Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften: Ein interdisziplinärer und internationaler Dialog [1 ed.] 9783428548231, 9783428148233

Die immer weiter ausgefeilte juristische Methode und Fachsprache sind einerseits Voraussetzungen für die Ausdifferenzier

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Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften: Ein interdisziplinärer und internationaler Dialog [1 ed.]
 9783428548231, 9783428148233

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RECHT UND PHILOSOPHIE Band 1

Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften Ein interdisziplinärer und internationaler Dialog

Herausgegeben von

Stephan Kirste

Duncker & Humblot · Berlin

STEPHAN KIRSTE (Hrsg.)

Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften

Recht und Philosophie Herausgegeben von Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Jena Prof. Dr. Stephan Kirste, Salzburg Prof. Dr. Dres. h. c. Michael Pawlik, Freiburg Prof. Dr. Michael Schefczyk, Karlsruhe Prof. Dr. Klaus Vieweg, Jena

Band 1

Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften Ein interdisziplinärer und internationaler Dialog

Herausgegeben von

Stephan Kirste

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2509-4432 ISBN 978-3-428-14823-3 (Print) ISBN 978-3-428-54823-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84823-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Recht und Philosophie stehen in einem spannungsreichen Verhältnis: Philosophie geht es um die ‚metaphysischen Anfangsgründe‘ des Rechts, um den Begriff des Rechts. Dies schließt die Reflexion des positiven Rechts und des hierauf gerichteten Denkens in Rechtswissenschaft und Praxis ein. Diese Reflexion klärt nicht nur über die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Jurisprudenz, der Abgrenzung von Recht und anderen sozialen Ordnungen und der Gerechtigkeit des Rechts auf, sondern entwickelt auch Aspekte der Kritik an diesem Recht. Die vorliegende Reihe versteht sich als Ort des Dialogs zwischen den Rechtswissenschaften und der Philosophie über das Recht. Die immer wieder vernachlässigte Ideengeschichte der Rechtsphilosophie wird ausdrücklich einbezogen. In loser ­Folge werden hierauf fokussierte Sammelbände und Monographien erscheinen, um aktuelle juristische und philosophische Debatten zu befruchten.

Inhaltsverzeichnis Einleitung  ............................................................................................................................  9 I.  Modelle von Disziplinarität und Interdisziplinarität Dieter Grimm Notwendigkeit und Bedingungen interdisziplinärer Forschung in der Rechtswissen­schaft  ............................................................................................................................ 21 Stephan Kirste Voraussetzungen von Interdisziplinarität der Rechtswissenschaften  ...........................  35 Bart van Klink and Sanne Taekema A Dynamic Model of Interdisciplinarity. Moving from Multidisciplinary to Inter­ disciplinary or Transdisciplinary Legal Research  ........................................................ 87 Matthias Jestaedt Rechtswissenschaft als normative Disziplin. Banalität, Komplexität und Brisanz der Klassifikationsfrage  ...................................................................................................  103 II. Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften Dietmar von der Pfordten Philosophie und Rechtswissenschaft  .......................................................................... 117 Oliver W. Lembcke Über den Verweisungszusammenhang von Politik und Recht. Eine politiktheoretische Kartographie des modernen Konstitutionalismus  ...................................................... 131 Marcel Senn Rechtswissenschaft und Geschichte. Rechtswissenschaft zwischen Grundlagenkrise und Selbstbeschauung  ...............................................................................................  153 Giancarlo Corsi „Inkongruente Perspektiven“. Interdisziplinarität aus soziologischer Sicht  ...............  165 III.  Interdisziplinäre Felder I: Entscheidungen im Recht Anne van Aaken Towards a Psychological Concept of Law  ................................................................. 187 Bettina von Helversen Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext  ................................................  205 Andreas Fischer und Joachim Funke Entscheiden und Entscheidungen. Die Sicht der Psychologie  ................................... 217

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 Inhaltsverzeichnis

Carsten Bäcker Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen? Neun Thesen  ............ 231 Norbert Paulo Vom Nutzen der Rechtstheorie für die angewandte Ethik. Spezifizierung, Abwägung und Kasuistik in der Bioethik  ....................................................................................  253 Klaus Mathis Folgenorientierung im Recht  ...................................................................................... 271 João Maurício Adeodato Realistische Rhetorik als Methodik der Jurisprudenz. Einführung: Rhetorik und ­Philosophie  ................................................................................................................  299 Joachim Lege Die Bedeutung der Rhetorik für das Recht. Dreizehn Thesen  ..................................  315 Vasiliki E. Christou Reasoning from Neutrality and the Political Conception of Justice  .......................... 331 IV. Interdisziplinäre Felder II: Der Menschenrechtsdiskurs Winfried Brugger Interdisziplinarität und Mehrebenenanalyse in Georg Jellineks Statuslehre  .............  343 Georg Lohmann Menschenrechte und Recht. Zu Gustav Radbruchs „Fünfter Minute“  ....................... 361 Frank Dietrich Kollektive Rechte. Zur Wechselbeziehung rechtswissenschaftlicher und philoso­phischer Analysen  ......................................................................................................  369 Miodrag A. Jovanović Conceptualizing Collective Rights. Philosophical and Sociological Methodological Inputs  .......................................................................................................................... 391 Mark S. Weiner Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und die Kulturgeschichte des Rechts  ....  413 Autorenverzeichnis   .........................................................................................................  433

Einleitung Die Rechtswissenschaften bedürfen der interdisziplinären Diskurse, um die Rationalität juristischer Entscheidungen rekonstruieren und fortentwickeln zu können. Schon gar nicht lässt sich die juristische Praxis ohne interdisziplinär erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten bewältigen. Diese Interdisziplinarität muss jedoch zu einer Ausdifferenzierung rechtswissenschaftlicher Forschung und darf nicht zu einer Auflösung ihres spezifischen Zugangs zum Recht führen, in dessen Zentrum die Rechtsdogmatik steht. Dies waren die Grundgedanken, die Michael Anderheiden und ich bei der Planung der Konferenz zur „Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften“ hatten und mit freundlicher Unterstützung der Thyssen Stiftung, am dafür vielleicht best geeigneten Ort, dem Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld (ZiF), organisiert haben. Dass er an der Herausgabe der Ergebnisse nicht mitwirken konnte, ist seiner Belastung als Dekan an der deutschsprachigen, aber in Forschung und Lehre internationalen und interdisziplinär ausgerichteten Andrássy Universität Budapest geschuldet. Beratung, Kooperation und Harmonisierung mit anderen Wissenschaften, ist das Konzept, das die Rechtswissenschaft zur Bewältigung ihrer Aufgaben in einer hoch dynamischen, globalisierten und immer komplexer werdenden Umwelt benötigt, wie Anderheiden in seinen Eröffnungsworten hervorhob.1 Der Wissenschaftsrat empfiehlt inzwischen Gleiches.2 In diesem Band untersuchen Juristen verschiedener Fachsäulen, Philosophen, Historiker, Soziologen, Ökonomen, Politikwissenschaftler und Psychologen aus Brasilien, Deutschland, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Österreich und Serbien Möglichkeiten von interdisziplinärer Forschung in den Rechtswissenschaften. Hierbei werden sowohl konkrete Forschungsthemen und -felder als auch die Kooperationsmöglichkeiten bestimmter Disziplinen analysiert. Es wird in ihnen nicht nur über Interdisziplinarität geschrieben, vielmehr werden auch Probleme wie beispielsweise das juristische Entscheiden interdisziplinär diskutiert. Einige Autoren untersuchen in vergleichender Perspektive „Recht und …“. Andere nehmen eine Außenperspektive ein und verstehen „Recht als …“. Die überwiegend an interdisziplinären rechtswissenschaftlichen Themen erfolgte Gegenüberstellung von Juristen und Angehörigen anderer Disziplinen verdeutlicht, dass in unterschiedlichen Wissenschaften unterschiedliche Einstellungen zur Interdisziplinari1  Vgl. hierzu auch Michael Anderheiden: The Paradox of Interdisciplinary Research. In: Interdisciplinary Research in Jurisprudence and Constitutionalism. Hrsg. Stephan Kirste, A. van Aaken, M. Anderheiden, u. P. Policastro. ARSP-Beiheft 127. Stuttgart 2012, S. 33 – 46. 2  Herbstgutachten des Wissenschaftsrats 2012: Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, S. 7 f., 32, 36 f., 43 f., 72.

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tät bestehen. Die internationale Ausrichtung zeigt nicht nur, dass es in verschiedenen Wissenschaftstraditionen durchaus unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Interdisziplinarität gibt, sondern auch, dass die Ausdifferenzierungen der Wissenschaften zu einer Internationalisierung führt: Man findet in einer spezialisierten Teildisziplin – etwa der Rechtsphilosophie – kompetente, an vergleichbaren Themen interessierte Wissenschaftler häufig eher im internationalen Kontext als national. In den noch stärker durch das nationale Recht geprägten Rechtswissenschaften gilt dies jedenfalls für die Grundlagenfächer. Entsprechend gliedert sich der vorliegende Band in einen ersten Teil, der der Standortbestimmung der Rechtswissenschaften und den Möglichkeiten interdisziplinären Forschens gewidmet ist. Der zweite Teil geht einigen Beziehungen zu Nachbarwissenschaften nach. Exemplarisch werden zwei Themenfelder herausgegriffen: juristische Entscheidungen und Menschenrechte. Die dazu enthaltenen Beiträge sollen die Potentiale interdisziplinärer Forschung ausloten. Die Erkenntnis, dass interdisziplinäre Forschung in den Rechtswissenschaften trotz ihrer dogmatischen Verselbständigung gegenüber anderen Wissenschaften notwendig und sinnvoll ist, ist nicht neu. Im 19. Jahrhundert gingen etwa Unternehmen wie die „Gesamte Staatsrechtswissenschaft“ oder auch die „Zweckjuris­ prudenz“ eines Rudolf von Jhering in diese Richtung. Nach dem II. Weltkrieg waren es die Kybernetik als Forschungsansatz aber auch praktische Notwendigkeiten, die zu einer Verhältnisbestimmung von „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften“ Anlass gaben.3 Hierauf kann Dieter Grimm in seinem Beitrag zurückblicken. Auch nach so langer Zeit haben es interdisziplinäre Ansätze in den Rechtswissenschaften als einer disziplinär stark ausdifferenzierten Wissenschaft schwer. Grimm analysiert zunächst Berechtigung, Möglichkeit und Probleme von Interdisziplinarität. Für ihn hängt die Möglichkeit von Interdisziplinarität auch daran, dass man nicht scharf zwischen Sein und Sollen trennt und die soziale Geltung einer Norm berücksichtigt. Entsprechend verdrängt auch die Beschränkung auf rein juristische Sinnermittlung durch grammatische und systematische Auslegung interdisziplinäre Ansätze beim Kerngeschäft der Rechtswissenschaft. Stattdessen gilt es seit Jhering, den sozialen Zweck in der Norm selbst zu verankern: Sie kann nicht ohne ihn verstanden werden. Schließlich soll die Norm ihren Zweck realisieren. Dazu sind wirklichkeitswissenschaftliche Studien erforderlich. Grimm verweist insbesondere auf die inzwischen in der Verfassungs- und auch in der sonstigen deutschen Gerichtsbarkeit praktizierte Folgenberücksichtigung. Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften ist jedoch offensichtlich nicht unproblematisch. Dass sie notwendig und schwierig, aber möglich ist, vertritt Stephan Kirste. Zum Beleg dieser These untersucht er zunächst die erkenntnistheoretischen und institutionellen Bedingungen von Disziplinarität. Hierbei werden etwa Erkenntnisobjekt, -methode, -interesse, Sprache, Wissen, Professionalisierung, Organisation sowie Variation und Innovation in den Wissenschaften mit 3  So der Titel der beiden von Dieter Grimm 1973 und 1976 herausgegebenen Pionierwerke der neueren Forschung zur Interdisziplinarität der Rechtswissenschaften.

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Rücksicht auf die Rechtswissenschaft analysiert. Angesichts der Bedeutungsvielfalt von Interdisziplinarität und verwandten Formen der wissenschaftlichen Kooperation ist sodann eine Begriffsbestimmung von Interdisziplinarität, Multidisziplinarität und Transdisziplinarität erforderlich. Der Bedarf an Interdisziplinarität ergibt sich aus dem Erkenntnisgegenstand und den Problemen des Rechts in seiner sozialen Genese und entsprechenden Auswirkungen. Ausführlich werden dann die Bedingungen von Interdisziplinarität untersucht. Hierbei werden wiederum methodische Aspekte, Erkenntnisinteresse, begriffliche Brücken, Organisationsformen und schließlich auch psychische Aspekte näher dargestellt. Sanne Taekema und Bart van Klink gehen davon aus, dass sich die Rechtswissenschaft durch eine eigene Sprache, Forschungsmethoden, und Probleme als Gegenstand der Analyse von anderen Wissenschaften unterscheidet und über eigene Organisationen, Institutionen, Professionen und Texte verfügt. Welche Methoden kann nun derjenige anwenden, der interdisziplinär rechtswissenschaftlich forschen will. Taekema und van Klink entwerfen hierzu ein dynamisches Modell. Sie unterscheiden: Begriffe, Methoden, Gegenstand, Problembewusstsein und Ziele einer Wissenschaft. Anhand dieser Kriterien untersuchen sie drei Typen interdisziplinärer Forschung. Das ist wiederum die Grundlage für ein Stufenverhältnis von interdisziplinärer Forschung, die von Anregungen aus anderen Disziplinen, über die hilfsweise Berücksichtigung von Argumenten aus ihnen verläuft und schließlich zu echter Kooperation führt, wenn sich mehrere Wissenschaften einem Problem auf Augenhöhe widmen. Perspektivische und Integrative Interdisziplinarität werden als Annäherungen von Disziplinen verstanden: Berücksichtigung eines Phänomens aus verschiedenen Perspektiven und Integration dieser Perspektiven wie z. B. bei vielen Law-as-Literature-Ansätzen. Trans-Disziplinarität ist demgegenüber stärker auf die sozialen Folgen und Probleme von Forschung ausgerichtet und versucht diese durch übergreifende Perspektiven oder die Integration von Akteuren außerhalb der eigenen Wissenschaft (oder sogar von Nicht-Wissenschaftlern), jedenfalls regelmäßig durch mehrere Akteure zu bewältigen. Welches Modell zu präferieren ist, ist damit noch nicht entschieden. Monodisziplinäre Forschung hat den Vorteil einer großen Kohärenz der Argumentation, der Ausbildung einer gemeinsamen Fachsprache und der anderen Folgen disziplinärer Ausdifferenzierung. Innovationsförderlicher sei jedoch der Kontakt mit den anderen Disziplinen. Allerdings mögen die Inspirationen durch andere Wissenschaften noch zufällig erscheinen und so zu einer dauerhaften Kooperation Anlass geben. Zugleich steigen aber die professionellen Anforderungen an den Wissenschaftler, in den beteiligten Wissenschaften zuhause zu sein. Was ist nun aber das „Proprium der Rechtswissenschaft“?4 Matthias Jestaedt bestimmt die Rechtswissenschaft als normative Disziplin und zieht daraus Konsequenzen für die Abgrenzung und Kooperation mit anderen Wissenschaften. ­Jestaedt versteht dabei Normativität nicht nur als Forschungsgegenstand der Rechts4 Vgl. hierzu auch den von Christoph Engel und Wolfgang Schön herausgegebenen Band: „Das Proprium der Rechtswissenschaft“. Tübingen 2007.

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wissenschaft, sondern misst ihr selbst eine normative Kraft zu. Jede Wissenschaft benötige ein normatives Fundament. Normbezogen sind alle rechtswissenschaftlichen Teildisziplinen, darunter auch Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie. Sie unterschieden sich in ihren „Partikularrationalitäten“. Der Rechtsdogmatik kommt eine Brückenfunktion zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu. Wohin führen diese Brücken von der Rechtswissenschaft insbesondere auch in die Nachbarwissenschaften? Und was lässt sich auf ihnen transportieren? Beispielshaft werden Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie herausgegriffen. Das Verhältnis von Philosophie und Rechtswissenschaften untersucht Dietmar von der Pfordten. Eine an einem Untersuchungsgegenstand, Erkenntniszielen und spezifischen Mitteln, um sie zu erreichen, orientierte Suche nach Verstehen und Weiterentwicklung kennzeichnet beide. Sie unterscheiden sich jedoch in den Konkretisierungen dieser drei Dimensionen. Während die Einzelwissenschaften je einen konkreten Einzelgegenstand besäßen, auf den sich die Forschung richte, fehle dies bei der Philosophie. Von der Pfordten wendet sich insbesondere dagegen, als Erkenntnisobjekt der Philosophie nur die Methoden des Denkens anzusehen. Ihr Gegenstand seien vielmehr die Verbindungen zwischen Objekten der anderen Wissenschaften: das diesen Gemeinsame. Ihr Ziel ist die umfassendste Verknüpfung aller Gegenstände. Auch methodisch erweise sich die Philosophie als umspannend und sei nicht auf bestimmte Wege zur Erkenntnis beschränkt. In den Rechtswissenschaften seien entsprechend abstraktere Begriffe philosophienah, konkretere eher -fern. Oliver Lembcke stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Politikwissenschaften angesichts der kontrafaktischen Wirkung von Normen für die Rechtswissenschaft leisten können. Hierzu bedarf es zunächst eines entsprechenden wissenschaftlichen Ansatzes. Potentiale dazu sieht Lembcke besonders in einem zwischen Dezisionismus und Normativismus angesiedelten Konstitutionalismus, den er in der Tradition Hermann Hellers versteht. Die Politikwissenschaft kann hier etwa die sich bei Verfassungen stellenden Fragen der Identität des Volkes als verfassunggebende aber auch als verfasste Gewalt beantworten. Auch die soziale Funktion des Rechts könne von der Rechtswissenschaft nur in Kooperation mit den Politikwissenschaften untersucht werden. Recht erscheint als Zweck, als Produkt, aber auch als Rahmen und Maßstab der Politik und kann so nur interdisziplinär von Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft analysiert werden. Auch politische Aspekte der Rechtsanwendung kann eine solche Kooperation besser zutage fördern als eine „reine“ juristische Methodenlehre. Die Kooperation der Wissenschaften darf jedoch nicht zur Vermengung ihrer Gegenstände führen. Nach Lembcke ist weder eine Verrechtlichung der Politik, noch eine Politisierung des Rechts wünschenswert. Auch Marcel Senn knüpft an die beiden, von Grimm herausgegebenen Bände „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften“ aus den 70er Jahren an und stellt sich die Frage nach der Interdisziplinarität der Rechtsgeschichte. Ihm geht

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es um ein kulturwissenschaftliches Verständnis der Rechtsgeschichte. Er verfolgt dabei zunächst die Historisierung seit dem Humanismus und Enthistorisierung der Rechtswissenschaften unter dem Positivismus und im neuen Jahrtausend. Senn führt skeptische Aspekte gegenüber einer sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Rechtsgeschichte an. Stattdessen fordert er eine bewusste Annäherung an die Geschichtlichkeit des Rechts selbst. Die Sozialwissenschaften können dafür durchaus Heuristiken bereitstellen, wenn sie keine zeitlose Erkenntnissicherheit suggerieren. Giancarlo Corsi erklärt aus der soziologischen Perspektive der Systemtheorie Probleme und Chancen von interdisziplinärer Kooperation. In diesem Blickwinkel erscheint die Disziplinenbildung als Differenzierung des Wissenschaftssystems. Als Anschauungsbeispiel erwähnt Corsi die Untersuchung von Sozialstrukturen in Brasilianischen Favelas oder der Camorra in Italien durch Juristen und Soziologen. Angesichts der funktionalen Systemdifferenzierungen irritieren oder überraschen sich die wissenschaftlichen Disziplinen wechselseitig. Ihre Differenzierung hängt auch vom Umfang und der Vernetzung ihrer Begriffe ab. Für die Interdisziplinarität sind dann die Medien der Kommunikation der Disziplinen entscheidend. Die Rechtswissenschaft kann mit den Mitteln der Soziologie die gesellschaftlichen Realitäten beobachten; die Konsequenzen im Rechtssystem hängen aber ausschließlich von diesem, von seinen Codes und Programmen ab. Corsi empfiehlt von gemeinsamen Problemen auszugehen, diese durch die unterschiedlichen Kategorien von Disziplinen beleuchten zu lassen, um dann nicht die jeweils andere Perspektive einzunehmen, sondern durch die Irritation mit der Konfrontation des anderen Blickwinkels die eigene Argumentation zu differenzieren. Das erste exemplarische Themenfeld interdisziplinärer Forschung in den Rechtswissenschaften bildet die Rationalität juristischer Entscheidungen. Anders als in wissenschaftlichen Diskursen ist die Rationalität juristischer Entscheidungen in der Praxis – so der Duktus der folgenden Beiträge – beschränkt. Aus psychologischer, argumentationstheoretischer, ökonomischer, rhetorischer und politikwissenschaftlicher Perspektive widmen die Autoren der Begründung und der Darstellung von rechtlichen Entscheidungen, sowie ihrer sozialen Konstruktion und gesellschaftlichen Auswirkungen. In psychologisch-beschreibender Perspektive von Behavioral Law and Econom­ ics analysiert Anne van Aaken den Zusammenhang zwischen Recht, Zwang und Moral. Leitende Fragestellung ist dabei, wie das Recht das tatsächliche Verhalten der Menschen beeinflusst. Eine Rolle spielen dabei etwa die Interessen, aber auch die Frage, ob das Recht extern auferlegt oder autonom von einer Gruppe beschlossen wird. Auf dieser Grundlage lassen sich dann nach van Aaken Kernthesen des Positivismus wie die These des Rechts als soziale Tatsache, die Konventionalitätsthese und die Trennungsthese rekonstruieren. Andreas Fischer und Joachim Funke stellen verschiedene Theorien zum Entscheidungsverhalten des Menschen dar und weisen damit zugleich auf eine weitere Klippe interdisziplinärer Wissenschaften hin: Auch in den benachbarten Wis-

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senschaften gibt es Theorienstreite, die eindeutige Bezugnahmen z. B. auf „die“ Psychologie erschweren. In psychologischer Perspektive umfasst Entscheiden die Stufen des Urteilens, Entscheidens im engeren Sinn („decision making“) und schließlich des Problemlösens. Hierbei werden insbesondere „Framing“-effekte, wie die von Kahnemann und Tversky entdeckten – objektiv gesehen – Fehlgewichtungen von Gewinnen und Verlusten sowie deren Wahrscheinlichkeiten diskutiert. Abschließend befassen sich Fischer und Funke mit der Bedeutung von Heuristiken bei komplexen Entscheidungen unter Zeitnot. Diesen widmet sich auch Bettina von Helversen. Es geht ihr um die Kunst, auch unter nicht-idealen Voraussetzungen schnelle und angemessene juristische Entscheidungen ermöglichen. Sie stellt etwa die Rekognitionsheuristik oder die „takethe-best“ Heuristik dar, die zügige Entscheidungen auf der Basis von geringen Informationen erlauben. Damit kann gerade auch das richterliche Entscheidungsverhalten erklärt werden. Von Helversen weist aber darauf hin, dass in juristischen Entscheidungen die Frage, welche Informationen verzichtbar sind und welche nicht, von entscheidender Bedeutung ist. Das Entscheidungsverhalten zu kennen, ist aber auch Voraussetzung dafür, dass Gesetzgebung ihre Ziele erreichen kann, so etwa bei der Entscheidung über die Organspendebereitschaft. Während diese Ansätze empirische Entscheidungstheorien sind, die die Wirklichkeit von – auch – juristischen Entscheidungen beschreiben, untersucht Carsten Bäcker normative Kriterien für richtiges Entscheiden. Dazu stellt er 10 Thesen auf, die die Notwendigkeit einer rationalen Begründung juristischer Entscheidungen untermauern sollen. Im Rahmen ihrer Verteidigung untersucht er die normativen Bedingungen begründeter Entscheidungen. Im Ergebnis kann Bäcker die Bedingungen der im juristischen Kurs allein möglichen relativ richtigen Entscheidungen herausarbeiten. Dass nicht nur philosophische Argumente im Recht, sondern umgekehrt, der Erfahrungsschatz von Rechtswissenschaften und Rechtspraxis für die Philosophie hilfreich sein könnten, ist der Ansatzpunkt von Norbert Paulo. Ihm geht es um die Begründung der Rationalität konkreter bioethischer Entscheidungen. Sein Beitrag zeigt zugleich, dass in stark dynamischen Forschungsbereichen die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit besonders groß ist. Hierzu vergleicht Paulo die Methoden der Rechtswissenschaften mit denjenigen der Bioethik, insbesondere dem führenden Ansatz von Beauchamp and Childress. Darüber hinaus greift er auf die von Richardson weiter entwickelte Methode der Spezifikation zurück. Spezifikationen sind die Grundlage der Konkretisierung von Prinzipien. Zwischen ihnen kann dann anhand eines Überlegungsgleichgewichts entschieden werden. Es verbleiben dann aber noch Einzelfallentscheidungen, für die Abwägungen herangezogen werden müssen. Lerneffekte stellen sich dabei auch zwischen dem Common Law und der Bioethik her. Dies gilt etwa für die Methode der Kasuistik. Sollen die Rationalitätsstandards juristischer Entscheidungen um die ökonomischen Konsequenzen erweitert werden? Klaus Mathis analysiert schließlich, inwiefern Folgen bei juristischen Entscheidungen berücksichtigt werden können und

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zu berücksichtigen sind. Zur Beantwortung dieser Fragen unterscheidet Mathis in ökonomischer Perspektive zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Folgen der Gesetzgebung seien immer zu berücksichtigen. Besonderheiten ergäben sich bei der Folgenabschätzung der Judikative, da diese grundsätzlich retrospektiv, die Ökonomie jedoch prospektiv arbeite. Bei der Rechtsanwendung ist zunächst zwischen verschiedenen Folgen zu unterschieden. Kritische Einwände gegenüber der Folgenorientierung weist Mathis unter Berufung auf sozialwissenschaftliche Methoden zurück. Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Rhetorik des Rechts. Für Joao Mauricio Adeodato ist sie mehr als ein bloß geschicktes Darstellungsmittel der gefundenen Erkenntnisse und des Urteils. Auf der Basis eines skeptisch-kulturwissenschaftlichen Ansatzes ist die Rhetorik vielmehr selbst ein Erkenntnismittel. Dabei steht insbesondere die rhetorische Konstruktion von Bedeutung im Zentrum. Rhetorik versteht Adeodato als eine Methodik zur Konstruktion von Realität. In diesem Sinn entwirft Adeodato eine Rechtsrhetorik als Anleitung zur Konstruktion der Realität des Rechts. Von der Geburt des Rechts aus dem Geist der Rhetorik berichtet Joachim Lege und nimmt dabei eher eine rechtswissenschaftliche Perspektive ein. Aufschlussreich ist besonders die griechische Status-Lehre in der Rhetorik. Auch findet man hier bereits differenzierte Formen des praktischen Syllogismus der Jurisprudenz. In der heutigen Juristenausbildung sind diese rhetorischen Potentiale, die noch im Mittelalter und in der Renaissance präsent waren, verlorengegangen. Allerdings ergänzt Lege die Rhetorik um eine materiale Komponente, um zu verhindern, dass sie bei eleganter, auf Überzeugung gerichteter Sprache, stehen bleibt. „Ohne die Idee von rechtlicher Richtigkeit hat sie keine Disziplin und ist sie keine Disziplin – zumindest keine ernstzunehmende“. Politikwissenschaftliche und juristische Perspektiven bringt Vasiliki Christou am Beispiel der Neutralität des Rechts insbesondere mit Bezug auf Abtreibungen zusammen. Verschiedene Strömungen des Neutralitätsliberalismus werden hier als Maßstab für die Analyse des Rechts herangezogen. Auf diese Weise rekonstruiert sie die Abtreibungsrechtsprechung des US-Supreme Court. Diese Beiträge analysieren also den lebensweltlich einheitlichen Vorgang von Entscheidungen im Recht hinsichtlich der normativen Maßstäbe des Urteils, der psychischen Strategien zu seiner Gewinnung, den Argumentationsprozess zu seiner Begründung und die Einbeziehung seiner gesellschaftlich-ökonomischen Folgen. Dies ermöglicht de lege lata die Kritik von juristischen Entscheidungen und de lege ferenda die Fortentwicklung von Regelungen juristischen Entscheidens. Subjektive Rechte, insbesondere Menschenrechte waren und sind ein Thema von Philosophie, Politik- und Rechtswissenschaft. Ihre Aktualität und die spezifischen Probleme, die sie in der Gegenwart aufwerfen, lassen sich nur durch einen Forschungsansatz behandeln, der diese Perspektiven integriert. Dazu bedarf es eines klaren begrifflichen Gerüsts, aber auch der laufenden Übersetzungsleistungen in die verschiedenen Wissenschaften und in die Praxis.

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Ein solches begriffliches Gerüst hat Georg Jellinek mit seiner Statuslehre geliefert. Noch vor seinem Tod am 13. November 2010 hat Winfried Brugger einen Beitrag zur Interdisziplinarität Georg Jellineks verfasst, der in diesen Band aufgenommen wird. Brugger stellt Jellinek hier überzeugend als einen erfolgreich interdisziplinär arbeitenden Rechtswissenschaftler vor. Gerade seine Statuslehre kann als Beleg dafür gelten, wie sich rechtswissenschaftliche, historische, soziologische und politikwissenschaftliche Erkenntnisse sinnvoll ergänzen. Sie verbinden und steigern sich konstruktiv zu einer umfassenden Staatslehre. So wird Jellinek zum Beleg für eine gelungene interdisziplinäre Forschung. Georg Lohmann setzt sich kritisch mit Jürgen Habermas’ These von der Gleich­ ursprünglichkeit von Menschenrechten und Demokratie auseinander. Seinen eigenen Ansatz gründet er auf einen anderen rechtsphilosophischen Klassiker: Gustav Radbruch. Er versucht, die Schwelle der „Unerträglichkeitsformel“ innerhalb der Radbruchschen Formel anhand von notstandsfesten Menschenrechten im Pakt über die Bürgerlichen und Politischen Rechte von 1966 zu bestimmen. In philosophischer und rechtlicher Hinsicht untersucht Frank Dietrich kollektive Rechte. Dietrich referiert zunächst die bekannten juristischen Differenzierungen zwischen Rechten des status negativus und denjenigen des status positivus, sowie zwischen Rechten der Gruppe qua Gruppe und denjenigen ihrer Mitglieder qua Gruppenzugehörigkeit. Hierzu werden neben den tatsächlichen Entwicklungen auch die philosophischen Begründungsansätze vorgestellt. Die Diskussion wird zunächst unter der Fragestellung geführt, welche Bedeutung philosophische Argumente für die rechtswissenschaftliche Forschung und Praxis haben können. Sodann – und das macht den Beitrag für diesen Band besonders interessant – wird auch die Frage gestellt, was rechtswissenschaftliche Argumente zu Gruppenrechten zu den philosophischen Diskussion beitragen können. Hier können insbesondere juristische Argumente auf ihre Kohärenz hin untersucht werden. Philosophische Argumente können durch juristische Abstützung an Plausibilität gewinnen. Miodrag Jovanovic widmet sich Gruppenrechten aus rechtstheoretischer Perspektive. Ihm geht es um die Begründbarkeit von Gruppenrechten. Seine These ist, dass die prinzipiellen Kriterien der Gruppenzugehörigkeit nicht lediglich rechtlich im Sinne einer „reinen“ Rechtlehre etwa durch die Theorie der juristischen Person beantwortet werden können, sondern dass hierzu sozialwissenschaftliche Ansätze erforderlich sind. Liberalistischen Konzepten setzt er seine Theorie des „value collectivism“ entgegen, wonach eine Gruppe einen Wert unabhängig von ihren Mitgliedern verkörpern kann. Hier sind insbesondere Erkenntnisse aus der Moralphilosophie, der Anthropologie und der Soziologie erforderlich. Um Bürgerrechte in interdisziplinärer Perspektive geht es auch Mark Weiner. Er untersucht die bekannte Entscheidung des US-Supreme Court Brown v. Board of Education in den Perspektiven der Rechtsdogmatik, der Sozialwissenschaft und schließlich des Einzelnen. Er selbst versteht das Recht als Teil der Gesamtkultur und arbeitet mit entsprechenden Methoden. Es wird deutlich, wie ohne die Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Meilenstein-Entscheidung Brown v. Board of Education nicht verstanden werden kann.

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Geht dieser Band auch thematisch über die neue Buchreihe „Recht und Philosophie“ hinaus, so greift er doch deren Zentralanliegen – das interdisziplinäre Gespräch zwischen Philosophie und Rechtswissenschaften auf und versucht inhaltlich und in der Form einer Buchpublikation mit Vertretern verschiedener Disziplinen dazu beizutragen. Abschließend sei der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ganz herzlich für die schnelle und unbürokratische Finanzierung des Drucks dieses Bandes herzlich gedankt. Meinen Mitarbeiterinnen, Frau Hannah Maria Messner und Katharina Pöppl gilt der Dank für die Mitwirkung an der redaktionellen Fertigstellung des Bandes.

I.  Modelle von Disziplinarität und Interdisziplinarität

Notwendigkeit und Bedingungen interdisziplinärer Forschung in der Rechtswissenschaft Dieter Grimm

I.  Belastungen interdisziplinärer Forschung Das Thema dieses Beitrags führt mich in eine frühe Phase meines wissenschaftlichen Arbeitens zurück. Im Jahr 1973 erschien der erste Band von „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften“. In dem Werk, dessen zweiter Band drei Jahre später folgte, wurden Nutzen und Grenzen, Voraussetzungen und Schwierigkeiten interdisziplinärer Forschung für verschiedene Rechtsgebiete jeweils von einem Rechtswissenschaftler und einem Vertreter der entsprechenden Nachbardisziplin erörtert.1 Mit einem solchen Buch begab man sich damals auf vermintes Terrain. Da inzwischen mehr als 40 Jahre vergangen sind, erscheint es nicht überflüssig, die Zeitumstände in Erinnerung zu rufen. Die Debatte um die Öffnung der Rechtswissenschaft für interdisziplinäre Forschung war Teil einer allgemeinen Diskussion über Interdisziplinarität, hinter der wiederum die Forderungen nach Vermehrung und Reform der Hochschulen standen.2 Von der 68er-Bewegung beflügelt und von Reformern der Juristenausbildung aufgegriffen, rückte sie für einige Jahre ins Zentrum des Interesses und war entsprechend ideologisch aufgeladen.3 Was die Rechtswissenschaft betraf, so ging es vorwiegend um die Kooperation mit den damals aufblühenden Sozialwissenschaften. Unter Rechtswissenschaftlern herrschte eine trotzige Abwehrhaltung vor. Viele nahmen an, dass eine Öffnung zu den Sozialwissenschaften die Autonomie der Rechtswissenschaft aufs Spiel setze und mit ihr die Autonomie des Rechts überhaupt. Der Rechtsstaat sei am Ende, wenn der Jurist zum Sozialingenieur werde. In der Tat war die Eingliederung der Rechtswissenschaft in eine übergreifende Sozialwissenschaft und die Umwandlung der Juristen in „Sozialingenieure“ damals die Hoffnung vieler, denen die Gesellschaftsveränderung mittels Rechtsreform nicht schnell und nicht weit genug ging. Wenn das geltende Recht hinter 1  Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 1, 1973; 2. Aufl. 1976; Band 2, 1976. Der lange Abstand erklärt sich daraus, dass der Athenäum-Verlag, in dem Band 1 erschienen war, in finanzielle Schwierigkeiten geriet und schließlich seine Tätigkeit einstellte. Das Werk wurde vom Verlag C.H. Beck übernommen. 2 Vgl. Picht; OECD Centre for Educational Research and Innovation; Schelsky. 3 Vgl. Naucke, s. zur damaligen Diskussion auch meinen Beitrag „Grimm über Grimm“ in der Serie „Wiedergelesen – Werksbesichtigungen Geisteswissenschaft“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. April 1989, S. 3 N, wieder abgedruckt in Ritter, 1990, S. 202.

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ihren inhaltlichen Erwartungen zurückblieb, aber selbst von einem reformfreudigen Gesetzgeber wie der sozial-liberalen Parlamentsmehrheit nicht kurzfristig und durchgreifend zu ändern war, musste die Bindung des Juristen an das geltende Recht gelockert, die traditionelle Rechtsdogmatik aufgebrochen und das neue Gerechtigkeitsideal auf der Ebene der Rechtsanwendung durchgesetzt werden. Voraussetzung war ein verändertes Leitbild für die juristische Ausbildung.4 Wer diese Vorstellung hegte, trat für die Öffnung der Rechtswissenschaften zu den Sozialwissenschaften ein. Aber die Verbindung war keine notwendige. Man konnte für Interdisziplinarität und für eine sozialwissenschaftlich informierte Rechtsdogmatik sein, ohne deswegen gegen den Rechtsstaat und sein Herzstück, die Gesetzesbindung von Justiz und Verwaltung, zu sein und die für den Rechtsstaat konstitutive Grenze zwischen Recht und Politik einzuebnen.5 Doch machten die Frontlinien eine solche Position schwierig. Interdisziplinarität war zu einer Frage von Rechts und Links geworden.6 Heute lässt sich gelassener darüber diskutieren. Aber das Thema ist auf der Tagesordnung geblieben, wie diese Tagung zeigt. Interdisziplinarität stößt in der Rechtswissenschaft weiterhin auf Vorbehalte. Jedoch rühren die Zweifel an ihrem Wert nicht mehr von der ideologischen Befrachtung des Postulats, sondern von den Schwierigkeiten bei seiner Verwirklichung her, rechtswissenschaftlich wie rechtspraktisch. Man kann nicht sagen, dass sie inzwischen überwunden seien. Es gilt im Gegenteil Franz Xaver Kaufmanns Feststellung, dass es Interdisziplinarität desto schwerer hat, je verfestigter eine Disziplin ist.7 So wirkte auch mein eigener Beitrag zum ersten Band von „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften“ bei der neuerlichen Lektüre auf mich nicht wie 42 Jahre alt und entsprechend überholt.8 Er begann mit einem Verweis auf Niklas Luhmanns kurz zuvor veröffentlichten Aufsatz „Funktionale Methode und juristische Entscheidung“ in einer rechtswissenschaftlichen Zeitschrift.9 Luhmann empfahl darin dem Gesetzgeber die Verwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, warnte aber den Rechtsanwender davor. Die Rechtsanwendung müsse von der Verantwortung für die Zwecke der Normen und die Folgen ihrer Anwendung entlastet werden, weil ihr die dazu nötigen Informationen fehlten. Mein Beitrag „Staatsrechtslehre und Politikwissenetwa Wassermann 1969; ders. 1970; Ostermeyer, S. 31; Lautmann ZRP 1971, S. 25; ders. 1971. Vgl. dazu auch meine Frankfurter Antrittsvorlesung über „Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat“, 1980, S. 704, dort auch weitere Hinweise. 5 Vgl. Grimm, Recht und Politik, 1895. 6 Vgl. aber den Versuch einer Entideologisierung und Darstellung der Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Rechtsdogmatik in dem aus Tagungen am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld hervorgegangen Werk „Sozialwissenschaften im Studium des Rechts“, 4 Bände, 1977 – 78, darin insbesondere Hoffmann-Riem, Bd. II, S. 1; ferner Hoffmann-Riem 1981. 7  Kaufmann, S. 63 f. 8  Grimm 1973, S. 53; das politikwissenschaftliche Pendant von Sontheimer, S. 68. 9  Luhmann 1969, S. 1; ders. 1972, S. 240 ff. 4 Vgl.

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schaft“ war gewissermaßen ein Anti-Luhmann. Er nahm zwar die Schwierigkeiten interdisziplinärer Arbeit ernst und verteidigte die Autonomie der Rechtswissenschaft, erklärte aber ihre Öffnung zu den Sozialwissenschaften gleichwohl für notwendig. Dieser Ansicht bin ich weiterhin. Allerdings stellt sich die Frage der Interdisziplinarität für verschiedene rechtswissenschaftliche Disziplinen unterschiedlich. Die Befassung mit dem geltenden Recht unter dem Gesichtspunkt seiner richtigen Auslegung und Anwendung (Rechtsdogmatik) ist von anderen Sichtweisen auf das Recht zu unterscheiden, zum Beispiel von der Befassung mit dem Recht überhaupt, seinem Geltungsgrund, seiner Gerechtigkeit, seiner Form, seiner Funktion, seiner Wirkungsweise (Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie); von der Befassung mit dem geltenden Recht unter dem Gesichtspunkt seiner Entstehungsweise, seiner Auswirkungen, des Verhaltens und der Rekrutierung des Rechtsstabes (Rechtssoziologie, Rechtspolitik, Rechtsökonomie); von der Befassung mit fremdem Recht (Rechtsvergleichung), mit früherem Recht (Rechtsgeschichte), mit künftigem Recht (Rechtspolitik). Mit Ausnahme der Rechtsdogmatik ist die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung für all diese Disziplinen unbestritten. Man kann sogar die Frage stellen, inwieweit sie zur Rechtswissenschaft gehören und nicht zu den Bindestrich-Disziplinen. Denn die Beziehung zum Recht wird hier nur durch den Gegenstand vermittelt, nicht durch die Methode. Gleichwohl befinden sie sich institutionell überwiegend unter dem Dach der Rechtswissenschaft, weil sich der Gegenstand für andere Disziplinen als sperrig erweist und Rechtsdogmatik und Rechtsprechung ihnen weitgehend verschlossen bleiben. Ich konzentriere mich im Folgenden also auf die gewöhnlich als Kern der Rechtswissenschaft betrachtete und im Blick auf Interdisziplinarität allein umstrittene Rechtsdogmatik und ihr Verhältnis zu den Sozialwissenschaften, weil die Beziehung zu den Naturwissenschaften keinen Anstoß erregt und komplikationslos verläuft.10

II.  Rechtsdogmatik und Interdisziplinarität 1. Berechtigung a)  Interdisziplinaritäts-abweisende Theorien Zwei Problemebenen sind zu unterscheiden, die Ebene der Berechtigung interdisziplinären Vorgehens in der Rechtsdogmatik und die Ebene seiner Möglichkeit. Die Antwort auf die Berechtigungsfrage hängt eng mit der Vorstellung zusammen, die man von der Natur des Rechts, der Struktur von Rechtsnormen sowie dem Ziel 10 Vgl. Lepsius 2005, S. 1 („Je naturwissenschaftlicher die normerheblichen Fakten sind, desto eher wird deren Erhebung und Bewertung delegiert, je sozialwissenschaftlicher sie sind, desto eher wird auf der eigenständigen juristischen Erhebung und Bewertung bestanden.“).

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und den Mitteln ihrer Auslegung hat. Unbestritten ist Recht eine Sollensordnung und die Rechtswissenschaft in ihrer Eigenschaft als Rechtsdogmatik eine Disziplin, die es mit der Frage zu tun hat, wann eine Norm rechtlich (und nicht nur religiös, moralisch, ästhetisch oder sonst wie) gilt und was der Inhalt des Sollens ist. Die Sozialwissenschaften dürfen zwar nicht auf empirische Forschung reduziert werden, sind im Wesentlichen aber doch auf die Analyse und Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse spezialisiert und an Rechtsnormen und Rechtsanwendung nur insoweit interessiert, als diese die soziale Wirklichkeit mitbestimmen. Geht man von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Sein und Sollen aus,11 kann keine empirische Disziplin etwas zur Klärung der Fragen beitragen, die sich der Rechtsdogmatik stellen. Das heißt nicht, dass die Sozialwissenschaften gar nichts zum Recht zu sagen hätten. Sie können zum Beispiel sagen, warum Rechtssätze einen bestimmten Inhalt haben, bestimmte Wirkungen entfalten, befolgt oder missachtet werden. Aber sie sind nicht für Geltungs- und Deutungsfragen zuständig. Nimmt man in strikt positivistischer Manier an, dass nur solche Normen rechtliche Geltung beanspruchen können, die von einer dazu befugten Institution im vorgeschriebenen Verfahren erzeugt worden sind, dann ist auf die Geltungsfrage von keiner anderen Disziplin als der Rechtswissenschaft eine Antwort zu erwarten. Trennt man nicht strikt zwischen Sein und Sollen, sondern erweitert den Geltungsbegriff auf die tatsächliche Verwirklichung der Norm, ist das anders. Ebenso verhält es sich bei der Auslegung. Geht man davon aus, dass eine Rechtsnorm nur aus sich heraus verstanden werden kann, dann muss man die Auslegungsmittel in der Tat auf Grammatik und Logik beschränken, und „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen – so wertvoll sie an und für sich sein mögen – sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffs ohne Belang“. Das ist die bekannte Aussage Paul Labands aus dem Vorwort zur zweiten Auflage seines Reichsstaatsrechts, in dem er sich kurz mit seinen Kritikern auseinandersetzte.12 Ganz ähnlich hatte Windscheid für das Privatrecht formuliert: „Ethische, politische oder volkswirtschaftliche Erwägungen sind nicht Sache des Juristen als solchen.“13 Der Jurist „als solcher“ ist der Rechtsdogmatiker, gleich ob in einem wissenschaftlichen oder einem praktischen Beruf. Die Wirklichkeit tritt für einen Positivisten wie Laband nur als Fall in Erscheinung, auf den die Norm angewandt wird. Die Jurisprudenz hat zwar Techniken entwickelt, die – in der Regel strittigen – Tatsachen zu rekonstruieren, die dem Fall zugrunde liegen. Die von der Norm erfasste Realität ist aber für die Sinnermittlung der Norm irrelevant, ebenso wie die Intention des Gesetzgebers oder der Zweck des Gesetzes. Diese gehören zur Sphäre des Politischen, die dem Recht äußerlich ist und von der Feststellung des Normsinns gerade ferngehalten werden soll. Da der Sinn der Norm mit der Inkraftsetzung des Normtexts abschließend determiniert ist, unterliegt er auch keinem Wandel. Der Rechtsanwender kann bei der FeststelProminent z. B. Kelsen 1960, S. 5 ff. Laband, S. XI. 13  Windscheid, S. 101.

