt ihn ad absurdum. Insofern die Kunst keine eingeschworene Gruppe, kein eingetragener Verein, keine organisierte Partei ist, kann man aus ihr weder offiziell noch inoffiziell austreten  – oder eintreten. Weder kann man seine Mitgliedschaft in der Kunst ruhen lassen, noch kann man sie intensivieren. Vgl. Claus-Artur Scheier, Luhmanns Schatten. Zur Funktion der Philo­ sophie in der medialen Moderne, Hamburg 2016. 13

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Auch auf die Gefahr hin, Pointen zu erklären, die sich unserem schriftbildaktkundigen Blick intuitiv viel wirkungsvoller erschließen, sei die Geste von Beuys’ performativem Widerspruch noch aus einer anderen Perspektive analysiert. Schriftbildakte überschreiten die engen Gattungsgrenzen von Bild und Text, von aisthetischem und diskursivem Medium. Ihre perlokutionären Handlungseffekte durchkreuzen auch den Chiasmus der (nach Dieter Mersch) Grundmedien von Bild, Ton, Wort und Zahl.14 Beuys’ Hiermit trete ich aus der Kunst aus kann deshalb auch als Reflexion auf die »Verfransung«15 künstlerischer Gattungsgrenzen gelesen werden. Weder ganz Text noch auch ganz Bild, verharrt Beuys’ Geste gleichsam auf der verwischten Demarkationslinie der Kunstgattungen, ihrer Formen, Materialien und Gesten. Mit entsprechender Verve vorgetragen oder gesungen ließe es sich auch ins Medium des Tons überführen. Vielleicht will Hiermit trete ich aus der Kunst aus zuletzt ja rezitiert werden. So oder so aber fällt die Handlung dieses Schriftbildaktes in sich zusammen. Sein illokutionärer Anspruch zeitigt keine perlokutionären Effekte. Weder hat irgendjemand Beuys’ Kündigung angenommen oder mit administrativen oder kontraktiven Schrift(bild)akten beantwortet, noch ist der Künstler seines Künstlerstatus beraubt worden. Genauso wenig hat man ihn für sein Rückfälligwerden bestrafen können. Beuys’ Schriftbildakt stellt sich in einen Kontext, in dem es keine Regulativa, Administrativa, Contracta oder Documenta gibt. Ihm fehlt jeder Handlungsspielraum, jeder institutionelle Rahmen, in dem der Schriftbildakt seine Handlungswirksamkeit entfalten könnte. Deshalb wird Beuys’ Schriftbild zum Dokument einer Handlungsäußerung, die sich zuletzt auch noch außerhalb jeder Schriftbildaktkontexte zu stellen vorgibt. Ein letzter Akt zur Überwindung aller Schriftbildakte ? Nicht wirklich, denn das Textblatt zieht sich als Schriftbildakt zugleich wieder in einen Schriftbildkontext zurück. Es wird zu seinem eigenen Testimonium und Dokument; es legt an sich selbst Zeugnis ab von seinem unmöglichen, ja verzweifelten und somit scheiternden Kunstaustrittsversuch. Beuys’ performativer Schriftbildwider Dieter Mersch, Kunst und Medium. Zwei Vorlesungen, Kiel 2002, 131–248. Theodor W. Adorno, Die Kunst und die Künste (1967), in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1997, 432–453. 14

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Abb. 8: Joseph Beuys, Hiermit trete ich aus der Kunst aus (1968), Postkarte, 10,5 × 14,8 cm. © Edition Staeck, VG Bild-Kunst, Bonn 2022.

spruch gehört, paradox genug, zu den Testimonia; er simuliert, komisch genug, den Schriftbildakttyp der Administrativa; und auf sich selbst zeigend gehört er, selbstreferentiell genug, auch zu den Demonstrativa. Gehört dieser Schriftbildakt aber auch zu den Politica ? Gewiss nicht im Sinne der üblichen Schriftbildhandlungen, die zu dieser Gruppe politischer Aktionsformen und ihrer Intentionalitäts­t ypen gehören. Nur bedingt ist Beuys’ Hiermit trete ich aus der Kunst aus als Karikatur zu betrachten. Zum Politicum in einem durchaus hintergründigen Sinn wird der Schriftbildakt allerdings nicht nur durch seinen eigenen kunstpolitischen Bekenntnischarakter, sondern vor allem durch die Vernunftbestimmung seiner Handlung. Aufgehoben im dialektischen Sinn werden in dem Aufruf sowohl Typen, Thesen, Perspektiven | 97

die strategische und instrumentelle Handlungsrationalität als auch die expressive und kommunikative Vernunfttätigkeit selbst. Der Schriftbildakt zeigt die Vergeblichkeit, das Unvermögen, die Widersprüchlichkeit allen bewussten Handelns in der Welt; und er zeigt das trotzige Dennoch des Handlungsversuchs selbst. Kaum eine politische Handlung erreicht ungebrochen ihr Ziel. Das Meiste geht schief. Nicht zu handeln ist, wie wir wissen, allerdings auch keine Lösung.