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lung des Sinns zwar irren und muss sich dann korrigieren. Aber einen korrekt ermittelten Sinn kann er nicht unter Berufung auf veränderte Umstände ändern. Veränderte Umstände können zwar die Wirkung einer Norm beeinträchtigen. Reaktionen darauf sind aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Es können aber auch Annahmen über das Ziel der Auslegung das Verhalten zu den Sozialwissenschaften präjudizieren. Der vor allem in den USA verbreitete originalism sieht die Aufgabe der Auslegung, demokratietheoretisch fundiert, darin, die Intention des historischen Gesetzgebers (original intent) oder die sprachliche Bedeutung des Textes zur Zeit der Entstehung der Norm (original meaning) zu ermitteln.14 Das mag zwar geschichtliche Vergewisserungen, gesetzesgeschichtliche oder sprachgeschichtliche, erforderlich machen, lässt für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse aber keinen Raum. Ebenso wird, wie im Positivismus, die Zulässigkeit von Interpretationsänderungen wegen veränderter Umstände bestritten. Veränderungen des Normsinns bleiben auch hier dem Gesetzgeber vorbehalten. b)  Wirklichkeitsoffenes Normverständnis Rechtstheoretische Annahmen, die die Verwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Norminterpretation kategorisch ausschließen, finden in Deutschland nicht mehr viel Resonanz. Das ändert aber nichts daran, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zur Ermittlung des Normsinns nur dann beitragen können, wenn die Normstruktur ihre Einbeziehung erlaubt. Deswegen greift Niels Petersen zu kurz, wenn er die Berechtigung zur Verwendung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse daraus ableitet, dass einige eingeführte dogmatische Kon­ struktionen wie zum Beispiel das Verhältnismäßigkeitsprinzip darauf angewiesen sind.15 Damit kehrt er das Verhältnis von Grund und Folge um. Wenn die Normstruktur den Rekurs auf empirische Wissensbestände bei der Sinndeutung ausschließt, können dogmatische Figuren, die auf solche Bestände angewiesen sind, ihre Verwendung nicht rechtfertigen. Vielmehr ist dann die Verwendung dieser dogmatischen Figuren illegitim. An einer Vergewisserung über die sinnkonstituierenden Elemente von Rechtsnormen führt daher kein Weg vorbei. Ohne Zweifel gehört der Normtext dazu. Der Sinn der Norm wird sprachlich vermittelt. Textarbeit steht deswegen immer am Anfang. Allerdings sorgt die Sprachanalyse nicht für dasjenige Maß an Eindeutigkeit, das zur Anwendung der Norm auf Fälle nötig ist. Die Kluft zwischen der generellen und abstrakten Norm und dem konkreten und individuellen Fall muss durch Interpretation überbrückt werden, und diese ist durch den Normtext nur mehr oder weniger determiniert. Deswegen reicht Grammatik zum Normverständnis nicht 14 Vgl. Scalia; dazu Balkin, S. 12 ff. Vgl. ferner Heun, S. 185. Das abgemilderte deutsche Pendant ist die Auslegung nach dem (subjektiven) Zweck des Gesetzgebers statt dem (objektiven) Zweck des Gesetzes, vgl. Rüthers/Fischer/Birk, S. 472 ff.; Hillgruber, S. 512 f.; Jestaedt 2011, S. 325 ff. 15 Vgl. Petersen 2011; ders. 2010, S. 435.

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aus. Aber auch die Logik, mit der ein Positivist wie Laband die Mehrdeutigkeit der Sprache durch Deduktionen aus Begriffen und Systemzusammenhängen des Rechts überwinden wollte, vermag das nicht zu leisten, sondern verbirgt oft nur die Präferenzen der Interpreten, die sich hinter der Begriffsbildung verstecken.16 Das einpolige Normverständnis, das die Rechtsnorm mit ihrem Text identifizierte und zur Beschränkung der Interpretation auf grammatische und logische Mittel zwang, ist daher einem zweipoligen gewichen. Der Sinn einer Norm wird danach zusätzlich durch ihren Zweck konstituiert.17 Dieser steht dann nicht mehr, wie von den Positivisten angenommen, außerhalb der Norm, sondern wird Normbestandteil. Anders als der festliegende Normtext muss der Normzweck aber ermittelt werden. Der Normtext bietet dabei in der Regel keine Hilfe. Wohl aber können Präambeln, Gesetzesbegründungen und Parlamentsdebatten Aufschluss geben. Gewöhnlich bereitet die Zweckermittlung daher keine Schwierigkeiten, die nur mit Hilfe außerjuristischen Fachwissens gelöst werden könnten. Je jünger die Norm, desto offenkundiger ihr Zweck. Es gibt jedoch Normen, bei denen die rechtlichen Quellen wenig aufschlussreich sind. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Zwang zum politischen Kompromiss eine eindeutige Zwecksetzung vereitelt hat. Vor allem hat es aber mit dem Bestimmtheitsgrad einer Norm zu tun. Je vager die Norm, desto unbestimmter auch ihr Zweck.18 Die Feststellung des Normzwecks verlangt dann, je nach dem, ob man ihn eher subjektiv als Intention des Gesetzgebers oder eher objektiv als Funktion der Norm auffasst, nach historischer oder funktionaler Vergewisserung, bei der interdisziplinäre Forschung unter Umständen hilfreich sein kann. Doch muss man sich bewusst sein, dass die Gefahr subjektiver Einflüsse, die für den Positivismus bei der Begriffsbildung auftrat, sich hier in die Zweckbestimmung verschiebt. Zweckgeleitete Interpretation des Normtextes ersetzt Grammatik und Logik nicht, sondern ergänzt sie um Teleologie. Der Zweck verweist den Interpreten über den Text hinaus, und zwar zurück auf den Konflikt, der in der Norm eine Regelung erfahren hat, auf die Wertvorstellungen, die den Normgeber bei der Regelung geleitet haben, auf die Gefahr, der die Norm begegnet, die Funktion, die sie erfüllen soll. Teleologie hat auf diese Weise die Interpretation dynamisiert und es ihr ermöglicht, Erfahrungen mit der Normanwendung zu verarbeiten und neuartige Phänomene in den Regelungsbereich der Norm einzubeziehen, ohne dass man gesetzgeberische Reaktionen abwarten müsste. Auch das ist heute allgemein akzeptiert, jedenfalls in Deutschland. Interpretation ist teleologische Interpretation. Die Anerkennung, dass der Normzweck ein sinnkonstituierendes Element der Norm bildet, erklärt für sich allein allerdings noch nicht, ob bei der Interpretation auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden darf oder vielleicht sogar muss. Diese Möglichkeit eröffnet erst ein drittes Normelement, Wilhelm 1958; Grimm 1987, S. 347. Den Wendepunkt markiert von Ihering. Das öffentliche Recht folgte erst mit erheblicher Verzögerung, vgl. Stolleis, S. 64. Zum Ganzen jetzt Wischmeyer. 18 Vgl. Lüdemann, S. 279; von Arnauld, S. 65. 16 Vgl. 17 

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das den Normzweck mit dem sachlichen Geltungsbereich der Norm verbindet. Der Zweck soll sich in der Wirklichkeit verwirklichen. Die Norm ist in Ansehung eines bestimmten Zustands der Wirklichkeit formuliert, in der sie ihre Wirkung tun soll. Der Zustand der Wirklichkeit, das Segment der sozialen Realität, auf das die Norm sich regelnd bezieht, konstituiert ihren Sinn ebenfalls mit und muss daher genauso in die Interpretation einbezogen werden.19 Im Unterschied zum feststehenden Text und zum vorgegebenen Zweck ist die Wirklichkeit jedoch in ständigem Wandel begriffen. Dieser Wandel in dem von einer Norm erfassten Sachbereich kann zur Folge haben, dass die Norm bei unveränderter Interpretation ihren Zweck verfehlt. Eine Interpretationsmethode, die bei Text und Zweck stehen bliebe, könnte dem nicht Rechnung tragen. Zweckverfehlung kann vielmehr nur wahrgenommen und verarbeitet werden, wenn dem Wirklichkeitsausschnitt, in dem die Norm ihre Wirkung entfalten soll, eine eigenständige Bedeutung für die Deutung der Norm zugewiesen wird. Gesetzestreue zeigt sich dann gerade nicht, wie für den Positivisten und Originalisten, am Festhalten an der einmal gefundenen Interpretation, sondern an ihrer Anpassung an veränderte Realisierungsbedingungen. Für die Feststellung und Erklärung sozialen Wandels ist aber nicht die Rechtswissenschaft, sondern die Sozialwissenschaft zuständig. 2. Möglichkeit a)  Juristische Verarbeitung sozialen Wandels Sozialer Wandel ist juristisch nur normvermittelt von Interesse.20 Ihm kommt nicht als solchem juristische Relevanz zu, sondern nur dann, wenn er die Verwirklichung des Normzwecks bei unveränderter Interpretation gefährden würde. Wann das der Fall ist, wird häufig offenkundig sein. Es entsteht ein neues Kommunikationsmedium, das Internet, es verbreiten sich neue Formen der Vermögensanlage, die Derivate, es entwickeln sich neue Formen des menschlichen Zusammenlebens, gleichgeschlechtliche Partnerschaften etc. Es kann aber auch sein, dass bereits die Problemperzeption auf sozialwissenschaftliche Aufklärung angewiesen ist. Die sogenannte Föderalismus-Falle ist ein gutes Beispiel dafür.21 Noch weniger gewiss ist, dass die Folgen sozialen Wandels für die Zweckverwirklichung der Norm ohne nachbarwissenschaftliche Hilfe festgestellt werden können. Ihre Kenntnis ist aber Voraussetzung einer zweckgerechten Norminterpretation. Sie verlangt Realanalysen und gegründete Prognosen. Dazu reicht in der Regel die juristische Kompetenz nicht aus. Sie setzt dagegen wieder ein, wenn es um eine Bewertung der Folgen in Bezug auf den Normzweck geht. Folgen für sonstige Interessen, etwa für die Exportwirtschaft, für die Wahlchancen von Parteien, für die Finanzkraft der Kirchen spielen keine Rolle, solange sie nicht vom Normzweck Müller. Jestaedt 2007, S. 277 ff. 21 Vgl. Scharpf/Reissert/Schnabel 1976; dies. 1977. 19 Wegweisend 20 Vgl.

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umfasst sind. Gibt es nachteilige Folgen, so muss eine Interpretation gesucht werden, die diese Folgen vermeidet, aber nicht den Rahmen des Normtextes sprengt. Es gibt Folgen, die nicht im Weg der Interpretation verarbeitet werden können, sondern nur durch Verfassungs- oder Gesetzesänderung. Der Grenzverlauf ist nicht leicht zu bestimmen. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.22 Die Folgenberücksichtigung hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur viele Gegner.23 In der Verfassungsrechtsprechung ist sie aber gang und gäbe und wird auf sämtlichen Stufen der Grundrechtsanwendung eingesetzt,24 aber auch im Organisationsteil. Das Bundesverfassungsgericht verfährt dabei – großenteils unbemerkt – stets nach demselben Muster, ohne dass sich dieses bislang zu einem Prüfungsschema wie etwa beim Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfestigt hätte. Ausgangspunkt ist der Normtext sowie der von der Norm angestrebte Zweck oder die ihr zugedachte Funktion. Sodann wird die traditionelle Interpretation dargestellt. Es folgt die Frage nach sozialem Wandel im Normbereich. Besteht er, geht es darum festzustellen, ob er nachteilige Folgen für die Erreichung des Normzwecks hat. Wenn das der Fall ist, muss eine neue Interpretation gefunden werden, die abschließend anhand des Normtexts auf ihre Statthaftigkeit zu kontrollieren ist. Das Volkzählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Paradefall.25 Als die Vereinbarkeit des Volkszählungsgesetzes 1983 mit Artikel 2 Absatz 1 GG zur Prüfung anstand, war bereits geklärt, dass dieses Grundrecht unter anderem den Zweck hatte, die Privatsphäre zu schützen. Damit gelangten auch personenbezogene Daten in den Schutzbereich von Artikel 2 Absatz 1 GG, jedoch nur, soweit sie die Privatsphäre betrafen. Den sozialen Wandel erblickte das Bundesverfassungsgericht in einer wissenschaftlich-technischen Innovation, der elektronischen Datenverarbeitung, welche die Möglichkeiten der Datenerhebung, -speicherung, -auswertung, -weitergabe beträchtlich vergrößerte. Das Bundesverfassungsgericht sah dadurch das Normziel von Artikel 2 Absatz 1 GG: freie Entfaltung der Persönlichkeit, berührt. Der Kernsatz der Entscheidung lautete: Wer nicht weiß, was der Staat über ihn weiß, ist in seinem Verhalten ihm gegenüber nicht frei im Sinn von Artikel 2 Absatz 1 GG. Die Beschränkung des Datenschutzes auf Daten aus der Privatsphäre musste aufgegeben werden, weil die neuartige Möglichkeit der Datenverbindung und -verknüpfung der bisher gültigen Unterscheidung zwischen sensiblen und nichtsensiblen Daten den Boden entzog. Das Schutzkonzept für personenbezogene Daten wurde daher vom Privatsphärenschutz gelöst und als eigenständiger Schutzgegenstand konstituiert, zusammen mit Anforderungen an die staatliche Datenerhebung und -nutzung, die den Gefahren entsprachen: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

22  Vgl. aber zum Unterschied zwischen Umstände- und Wertewandel meinen Hinweis in VVDStRL 73 (2014), S. 300 f. 23  Vgl. etwa Larenz, S. 145, 222; Pawlowski, S. 304. 24 Vgl. Grimm, Entscheidungsfolgen, 1995. 25  BVerfGE 65, 1.

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Inzwischen ließen die Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnik auch die erweiternde Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG als ungenügend erscheinen. Zugriffe auf Kommunikationen sind heute möglich, ehe überhaupt eine durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützte Handlung oder ein Eingriff in einen konkreten Kommunikationsvorgang vorliegt, und zwar vor allem durch elektronische Infiltrierung der Software. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb den Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. 1 zum Systemschutz fortentwickelt und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung das Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme zur Seite gestellt.26 b) Schwierigkeiten Legt man die hier entwickelte Normstruktur zugrunde, dann wird im Kernbereich der Rechtswissenschaft, der Rechtsdogmatik, Wissen benötigt, das außerhalb der Kompetenz der Rechtwissenschaft liegt. Die Rechtsdogmatik wird folglich im Interesse ihrer ureigenen Funktion auf Interdisziplinarität verwiesen. Interdisziplinarität hat allerdings ihre eigenen Schwierigkeiten, welche die Zusammenarbeit in der Praxis erschweren, auch wenn die alten Vorbehalte überwunden sind. Der Grundtatbestand ist die Spezialisierung der Wissenschaft. Selbst wenn sich die Forschungen verschiedener Disziplinen auf denselben Gegenstand richten, nähern sie sich ihm doch mit anderen Fragestellungen und anderen Methoden. Die Sozialwissenschaften teilen nicht das Erkenntnisinteresse der Rechtsdogmatik. Rechtsdogmatik gibt es wegen der Rechtsbindung des Juristen. Für sozialwissenschaftliche Disziplinen spielt sie keine Rolle. Das hat zur Folge, dass das für die Sinnermittlung von Rechtsnormen benötigte empirische Wissen oft nicht zur Verfügung steht. Den Sozialwissenschaften war die juristisch erhebliche Frage unbekannt oder nicht interessant genug. Wo die juristisch erhebliche Frage eine sozialwissenschaftliche Antwort erfahren hat, ist diese für die Rechtswissenschaft nicht unbesehen verwertbar. Das sozialwissenschaftlich produzierte Wissen darf nicht als Abbild der Wirklichkeit verstanden werden. Wissenschaftlich gewonnenes und gesichertes Wissen ist theoriegeleitet, und jeder Theorie wohnt eine bestimmte Selektivität inne, die die Verwertbarkeit des Wissens bei der Norminterpretation beeinflussen kann. Außerdem gibt es in jeder Disziplin neben gesichertem Wissen ungesichertes, umstrittenes und überholtes Wissen sowie Schulen und Richtungen, die sich bekämpfen. Die Rechtswissenschaft steht daher nicht nur vor einem Mangelproblem, sondern auch vor einem Informationsproblem. Mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden nicht vertraut, wenig verständnisbereit gegenüber der sozialwissenschaftlichen Terminologie, provoziert durch den Zusammenstoß von eigenem Alltagswissen mit kritischen Theorien, irritiert durch Schulenstreite, die der Rechtswissenschaft in ähnlicher Schärfe nicht mehr geläufig sind, wissen viele 26 

BVerfGE 120, 274.

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Juristen nicht, wo sie nach den benötigten Informationen suchen sollen, welche Fragen sie an die Sozialwissenschaften richten können, welche Antworten sie erwarten dürfen, ob diese gesichert oder ungesichert sind, welche Selektivität ihnen innewohnt, wie sie zu bewerten und in einen normativen Kontext zu übersetzen sind. Das Zurückschrecken der Rechtswissenschaft vor Interdisziplinarität ist daher auch ohne Ideologieverdacht verständlich. In der Juristenausbildung sind an diesen Schwierigkeiten viele gut gemeinte Interdisziplinaritäts-Bestrebungen gescheitert. Es gibt allerdings Strategien, diese Schwierigkeiten zu überwinden.27 Man kann Kooperation zu bestimmten juristisch relevanten Fragestellungen initiieren. Man kann Expertisen anfordern. Das tut das Bundesverfassungsgericht gelegentlich. Das Lebach-Urteil ist ein gutes Beispiel.28 Man kann sich auf Alltagstheorien oder Plausibilitätsannahmen stützen. Das geschieht häufig. In der Verfassungsrechtsprechung ist es gang und gäbe. Die Rundfunkrechtsprechung zum Beispiel beruht auf der Annahme, dass der Markt dasjenige Produkt, welches Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 GG fordert, nicht bereitstellt, und zwar auch nicht nach der Digitalisierung und der mit ihr verbundenen Programmvermehrung.29 Bei Uneinigkeit der Wissenschaft gibt es Vorrangregeln, etwa die, dass in diesem Fall die Annahmen oder Prognosen des Gesetzgebers zugrunde gelegt werden, wenn sie mit der erforderlichen Sorgfalt gewonnen wurden. Das ist hinnehmbar, jedenfalls besser als eine auf sich selbst zurückgezogene Rechtswissenschaft, die auf Normbereichsanalysen verzichtet. Ein solcher Rückzug hätte die Folge, dass auf die Problemadäquanz der Norminterpretation verzichtet würde oder Realitätsannahmen ungeprüft in die juristische Begriffsbildung eingingen. Wichtig ist, dass die Rechtswissenschaft lernfähig bleibt und ihrerseits den Nachbarwissenschaften Gelegenheit zum Lernen durch vermehrte Konfrontation mit juristischen Fragen gibt. Schon in meinem Beitrag von 1973 steht, dass eine sozialwissenschaftlich aufgeschlossene Rechtswissenschaft auch juristisch aufgeschlossene Sozialwissenschaften voraussetzt. Das ist unverändert aktuell.30

III.  Neuer Bedarf an interdiszplinärer Forschung Die Forderungen von 1973 sind also weiterhin gültig und harren zu einem guten Teil noch immer der Einlösung. Verändert hat sich aber das Umfeld. Der Gegenstand der Rechtswissenschaft, das geltende Recht, ist nicht mehr derselbe wie 1973. Damit ist nicht gemeint, dass seitdem Rechtsänderungen eingetreten sind. Das geschieht dauernd. Vielmehr hat eine kategoriale Veränderung stattgefunden, die 1973 schon in Gang gesetzt war, in ihrer vollen Bedeutung aber erst neuerdings erkannt worden ist: die Internationalisierung oder Transnationalisierung und die Lepsius (Fn. 10), Petersen 2011, S. 13 ff. BVerfGE 35, 202. Vgl. auch die Untersuchung von Philippi; Bryde, S. 533. 29  Vgl. BVerfGE 57, 295 (322 ff.), zuletzt BVerfGE 136, 9 (28). 30 s. Lepsius 2008, S. 15 f. 27 Vgl. 28 

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mit ihr verbundene Pluralisierung des Rechts.31 Sie findet ihren Grund in der ständig wachsenden Zahl von Problemen, die sich im nationalen Rahmen nicht mehr effektiv lösen lassen und die Staaten daher zu vermehrter internationaler und supranationaler Zusammenarbeit zwingen. Von den Staaten ins Leben gerufen, sind überstaatliche Einrichtungen entstanden, die sich von den traditionellen Bündnissen und Allianzen dadurch unterscheiden, dass sie über eigene Organe verfügen, die die gemeinsamen Interessen wahrnehmen, und zwar auch gegenüber den partikularen Interessen der Staaten, und zu diesem Zweck einen Teil der Herrschaftsgewalt erhalten haben, die früher bei den Staaten monopolisiert war. Dadurch löst sich die Jahrhunderte alte Identität von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt auf. Neben die territorial begrenzte, aber funktional konzentrierte Staatsgewalt ist eine territorial entgrenzte, aber funktional fragmentierte internationale öffentliche Gewalt getreten. Diese Entwicklung kann in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Sie kommt der Entstehung des modernen Staates vor 400 Jahren und seiner Umwandlung in den Verfassungsstaat vor 200 Jahren gleich. Die ebenfalls Jahrhunderte alte wechselseitige Unabhängigkeit von nationalem und internationalem Recht wird damit hinfällig. Das staatliche Recht wird durch Recht aus nicht-staatlichen Quellen überlagert, modifiziert oder verdrängt, ohne dass das den nationalen Rechtstexten stets anzusehen wäre. Diese spiegeln oft einen Rechtszustand vor, der tatsächlich nicht mehr existiert. Die aktuelle Rechtslage eines Landes lässt sich vielmehr nur noch durch eine Zusammenschau von nationalem und internationalem Recht feststellen, in das Elemente vieler nationaler Rechte eingegangen sind. Die neuartige Vermischung von nationalem und internationalem Recht geht nicht konfliktfrei vonstatten. Das innerstaatlich wirksame internationale Recht bildet für das über Jahrhunderte gewachsene nationale Recht einen Fremdkörper. Oft beziehen sich staatliche und nicht-staatliche Vorschriften auf denselben Regelungsgegenstand, so dass Normenwidersprüche und konfligierende Entscheidungen nationaler und internationaler Gerichte entstehen können, ohne dass sie sich immer hierarchisch auflösen ließen. Die Einheit der Rechtsordnung kommt an ihr Ende. Rechtspluralismus ist die unvermeidliche Folge und verlangt neuartige Einstellungen zum Recht. In der alten Ordnung war ein Kollisionsrecht nur für Fälle nötig, die Auslandsberührung hatten, so dass entschieden werden musste, welches nationale Recht anzuwenden war. Jetzt wird auch innerstaatlich ein Kollisionsrecht benötigt, das die Widersprüche zwischen nationalem und internationalem Recht auflöst.32 Auch die Interpretationsmethode kann davon nicht unberührt bleiben. Innerstaatlich wirksames Recht aus nicht-staatlichen Quellen erhebt übernationale Geltungsansprüche und will in den verschiedenen Staaten gleichmäßig angewandt werden. Aber jeder aus der schnell wachsenden Literatur etwa Viellechner; Kötter/Schuppert; Fischer-­Lescano/Teubner. 32 Vgl. Joerges/Kjaer/Ralli. 31 Vgl.

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Staat hat seine eigenen Rechtstraditionen, seine eigenen Begrifflichkeiten, seine eigenen Auslegungsmethoden, die für das internationalisierte Recht keine Geltung beanspruchen können. Die Einstellung auf die neue Situation kann der Rechtswissenschaft nicht ohne ständige Rechtsvergleichung gelingen. Die Staatenkooperation in supranationalen Rechtsgemeinschaften zwingt zum Übergang von der Binnenorientierung an der eigenen Rechtsordnung zur Außenorientierung. Diese kann freilich nicht bei Normtexten und rechtlichen Institutionen stehenbleiben.33 Die Bedeutung, die sie jeweils haben, die Funktionen, die sie jeweils erfüllen, die praktische Relevanz, die sie erlangen, müssen hinzutreten, damit die Sinndifferenzen aufgedeckt werden können. Zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen ist eine ständige Übersetzung nötig. An dieser Stelle kommt die Interdisziplinarität ins Spiel. Der Rechtsvergleich kann seine Funktion in einer internationalisierten Rechtsordnung nur erfüllen, wenn er den kulturellen und sozialen Kontext einbezieht, in dem das Recht seine konkrete Gestalt annimmt. Im nationalen Rahmen läuft das Kontextwissen meist implizit mit, oft unbewusst. Im internationalen Rahmen muss es erst explizit gemacht werden. Kontextwissen ist aber zum großen Teil außerjuristisches Wissen über rechtlich relevante Mentalitäten und Praktiken. Deswegen drängt die Veränderung auf vermehrte Interdisziplinarität, ohne dass die Erfüllung des Postulats dadurch leichter würde.

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– Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 1., Frankfurt, 1973; 2. Aufl., München, 1976; Band 2, München, 1976. – Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat, JuS 1980, S. 704, nachgedruckt in: Oliver Eberl (Hrsg.): Transnationalisierung der Volkssouveränität, 2011, S. 19. – Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft, in: Dieter Grimm (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 1., Frankfurt, 1973, S. 53. Heun, Werner: Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, AöR 116, 1991, S. 185. Hillgruber, Christian: Verfassungsinterpretation, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.): Verfassungstheorie. Tübingen, 2010, S. 505. Hoffmann-Riem, Wolfgang: Rechtswissenschaft als Rechtsanwendungswissenschaft. Lernzielthesen zur Integration von Rechts- und Sozialwissenschaft, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts. München, Bd. II, 1977, S. 1. – Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht. Fälle und Lösungen in Ausbildung und Prüfung. Neuwied, 1981. Ihering, Rudolf von: Der Zweck im Recht. Leipzig, 1877. Jestaedt, Matthias: Öffentliches Recht als wissenschaftliche Disziplin, in: Christoph Engel/ Wolfgang Schön (Hrsg.): Das Proprium der Rechtswissenschaft. Tübingen, 2007, S. 277 ff. – Zur Koppelung von Politik und Recht in der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hrsg.): Der Eigenwert des Verfassungsrechts. Tübingen, 2011, S. 325 ff. Joerges, Christian/Kjaer, Paul F./Ralli, Tommi: Conflicts Law as Constitutional Form in the Postnational Constellation. In: Transnational Legal Theory 2 (issue 2), 2011. Kaufmann, Franz Xaver: Interdisziplinäre Wissenschaftspraxis, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Interdisziplinarität. Frankfurt/Main, 1987, S. 63 f. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre. Wien, 2. Aufl., 1960. Kötter, Matthias/Schuppert, Gunnar Folke: Normative Pluralität ordnen. Baden-Baden, 2009. Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Freiburg i. Br. u. Leipzig, Band I, 2. Aufl., 1888. Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. München, 5. Aufl., 1983. Lautmann, Rüdiger: Rechtssoziologie und Juristen, ZRP 1971, S. 25. – Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1971. Lepsius, Oliver: Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, S. 1. – Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.): Rechtswissenschaftstheorie. Tübingen, 2008, S. 15 f. Lüdemann, Jörn: Netzwerke, Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, in: Sigrid Boysen u.a. (Hrsg.): Netzwerke. Baden-Baden, 2007, S. 279. Luhmann, Niklas: Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), S. 1. – Rechtssoziologie. Opladen, Band 2, 1972. Müller, Friedrich: Normstruktur und Normativität. Berlin, 1966.

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Dieter Grimm

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Voraussetzungen von Interdisziplinarität der Rechtswissenschaften Stephan Kirste Die Frage der Einbeziehung interdisziplinärer Erkenntnisse in die disziplinäre Forschung bzw. sogar die Überwindung der Disziplinengrenzen ist im Allgemeinen und insbesondere in der Jurisprudenz so umstritten, dass in den USA schon von einer Kontroverse zwischen den „Doctrinalists“ und den „Interdisciplinarians“ die Rede ist.1 Gewohnt plakativ spricht auch Clifford Geertz von „intellectual deprovincialization“ und davon, dass sich die Disziplinen von ihrem bequemen Insulanerdasein wegbewegten.2 Dem setzt Stanley Fish entgegen, die Interdisciplinarians würden eine „antiprofessionelle Tirade“ gegen die notwendige Spezialisierung von Disziplinen betreiben.3 Interdisziplinarität befreie uns nicht von den zu engen Mauern der eigenen Disziplin, sondern ersetze diese nur durch solche, die wir nicht erkennen könnten, weil sie außerhalb des Analysebereichs der jeweiligen Wissenschaft lägen.4 Die Debatte erfasst auch die Rechtswissenschaften.5 Auch hier wird diese Kontroverse als eine Übernahme bzw. Abwehrschlacht verstanden,6 die die Rechtswissenschaft zwar gewinnen könne, jedoch nicht aus wissenschaftlichen, sondern lediglich aus Gründen institutioneller Trägheit.7 Damit ist ein Streit bezeichnet, bei dem es den einen um die Selbstbehauptung der Rechtswissenschaft8 und ihre

1  „Many interdisciplinarians perceive doctrinalists to be intellectually rigid, inflexible, and inward-looking; many doctrinalists regard interdisciplinary research as amateurish dabbling with theories and methods the researchers do not fully understand“, Vick, S. 164. 2 Geertz, S. 3. 3 Fish, S. 15. 4 Fish, S. 18: „the interdisciplinary impulse … does not liberate us from the narrow confines of academic ghettos to something more capacious; it merely redomiciles us in enclosures that do not advertise themselves as such“. 5  Für einen Kritiker von Interdisziplinarität vgl. nur Posner 1987, S. 761 ff., der – selbst ein Exponent der interdisziplinären Ansätze von „law and economics“ und „law and literature“ – mit dieser Position aber keineswegs die herrschende Auffassung in den USA beschreibt. 6 Lautmann, S. 26: „Die Abwehr des gefürchteten Phantoms der Soziologisierung führt hier zu einer Strategie des Angriffs mit sämtlichen Mitteln“. 7 Balkin, S. 966 f. 8  Auch Grimm diagnostiziert zu Beginn des Vorworts: „Dieses Buch ist ein Ausdruck schwindender Selbstsicherheit der Rechtswissenschaft“, 1976, S. 7.

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Reinheit,9 den anderen hingegen um deren gesellschaftliche Verantwortung für das Herrschaftsinstrument Recht10 und die Berücksichtigung notwendiger Erkenntnisse der Rechts- und der mit ihr kooperierenden anderen Wissenschaften11 geht. Wieder andere befürchten Freiheitsverluste, wenn etwa Beurteilungs- und Ermessenspielräume durch empirische Studien eingeschränkt würden.12 Nach einem Aufwind für interdisziplinär ausgerichtete Rechtswissenschaften in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts13 und in Deutschland in den 70er Jahren14 folgten in beiden Rechtskulturen seit den 80er Jahren teils frustrierte Gegenbewegungen.15 Optimisten sprechen bereits davon, dass der größte Teil der publizierten rechtswissenschaftlichen Forschung (in den USA!) auch in der Jurisprudenz interdsiziplinär sei.16 Solche zugespitzten Kontroversen verdecken jedoch, dass es angesichts der gegenwärtigen Struktur des Rechts gute Gründe für eine stärker interdisziplinäre Ausrichtung der Rechtswissenschaften in Forschung, praktischer Wirksamkeit und Lehre gibt, deren Beachtung und Umsetzung wissenschaftstheoretisch und organisatorisch möglich ist, ohne dass es zu Friktionen disziplinärer Forschung kommen muss.17 9 Kelsen, S. 61: „Die methodische Reinheit der Rechtswissenschaft wird nun nicht nur dadurch gefährdet, dass die Schranke, die sie von der Naturwissenschaft trennt, nicht beachtet, sondern – viel mehr noch – dadurch, dass sie nicht oder nicht deutlich genug von der Ethik geschieden, dass zwischen Recht und Moral nicht klar unterschieden wird“. 10  Zu letzterem etwa Balkin, S. 950. 11 Lautmann, S. 43 für die Soziologie. 12 Struck, S. 28. 13 Tomlins, S. 911 ff. und besonders dann durch den amerikanischen Rechtsrealismus, der wiederum von Eugen Ehrlich stark beeinflusst wurde. 14 Vgl. insbesondere die beiden von Dieter Grimm herausgegebenen Sammelbände: Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1. Aufl. 1973; Bd. 2, 1976; freilich gibt es Vorläufer. So etwa bei Kantorowicz, S. 41: „Wir brauchen Richter, die sowohl mit den im Volke herrschenden Rechtsanschauungen, als mit den Tatsachen des Lebens und den Ergebnissen benachbarter Wissenschaften vertraut sind. Die mit gründlichster nationalökonomischer und kaufmännischer Bildung ausgerüstet keinem Bankprozeß mehr hilflos gegenüberstehen. Die allen Schlichen des modernen gewerbsmäßigen Verbrechers so gewappnet entgegentreten, wie sie mit der Eigenart künstlerischer Berufsverhältnisse vertraut sind“. Auch ältere Ansätze waren interdisziplinärer Forschung gegenüber aufgeschlossen, vgl. zur historischen Darstellung in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft Benedict, S. 337, der den interdisziplinären Ansätzen zur Rechtswissenschaft als einer Universalrechtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert nachgeht. 15 Kalman, S. 239: „Currently, there is a backlash against interdisciplinarity“. 16 Vick, S. 184 f., die dennoch insgesamt zurückhaltend hinsichtlich des Erfolges von Interdisziplinaritätsansätzen in den Rechtswissenschaften ist. – Wie die unterschiedlichen interdisziplinären Ansätze der Critical Legal Studies einerseits und von Law and Econom­ ics andererseits zeigen, ist der Streit um die Berechtigung interdisziplinärer Forschung keineswegs notwendig ein Streit zwischen politisch rechten und linken Positionen, wie Fish, S. 15 meint; auch von Bogdandy, S. 3. 17  Vgl. für das Privatrecht jetzt die umfangreiche Untersuchung von Grundmann 2015, bes. S.  41 – 403.

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Im Folgenden wird hier die These vertreten, dass Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften notwendig und schwierig aber möglich ist. Die Veranlassung ergibt sich vom Erkenntnisgegenstand der Jurisprudenz, dem Recht und seinen praktischen Problemen. Wegen der Schwierigkeiten, die in den unterschiedlichen methodischen Zugängen der verschiedenen Wissenschaften zum Recht liegen, bedarf die Möglichkeit von Interdisziplinarität einer eingehenden Untersuchung. Sie wird nicht selten als ein organisatorisches (wie kann interdisziplinäre Zusammenarbeit institutionalisiert werden?)18 oder ein psychisches (wie können die Disziplingrenzen überwunden werden?) Problem verstanden. Vorgelagert sind diesen Aspekten jedoch die erkenntnistheoretischen Fragen, wie Erkenntnisse über die Grenzen von Disziplinen, die durch Methode, Erkenntnisinteresse und Erkenntnisgegenstand integriert sind, gebildet werden können.19 Denn die Hindernisse interdisziplinärer Kooperation ergeben sich aus den unterschiedlichen Erkenntnismethoden und den Erkenntnisinteressen der Wissenschaften.20 Die Art und Weise der Erforschung des Erkenntnisgegenstandes variiert erheblich zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Zugleich wird durch die Methode die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin bestimmt. Es sind also zunächst die wissenschaftstheoretischen und organisatorischen Bedingungen der Disziplinarität von Wissenschaften zu untersuchen. Zweitens soll dann analysiert werden, unter welchen Bedingungen Interdisziplinarität und ggf. Transdisziplinarität möglich ist. Die allgemeinen Erkenntnisse der Interdisziplinaritätsforschung lassen sich jedoch insbesondere dann, wenn sie unter szientistischen Vorzeichen geführt wird, aufgrund ihrer eigenen Sprache, Organisation, kultureller Praktiken, Methoden und weiterer Strukturen nur modifiziert auf die Rechtswissenschaften übertragen.21 Dabei ist die These, dass die Grundlagenfächer (juristische Hilfswissenschaften oder auch Nebendisziplinen),22 eine Form institutionalisierter Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft unter ihrem Erkenntnisinteresse sind.

etwa Ziman, S. 79 f. Sp. 477. Kritisch gegenüber der Heranziehung der Erkenntnistheorie bei der Beurteilung von Interdisziplinarität Lautmann 1971, S. 26. – Die letztlich so unfruchtbaren quasi-moralischen Appelle einerseits oder schlichten Beschreibungen faktischer Bedürfnisse nach und von Formen der praktizierten Interdisziplinarität fordern jedoch eine Analyse der Erkenntnisbedingungen von Disziplinarität und Interdisziplinarität. 20  Das bedeutet wiederum nicht, wie Stanley Fish meint, dass die Erkenntnistheorie Interdisziplinarität für unmöglich erkläre, ihre Einwände müssen jedoch berücksichtigt werden. Fish schreibt (S. 18 f.): „if we take seriously the epistemological argument in the context of which the gospel of interdisciplinary study is so often preached, we will come to the conclusion that being interdisciplinary – breaking out of the prison houses of our various specialties to the open range first of a general human knowledge and then of the employment of that knowledge in the great struggles of social and political life – is not a possible human achievement“. 21 Vick, S. 191. 22 Ernst, S. 24. 18  Vgl.

19 Holzhey,

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I. Disziplinarität Teilt man nicht postmoderne Vorstellungen einer diffusen Transdisziplinarität und unterstellt der Unterscheidung von Wissenschaften ideologische Grabenkämpfe, bei denen es nur um Selbstbehauptung und Besitzstandswahrung statt um sachliche Gründe geht, setzt Interdisziplinarität Disziplinarität voraus.23 Eine Wissenschaft erhält ihre Identität durch ihre Disziplinarität. Der Prozess der Disziplinierung ist nicht nur durch Michel Foucault,24 sondern auch durch wissenschaftstheoretische und wissenssoziologische Ansätze analysiert worden.25 Der lateinische Begriff der „disciplina“ besitzt bereits die Bedeutung von Wissen auf der einen Seite und Erziehung auf der anderen.26 Wissenschaftstheoretisch wird eine Disziplin durch den Erkenntnisgegenstand, die Erkenntnismethode und das Erkenntnisinteresse bestimmt.27 Abgesehen von geschichtlichen Faktoren 28 treten aber weitere institutionelle hinzu.

II.  Wissenschaftstheoretische Bedingungen von Disziplinarität Bei aller Vielfalt der Wissenschaftsbegriffe kann Wissenschaft als eine methodengeleitete Suche nach Erkenntnis verstanden werden. Durch das methodische Vorgehen unterscheidet sie sich in der Begründung vom bloßen Meinen.29 So, wie Recht juristische Geltung durch die Einhaltung der für seine Entstehung normierten Verfahren und sonstigen Voraussetzungen erhält, so bekommen wissenschaftliche Aussagen durch ihre die methodischen Begründungen wissenschaftliche Geltung. Logisch begründete Systematik erscheint zumindest idealistischen und nachidealistischen Wissenschaften jedenfalls als „regulative Idee“ oder „Ideal“ der methodischen Wahrheitsermittlung.30

23 Mittelstraß 2005, S. 1053: „Im übrigen gibt es auch keine interdisziplinäre Kompetenz, die disziplinäre Kompetenzen ersetzen könnte: interdisziplinäre Kompetenz setzt disziplinäre Kompetenzen voraus“; Klein 1990, S. 104 f.; Jestaedt 2007, S. 278. 24  Zu Foucaults Konzept der Disziplinierung mit Bezug auf seine Bedeutung für das Recht vgl. Chiang, S. 25 ff.; zu diesem Aspekt der Disziplinen und Disziplinierung in den Rechtswissenschaften Balkin, S. 953 f.; Weingart 1997, S. 522 f. 25 Shumway/Davidow, S. 202 ff.; Jüssen/Schrimpf HWBPh II, S. 256 f. 26 Jüssen/Schrimpf, S. 256. 27  Gräfrath, 2005, S. 237. 28 Hierzu Weingart 2010, S. 3 ff. 29 Hierzu Kambartel, S. 719 f.; Trendelenburg, S. 10, schreibt bereits prägnant: „Wenn wir den Weg, Nothwendigkeit zu erzeugen, oder den Weg, die Erkenntniss dem Nothwendigen anzunähern und den Grad der Annäherung an die Nothwendigkeit zu ermessen, Methode nennen, so macht die Methode die Wissenschaft zur Wissenschaft“. Auch der kritische Rationalismus etwa hält daran fest, dass die Methoden und nicht die Ergebnisse die Wissenschaften charakterisieren, Pulte, S. 945. 30 Hühn, S. 916 f.

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Ganz abgesehen von ihrer Eigenart gehört damit die Rechtswissenschaft zu den Wissenschaften – auch wenn in den USA mit Beginn des 20. Jahrhunderts der Ausdruck „science of law“ durch „law“ abgelöst wurde31 –, da sie sowohl in der Rechtsdogmatik als auch in den Grundlagenfächern methodisch-systematisierend verfährt.32 Innerhalb des Erkenntnisverfahrens kann zwischen Erkenntnisinteresse, Erkenntnisgegenstand und der Methode zur Bildung von Erkenntnissen unterschieden werden. Im Einzelnen: 1.  Das Erkenntnisobjekt Häufig wird angenommen, dass das Erkenntnisobjekt die Identität einer Wissenschaft bestimme.33 Danach wären alle und nur diejenigen Wissenschaften, deren Erkenntnisobjekt das Recht ist, Rechtswissenschaften. Das ist jedoch nicht der Fall. Mit dem Recht beschäftigt sich von der Theologie über die Philosophie, die Ökonomie, die Soziologie und die Politikwissenschaften eine Reihe von Disziplinen, ohne dass sie völlig in der Rechtswissenschaft aufgehen würden. Für andere Disziplinen schafft das Recht Rahmenbedingungen, die sie wissenschaftlich zu berücksichtigen haben, so etwa in der Rechtsmedizin. Wenn sich aber verschiedene Wissenschaften mit demselben Erkenntnisobjekt beschäftigen, ohne darum ihre Verschiedenheit zu verlieren, kann in dem gemeinsamen Erkenntnisobjekt nicht das identitätsbildende Merkmal einer Wissenschaft liegen.34 Im Fall der Rechtswissenschaften tritt noch eine Besonderheit des Erkenntnisobjekts bei der Methode modifizierend hinzu: sein künstlicher oder konstruktiver Charakter. Dieses besondere Kriterium ist zentral für die Unterscheidung zwischen Natur- und Geistes-/Kulturwissenschaften.35 Die Künstlichkeit bedeutet nicht nur einen Unterschied in der Erkenntnismethode, sondern auch für die Bedeutung der Methode überhaupt. Während grundsätzlich in den Naturwissenschaften das Phänomen der Erkenntnis zwar methodisch unterschiedlich rekonstruiert werden kann, dem Erkenntnisvorgang aber vorliegt, ist ein Verständnis des Objekts in den Geisteswissenschaften und insbesondere in den Rechtswissenschaften Voraussetzung 31 Vick, S. 178 Fn. 91 – eine Ablösung, die gerade von einer Dogmatisierung zu einer Verwissenschaftlichung geführt hat, S. 180: „it was the ,science‘ of doctrinal analysis that allowed the discipline of law to distinguish itself, to some extent, from the practice of law: doctrinal commentary became the unmistakable, unchallenged province of academic law…“. 32 Wobei der Systembegriff zwischen den Wissenschaften und auch innerhalb der Rechtswissenschaften unterschiedlich sein kann, für diese und die Bedeutung für die Wissenschaft Jestaedt 2014, S. 7. 33 Vgl. etwa Krohn, S. 32 f.; zu dieser Debatte auch Jestaedt 2007, S. 267 f. u. 2008, S. 193, der von „Materialobjekt“ spricht. 34 Mittelstraß 2005, S. 1053: „Eine einfache Vernunft der Tatsachen, der dann auch die Organisation der Disziplinen folgen könnte, gibt es nicht“. 35 Kirste 2015, S. 95 ff.

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für die Existenz des Erkenntnisobjekts. Werke der Kulturwissenschaften sind Ausdruck verständiger – nicht notwendig wissenschaftlicher – Praxis. In der Jurisprudenz ist dieses Wissen bereits durch methodisch verfahrende Praxis und wissenschaftliche Erkenntnisse geformt. Obwohl also sowohl in den Geistes- wie in den Naturwissenschaften die Disziplin durch die Methode und das Erkenntnisinteresse identifiziert wird, ist die Erkenntnis nicht nur das Ergebnis des wissenschaftlichen Prozesses, sondern auch der Beginn der Produktion und Weiterentwicklung des Erkenntnisobjekts. Entsprechend hat das Verfahren von Erkenntnis und Gegenstandskonstitution in den Rechtswissenschaften eine zirkuläre Struktur, bei der die wissenschaftliche Anstrengung auf ein Objekt bezogen ist, das seinerseits durch Erkenntnisse geformt wurde. Die Unterscheidung zwischen praktisch hervorgebrachtem Erkenntnisgegenstand in den Geisteswissenschaften und gegebenem Gegenstand in den Naturwissenschaften ist allerdings nur idealtypisch zu verstehen. Der Gebrauch von Experimenten in den Naturwissenschaften schafft auch hier ein unmittelbares Erkenntnisobjekt, das durch Erkenntnisinteresse und -methode geformt wird. Über die Parameter einer Versuchsanordnung wird auch der untersuchte Wirklichkeitsausschnitt der Natur das Ergebnis einer Konstruktion. Insofern nähern sich die Disziplinen an. Das Recht ist allerdings trotz aller natürlichen und sozialen Interessen, die es beeinflussen, im Kern bereits konstruiert. Wegen seines konstruktiven Charakters hat das Recht spezifische Eigenschaften: Es bezeichnet eine Norm, die durch ein normiertes Verfahren gesetzt und durchgesetzt wird.36 Während die Erkenntnisobjekte der übrigen Geisteswissenschaften durch individuelle Absichten, handwerkliche Fähigkeiten, den Willen des Autors oder auch verschiedene gesellschaftliche Einflüsse hervorgebracht werden, sind gesetzgeberische Maßnahmen, Verwaltungsentscheidungen und Urteile aus bestimmten, geordneten Verfahren hervorgegangen, die ihre Rationalität garantieren sollen und ihnen eine bestimmte Form verleihen. Unter dem Rechtsstaatsprinzip bzw. der „rule of law“37 muss das rechtliche Handeln willkürfrei, verständlich und für die Rechtsunterworfenen in seinem Inhalt und seiner Durchsetzung vorhersehbar sein. Diese rationalen Kriterien des Rechts verlangen wiederum eine gewisse systematische Form und Kohärenz, die nur unter dem Einfluss der Rechtswissenschaft erreicht werden kann. Nicht nur die Setzung des Rechts, auch seine Interpretation, Anwendung und die Durchsetzung sind begründet und beschränkt durch Standards von Rationalität. Diese Verfahren folgen Methoden, die wiederum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung durch die juristische Methodenlehre sind.38 Recht ist Norm, jedoch nicht – wie eine reine Rechtslehre leicht unterstellt – reine Norm. Mit „Norm“ wird nur das genus proximum des Rechts angegeben. Seine Besonderheit liegt in der Reflexivität der Norm: Recht ist eine Norm, deren Setzung 36 Kirste

2010, S. 86. hierzu Kirste 2014, S. 29 ff.; ders. 2013, S. 23 ff. 38  Zur Differenzierung zwischen „Methodologie“ und „Methodenlehre“ vgl. etwa Reimer 2016, Rn. 15 f. 37  Vgl.

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und Durchsetzung normiert ist. Hierdurch bricht das Recht mit sozialen Interessen und sozialer Macht, deren Transformation ins Recht einem ordnenden und selektierenden Verfahren unterzogen wird. Ebenso wird der Zwang zu seiner Durchsetzung einer normativ-wertenden Steuerung unterzogen und ist so etwa Verhältnismäßigkeitskriterien unterworfen. Wegen dieser Besonderheit des Rechts als normierter Norm ist es auch gerechtfertigt, dass eine/ein Unterdisziplin/Fach als Kerngeschäft oder „Proprium“ der Rechtswissenschaft angesehen wird, die sich auf diese reflexive Struktur konzentriert und sich auch auf sie beschränkt, nämlich die Rechtsdogmatik. Die Rechtsdogmatik rekonstruiert die im positiven Recht angelegten spezifischen Rationalitätspotentiale, systematisiert sie und arbeitet sie für die praktische Nutzanwendung auf.39 Die Rechtsdogmatik ist nicht Normwissenschaft schlechthin – Normwissenschaften sind Ethik und Moraltheologie auch – sondern die Wissenschaft von normierten Normen. Mit ihrem Gegenstand kann sie sich gegenüber den Zumutungen und Irritationen von anderen Sozialordnungen abkoppeln. Sie rezipiert deren Normen und sonstigen Strukturen nur in dem Umfang, in dem auch das durch verfahrens- und materiellrechtliche Beschränkungen entstandene Recht sie enthält. Gerade so entfaltet sie die Eigenrationalität des Rechts.40 Dass sich das Recht der Form nach von anderen Sozialordnungen abgrenzt, bedeutet nun nicht, dass es nicht seinen inhaltlichen Regelungen nach aus diesen hervorgeht und in diese zurückwirken will. Dieser Inhalt ist durch die normative Form geprägt, weist jedoch über die normative Form hinaus41 und fordert eine Vielzahl von wissenschaftlichen Perspektiven.42 Das schließt nicht aus, dass aus Sicht der Normwissenschaft die Rechtsdogmatik im Zentrum dieser Perspektiven steht. Insofern drängt der Forschungsgegenstand auch die Rechtsdogmatik, Kenntnisse aus anderen Disziplinen zu rezipieren, soll die Untersuchung des Rechts nicht dessen Regelungsziel aus den Augen verlieren. Denn dies kann eine auf die normative Struktur des Rechts ausgerichtete Wissenschaft selbst nicht leisten, ohne sich aufzugeben. Obwohl beide methodengeleitet sind, unterscheidet sich die Rechtswissenschaft von der Rechtspraxis. Sie trifft keine Entscheidungen über das positive Recht, sondern kann Entscheidungsalternativen für die Praxis aufzeigen und deren Entschei39  Hasso Hofmann, S. 121, beschreibt diese dialektische Tätigkeit treffend: „Zum einen müssen jene abstrakten Vorschriften im Blick auf das, was immer wieder auf unerwartete Weise konkret der Fall ist, in ihrer auf Befolgung und Anwendung gerichteten Tendenz weiter- und ausgedacht, mit überbrückenden Sätzen angereichert werden, und zum anderen müssen jene Normen zur Erhaltung der Einheit des Systems fortwährend durch übergreifende wie differenzierende Sätze zur wechselseitigen Information miteinander vermittelt werden“. 40 Gutmann 2015, S. 95 f. 41  In der anthropomorphen Diktion der Systemtheorie könnte man auch statt „hinausweisen“ von „kognitiver Offenheit“ des Rechts sprechen. 42  Gutmann (2015, S. 108) treffend: „Wir sind, wenn wir wissen wollen, was das Recht leistet und anrichtet, wie es funktioniert, woraus es lebt, woher es kommt und wo hin es sich bewegt, auf eine Vielzahl von Beobachterperspektiven verwiesen, von denen keine für sich reklamieren kann, die entscheidende zu sein“.

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dungen vorbereiten.43 Gerade darin liegt ihr Beitrag zur Rechtspraxis; und gerade deshalb kann sie rationaler sein als diese.44 Anders würden durch eine Entscheidung des Gesetzgebers wirklich ganze Bibliotheken rechtswissenschaftlicher Literatur zu Makulatur, wie Kirchmann meinte.45 Auch die Rechtsdogmatik gibt also nicht einfach ihren Erkenntnisgegenstand – das positive Recht – wieder; vielmehr beginnt ihre Aufgabe, wo dessen Eindeutigkeit in Frage steht und daher neue Argumentations- und Systematisierungsleistungen erforderlich sind. 2.  Die Erkenntnismethode Schon Thomas von Aquin nannte eine Wissenschaft, die sich durch besondere methodische Stringenz auszeichnet, „Disciplina“.46 Kant hatte in seinem kritischen, transzendentalen Projekt gezeigt, dass wir nur Bewusstsein von unseren Erkenntnisgegenständen entwickeln können, wenn wir zuvor ein Selbstbewusstsein unserer Erkenntnisfähigkeit gewonnen haben.47 Die Methoden der Erkenntnis sind danach Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Neukantianer und andere haben daher die These vertreten, dass die Erkenntnismethode das Erkenntnisobjekt überhaupt erst hervorbringt.48 Das ist bei experimentellen Naturwissenschaften einleuchtend, gilt aber auch für die Rechtswissenschaften, wie Hans Kelsen etwa ausführt. Eine Norm kann empirisch als eine Verhaltensregelmäßigkeit beschrieben oder etwa in normativistischer Hinsicht in ihrem Ableitungs- oder Rechtfertigungszusammenhang verstanden werden. Lebensweltlich mag sie dasselbe sein, die Wissenschaften konstruieren diese Norm mit ihren Methoden unterschiedlich. Zugleich sind unterschiedliche Methoden damit die Grundlage für unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen.

43 Morlok,

S. 64 u. 70 f.; Hofmann, S. 122. von Savigny: „Die gründliche Kenntniß eines abgeleiteten Rechts aber besteht in der historischen Zergliederung desselben, in der vollständigen Zurückführung auf seine Quelle, und man kann ohne Übertreibung von unsren neuen Gesetzbüchern sagen, dass nur der sie recht kennt, welcher sie besser kennt als ihre Verfasser“, S. 430. 45 Kirchmann, S. 25. 46 Schrimpf, S. 257. 47 Und damit einen archimedischen Punkt unserer Erkenntnis gefunden, den neuere Denker wie Stanley Fish mit gravierenden Konsequenzen für die Möglichkeit von Interdisziplinarität bestreiten – ohne Kant auch nur zu erwähnen. Fish, S. 21: „we will never achieve the full self-consciousness that would allow us at once to inhabit and survey reflectively our categories of thought… The impossibility of authentic critique is the impossibility of the interdisciplinary project“. 48  Kelsen, S. 74, treffend: „So wie das Chaos sinnlicher Wahrnehmungen erst durch die ordnende Erkenntnis der Wissenschaft zum Kosmos, das heißt zur Natur als einem einheitlichen System wird, so wird die Fülle der von den Rechtsorganen gesetzten generellen und individuellen Rechtsnormen, das ist das der Rechtswissenschaft gegebene Material, erst durch die Erkenntnis der Rechtswissenschaft zu einem einheitlichen, widerspruchslosen System, zu einer Rechts-Ordnung“. 44 

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Die spezifisch juristische Methode einer nicht literarischen, sondern normativen Hermeneutik unterscheidet in der Tat die Rechtsdogmatik von anderen Wissenschaften, die sich (auch) mit dem Recht beschäftigen. Doch bestehen die Rechtswissenschaften nicht nur aus einer dogmatisch verfahrenden Disziplin, sondern auch aus der Rechtsvergleichung, der Rechtsgeschichte, der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie. Diese und andere Grundlagenfächer gehen nicht juristisch-hermeneutisch,49 sondern nach den Methoden anderer Wissenschaften vor und sind doch auf das Recht gerichtet.50 Also scheint sie der Erkenntnisgegenstand zu vereinigen. Hält man jedoch an der Annahme fest, dass die Methode den Gegenstand bestimmt, kann der Erkenntnisgegenstand – das Recht – für diese Bindestrich-Wissenschaften vom Recht kein einheitsbildendes Moment sein. Nur prima facie richten sie sich auf denselben Gegenstand. Tatsächlich rekonstruieren und erkennen sie ihn gemäß ihren Methoden jedoch in unterschiedlicher Weise. Das bedeutet nun nicht, dass kausalwissenschaftliche Erkenntnisse für eine Normwissenschaft neben der Sache liegen, wie Matthias Jestaedt meint; denn die Rechtswissenschaften müssen sich auch mit der normativen Transformation von Kausalität etwa in „objektive Zurechnung“ beschäftigen.51 Die verbleibende Gemeinsamkeit dieser Disziplinen, die das Recht methodisch unterschiedlich rekonstruieren, ist das Erkenntnisinteresse. 3.  Das Erkenntnisinteresse Aus dem Erkenntnisinteresse ergibt sich, wozu und in welcher Perspektive ein Erkenntnisobjekt mit einer bestimmten Methode rekonstruiert und erkannt werden soll. Habermas spricht vom „erkenntnisleitenden Interesse“ und unterscheidet ein Interesse technischer, praktischer und – in der Philosophie – emanzipatorischer Art.52 Dieses Interesse hinsichtlich einer Disziplin unterscheidet sich noch vom Erkenntnisinteresse des einzelnen Forschers. Kann dessen Interesse jedoch nicht dem gemeinsamen Interesse einer Disziplin zugeordnet werden, gehört er tatsächlich einer anderen oder einer neuen Disziplin an. Die Soziologie versucht etwa die

49  Picker, S. 840 ff., versucht allerdings, historische und dogmatische Hermeneutik einander anzunähern: „Dogmatik und Historik sind … in dem bipolaren Verstehensprozeß dieses hermeneutischen Zirkels als Medium des Begreifens und Deutens je für die andere unentbehrlich“. 50  Kritisch gegenüber einer Verengung des Methodenverständnisses der Rechtswissenschaft Schulze-Fielitz, S. 18 f. und tritt (S. 22 f., 24 f.) für einen Methodenpluralismus in der Staats- und Verwaltungswissenschaft ein. 51 Jestaedt 2007, S. 270: „Aus Sicht einer normwissenschaftlich arbeitenden Jurisprudenz markieren Äußerungen einer kausalwissenschaftlich arbeitenden Jurisprudenz keine aus sich heraus bereichernden Zusatzerkenntnisse, sondern liegen … neben der Sache, nämlich neben der durch den normwissenschaftlichen Zugang erkennbaren und allein in ihm ihre Identität findenden Sache“. 52 Habermas, S. 243 f.

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gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Veränderungen zu beschreiben und zu erklären.53 Das übergreifende Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaften ist die Bedeutung des geltenden Rechts. Das geltende Recht ist aber nicht nur Norm, sondern transformiert als normierte Norm ständig Tatsachen in Normen und Normen in soziale Tatsachen. Insofern und im Lichte dieser Struktur ist das Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaften nicht nur auf Normativität, sondern auch auf verschiedene Normarten (z. B. auch der Ethik/Moral) und auf Faktizität des Rechts gerichtet. Zu dessen Ermittlung bedienen sich die Rechtswissenschaften in der Rechtsdogmatik spezifisch juristischer Methoden bei der Erkenntnis des Rechts. Auch die Grundlagenfächer, die die Methoden der Kulturvergleichung, der Geschichte, der Soziologie, Philosophie und der Politikwissenschaften auf das Recht anwenden, teilen dieses Erkenntnisinteresse.54 Sie tragen mit den Mitteln dieser Disziplinen zur Erkenntnis der Bedeutung des Rechts und auch seiner Weiterentwicklung bei. Während also Kulturvergleichung, Geschichte, Soziologie, Philosophie oder Politikwissenschaften (um nur einige zu nennen) mit der Rechtsdogmatik das Erkenntnisobjekt jedenfalls prima facie teilen können, unterscheiden sie sich von dieser durch die Erkenntnismethoden und das Erkenntnisinteresse. Rechtsvergleichung,55 Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Politikwissenschaften unterscheiden sich von der Rechtsdogmatik durch ihre Methoden, teilen mit ihr aber das Erkenntnisinteresse56 und können mit ihr prima facie den Erkenntnisgegenstand teilen (sich aber, wie im Fall der Rechtsphilosophie, neben dem geltenden Recht auch auf ein „Naturrecht“ bzw. die Bedeutung der Moral für das Recht richten). Die Gemeinsamkeit des Erkenntnisinteresses zwischen Rechtsdogmatikern und Rechtssoziologen zeigt sich gerade auch an der Bedeutung einer von Juristen betriebenen Rechtssoziologie.57

53 Lautmann 1976, S. 38 f. Aus diesen Erklärungen mag sie dann aber auch normative Forderungen zur Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen zu gewinnen versuchen. 54 Dreier, S. 217: „Alle anderen Disziplinen, die an den juristischen Fakultäten bzw. Fachbereichen oder auch außerhalb ihrer betrieben werden, sind juristische Disziplinen nur und insoweit, als ihr objektives Forschungsinteresse einen Bezug zur Rechtsdogmatik hat. Sie mögen daneben andere Interessen verfolgen und insofern einen disziplinären Doppeloder Mehrfachstatus haben. Juristische Disziplinen sind sie nur kraft ihres Dogmatikbezugs“; das verkennt Ernst, S. 25. Er verwechselt Rechtspraxis – nur sie trifft Entscheidungen – mit Rechtswissenschaft – sie hat diese Entscheidungen zum Gegenstand. Daher hat die Praxis auch strenggenommen kein „Erkenntnisinteresse“, sondern ist daran interessiert, gut begründete Entscheidungen zu produzieren. 55  von Bogdandy, S. 3 f.; Junker, S. 921 f. 56  Das war im 19. Jahrhundert noch selbstverständlicher, als die Historische Rechtsschule die Jurisprudenz als „geschichtliche Rechtswissenschaft“ betrieb, gilt aber auch heute für die geschichtliche Dimension des Rechts als Erkenntnisziel der Rechtsgeschichte, Picker, S.  774 f. 57 Lautmann 1971, S. 27 f.; sehr eingehend aufgeschlüsselt von Heldrich, S. 74 ff.

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Einheitlicher Erkenntnisgegenstand und einheitliches Erkenntnisinteresse lassen die Rechtswissenschaften trotz ihrer unterschiedlichen Methoden als eine plurale Einheit nicht nur in organisatorischer sondern auch in sachlicher Hinsicht erscheinen.58 Nur in ihrem methodisch vielschichtigen Zusammenwirken lässt sich das Erkenntnisobjekt Recht als eine Norm, die in spezifischer Weise aus gesellschaftlichen Praktiken hervorgegangen ist und spezifisch auf sie wirkt, verstehen.

III.  Institutionelle Aspekte der Disziplinarität Wissenschaftliche Disziplinen umfassen nicht nur die eigentliche Erkenntnisbildung, sondern auch deren Institutionalisierung. Einige dieser Institutionalisierungsbedingungen sollen im Folgenden besonders hervorgehoben werden. Die charakteristischen Eigenschaften einer Wissenschaft werden nicht nur durch Sprache, Professionalisierung sondern auch durch eine Haltung zu diesem Wissen geformt.59 1. Sprache Im organisatorischen Zentrum der Bildung einer Wissenschaft steht die selbstreferentielle sprachliche Kommunikation.60 Es ist ein Gemeinplatz, dass Recht und Rechtswissenschaft eine höchst technische Sprache verwenden.61 Da Recht ein Mittel (demokratisch) legitimierter Kontrolle ist und auf die Steuerung menschlichen Verhaltens zielt, nutzt es aber auch die Alltagssprache.62 Aufgrund des systematischen Charakters des Rechts wird deren Bedeutung jedoch durch längere Rechtsarbeit in die spezifische Terminologie der technischen Rechtssprache transformiert.63 58  Man mag diese Einheit „Cluster“ nennen (Jestaedt 2008, S. 195 f.), wenn man sich dessen bewusst bleibt, dass dieses Cluster stärker integriert ist als diejenigen Cluster, die verschiedene Erkenntnisinteressen verfolgen. Andere sind der Auffassung, dass zwischen einzelnen Grundlagenwissenschaften und der Rechtsdogmatik eine Art Schicksalsgemeinschaft besteht, wie etwa zwischen Rechtsgeschichte und Dogmatik. So schreibt Picker, S. 859: „Eine historisch belehrte Gegenwartsdogmatik und eine gegenwartsdogmatisch instruierte Historik sind deshalb wohl doch, wenn nicht als naturbegründetes Sein, so als vernunftbegründetes Sollen das hermeneutische Los beider juristischer Disziplinen“. 59 Vick, S. 168 nimmt an, dass „die charakteristischen Eigenschaften einer Wissenschaft nicht nur durch das Wissen, Methoden, Praktiken, Institutionen sondern auch durch eine Haltung zu diesem Wissen geformt“ werden. 60 Weingart 2010, S. 8. 61 Vgl. hierzu eingehend das dreibändige Werkt von Kent D. Lerch: Die Sprache des Rechts. 2004 auch Felder, S. 89 ff., 162 f.; Schwintowski 2003, S. 632 ff.; für die Rechtspraxis Weinstein, S. 331. 62  Und sollten doch für jedermann verständlich sein, Häberle, S. 155 f. 63  Zum Verhältnis zwischen Alltagssprache und der Konstruktion der Realität im Recht vgl. Felder, S. 133 ff., 163 f.; Simonnaes, S. 378 definiert diese technische Kommunikation: „Wahre Mitteilung kann nur unter ,Gleichgesinnten, Gleichdenkenden‘ stattfinden … das Decodieren sprachlicher Informationen kann nur gelingen, wenn ausreichendes Wissen

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Das Recht normiert also auch die für es relevante Sprache.64 Die Rechtswissenschaften arbeiten auf der Basis dieser terminologischen Sprache und spezifizieren sie für die weitere Verwendung in ihren Diskursen und denjenigen der Rechtspraxis. Das kann dazu führen, dass die Rechtssprache zwar für juristische Praktiker und Wissenschaftler, nicht jedoch für den Laien und nicht für die Angehörigen anderer Wissenschaftsdisziplinen verständlich ist. Beide Gruppen bedürfen insofern der Übersetzungsleistungen. Trotz ihrer disziplinierenden Funktion für Wissenschaften, scheinen unterschiedliche Sprachen Interdisziplinarität nicht dauerhaft zu verhindern.65 Jedenfalls sind sie weniger wichtig als die betreffenden Erkenntnisinteressen der Wissenschaftler. 2. Wissen Teilweise wird vertreten, dass Wissen disziplinenabhängig sei.66 Dafür spricht, dass die Methoden der Disziplinen ihrem Wissen eine bestimmte Form geben, deren Grenzen nicht einfach in interdisziplinären Diskursen überwunden werden können.67 Disziplinen nutzen spezifische Methoden zur Generierung spezifischen Wissens.68 Spezifisches Wissen spielt eine wichtige Rolle sowohl in den Rechtswissenschaften als auch in der Praxis.69 Bestimmte gesellschaftliche Ordnungsmuster wurden niemals ins Recht transformiert, werden aber als allgemeine Rechtsprinzipien verstanden. Andere Praktiken formen sich im Laufe der Zeit und werden schließlich von Rechtswissenschaft und -praxis aufgegriffen und systematisiert. beim Rezipienten bzw. Adressaten vorhanden ist … Sprache ist für das Recht unabdingbar, denn ohne Sprache ist das Recht nicht kommunizierbar“. 64 Felder, S. 179 f. 65 Schwintowski 2005, S. 379 f.; skeptisch aber Hilgendorf, S. 921. 66  So schreibt etwa Donald Davidson: „I take it for granted that detailed knowledge of the neurophysiology of the brain will make a difference … to the study of such subjects as perception, memory, dreaming and perhaps of inference. But it is one thing for developments in one field to affect changes in a related field, and another thing for knowledge gained in one area to constitute knowledge of another“, S. 247. 67  Das schließt nicht aus, dass die Disziplingrenzen auch rhetorisch gefestigt werden können, Fuller, S. 301 ff. 68  Für die Rechtswissenschaften polemisch etwa Balkin, S. 955: „By providing people with some tools rather than others and by enhancing some skills at the expense of others, disciplines necessarily push their members toward asking the kinds of questions with which these tools are best equipped to deal and treating all other questions as variants of these. A tool opens up the world to the person who uses it. Yet, it opens up the world in a particular way. The world begins to resemble and seems to be organized around the intellectual tools that lay to hand. As the saying goes, when all that you have is a hammer, everything starts to look like a nail“. 69  Zu letzterer Weinstein, S. 330 f.

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Diese informellen Regeln sind endlich ein rationalisierender und stabilisierender Kanon, der Wandel und Veränderung des Rechts in geordnete Bahnen lenkt. Zugleich dienen sie als Rationalitätsstandards für die juristische Argumentation und ihre Innovationen. Hierzu gehören nicht nur bestimmte materielle Regeln („gute Sitten“), sondern auch Methoden der Rechtsanwendung (z. B. Argumentationslastregeln). Die Kommunikation von Wissen trägt zur Ausformung von Disziplinen bei. Die schiere Publikationsmenge kann eine weitere Ausdifferenzierung von Disziplinen zur Folge haben: Weil der publizierte Wissensstoff für die Angehörigen einer Disziplin nicht mehr zu bewältigen ist, spezialisieren sich Wissenschaftler auf zusammenhängende Teilfächer.70 Die daraus folgende Ausdifferenzierung der Disziplinen macht den Export ihrer Erkenntnisse und das Verständnis für andere Disziplinen immer schwieriger.71 3. Professionalisierung Auch wenn dies nicht unbedingt als notwendige Bedingung angesehen werden muss, scheint die Professionalisierung doch ein wichtiger Faktor der Disziplinierung einer Wissenschaft zu sein. Wissenschaften eröffnen mit Karrierewegen und speziellen Ausbildungen eine Differenzierung für eine berufliche Orientierung in der Wissenschaft.72 „Disciplina“ schließt schließlich auch die Formung einer Schülerschaft oder von Schulen ein.73 Frühe Stadien der Verwissenschaftlichung mögen noch Personen eingeschlossen haben, die selbst keine Wissenschaftler waren.74 „Heimatgeschichte“ oder ähnliche Wissensorganisationen von allgemeinem Interesse werden nicht selten von nicht-professionellen Forschern betrieben, die die Schätze lokaler Archive erschließen und auch entsprechende Museen damit versorgen. Ihre Ergebnisse mögen dann wiederum Gegenstand professioneller Bearbeitung sein. Professionalisierung trägt dann dazu bei, dass außerwissenschaftliche, nicht mehr auf Wahrheit gerichtete Argumente wie persönliche oder instantielle Stellung, Zufälligkeit der Funde an Bedeutung verlieren.75

70 Weingart

2010, S. 10 f. Für das Verhältnis von Politik- und Staatsrechtswissenschaft Grimm 1976, S. 66 f. 72 Weingart 2010, S. 8. 73 Balkin, S. 953 f., der Disziplinen als autoritäre Regime zur Herstellung von Konformität durch Belohnung und Bestrafung auch in den Wissenschaften im Allgemeinen und der Rechtswissenschaft im Besonderen versteht. 74  In den USA wird beobachtet, dass dies auch Ausdruck in der akademischen Literatur findet. Zunächst werden Journale für eine größere Öffentlichkeit gegründet. Später wandeln sie sich dann aber in wissenschaftliche oder differenzieren sich in solche und nicht-wissenschaftliche aus, Shumway/Messer-Davidow, S. 206 f. 75 Luhmann 1992, S. 348. 71 

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Gerade auch im Recht tragen nicht-professionelle Wissenschaftler zur Wissensproduktion für die Jurisprudenz bei.76 Praktiker wie Richter – insbesondere von Obergerichten –, Verwaltungsbeamte oder Rechtsanwälte arbeiten Fälle und Entscheidung für die wissenschaftliche Erkenntnissuche auf.77 Je stärker methodenorientiert diese Produktion ist und je systematischer sie in Rechtsdogmatik im materiellen Sinn eingepasst wird, desto relevanter wird sie für die rechtswissenschaftliche Arbeit. Methodisch ausgearbeitetes Wissen wird in der Jurisprudenz also nicht nur von Rechtswissenschaftlern, sondern auch von anderen Juristen produziert.78 Der methodisch geprägte Erkenntnisgegenstand begünstigt hier den Austausch zwischen Theorie und Praxis. Das hohe Maß an methodischem Training der praktischen Juristen und die Bedingtheit des Rechts von seiner methodisch geleiteten Setzung lassen Kriterien der Professionalisierung der Wissenschaftler zu einem gegenüber anderen Wissenschaften weniger wichtigen Faktor werden. Praxiserfahrung mag hier die Art der wissenschaftlichen Produktion etwa bei Doktorarbeiten beeinflussen und auch befruchten. Jedenfalls in England hat diese enge Verbindung mit der Praxis und der lange Zeit von Praktikern bestimmte akademische Unterricht freilich auch zu einem unsicheren Status der Jurisprudenz in der Universität und dies wiederum zu ihrer disziplinären Isolierung von anderen Wissenschaften geführt.79 Hier war es dann nach dem II. Weltkrieg nicht die Interdisziplinarisierung der Rechtswissenschaft, die zu ihrer Verwissenschaftlichung führte, sondern umgekehrt, ihre Verwissenschaftlichung – insbesondere zunächst durch die Einstellung von professionellen Wissenschaftlern – die ihre Interdisziplinarität erst ermöglicht hat. Auch wenn die Rechtswissenschaft selbst oft als eine praktische Wissenschaft verstanden wird, so unterscheidet sich doch das Interesse an der Bearbeitung des Rechts wenigstens tendenziell von demjenigen der Praktiker.80 Mögen hier stärker pragmatische Argumente vorgetragen werden, zählen in der Wissenschaft eher die 76  Hierzu auch Max Weber, S. 532: „Der Einfall eines Dilettanten kann wissenschaftlich genau die gleiche oder größere Tragweite haben wie der des Fachmanns. Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten. Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann … nur dadurch, dass ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt, und dass er den Einfall meist nicht in seiner Tragweite nachzukontrollieren und abzuschätzen oder durchzuführen in der Lage ist“. Für Praktiken, die ihren Sinn aus der systematischen Arbeit beziehen kann dies freilich nicht in gleicher Weise gelten: Die Rechtsfortbildung und der Gerichte muss die Tragweite der Entscheidungen berücksichtigen, Saliger, S. 127. 77  Schmidt-Aßmann, S. 2; Hilgendorf, S. 916; zu der interessanten Dialektik zwischen praxisorientierter Wissenschaft und wissenschaftsorientierter Praxis in Deutschland Je­ staedt 2014, S. 3. 78  Eine Beobachtung, die sich in die allgemeine Interdisziplinaritätsforschung einfügt, Weingart 1997, S. 521. 79 Vick, S. 174 f.; Duxbury, S. 61 ff. 80  Beides zu vermengen, ist eine Tendenz, die auch in anderen – gerade interdisziplinären – Forschungen als innovativ verstanden wird. Dazu treffend Weingart 1997, S. 527: „Der Eindruck von Modernität wird erweckt erstens durch die Behauptung eines Mißverhältnisses zwischen der Struktur des Wissens und der Struktur der ‚wirklichen Probleme‘ der

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systematischen und grundsätzlichen Argumente. Jedenfalls ist Forschung, die bei der Analyse einzelner Fälle und täglicher Fragen ansetzt, von derjenigen der professionellen Wissenschaftler, deren Ergebnisse stärker auf Kohärenz und Innovation ausgerichtet sind, zu unterscheiden.81 Juristische Praktiker werden sich auch dort, wo sie sich nicht professionell in juristischen Verfahren, sondern aufgrund dieser Erfahrungen „privat“ als Kommentatoren etc. äußern, eher innerhalb der Grenzen des geltenden Rechts, an das sie professionell gebunden sind, äußern, als Wissenschaftler, die als solche dieser Bindung in ihrer Argumentation nicht unterliegen. Es ist mehr eine Frage wissenschaftlicher Pragmatik, dass rechtswissenschaftliche Argumente umso eher rezipiert werden, je näher sie zur Praxis stehen. Die professionelle Formung durch die im Studium erlernten Methoden, die Erkenntnisziele und die Informationen über den Erkenntnisgegenstand trägt entscheidend auch über Wissenschaftsgenerationen hinweg zur Abgrenzung einer Disziplin und zur Ermöglichung oder Verhinderung ihrer interdisziplinären Öffnung bei. Werden Studenten im Laufe ihres Studiums nicht mit Methoden und Erkenntniszielen anderer Wissenschaften konfrontiert, wird es kaum möglich sein, später dafür Verständnis oder gar Fähigkeiten zu entwickeln. Fehler in der Rezeption der Erkenntnisse anderer Disziplinen können kaum vermieden werden.82 Dass sie damit konfrontiert werden, ist freilich nur eine notwendige, nicht auch eine hinreichende Voraussetzung für spätere interdisziplinäre Forschung. Feierabendwissenschaft wie sie in zahllosen gebildeten, aber germanistisch nicht studierten Abhandlungen über das Recht bei Literaten erscheinen,83 dokumentieren diese Defizite. Leichtfertig für Grundlagenfächer neben den rechtsdogmatischen Hauptvenien vergebene Lehrbefugnisse, beschleunigen den Abwärtstrend dieser Basisdisziplinen der Rechtswissenschaften.84 4. Organisation Disziplinäre Organisation scheint bis ins 19. Jahrhundert bei den Natur- und Geisteswissenschaften nur eine untergeordnete Rolle für die Institutionalisierung der Wissenschaft gespielt zu haben.85 Die „höheren“ Fakultäten hatten dies freilich schon früher ausgebildet. Organisation ermöglicht Spezialisierung und Arbeitsteilung und damit die effektivere Verarbeitung der zunehmenden Wissensbestände.86 Das Verhältnis zwischen professioneller Wissenschaft und professioneller Praxis erklärt auch, warum Organisation weniger bedeutsam ist für die Formung Welt und zweitens durch die Ablösung der Wächter disziplinärer Strukturen zugunsten der Alltagspraktiker, denen die Kontrolle über die Wissensproduktion angetragen wird“. 81 Kirste 2010, S. 28 and 36 ff. 82 Vick, S. 191 f. 83  Hierzu auch Kirste 2016, unter II., 2. 84 Gutmann 2015, S. 115. 85 Stichweh 1984, S. 14 f.; hierzu und zur Geschichte der Interdisziplinarität vgl. Rüegg, S.  29 ff. 86 Weingart 2010, S. 5 f.

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einer Disziplin wie der Rechtswissenschaft: Es gibt auch methodische, juristische Wissensproduktion außerhalb von juristischen Fakultäten und Law Schools. Die Organisation der Jurisprudenz enthält jedoch spezifische Möglichkeiten für die Weiterentwicklung einer Disziplin. Für einige kritische Wissenschaftstheoretiker haben Disziplinen entgegen der Selbsteinschätzung der Beteiligten eine Art tribale Struktur, in der aufgrund von Machtapparaten über Inklusion und Exklusion von Mitgliedern entschieden wird.87 Jedenfalls trägt die diskursive Gemeinschaft einer Fakultät, einer Profes­ sional School oder einer Akademie88 zur Integration und zur Differenzierung einer wissenschaftlichen Disziplin bei.89 Spezialisierung wird möglich, die dann aber zur Kooperation mit ähnlich ausgerichteten Experten derselben oder den Fakultäten anderer Universitäten führen kann. Der Wettbewerb zwischen Fakultäten oder Fachbereichen kann zum Mechanismus für die weitere Spezialisierung und Ausarbeitung spezifischen Wissens werden. Organisationen helfen auch, das in Bibliotheken aufgespeicherte Wissen zu erhalten und fortzuentwickeln. Wissenschaftsorganisationen halten für Angehörige Möglichkeiten des intensiven Austausches bereit und versorgen sie mit finanzieller Stabilität.90 In einigen Staaten sind bedeutende wissenschaftliche Zeitschriften („Revista“, „Review“, „XY-Journal for …“) mit diesen Institutionen verbunden.91 Schließlich reproduzieren sich die Wissenschaftsorganisationen durch die Schulung und den wissenschaftlichen Austausch auch personell. Zu diesen Aspekten der Organisation zählt etwa die Rationalität von Entscheidungen oder die Organisationskultur.92 Organisationskultur93 in Gestalt von Verhaltensweisen, ethischen Verhaltensnormen, Vokabular, Überzeugungszusammenhängen, wissenschaftlichen Haltungen, spezifischen Auffassungen über das Verhältnis von Forschung und Lehre, Traditionen, „Profile“ tragen zur Differenzierung von Wissenschaftsorganisationen bei.94 Teilweise sind diese weniger wissenschafts- als fakultätsspezifisch.95 Auch dann, wenn diese Faktoren nicht mit dem Gedanken von „Universität“ – verstanden als die Universalität des Wissens – über87 Vick,

S. 169. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaften war in England die Royal Society und in Frankreich die Académie des Sciences. 89  In historischer Perspektive für die USA Tomlins, S. 911 ff. 90 Shumway/Messer-Davidow, S. 207; Weingart 2010, S. 9 f. 91  Zum Ursprung der Geschichte wissenschaftlicher Journale Rüegg, S. 35 f. 92 Frost/Jean, S. 120 ff. 93  Allgemein zur Organisationskultur vgl. Scott, S. 37 ff.; Organisationskultur in der juristischen Praxis und das Bedürfnis nach Interndisziplinarität, Weinstein, S. 334 f.; in historischer Perspektive für die USA Tomlins. 94 Balkin, S. 956: „Although authority is central to a discipline, even more central is the reproduction and survival of the discipline’s cultural software: a body of learning, a style, a set of approaches, and a mechanism of problem formation, recognition, and solution that is passed on from one generation to the next“. 95 Frost/Jean, S. 120 und 145. 88 

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einstimmen, zeigen sie Möglichkeiten einer hoch spezialisierten Wissenschaft.96 Die Art, in der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihrem Wissen umgehen, resultiert jedoch mindestens gleichermaßen aus den Methoden, mit denen sie ihr Wissen gewinnen und erhalten. Auch wenn dies in Zeiten von Drittmittelfinanzierungen etwas in den Hintergrund gerät, ist doch auf das Potential von Fakultäten, durch eine dauerhafte Finanzierung zu Grundsatzforschung beitragen zu können, hinzuweisen. Die finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht es ihnen, in der Forschung nicht auf den kurzfristigen oder den überwiegend praktischen Nutzen wie in Forschungsprojekten, sondern auf langfristige Forschungsinteressen abzustellen.97 Wiederum ist auch wie bei der Professionalisierung die Organisation ein wichtiger Faktor der Ausbildung der Rechtswissenschaft, jedoch nicht alleinentscheidend, da es rechtswissenschaftliche Wissensproduktion unter praktischen Vorzeichen auch als Zulieferbetrieb etwa in Parlamentsverwaltungen oder auch in großen Law Firms gibt. Wo ein praktisch ausschlaggebendes Argument eine entsprechend aufwendige gedankliche Konstruktion erfordert, kann bei entsprechend methodengeleitetem Vorgehen durchaus von einer wissenschaftlichen Produktion gesprochen werden. Daran zeigt sich auch, dass Steven Toulmin nicht alle relevanten Faktoren für die Formung einer wissenschaftlichen Disziplin berücksichtigt hat, wenn er die Kontinuität der Probleme und die Entwicklung theoretischer Ideale und Ziele als entscheidende Faktoren bezeichnet hat.98 Auch wenn sie nicht alleinentscheidend ist, kommt es auf Organisation ebenfalls an.99 5.  Variation und Innovation Ein weiterer wichtiger Faktor für die Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen ist die Art und Weise des Umgangs mit Innovation und Stabilisierung ihres Wissens.100 Abgesehen davon, dass Wissenschaften keine überzeitlichen Einheiten sind,101 entwickelt sich etwa selbst die Unterscheidung und auch der Zusammenhang von Geistes- und Naturwissenschaften laufend weiter. 96 Frost/Jean, S. 122: „For example, the pure sciences treat knowledge as quantitative and cumulative, the humanities and soft social sciences as reiterative and pluralist, the hard social sciences as functional and utilitarian, and the applied or technical disciplines as purposive and pragmatic. Thus, the humanities tend to be concerned with particulars or complication and interpretation, the pure or natural sciences with universals and simplification, and the applied or technical sciences with know-how and mastery“. 97  Für die Entwicklungsfähigkeit des einzelnen Wissenschaftlers mag es auch Vorteile beim Weiterhangeln von Projekt zu Projekt geben, vgl. Luhmann 1992, S. 338. 98 Toulmin, S. 185. 99  This neglects Fuller, S. 302, stating: „In short, disciplines mark the point at which methods are institutionalized, or, so to speak, the word is made flesh“. 100 Luhmann 1992, S. 456 f., 592 f.; zu Innovation und Reform auch Kirste 2005, S. 110 f. und zu Innovation durch Recht S. 113 f. und der Verwaltungsrechtswissenschaften S. 127 ff. 101  Schleifer, S. 441 ff.