98 | Schriftbildaktivismus 

Register

Anschauung 7, 17, 26, 34, 36, 61, 62, 73, 82, 86, 89, 90 Artefakt 7, 18, 70, 77 Augenblick 15, 17, 19, 20, 39, 51, 53, 102 Autonomie 72, 74, 75, 87, 93, 94 Bild 7, 10–13, 15–28, 31, 32, 35, 36, 39, 40, 44, 47, 49, 51–53, 56, 61–64, 71–73, 82–85, 87, 89–92, 95–97, 102 –  dialektisches 40 –  tragisches 39, 40, 52, 53 Bildakt 7, 10–13, 34, 35 –  intrinsischer 10, 13 –  schematischer 10, 13, 34 –  substitutiver 10, 13 Bildanblick 10, 11, 13, 15, 18, 19, 28, 40 Bilderscheinung 16, 74, 75, 83 Bildhandlung 10, 13, 14 Bildobjekt 10, 13, 15 Bildträger 8, 15, 16, 28, 40, 64, 74, 75, 83 Bildzeit 11, 14, 15, 17–20

Evidenz 74, 88, 89 Figur 7, 10, 11, 20, 31, 49, 52, 56, 61, 62, 83, 86 Fresko 8, 39, 40, 47, 51, 56, 57, 59–67 Geschehensdichte 17 Grundmedien 96 Handlung 7–14, 17, 20, 32, 33, 35, 39–41, 43, 46, 47, 50, 55, 56, 63, 73, 82–87, 90, 92, 95–98 Handlungsverdichtung 41, 47 Ikonizität 11, 31 Intention 7, 14, 19, 33, 34, 74, 84 Intentionalität 7, 19, 24, 33–35, 84, 85, 90, 92, 94, 95 Kairotechnik 15, 20 Kombinatorik 58–60 Kommunikation –  leibliche 82, 83 Lesbarkeit 25–27, 29, 32, 84

Diagrammatica 12, 36, 37, 86, 89, 93 Differenz 11, 16, 20, 21, 34, 75, 76, 91 –  ikonische 11, 16 Differenzierung 19, 32, 94 – spielerische 87 Dreidimensionalität 73, 74

Medien 21, 28, 29, 35, 36, 61, 73, 96 Moderne 24, 31, 76, 94, 95

Enaktivismus 82

Palindrom 64, 65

Naturschönes 69, 70 Negativität 21 Opazität 24, 28

99

Pathosformel 40 Peripetie 39 Prägnanz 91 –  ikonische 17, 39–41, 88 Präsenz 9, 16, 25, 36, 82, 90 Räumlichkeit 10, 36, 62 Raum 15, 36, 72 Rebus 57–62, 64, 65 Sagen 10, 12, 21–23, 31–33, 39, 52, 61, 85, 88 Schriftakt 9, 10, 12, 14, 19, 20, 24, 34, 35, 55, 85, 89, 95 Schriftbildakt 20, 32, 34, 37, 92, 95–98 –  Documenta 88, 90, 96 –  Expressiva 86, 88, 91, 93–95 –  Formalia 87, 88 Schriftbildaktivismus 81, 93, 94 Sichtbarkeit 26, 64 Skripturalität 9, 25, 83 Skulptur 8, 40, 70–72, 74–76 Statusfunktion 75, 91 Strukturdichte 17

100 | Register 

Temporalität 14 Tragik 41, 46, 47 Transparenz 23, 28, 88 Triangulation 83, 84 Unbestimmtheit 31, 37, 69, 71 Verweilen 18, 19, 28 Wahrnehmung 15, 36, 82 Werk 12, 14, 25, 34, 63, 64, 71–75, 77 Zeichen 9, 10, 24, 31, 79, 83 Zeigen 12, 21, 23, 31, 33, 37, 39, 52, 61, 88 Zeit 12, 14, 15, 17–20, 25, 26, 28, 29, 32, 34, 35, 72, 73, 81, 87 –  Kontinualzeit 14, 17, 19, 20, 34 –  Lagezeit 14, 17, 19, 35 –  Modalzeit 14, 17–20, 35 Zweidimensionalität 9 Zwischen 18, 20, 26, 27

Nachweise Schriftbildakte: geschrieben 2017, veröffentlicht in der Zeitschrift für Ästhe­tik und Allgemeine Kunstwissenschaft 63 (2018), 285–301, erheblich überarbeitet und erweitert. Medeas Augenblick: geschrieben 2020, unveröffentlicht. Deo gracias: geschrieben 2019, publiziert in: Bild und Text. Beiträge zum 1. Evangelischen Bildertag in Marburg 2018, hrsg. von Thomas Erne und Dominik Krüger, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020, 297–315. Ambige Objekte: geschrieben 2020, gekürzte Fassung veröffentlicht in: Was Bilder zu denken geben, hrsg. von N. Mähl, Hamburg: Meiner 2021, 149–156. Schriftbildaktivismus: geschrieben 2021, unveröffentlicht.