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Die Entwicklung oder Evolution einer wissenschaftlichen Disziplin wird nicht weniger von internen Impulsen – neuen Paradigmen, neuen Methoden – bestimmt, als von der Veränderung des Forschungsgegenstandes. Wiederum unterschätzen jedoch Toulmin und andere die unterschiedlichen Strukturen von Wissenschaften. Die Dynamik des wissenschaftlichen Gegenstandes kann einen unterschiedlichen Einfluss auf die Dynamik der wissenschaftlichen Forschung haben. In den Geisteswissenschaften kann die Dynamik des Forschungsgegenstandes von der Dynamik der Forschungsinteressen und -methoden vorangetrieben werden. Als z. B. die Vorstellung des New Public Managements in die Verwaltungsrechtswissenschaft als neues Paradigma eingeführt wurde, haben viele lokale Verwaltungen das Einsparpotential dieser neuen Konzeptionen entdeckt.102 Gremien mit Wissenschaftlern und Praktikern wurden etabliert, um Wege der Definition und Implementation dieser Form öffentlicher Steuerung zu begründen. Demokratiedefizite und andere Probleme wurden dann als Folgefragen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Inzwischen führt das Paradigma der „Publizisierung“ zu gegenläufigen Forschungsfragen und praktischen Konsequenzen.103 Im Strafrecht wird – freilich skeptisch begleitet – eine neue „interdisziplinäre Sanktionswissenschaft“ gefordert.104 Überraschenderweise scheinen Innovation und Fortschritt durch Erkenntnisgewinne in den Rechtswissenschaften nicht selbstverständlich zu sein.105 Dies liegt freilich an einer häufig vertretenen engen Fassung des Innovationsbegriffs, der nur nachhaltige Änderungen, die durch die Bewältigung eines Rechtsproblems signifikant sind, bezeichnen soll. Dagegen stellt Saliger zu Recht darauf ab, dass lediglich eine paradigmatische, begrifflich-analytische oder normative Neuerung geboten werden muss.106 Auch in den Rechtwissenschaften können danach Anstöße zu Innovationen aus der Praxis und von den Rechtswissenschaftlern selbst kommen.107 Weil Innovationen nur durch einen Bezugsrahmen möglich sind, der Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen relevanten und irrelevanten, alten und neuen Erkenntnissen ist,108 müssen Anstöße Dritter in die Disziplinstrukturen der Rechtswissenschaften übersetzt und von ihren Angehörigen rezipiert werden.109 Dies illustriert wiederum die zirkuläre Struktur von rechtswissenschaftlicher For102 Osborne/Gaebler. 103 Bauer

2014, S. 1017 ff. Im Zuge von „Criminal Compliance“, zum Ganzen Saliger, S. 130 f. 105 Saliger, S. 118. Dabei wird oft nicht gesehen, dass Fortschritt selbst ein sich wandelndes Konzept ist, das keineswegs notwendig, einen zielgerichteten Prozess beschreibt. Dies ist zwar in Aufklärung und Idealismus, nicht aber etwa in der Antike der Fall, die z. B. im Gedanken des Verfassungswandels durchaus auch einen Kreislauf von Aufstieg und Verfall kannte, Kirste 1998, S. 67, 88 f., 132, 164, 175 f., 202 f. 106 Saliger, S. 119, 124 f. 107 Saliger, S. 117 f. 108 Weingart 1997, S. 524. 109  Derartige Anstöße „haben jedoch nur dann realistische Rezeptionschancen, wenn sie mit Rücksicht auf die Fachterminologie, Methoden und Argumentregeln der juristischen Disziplin anschlußfähig formuliert werden können“, Saliger, S. 123. 104 

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schung und Praxis.110 Weil es hinsichtlich der Wissensproduktion keine klare Grenze zwischen professioneller Praxis und Wissenschaft in den Rechtswissenschaften gibt, kommen Veränderungsimpulse aus beiden Bereichen. Auch die Selektion und Stabilisierung des Wissens entstammt akademischer Wissenschaft und juristischer Praxis in gleicher Weise.111 Das zeigt sich auch in der Literaturgattung der Kommentare, die vielleicht die wichtigsten Mittel für die Einfügung neuerer Elemente der Praxis in die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts darstellen.112 Urteilsbesprechungen können in gleicher Weise einerseits zur Weiterentwicklung der Wissenschaft und andererseits zu derjenigen der Praxis beitragen. Diejenigen, die Transformation in die Wissenschaft leisten können sollen, müssen sich auf beiden Seiten der Form – in der Disziplin und außerhalb – auskennen und in der Lage sein, die Methode der eigenen Disziplin und der anderen bzw. der Praxis zu verstehen. Für interdisziplinäre Anregungen und die „Dynamisierung der Forschung“ haben sich gerade die Grundlagenfächer als wichtige Brückenbauer aber auch als Türhüter erwiesen.113 Diese Aufzählung umfasst nicht alle Faktoren der Disziplinenbildung. Sie unterscheidet nicht einmal zwischen notwendigen und hinreichenden Elementen. Mir scheint jedoch, dass jedenfalls die wichtigsten Elemente enthalten sind.114

IV.  Das Ende der Disziplinarität? Erkenntnistheoretische, sachliche, psychische, organisatorische und viele andere Aspekte werden häufig als Hindernis für interdisziplinäre Forschung angesehen.115 Das kann nicht mit Beschwichtigungen aus dem Weg geräumt werden. Inzwischen wird aber auch die Frage gestellt, ob nicht ein Ende der Disziplinarität erreicht sei, wie Gibbons und andere schon 1994 annahmen.116 In der Wissensgesellschaft werde nicht mehr in statischen Disziplinen gedacht, sondern entsprechende Kenntnisse durch problemorientierte Think-Tanks, die marktmäßig differenziert seien, produziert. Spezialisierung des Wissens, anwendungsorientier110 Somek,

S. 14 f. ist zwischen interdisziplinärem Anstoß und häufig disziplinärer Innovation zu unterscheiden. Beide müssen zusammenwirken. Es lässt sich daher nicht sagen, dass nur der eine oder andere die Innovation verursache. Für die disziplinäre Innovation: Hilgendorf, S. 919. 112  Schmidt-Aßmann, S. 2. 113 Wissenschaftsrat, S. 8. Treffend fasst Gutmann (2015, S. 106) zusammen: „Letztlich hat wohl fast jede wesentliche rechtsdogmatische Innovation ihren Ausgang von den Grundlagenwissenschaften des Rechts, also von intra- und interdisziplinärer Reflexion genommen“. 114  Weitere Faktoren der Identifikation einer Disziplin kann etwa auch deren Geschichte sein, Fuller, S. 301 ff.; Shumway/Messer-Davidow, S. 221 f. 115 Ziman, S. 71 ff., S. 76: „ To move out of a discipline can thus be very frightening“. 116 Gibbons, S. 3 ff., insbesondere zu Wissensproduktion „mode 2“, S. 27 ff.; dazu auch Weingart 2010, S. 12 f.; Nicolescu, S. 18 f. 111 Deswegen

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te Förderungspolitik und gesellschaftlich vorgegebene Forschungsgegenstände förderten diese Entwicklungen. Besonders in den Naturwissenschaften und der Medizin greifen neue Vereinigungen diesen Trend auf und stabilisieren ihn.117 Auch innerhalb der Rechtswissenschaften werden derartige Überlegungen angestellt.118 Es ist jedoch nicht abzusehen, wie der Beitrag zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, den Disziplinen, wie gerade dargestellt, erbringen, durch andere Formen wissenschaftlicher Organisation erreicht werden können.

V. Interdisziplinarität Wie können nun aber, trotz der eine Disziplin identifizierenden und den Erkenntnisgegenstand erst spezifisch rekonstruierbar machenden Methoden, die zur umfassenden Erforschung eines Phänomens erforderlichen Wissenschaften temporär oder dauerhaft zusammenarbeiten? Mit der seit der Antike immer wieder diskutierten philosophischen Konzeption der „Einheit der Wissenschaften“119 bzw. der Integration der Wissenschaften und ihrer insbesondere logischen Vereinheitlichung120 teilt die Forderung nach Interdisziplinarität die Hoffnung auf einen universellen und allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs und die Verständlichkeit des Wissens. Eine große wissenschaftliche Synthese strebt sie jedoch nicht wie jene an.121 Beides gilt auch für die Rechtswissenschaften.122 Seit der neueren Diskussion um Interdisziplinarität im Umfeld der Kybernetik-Diskussion und der Konzeption einer stärker integrierten „holistischen“ bzw. „humanistischen“ wissenschaftlichen Ausbildung i.S. eines studium generale in den 50er123 und 60er Jahren124 – insbesondere auch bei einer OECD-Konferenz 117 Weingart 2010, S. 12 f., der jedoch zu recht skeptisch ist, dass diese Trends die Disziplinen auflösen werden. 118  Hoffmann-Riem, S. 651 f. 119 Klein 1990, S. 19 ff. – Diese Einheit wurde keineswegs nur unter mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorzeichen gefordert, sondern auch etwa von humanistischen Ansätzen in der Renaissance und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die wiederum aus antiken Wurzeln hervorgehen. – Zur Geschichte der „Einheit der Wissenschaften“ Meier-Oeser, Sp. 905 f.; zu diesem Ideal in den Rechtswissenschaften vgl. Verdroß, S. 106 f. 120  Hier spielte der Wiener Kreis eine wichtige Rolle, Klein 1990, S. 25 f. 121 Cat, unter 1.3. 122  van Hoecke, S. 87. 123  Wohl, S. 375, sprach schon 1955 davon, dass Interdisziplinarität an amerikanischen Universitäten fest etabliert sei: „If interdisciplinary co-operation means what the words say it means a reciprocal interchange of ideas and data between two or more specialties–then the principle is firmly established as continuing policy in many American universities“. 124  Klein datiert noch weiter zurück, indem sie Interdisziplinarität als Teil der Einheit der Wissenschaften versteht: „The roots of the concepts [of interdisciplinarity, S.K.] lie in a number of ideas that resonate through modern discourse—the ideas of a unified science, general knowledge, synthesis and the integration of knowledge“ (1990, S. 19). Als Polanyi und Grene Ende der 60er Jahre eine Reihe von Konferenzen zur Einheit des Wissens durch-

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1972 – sind Reichweite und Struktur der Konzeption der Interdisziplinarität jedoch umstritten.125 Oft werden blumige Metaphern zur Beschreibung von Interdisziplinarität verwendet wie „Brückenbau“, „Orchestrierung“ und andere.126 Am ehesten besteht Einigkeit über den Bedarf von so etwas wie Interdisziplinarität. Konzepte von Interdisziplinarität sind zwar häufig unter szientistischen Vorzeichen, insbesondere einem mathematisierenden oder empiristischen Ideal entwickelt worden. Das darf jedoch nicht verdecken, dass gerade auch in den Geisteswissenschaften Formen der Kooperation im Wissensaustausch, der Übernahme von Methoden anderer Disziplinen, der Ausbildung neuer Disziplinen oder der Ausdifferenzierung von Grundlagenfächern für Import und Export von Methoden und Wissen aus anderen Disziplinen unter dem Erkenntnisinteresse der eigenen sinnvoll sein können. Auch wenn hierbei allgemeine erkenntnistheoretische und institutionelle Bedingungen von Interdisziplinarität gelten, müssen sie doch auf die spezifischen Erkenntnismethoden der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, insbesondere hier der Rechtswissenschaft angepasst werden.127

VI.  Was bedeutet Interdisziplinarität Angesichts der Bedeutungsvielfalt des Begriffs soll zunächst das hier angesetzte Verständnis von Interdisziplinarität und verwandten Begriffen erläutert werden: 1. Interdisziplinarität Jürgen Mittelstraß versteht Interdisziplinarität als eine temporäre Form der Zusammenarbeit von Disziplinen unter Aufrechterhaltung der Disziplingrenzen. Transdisziplinarität sei hingegen eine dauerhafte Kooperation unter Modifikation von Forschungszielen und -inhalten.128 Diese klare Unterscheidung verdrängt jedoch, dass Transdisziplinarität aus Interdisziplinarität hervorgehen kann129 und es

führen, können sie bereits auf interdisziplinäre Ansätze nach dem II. Weltkrieg verweisen, Cat, unter 1.4. Insgesamt dürfte man die 60er und 70er Jahre jedenfalls als eine Ära der Kulmination interdisziplinärer Interessen, Forschungen und auch der Finanzierung entsprechender Projekte ansehen, Klein 1990, S. 36; auch Weingart 1997, S. 521. 125 Bahrt/Rittel, S. 1 ff.; Holzhey, S. 476 ff.; Apostel. 126 Cat, unter 3.3. 127  Die Rechtswissenschaft wird hier als Geistes- oder Kulturwissenschaft verstanden, vgl. hierzu Kirste 2015, S. 95 ff. Mir scheint dies dem Kern des einer hermeneutisch und zugleich poietisch verfahrenden Jurisprudenz zu entsprechen. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass aus einem sozialwissenschaftlichen Ansatz (vgl. hierzu insbesondere Engel, S. 11 ff. und hier im Band etwa van Aaken, S. 187 f.) wichtige weiterführende Anregungen für die Rechtswissenschaft ausgehen können, die der Rationalität und Vermittelbarkeit ihrer Erkenntnisse dienen. 128 Mittelstraß 2010, S. 31. 129  Zu einem graduellen Konzept etwa Boden, S. 13 f.

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ein Spektrum von punktuellen und temporären Formen der Zusammenarbeit von Disziplinen und organisatorisch institutionalisierter Kooperation gibt.130 Julie Thompson hingegen geht von einer Skala der Interdisziplinarität aus, die vom Ausleihen von Wissen über Disziplingrenzen hinweg,131 über die gemeinsame Problemlösung, Brückenbildung der Disziplinen, die aber verschieden bleiben,132 die Entwicklung von synthetischen Theorien über Wissenschaftsgrenzen hinweg, bis hin zur Etablierung neuer gemeinsamer Forschungsfelder auf der Basis überlappender Forschungsgegenstände mehrerer Disziplinen (z. B. Rechtspsychologie, Kriminologie) reicht.133 Dabei differenzieren sich Wissenschaften durch die Übernahme von Methoden anderer Wissenschaften. Ein Anwendungsfall für diese Differenzierung sind die Grundlagenfächer der Rechtswissenschaft, worauf später noch zurückzukommen sein wird. Thompson verbindet erkenntnistheoretische und organisatorische Voraussetzungen der Interdisziplinarität. Wenn jedoch die Methode die Wissenschaft identifiziert, dann ist die Klärung der erkenntnistheoretischen Fragen Voraussetzung für die Lösung der organisatorischen. Das wechselseitige Verständnis für die grundlegenden Methoden und Begriffe der beteiligten Wissenschaften ist dann Voraussetzung für interdisziplinäre Forschung. Nicht Inter- sondern um Intra-Disziplinarität soll die Kooperation von Angehörigen unterschiedlicher Sub-Disziplinen/Fächer zur Lösung einer Forschungsfrage sein. Das wäre etwa der Fall, wenn Straf-, Zivil- und Öffentlichrechtler gemeinsam ein Rechtsproblem erforschen.134 Ich möchte den Begriff der Intra-Disziplinarität hier auf Fälle beschränken, in denen – jedenfalls prinzipiell (unbeschadet von Unterschieden innerhalb dieser Fächer) – die gleiche spezifisch juristische Methode angewendet wird. Das ist der Fall, wenn die rechtdogmatischen Fächer kooperieren. Weil Disziplinen durch Methoden identifiziert werden, ist von diesem Fall die Kooperation von Rechtsdogmatik mit Grundlagenfächern der Rechtswissenschaft zu unterscheiden, denn diese wenden – wie schon erwähnt – andere Methoden an. Aus sogleich darzulegenden Gründen handelt es sich bei dieser Kooperation um Transdisziplinarität. Auch wenn in Mitteleuropa typischerweise Grundlagenwissenschaftler zugleich Rechtsdogmatiker sind, ist es doch wichtig, diesen Unterschied zu berücksichtigen, um nicht in einen Methodensynkretismus zu verfallen. So wäre es methodisch unzulässig, wenn ein Familienrechtler seine rechtdogmatisch gefundenen Ergebnisse durch familienpsychologische Erkenntnisse korrigieren wollte, ohne deutlich zu machen, dass hier ein Methodenwechsel stattfindet. Intradisziplinär ist danach die Kooperation zwischen verschiedenen juristischen Fächern unter Anwendung juristischer Methoden zur Lösung eines rechtdogmati130 Anderheiden,

S. 34 ff. Dies wird zuweilen auch „Crossdisciplinarity“ genannt, Cat unter 3.3. 132  Brückenbau ist wohl eine der am häufigsten gebrauchten Metaphern der Interdiszi­ plinaritätsdiskussion, Klein 2010, S. 21 f. 133 Klein 1990, S. 11 ff. 134 Gutmann 2015, S. 100 ff. 131 

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schen Problems. Interdisziplinär ist hingegen das Zusammenwirken von dogmatischen und Methoden der Grundlagenwissenschaften zur Lösung eines juristischen Problems. 2. Multidisizplinarität Multidisziplinarität oder Pluridisziplinarität135 lässt die Disziplingrenzen unangetastet und vergleicht ihre Forschungsergebnisse. Sie erweitert das Wissen und steigert die Problemlösungskapazitäten.136 Das Wissen der anderen Disziplinen wird zu Kontextualisierung der eigenen herangezogen. Es ist also der Facettenreichtum des Erkenntnisgegenstandes, der zur Interdisziplinarität führt. In der Lehre wird sie in Form von Joint Degrees oder dem Studium Generale wirksam. Literarisch sind die Enzyklopädien seit D’Alembert und Diderot oder Leibniz an dieser Idee orientiert.137 Die Verknüpfung der Disziplinen besteht hier vor allem im psychologischen Moment des wechselseitigen Interesses. Auch in den Rechtswissenschaften werden multidisziplinäre Ansätze zur Untersuchung der vielfältigen gesellschaftlichen Einflüsse und Auswirkungen des Rechts herangezogen.138 3. Transdisziplinarität Transdisziplinarität schließlich kombiniert erkenntnistheoretische und organisatorische Aspekte von Interdisziplinarität und stellt die Kooperation bei der Erforschung eines Gegenstandes auf Dauer bei der Begründung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Der Begriff „Transdisziplinarität“ ist wohl zuerst von Erich Jantsch und Jean Piaget 1970 bei einer UNESCO-Konferenz in Nizza verwendet worden. Piaget schreibt dazu: „Enfin, à l’étape des relations interdisciplinaires, on peut espérer voir succéder une étape supérieure qui serait ,transdisciplinaire‘, qui ne se contenterait pas d’atteindre des interactions ou réciprocités entre recherches spécialisées, mais situerait ces liaisons à l’intérieur d’un système total sans frontières entre les disciplines“.139

Diesen Begriff verwendet Ost, S. 6 f. 2010, S. 17; 1990, S. 57 f. 137  Boden, S. 14, spricht hier von „encyclopaedic interdisciplinarity“: „an enterprise covering many, or even all, disciplines within a wide range, but with no need for communication between them“; vgl. auch Ferris, S. 1258, 1260 f.: Die beiden Franzosen wussten bei der Erarbeitung ihrer multidisziplinären Enzyklopädie, die alles menschliche Wissen umfassen sollte, durchaus, dass sie einen Pfad beschreiten mussten, der nicht immer systematisch und teilweise diskontinuierlich wäre. 138 Smodis, S. 483 ff., der allerdings auf der Basis eines sehr vagen Begriffs von Multidisziplinarität vor allem kulturelle und verhaltensbiologische Ansätze in die Rechtstheorie einbeziehen möchte. 139 Piaget, S. 170. 135 

136 Klein

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Bei allen Kämpfen um die Bedeutung von Transdisziplinarität,140 macht Piaget hier doch ein gemeinsames Grundanliegen deutlich: Während bei interdisziplinärer Forschung die Disziplingrenzen aufrechterhalten werden, sollen sie bei der Transdisziplinarität überwunden werden. Diese Überwindung zielt auf eine hier nicht näher bestimmte – „höhere“ Integrationsstufe. Von Piaget und Erich Jantsch wurde diese höhere Integrationsstufe gewissermaßen als „Disziplin der Disziplinen“, als eine umfassende Wissenschaft verstanden.141 Gegenwärtig wird „Transdisziplinarität“ eher im Sinne der Auflösung von Disziplinengrenzen ohne Etablierung einer neuen Disziplin angesehen („beyond disciplines“).142 Für Mittelstraß ist sie wahre Interdisziplinarität.143 Auch wenn man angesichts der Erkenntnisleistungen skeptisch gegenüber einer Auflösung von Disziplinengrenzen ist, bleibt doch eine wichtige Funktion von Transdisziplinarität und ein Unterschied gegenüber anderen Formen von Interdisziplinarität die Entstehung von neuen (Unter-)Disziplinen. Transdisziplinarität kann somit erstens den Prozess des Zusammenschlusses mehrerer Wissenschaftsdisziplinen um einen (neuen) Forschungsgegenstand („Umweltwissenschaften“) oder zweitens die Ausdifferenzierung einer bestehenden Wissenschaft durch Organisation eines Faches, das zwar dem eigenen Erkenntnisinteresse dient, dieses aber mit anderen Methoden verfolgt, bezeichnen. Diese letztere Form von Transdisziplinarität bezeichnet eine Differenzierung der Wissenschaften, die weder eine Spezialisierung, eine Kooperation zwischen getrennten Disziplinen darstellt noch die Institutionalisierung einer neuen Disziplin. Vielmehr übernimmt hier das Fach einer Wissenschaft die Methoden anderer Wissenschaften und ordnet sie dem Erkenntnisinteresse dieser Wissenschaft unter. Diese Disziplinendifferenzierung bezeichnet die Entstehung von Grundlagenfächern.

VII.  Veranlassung für Interdisziplinarität Die Forderung nach Interdisziplinarität kann eher wissenschaftsinterne oder -externe Gründe haben. Wenn Erkenntnismethoden Wissenschaften integrieren und wenn sie ferner Erkenntnisgegenstände konstituieren, dann drohen Diszipli140  Nicolescu, S. 17, spricht gar von einem „War of Definition“. Der Quanten-Physiker Nicolescu treibt mit Kongressen zu Transdisziplinarität, einer Charta (1994) und einem Institut sein scientistisches Verständnis von dieser Wissenschaftsform seit 1985 kontinuierlich voran. 141 Jantsch, S. 108. 142 Nicolescu, S. 18 f. Er beschreibt Transdisziplinarität: „Transdisciplinarity-concerns that which is at once between the disciplines, across the different disciplines, and beyond all disciplines. Its goal is the understanding of the present world, of which one of the imperatives is the unity of knowledge“. 143 Mittelstraß 1986, S. 1054: „Interdisziplinarität ist vielmehr in Wahrheit Transdisziplinarität. Sie läßt die disziplinären Dinge nicht einfach wie sie sind, sondern stellt, und sei es auch nur in bestimmten Problemlösungszusammenhängen, die ursprüngliche Einheit der Wissenschaft – hier als Einheit der wissenschaftlichen Rationalität, nicht der wissenschaftlichen Systeme verstanden – wieder her“.

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nen zu Erkenntnisgrenzen zu werden, die ihre Gegenstände nicht adäquat erfassen können. Hier kann Interdisziplinarität zum „Reparaturphänomen“ werden.144 Die National Acedemy of Science der USA hat 4 Anlässe für Interdisziplinarität identifiziert: (1) Inhärente Komplexität von Natur und Gesellschaft, (2) der Wunsch, Probleme zu analysieren, die nicht in den Grenzen einer einzigen Disziplin zu erfassen sind, (3) das Bedürfnis nach Lösung gesellschaftlicher Probleme und (4) neuere Technologieentwicklungen.145 Maßgeblich für die interne Interdisziplinarität ist der Erkenntnisgegenstand.146 Kein Wunder daher, dass viele interdisziplinäre Projekte anwendungsbezogene Themen haben. So wird etwa von Sontheimer das Verhältnis zwischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre durch Dialektik von Macht und Ordnung im Staat bestimmt.147 Die erhöhte Veränderlichkeit des Rechts kann Anlass zu rechtsgeschichtlicher Forschung geben.148 Der Anlass kann auch durch verbundene Ebenen des Phänomens gekennzeichnet sein („Gehirn-Geist“).149 Er kann dann zunächst zu „interdisciplinary casework“ führen.150 Und zwar durchaus im Sinne von juristischen Fällen oder Problemen in ihrer lebensweltlichen Komplexität.151 Wenn diese Phänomene breit gefasst sind – etwa „Klimawandel“, „Leben“ oder „Kultur“ können und müssen sich viele Wissenschaften koordinieren, um ihn zu erforschen. Neuere Entwicklungen etwa in den Naturwissenschaften oder der Technik können andere veranlassen, sich mit der Bewertung ihrer Ergebnisse zu befassen. Ein Beispiel war das Entstehen der Rechtsinformatik in den Endsechziger Jahren, bei der interdisziplinäre und kybernetische Ansätze diskutiert wurden.152 Ein aktuelles Beispiel wäre die Neuro-Ethik. Freilich ist die Frage, ob es sich hier eher um Neurowissenschaften handelt, die Auswirkungen neuronaler Erkenntnisse oder Techniken für eine naturalistische Ethik untersuchen (z. B. deep brain stimulation zum moral enhancement) oder umgekehrt, um die ethische Bewertung neuronaler Befunde geht oder schließlich in beiden Richtungen geforscht werden soll.153 Interdis-

144 Mittelstraß

1986, S. 1052, der freilich zu Recht fordert, dass es dabei nicht bleibe. Facilitating interdisciplinary research (National Academy of Sciences) 2004, S. 2 u. 40. 146 Krohn, S. 34: „interdisciplinary research focuses on the peculiarities of given cases, while disciplinary research is characterized by substituting ideal features for given ones“; für die interdisziplinären Ansätze in den Staatswissenschaften kritisch Lepsius, S. 15. 147 Sontheimer, S. 84 f.; neuere Überlegungen, vor allem zum Verhältnis der Staatsrechtswissenschaft zur juristischen Praxis bei Voßkuhle, S. 135 ff. 148 Grimm 1976a, S. 10 f. 149 Schmidt 2010, S. 39. 150 Krohn, S. 31, der dezidiert weder von der Erkenntnismethode noch dem Erkenntnis­ interesse als grundlegend für Wissenschaft ausgeht, sondern vom Erkenntnisgegenstand in seiner „realen“ Komplexität. 151 Krohn, S. 36. 152 Näher Forgo/Holzweber/Reitbauer. 153  Zu Interdisziplinarität in der Ethik und insbesondere der angewandten Ethik wie etwa der Bioethik vgl. Balsamo/Mitcham, S. 262 ff. Ethik wird hier freilich als eine bloße 145 

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ziplinarität kann sich auch aus praktischen154 und professionellen Bedürfnissen und Problemen ergeben155 wie der beratenden Tätigkeit von Ethikkommissionen. Intern ist auch etwa der Wunsch, der Zersplitterung einer Wissenschaft entgegenzuwirken.156 Dabei wird aber zugleich der externe Grund einer umfassenderen Analyse des Forschungsgegenstandes eine Rolle spielen. Auch für die Rechtswissenschaften ist Anlass für interdisziplinäre Forschung die gesellschaftliche Relevanz oder Allbezüglichkeit ihres Gegenstandes.157 Als Grund wird der politische Charakter von Recht angeführt. Zuweilen werden aber auch Rechtspraxis und Rechtswissenschaft nicht hinreichend unterschieden.158 Weil Recht von gesellschaftlichen Interessen geprägt sei und in viele gesellschaftliche Systeme eingreife, sei es selbst interdisziplinär.159 Probleme des Rechts veranlassen die Rechtsdogmatik zur Suche nach interdisziplinären Lösungen, weil das Recht nicht bloß reine Normativität ist, sondern durch Normen strukturiert gesellschaftliche Interessen in Rechtsnormen transformiert und durch Normen geleitet auf gesellschaftliche Prozesse zurückwirken will. Soll es diese Transformationsleistung erbringen können, muss es über seine Grenzen hinausschauen können. In der Tat weist so die Rechtsdogmatik über sich hinaus.160 Zu den positiven Effekten interdisziplinärer Forschung gehört daher, dass sie die Fundamente der eigenen disziplinären Forschung erweitern kann.161 Auf der Basis interdisziplinärer Diskussionen können die Kategorien für die Beobachtung von Konsequenzen disziplinärer Erkenntnisse in anderen sozialen Bereichen verbessert werden. Die Rechtsdogmatik bedarf etwa der Ergänzung durch ökonomische und soziologische Analysen, um die Folgen juristischer Entscheidungen untersuchen zu können.162 Wenn die Rechtswissenschaft von ihrer Problemlösungskapazität her verstanden und als Probleme nicht nur rechtsinterne, sondern gesellschaftliche Probleme verstanden werden, liegt hierin also ein Grund für Interdisziplinarität.163 So wenig jedoch der Erkenntnisgegenstand eine Disziplin bestimmt, so wenig ihre Interdisziplinarität. Erst in der methodischen Bearbeitung desselben, die von einem spezifischen Erkenntnisinteresse geleitet wird, zeigt sich die Wissenschaft und erst dann, wenn zur Erkenntnis des Gegenstandes methodische Forschung mehrerer Disziplinen erforderlich ist, kommt interdisziplinäre Zusammenarbeit Lehre von Normen richtigen Verhaltens, etwa im Sinne der „Professional Ethics“, nicht als deren wissenschaftliche Begründung verstanden. 154  Jantsch, S. 100, nannte sie die wichtigste Form der Interdisziplinarität. 155 Krohn, S. 38 f.; Balsamo/Mitcham, S. 265 f. 156 Weingart 2010, S. 11 f. 157 Averill, S. 522. 158  „In a sense, all of law is transdisciplinary, as lawyers and law-makers take opportunistic advantage of any available tool to address the problem of concern“, Averill, S. 523. 159  Zu entsprechenden Ansätzen im Rechtsrealismus, Vick, S. 182 f. 160 Gutmann 2015, S. 99 f. 161 Frost/Jean, S. 132. 162 Heldrich, S. 107 f. 163 Weinstein, S. 322.

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in Betracht. Es reicht also nicht, dass in der Praxis Informationen aus mehreren Wissenschaften für bestimmte professionelle Handlungen oder Entscheidungen erforderlich sind. Fragt ein Mediziner Juristen, wie eine neue Therapieform rechtlich zu beurteilen ist, handelt es sich nicht um interdisziplinäre Forschung. Erst dann wenn der Jurist durch die Frage veranlasst ist, weiterführende Begründungen, Systematisierungen, Argumente de lege ferenda usw. zu entwickeln, liegt interdisziplinäre Forschung vor. Ebenso wenig findet interdisziplinäre Forschung statt, wenn ein Gerichtsmediziner ein Gutachten über Todesursache und Todeszeitpunkt erstellt, auch wenn seine Tätigkeit Ergebnis seiner wissenschaftlichen Forschung und Ausbildung ist.164 Erst dann, wenn er etwa neue Methoden zur Todesfeststellung etc. aus Anlass des Falles untersucht, liegt eine eigene Forschungsleistung vor. Erforderlich für Interdisziplinarität sind also methodisch geleitete, innovative Forschungsbeiträge der beteiligten Disziplinen.165 Schon der interdisziplinäre Phänomenbereich bzw. die Problemdefinition ist der Kooperation nicht einfach vorgegeben, sondern muss in gemeinsamer Anstrengung der beteiligten Disziplinen bestimmt werden.166 Zu den internen Veranlassungsgründen für Interdisziplinarität kann auch das Bedürfnis nach praktischer Weiterentwicklung des Erkenntnisgegenstandes gehören.167 Wenn in der Rechtswissenschaft de lege ferenda argumentiert wird, speisen sich die Argumente teilweise aus der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung, können aber auch auf soziale Lagen oder auf außerrechtliche Wertungen rekurrieren. In diesen Fällen ist dann jedenfalls ein Minimum an sozialwissenschaftlicher oder philosophischer Kompetenz erforderlich.168 Schließlich kann sich Interdisziplinarität auch aus den Bedürfnissen eines sich zunehmend differenzierenden Wissenschaftssystems ergeben.169 In diesem Sinn schreibt Weingart: „Je mehr Differenzierung der Wissensproduktion, desto intensiver der Ruf nach Interdisziplinarität“.170 Auch Auflösungstendenzen, fehlende Selbstvergewisserung und insgesamt nicht hinreichende Disziplinarität haben Wissenschaften veranlasst, nach interdisziplinären Lösungen zu suchen; ob sie erfolgreich sind, ist aber eher zweifelhaft. Wenn Wissenschaften primär methodisch integriert sind, dann spricht vieles dafür, dass in derartigen Fällen die Auflösungstendenzen eher noch beschleunigt werden. Erfolgreiche Interdisziplinarität dürfte also vielmehr erfolgreiche Disziplinarität voraussetzen.171 Auch die quantitative 164 

Anders und aus den genannten Gründen zu Unrecht, Ernst, S. 19 f. ist der höchste Wert wissenschaftlicher Aktivität“, Weingart 1997,

165 „Innovativität

S. 522. 166 Hilgendorf, S. 921. 167 Averill, S. 532 f. 168  Hoffmann-Riem, S. 649 f. 169 Stichweh 1979, S. 84; Hilgendorf, S. 915 f.; bereits Wohl, S. 376: „The occasion for inter-disciplinary collaboration arises from the very fact of specialization and would be inconceivable without specialization“. 170 Weingart 1997, S. 523. 171 Auch Gutmann 2015, S. 112.

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Zunahme von Wissenschaftlern kann zur Differenzierung und zur Ausbildung neuer Disziplinen anregen, die dann wiederum kooperieren müssen.172 Eine entsprechende Tendenz wird auch in den Rechtswissenschaften beobachtet: Die zunehmende wissenschaftstheoretische Selbstreflexion auf Methoden und die Suche nach interdisziplinären Anschlüssen wird als Krisenphänomen beschrieben, das aus der zunehmenden Differenzierung rechtswissenschaftlicher Forschung resultiere.173 Gerade auch ihr zunehmend selektiver Zugang zur Praxis bedarf jedoch komplementär der interdisziplinären Ergänzung zur Kompensation der entstehenden blinden Flecke.174 Extern ist etwa der Wunsch von dritter, etwa politischer oder von Seiten wissenschaftlicher Förderorganisationen nach interdisziplinärer Forschung.175 Interdisziplinarität kann eine eher konservative, instrumentelle und strategische auf Problemlösungen gerichtete oder – wie vielfach in den 70er Jahren – eine kritische Absicht haben.176 Im ersten Fall dient sie etwa Marktbedürfnissen, im zweiten Fall hinterfragt sie die Zusammenhänge partieller Erkenntnisse in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. In dieser Hinsicht sind insbesondere die verschiedenen Impulse der Critical Legal Studies, Critical Race Studies und so weiter für die Untersuchung der gesellschaftlichen Auswirkungen des Rechts und der Einwirkung gesellschaftlicher Interessen auf dieses zu nennen.177

VIII.  Bedingungen von Interdisziplinarität Helmut Schelsky hat schon 1966 allgemeine Begriffe, wechselseitiges Methodenverständnis und übergreifende theoretische Konzeptionen als Grundlagen gelingender Interdisziplinarität bestimmt.178 Die Vielfalt des Forschungsgegenstandes kann die interdisziplinäre Forschung stimulieren. Richten sich mehrere Disziplinen auf dasselbe Phänomen, können die Methoden der anderen nicht kritisiert werden, sondern als Lernpotentiale für die Fortentwicklung der eigenen Disziplin verwendet werden.179 Bezogen auf das Recht bedeutet dies, seiner Einbettung in verschiedene soziale Normen, Verhaltensweisen und der Orientierung für Hand172 Hilgendorf,

S. 915. Hilgendorf/Schulze-Fielitz, S. 1 ff., 3. 174 Jestaedt 2014, S. 11: „In dem Maße, in dem die Rechtswissenschaft auf Praxisorientierung setzt und damit notwendigerweise einen hochselektiven Zugang zum Phänomen Recht wählt, bedarf sie – um der Sicherung ihrer Wissenschaftlichkeit willen – sozusagen komplementär der inter- wie intradisziplinären Sensibilität“. 175 Boden, S. 16; geschichtliche Beispiele auch bei Rüegg, S. 36. 176 Klein 2010, S. 23; van Hoecke, S. 87; Benedict, S. 365 f.; Hoffmann-Riem, S. 645 f. 177  Zur Genese und zu den Implikationen dieser Bewegung für die Interdisziplinarität in den Rechtswissenschaften der USA, Tomlins, S. 946 ff. 178 Schelsky, S. 72; hierzu und zur Grundidee des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) vgl. auch Hilgendorf, S. 919. 179 Baldus, S. 326. 173 

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lungen gerecht zu werden, seine wirtschaftlichen Einflüsse und Auswirkungen zu berücksichtigen und die philosophischen Wertungsgrundlagen zu analysieren, um nur wenige Aspekte zu nennen. Sollen dabei Eigenart des Rechts und Besonderheit der Rechtswissenschaften nicht vernachlässigt werden, muss jedoch berücksichtigt werden, dass das Recht diese Einflüsse in spezifischer Weise transformiert und in sein System einpasst sowie auch seine gesellschaftlichen Auswirkungen aufgrund seiner besonderen Struktur in spezifischer Weise erfolgen. Ein weiterer Aspekt unterstreicht das besondere Bedürfnis nach Interdisziplinarität im Recht: Disziplinenübergreifende Diskurse verbessern die Fähigkeit zur Problemlösung.180 Rechtswissenschaften als praktische Wissenschaften sollen helfen, soziale Konflikte zu lösen und Prinzipien bereithalten, um diese zukünftig gar nicht erst aufkommen zu lassen. Partizipieren die Rechtswissenschaften nicht in interdisziplinären Diskursen mit solchen Wissenschaften, die den Realbereich des Rechts erforschen, verliert die Jurisprudenz die Fähigkeit, ihren genuinen Zielen zu genügen. 1.  Methodische Interdisziplinarität Grundlegend für den Erfolg interdisziplinärer Kooperation ist die Möglichkeit verschiedener Disziplinen, um der besseren Erkenntnis eines Phänomens willen, die identitätsbestimmenden methodischen Differenzen zu überwinden, ohne die eigene Erkenntnisleistung aufzugeben.181 Erkenntnistheoretisch wäre das nur möglich, wenn wenigstens noch das Erkenntnisinteresse der eigenen Disziplin gemeinsam wäre. Eine Möglichkeit von Interdisziplinarität wäre die Methodenübernahme. Klassisches Beispiel hierfür ist die Idee einer mathesis universalis, die seit Descartes und Leibniz immer wieder zum Wissenschaftsideal erhoben wird. Die Heranziehung der mathematischen Methode soll hier die Klarheit und Wissenschaftlichkeit aller Wissenschaften auch dann sichern, wenn sie sich nicht-mathematischen Erkenntnisgegenständen aus einem nicht-mathematischen Erkenntnisinteresse heraus widmen. Ob man eine Mathematisierung der Rechtswissenschaften für sinnvoll ansehen mag oder nicht, kann hier nicht diskutiert werden.182 Die Idee einer mathesis universalis zeigt jedoch, dass es auch im Bereich der Methoden allgemeinere gibt, die auch dann die gemeinsame Wurzel bilden, wenn sie sich in besondere Methoden etwa der verschiedenen Naturwissenschaften spezifiziert haben. So gibt es auch in anderen Wissenschaften ihnen gemeinsame methodische Grundsätze, 180 Frost/Jean,

S. 120. scheint das präziser zu sein, als von „general interdisciplinarity“ zu sprechen, unter der Boden, S. 19 ff., versteht: „an enterprise in which a single theoretical perspective is applied to a wide range of previously distinct disciplines“. Die Perspektive, die hier übernommen wird, ist häufig weniger das Erkenntnisinteresse als vielmehr die Methode oder allgemeine Begriffe. 182  Zum Nutzen für die Rechtsinformatik vgl. etwa Bauer 1976, S. 162 ff. 181  Mir

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die dann in spezifischer Weise für die einzelnen Wissenschaften konkretisiert werden. Insofern etwa die Rechtswissenschaften auch Textwissenschaften sind, haben sie Gemeinsamkeiten mit den Sprachwissenschaften, auch wenn sie es mit einer besonderen Textgattung zu tun haben, nämlich mit normativen Texten, die eine besondere Hermeneutik erfordern. Über den Rückgang auf gemeinsame methodische Prinzipien sollte sich aber ein Verständnis für die Besonderheiten der jeweiligen Disziplin erreichen lassen. Ein weiteres juristisches Beispiel ist die Untersuchung des Rechts und seiner Grundlagen durch ökonomische Methoden und Paradigmen in „Law and Econom­ ics“.183 Doch geht die methodische Interdisziplinarität weit darüber hinaus.184 Sie umfasst etwa auch Beobachtungsmethoden, Interviews, Statistiken und im Bereich der Rechtswissenschaften die Hermeneutik. Recht wird dann etwa mit den Mitteln der Literaturwissenschaft untersucht.185 Auch Kombinationen aus qualitativen und quantitativen Methoden in der Sozialforschung werden vorgeschlagen. Fraglich ist, ob schon die bloße Heranziehung von in anderen Disziplinen gewonnenen Wissens Interdisziplinarität darstellt. Nicht jede Kooperation zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen ist interdisziplinär. Erkenntnisse etwa der Politikwissenschaften darüber, welche Interpretation einer staatsrechtlichen Vorschrift eher ihren Zweck realisiert, würden sonst schon Interdisziplinarität begründen. Hier bleibt allerdings die eigentlich wissenschaftliche Arbeit rein rechtswissenschaftlich. Die korrespondierende Wissenschaft stellt dafür lediglich das Material oder die Informationen.186 Das ist nicht anders, als würde sie diese Informationen der Praxis zur Verfügung stellen. Auch in diesem Fall würde sie nicht selbst aktuell forschen, sondern nur Erforschtes präsentieren. Erforderlich ist jedenfalls eine Vertrautheit mit den methodischen Grundlagen, mit Techniken187 aufgrund derer andere Wissenschaften das dann in den Rechtswissenschaften verwendete Wissen gewinnen. Anders können diese Erkenntnisse nicht richtig bewertet werden.188 Soll nicht die klärende und gegenstandskonstituierende Leistung der Methode verloren gehen, darf methodische Interdisziplinarität nicht zu einem unreflektierten Methodensynkretismus führen.189 Wenn die normative Interpretation von autoritativen Rechtstexten als eine literarische verstanden wird, gehen die spezifischen nur Posner 2007. 2010, S. 19 f. 185 Kirste 2016. 186 Balkin, S. 958. 187  Für die Rechtslinguistik etwa Podlech, S. 115 f. 188 Struck, S. 19. 189 Bekanntlich Kelsen, S. 1: „In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vemengt“. Was Kelsen hier für die Jurisprudenz, bzw. Rechtswissenschaft oder Rechtslehre insgesamt in Anspruch nimmt, gilt jedoch nur für die Rechtsdogmatik, während die Rechtswissenschaft ein durchaus breiteres Erkenntnisinteresse besitzt“, vgl. a.a.O., S. 111. 183  Vgl.

184 Klein

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Qualitäten normativer Texte verloren. Vielmehr ist eine klare Abgrenzung zu entwickeln, wofür normative und wofür empirische Argumente verwendet werden dürfen. Wenn etwa, wie Roland Barthes meint, der Autor gestorben und der Text vom Interpreten zu konstruieren sei,190 dann unterscheidet sich diese Konstruktion dennoch durch die rechtlichen Bindungen, denen der Richter unterworfen ist, von denjenigen eines literarischen Interpreten und auch der Rechtswissenschaftler sollte die normative Struktur des von ihm zu interpretierenden Textes in Rechnung stellen. Für die Rechtswissenschaft könnte die methodische Interdisziplinarität die Auswertung juristischer Texte durch andere wissenschaftliche Disziplinen sein. So könnten etwa Rechtstexte als Literatur oder mit den Mitteln der Politikwissenschaften als Instrumente zum Machterhalt interpretiert werden.191 Erfolgt dies jedoch mit dem Erkenntnisinteresse der anderen Disziplin – etwa der Literaturoder der Politikwissenschaften – würde es sich nicht um Interdisziplinarität, sondern um die disziplinäre Aufgabe dieser durch Methode und Erkenntnisinteresse bestimmten Wissenschaften handeln: Die Literaturwissenschaft untersucht etwa Urteile und Verträge als eine literarische Gattung. Nur wenn letztlich das Ziel bestünde, das Recht in seiner spezifischen Rechtsstruktur besser zu verstehen, wäre dies noch eine interdisziplinäre Erweiterung der Rechtswissenschaften. Dies wäre etwa der Fall, wenn Verbrechen mit soziologischen Methoden untersucht würden wie in der Kriminologie. Am Ende ist es aber gerade ihre besondere dogmatische Methode, ihre spezifisch normative Texthermeneutik, die die Rechtswissenschaften von anderen Wissenschaften unterscheiden. So ist nicht zu erwarten, dass in diesem Kerngeschäft Interdisziplinarität Fußfassen wird.192 Dabei bleiben ihre Aussagen, deskriptive Aussagen über Normen und keine normativen Aussagen.193 Auch wenn man sie als Entscheidungswissenschaft versteht,194 ist Rechtsdogmatik doch Wissenschaft von Entscheidungen und trifft nicht selbst Entscheidungen. Ihr Einfluss auf Normsetzung und autoritative Norminterpretation beruht auf wissenschaftlicher Autorität und nicht auf verbindlichen Entscheidungen. Für diese liefert die Wissenschaft lediglich die informative, auch beratende Vorbereitung – zu mehr ist sie nicht legitimiert.

190 Barthes,

S. 30. S. 958. 192 Tomlins, S. 967: „Law has shown less interest in encounters that intrude methodologically or ideologically upon its deployment of determinative power and authority, for here its disciplinary self-sufficiency is clearer, its methodological capacities more secure, its conversation more conveniently closed“. 193 Kelsen, S. 76 f. 194 Luhmann 1973, S. 355. 191 Balkin,

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2.  Erkenntnisinteresse und Interdisziplinarität Die Fähigkeit zur Interdisziplinarität hängt ferner auch vom wissenschaftlichen Selbstverständnis einer Disziplin und ihrem Erkenntnisinteresse ab. Eine grundsätzliche Ausrichtung ist etwa, ob man die Rechtswissenschaften als nomothetisch oder ideographisch versteht. Während Wilhelm Windelband diese Unterscheidung als eine des Erkenntnisobjekts begriff – die Natur ist gesetzmäßig, die Kultur ist historisch-einmalig195 – hat Heinrich Rickert gezeigt, dass diese Unterscheidung eine methodische ist: Etwas wird zur Natur, wenn es nomothetisch und zu Kultur, wenn es ideographisch verstanden wird.196 Überwiegt das ideographische Interesse an der Erkenntnis dieser Rechtsordnung als einem gegenüber anderen Sozialordnungen etwa durch den Erzeugungszusammenhang wesentlich verschiedenen Phänomen, dann besteht nur eine geringe Möglichkeit, dass dieses Erkenntnisinteresse durch interdisziplinäre Arbeit gefördert werden könnte. Originalism/Textualism oder Reine Rechtslehre benötigen die Rechtsgeschichte nur zur Ermittlung der Entstehungsbedingungen des in seinem Bedeutungsgehalt statischen Rechts und können auf Rechtsvergleichung verzichten.197 Wird die Rechtswissenschaft hingegen eher ideographisch z. B. als eine Sozialwissenschaft verstanden, dann lohnt der Vergleich mit „funktionalen Äquivalenten“198 des oder gar mit Alternativen zum Recht wie etwa der „Alternative Dispute Resolution“. Dann lohnt auch die Heranziehung, der sich auf diese alternativen Ordnungsstrukturen spezialisierten Erkenntnismethoden, um diesem strukturellen Interesse zu genügen. Rechtsgeschichte untersucht dann nicht nur etwas Vergangenes, Historisches, sondern die Vergänglichkeit oder Geschichtlichkeit des aktuellen Rechts selbst.199 Es geht an dieser Stelle nicht darum, diesen Streit zu entscheiden. Deshalb sei auch nur darauf hingewiesen, dass ein vermittelndes Verständnis zwischen beiden möglich ist, das die Grundstruktur des Rechts als eine allgemeine betrachtet, aufgrund deren eine Rechtsordnung sich ihre je spezifische Gestalt gibt. Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte untersuchen den hermeneutischen Hintergrund, vor dem erst das Besondere des partikulären positiven Rechts, seine Leistung aber auch seine Beschränkung verstehbar werden.200

195 Windelband.

196 Rickert, S. VII f., 55 f., der zu Recht hervorhebt, dass hier eine unterschiedliche methodische Perspektive vorliegt: „Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle“. 197 Kritisch Picker, S. 784: Geschichte wird dann zur Ereignisgeschichte. 198 Junker, S. 921 f. 199 Grimm 1976a, S. 28 f.; dazu auch Picker, S. 786 f. 200 Picker, S. 788 f.

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3.  Begriffliche Interdisziplinarität Niklas Luhmann hält Interdisziplinarität für möglich, wenn sie um Paradigmen oder generelle Begriffe wie etwa „Selbst-Organisation“ herum entwickelt wird.201 Andere Beispiele wären „System“ oder – weniger anthropomorph, sondern anthropologisch orientiert an der Unterscheidung Freiheit/Nicht-Freiheit – „Kultur“. Anhand derartiger Paradigmen oder Allgemeinbegriffe können ähnliche Mechanismen in verschiedenen Sozialsystemen analysiert werden. Rechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft haben etwa in Entscheidung, Verantwortung, Steuerung, Governance, Verfahren und Organisation oder gar „Staat“202 gemeinsame Hauptbegriffe.203 „Handlung“ ist ein Begriff, der in zahlreichen Humanwissenschaften von Bedeutung ist und gerade vom Strafrecht stark differenziert wurde.204 „Privatautonomie“, „Markt“, „Person“ sind solche Begriffe im Privatrecht.205 Von diesen ausgehend lassen sich dann Unterbegriffe mit teilweisen Überschneidungen der Forschung der beteiligten Disziplinen bilden. Für die Beteiligten muss ein geeignetes Klassifikationssystem der Begriffe erarbeitet werden. Ab einer bestimmten Konkretisierungsstufe werden dann die beteiligten Wissenschaften getrennte Wege gehen und die Begriffe mit Rücksicht auf den systematischen Zusammenhang in ihren jeweiligen Disziplinen ausformen müssen. Es bleibt aber doch der Vorteil des gemeinsamen Ausgangspunktes. Wenn jedoch die Orientierung an solchen Paradigmen oder allgemeinen Begriffen konsequent verfolgt wird, so wird daraus eine neue Disziplin entstehen, die dieses Paradigma als leitende Perspektive ihrer Untersuchung übernimmt und angemessene Methoden zu seiner Untersuchung entwickelt.206 Diese begriffliche Allgemeinheit ist jedoch nicht problemfrei. Schon Kant hatte darauf verwiesen, dass sich zwar eine Disziplin von einer anderen Begriffe borgen könne; sie müsse jedoch darauf achten, diese so zu verwenden, dass sie in die Architektur des eigenen Systems eingefügt würden.207 Sein kritisches Projekt prüft 201 Luhmann

1992, S. 457; Klein 1990, S. 26. Zur Problematik der verschiedenen „Staatswissenschaften“ und einer am Begriff des Staates orientierten Integration derselben vgl. Lepsius, S. 12 f.: „Der weitgehende Verzicht auf Verfassungstheorie ist der hohe Preis, den die deutsche Staatsrechtslehre für das Festhalten an der gegenständlichen Perspektive zu zahlen bereit war“. 203 Schmidt 1976, S. 99; Schulze-Fielitz, S. 22 f. 204 Hilgendorf, S. 918. 205  Grundmann. S. 875 ff., 1029 ff., 1381 ff. 206 Schmidt 2010, S. 40 f. 207  Kant KdU, S. 329 f.: „Die Prinzipien einer Wissenschaft sind derselben entweder innerlich, und werden einheimisch genannt (principia domestica); oder sie sind auf Begriffe, die nur außer ihr Platz finden können, gegründet, und sind auswärtige Prinzipien (peregrina). Wissenschaften, welche die letzteren enthalten, legen ihren Lehren Lehnsätze (lemmata) zum Grunde; d.i. sie borgen irgend einen Begriff, und mit ihm einen Grund der Anordnung, von einer anderen Wissenschaft. Eine jede Wissenschaft ist für sich ein System; und es ist nicht genug, in ihr nach Prinzipien zu bauen und also technisch zu verfahren, sondern 202 

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gerade die Herkunft der Prinzipien und fragt, nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis, gründet sie also auf Methode. Mithin können folgende Probleme auftreten: Erstens werden Worte bekanntlich nicht nur von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich verstanden, sondern bekommen in wissenschaftlichen Disziplinen auch unterschiedliche Bedeutungen als fachspezifische Termini. Zugleich zeigt eben dieser linguistische (!) Befund die Notwendigkeit interdisziplinärer Erkenntnisse auch bei der Frage der interdisziplinären Ausrichtung der Wissenschaft selbst: Ihre Möglichkeit ergibt sich nicht einfach aus soziologischen oder philosophischen Erkenntnissen und ist auch von den Erkenntnissen anderer Wissenschaften – hier etwa der Germanistik – geprägt. Das Prinzip der Menschenwürde ist dafür ein Beispiel. In einer theologischen Perspektive kann es interessant sein, dass Juristen sie nicht als „Gottebenbildlichkeit“, sondern als Recht eines jeden menschlichen Wesens auf Anerkennung seiner Rechtperson verstehen.208 Auf der anderen Seite kann es für einen Juristen durchaus hilfreich sein, den theologischen Ursprung des Begriffs zu kennen. So könnte der Begriff dann gezielt – nämlich säkularisiert – ins Recht transformiert werden. Um den sozialen Erwartungen an den Verfassungsbegriff zu begegnen, kann es auch hilfreich sein, durch kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu verstehen, dass der Begriff in der Renaissance etwa die Fähigkeit des Menschen bezeichnete, sich zu dem machen zu können, der er sein will oder zu sehen, dass es ihn auch in anderen Kulturen gibt.209 Anders als Luhmann meint, kann der Begriff hier als Instrument zur Übersetzung oder Transformation von Wissen von einer Disziplin in eine andere verstanden werden. Interdisziplinärer Diskurs bedeutet also nicht, dass eine Wissenschaft einfach die Begriffe der anderen übernimmt oder dass Begriffe entwickelt werden, die abstrakt genug sind, um Differenzen der Disziplinen überbrücken zu können. Skeptikern von Interdisziplinarität ist zuzustimmen, dass dadurch die disziplinäre Perspektive verlassen und sich die Forscher insofern einer – vielleicht sogar attraktiveren – fremden Perspektive unterwerfen.210 Ebenso wenig bedeutet Interdisziplinarität den bloßen Austausch von Daten, die dann erst in der jeweilig importierenden Disziplin zu Informationen werden. Vielmehr werden Begriffe, aber auch ganze Vorstellungskomplexe übersetzt. Hierzu müssen Erkenntnisse anderer Wissenschaften nach eigenen Kriterien und Methoden rekonstruiert und auf diese Weise eingepasst werden. Schließlich müssen diese allgemeinen Begriffe jedoch in eine den beteiligten Wissenschaften verman muss mit ihr, als einem für sich bestehenden Gebäude, auch architektonisch zu Werke gehen, und sie nicht wie einen Anbau und als einen Teil eines anderen Gebäudes, sondern als ein Ganzes für sich behandeln, ob man gleich nachher einen Übergang aus diesem in jenes oder wechselseitig errichten kann“. 208 Enders, S. 501 ff. 209  Pico della Mirandola, S. 5 f.; Oskar Kristeller; Übersicht bei: Gröschner/Kirste/ Lembcke. 210 Baldus, S. 327.

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ständliche Metasprache, die sich über die fachliche Terminologie erhebt und doch in ihr verständlich ist, eine „infradisziplinäre Sprache“ eingefügt werden.211 4.  Organisierte Interdisziplinarität So wenig Wissenschaft nur Erkenntnis ist, sondern der Organisation bedarf, so wenig erschöpft sich Interdisziplinarität in ihren gerade erwähnten erkenntnistheoretischen Bedingungen. Gerade der Organisation von Interdisziplinarität ist in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit gewidmet worden.212 Von manchen Autoren wird Interdisziplinarität als eine Art Kolonialisierungsprozess verstanden, bei dem eine Disziplin versucht, ihre Methoden und Erkenntnisinteressen in imperialistischer Manier einer anderen überzustülpen. Die Eroberung sei umso erfolgreicher, je methodisch gefestigter der Kolonisator sei und je mehr es ihm gelinge, in die Lehre der anderen Disziplin und deren Curricula einzudringen. Umgekehrt wären methodisch kontroverse, wenig integrierte Wissenschaften ein bevorzugtes Objekt feindlicher Übernahmen.213 Von nicht Wenigen wurde die Ablösung der Allgemeinen Staatslehre durch die Politikwissenschaft in diesem Sinne interpretiert.214 Freilich können gerade intern gefährdete Disziplinen versuchen, sich durch interdisziplinäre Verknüpfung insbesondere in der Lehre am Leben zu erhalten. Balkin sieht auch die Rechtswissenschaften in einer Position, geradezu gelähmt auf ihre Übernahme zu warten und umgekehrt Disziplinen wie die Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften in den Startlöchern für eine Übernahme.215 Gleichzeitig werden Juristen eingeladen, zwar nicht ihre Wissenschaft, aber doch ihre Rechtskenntnisse in die Curricula anderer Disziplinen zu exportieren: Ökonomie-, Literatur-, Medizin-, Politik- und andere Studenten sollen auch etwas über die rechtlichen Grundlagen ihres Tuns erfahren – eine Aufgabe, die jeder Praktiker in dem entsprechenden Bereich ebenso leicht erfüllen kann, wie ein Rechtswissenschaftler. Zu einer erfolgreichen Eroberung der Rechtswissenschaften wird es nach Balkin dennoch nicht kommen, weil Rechtswissenschaft211 Holzhey,

Sp. 478. 1990, S. 47 f. 213 Balkin, S. 960: „It is an attempt by disciplines to expand their empires, to colonize and to take over other disciplines by extending their sphere of influence over them … The old discipline continues to exist, but with a new methodology, a new set of questions for study, or new criteria of Kuhnian ,normal science‘“ (siehe auch 962). Balkin spricht aber auch von weiteren, unbeabsichtigten Folgen derartiger Kolonialisierungen wie Sezessionen, also der Ablösung von Teildisziplinen aus den kolonialisierten. 214  Zu den Kontroversen aus politikwissenschaftlicher Sicht Sontheimer, S. 71 u. 73; Lepsius, S. 11 f. 215 Balkin, S. 965: „precisely because of its professional status, the study of law looks like a sitting duck for a disciplinary takeover. And indeed, the story of the past twenty to thirty years in legal scholarship seems to have been one of continual invasion, as turncoats have attempted to import insights from many different fields, most prominently including economics, history, philosophy, political theory, and literary theory“. 212 Klein

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ler früh in die spanischen Stiefel disziplinären Denkens gesteckt und später aus Gewohnheit nicht mehr umlernen würden. Mithin seien es letztlich institutionelle Faktoren, die die Rechtswissenschaft disziplinierten und zwar – infolge schwacher methodischer Selbstvergewisserung – anfällig für Übernahmen machten, zugleich jedoch durch die organisatorische Trägheit noch jeden derartigen Versuch ausgesessen hätten.216 Der Befund ist jedoch wenigstens für die kontinentale Rechtswissenschaft nicht überzeugend. Seit Jahrhunderten ist die Rechtswissenschaft in höchstem Maße methodenbewusst und methodenreflektierend.217 Eine Warnung kann die Beobachtung Balkins jedoch sehr wohl bedeutend: Verknöchert die Methodendiskussion oder wird sie für beendet erklärt, so stehen die Rechtswissenschaften vor der Selbstaufgabe und können sich dagegen nur durch nicht selbst wissenschaftliche Strukturen behaupten. Schlechte Ausgangsbedingungen für Interdisziplinarität ist die „Lehnstuhlmethode“218 des einsam forschenden Einzelwissenschaftlers.219 Das Universalgelehrtentum gerade auch der klassischen, nämlich interdisziplinär arbeitenden Juristen wie etwa von Savigny, Jhering, Jellinek und Kohler ist angesichts zunehmend ausdifferenzierter Wissenschaften nicht in der Lage, in allen relevanten Disziplinen die notwendigen Kompetenzen zu entwickeln. Daher bedarf es organisatorischer Arrangements, die die notwendige Kooperation sicherstellen. Das bedeutet nicht, dass jeder Rechtswissenschaftler interdisziplinär forschen und daher die Fakultätsstruktur geändert werden muss. Wenn dies aber beabsichtigt ist, sind entsprechende Voraussetzungen zu schaffen und ggf. kompetitiv zu erwerben.220 Niklas Luhmann schlägt drei Formen organisierter interdisziplinärer Diskurse vor: Erstens, anlassbezogene Interdisziplinarität; zweitens, zeitweise Interdisziplinarität; und schließlich, Transdisziplinarität.221 Anlassbezogene Interdisziplinarität bezieht sich auf zufällige Konfrontation mit zentralen Begriffen unterschiedlicher Wissenschaften. Informale Kommunikation über Begriffe der beteiligten 216 Balkin, S. 965: „It is often said that law is in crisis. But if so, the experience of crisis is not the experience of Rome before the sack thereof. It is rather the experience of Vienna, continually under siege by Suleiman the Magnificent, but never quite conquered. Law is weak enough to perpetually tempt invaders and turncoats, but strong enough to resist capitulation. It is this resiliency, I suspect, that drives many latter-day interdisciplinarians crazy. The reasons for law’s surprising strength, I shall argue, have less to do with a central academic methodology than with the amazing resiliency of the seemingly moribund forms of legal education, and the deeply felt norms of professional identity that both produce and bind together the vast majority of law professors“. 217  Vgl. nur Schröder; Herberger, insbes. S. 211 ff. 218 Saliger, S. 126. 219 Gutmann 2015, S. 113. 220 Es fehlt nicht an Warnungen, Juristische Fakultäten in diesem Sinne umzustrukturieren, vgl. Rixen, S. 710. Grundlagenfächer sollen also offenbar eher als Hobby, als Orchideen­f ächer betrieben werden, für die eine professionelle Kompetenz und ein professionelles Setting nicht erforderlich erscheinen. 221 Luhmann 1992, S. 457 ff.

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Disziplinen kann Verwirrung erzeugen oder neue Perspektiven oder neues Wissen eröffnen. Insbesondere kann sie ein Bewusstsein der Konsequenzen der eigenen Forschung in anderen sozialen oder natürlichen Bereichen hervorrufen.222 – Temporäre Interdisziplinarität ist eine Form von Diskurs, der die Verkrustung von Wissenschaften in den Beschränkungen überkommener Fragestellungen vermeidet. Die entsprechenden Diskurse werden in zeitlich begrenzten Formen von Kooperation institutionalisiert. Das können gemeinsame Seminare, Konferenzen oder auch Gutachtertreffen, die sich um ein bestimmtes Erkenntnisobjekt gruppieren, sein.223 Die Beziehung der Wissenschaftler ist instrumentell auf die Bewältigung der Erkenntnisprobleme eines recht konkreten Objekts bezogen. Bei diesen Zusammenkünften wird der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Perspektiven auf ein Subjekt zu integrieren. Beide Formen führen nicht zu einer organisatorischen Differenzierung der partizipierenden Wissenschaften.224 In ihnen teilen lediglich einige Wissenschaftler einen Teil ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Der Import selbst bleibt der eigenen Wissenschaft fremd und wird den Fähigkeiten und Erkenntnisinteressen der beteiligten Forscher überlassen. Die dritte Form von Interdisziplinarität ist schließlich die Formung einer neuen Wissenschaft um ein innovatives Paradigma. Hier wird auch von „Institutional Fusion“ gesprochen.225 Diese Institutionalisierung zieht Ressourcen aus existierenden Wissenschaften ab und überträgt sie neuen. Weil auf diese Weise neue Disziplinen entstehen, wird problematisch, das Wissen dieser neuen Disziplin in die zuvor existierenden zurück zu transformieren. Funktioniert derartige institutionalisierte Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität besser als lediglich theoretische und was sind ggf. die Gründe für diesen Erfolg? Ein Grund dafür dürfte sein, dass akademische Kommunikation nicht notwendig technisch ist, obwohl sie zur Produktion disziplinären Wissens beiträgt. Latour und Wolgar, die wissenschaftliche Kommunikation analysieren, finden vier Formen: Die erste Form wissenschaftlicher Kommunikation besteht im Austausch sog. Fakten. Die zweite Form ist durch eine (nonverbale) Kommunikation über Methoden gekennzeichnet. Eine dritte Art ist die theoretische Erarbeitung von Kriterien für die wissenschaftliche Kommunikation selbst. Schließlich wird – in den Naturwissenschaften – eine vierte Form durch informelle Unterhaltungen („gossip“) rund um Experimente typisch.226 Auch wenn sich dieses Modell sehr stark auf naturwissenschaftliche Experimente bezieht, kann es allgemein die Vielseitigkeit 222 Frost/Jean,

S. 131.

223 Frost/Jean, S. 124, report on a case study of the success of interdisciplinary seminars

at a southeaster university in the US. They give an overview on the effects this interdisciplinary seminar had on the participants on S. 130. 224 Boden, S. 17 nutzt für vergleichbare Formen auch den Begriff der „Shared Interdisciplinarity“: „an enterprise in which different aspects of a complex problem are tackled by different groups with complementary skills. Results are communicated, and overall pro­ gress monitored. But day-to-day co-operation does not occur“. 225 Krohn, S. 31. 226 Latour/Woolgar, S. 152 ff.; cf. also Schleifer, S. 446 f.

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wissenschaftlicher Kommunikationsformen zeigen, die sich nicht vollständig mit den Grenzen einer disziplinären Methode decken. Transdisziplinarität trägt hier durch dauerhaft institutionalisierte Kommunikationsformen zum wechselseitigen Verstehen und zur gelingenden wissenschaftlichen Kooperation bei. Über die genannten drei Formen von Interdisziplinarität, die Niklas Luhmann erwähnt, kann eine vierte Form der Organisation von Interdisziplinarität in der internen Differenzierung von Wissenschaften bestehen. Man hat den Mechanismus der Übernahme von Teilen einer Disziplin in eine andere etwas vage auch „Restructuring“ genannt.227 Dies liegt vor, wenn in Fakultäten Einrichtungen geschaffen werden, die sich auf andere Disziplinen beziehen. So kam es etwa zu Fächern wie Soziobiologie, politischer Soziologie oder auch Bioethik. In den Rechtswissenschaften sind die Grundlagenfächer – etwa die Rechtsgeschichte,228 die Rechtstheorie und –philosophie, die Rechtssoziologie usw. Beispiele für ein derartiges „Restructuring“ im Interesse der Interdisziplinarität. Diese Einrichtungen arbeiten interdisziplinär, einmal weil sie Methoden der entsprechenden Wissenschaften auf das Recht anwenden, zweitens, weil sie Wissen aus diesen korrespondierenden Wissenschaften in das Recht importieren und drittens, weil sie Wissen über Recht in andere Disziplinen exportieren.229 Der Import ist jedoch kein „eins zu eins“ Import, sondern die Transformation fremden Wissens in das Recht unter den leitenden Erkenntnis­interessen der Rechtswissenschaften.230 So untersucht die Rechtsgeschichte zwar das Recht mit den Methoden der Geschichtswissenschaften; ihr Erkenntnisinteresse entnimmt sie jedoch (jedenfalls auch) der Gegenwart der geltenden Rechtsordnung und ihrer historischen Dimension.231 Die Erkenntnisse anderer Wissenschaften werden selektiert und aufbereitet für die Argumentation in der eigenen Wissenschaft der Grundlagenfächer. Dadurch erhalten sie einen verlässlicheren und auch konkreteren Einfluss auf die eigenen Wissenschaften, als

227 Klein

2010, S. 21. S. 325 f.; Picker, S. 764 ff. 229  Ich spreche daher von Interdisziplinarität und nicht von „Intra-Disziplinarität“ wie Matthias Jestaedt (2008, S. 189 f.). 230  Zu diesem Konzept von Interdisziplinarität auch Kirste 2009, S. 134 ff.; der Importeur ist kein Verräter seiner eigenen gegenüber einer anderen Disziplin, wie Balkin, S. 961 f., meint, denn er gibt sein genuines Erkenntnisinteresse nicht auf. 231  Und verfährt nicht bloß kontemplativ und ideographisch, Picker, S. 828 f. u. 834 f.; Grimm 1976a, S. 10, der aber klarstellt, dass dies nicht die Rechtsgeschichte auf die Juristische Zeitgeschichte reduziert, die der historischen Dimension ihres Gegenstandes nicht gerecht würde, a.a.0., S. 16 f.; die Beachtung des juristischen Erkenntnisinteresses – allerdings stärker abgegrenzt gegenüber gesellschaftlichen Zwecksetzungen als Grimm – betont auch Baldus, S. 327, wenn er schreibt: „Eine erkleckliche Zahl juristischer Praktiker wie Theoretiker hält auf der anderen Seite Rechtsgeschichte nach wie vor für überflüssig und wird um so überzeugter für die Beseitigung des Faches votieren, je weniger Rechtshistoriker imstande sind, dem nicht Eingeweihten zu erklären, wo und warum Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung konkret von historischer Kenntnis und Denkweise profitieren“. 228 Baldus,

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wenn diese ohne derartige professionelle Übersetzer oder Brückenbauer mit dem Wissen anderer Wissenschaften umzugehen versuchten. Diese Differenzierung von Wissenschaften durch die jeweiligen Grundlagenfächer kann soziologisch als eine Differenzierung von Zentrum und Peripherie verstanden werden. Im Zentrum kann das leitende Erkenntnisinteresse und die spezifische Methode einer Wissenschaft gefunden werden – also etwa die normative Perspektive in den Rechtswissenschaften. Hier hat die „Reinheit“ einer Wissenschaft ihren Platz. Für die Rechtswissenschaften stünde die Rechtsdogmatik nicht nur im Bereich der kontinentalen Rechtswissenschaft232 mit ihrer spezifisch juristischen Erschließung des Rechts im Zentrum.233 Ohne eine Wissenschaft, die dieses spezifische Erkenntnisinteresse mit spezifischen Erkenntnismethoden pflegte, gäbe es die betreffende Wissenschaft nicht. In der Peripherie öffnet sich das System selektiv zum einschlägigen Wissen der anderen Disziplinen. Dies geschieht jedoch nur insoweit als sie für die eigene Wissenschaft und das darauf bezogene Erkenntnisinteresse förderlich sind, also gewissermaßen im Licht der Rechtsdogmatik.234 Wissenschaftler, die solchermaßen an der Peripherie der eigenen Wissenschaft tätig sind, müssen daher Experten im Kernbetrieb der eigenen Wissenschaft sein und zugleich ein profundes Verständnis für Methoden und Erkenntnisgegenstände der jeweils angrenzenden Wissenschaften besitzen.235 Die Grundlagenfächer leisten hierbei wesentliche Import- und Exportfunktion für die Gewinnung von Erkenntnissen der eigenen und auch die Kenntniserweiterung von anderen Disziplinen.236 232  Für die entsprechende Bedeutung von „legal doctrine“ in der case-law Tradition vgl. Vick, S. 177 m.w.N., Fn. 86 und S. 188: „Doctrinalism remains the benchmark against which legal academics define themselves and their work, and the point of departure for those engaging in interdisciplinary legal research“. Wenn Lord Goff schreibt: „The prime task of the jurist is to take the cases and statutes which provide the raw material of the law on any particular topic; and by a critical re-appraisal of that raw material, to build up a systematic statement of the law on the relevant topic in a coherent form, often combined with proposals of how the law can be beneficially developed in the future“ (zit. nach Vick, S. 178), dann ist das für diesen Bereich hinsichtlich der Fokussierung auf die Verarbeitung des positiven Rechts nicht so verschieden von Äußerungen kontinentaler Rechtsdogmatiker über die Aufgaben der Rechtswissenschaften hinsichtlich von Verfassungen und unterverfassungsrechtlichem Recht. 233 Kirste 2010, S. 36 ff.; Gutmann 2015, S. 94: Kerngeschäft. 234  … um den Gedanken von Zentrum und Peripherie mit dem helio- nicht aber, wie Thomas Gutmann kritisch einwendet (2015, S. 116), mit dem geozentrischen Weltbild zu verbinden. 235  Es reicht deshalb nicht, sie gewissermaßen zu Grundlagenwissenschaftlern im Nebenberuf zu machen, wie dies gelegentlich vorgeschlagen wird, etwa Rixen, S. 710. Rixen verkennt, dass es nicht um die Verdrängung der dogmatischen Fächer, sondern um die Wiederherstellung derjenigen Balance geht, die etwa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert selbst bei Positivisten die deutsche Rechtswissenschaft bedeutend gemacht hat. Vgl. auch Stolleis, S. 712. 236  Dies ist ein Aspekt von „integrativer Interdisziplinarität“, den Boden, S. 20 f., als „wahre“ Interdisziplinarität anspricht, „an enterprise in which some of the concepts and

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Sie müssen wissenschaftlich nicht „zwischen den Stühlen“ sitzen und in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, insofern sie das Erkenntnisinteresse der Hauptdisziplin, deren Grundlagen sie bearbeiten, im Blick behalten und den Nutzen für diese erweisen müssen.237 Dieser Nutzen besteht auch in der Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln der dogmatischen Rechtswissenschaften und schützt sie so vor „hyperspezialisierter“ und „kleinteiliger“ Forschung.238 Dass dies ein legitimes Anliegen insbesondere der philosophischen Grundlagenfächer ist, hat Kant nicht nur in seiner Kritik einer „bloß empirischen Rechtslehre“ mit der Ästhetik eines Holzkopfes, der zur Selbstreflexion unfähig ist, bildhaft ausgedrückt;239 vielmehr bedarf es der Ergänzung der Rechtsdogmatik durch die Grundlagenfächer und insbesondere der Philosophie.240 Die Grundlagenfächer widerlegen die Skepsis von Fish gegenüber Interdisziplinarität. Sie sind Beispiele für das Gelingen von Interdisziplinarität, die freilich nicht in der Entstehung neuer Disziplinen oder der bloßen Erweiterungen bestehender liegen muss.241 Daraus ergibt sich das folgende Schema der rechtswissenschaftlichen interdisziplinären Forschung: Rechtsdogmatik Grundlagenfächer Nachbardisziplinen, wenn sie Recht erforschen Erkenntnisobjekt

Recht

Recht

disziplinär (z. B. Urteile als Literaturgattung)

Erkenntnisinteresse juristisch

juristisch

disziplinär und kooperativ

Methode

interdisziplinär

disziplinär

juristisch

insights of one discipline contribute to the problems and theories of another – preferably in both directions“. 237 Lautmann 1971, S. 28. 238  Wissenschaftsrat, S. 35. 239 Dazu Gutmann 2013, S. 698. 240  KrV A 301/B 358, S. 312 „Es ist ein alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: dass man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren“. Kant, Naturwissenschaft, S. 11: „Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis, sein soll, heißt Wissenschaft“. Systematik leistet die Rechtsdogmatik sicherlich in einem Höchstmaß; doch umfasst diese Systematik nicht alle Dimensionen des Rechts als einer reflexiven Normenordnung. 241 Fish, S. 19: „Either … the announcement of an interdisciplinary program inaugurates the effort of some discipline to annex the territory of another, or ,interdisciplinary thought‘ is the name (whether acknowledged or not) of a new discipline, that is, of a branch of academic study that takes as its subject the history and constitution of disciplines“.

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5.  Psychische Aspekte Es geht an den objektiven Notwendigkeiten von Interdisziplinarität vorbei, wenn interdisziplinäre Forscher als einsame Rebellen gegenüber autoritären Disziplinaritätsstrukturen dargestellt werden.242 Interdisziplinarität fängt in den Köpfen der Wissenschaftler an.243 Der Wille von anderen Disziplinen zu lernen 244 und sich ihnen gegenüber verständlich zu machen,245 Aufgeschlossenheit, Flexibilität, Toleranz, Rezeptivität, Kreativität und Team-Play246 nutzen jedoch nichts, wenn die Ergebnisse des Lernens nicht disziplinär verarbeitet werden können.247 Die Möglichkeit dieser Verarbeitung bleibt umgekehrt ungenutzt, wenn Lernwille und Offenheit nicht hinzukommen. Eines der bedeutendsten Beispiele interdisziplinärer Arbeit, das für die Rechtsanthropologie grundlegende „The Chayenne Way“, verdankt sich dem Umstand, dass der Wirtschaftsrechtler Karl Llewellyn und der Anthropologe E. Adamson Hoebel genau diese persönlichen Fähigkeiten mit ihren fachlichen Kompetenzen zusammenbringen konnten und über die lange Zeit ihrer Kooperation eine gemeinsame Sprache entwickeln konnten.248 Toleranz, Takt gegenüber anderen Methoden sind hier ebenso wichtig, wie die Bereitschaft, Vorurteile abzubauen und eine gewisse Skepsis gegenüber eigenen Disziplingrenzen.249 Da die interdisziplinären Probleme aus dem Erkenntnisgegenstand und der Praxis bzw. der Gesellschaft kommen, heißt Lernen zunächst: auch auf wissenschaftliche Laien und Praktiker bei der Ausarbeitung interdisziplinärer Projekte zu hören.250 Sodann aber auch: auf die kooperierenden Disziplinen einzugehen. Solche psychische Aspekte von Interdisziplinarität setzen also die Erfüllung der erkenntnistheoretischen Bedingungen voraus und ergänzen und verkomplettieren sie. Organisatorische Maßnahmen wie etwa hinreichend häufige Begegnungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Disziplinen können die Lernwilligkeit und -fähigkeit erhöhen, indem das Verständnis für die anderen Wissenschaften, die zur Problemlösung beitragen sollen, vertieft wird. Inzwischen gibt es auch Vorschläge und Protokolle für eine Ethik der Interdisziplinarität.251 242  So ein Idealbild, das Balkin, S. 957, referiert: „Interdisciplinary scholars are romantic rebels: they question authority by transinary boundaries. They are champions in the service of a greater truth that transcends scholastic categories“. 243  Mittelstraß (2005, S. 1055) meint, dass sie „im eigenen Kopf anfangen muß – als Querdenken, Fragen, wohin noch niemand gefragt hat, Lernen, was die eigene Disziplin nicht weiß“. 244 Boden, S. 18; Weinstein, S. 354; Kalman, S. 246. 245 Hilgendorf, S. 921. 246  Um nur einige zu nennen, Cat, unter 3.3; Wohl, S. 382 f. 247 Rüegg, S. 37. 248 Klein 1990, S. 185. 249 Boden, S. 20. 250 Schmidt 2010, S. 40. 251 Balsamo/Mitcham, S. 270 rechnen zu den erforderlichen Tugenden: „intellectual generosity, intellectual confidence, intellectual humility, intellectual flexibility, intellectual integrity“.

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IX. Zusammenfassung Interdisziplinarität kann nicht versprechen, dass durch die wissenschaftliche Kooperation mit anderen Wissenschaften fertige Antworten für die eigene Disziplin geliefert werden. Dazu sind Erkenntnisinteressen, -methoden und organisatorische Integrationsfaktoren der Disziplinen zu unterschiedlich. Vielleicht werden sogar die Ergebnisse interdisziplinärerer Forschung aus disziplinärer Sicht als oberflächlich bewertet.252 Interdisziplinarität kann produktive Irritationen hervorrufen, Abschließungen gegenüber dem breiteren Zusammenhang und den Auswirkungen des Erkenntnisgegenstandes aufbrechen. Insofern kann Interdisziplinarität Innovationen anregen. Diese Irritationen müssen disziplinär verarbeitet werden. Sie müssen in das methodische und begriffliche Instrumentarium der jeweiligen Wissenschaften transformiert werden. Gerade in dieser Anstrengung der Weiterentwicklung der eigenen Kategorien und Methoden zum passenden Einbau von Fremdeinflüssen liegt die innovative Leistung von Interdisziplinarität. Ob sie darüber hinaus den Universalitätsanspruch des Rechts wissenschaftlich einfangen 253 und zur Einheit der Wissenschaften beitragen kann, ist wohl eher skeptisch zu beurteilen. Ohne Interdisziplinarität wird aber nicht einmal ein Schritt in diese Richtung unternommen und bleibt ihr Erkenntnisgegenstand ohne angemessene wissenschaftliche Verarbeitung. Hierzu bedarf es dauerhaft interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler, die sich in den beteiligten Wissenschaften auskennen, d. h. ihre Sprache (Begriffe, Methoden) verstehen und Übersetzungsleistungen erbringen können. Gelingt diese Transformation nicht, können sich neue Wissenschaften etablieren. In den Rechtswissenschaften übernehmen Grundlagendisziplinen diese Übersetzungsleistung. Sie erforschen häufig auftretende Einflussgebiete auf das Recht und Auswirkungen des Rechts auf andere Gesellschaftsbereiche in Kooperation mit den jeweiligen Fachdisziplinen. Ein Schlüssel für gelingende Interdisziplinarität ist der Rückgang auf oder die Entwicklung von Gemeinsamkeiten zwischen den Wissenschaften, seien es allgemeine Begriffe oder gemeinsame Methoden. Die auf dieser Basis gewonnen Erkenntnisse müssen dann freilich noch in den beteiligten Disziplinen spezifiziert und in deren Strukturen eingeordnet werden. Bei den Rechtswissenschaften liegt die Besonderheit vor, dass auch das Phänomen selbst selektiv mit seiner sozialen Umwelt umgeht, nicht nur die es ver252 Luhmann 1992, S. 642: „Da es aber, von den transdisziplinären Fächern einmal abgesehen, keine theoretische Integration der Disziplinen gibt, ist diese Form der Zusammenarbeit auf ein niedriges Theorieniveau gezwungen und bleibt in der Form von Projekten Episode, jedenfalls für die Weiterentwicklung der Forschung“. 253 Benedict, S. 375, der Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft vor dem Hintergrund des Universalitätsanspruchs des Rechts eine Selbstverständlichkeit nennt und sich dazu auf keinen Geringeren als auf Ulpian, Digesten 1, 1, 10, 2 „Iurisprudentia est divina­ rum atque humanarum rerum notitia“ beruft.

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stehende und weiterentwickelnde Wissenschaft. Das Recht wird nicht erst wie viele andere Phänomene durch die methodische Bearbeitung zu einem isolierten Erkenntnisgegenstand; es ist zwar vielen Einflüssen ausgesetzt und entfaltet breite gesellschaftliche Wirkung. Seine Besonderheit liegt jedoch gerade darin, dass es sowohl die gesellschaftlichen Einflüsse als auch seine Auswirkungen normativ und damit selektiv steuert. Das Recht ist daher schon durch seine Struktur dazu angetan, sich von anderen lebensweltlichen Gegenständen abzusondern. Dies verdoppelt gewissermaßen die Rechtswissenschaft durch ihre methodische Bearbeitung und ihrem Erkenntnisinteresse bei der Konstruktion des Erkenntnisgegenstandes. Soll nicht bereits durch die Forschungsweise diese soziale Besonderheit untergraben werden, muss auch die interdisziplinäre Forschung besonders sorgfältig angesetzt werden. Es müssen Felder sinnvollen interdisziplinären Arbeitens von solchen abgegrenzt werden, in denen die Rechtsdogmatik ihre systematische Arbeit weitgehend unabhängig davon verrichtet.254 Hier sind erst die organisatorischen Maßnahmen auch hinreichende Bedingungen von Interdisziplinarität. Organisatorische Interdisziplinarität kann verschiedene kommunikative Formen annehmen und zur internen Differenzierung einer Wissenschaft beitragen. Die Rechtswissenschaften haben einen dauerhaften interdisziplinären Diskurs in Gestalt ihrer „Grundlagenfächer“ – etwa der Rechtssoziologie, der Rechtsgeschichte oder der Rechtsphilosophie mit der Rechtstheorie – institutionalisiert. Die aus der Allgemeinen Rechtslehre als einer eng an die Dogmatik gebundenen Wissenschaft von den allgemeinen Rechtsinstituten des positiven Rechts hervorgegangene Rechtstheorie macht diese Interdisziplinarität deutlich. Sie vereinigt – wie die gleichnamige Zeitschrift in ihrem Untertitel hervorhebt – Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts.255 Unter dem allgemeinen Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaften, den Sinn des Rechts zu ermitteln und weiterzuentwickeln, wenden die Grundlagenfächer die Methoden der entsprechenden Wissenschaften an und rekonstruieren das Recht in dieser Perspektive. Das unterscheidet sie von der Beschäftigung dieser anderen Wissenschaften – also etwa der Soziologie, der Geschichte oder der Philosophie – mit dem Recht, da diese das Recht mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse ihrer Disziplin und ihren spezifischen Methoden untersuchen. Nimmt man das interdisziplinäre Anliegen Ernst, ergeben sich auch Auswirkungen für die juristische Ausbildung.256 Führende amerikanische Law Schools haben längst lebensweltlich komplexe Fälle ins Zentrum gerückt und behandeln diese Fälle aus den verschiedensten wissenschaftlichen Perspektiven.257 Dabei 254 Tomlins,

S. 966. van Hoecke, S. 85 ff., 86 und 88: „Der Hauptteil des Forschungsgebietes der Rechtstheorie ist also interdisziplinäre Integration, das heißt wenigstens: Einsatz außerjuristischer Kenntnisse beim Studium des Rechts, Integration von zwei Perspektiven, einer juristischen und einer nicht-juristischen; wenn möglich aber bedeutet es die Integration von mehreren Perspektiven“. 256 Weinstein, S. 319 ff., 351 f.; Stolleis, S. 713 f. 257 Krohn, S. 36 f. 255 Näher

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steht das kreative Problemlösen im Zentrum der Überlegungen.258 Jedenfalls gehört die Ausbildung in Basic Skills wie Argumentationstechnik, Aussagepsychologie, Sprachen und auch empirischen Analyseverfahren 259 zu den interdisziplinären Kompetenzen innerhalb der juristischen Ausbildung.260 Für junge Wissenschaftler ist ein gewisses interdisziplinäres Interesse und eine entsprechende Kompetenz längst Voraussetzung einer erfolgreichen Kariere und sollte nicht zu einem Verdacht hinsichtlich ihrer Kompetenz, lege artis zu argumentieren, führen.261 Juristen werden ein Verständnis für die entsprechenden nicht-juristischen Aspekte ihrer Entscheidungen haben und sich die Voraussetzungen dafür in ihrem Studium angeeignet haben müssen, um praktische Probleme bei der Ausfüllung offener Begriffe und Handlungsinstrumente oder auch bei der Bewertung des „Standes der Technik“ etc., lösen zu können. Erfolgreiche interdisziplinäre Wissenschaft und erfolgreiche praktische Arbeit am vielfältigen Gegenstand des Rechts setzt also auch eine interdisziplinäre Ausbildung voraus. Die Möglichkeit von Interdisziplinarität der Rechtswissenschaften ist somit selbst ein interdisziplinäres Problem, das nur im Zusammenwirken von Rechtswissenschaften und Philosophie bewältigt werden kann.

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A Dynamic Model of Interdisciplinarity Moving from Multidisciplinary to Interdisciplinary or Transdisciplinary Legal Research Bart van Klink and Sanne Taekema

Zusammenfassung In der heutigen Wissenschaft ist es immer mehr üblich, ein Problemfeld aus verschiedenen Perspektiven und anhand unterschiedlicher Methoden anzugehen. Eine rein monodisziplinäre Betrachtungsweise scheint nicht länger auszureichen, die Komplexität des Forschungsbereiches zu erfassen. Auch in der Rechtswissenschaft findet man heutzutage, neben der traditionellen dogmatischen Forschung, oft interdisziplinäre Ansätze. Hinter dem Stichwort ,Interdisziplinarität‘ verbirgt sich jedoch eine Menge von verschiedenen Forschungspraxen. In diesem Beitrag werden fünf unterschiedliche Typen interdisziplinärer Forschung in der Rechtswissenschaft unterschieden. Anschließend vergleichen wir unsere Typologie mit einem alternativen Modell und konfrontieren sie mit einer neuen Entwicklung in der Wissenschaft: transdisziplinäre Forschung. Ist Transdisziplinarität wirklich etwas Neues, wie ihre Anhänger behaupten, oder ist sie eine besondere Art interdisziplinärer Forschung? Zum Schluss wird gezeigt, wie man aus den verschiedenen Typen interdisziplinärer Forschung eine wohlüberlegte Auswahl treffen kann und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen sind.

I.  Crossing Borders Law is a peculiar subject to study. It has its own organizations and institutions, professionals, texts and vocabulary; these are all attributes that mark it as a specific domain. But whenever you open a newspaper or engage in a social activity, you cannot avoid stumbling upon law. As scholars of law, we are trained to notice the particular nature of the domain and the way law brings a particular perspective to everyday life, transforming it into something that is legally relevant. Thus, we learn to think like a lawyer and, in the process of studying law, to participate in the legal discipline. As an academic discipline rather than as a domain of society, law is similarly marked by a particular language, methods of research, and problems to be researched. How to ensure equality of arms in the courtroom, the impact of changed circum­

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stances on the meaning of a contract, the legal limits on the powers of administrative agencies: an endless list of topics can be made that are squarely within the discipline of law as traditionally understood. Over the past decades, however, legal scholars have become increasingly dissatisfied with a purely legal approach and are attending to other disciplines to enlarge their scope. Many research topics that seem legal at first sight turn out to have non-legal dimensions on closer consideration, dimensions that require a move into the territory of other disciplines. When this happens to you, there are a number of options. You can reformulate your research question in such a way that the interdisciplinary component of the research disappears. In other words, you decide to stick to a strictly legal approach. There is nothing wrong with that as such, but you may miss the opportunity to explore new ground and to discover new things. Or you can simply head for the library and see what you can find that relates to your topic. That strategy will probably yield piles of books in which you can barely locate what is relevant. Since you are working in a very haphazard fashion, you may risk to find nothing of interest or to miss the most important publications. Or you can approach it in a more methodical way, by first identifying the relevant discipline(s), finding out what the basic features of that discipline are, and then searching for the relevant material. In our contribution, we distinguish various types of interdisciplinary research and we will show how you can choose a suitable approach, depending on the purpose of your research. In section 2, we will provide a model to understand the different ways in which an interdisciplinary research project can be set up, mapping the differences according to the extent of the interdisciplinary work in a project. In section 3 we compare our model with an alternative model and confront it with a new trend in scientific research: transdisciplinary research. Is transdisciplinarity really a new type of research, as its adherents believe, or can it be accommodated within our model? In section 4, the advantages and challenges of each approach will be discussed in order to facilitate a prudent choice between the different types of interdisciplinary research. Finally, in section 5, we will point briefly to two pitfalls when doing legal research.1

II.  A Dynamic Model of Interdisciplinarity When we consider the ways in which a researcher may engage in interdisciplinary research, the possibilities are numerous. In order to map the practice of interdisciplinary research in a systematic way, we can construct a dynamic model of interdisciplinarity.2 We believe a typology of research can be made on a scale 1  An earlier version of our model, including a discussion of the advantages and challenges of each approach, is published in Taekema/van Klink 2011. However, we have updated, extended and revised this text here on several points. 2  The following typology owes much to discussions with W. van der Burg, who proposes a similar typology (Van der Burg 2008 and Van der Burg 2011).

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which is based on how extensive the input from other disciplines in a research project is. This means that we first need to identify the elements that determine the perspective of a particular discipline in order to assess how far the interdisciplinary work moves beyond the single discipline. The first, most conspicuous, feature of a discipline is the particular set of concepts it uses and the way it uses theses concepts. The core concepts of disciplines differ, and even if they do use similar concepts, the interpretation they give to them differs. The second element consists of the methods used by a discipline. A method can be described as a structured and established way of acquiring knowledge. For instance, in order to determine the temperature, meteorologists (as well as people in everyday life) use a thermometer. Although many disciplines use a variety of methods, there are always a few favoured methods that are characteristic of a discipline. Again, even if such methods are broadly shared with other disciplines, the way a discipline uses and develops them is distinctive. For example, textual analysis is a core method for legal scholars and literary scholars alike, but the actual analyses in practice are very different. Whereas literary scholars compete to find the most original interpretation, legal scholars usually try to remain faithful to the original intent of the law drafters. Some of these differences derive from the other elements that characterize a discipline. The third element is the object of the discipline: the aspect of reality or experience that is studied. For some disciplines, the object is the clearest indicator of the boundaries of the discipline; think of astronomy or archaeology. For other disciplines, however, the character or scope of the object is contested, law being among these. Legal scholars differ fundamentally on the issue what it exactly is that they are studying. The fourth element is what we would like to call the problem awareness of a discipline and the resulting problem definitions. Different disciplines perceive different problems. This also explains the different approaches to the same basic object; for example, the human body as an object of research is approached differently by biology, medicine or anthropology. A medical scholar might be interested to find the cause of a certain mortal disease and there she has to make a thorough internal investigation of the body. An anthropologist, on the other hand, is not interested in physical processes but wants to understand why people in a certain group deal with sickness and death the way they do (e.g., why they have certain rituals for caring and burying). For that matter, it is more relevant to observe outward behaviour and ask people about their inner motives. The fifth element is the research goal or goals pursued by a discipline. A common distinction is that between descriptive and evaluative research: the first aims at a correct description or explanation of a phenomenon, the second at a normative evaluation. To take law and sociology as an example: both sociologists and lawyers take law as an object of research, but sociologists claim to do no more than describe how the legal system works in reality, while lawyers evaluate the legal system in terms of legality, appropriateness, or coherence.3 Moreover, disciplines 3  Although this is a common way of describing the difference, not everyone agrees. ­There are sociologists (e.g., Selznick) who also think it is their task to evaluate (especially

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or different approaches within a discipline may also differ with respect to the goal or goals connected to the description or evaluation. For instance, a socio-legal ­description of court proceedings may aim at understanding the inner motives of the legal actors involved or at explaining their overt behaviour. Similarly, evaluation of an existing legal rule may be done for the purpose of improving the rule. The five characteristics of an academic discipline enumerated here are not the only characteristics that form disciplines. These five are characteristics that are important from the perspective of one’s philosophy of science; they are characteristics that become apparent when you ask yourself how the concept of a discipline is related to the concept of scientific research. In addition, a common way of understanding a discipline is from the perspective of the sociology of science. Sociologically, disciplines are characterised by the interactions of the groups of people engaged in the discipline, e.g. by the way newcomers are educated and socialised into the norms of the group, or by the hierarchy within research organisations such as university departments (which are often organised along disciplinary lines) and the pressures that arise from such organisational hierarchies.4 In this chapter we will put the emphasis on the philosophical characterisation of disciplines – in terms of the concepts used, the methods applied, the goals pursued and so on (as opposed to the discipline’s social organisation) – because those characteristics are closely related to the theoretical problems of interdisciplinary research. Using the five determining elements explained above, we may describe different types of interdisciplinary legal research as moving from a monodisciplinary towards a fully integrated interdisciplinary perspective. The most important issues arising in the practice of interdisciplinary research relate to the problem definition (Is there a collaboration between disciplines on the problem definition?) and to the concepts and methods of the different disciplines (How is the research itself conducted?). Research combining different disciplines is often referred to as multidisciplinary research. In the following, the first three types can be grouped together under the heading of multidisciplinary research, by which we mean research combining disciplines in some way, without aiming at integration. We cannot avoid using the term ‘interdisciplinarity’ in two ways: broadly, to refer to any type of research that involves another discipline in some way and, narrowly, to refer to research that achieves genuine interaction between the combined disciplines. Our model is a model of interdisciplinarity in a broad sense, types 4 and 5 are interdisciplinary in a narrow sense.

the success of law in coping with societal problems, see for instance Selznick) and there are lawyers who think their main task is the description of legal norms (e.g., Kelsen). We will return to this topic in the next section. 4  Most of the authors discussing interdisciplinarity use both philosophical and sociological criteria to characterise disciplines, see e.g. Balkin, pp. 954 – 957 and Vick, pp.  167 – 170.

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1.  Multidisciplinary research Type 1: Heuristic The first type of legal research that moves beyond the discipline of law is research that uses other disciplines heuristically. In such research the legal discipline provides the problem definition, but the researcher looks for useful material in another discipline. Once relevant material is found, the researcher incorporates that material in a legal argument. The other discipline is used only as a source of argument or inspiration. An example of this type is the way great books are often used in law and literature research by lawyers. A lawyer might use Bleak House by Charles Dickens to argue that legal procedures have an alienating effect on ordinary people. In itself, the claim distilled from the novel is not a valid argument in legal research: such a claim would still need to be justified within the discipline of law, on the basis of recognizable legal concepts, to be recognized as a legal argument. For the heuristic type, the perspective of the research as a whole remains within the legal framework. Type 2: Auxiliary The second type of legal research uses other disciplines as auxiliary disciplines. The legal researcher defines a problem, which he cannot solve with legal methods only, so that there is a need for input from another discipline. Most often there will be a reason for that problem that is external to the legal framework, which is perceived as demanding a legal response. In this type of research, material derived from the auxiliary discipline serves as a necessary contribution to the legal arguments. The validity of the contributing argument is not determined in terms of the legal discipline only: it needs to be a valid argument within the auxiliary discipline itself. This type is exemplified by research that uses material from an empirical science. For instance, research in environmental law may use biological research to argue for the protection of ecosystems instead of the protection of separate species in legislation. In order to make valid use of that argument within law, the interdependence of species within ecosystems needs to be an accepted view within the field of biology. However, the conclusions of such research are still legal conclusions. They will concern the regulation of ecosystem protection, and they will not include independent claims on the biological issue of ecosystems. The research from the supporting discipline is only one element in a larger legal framework. Increasingly, legal scholars also borrow methods from other disciplines, mainly the social sciences. In these cases, it is not a substantive argument, but a particular methodological approach that is borrowed to research a legal question. For example, particular techniques from qualitative social science research, such as the semi-structured interview, may also be used in an otherwise completely legal research project.5 As with the substantive argument, here too a good use of the 5 E.g.

Jaremba/Mak.

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method from the non-legal discipline requires that the standards of the auxiliary discipline for good interviewing need to be respected. Type 3: Comparative The third type of research is comparative, treating two disciplines as equally important perspectives. In such research, each of the disciplines provides a definition of the central problem. There is no dominant perspective, and the core of such research is a comparative study of the two disciplines. This type can be best understood by using the parallel of comparative law. According to radical theorists of comparative law, such as Pierre Legrand, comparing entails immersing oneself in the cultures of both legal systems. The perspective of a whole legal culture, or in our case, a whole discipline, needs to be included in order to make an even comparison between two disciplines possible. In this type of research, the whole research process is doubled: from problem definition to conclusion, the two disciplines work within their own terms. Such comparative research is an attractive model if a research group with participants from different disciplines can be formed: each researcher brings in a complete disciplinary framework and has a primary interest in justifying the research project in his own terms. 2.  Interdisciplinary Research (in a Narrow Sense) Both the fourth and the fifth type, perspectivist and integrated interdisciplinary research, move from the side-by-side comparison towards integration of perspectives. Primarily, this means that interdisciplinary research (in a narrow sense) starts with a joint problem definition and ends with a conclusion that is justified for both disciplines. However, to what extent the whole research process can be integrated is debatable. Of the theorists who think interdisciplinary research is possible, not everyone has the same view of the extent to which interdisciplinarity can be achieved. The determining factor here is one’s position on philosophy of science. If you believe that every scientific project is limited by its particular disciplinary or theoretical outlook and that it is impossible to leave that perspective behind, integration of perspectives is not possible. If, on the other hand, you regard scientific projects as problem-based and the perspectives used as fluid and changeable, integration is both possible and the most promising in terms of solving your research problem.6 Type 4: Perspectivist First, we may distinguish interdisciplinary research as perspectivist.7 Such research switches between two disciplines, using the concepts and methods of each. The first position is taken by van der Burg 2011, pp.192 – 193, the second by Taekema and Taekema/van Klink. 7  A term explained in van der Burg 2007, p. 2. 6 

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The conclusions will also be perspectivist: there is not a coherent single answer, but a necessary co-existence of two disciplines. Neither discipline can provide the whole answer, nor can the disciplines give up their own framework. An example of perspectivist research is the research into violence by Kees Schuyt.8 Schuyt argues that violence has been studied extensively from a monodisciplinary point of view, but cannot be completely understood either from a psychological, a sociological or an anthropological perspective. All three disciplines, and more, are necessary for a complete understanding. Schuyt proposes a theoretical framework in which each discipline has its place: ranging from the explanation by personal factors to intercultural factors. A switch in perspective seems necessary to move from one layer in the framework to the next. Type 5: Integrated Secondly, interdisciplinary research can be seen as integrated interdisciplinary research. In this case, the research process itself contains elements from both disciplines and the researcher welds together the concepts and methods from each or applies a more general methodological approach to both. Application of the general methods of hermeneutics to both law and philosophy might serve as an example of the latter. An example of the integration of elements from two disciplines may be found in James Boyd White’s research in law and literature. He brings together concepts and methods from the legal and the literary perspective to create a new approach to both legal and literary texts. Although integrated interdisciplinary research is the most extensive form of combining disciplines in research, we may question whether this type of research remains interdisciplinary.9 This is one of the main reasons why the model is a dynamic model: the practice of research moves on and the relationships between disciplines change continually. If we look at historical developments of scientific disciplines, it is clear that these are not stable. At times, a segment of an existing discipline may branch off to form a new one, as, for example, psychology separated from philosophy at the end of the nineteenth century. The result of integrated interdisciplinary research may also be the birth of a new discipline. For instance, we may argue that history of law and sociology of law have developed concepts and methods that are their own and that they can be regarded as a new specialized discipline. Such a development not only takes time, but also requires a favourable institutional setting: there needs to be a substantial group of people working in the field, support from academic organizations, and so on. For many other fields of interdisciplinary research, the question at this point in time is whether the conditions are favourable for the development towards a new discipline. In some instances, it seems that combining law with another discipline does not move towards integraSchuyt , pp. 87 – 89. Some theorists, like J.M. Balkin, deny that integrated interdisciplinary research is possible. Balkin sees the dynamic of disciplines as a move from a supporting relationship to a change of the discipline or possibly the formation of a new discipline. 8 

9 

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tion, but slides into a subordination of law to the other discipline.10 For instance, certain branches of law and economics research seem to use law only as input for economic research and deliver conclusions that remain alien to the legal field, for instance by requiring that the legal system should be more efficient. Here, the result of the dynamic of interdisciplinary research may be a position for law as a supporting discipline.

III.  Interdisciplinary and Transdisciplinary Research During the last 25 years a new type of scientific research has emerged, presenting itself under the name of transdisciplinary research.11 According to its adherents, transdisciplinarity is a new phase in scientific research which comes after multidisciplinary and interdisciplinary research. What does this type of research consist of and in what respects does it differ from the earlier crossdisciplinary approaches? In the literature, various definitions can be found. Pohl12 distinguishes three concepts of transdisciplinary research: concept A of transdisciplinarity refers to research “that transcends and integrates disciplinary paradigms in order to address socially (as opposed to academically) relevant issues”; concept B encompasses concept A and adds to it the participation of non-academic actors, that is, “stakeholders” who have to deal with the problem at hand on a practical level; and concept C adds to concept A the “search for a unity of knowledge.” Taken together, transdisciplinary research seems to be a kind of applied science that aims at solving a specific social problem, for instance sustainability or hunger, together with the social actors involved. Although it also claims to contribute to the body of knowledge, its main purpose is not to clarify a scientific problem for its own sake, but to find a practical solution for an urgent social need in real life. It is directed at challenging “dominant assumptions and power structures” and guiding “social change”.13 The approach, or approaches taken, and the methods to be used are adjusted to the social problem at hand and are developed during the research process itself in a deliberation among the participants (experts, practitioners, policy-makers, and so on). In terms of our model, transdisciplinary research has more in common with interdisciplinary research (in the narrow sense) than with multidisciplinary research. Various disciplines are involved in transdisciplinary research. For instance, insights from law, economics, biology, psychology and anthropology may be used in order to address the hunger problem in Africa. In conflict management studies, the solution of interpersonal conflicts is approached with a combination of psychology, ethology, law, management studies and the practical art of diplomacy.14 In such projects, there is no hierarchical relation between the disciplines involved. A phenomenon that resembles what Balkin, pp. 960 – 961 refers to as colonization. Wickson/Carew/Russell, p. 1047. 12  Pohl, pp.  619 – 620. 13  Popa e.a., p. 10. 14  De Roo. 10  11 

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As opposed to heuristic and auxiliary interdisciplinary research, there is no single target domain to which knowledge from one or more source domains is transferred. Unlike comparative interdisciplinary research, the goal is not to compare disciplines but to use them for solving a social problem. As Christian Pohl15 indicates, transdisciplinary research aspires to “transcend and integrate disciplinary paradigms.” For that purpose, in the research process a shared problem definition, value-orientation, vocabulary and methodology have to be established among the participants with different disciplinary and professional backgrounds. However, in practice this is not always achieved, which leaves room for conflicting truths. The latter possibility is explicitly acknowledged by transdisciplinary scholars. In order to deal with these conflicting truths, Wickson, Carew & Russell16 suggest (after S. Henagulph) an alternative epistemology: “Instead of an either/or approach to understanding the nature of reality, the idea of different levels of reality and the ‘logic of the included middle’ enables us to conceptualise a way in which something can be both A and non-A.” One could say that, in its ambition to create a new, unified approach on the basis of various disciplines, transdisciplinary research is integrative (concept C in Pohl’s classification), but when it does not succeed in, or does not aim at, integrating the disciplines involved, it remains perspectivist (concept A and B in Pohl’s classification). Wickson, Carew & Russell17 discuss several differences, drawn in the literature, between multidisciplinary and interdisciplinary research on the one hand and transdisciplinary research on the other hand. To begin with, some scholars have suggested that multidisciplinary research is organized around a theme, whereas transdisciplinary research is focused on a problem. According to us, multidisciplinary research is not necessarily centred on a theme but may be problem-oriented as well. For instance, in law knowledge from psychology can be used in order to find the best approach for discouraging reoffenders to commit the same crime again. Moreover, it is stated that in multidisciplinary research the approaches involved keep their disciplinary autonomy. We can subscribe to that, but that does not apply to integrative interdisciplinary research in which concepts and methods from two or more disciplines are combined or an overarching approach is developed (see section 2). Wickson, Carew & Russell18 argue that, “in contrast, a TD [that is, transdisciplinary, BvK/ST] approach calls for development of methodology that involves an interpenetration or integration of different disciplinary methodologies and, ideally, epistemologies” Following R.J. Lawrence, they distinguish a “fusion” from a “mixing” of disciplines (ibid.). However, a fusion and a mixing of disciplines (whatever the exact difference between them) are both part of our understanding of integrative interdisciplinary research: in perspectivist research different methodologies are used next to each other, whereras in integrative research Pohl, p. 619. Wickson/Carew/Russell, p. 1054. 17  Wickson/Carew/Russell, pp.  1049 – 1052. 18  Wickson/Carew/Russell, p. 1050. 15  16 

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some common methodology is created. Finally, it is argued that transdisciplinary research, in contrast to other crossdisciplinary approaches, is usually a collective effort: knowledge is generated in a coproduction between researchers and stakeholders.19 According to Popa20 e.a., collective knowledge generation requires a high level of reflexivity in the research group with respect to, among other things, “the normative and epistemological orientation of the research” and the “socially relevant framing of research problems.” In our model, this is no defining feature, because it relates to the research process and its organization and not to the content of the research itself, that is, the concepts and methods used by the participants and the outcomes of their collective research. The main difference we see between interdisciplinary and transdisciplinary research is the involvement of non-academic participants. If a research problem is defined primarily by professional or other social actors, this may lead to a rather different starting point than if a research problem is defined on the basis of one or more academic disciplines. However, in the course of the research that distinction between kinds of problem definition will probably be blurred. The research will have to be conducted by using the methods of the academic disciplines involved, and conform to academic standards. The conclusions of the research will be made available to the social partners, or stakeholders, possibly using a different vocabulary again to make them more accessible. However, to us it seems that the cooperation between academic and non-academic partners will be limited to the starting and concluding phases of the research, while the conducting of the research itself will be primarily academic in nature. In conclusion, we see no essential differences between transdisciplinary research and interdisciplinary research (in the narrow sense) in the way concepts and methods from different disciplines are used. In our view, transdisciplinarity constitutes a specific kind of interdisciplinary research, either perspectivist or integrative, that is applied and problem-oriented and that includes social actors in the research process.

IV.  Interdisciplinary Research: Choosing Your Approach How to choose between the different kinds of research? Depending on the type of questions you want to answer and one’s own interests and capacities, you can decide either to stick to traditional monodisciplinary research, possibly with heuristical or more substantial input from another discipline, or to adopt a comparative or interdisciplinary approach. Fundamental choices and beliefs in particular with respect to nature of truth, the epistemological status of concepts, the relation between facts and values, the aims of scientific research, determine the place that in19 

It is not ruled out completely that one person can do it on its own, but it is considered, for obvious reasons, to be very difficult. 20  Popa, p. 6.

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terdisciplinarity can have.21 In our view, taking a particular approach to the nature of science is inevitable, a choice which entails the extent of interdisciplinary work that fits that particular perspective on scientific research. However, every approach has its possibilities and limitations. In this section, we will discuss briefly the main advantages of different types of research, as described in our dynamic model of interdisciplinary (section 2), and the most important challenges or risks each of them faces. (i) To begin with, monodisciplinary research into law consists in the collection, analysis and systematization of legal norms that are promulgated by the legislature and applied by the courts, in many cases together with an assessment thereof on the basis of legal or other (e.g., political, ethical, or sociological) standards. Traditionally, it has always been the task of the science of law to describe the content of the law in the past as well as in the present. Since the law changes continuously, there will always be enough work for such monodisciplinary research. Different actors in society can profit from the knowledge accumulated by the science of law: from politicians who want to contest the legality of some draft or bill in Parliament to citizens who aim at getting their right before the court. According to Kelsen and other legal positivists, legal science should limit itself to a representation of the legal system as it is and to an assessment of its logical consistency, because otherwise it would lose its distinctive character and thereby its scientific raison d’être. However, legal scholars who are working within a natural law or interactionist framework reject a strict is/ought distinction and, therefore, consider evaluation to be an integral part of legal science. Scientifically speaking, a major advantage of a monodisciplinary approach that has been developed and refined over centuries is that a high level of harmonization in concepts and methods has been reached. Legal scholars have created a shared language to describe legal norms and hermeneutic tools to apply them to concrete cases. At the same time, when concepts and methods are more or less stabilized, there will be limited room for innovation. Innovation in the description and application of legal norms is not even considered to be an ideal to strive for within a traditional conception of legal science. Unlike the literary scholarship, legal science is not interested in producing the most creative or original interpretation of authoritative texts but in representing them in the most precise and accurate way. On the contrary, in order to protect the value of legal security, it is important that the legal system is presented as much as possible as a unified and univocal whole. A monodisciplinary approach to law, restricting itself to a representation and evaluation of the existing body of law on the basis of pre-established concepts and methods, does not, and does not intend to, contribute to major innovations in scientific methodology and vocabulary. In terms of Kuhn,22 it is a form of normal science which values craftsmanship and a skillful use of the existing tools over innovation. Taekema/van Klink, pp. 14 – 23, we elaborate on these fundamental philosophical issues. 22  Kuhn, pp.  23 – 43. 21 In

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(ii) More room for innovation is created when a legal scholar turns to another discipline in order to get inspiration. In this case, the source discipline is used as a heuristic device for generating new insights from which the target domain – the legal science – may profit. These new insights will be evaluated according to values and truth criteria internal to the science of law. For instance, philosophical theory may indicate that interpretation of legal texts is never a matter of sheer subsumption but always is a creative process. In order to make this insight acceptable to legal science, it has to be justified in terms of its internal values, such as reasonableness or fairness. However, legal scholars who prioritize legal security over the fore-mentioned values will be inclined to reject this insight. Because external input is controlled by and mediated through internal standards, the heuristic approach has the same advantage as the monodisciplinary approach that it protects the unity of the concepts and methods used. An important weakness of the heuristic approach is, exactly because the external input has to be justified exclusively in internal terms, that the new insights are generated in a non-systematic, accidental and arbitrary way. Anything can be a source of inspiration to the science of law, not only other scientific disciplines but also novels, movies or long strolls along the sea. From the viewpoint of legal science it does not make a difference where the insights are taken from or how they are discovered, as long as they can be justified in legal terms; they have no argumentative force on their own. (iii) If a legal scholar treats the source discipline not merely as inspiration but as a necessary contribution to the science of law, the transfer of insights may acquire a more systematic and less arbitrary character. That is only possible if one considers the task of legal science to be more than just the representation of the legal system and an assessment of its internal consistency; it should include also the development and improvement of the existing legal system. Otherwise, if legal scholars are seen solely as the bookkeepers of the law, there would be no need for external input. Suggestions for developing and improving the law may be taken from different sources. According to Niklas Luhmann,23 sociology constitutes a “necessary preparatory science for the science of law” that has to pave the way for legal decisions. However, that raises the question why one source domain – in this case: sociology – is favored. Moreover, the problem is how to assess the quality of the external input. One has to be trained in two disciplines to be able to take a stand in debates that take place within these disciplines. If not, one has to rely on authoritative sources, but these may be contradictory. A final risk connected to the transfer of insights from one domain to the other is that the unity of concepts and methods used in the target domain is disturbed. For instance, what will happen when the economic distinction between efficient and inefficient is inserted into the legal vocabulary? (iv) In comparative research all these risks are duplicated, because the transfer of insights is not one-way, as in the previous approach, but two-way: the disciplines involved are source and target domain at the same time. To be capable of 23 

Luhmann 1981, pp. 294 – 295.

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doing this, a scholar has to be at home in both disciplines. If so, he does not have to rely on authorities but can assess himself the quality of the imported knowledge. The transplantation of foreign terminology into a scientific discourse may lead to misunderstandings.24 Moreover, problems may arise when disciplines produce contradictory insights. From a sociological point of view a legal norm may seems invalid because it is not applied anymore, whereas from a legal perspective the act may still be considered valid law because it was created on the basis of a higher legal norm. In other words, how to secure coherence in knowledge claims in a multidisciplinary approach? At the same time, comparative research offers good opportunities of innovation in the target as well as in the source domain, if a fruitful interaction between the two can be established. (v) Finally, an integrative approach offers the best opportunity for exchanging knowledge. Science is freed from accidental and conventional disciplinary boundaries. However, by transgressing boundaries, disciplines lose their distinct character and may become more and more identical. Moreover, in its effort to see everything from all sorts of perspectives at the same time, an integrative approach may end up seeing nothing at all. Paradoxically, the more successful an integration of disciplines is, the more it resembles a monodisciplinary approach, with all its advantages and disadvantages. As a particular kind of interdisciplinary research (either perspectivist or integrative), transdisciplinary research shares the pros and cons connected to interdisciplinary research in general. Additionally, there are some challenges that apply specifically to this kind of research. Transdisciplinary research is attractive in particular if one wants to find an overall solution for an urgent and complex social problem which cannot be solved by the separate disciplines on their own. For instance, to improve environmental sustainability, legal solutions alone are not enough. Because transdisciplinary research is usually carried out in a research group, it is necessary that the participants reach an agreement on the problem definition, value-orientation, vocabulary and methodology. This will be no easy task, since the participants can have very different disciplinary and professional backgrounds: they may be trained in natural sciences, social sciences or the humanities, they may be scholars, politicians, political activists and so on. More fundamentally, the question is whether it is possible to devise a shared conceptual and normative framework and a common methodology, building on very different research traditions. Unification seems to be possible only if one is willing to give up basic concepts, values and methods typical for a discipline or to accept that a research can produce conflicting truths. Consequently, the disciplines involved risk to lose their distinctive character or end up in positing incompatible truth claims.

24 

Luhmann 1991, p. 457.

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V.  New Insights Initially, we started from a dichotomy between an interdisciplinary approach to law and a monodisciplinary approach. By distinguishing different types of legal research in our dynamic model of interdisciplinarity, we are in a position to make this opposition less rigid. On the one hand, a monodisciplinary approach to law does not by necessity exclude the possibility that legal science profits from insights from other disciplines, if only in a heuristic way. On the other hand, an interdisciplinary approach that is successful in integrating knowledge from different sources may at some point become a discipline in its own right. With Arbib & Hesse25, we believe that a direct and ‘full’ access to reality is impossible. Our knowledge of the world is always mediated through some disciplinary perspective or other. Whether you want to stick to one perspective, that is the still dominant legal perspective as defended by positivism, or try to transcend this perspective by confronting it with other (sociological, political, ethical, economical etc.) perspectives is a matter of personal choice – a choice that will depend on your convictions on fundamental philosophical issues. If you believe, with Kelsen, that the methodology chosen determines your object of research, no interdisciplinary exchange whatsoever is possible. The concepts and methods used in the science of law may suffice when your aim is simply to describe the existing body of law. Many legal scholars nowadays have a more relaxed epistemology and are more and more willing to explore and cross disciplinary boundaries. They do not consider the law to be a stand-alone system of norms, but they are interested in the context in which the law operates, that is, in the relation between law and society, law and power, law and ethics and so on. Therefore, they take into account the outcomes of empirical and theoretical studies, together with the vocabularies and methodologies developed in other disciplines. At the two extremes of our model of interdisciplinarity, there are two pitfalls that in our view need to be avoided: at the one end, a strict monodisciplinary approach that only recycles existing information and adds nothing to the existing body of knowledge and, at the other end, an over-inclusive interdisciplinary approach which mixes and mixes up perspectives in an undifferentiated and superficial fashion. Between these extremes, meaningful exchanges between different disciplines are possible. However, these exchanges will not always be peaceful, since different disciplines will use concepts and methods differently, or may at first not recognize each other’s methods, or may support different values and so on. From these clashes, new insights may spring.

25 

Arbib/Hesse.

A Dynamic Model of Interdisciplinarity

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Rechtswissenschaft als normative Disziplin* Banalität, Komplexität und Brisanz der Klassifikationsfrage Matthias Jestaedt

I. Klarifikation durch Klassifikation Rechtswissenschaft ist eine normative Disziplin. Das wirkt wie eine banale, nachgerade tautologische Aussage. Man wäre geneigt, die Gegenfrage zu stellen: Was anderes als eine normative Disziplin soll die Rechtswissenschaft denn sein? Und welche weitergehende, nicht-redundante Erkenntnis ist mit dieser Klassifikation überhaupt gewonnen? Doch würde damit nicht nur die Komplexität, sondern auch die Folgenträchtigkeit übersehen, die in der Prädizierung als normative Disziplin steckt. Denn erstens sind sowohl der Begriff als auch der Bezugspunkt des Normativen vieldeutig. Zweitens ist die Rede von „der“ Rechtswissenschaft präzisierungsbedürftig und infolgedessen die Klassifikation als normative Disziplin gegebenenfalls differenzierungsbedürftig. Und drittens ist damit auch die Frage, in welchem Ausmaß und mit welcher wissenschaftstheoretischen wie -praktischen Konsequenz die Rechtswissenschaft normative Disziplin ist, noch keineswegs geklärt. Lässt sich aber in mehrfachem Sinne aussagen, dass Rechtswissenschaft – nur oder auch, teils oder zur Gänze – eine normative Disziplin ist, so zeitigt die Klassifikation auf der Grundlage einer entsprechend differenzierten, d. h. multiplen Taxonomie eine ordnende, Unterscheidungen und Zusammenhänge (er)klärende, Missverständnisse und Kurzschlüsse aufdeckende Funktion. Damit würden bedeutsame wissenschaftsimmanente Erkenntnisgewinne erzielt: Klarifikation durch Klassifikation. Die Klassifikationsfrage, ob und inwieweit ausgerechnet die Rechtswissenschaft eine normative Disziplin ist, unterscheidet sich insofern nicht grundsätzlich von analogen Fragen in Bezug auf andere Wissenschaftsdisziplinen wie beispielsweise die Soziologie, die Philosophie oder die Politikwissenschaft. Brisanz und Alleinstellung kommen Ob und Wie der Klassifikation der Rechtswissenschaft als normative Disziplin allerdings in ihrer rechtspraktischen – und damit über den Bereich der Wissenschaft hinausgehenden – Wendung zu. Ein derartiger „Praxis-“ und insoweit Ernstfalltest ist anderen Disziplinen fremd. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob Aussagen der Rechtswissenschaft, die sich im Gewand der Rechtsdogmatik als anwendungsbezogene Steuerungs- und Entschei* Eric Hilgendorf danke ich für die Erlaubnis, den für das von ihm herausgegebene „Handbuch Rechtsphilosophie“ verfassten Beitrag hier – mit wenigen Modifikationen – abdrucken zu dürfen.

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dungswissenschaft begreift, normativen Status im Sinne von recht(serheb)lichen Aussagen, sprich: von Rechtsnormen besitzen. Anders gewendet: Kann mithilfe von Rechtsdogmatik Recht erzeugt werden? Überspringt die Rechtswissenschaft in Gestalt der Rechtsdogmatik die Teilnehmer-Beobachter-Disjunktion? Im bejahenden Falle käme der Rechtswissenschaft im denkbar stärksten Sinne Normativität zu: sie besäße rechtsbegründende und rechtsändernde Macht.

II.  Kelsens Rubrizierung der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft Der elaborierteste und prägnanteste Versuch, das Normative an und in der Rechtswissenschaft zu bestimmen, stammt von Hans Kelsen (1881 – 1973), dem Begründer der „Reinen Rechtslehre“, d. h. einer „von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte[n], ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte[n] Rechtstheorie.“1 Seine mehrschichtige Rubrizierung der Rechtswissenschaft als normative Disziplin – oder, gleichbedeutend, als Normwissenschaft – dürfte nach wie vor in ihrer Prägnanz, Konsequenz und Stringenz unübertroffen sein. Wenigstens sechs Aspekte lassen sich auf der Grundlage von Kelsens Aussagen als Ausdruck und Folge (der Rubrizierung) der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft identifizieren: (1) Indem (und insoweit, als) die Rechtswissenschaft sich dem Phänomen des Rechts in seiner Spezifik („Eigengesetzlichkeit“) – hier also: seiner Rechtlichkeit – zuwendet, wirkt die Rechtsnorm sozusagen wie ein wissenschaftlicher Wahrnehmungs- und Selektionsfilter: „Die Rechtswissenschaft sucht ihren Gegenstand ‚rechtlich‘, das heißt: vom Standpunkt des Rechts aus zu begreifen. Etwas rechtlich begreifen kann aber nichts anderes bedeuten, als etwas als Recht und das heißt: als Rechtsnorm oder als Inhalt einer Rechtsnorm, als durch eine Rechtsnorm bestimmt begreifen.“2 Kommunikationen und Relationen können folglich nur als Rechtskommunikationen und als Rechtsverhältnisse, Menschen nur als Personen im Rechtssinne rechtswissenschaftlich wahrgenommen werden. Sogenannte tatsächliche Verhaltensweisen gelangen nur insofern in den rechtswissenschaftlichen Wahrnehmungsfokus, als sie Inhalt einer Rechtsnorm, also Tatbestands- oder Rechtsfolgenmerkmal sind. Für die so konzipierte Normwissenschaft gilt dann: „Die Norm fungiert als Deutungsschema.“3 Jede andere, nicht rechtsgesteuerte Berufung auf die „Wirklichkeit“ oder die „Praxis“ hat damit sub specie der Rechtswissenschaft – im Wortsinne – keine Berechtigung. (2) In ihrer Eigenschaft als Normwissenschaft tritt die Rechtswissenschaft in Gegensatz zu jeglicher Spielart von Kausalwissenschaft: Während diese empirisch arbeitet, der Natur – dem Sein – und der Erkenntnis der Naturgesetze gilt, beschäftigt sich jene auf normative Weise mit dem Recht – dem Sollen – und der Kelsen 1934, S. III. Kelsen 1960, S. 72. 3  Kelsen 1960, S. 3.

1 

2 

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Erkenntnis der Rechtsgesetze. Während das seinsbezogene, naturgesetzliche Relationierungsmerkmal, d. h. der Wirkmechanismus, der Naturphänomene zueinander in (ordnungschaffende) Beziehung setzt, das Ursache-Wirkungs-Prinzip oder auch Kausalitätsprinzip ist, verknüpft das sollensbezogene Rechtsgesetz Tatbestand und Rechtsfolge nach einem anderen Ordnungsprinzip, der sogenannten Zurechnung. Während Kausalität eine Seins-Relationierung nach Art „Wenn A gegeben ist, dann tritt B ein.“ umschreibt, bedeutet Zurechnung eine Sollens-Relationierung nach Art „Wenn A gegeben ist, dann soll B eintreten.“ Mit Rücksicht auf das Humesche Gesetz, wonach ein Sein nicht aus einem Sollen und ein Sollen nicht aus einem Sein abgeleitet werden kann, und dem erkenntnistheoretischen Fundamentalsatz, wonach eine Erkenntnis an die zum Einsatz gelangenden Erkenntnismethoden gebunden, durch diese bedingt ist, geißelt Kelsen eine normwissenschaftliche Antwort auf eine kausalwissenschaftliche Frage ebenso wie eine kausalwissenschaftliche Antwort auf eine normwissenschaftliche Frage als „Methodensynkretismus“;4 die zweitgenannte Variante wird auch als Spielart des naturalistischen Fehlschlusses bezeichnet. (3) Als Normwissenschaft steht die Rechtswissenschaft neben anderen Normwissenschaften. Von diesen unterscheidet sie sich zuvörderst durch die Besonderheit der Normen, mit denen sie es zu tun hat. Sind Gegenstand der Rechtswissenschaft ausschließlich Normen des geltenden Rechts (positivrechtliche Normen) in ihrer „Eigengesetzlichkeit“, so ist sie analytisch abzugrenzen und operativ abzusetzen von normwissenschaftlichen Bemühungen, die nicht (mehr oder noch nicht) in Geltung stehende Rechtsnormen wie die lex ferenda, (sollten sie wissenschaftlich erkennbar sein:) metapositive Rechtsnormen wie solche des Vernunftrechts oder nicht-rechtliche Normen wie solche der Moral adressieren. Die spezifische Existenzform von Normen ist deren Geltung; Geltung aber ist nur ein anderer Ausdruck für die (im Wege des Norm-Norm-Ableitungszusammenhangs zu verifizierende) Zugehörigkeit einer Norm zu einer bestimmten, geltungsvermittelnden Normenordnung. Daraus erhellt, dass Geltung ein normenordnungs- oder auch normsystemrelativer Begriff ist: Eine Norm gilt (d. i. existiert rechtlich) danach nicht absolut, d. h. gleichzeitig, gleichsinnig und gleichartig in mehreren Normenordnungen oder Geltungssphären, sondern stets nur relativ, nämlich auf der Grundlage und damit „nur“ innerhalb eines bestimmten Validationssystems, einer konkreten Geltungssphäre. Als Wissenschaft vom geltenden positiven Recht hat die Rechtswissenschaft die durch das geltende positive Recht konstituierte Geltungssphäre zum – exklusiven – Gegenstand. (4) Als Normwissenschaft stellt die Rechtswissenschaft Sätze über das Recht auf, die nicht zu verwechseln sind mit Sätzen des Rechts selbst. Letztere bezeichnet Kelsen als Rechtsnormen, erstere hingegen als Rechtssätze;5 terminologisch vorzugswürdig, da weniger missverständnisträchtig dürfte es sein, Sätze des Rechts selbst als Rechtssätze (dann synonym mit Rechtsnormen) und – beschreibende – Sätze der Rechtswissenschaft über das Recht als Rechtsaussagesätze oder 4 

Kelsen 1960, S. 1. Kelsen 1960, S. 73 ff.

5 Vgl.

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als Rechtswissenschaftssätze zu bezeichnen.6 Rechtssätze unterscheiden sich von den Rechtsaussagesätzen nicht notwendigerweise durch ihre Sprachform – sie können also in identischer Weise formuliert sein –, sondern durch ihren Sinn und ihre Funktion: Während erstere Recht erzeugen, beschreiben letztere erzeugtes Recht (vorzugsweise seinem Inhalt nach); während Rechtssätze Ausdruck eines Rechtserzeugungsaktes sind, sind Rechtsaussagesätze Ausdruck eines Rechtserkenntnisaktes; während jene als Rechtsnormen nicht wahr oder falsch, sondern nur gültig oder ungültig sein können, sind diese als Beschreibungsversuche der Rechts-„Wirklichkeit“ einem Wahr-falsch-Urteil zugänglich und unterliegen den Gesetzen der Aussagenlogik, „gelten“ aber nicht, erzeugen mithin keinen Rechtswert. Will Rechtswissenschaft nicht aus ihrer Rolle fallen, hat sie daher Rechtssätze und Rechtswissenschaftssätze streng zu unterscheiden: erstere analysiert sie als Fremdprodukt, letztere synthetisiert sie als Eigenprodukt. (5) In Konsequenz erstens der Unterscheidung von Rechtssätzen und Rechtsaussagesätzen und zweitens der Erkenntnis, dass menschliches Verhalten nur kraft eines als Rechtsnorm (Ermächtigungsnorm) bezeichneten Deutungsschemas als rechts(geltungs)erzeugend interpretiert werden kann, kann die Rechtswissenschaft – trotz oder ungeachtet ihrer Bezeichnung als normative Disziplin – aus eigener Machtvollkommenheit, d. h. in ihrer Eigenschaft als Wissenschaft, nicht selbst Recht setzen. Dazu bedürfte sie einer positivrechtlichen Ermächtigung – die ihr in modernen Rechtsordnungen ganz regelmäßig verwehrt bleibt. (6) In Anbetracht des Umstandes, dass Rechtswissenschaft Rechtsaussagesätze, die sie zu einem dogmatischen System ausformt, in aller Regel auf der Grundlage einer Auslegung von Rechtssätzen aufstellt, kommt einer weiteren Unterscheidung große Bedeutung zu: „Vor allem […] muß die Interpretation des Rechtes durch die Rechtswissenschaft von der Interpretation durch Rechtsorgane als nicht authentisch auf das schärfste unterschieden werden. Sie ist rein erkenntnismäßige Feststellung des Sinnes von Rechtsnormen. Sie ist, zum Unterschied von der Interpretation durch Rechtsorgane, keine Rechtserzeugung.“7 Während nämlich die Auslegung durch Rechtsorgane in den konkreten Rechtsanwendungsakt dergestalt „eingeht“, dass der Rechtsanwender (z. B. der Richter) auf der Grundlage seiner Interpretation des ihn ermächtigenden und bindenden Rechts (z. B. eines Gesetzes) einen neuen Rechtssatz (z. B. ein Urteil) erzeugt, fehlt dem Rechtswissenschaftler, wie oben (5) festgestellt, mangels positivrechtlicher Ermächtigung die Macht, Recht zu erzeugen. In Gestalt der sogenannten autoritativen Interpretation kann das positive Recht schließlich die von einem konkreten Rechtsanwender (oder auch nur Rechtsausleger) vorgenommene Auslegung einer Rechtsnorm als für alle nachfolgenden Rechtsanwender verbindlich erklären; als Beispiel wird gewöhnlich die (nach bundesverfassungsgerichtlicher Auffassung sich auch auf die tragenden Gründe einer Entscheidung beziehende) Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG genannt. Auch diese Möglichkeit steht der Rechtswissenschaft nicht offen. Lippold, S. 353 ff. Kelsen 1960, S. 352.

6 Vgl.

7 

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Die Charakterisierung als Normwissenschaft grenzt die Rechtswissenschaft einerseits gegenüber Nicht-Normwissenschaften, nämlich den Kausalwissenschaften, und andererseits gegenüber nicht-wissenschaftlichen Bereichen des Normativen, nämlich dem Recht als dem Gegenstand der Rechtswissenschaft ab. Dass die Klassifikation der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft ihr keine Alleinstellung vermittelt, belegen andere Normwissenschaften wie die Ethik oder die Politische Philosophie – und verweisen auf die Notwendigkeit weiterer Differenzierung. Damit sind erste zentrale Unterscheidungen und Orientierungen gewonnen, die auch durch jüngere Versuche zur Bestimmung des Normativen in Bezug auf die Rechtswissenschaft in ihrem Kerngehalt nicht ernsthaft erschüttert worden sind. Die auf Kelsens Ansatz basierenden Unterscheidungen und Orientierungen erschöpfen das Potenzial der Qualifikation der Rechtswissenschaft als Normwissenschaft indes bei weitem nicht. Das liegt namentlich an zweierlei: Zum einen bedient sich Kelsen in seiner Rechtssatz/Rechtsaussagesatz-Disjunktion einer lediglich zweiwertigen, also binären Unterscheidung, um den Normbezug zu qualifizieren: deskriptiven Aussagen über Rechtsnormen stehen präskriptive Aussagen von Rechtsnormen gegenüber; weitere Normbezüge wie namentlich normative, aber nicht-rechtliche Aussagen über Rechtsnormen oder Vorschläge zur Rechtsanwendung spielen demgegenüber keine Rolle (als unterscheidungsleitende Parameter). Zum anderen verwendet Kelsen einen exklusiven, einwertigen Rechtswissenschaftsbegriff, der tendenziell auf die Identifikation von Rechtswissenschaft mit Rechtstheorie (sowie Rechtsdogmatik) hinausläuft; andere juridische Subdisziplinen wie die Rechtsgeschichte, die Rechtsoziologie oder die Rechtsphilosophie finden bei dieser Betrachtung keine Berücksichtigung. Damit sind Kelsens Ausführungen nicht falsifiziert; sie bedürfen aber einer Relationierung (und damit Relativierung) in einem weiter gespannten Kontext, der die Vielfalt der Normbezüge wie die Vielfalt der Rechtswissenschaft(en) adäquat reflektiert.

III.  Relevanz und Referenz des Normativen Um Tragweite und Berechtigung der Aussage, Rechtswissenschaft sei eine normative Disziplin, beurteilen zu können, bedarf es der Klarheit über die Vielzahl und Vielfalt von Sinnfacetten und Bezugspunkten des Normativen.8 Dabei geht es, auch wenn Versuche in diese Richtung unternommen werden, in aller Regel nicht darum, die eine Perspektive als „richtig“ und daher als „die“ rechtswissenschaftliche und die andere für „falsch“ und dementsprechend für nicht rechtswissenschaftstauglich auszuweisen. Worauf es aber ankommt, ist, den Aussagegehalt der regelmäßig nicht nur differenten, sondern auch inkompatiblen Perspektiven auseinanderzuhalten. Bevor auf rechtswissenschaftsspezifische Fragestellungen eingegangen wird, sei vorweg angemerkt, dass keine Wissenschaft ohne ein normatives Fundament auskommt. Das liegt – alternativ oder kumulativ – daran, dass zum einen Wissenschaft ohne einen verbindlichkeitserheischenden Wahrheitsanspruch nicht als Wissenschaft begriffen wird und zum anderen bei aller Anerkennung der Falsifizierbarkeit 8 

Einen Überblick bietend: Hilgendorf 2011, bes. S. 59 f.

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wissenschaftlicher Thesen und Methoden nicht umhinkommt, einen verbindlichen, nicht falsifizierbaren Kanon von Begründungsformaten zu postulieren, mögen sie „Gesetze der Konsequenzlogik“, „Idee der kritischen Prüfung“ oder auch „ideale Sprechsituation“ genannt werden.9 Diese fundamentale, jegliche Spielart von Wissenschaft kennzeichnende Normativität ist indessen nicht gemeint, wenn hier in Bezug auf die Rechtswissenschaft von normativer Disziplin die Rede ist. (1) Auf einer ersten, basalsten Stufe wären der Norm- und, was damit zusammenhängt, aber keineswegs identisch ist, der Rechtsbegriff zu klären; je nach Norm- und Rechtsbegriff figuriert das Recht als Normengefüge für einen anderen phänomenalen Ausschnitt und hat das Normative einen unterschiedlichen Ab- und Ausgrenzungsgehalt. Das wirkt sich auf Funktion und Struktur – und damit auf das „Design“ – von Rechtswissenschaft aus. So hat beispielsweise eine Rechtswissenschaft im Dienste eines sogenannten rechtsrealistischen Normverständnisses nur geringe Überschneidungsflächen mit einer Rechtswissenschaft, die à la Kelsen oder Hart von einem normativistisch-positivistischen Normkonzept ausgeht.10 (2) Geht es um den Normbezug der Rechtswissenschaft, so ist eine weitere, oft nicht beachtete oder auch absichtsvoll eingeebnete Grundeinteilung zu nennen. Es geht um die Unterscheidung von Objekt- oder auch Gegenstandsbereich einerseits und Theorie- oder auch Disziplinbereich andererseits.11 Objektbereich der Rechtswissenschaft ist das Recht, Theoriebereich sind hingegen die rechtswissenschaftlichen Interpretationen und Konzeptionalisierungen von Recht. Kelsen bezieht sich auf diese Disjunktion, wenn er den Sätzen des Rechts (in seiner Nomenklatur: Rechtsnormen) die Sätze der Rechtswissenschaft (in seiner Nomenklatur: Rechtssätze) gegenüberstellt. Rechtswissenschaft kann in beiderlei Hinsicht normative Disziplin sein: als Wissenschaft, die sich mit (Rechts-)Normen beschäftigt, und als Wissenschaft, die selbst Normen (in Bezug auf Rechtsnormen) aufstellt. Im ersten Falle kommt die Normativität Phänomenen aus dem Objektbereich, im zweiten Falle solchen aus dem Theoriebereich zu. (3) Da auch der Objektbereich – das Recht – schon aus epistemologischen Gründen nicht einfach als vor und unabhängig von jeder Erkenntnis gegeben betrachtet werden kann, sondern seinerseits unvermeidlich „Wirklichkeits“-Konstruktion ist, die je nach Erkenntnisinteresse und -methoden zu unterschiedlichen Objekt-Varianten führt, ist im Hinblick auf den normativen Charakter der Rechtswissenschaft danach zu differenzieren, ob diese sich mit dem Recht in seiner spezifischen, normativen („Eigen“-)Gesetzlichkeit und Existenz – und das heißt in seinem eigentümlichen Soll-Sein, seiner Geltung – befasst, oder aber ob die Norm in ihrer Funktion als soziales Steuerungsmedium und damit in ihren empirisch feststellbaren Wirkungen Gegenstand rechtswissenschaftlichen Räsonnements ist. Während im erstgenannten Fall die Rechtswissenschaft die „normative Grundeinstellung des [Rechts-]Systems“12 Vgl. dazu Baumgartner, S.  136 – 15 f. van Roermund, S. 183 ff., 186 ff., 205 ff. 11  Vgl. dazu Albert, S. 196 ff. 12  Luhmann, S. 361. 9 

10 Vgl.

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teilt, also die Innenperspektive des Rechts einnimmt, und insofern (sic) cum grano salis mit Luhmann als „Selbstbeschreibung“ des Rechts charakterisiert werden kann, identifiziert sich die Rechtswissenschaft im zweitgenannten Fall mit der Außenperspektive des Rechts, für die die Normativität desselben keine erkenntnisleitende Funktion spielt und für die sich daher die Bezeichnung als „Fremdbeschreibung“ des Rechts anbietet; um das Missverständnis zu vermeiden, dass es jeweils nur eine Form der Selbst- und der Fremdbeschreibung gebe, wäre es exakter, davon zu sprechen, dass Varianten der Selbstbeschreibung von jenen der Fremdbeschreibung des Rechts zu unterscheiden sind.13 In ähnlicher, wenn auch nicht vollauf kongruenter Weise funktioniert die von H. L. A. Hart (1907 – 1992) eingeführte Unterscheidung von „internal“ und „external point of view“.14 – Auch den Objektbereich betreffend, aber doch ein von der „außen-innen“-Unterscheidung abweichendes Erkenntnisinteresse bedienend, kann nach dem Realitäts- oder Aktualitätsbezug des Rechts differenziert werden: Geht es der Rechtswissenschaft um gegebenes, d. h. in der „Außenwelt“ existentes oder bloß um angenommenes, insoweit imaginäres Recht? Geht es um hier und jetzt geltendes oder aber um nicht mehr oder noch nicht geltendes Recht? Geht es um aktuelles oder aber auch bzw. nur um potenzielles Recht? (4) Soweit sich die Klassifikation als „normativ“ auf den Umgang mit Normen im Theoriebereich bezieht, wird herkömmlich – und so ja auch bei Kelsen – binär danach unterschieden, ob (neue) Normen erzeugt oder ob (bestehende) Normen beschrieben werden. Diese Grundalternative ist indes nicht exhaustiv. Die Position Simmels, der zufolge Wissenschaft exklusiv als kausale betrieben werden könne („Was man normative Wissenschaft nennt, ist tatsächlich nur Wissenschaft vom Normativen. Sie selbst normiert nichts, sondern sie erklärt nur Normen und ihre Zusammenhänge, denn Wissenschaft fragt stets nur kausal, nicht teleologisch, und Normen und Zwecke können wohl so gut wie alles andere den Gegenstand ihrer Untersuchung, aber nicht ihr eigenes Wesen bilden.“)15 ist heute überwunden. Neben Normbezügen, die auf die Setzung/Statuierung/Erzeugung einer Norm gerichtet sind und daher als norm-kreativ bezeichnet werden können (der Begriff „norm-expressiv“ sollte hier nicht verwendet werden, da das Aussprechen oder Ausdrücken einer Norm nicht notwendigerweise einen Normsetzungsakt darstellen muss), einerseits und solchen, die sich in der Beschreibung einer Norm erschöpfen, also norm-deskriptiv sind, andererseits, sind weitere, von dieser Dichotomie nicht erfasste zu nennen. So markieren, ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben würde, das Erklären einer Norm (norm-explanative Perspektive), das Bewerten einer Norm (norm-evaluative Perspektive) und das Vorschlagen einer Norm (norm-propositive Perspektive) weitere Varianten des rechtswissenschaftlichen Normbezuges.16 Dabei ist stets darauf zu achten, ob sich der in der vorbeschriebenen Weise zu differenzierende Umgang mit Normen auf solche des (positiven) Zum Versuch einer Verbindung beider: Krawietz. Hart, S. 89 ff. 15  Simmel, I, S. 321. 16  Zur Normprognose als zentralem Element der Rechtswissenschaft als „Realwissenschaft“: Eidenmüller, S. 53 ff. 13  14 

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Rechts bezieht oder aber auf rechtsfremde, rechts(ordnungs)transzendente Normen.17 Das spielt namentlich in der norm-kreativen und norm-evaluativen Perspektive eine entscheidende Rolle: Wird seitens der Rechtswissenschaft der – dann auch entsprechend zu begründende – Anspruch erhoben, selbst Normen des positiven Rechts zu setzen oder aber (Rechts-)Behauptungen an Normen des positiven Rechts zu messen, oder geht es der Rechtswissenschaft darum, rechtstranszendente, also nicht dem positiven Recht zugehörige Maßstäbe dem positiven Recht gegenüberzustellen bzw. an dieses anzulegen? Das sind schon deshalb zu unterscheidende Gesichtspunkte, weil sie sich nach unterschiedlichen Validationssystemen beurteilen.

IV.  Rechtswissenschaft(en) als disziplinäres Cluster normativer Disziplinen Die Aussage, bei der Rechtswissenschaft handele es sich um eine normative Disziplin, impliziert nicht nur ein – wie sich herausgestellt hat: vielfach zu differenzierendes – Verständnis von „normativ“, sondern ebenso von „Disziplin“. Im Grundsatz gibt es die Alternative, den als Disziplin gekennzeichneten wissenschaftlichen Diskurszusammenhang auf empirisch-deskriptivem oder auf normativ-präskriptivem Wege zu bestimmen. Im ersten Falle bestimmt die tatsächliche Lehr- und Forschungsgestalt, bestimmen die betreffenden Institutionen und Akteure der Wissenschaft, was als abgrenzbare Disziplin konzipiert und konstituiert wird; im zweiten Falle spielen hingegen Erkenntnisinteresse, Gegenstand (Materialobjekt) und Methode (Formalobjekt) die ausschlaggebenden Parameter für disziplinäre Identität und Differenz. Gleichviel, ob man einem wissenschaftsdeskriptiven oder einem wissenschaftspräskriptiven Begriff von Disziplin anhängt: Die Rechtswissenschaft bildet, ihrer Bezeichnung zum Trotze, kein homogenes disziplinäres Individuum, sondern ein heterogenes disziplinäres mixtum compositum, ein disziplinäres Cluster. Unter dem Dach der gemeinsamen Bezeichnung finden sich sowohl unter dem Gesichtspunkt des Selbstverständnisses und praktizierter Diskurseigentümlichkeiten als auch sub specie von Erkenntnisinteresse, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismethode heterogene Subdisziplinen. Mit gehöriger Vereinfachung lässt sich für jede juridische Subdisziplin eine spezifische, sie von den anderen Subdisziplinen absetzende Fragerichtung formulieren: Während die Rechtsdogmatik die Leitfrage zu beantworten sucht, in welcher Weise geltendes Recht anzuwenden sei, geht es beispielsweise der Rechtstheorie darum, zu ergründen, wie Recht als Recht (d. h. in der Sphäre des Normativen) funktioniert, der Rechtssoziologie darum, wie Recht auf soziale Prozesse steuernd einwirkt, der Rechtsgeschichte darum, wie Recht gewesen und geworden ist, und der Rechtsphilosophie darum, unter welchen Bedingungen Recht gerecht ist. Den unterschiedlichen Fragerichtungen kann nur auf je eigenen Antwortwegen, sprich: mit spezifischen, auf das Erkenntnisinteresse zugeschnittenen Methoden gefolgt werden, die einen je besonderen Normbezug 17 

Vgl. dazu Pawlik, S. 451 ff.

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aufweisen. Sowohl im Objekt- als auch im Theoriebereich zeigen sich also Unterschiede im Normbezug der Subdisziplinen. Zwar geht es allen Subdisziplinen der Rechtswissenschaft um „das Recht“ – sie sind daher allesamt normative Disziplinen, aber doch in je eigentümlicher Weise und mit je spezifischer (Partikular-) Rationalität. Die Pluralität der subdisziplinären (Teil-)Perspektiven auf „das Recht“ lässt sich nicht zu einer universalwissenschaftlichen („360°“-)Rundumperspektive vereinen, weil die einzeldisziplinären Aussagen über „das Recht“ nur auf der Grundlage und innerhalb des durch das Material- und Formalobjekt konstituierten Validationssystems, (Sub-)Disziplin genannt, Geltung beanspruchen können. Der Pluralität und Heterogenität der Erkenntnisverfahren – und damit der Vielzahl juridischer (Sub-)Disziplinen – korrespondiert die Notwendigkeit, rechtswissenschaftliche Aussagen disziplinär zu relativieren und zu kontextualisieren. Das impliziert jedoch weder das Verbot noch die Unmöglichkeit, Erkenntnisse der einen Subdisziplin in einer anderen fruchtbar zu machen; dazu bedarf es freilich besonderer Übersetzungs- respektive Inkorporationsprozesse, die einseitig von der rezeptionswilligen Subdisziplin initiiert und gesteuert werden (müssen). Vom innerwissenschaftlichen Standpunkt aus kann schon aus Gründen der Inkommensurabilität der den Subdisziplinen zugrunde liegenden Validationszusammenhänge kein Vorrang einer bestimmten Subdisziplin vor anderen Subdisziplinen der Rechtswissenschaft formuliert werden; das heißt selbstredend nicht, dass nicht von einem außerwissenschaftlichen Standpunkt aus Präferenzrelationen formuliert würden, und zwar regelmäßig zugunsten der Rechtsdogmatik, mit deren Hilfe die Rechtswissenschaft ihre Praxisrelevanz und Praxisrentabilität am evidentesten und am effektivsten nachweisen kann. Kurzum, die Kennzeichnung der „Rechtswissenschaft als normative Disziplin“ ist folglich in zweifacher Weise zu „pluralisieren“: Die Rechtswissenschaften sind zwar allesamt normative Disziplinen, aber sie sind es in unterschiedlichem Sinne, in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße. Die solcherart vollzogene Komplexitätsanreicherung geht freilich zulasten der Möglichkeit, der Prädizierung als Normwissenschaft in concreto brauchbare Konsequenzen zu entlocken.

V.  Rechtsdogmatik als Steuerungs- und Entscheidungswissenschaft In Bezug auf die Frage der Normativität stellt die Rechtsdogmatik, die von nicht wenigen mit der Jurisprudenz schlechthin identifiziert wird und als Markenkern deutsch(sprachig)er Rechtswissenschaft gelten darf, einen Sonderfall dar, der zugleich die soziokulturelle Kontingenz des Ausdifferenzierungsprozesses der Rechtswissenschaften besonders eindrücklich demonstriert. Rechtsdogmatik kann auf die Kurzformel einer geltendrechtlich orientierten juridischen Gebrauchswissenschaft gebracht werden: Zum Zwecke der Lern- und Lehrbarkeit einerseits sowie insbesondere zum Zwecke der Orientierung und Anleitung des Rechtsteilnehmers bei dessen Rechtsanwendungstätigkeit andererseits wird das geltende Recht mit wissenschaftlichem Anspruch systematisch aufbereitet. Zum Behufe der Dar-

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stellung (Begründung) und/oder der Herstellung des Rechtsentscheids werden dogmatische Figuren und Argumentationen bemüht; solcherart wird die Ableitung und Einpassung der getroffenen Entscheidung in das bestehende Rechtssystem gerechtfertigt. Rechtsdogmatik wird daher auch als rechtsbezogene Entscheidungs- oder „Steuerungswissenschaft“18 charakterisiert. Dabei nimmt die Dogmatik nicht nur die Teilnehmerperspektive ein, sondern figuriert sogar als ein hybrides Format zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis: Wiewohl typischerweise zu unterschiedlichen Zwecken und mit unterschiedlichen Beiträgen haben es sowohl der Rechtswissenschaftler als auch der Richter mit Dogmatik zu tun, ersterer typischerweise als Systemproduzent, letzterer eher als Systemnutzer; Höchstgerichte ähneln freilich in puncto Dogmatikbezug nicht selten eher dem systemorientiert arbeitenden Wissenschaftler als dem einzelfall­ orientiert arbeitenden Instanzrichter oder Rechtsanwalt. Es mag daher scheinen, als ob hier Rechtswissenschaft in Rechtspraxis überginge und umgekehrt. Anders gewendet: Rechtswissenschaft scheint hier den Kreis der Wissenschaften zu überschreiten und Teil der wissenschaftlich beobachteten Praxis zu werden; Objektbereich und Theoriebereich scheinen zu verschmelzen: „Wenn eine wissenschaftliche Beschreibung nicht der Welt entspricht, ist die Beschreibung falsch und die Welt ändert sich nicht. Eine juristische ‚Beschreibung‘, die nicht den Quellen entspricht, kann aber das Recht verändern.“19 Dieser Konsequenz lässt sich nicht – oder doch allenfalls zum Teil – durch die These entkommen, dass nicht alle von der Rechts­ praxis generierte oder eingesetzte Dogmatik wissenschaftlichen Ansprüchen genüge. Einmal abgesehen von der Tragfähigkeit der These bliebe doch ein weiter Überschneidungsbereich, in dem sowohl die Rechtswissenschaft als auch die (obergerichtliche) Rechtspraxis Rechtsdogmatik generieren und nutzen. Die Lage spitzt sich weiter zu, wenn Rechtsgewinnung (und als deren wichtigster Unterfall: Rechtsanwendung) nicht analytisch-strukturell zweiaktig – als idealiter aus einem Rechtserkenntnis- und einem darauf aufbauenden Rechtserzeugungsakt bestehend – konzipiert wird, sondern Erkenntnis- (Auslegungs-) und Erzeugungsmomente der Rechtsanwendung hermeneutisch verschliffen werden, indem der Rechtsfortbildung „interpretativer Charakter“ vindiziert wird.20 Dann sprechen die beiden Hauptfragen der Rechtsanwendung, nämlich „Was ist der für den zur Rechtsanwendung Ermächtigten vom anzuwendenden Recht gesteckte Rahmen seines Handelns?“ einerseits und „Wie soll dieser rechtliche Rahmen ausgefüllt, wie die Ermächtigung zur Rahmenausfüllung in Gestalt der Erzeugung einer Rechtsnorm genutzt werden?“, nicht wie bei einem zweiaktigen Verständnis zwar analytisch alternative, aber doch operativ komplementäre Momente der Rechtsgewinnung an. Die jeweilige Konzeption davon, wie Recht gewonnen wird – nenne man dies Rechtsetzung, Rechtserzeugung oder Rechtsanwendung –, schlägt damit auf die Konzeption von Rechtsdogmatik und deren Normativität durch. Bei einer Schmidt-Aßmann, I, Rn. 33 ff. Peczenik, S. 142. 20 Vgl. Poscher, S. 203 ff.

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19 

Rechtswissenschaft als normative Disziplin

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zweiaktigen Rechtsgewinnungskonzeption besitzen Rechtserkenntnisaussagen (Interpretationshypothesen) norm-deskriptiven Charakter, indes den dogmatisch generierten Rechtserzeugungsaussagen „nur“ norm-propositiver Charakter beigemessen werden kann.21 Welche Art von Normbezug Rechtsanwendungsaussagen auf der Grundlage einer beide Aspekte integrierenden Rechtsgewinnungskonzeption haben, lässt sich demgegenüber nicht leicht und wohl auch nicht eindeutig bestimmen. Solange die Unterscheidung zwischen dem Recht als Objektbereich und der Rechtswissenschaft als Theoriebereich durchgehalten wird, verliert die Frage nach dem normativen Charakter von Rechtsdogmatik an Brisanz und Relevanz. Der Rubikon zur norm-kreativen im Sinne von rechtserzeugenden Jurisprudenz wird jedoch überschritten, wenn mit Rücksicht auf die Nutzung identischer Rechtsanwendungsinstrumentarien die Tätigkeit des Rechtsdogmatik betreibenden Wissenschaftlers mit jener des Rechtsdogmatik nutzenden Rechtspraktikers, z. B. des Richters oder Verwaltungsbeamten, gleichgesetzt wird.22 Bei dieser Gleichsetzung würde allerdings übersehen, dass die dogmatikfundierte Entscheidung des Richters oder Verwaltungsbeamten nur deshalb rechtserzeugenden Charakter hat, weil und insoweit eine positivrechtliche Ermächtigung – sprich: ein Deutungsschema in Gestalt der ermächtigenden Rechtsnorm – zur Verfügung steht, welche(s) dem Rechtsanwendungsakt des Richters oder Verwaltungsbeamten rechtserzeugende Wirkung (in Gestalt eines Urteils oder eines Verwaltungsaktes) beimisst. Pointiert: Nicht die dogmatische Herleitung begründet den Rechtscharakter, sondern die Entscheidungsermächtigung.23 Anhand des von H. L. A. Hart gebrauchten Spiel-Vergleichs24 lässt sich die Rolle des wissenschaftlichen Rechtsdogmatikers verdeutlichen: Er ist nicht (Mit-)Spieler, nicht Teilnehmer des Spiels; folglich kann er auch keine Treffer, keine „scores“ erzielen; seine Möglichkeiten sind darauf beschränkt, (entweder das Spiel fiktiv nachzuspielen oder auch zu antizipieren oder aber) das reale Spiel beobachtend zu begleiten und einem der Spieler Ratschläge für Spielzüge zu erteilen; folgt der Spieler diesem Rat nicht, so handelt er vielleicht strategisch und taktisch dumm und verliert das Spiel – an der Gültigkeit seines Spielzugs ändert das aber nichts. Als Nicht-Spieler kann der Wissenschaftler von sich aus dem Spiel keine wie auch immer geartete Wendung geben. Die Charakterisierung der von Rechtswissenschaftlern betriebenen Rechtsdogmatik als Entscheidungs- oder Steuerungswissenschaft darf daher nicht dahin (miss)verstanden werden, dass durch diese in mehrfacher Hinsicht normative Disziplin rechtlich relevante Entscheidungen getroffen oder eine rechtlich relevante Steuerung betrieben würde, dass Rechtsdogmatik folglich als Rechtserzeugungsquelle gelten dürfte. Das ist – jedenfalls hier und heute – mangels positivrechtlicher Ermächtigung nicht der Fall. Und die Charakterisierung als normative Disziplin dispensiert auch nicht von diesem dem Objektbereich zugehörigen Erfordernis. Hilgendorf 2000, S. 15 ff. Wittig, S. 45 ff., 48 ff. 23  Vgl. dazu Jestaedt 2006, S. 62 ff. 24 Vgl. Hart, S. 140 ff. 21 Vgl.

22 Vgl.

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Literatur Albert, Hans: Wertfreiheit als methodisches Prinzip. Zur Frage der Notwendigkeit einer normativen Sozialwissenschaft [1963], in: Ernst Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Königstein/Ts., 12.Aufl., 1993, S. 196. Baumgartner, Hans Michael: Wissenschaft, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Eine Selbstdarstellung der Philosophie der Gegenwart. München, 2. Aufl. 2003, S. 136. Eidenmüller, Horst: Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, in: JuristenZeitung 54 (1999), S. 53. Hart, H. L. A.: The Concept of Law [1961]. With an Introduction by Leslie Green. Oxford, 3. Aufl., 2012. Hilgendorf, Eric: Das Problem der Wertfreiheit in der Jurisprudenz, in: ders./Lothar Kuhlen (Hrsg.): Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz. Heidelberg, 2000, S. 1. – Was heißt „normativ“? Zu einigen Bedeutungsnuancen einer Modevokabel, in: Matthias Mahlmann (Hrsg.): Gesellschaft und Gerechtigkeit. Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, S. 45. Jestaedt, Matthias: Das mag in der Theorie richtig sein … Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis. Tübingen, 2006. – Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Oliver Lepsius (Hrsg.): Rechtswissenschaftstheorie. Tübingen, 2008, S. 185. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Wien, 1. Aufl., 1934. – Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit. Wien, 2. Aufl., 1960. Krawietz, Werner: Recht als Regelsystem. Wiesbaden, 1984. Lippold, Rainer: Recht und Ordnung. Statik und Dynamik der Rechtsordnung. Wien, 2000. Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie. Opladen, 3. Aufl., 1987. Neumann, Ulfrid: Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: Arthur Kaufmann/ Winfried Hassemeer/Ulfrid Neumann (Hrsg.): Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Heidelberg, 8. Aufl., 2011, S. 385. Pawlik, Michael: Die Lehre von der Grundnorm als eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung, in: Rechtstheorie 25 (1994), S. 451. Peczenik, Alexander: Grundlagen der juristischen Argumentation. Wien/New York, 1983. Poscher, Ralf: Rechtsdogmatik als hermeneutische Disziplin. Zum interpretativen Charakter der Rechtsfortbildung, in: Die Verfassung als Aufgabe von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit. Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag. Heidelberg, 2014, S. 203. Roermund, Bert van: Legal Thought and Philosophy. What Legal Scholarship is About. Cheltenham/Northampton/Mass., 2013. Schmidt-Aßmann, Eberhard: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung. Berlin/Heidelberg/New York, 2. Aufl., 2004. Simmel, Georg: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Stuttgart/Berlin, 1892/93. Wittig, Petra: Das tatbestandsmäßige Verhalten des Betrugs. Ein normanalytischer Ansatz. Frankfurt/Main, 2005.

II. Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften

Philosophie und Rechtswissenschaft Dietmar von der Pfordten Zur Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Rechtswissenschaft erscheint es sinnvoll, zunächst nach zentralen gemeinsamen Merkmalen zu suchen, um dann vor dem Hintergrund des Gemeinsamen die Unterschiede deutlicher erkennen zu können.1

I. Wesentlich Gemeinsames: Menschliches Handeln, Suche nach Erkenntnis Weder Philosophie noch Rechtswissenschaft sind Naturphänomene, wie etwa Bäume oder Bäche, sondern begrifflich notwendig menschliches Tätigsein bzw. Handeln in einem sehr weiten, inneres Denken und äußeres Tun umfassenden Sinn einschließlich seiner Ergebnisse, ein Handeln aufeinander bezogener Akteure, eine jeweils gemeinsame Praxis des Strebens einzelner Rechtswissenschaftler und einzelner Philosophierender. Menschliches Handeln wird nun aber notwendig, wenn auch nicht ausschließlich, durch sein Wollen bzw. seine Ziele bestimmt.2 Das heißt, es ist zielgerichtet (intentional) in einem umfassenden Sinn, einschließlich des mehr oder minder bewussten und gewollten Hinnehmens und Geschehenlassens. Veränderungen des Menschen ohne Wollen bzw. Ziele sind kein Handeln, sondern lediglich Reflexe oder Widerfahrnisse. Allerdings finden sich im Falle des Handelns mehrerer Menschen soziale Phänomene, wie etwa die Bevölkerungsentwicklung, die zwar Folge einzeln gewollten Handelns, als kumulative Folge aber nicht einzeln oder gemeinsam gewollt sind. Die Folge der einzeln gewollten Handlungen steht zu diesen nur im Verhältnis der zufälligen Gleichzeitigkeit, der Koinzidenz. Anders aber ohne Zweifel bei der Rechtswissenschaft und Philosophie. Einzelne Handelnde beziehen hier ihr Wollen und Handeln regelmäßig bewusst und gewollt auf das Handeln anderer und die gemeinsame Praxis. Sie handeln koordiniert oder sogar kooperativ. Als Teil einer derartigen Koordination oder sogar Kooperation ist das Handeln der Rechtswissenschaftler und Philosophen durch das Wollen und die Ziele der gemeinschaftsbezogenen oder sogar gemeinsamen Suche bestimmt. Wir können dieses gemeinschaftsbezogene bzw. gemeinsame Handeln deshalb adäquat nur unter 1 

Die folgenden Überlegungen folgen in Teilen der ausführlicheren Analyse der Aufgabe der Philosophie in: von der Pfordten 2010b. 2  Vgl. bereits Aristoteles 1985, S. 1094a1 ff; Searle, S. 111.

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Berücksichtigung seiner weitgehend übereinstimmenden oder sogar gemeinsamen Ziele verstehen. Um Ziele zu verwirklichen benötigt das menschliche Handeln Mittel. Das bedeutet: Es ist durch eine Ziel- bzw. Zweck-Mittel-Struktur geprägt. Deshalb können auch die Mittel wesentlich, also spezifisch sein, wobei allerdings die Ziele vorrangig bleiben, denn sie werden zum einen zuerst gesetzt und lassen sich zum anderen durch unterschiedliche Mittel realisieren. Das führt zur zentralen Frage: Was ist das gemeinsame Ziel desjenigen Handelns, das wir als Philosophie und Rechtswissenschaft ansehen? Die Antwort lautet: Beide sind begrifflich notwendig eine Suche des Menschen nach Erkenntnis in einem weiten, auch die Klugheitserkenntnis (prudentia) umfassenden Sinn, einschließlich der möglichen Ergebnisse dieser Suche nach Erkenntnis. Für die Rechtswissenschaft wird der Charakter einer Suche nach Erkenntnis in diesem weiten, auch die praktische Klugheit einschließenden Sinn nicht bezweifelt. Aber er gilt auch in der Philosophie sogar für radikale Skeptiker wie Wittgenstein:3 Zumindest um herauszufinden, ob philosophische Erkenntnis möglich ist, muss man nach ihr suchen. Selbst schärfste philosophische Skepsis kam nicht umhin, nach philosophischer Erkenntnis zu suchen, und sei es nur in therapeutischer Absicht, um Missverständnisse und Missbräuche der Sprache oder des Denkens aufzuklären. Als menschliches Handeln erfordert jede Suche nach Erkenntnis wiederum ein konkreteres Ziel und den Einsatz von Mitteln, um dieses Ziel zu erreichen. Was ist das Ziel der Suche nach Erkenntnis? Jede Erkenntnis ist begrifflich notwendig Erkenntnis von „etwas“, Erkenntnis eines zu Erkennenden, eines Erkenntnisobjekts. Das Ziel jeder Suche nach Erkenntnis besteht also in der Untersuchung eines Erkenntnisobjekts, oder anders ausgedrückt, eines Gegenstands der Erkenntnis in einem formalen Sinn. Für die spezifische Form des Handelns, das die Suche nach Erkenntnis ist, wird die allgemeine Notwendigkeit jedes Handelns, ein Ziel zu haben, folglich weiter konkretisiert und dabei aufgespalten: erstens in das Ziel des zu erkennenden Gegenstands und zweitens in das Ziel der spezifisch angestrebten Erkenntnis bezüglich dieses zu erkennenden Gegenstands, also das besondere Erkenntnisziel. Dabei ist der Ausdruck „Gegenstand“ sehr weit und also lediglich formal zu verstehen: Er ist nicht auf raum-zeitliche Dinge und Tatsachen beschränkt, sondern umfasst alle möglichen Denk- bzw. Weltobjekte unserer Erkenntnis, etwa auch abstrakte Objekte, im Falle der Mathematik z. B. Zahlen, Funktionen, Strukturen, Beweise etc. Die Wahl des Gegenstandsbegriffs impliziert auch keine Vorentscheidung, ob dieser Gegenstand rezeptiv aufgenommen oder produktiv erzeugt wird. Das Ergebnis der Suche nach Erkenntnis kann schließlich durchaus darin bestehen, dass der fragliche Gegenstand als Wirklichkeit in Raum und Zeit nicht existiert, etwa wenn die Suche nach einem Mond oder Planeten, dessen Existenz man vermutet hat, erfolglos bleibt. 3  Wittgenstein 1922, 6.5 ff; 1953, § 109: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache“.

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Jede Suche nach Erkenntnis umfasst somit wenigstens die folgenden drei Elemente: (1) Sie bezieht sich zunächst notwendig auf ein von ihr verschiedenes Erkenntnisobjekt, einen Gegenstand der Erkenntnis im formalen Sinn. (2) Sie ist darüber hinaus durch eines oder mehrere spezifische Erkenntnisziele im Hinblick auf den zu erkennenden Gegenstand bestimmt. (3) Zu ihrer Erreichung bedürfen diese spezifischen Erkenntnisziele schließlich wie jedes menschliche Handeln bestimmter Mittel. Im Falle der Wissenschaften sind das deren Methoden. Der allgemeine Gegenstand etwa der Biologie ist das Leben und die einzelnen Lebewesen. Ihr spezifisches Erkenntnisziel ist eine naturgesetzlich-immanente Beschreibung und Erklärung der Mannigfaltigkeit des Lebens sowie seines Entstehens, Wandels und Vergehens. Ihre Mittel zur Erreichung dieses Ziels bzw. ihre Methoden sind die empirische Untersuchung der Wahrnehmungsqualitäten, die Beobachtung, die Messung, die chemische Analyse, das Experiment, die Formulierung von Gesetzeshypothesen sowie Theorien usw. Sowohl in der Rechtswissenschaft als auch der Philosophie gibt es bekanntlich Versuche, diesen Dreiklang von Gegenstand, Ziel und Methode jeder Suche nach Erkenntnis umzukehren und die Methode an die Spitze oder sogar in eine Alleinstellung zu schieben. Manche Neukantianer haben das etwa vor dem Hintergrund von Kants Kopernikanischer Wende der Erkenntniskritik getan bzw. versucht.4 Und Vergleichbares fand und findet sich mit Verweis auf die Notwendigkeit der Interpretation in der Rechtswissenschaft, etwa bei Esser und Dworkin.5 Auch in der Analytischen Philosophie und Rechtstheorie wird es vielfach vertreten.6 Jeder dieser Versuche hat einen berechtigten Kern. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Methode unserer philosophischen Suche nach Erkenntnis eine Bedingung unserer philosophischen Einsicht und die Methode unserer Interpretation rechtlicher Regelungen eine Bedingung unserer rechtswissenschaftlichen Erkenntnis sind. Aber es wäre ein Fehlschluss anzunehmen, dass deshalb die Methode – jenseits der spezifischen Methodenlehre – zum primären Erkenntnisziel würde, denn es kann mehrere einzelne Methoden geben, die zum selben Ziel führen und es sind regelmäßig weitere Bedingungen notwendig, um das Ziel der Erkenntnis zu erreichen. Die grundsätzliche Ziel-Mittel-Struktur unseres Handelns, welche notwendig zur Ziel-Methoden-Struktur unserer Suche nach Erkenntnis führt, kann

4  Cohen, S. 19, 404 ff., 491. Radbruch, S. 13 ff., hat die These zwar sachlich nicht vertreten, spricht aber verwirrend vom „Methodendualismus“ der Wert- und Seinsbetrachtung. 5  Esser, S. 21; Dworkin, S. 1 ff., 46 ff. 6  Rosenberg, S. 17: „Philosophie stellt man sich vielleicht am besten als eine durch ihre Methode, weniger durch ihren Gegenstand bestimmte Disziplin vor.“; Ross, S. 25: „It [Philosophy] is no theory at all, but a method. This method is logical analysis. Philosophy is the logic of science, and its subject the language of science.“ Dieses Zitat zeigt die Unmöglichkeit, auf einen Gegenstand der Philosophie zu verzichten. In sich widersprüchlich behauptet Ross zunächst, die Philosophie sei nur eine Methode, um dann mit der Sprache der Wissenschaft doch einen Gegenstand vorzuschlagen.

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auch durch eine stark methodenabhängige Erkenntnissuche, wie diejenige der Rechtswissenschaft und der Philosophie, nicht umgekehrt werden. Zum Abschluss dieser Suche nach gemeinsamen Merkmalen beider Disziplinen mag man fragen, ob man die Qualifikation beider Fächer als Suche nach Erkenntnis nicht weiter auf wissenschaftliche Erkenntnis eingrenzen sollte. Das hängt natürlich von der außerordentlich umstrittenen Frage ab, was „Wissenschaft“ sein kann.7 Und je nachdem wie eng oder weit man den Begriff fasst, fallen unter Umständen Teile der Rechtswissenschaft, wie die Rechtsdogmatik, oder die Philosophie als Ganze oder ihre normativen Teile, etwa die praktische Philosophie, nicht darunter. Das englische Wort „science“ wird bekanntlich erheblich enger verstanden als das deutsche Wort „Wissenschaft“ und umfasst weder die Philosophie noch die Jurisprudenz. Darum trägt die Qualifikation als „wissenschaftlich“ wenig zur Einsicht des zentralen Gemeinsamen von Philosophie und Rechtswissenschaft bei, vor dessen Hintergrund sich dann die Unterschiede beleuchten lassen. Deshalb soll die Frage der Wissenschaftlichkeit der jeweiligen Erkenntnis hier auf sich beruhen.

II.  Unterschiede in Gegenstand, Ziel und Methode Für die Herausarbeitung der Differenzen lautet die zentrale Frage: Was können Gegenstand, Ziel und Mittel bzw. Methode der rechtswissenschaftlichen und was der philosophischen Suche nach Erkenntnis sein, durch die sich beide unterscheiden? Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht in all seinen möglichen Formen. Die Ziele, mit denen die Rechtswissenschaft das Recht untersucht, sind dagegen für die einzelnen Teile der Rechtswissenschaft sehr verschieden. Ziel der Rechtsdogmatik ist etwa die praktische Rechtssetzung und dort, wo abstrakte Rechtssätze wie Gesetze bestehen, die konkrete, falllösende Rechtsanwendung. Ziel der Rechtsgeschichte ist das Erfassen des Rechts in seiner vergangenen Zeitlichkeit, seinem historischen Wandel sowie als Teil der allgemeinen Menschheitsgeschichte. Ziel der Rechtssoziologie ist das Verständnis des Rechts als soziale Tatsache und Institution im Verhältnis zu anderen sozialen Tatsachen und Institutionen der Gesellschaft. Auch die Mittel bzw. Methoden, um diese Ziele jeweils zu erreichen, unterscheiden sich bekanntermaßen. Während die Rechtssoziologie – zumindest wenn sie gewissen Qualitätsstandards verpflichtet ist – den empirischen Methoden der allgemeinen Soziologie folgt und die Rechtsgeschichte den Methoden der Quellenerschließung der allgemeinen Geschichte, hat die kontinentale Rechtsdogmatik etwa die bekannten Auslegungsmethoden erarbeitet.8 Andere Rechtskreise wie das Common bzw. Case Law kennen dagegen zum Teil andere methodische Vorgaben, weil auch Gegenstand und Ziel der Rechtsfindung gewisse Differenzen aufweisen. Das Ziel der Rechtsphilosophie ist die philosophische Erkenntnis des Rechts, das heißt die umfassende Einsicht im Sinne einer Darstellung und Kritik aller 7 

8 

Vgl. dazu z. B. Diemer; Hoyningen-Huene. Vgl. etwa Wank.

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möglichen Relationen des Rechts zu anderen Phänomenen und Aspekten der Welt, also etwa menschliches Handeln, menschliche Interessen, Geschichte, Natur, Gesellschaft, Politik, Technik, Wirtschaft usw.9 Die Methoden der Rechtsphilosophie sind ähnlich weit wie diejenigen der allgemeinen Philosophie. Für die Philosophie ist die Frage, was Gegenstand, Ziel und Methode sind, dagegen bekanntermaßen viel schwieriger und umstrittener. Zwei Einsichten sind zunächst entscheidend: Die Philosophie kann erstens keinen einzelnen Typ von Dingen oder Tatsachen zum Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich haben wie die Einzelwissenschaften, etwa die Physik die Energie und Materie, die Biologie das Leben und die Lebewesen, die Soziologie die Gesellschaft, die Linguistik die Sprache und die Rechtswissenschaft das Recht. Werden alle einzelnen Gegenstände bzw. Gegenstandsbereiche durch die Einzelwissenschaften untersucht, muss der Gegenstand der Philosophie ein anderer sein, sonst wäre die Philosophie eine Einzelwissenschaft wie die anderen Einzelwissenschaften. Dies ist sie nach allgemeinem Verständnis nicht und kann sie auch nicht sein, weil nicht ersichtlich ist, welcher einzelne Gegenstand für die Philosophie übrig bliebe, der noch nicht von einer Einzelwissenschaft untersucht wird. Die Philosophie kann aber zweitens als Suche nach Erkenntnis nicht darauf verzichten, einen Gegenstand im Sinne eines Erkenntnisobjekts zu analysieren. Sie kann sich nicht lediglich auf eine Methode, das heißt ein Mittel, beschränken, wie dies von manchen vorgeschlagen wird. Menschliches Handeln lässt sich zwar partiell auch durch seine Mittel charakterisieren. Aber will man eine selbständige, fachkonstituierende Art der Suche nach Erkenntnis, eine eigene Disziplin annehmen und nicht nur eine Methodendivergenz oder eine Zielalternative innerhalb einer einzigen Art der Suche nach Erkenntnis, muss es ein eigenes, spezifisches Erkenntnisobjekt geben. Ansonsten wäre die Philosophie höchstens eine Subdisziplin der Mathematik, der Linguistik, der Geschichte, der Soziologie oder der Altphilologie. Wenn die Philosophie als selbständige Art der Suche nach Erkenntnis bzw. als eigene wissenschaftliche Disziplin einen spezifischen Gegenstand braucht, aber keinen einzelnen Gegenstand wie die Einzelwissenschaften und dort insbesondere die Rechtswissenschaft haben kann, so bleiben zwei grundsätzliche Möglichkeiten: eine quantitative und eine qualitative Bestimmung des Gegenstands. Im Hinblick auf eine quantitative Bestimmung des Gegenstands der Philosophie gibt es zwei extreme Alternativen: Die Philosophie könnte entweder alle einzelnen Typen von Dingen und Tatsachen zu ihrem Gegenstand haben oder keinen einzelnen Typ von Dingen und Tatsachen. Die erste, extrem weite Auffassung, dass die Philosophie alle einzelnen Typen von Dingen und Tatsachen zu ihrem Gegenstand hat, könnte man für manche Vorsokratiker wie Thales, Anaximander und Anaximenes annehmen, für die zwi9 

von der Pfordten 2004.

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schen Wissenschaft und Philosophie kein Unterschied bestand, die sich allerdings, soweit wir wissen, selbst nicht systematisch als „Philosophen“ bezeichnet haben. Der Terminus taucht erst bei Pythagoras und dann vor allem bei Sokrates und Platon in einer engeren technischen Bedeutung auf.10 Die Charakterisierung der milesischen Wissenschaftler als „Philosophen“ ist nur eine nachträgliche und der Tatsache geschuldet, dass sie aus späterer Sicht auch Fragen untersucht haben, die nachfolgende Denker als philosophische Fragen ansahen. Seit Sokrates und Platon hat dann – soweit wir wissen – kein Philosoph mehr den Anspruch erhoben, als Philosoph alle Typen von Dingen und Tatsachen mit seiner spezifisch philosophischen Art der Suche nach Erkenntnis zu erfassen, wiewohl Aristoteles immerhin noch betont, dass die Philosophie nicht vom Partikulären und dessen Akzidenzien handle, sondern jedes nur in Beziehung auf das Seiende als solches betrachte.11 Der Bezug des Begriffs der Philosophie auf alle Typen von Dingen und Tatsachen wäre also nicht nur nach dem heutigen Verständnis, sondern auch historisch inadäquat. Die zweite, extrem enge Auffassung, dass die Philosophie keinen einzelnen Typ von Dingen und Tatsachen zum Gegenstand hat bzw. haben kann, weil sich ein solcher Gegenstand nicht aussprechen lässt, wurde vom frühen Wittgenstein vertreten.12 Dies geschah allerdings in einem philosophischen Buch, dem Tractatus logico-philosophicus, das als Buch durchaus einen Gegenstand hat und auf eine bestimmte, wenn auch äußerst skeptische Art und Weise behandelt, nämlich zumindest die Philosophie selbst. Wittgenstein hat die Philosophie dann zwar zeitweise aufgegeben, ist aber wieder zu ihr zurückgekehrt und hat den Kampf gegen die Verhexung der Sprache als Gegenstand der Philosophie bezeichnet.13 Man kann also annehmen, dass er seine frühe Auffassung zumindest bis zu einem gewissen Grade revidiert hat. Im Übrigen würde diese extreme, frühe Auffassung sicherlich nicht dem allgemeinen Selbstverständnis fast aller Philosophierenden in Geschichte und Gegenwart sowie einer externen Beurteilung ihres Handelns entsprechen. Beide quantitativ extremen Auffassungen können als Beschreibung des historischen und systematischen Phänomens der Philosophie also nicht zutreffen. Auch in qualitativer Hinsicht wurden bezüglich des Gegenstands der Philosophie extreme Auffassungen vertreten: Eine sehr anspruchsvolle Auffassung hinsichtlich des Gegenstands der Philosophie hatten ihre antiken Begründer. Nach Platon kommt der Philosophie die Aufgabe der Einsicht in die höchsten, unveränderlichen und alle andere Erkenntnis bestimmenden Formen bzw. Ideen zu.14 Für Aristoteles soll sie die ersten Prinzipien, das Sein des Seienden erkennen.15 Niemand wird bezweifeln, dass damit historisch wie sachlich zentrale Gegenstände der Philosophie benannt sind. Aber für eine allPlaton, Phaidros 278d, Apologie 21 ff., Theaitet 172 cff., Symposion 204 a1 ff. Aristoteles 1991, 1061b25 – 27. 12  Wittgenstein 1922, 6.5 ff. 13  Wittgenstein 1953, § 109. 14  Platon, Politeia, passim. 15  Aristoteles 1991, 982b1 ff. 10  11 

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gemeine, zunächst nicht normative, sondern deskriptive Begriffsbeschreibung sind diese anspruchsvollen Gegenstände zu eingeschränkt, weil sie bescheidenere erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Perspektiven der Philosophie nicht umfassen. Ob Ideen oder Prinzipien existieren und was sie sein könnten, ist selbst eine zentrale inhaltliche Frage der Philosophie, die kontroverser Diskussion ausgesetzt ist. Man hat somit guten Grund, Ideen oder Prinzipien nicht zum alleinigen oder auch nur hauptsächlichen Gegenstand der Philosophie zu erheben, also ihre alleinige oder auch nur hauptsächliche Untersuchung als notwendige Bedingung eines umfassenden, deskriptiven Philosophiebegriffs anzusehen. Eine sehr anspruchslose gegenwärtige Auffassung hinsichtlich des Gegenstands der Philosophie will dagegen nur die allgemeinen Methoden des Erkennens und/ oder die Methoden der Einzelwissenschaften, also deren formale Logik, deren Argumentation sowie deren Begriffs- und Theoriebildung, als Gegenstand der Philosophie anerkennen.16 Die Philosophie wäre dann die Methodenlehre anderer Arten der Erkenntnis und/oder der Einzelwissenschaften, etwa der Mathematik, der Naturwissenschaften usw. Man kann nicht bezweifeln, dass die Philosophie eine derartige Reflexion der Methoden des Erkennens der anderen Erkenntnisformen und der Wissenschaften leisten muss. Aber diese Methoden können als Tatsachen wie jeder einzelne Gegenstand aus unterschiedlichen externen Perspektiven analysiert werden, aus einer soziologischen, aus einer historischen, aus einer psychologischen, aus einer naturwissenschaftlichen, aus einer mathematischen Perspektive usw. Es bleibt dann immer noch zweifelhaft, was die philosophische Perspektive noch Eigenständiges zur Vielzahl dieser externen einzelwissenschaftlichen Perspektiven auf die Methoden des allgemeinen und einzelwissenschaftlichen Erkennens beitragen könnte. Jede Einzelwissenschaft hat überdies ihre eigene interne Methodenlehre. Es ist nicht erkennbar, was daneben noch das Spezifische der philosophischen Perspektive auf die Methoden der allgemeinen Erkenntnis und/oder der Einzelwissenschaften sein sollte. Die Philosophie würde dann – wie erwähnt – entweder zur externen Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftspsychologie oder zur internen Methodenlehre der Einzelwissenschaften. Das sind alles höchst respektable und wichtige Disziplinen bzw. Subdisziplinen. Aber nach dem Selbstverständnis beinahe aller Philosophierenden in Geschichte und Gegenwart und beinahe aller, welche die Philosophie von außen beschrieben haben, ist sie weder mit diesen einzelwissenschaftlichen Disziplinen, noch mit den internen Methodenlehren dieser einzelwissenschaftlichen Disziplinen identisch. Der Gegenstand der Philosophie muss somit zwischen diesen beiden quantitativen und qualitativen Extremen liegen. Die Philosophie braucht einen spezifischen Gegenstand, aber sie kann sich nicht ausschließlich auf einzelne Gegenstandsbereiche bzw. Gegenstände der Welt wie die Einzelwissenschaften richten, sonst wäre sie selbst eine Einzelwissenschaft. Als Gegenstände, auf die sich die Philosophie richten kann, bleiben dann nur noch die Verbindungen der einzelnen Gegenstän16 

Vgl. Fußnote 6.

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de bzw. der diesen zugrundeliegenden Typen von Dingen, Eigenschaften und Relationen, und zwar nicht nur eine dieser Verbindungen, denn derartige einzelne Verbindungen untersuchen auch interdisziplinär orientierte Einzelwissenschaften, sondern im Prinzip alle diese Verbindungen. Das heißt, als Gegenstand der Philosophie bleibt die Gesamtheit der Verbindungen eines einzelnen Gegenstands und die Gesamtheit der Verbindungen aller einzelnen Gegenstände. Auf das Recht bezogen bedeutet das: Die Philosophie untersucht das Recht nicht nur in seinem Verhältnis zur Gesellschaft wie die Rechtssoziologie, nicht nur in seinem Verhältnis zur Geschichte wie die Rechtsgeschichte. Sie untersucht vielmehr das allen diesen einzelnen Verhältnissen zu Grunde liegende Gemeinsame des Rechts, welches dann natürlich auch in den je spezifischen Verhältnissen eine Rolle spielt, die man nicht über-, aber auch nicht unterschätzen sollte. Der Erkenntnisgegenstand der Philosophie lässt sich weiter erläutern: Die Unterscheidung von Strukturen und Dingen sowie Eigenschaften und Relationen – die selbst Gegenstand der Philosophie ist – verschwimmt auf der abstraktesten Ebene unserer Erkenntnis. Die Philosophie sucht deshalb eine Erkenntnis der Welt auch in ihren abstraktesten und damit die Struktur des Gesamten konstituierenden, dinghaft-tatsächlichen Gegenständen, etwa dem Menschen, der Erkenntnis, der Wahrheit, der Sprache, dem Guten, dem Gerechten, dem Sein. Die Philosophie hat also insofern keinen eigenen Gegenstandsbereich, der nur ihr allein vorbehalten bliebe und nicht in Teilen auch von den einzelnen Wissenschaften untersucht würde. Sie hat aber insofern einen eigenen Gegenstandsbereich als nur sie Einsicht in die allgemeine Struktur aller Gegenstandsbereiche der Einzelwissenschaften und sonstigen einzelnen Erkenntnisse zu gewinnen sucht. Die Philosophie und die Einzelwissenschaften erforschen zwar auf einer vergleichbar hohen Ebene der Allgemeinheit bzw. Abstraktion dieselben Gegenstände, etwa den Menschen, die Erkenntnis und die Sprache. Die allgemeinsten (abstraktesten) Gegenstände bzw. Strukturen, wie die Welt, die Identität, das Sein, oder der umfassende Zusammenhang von allem, werden aber nur von der Philosophie untersucht. Weniger allgemeine Gegenstände, wie Bäume oder einzelne Dinge, wie ein einzelner Baum, sind dagegen regelmäßig direkte Gegenstände der Biologie als Einzelwissenschaft. Die Philosophie nimmt derartige, weniger allgemeine Gegenstände oder einzelne Dinge allenfalls zur Kenntnis, um in ihnen allgemeine Strukturen zu erkennen. Die Einzelwissenschaften zerlegen im Übrigen ihre abstrakteren Gegenstände, wie Erkenntnis oder Sprache, regelmäßig rasch in konkretere Gegenstände. Die Philosophie bewahrt dagegen zumindest bis zu einem gewissen Grade die Allgemeinheit und damit Abstraktheit ihrer Teilgegenstände. Und sie setzt diese zu noch allgemeineren Teilgegenständen bzw. Begriffen, wie den Begriffen der Relation, der Identität und der Differenz, in Beziehung. Die Gegenstandsbereiche der Philosophie und der Einzelwissenschaften überlappen sich also zwar auf einer hohen Ebene der Allgemeinheit: etwa bei relativ abstrakten Begriffen wie Mensch, Erkenntnis und Sprache. Sie sind aber keineswegs

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gleich. Denn die Philosophie untersucht auch die allgemeinsten Gegenstände bzw. Begriffe. Und sie setzt weniger allgemeine Gegenstände bzw. Begriffe zu diesen allgemeinsten Gegenständen bzw. Begriffen in Beziehung, so etwa der späte Wittgenstein die Sprache zum Spiel, zum Gebrauch und zur Lebensform und Heidegger die Sorge zum Dasein und zum Sein.17 Die Einzelwissenschaften beschränken sich dagegen zum einen auf die nicht allgemeinsten Gegenstände. Sie beziehen sich zum anderen auch direkt und für ihren Bereich umfassend auf den gesamten Raum der konkreten Gegenstände sowie einzelnen Dinge. Allerdings hat sich der Umfang der von der Philosophie direkt untersuchten Teilgegenstände im Lauf der geschichtlichen Entwicklung verringert. Die Reichweite der Philosophie ins Konkrete, das heißt die relative Konkretheit der philosophischen Gegenstände und damit des philosophischen Erkenntnisraums, hat abgenommen. Während etwa Newton seine Gesetze noch als Erkenntnisse der philosophia naturalis, der Naturphilosophie, formulierte,18 sehen wir sie heute als Teil der Physik an. Die Einzelwissenschaften haben sich also zu Lasten der Philosophie einen größeren Erkenntnisbereich erobert. Das zunehmende Bedürfnis nach interdisziplinärer Zusammenarbeit zeigt allerdings, dass diese Entwicklung neben unbestreitbaren Vorteilen auch Nachteile und damit Grenzen hat, weil sich eine vollständige Scheidung der Gegenstände umso schwerer durchführen lässt, je abstrakter sie sind. Auch die Einzelwissenschaften sind Teil des Gegenstands der Philosophie. Die Philosophie entfaltet dabei wegen der Allgemeinheit ihres Erkenntnisobjekts eine doppelte Perspektive: Zum einen sind die abstrakten Gegenstände der Einzelwissenschaften direkte Objekte der Philosophie, so dass sich die Philosophie, wenn auch vermittelt über diese abstrakten Gegenstände der Einzelwissenschaften, zusätzlich auf deren konkretere Gegenstände bezieht. So richtet sich die Philosophie auf den Menschen und vermittelt durch die Psychologie, Medizin, Biologie, Soziologie und Geschichte auch einzelwissenschaftliche Erkenntnisse vom Menschen. Zum anderen sind aber auch die Einzelwissenschaften selbst mit ihren Begriffen, Urteilen, Sprachen, Methoden, Theorien und Strukturen direkter Gegenstand der allgemeinen Perspektive der Philosophie, also etwa die grundlegenden Begriffe und Theorien der Mathematik und Physik in der Philosophie der Mathematik und Physik sowie die Einzelwissenschaften als solche in der Wissenschaftstheorie. Wegen des ersten Gesichtspunkts geht die Philosophie notwendig über eine bloße Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften hinaus. Wegen des zweiten Gesichtspunkts enthält die Philosophie notwendig eine solche Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften. Was bedeutet das Merkmal der relativen, aber gleichzeitig weitestgehenden Allgemeinheit der Gegenstände der Philosophie genauer? Es bedeutet, dass die von der Philosophie untersuchten und verwendeten Begriffe und Urteile einen sehr großen bzw. den größten Umfang aufweisen; oder mit Bezug auf die Dinge, Ei17 

18 

Wittgenstein 1953, §§ 66 ff.; Heidegger, § 39 ff. Newton.

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genschaften und Relationen der Welt (extensional) ausgedrückt: dass die Klassen von Dingen, Eigenschaften und Relationen, die als Gegenstand der Philosophie überhaupt in Frage kommen, sehr groß sind, das heißt, jeweils sehr viele bzw. im Extremfall eines abstraktesten Begriffs sogar alle Elemente einschließen. Was ist das Ziel der philosophischen Erkenntnissuche nach dem soeben erläuterten Gegenstand? Das der Philosophie eigentümliche Ziel besteht in einer vergleichsweise umfassenderen bzw. abstrakteren, das heißt dann im Ergebnis umfassendsten bzw. abstraktesten Erkenntnis aller Verknüpfungen einzelner Gegenstände und aller Verknüpfungen aller Gegenstände. Diese Untersuchung setzt ein geistiges Zurücktreten, ein weitest mögliches Öffnen des Blicks voraus. Wie beim räumlichen Zurücktreten ist damit eine umfassende Erkenntnis, eine größtmögliche Ausweitung des Horizonts der Erkenntnis verbunden. Nur so lässt sich philosophische Einsicht gewinnen. Dabei meint „umfassend“ nicht „vollständig“ im Sinne einer vollzähligen und gleichen Berücksichtigung aller einzelnen Erkenntnisgegenstände und Dinge der Welt. Die Philosophie bezieht sich nur auf die abstrakteren Gegenstände direkt. Konkretere Gegenstände und einzelne Dinge sind für die Philosophie dagegen lediglich vermittelt durch die Einzelwissenschaften und anderen Erkenntnisarten zugänglich und bedeutsam. Die Philosophie sucht also nur einen weitestmöglichen Rahmen aller einzelnen Erkenntnisse, wobei „Rahmen“ zunächst nur heißt: nicht ihre Addition und nicht ihre Reduktion auf den Gegenstand einer Einzelwissenschaft oder einzelnen Erkenntnis. Was sind die Mittel bzw. Methoden, deren sich die Philosophie zur Erreichung ihres Ziels der umfassenden bzw. abstrakten Einsicht in alle Verbindungen bedient? Das erste und wichtigste Mittel ist die Einnahme einer weitestmöglichen und gleichzeitig vielgestaltigen Perspektive, welche die umfassende Erkenntnis der abstraktesten Gegenstände ermöglicht. Diese weitestmögliche und gleichzeitig vielgestaltige Perspektive der Philosophie schließt eine grundsätzliche Beschränkung ihrer Einsichtsmittel auf eine bestimmte Quelle der Erkenntnis aus: etwa auf die sinnliche, empirische Wahrnehmung oder die Vernunft. Die Philosophie kann prinzipiell aus allen Quellen schöpfen. Ihr Ziel legt sie nicht von vornherein fest (mit einer gewissen Einschränkung in Abgrenzung zu transzendent-religiösen Quellen). Einzelne philosophische Fragen können allerdings zur Bevorzugung einzelner Quellen führen, wie etwa der Bevorzugung der folgernden Vernunft in der formalen Logik oder der Berücksichtigung auch empirischer Erkenntnisse im Rahmen der Einsicht in konkretere Phänomene wie den Menschen oder die Kunst. Die klassischen Unterscheidungen der Erkenntnismethoden, wie diejenige zwischen apriorischer und aposteriorischer und zwischen analytischer und synthetischer Erkenntnis, können im Hinblick auf einzelne Fragen hilfreich sein, sind der Philosophie aber nicht methodisch vorgegeben, sondern selbst Gegenstand philosophischer Erörterung und Entscheidung. Der spezifische Gegenstand aller Verbindungen einzelner und aller Gegenstände und das Erkenntnisziel der umfassenden Perspektive erklären allerdings eine nicht zu bezweifelnde, empirisch beobacht-

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bare Tendenz der Philosophie zu nicht-sinnlichen, also rationalen, das heißt eher apriorischen und analytischen Methoden, etwa der transzendentalen Analyse, der Begriffsbestimmung, dem methodischen Zweifel, dem Gedankenexperiment usw. Der philosophische Rahmen ist nicht die Summe aller Erkenntnisse der Welt. Sonst wären Philosophie und Erkenntnis der Welt gleich. Wie ein Bilder- oder Fahrradrahmen ist der philosophische Rahmen aber indirekt mit allen Erkenntnissen der Welt verbunden. Der philosophische Rahmen ist aber auch keine bloße Zusammenfassung unseres sonstigen Wissens. Er hat ein gewisses Maß an Selbständigkeit. Aber die einzelwissenschaftlichen und sonstigen Erkenntnisse lassen sich aus ihm nicht logisch-deduktiv ableiten. Der philosophische Rahmen kann Gründe liefern, nicht aber allein begründen. Die Philosophie ist wie das Dach eines Zeltes. Die Stangen des Zeltes gleichen dem einzelnen Wissen. Das Dach des Zeltes kann nicht ohne die Stangen stehen. Aber auch die Stangen bedürfen des Dachs, um ein Zelt zu formen und nicht isoliert zu verharren. Ebenso ist der philosophische Rahmen vom einzelnen Wissen abhängig. Aber auch alles einzelne Wissen bedarf zwar nicht in seiner Tatsächlichkeit als einzelnes, aber doch zur Verbindung mit einer allgemeinen Erkenntnis der Welt des Zusammenhangs mit allem anderen Wissen, also des philosophischen Rahmens. Die Abhängigkeit ist wechselseitig, aber asymmetrisch: Die Philosophie ermöglicht den Zusammenhang, das einzelne Wissen den Bezug auf die singulären Dinge, Eigenschaften und Relationen der Welt. Was bedeutet dies für den Zusammenhang von Rechtswissenschaft und Philosophie? Das Recht ist in all seinen Verhältnissen auch Gegenstand der Philosophie. Aber die Philosophie geht darüber hinaus. Die Ziele der Rechtswissenschaft sind verschieden von denen der Philosophie. Aber die Philosophie berücksichtigt zumindest partiell auch diese eingeschränkteren Ziele. Die Umfassendheit der Methoden der Philosophie schließt auch die spezifischeren Methoden der Rechtswissenschaft ein, ohne sich auf sie zu beschränken. Das Ergebnis lautet somit: Gegenstand, Ziel und Methode der Rechtswissenschaft sind teilidentisch mit denjenigen der Philosophie. Das gilt nun aber auch für alle anderen Einzelwissenschaften, also etwa ebenfalls für die Soziologie, die Ökonomik, die Mathematik usw. Man kann dann im Sinne der Frage nach der Interdisziplinarität weiterhin untersuchen, ob die Rechtswissenschaft nicht doch eine größere Nähe zur Philosophie hat als andere Disziplinen. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein.

III.  Spezifikum der Teilidentität zwischen Rechtswissenschaft und Philosophie Weil die Rechtswissenschaft als normative Disziplin auf Beschreibungen aufbaut, hat sie im Rahmen eines beschränkteren Bereichs des Praktischen eine der Philosophie ähnliche Funktion der Relationierung, also der Inbeziehungsetzung vieler einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, etwa solcher der Soziologie, der Ökonomik aber auch der Naturwissenschaften. Das gilt nun zwar vielleicht auch für

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andere Wissenschaften, wie die Theologie für den Bereich des Transzendenten und die Mathematik für den Bereich deskriptiv-empirischer Erkenntnis, aber auf dem Gebiet des Praktischen ist es doch ein Alleinstellungsmerkmal der Rechtswissenschaften, das allenfalls noch die Ethik aufweist, die aber selbstredend ein Teil der Philosophie ist und keine selbständige Einzelwissenschaft.19 Dieser grundlegende Charakter der Inbeziehungsetzung gilt nun aber innerhalb der Rechtswissenschaft wiederum in höherem Maße für das Teilgebiet der Rechtsdogmatik, in geringerem Maße für die anderen Grundlagenfächer wie die Rechtsgeschichte, die Rechtssoziologie, die Rechtspolitik, die Rechtspsychologie, die Rechtsmedizin, mit Ausnahme natürlich der Rechtsphilosophie, die ja nicht nur eine Teildisziplin der Rechtswissenschaft, sondern auch der Philosophie ist.20 Die Rechtsdogmatik ist somit stärker auf einen interdisziplinären Austausch mit der Philosophie angewiesen als die anderen Grundlagenfächer, die in ihrer Brückenfunktion zu den ihnen jeweils zuordenbaren Einzelwissenschaften, etwa der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Ökonomik, der Medizin einzelwissenschaftlich beschränktere Gegenstände, Ziele und Methoden haben. Innerhalb der Rechtswissenschaft und hier wiederum vor allem der Rechtsdogmatik ist der Bezug auf philosophische Erkenntnisse generell umso entscheidender, je allgemeiner, d. h. abstrakter die gestellte Frage ist, weil abstraktere Fragen bzw. Begriffe umfassendere Relationen voraussetzen und deshalb näher an der Aufgabe der umfassenden Inbeziehungsetzung aller Teilerkenntnisse der Philosophie stehen. Insofern kann man kein einzelnes Gebiet der Rechtsdogmatik als besonders philosophienah oder philosophiefern auszeichnen. Es kommt alles darauf an, wie allgemein und damit abstrakt die jeweilige Fragestellung ist. Im Strafrecht ist etwa die allgemeine Handlungslehre natürlich viel philosophienäher als die Frage nach einem einzelnen Merkmal des Tatbestands der Fischwilderei nach § 293 StGB. Im Zivilrecht erweist sich die Frage nach der allgemeinen Vertragsfreiheit als erheblich philosophischer als etwa die speziellen Regelungen des Eigentums an Bienenschwärmen nach den §§ 961 – 964 BGB. Im Verwaltungsrecht setzen die verschiedenen Formen des Verwaltungshandelns in stärkerem Maße philosophische Reflektion voraus als die wasserrechtliche Einteilung der Gewässer. Im Verfassungsrecht sind schließlich abstrakte Begriffe wie Menschenwürde erheblich stärker der philosophischen Interpretation unterworfen als etwa die Festlegung der Bundesflagge auf die Farben schwarz-rot-gold durch Art. 22 II GG. Für die Interdisziplinarität zur Philosophie kommt also von Seiten der Rechtswissenschaft alles auf die Allgemeinheit, d. h. Abstraktheit der Fragestellung bzw. der zentralen Begriffe, und nichts auf die Fächereinteilung an. Nur wenn einzelne Fächer generell abstraktere Fragen behandeln und abstraktere Begriffe verwenden, stehen sie der Philosophie näher als andere. Das gilt vielleicht grosso modo für das Verfassungsrecht, wobei es auch im Verfassungsrecht – wie das soeben erwähnte Beispiel der Bundesflagge zeigt – sehr konkrete und damit philosophisch wenig relevante Regelungen gibt. dazu von der Pfordten 2010a, S. 1 ff. von der Pfordten 2011, S. 14 ff.

19  Vgl. 20 

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Früher wurde angenommen, das Strafrecht stehe der Rechtsphilosophie besonders nahe, weil es existenzielle Fragen von Leben und Tod regle. Damit wurde dann auch erklärt, warum viele bekannte Rechtsphilosophen, etwa Gustav Radbruch oder Arthur Kaufmann, als dogmatisches Fach das Strafrecht vertraten. Sieht man in ihrer Allgemeinheit bzw. Umfassendheit die entscheidende Eigenschaft der Philosophie und nicht in ihrer Existenzialität, so kann das kaum überzeugen. Zum Schluss noch eine Überlegung zur Notwendigkeit der Rechtswissenschaft für die Philosophie: Während die Einzelwissenschaften die Philosophie allenfalls benötigen, um in ihren abstrakteren Fragen zu besseren Lösungen zu kommen, ist die Philosophie zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Relationierung in viel grundsätzlicherer Weise auf die Einzelwissenschaften, aber auch die nichtwissenschaftliche Erkenntnis angewiesen, weil nur letztere der Philosophie Gegenstände wie das Recht liefern, um eine allgemeine Inbeziehungsetzung zu versuchen. Allerdings beschränkt sich diese Angewiesenheit nicht auf eine einzelne Wissenschaft bzw. Erkenntnis, sondern sie bezieht sich auf alle Einzelwissenschaften bzw. Erkenntnisse. Der Rechtswissenschaft kommt insofern keine Sonderstellung zu. Allerdings mag es wegen der ähnlichen Methode der Inbeziehungsetzung anderer Erkenntnisse bei einzelnen rechtswissenschaftlichen Aufgaben eine stärkere methodische Nähe des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zum philosophischen Denken und deshalb auch eine gewisse Affinität zur Philosophie geben, als dies bei manchen anderen Einzelwissenschaften der Fall zu sein scheint.

Literatur Aristoteles: Metaphysik, hg. von Horst Seidl. Hamburg, 3. Aufl., 1991. – Nikomachische Ethik, hg. von Günther Bien. Hamburg, 4. Aufl., 1985. Cohen, Hermann: Logik der reinen Erkenntnis. Hildesheim, 4. Aufl., 1977. Diemer, Alwin: Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Meisenheim/Glan, 1979. Dworkin, Ronald: Law’s Empire. Cambridge, 1986. Esser, Josef: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Frankfurt/Main, 1972. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen, 15. Aufl., 1984. Hoyningen-Huene, Paul: Systematicity: The Nature of Science, in: Philosophia 36, 2008, S.  167 – 180. – Systematicity: The Nature of Science. Oxford, 2013. Newton, Isaak: Philosophiae naturalis principia mathematica (1687). Nachdruck: Leiden, 1960.

Pfordten, Dietmar von der: Was ist und wozu Rechtsphilosophie?, in: JZ 2004, S.  157 – 166. – Normative Ethik. Berlin, 2010a. – Suche nach Einsicht. Über Aufgabe und Wert der Philosophie. Hamburg, 2010b. – Rechtsethik. München, 2. Aufl., 2011.

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Platon: Werke. Darmstadt, 2010. Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, hg. von Ralf Dreier und Stanley Paulson. Heidelberg, 2. Aufl., 2003. Rosenberg, Jay: Philosophieren. Frankfurt/Main, 2. Aufl., 1989. Ross, Alf: On Law and Justice. London, 1958. Searle, John: Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt/ Main, 1987. Wank, Rolf: Die Auslegung von Gesetzen. Heidelberg, 5. Aufl., 2011. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus (1922), Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt/Main, 10. Aufl., 1995. – Philosophische Untersuchungen (1953), Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt/Main, 10. Aufl., 1995.

Über den Verweisungszusammenhang von Politik und Recht Eine politiktheoretische Kartographie des modernen Konstitutionalismus* Oliver W. Lembcke

I. Einführung Die politische Leistungsfähigkeit des modernen Rechtssystems hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, die Prozesse der Entstehung und Veränderung von Normen nach eigenen, d. h. rechtlichen Regeln durchzuführen. Dazu gehört u.a., daß sich die Geltung von Rechtsnormen möglichst schnell und umfassend von der Genese emanzipiert. Ein Beispiel: Aussagen über das Ende der Geltung von Rechtsnormen werden typischerweise unterlassen. Ihre Geltung ist oftmals zeitlos.1 Mitunter werden Änderungsmöglichkeiten sogar explizit ausgeschlossen, wie etwa im Falle der „unveräußerlichen“ Menschenrechte oder des Prinzips der Menschenwürde, die gar kontrafaktisch als „unantastbar“ gelten soll. An Beispielen wie diesen wird deutlich, wie die Normativität des Rechts sich qua Positivität gegen die Veränderung von Lebensumständen vor allem im Bereich der Politik zu immunisieren sucht. Vor einem solchen Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Politikwissenschaft zum Verständnis des Rechts beitragen kann. In der intradisziplinären Arbeitsteilung richtet sich diese Frage zunächst an die Politische Theorie. Die nachfolgende Antwortstrategie, mit der die Relevanz des interdisziplinären Austauschs zwischen Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft mit den Mitteln der Politischen Theorie verdeutlicht werden soll, konzentriert sich auf den Konstitutionalismus, der als Errungenschaft moderner Rechtsstaatlichkeit aus historischen, aber bis heute fortwirkenden Prozessen der Politisierung des Rechts und der Verrechtlichung der Politik hervorgegangen ist. Diese Entwicklung prägt das Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaates bis heute nachhaltig – und nur eine auf diese Weise ideengeschichtlich gesättigte Theorie, so die These, ist in der Lage, über jene Engführungen aufzuklären, die den Rechtsbegriff um seinen notwendigen Bezug zum Politischen verkürzen (Positivismus) oder ihn mit dem Politischen zusammenfallen lassen (Dezisionismus). Der Konstitutionalismus wird hier als eine Art Mittelweg zwischen Scylla und Charybdis skizziert, der * Teile und Varianten des Vortags sind seit dem Vortrag verschiedentlich präsentiert worden; dem vorliegenden Text liegt eine deutsche Fassung zugrunde, die überarbeitet, gekürzt und aktualisiert worden ist; siehe Lembcke 2013. 1  Zu den Zeitstrukturen des Rechts siehe Kirste.

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jedoch nur beschritten werden kann, wenn Politik und Recht als Momente eines Verweisungszusammenhangs verstanden werden. Zu diesem Verständnis kann die Politikwissenschaft in einem kritisch-konstruktiven Dialog mit der Rechtswissenschaft beitragen, und zwar auf den drei Ebenen der Rechtsphilosophie, Rechtsdogmatik und der Rechtspraxis.

II.  Drei Modelle des Verhältnisses von Politik und Recht Die ideengeschichtliche Skizze bietet reichhaltiges Material zur Anschauung der Interdependenz von Recht und Politik. In systematischer Absicht ist die Theorie gefordert. Zum Zwecke der Vereinfachung lassen sich drei Modelle paradigmatisch unterscheiden – der Dezisionismus (1.), der Positivismus (2.) und der Konstitutionalismus (3.) –, die hier anhand der Vertreter Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller vorgestellt werden.2 1. Dezisionismus Zum bleibenden Vermächtnis der Verfassungstheorie von Carl Schmitt gehört seine Unterscheidung zwischen der Verfassung und dem Verfassungsgesetz. Einzelne Gesetze, etwa aufgrund ihrer erschwerten Änderbarkeit, als Verfassung zu bezeichnen, führen Schmitt zufolge in die Irre. Nicht als „Einzelheit“, sondern als „Einheit“ sei die Verfassung zu verstehen, als Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt einer Nation, mit der diese eine souveräne Entscheidung über ihre Existenz trifft, sich dadurch von anderen Formen des Zusammenlebens abgrenzt und sich so eine eigene Identität formt.3 Eine solche „Form der Form“ geht der Entscheidung über das normative Fundament einer Ordnung voraus und ist daher vom „positiven“ Verfassungsbegriff zu unterscheiden, der die „Norm der Norm“ zum Gegenstand hat. In dieser Unterscheidung tritt der für das Schmittsche Denken charakteristische Dezisionismus deutlich hervor: die Überzeugung, daß der politischen Ordnung keine konstituierenden Prinzipien oder Werte vorausgehen, sondern es sich bei ihr – normativ betrachtet – um eine „creatio ex nihilo“ handelt, eine Ordnung um ihrer selbst willen. Einmal etabliert, verlangt sie dem Juristen ein „konkretes Ordnungsdenken“ ab, um Rechtsentscheidungen im Einklang mit der legitimen politischen Ordnung zu halten. Aus der systematischen Bestimmung der Verfassungsbegriffe folgt die immer mögliche Relativierung der Rechtsgeltung einzelner Normen im Lichte der Gesamtentscheidung. Dies gelte insbesondere für solche Verfassungen, die nicht von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes her verstanden, sondern aus einem „Idealbegriff“ heraus konstruiert werden – wie im Falle der Weimarer Verfassung. An ihr sind von Schmitt all jene Bestimmungen des bürgerlichen Rechtsstaates kri-

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3 

Zur Rezeption im internationalen Theoriediskurs: u.a. Dyzenhaus und Caldwell. Siehe hier und im folgenden Schmitt 1928, Kap. I – II.

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tisiert worden, insbesondere die Grundrechte und die Gewaltenteilung, die auf eine konstitutionelle Beschränkung der eigentlichen „politischen Form“ hinauslaufen. Diese Kritik beruht auf der für Schmitt grundlegenden Differenz zwischen Liberalismus und Demokratie, die er mit einer weiteren Leitunterscheidung verknüpft, nämlich den beiden Formprinzipien Identität und Repräsentation.4 Zur Demokratie gehöre das Formprinzip der Identität, zur Monarchie hingegen jenes der Repräsentation. Die liberale Demokratie in ihrer parlamentarischen Variante der Weimarer Republik vermische diese Formprinzipien miteinander und besitzt bereits aus diesen Gründen einen Geburtsfehler, den sie letztlich nicht heilen kann; und der Parlamentarismus sei zu schwach, den politischen Willen des Volkes in angemessener Weise zu artikulieren.5 Seine Analyse der „konkreten Verfassungslage“ war eindeutig:6 Die gegensätzlichen wirtschaftlichen und politischen Interessengruppen zerstören die staatliche Einheit, die Regierung ist handlungsunfähig – ein Zustand, der dem Sinn jeder vernünftigen Verfassung zuwider ist. Mit einem Wort: Deutschland befindet sich in einem „Ausnahmezustand“.7 Um in diesem Zustand die widerstrebenden Mächte zu bändigen, den Partikularinteressen zu widerstehen und für einen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien zu sorgen, müsse der Hüter der Verfassung eine kraftvolle politische Instanz sein. Und dafür komme nach Lage der Dinge nur die „Diktatur des Reichspräsidenten“ in Frage.8 Aufschlußreich für das Verhältnis von Recht und Politik sind dabei die Einwände Schmitts gegen ein Verfassungsgericht.9 Denn bei genauerem Hinsehen ist es weniger die vermeintliche Ohnmacht als vielmehr die Machtfülle, vor der Schmitt warnt. Gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüter der Verfassung führt er das Argument der „Juridifizierung“ an, bei der „die Politik nichts zu gewinnen und die Justiz alles zu verlieren hat“.10 Diese Sicht unterstellt, daß die Interpretation einer Verfassungsnorm nicht mehr richterliche Tätigkeit, sondern eine des Gesetzgebers sei. Schmitt selbst weiß genau, daß in jeder richterlichen Entscheidung ein Element reiner Dezision liegt, das nicht aus dem Inhalt der Norm abgeleitet werden kann. Was ist also das Besondere im Verfassungsrecht? Für Schmitt sind es die vagen Bestimmungen, deren Auslegung das Gericht zu eigenmächtig werden läßt. Es drohe vom Hüter zum „Herrn“ der Verfassung zu werden. Statt ohnmächtig dem Treiben der Politik zusehen zu müssen, erscheint die Verfassungsgerichtsbarkeit nun plötzlich als Wegbereiter eines „Justizstaates“.11

Schmitt 1928, Kap. III. Zum Schmittschen Anti-Konstitutionalismus Scheuerman. 6  Siehe v.a. Schmitt 1931, S. 71 – 131. 7  Näheres zu Schmitts Konzept des Ausnahmezustandes Lembcke 2007a. 8  Schmitt 1931, S. 100 – 108, 115, 135 f. 9  Ausführlich dazu Lembcke 2007b, S. 15 – 27. 10  Schmitt 1931, S. 35. 11  Schmitt 1922, S. 13. 4 

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2. Positivismus Für Kelsen handelt es sich bei der Frage, ob es einen Hüter der Verfassung geben solle, um eine rechtspolitische Entscheidung. Seine Präferenzen liegen jedoch eindeutig bei einem Verfassungsgericht. Denn letztlich könne nur die Verfassungsgerichtsbarkeit die Verbindlichkeit der Verfassung als oberste Rechtsnorm und somit den Vorrang der Verfassung vor den übrigen Normen sicherstellen.12 Vor einem starken Verfassungsgericht ist Kelsen daher anders als Schmitt gar nicht bange: Vorausgesetzt, daß die Verfassung nicht mit „vagen Schlagworten“ angereichert werde (z. B. Gerechtigkeit, Freiheit, Billigkeit, Sittlichkeit).13 Der sicherste Weg, der „Machtvollkommenheit“ der Verfassungsgerichte zu begegnen, sei daher, daß sich der Verfassunggeber „jeder derartigen Phraseologie“ enthalte.14 In Kelsens Sicht ist die Verfassung nichts anderes als eine Ordnung von inhaltlich bestimmten Normen; und die Funktion des Hüters beschränkt sich darauf, den Vollzug der Verfassung durch entsprechende Akte der anderen Staatsgewalten zu überprüfen und diese gegebenenfalls als verfassungswidrig aufzuheben. Es handelt sich mithin um keine kreative, sondern um eine negative Funktion, die der Hüter der Verfassung auszuüben hat – weshalb Kelsen ihn auch als einen „negativen Gesetzgeber“ bezeichnet.15 Mit dieser Bezeichnung wird darüber hinaus zum Ausdruck gebracht, daß die Unterschiede zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung nur relativer Art sind: Die Gesetzgebung erzeugt generelle Normen, die Rechtsprechung individuelle Normen. In beiden Fällen handelt es sich um „Rechtserzeugung“, die stets aber auch ein „Dezisionselement“ und damit auch ein „Element der Machtausübung“ enthält.16 Hierin besteht der notwendige politische Charakter jeder Rechtsprechung, auch der Verfassungsgerichtsbarkeit – und er wächst mit dem freien Ermessen des Richters. Ungeachtet aller Gegensätzlichkeit in den rechtstheoretischen Grundpositionen findet sich daher eine gewisse Verwandtschaft in der Einschätzung dieser Frage zwischen Kelsen und Schmitt: Beide schwanken in der Frage der Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen machtvoll und ohnmächtig hin und her. Der Grund dafür: Für Schmitt wie Kelsen beruht praktisches Handeln letztlich auf dem Willen desjenigen, der entscheidet; und dessen Entscheidungen entziehen sich weiterer Rationalisierung. In Schmitts Augen ist dies ein Ausdruck von Macht – und zugleich ein Zeichen für das Politische in einer Situation. Solange sich der Staat in einem „Normalzustand“ befindet, ist die Trennung von Recht und Politik für ihn das Kennzeichen des bürgerlichen Rechtsstaates. Die Politik könne dann jedoch nicht mehr aus dem Recht ausgesperrt bleiben, wenn existentielle Gefährdungen Kelsen 1929, S. 43 ff. Kelsen war aus diesem Grund anfänglich auch skeptisch gegenüber einem juridischen Konzept grundlegender Freiheitsrechte, hat aber diese Position im Laufe der Zeit überwunden; vgl. Dreier, S. 119. 14  Kelsen 1929, S. 24, 69 f. 15  Kelsen 1931, S. 28. 16  Kelsen 1931, S. 15, 21 f. 12  13 

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den Staat herausfordern. Die Frage nach der richtigen Entscheidung ist dann keine mehr des Rechts, sondern, so Schmitt, des politischen (Überlebens-)Willens – mit der Konsequenz, daß in diesem Zustand das Recht ausgesperrt wird. Nach Kelsens Auffassung handelt es sich bei dieser Argumentation um eine Kette von Irrtümern, deren erster und wesentlichster in der Trennung von Recht und Politik besteht.17 Rechtsprechung ist Kelsen zufolge stets auch Rechtserzeugung, weil die Entscheidung des Gerichts immer ein dezisionistisches Moment enthält. Die politische Hüter-Funktion eines Gerichts steht daher auch nicht quer zu seiner „Tätigkeit“, diese folgt jener schlicht. Alle staatlichen Organe sind solche, die Recht „setzen“, der Unterschied bestehe eben nur (wie bereits erwähnt) in dem Grad der Allgemeinheit der Rechtssetzung. Damit ist die traditionelle Zuordnung von Funktionen im Staat aufgehoben. Stattdessen ergibt sich die hierarchische Ordnung der Organe gemäß Kelsens „Stufentheorie“ der Rechtsordnung aus ihrer Nähe zur Verfassung als oberster Rechtsnorm eines Staates, wobei die übergeordnete Norm als interpretatorisches Richtmaß für die Auslegung bzw. Setzung der Normen auf den jeweils unteren Stufen dient.18 Während Schmitt der Trennung von Recht und Politik jene von gerichtlichem Handeln und Hüterfunktion folgen läßt, lösen sich bei Kelsen auch diese Unterscheidungen auf. Recht ist für Kelsen das, was autoritativ gesetzt worden ist. Sind die Verfahren der Rechtssetzung formal korrekt gewesen, ist das Ergebnis Recht: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“19 In dieser Sichtweise wird aber nicht nur das Handeln der staatlichen Organe (als Rechtssetzung) uniformiert. Auch die Interpretation wird auf einen schlichten Willensakt reduziert.20 Die Abwägungsprozesse, die der Entscheidung vorausliegen, verlieren ihre Bedeutung und werden – wie beim Dezisionismus – beliebig. 3. Konstitutionalismus In der Auseinandersetzung mit Kelsen und Schmitt ist es vor allem Hermann Heller gewesen, der gegen die Anfechtungen von Dezisionismus und Positivismus den Anspruch des Konstitutionalismus verteidigt hat. Seine Argumentation taugt vor allem deswegen als Muster konstitutionellen Denkens, weil Heller eine dezi-

17  Eine solche gegenstandsbezogene Unterscheidung ist Kelsen zufolge überholt; siehe dazu ausführlich Lembcke 2014, S. 103 ff. Worauf es vielmehr ankommt, ist eine methodengeleitete Arbeitsteilung zwischen der Rechtswissenschaft, die über ihre eigenen disziplinären Grenzen aufgeklärt ist, und anderen Wissenschaftsdisziplinen – wie etwa der Politikwissenschaft. Laut Ehs (S. 7) sei es überhaupt erst „Kelsens Methodenreinheit“, die „den Beginn der modernen Politikwissenschaft [markiert]“; in diesem Sinne auch Lepsius. 18 Vgl. Kelsen 1960, S. 228 – 282. 19  Kelsen 1960, S. 201. 20 Die Interpretationslehre dürfte zu den problematischsten Aspekten der Reinen Rechtslehre gehören; vgl. dazu u.a. Dreier, S.  145 – 155.

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diert demokratische Sicht auf den Rechtsstaat entwickelt und sich daher in besonderer Weise mit dem Verhältnis zwischen Recht und Politik auseinandersetzt.21 Für Heller kommen im Konstitutionalismus zwei Überzeugungen zusammen:22 der Grundsatz politischer Selbstbestimmung und der Glaube an die Fähigkeit jeder Person oder Gruppe, selbständig ihre Interessen erkennen und vertreten zu können. Zusammen mit dem Autonomieprinzip bildet die politische Gleichheit eine notwendige Einheit, die im Gesetz ihren Ausdruck findet. Anders gesagt: Die „konstitutionellen“ Gesetze ermöglichen den Bürgern eine gehaltvolle Teilnahme am politischen Leben, die als Souverän und Rechtsunterworfener im demokratischen Willensbildungsprozeß eine Doppelrolle einnehmen.23 Wer sich die Genese des Rechtsstaates vor Augen führt, der erkennt die Bedeutung der Idee der Volkssouveränität für den Konstitutionalismus. Auf diesen Zusammenhang von Demokratie und Liberalismus kommt es auch Heller in besonderer Weise an. Neben der limitierenden Funktion der Rechtsstaatlichkeit, die sich auf die Grenzen staatlicher Herrschaft, auf die Organisation der Staatsgewalten sowie auf die Berechenbarkeit öffentlichen Handelns bezieht, existiert die legitimierende Funktion, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts europaweit eng mit dem demokratischen Ideal der politischen Partizipation verbunden war. Im demokratischen Rechtsstaat sorgen Wechselseitigkeit, Verantwortungsverteilung und Rückbindungen für symmetrische Rechtsverhältnisse zwischen Gesetzgeber und Normadressat. Während im formellen Rechtsstaat die Erwartungssicherheit im Umgang mit dem Recht vordergründig ist, hält der materielle Rechtsstaat Rechtsbeziehungen offen – und das Instrument, das diesen Gedanken in besonderer Weise verkörpert, ist das konstitutionelle Gesetz selbst. Zweifellos stellt auch ein solches Gesetz einen Befehl gegenüber den Rechtsunterworfenen dar. Aber dieser Befehl wird in den Bahnen des Rechts individualisiert, um in seiner konkreten Form als Norm anerkennungswürdig zu sein und auf entsprechende Akzeptanz zu stoßen. Unter rechtsstaatlichen Bedingungen heißt dies, daß der Legitimitätsglaube auf rationale Rechtfertigung ausgerichtet ist. Die Frage nach den Maßstäben solcher Rechtfertigungsmöglichkeiten befördert dabei nicht nur in den Worten Kants die „Publizität“ der Politik,24 sie leistet aufgrund des allgemeinen Legitimationsbedarfs auch der Demokratisierung Vorschub.25 Und so wie das Recht den Prozeß der Individualisierung des Gesetzesbefehls von oben nach unten regelt, so regelt es auch den Willensbildungsprozeß von unten nach oben, mit dem die Repräsentanten (aus-)gewählt werden. Heller teilt mit Kelsen den Gedanken 21  Zur Rekonstruktion des politikwissenschaftlichen Zugangs der Staatslehre Hellers: Henkel/Lembcke; außerdem Henkel 2011. 22  Heller 1928a, S. 210. 23  Ausführlicher hierzu Lembcke 2010. Vgl. zur demokratischen Partizipation Heller 1924, S. 309, 331 – 333. 24  Zum Begriff vgl. den zweiten Appendix in der Friedensschrift: Kant [1795] 1983, S.  244 ff. 25  Ausführlicher hierzu Dyzenhaus, S. 196 f.

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der Normenhierarchie; diese Hierarchie ist bei ihm jedoch nicht Ausdruck eines logischen Vorrangs des Allgemeinen vor dem Individuellen, sondern das Ergebnis eines politischen Vorrangs des Gesetzgebers. Für ihn ist die rechtliche Bestimmung politischer Macht – in der doppelten Perspektive „bottom up“ und „top down“ – ein entscheidendes Charakteristikum einer rechtsstaatlichen Demokratie. Es umfaßt die Bestellung von Repräsentanten ebenso wie ihre rechtliche Bindung im Amt; es regelt überdies die Unabhängigkeit der Amtsträger und stellt Sanktionsmechanismen bereit, um die demokratische Rückbindung zu gewährleisten.26 Dieses Rechtsverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, das seinen Grund in der politischen Selbstbestimmung eines Volkes hat, macht für Heller den Unterschied zwischen Demokratie und Autokratie aus. Eine solche Doppelperspektive ist seines Erachtens auch mit Blick auf jene Rechtsgrundsätze angemessen, die nicht Teil des positiven Rechts sind,27 die jedoch mit dem positiven Recht über die jeweilige (Rechts-)Kultur verbunden sind.28 Die ethischen Rechtsgrundsätze verweisen auf den Umstand, daß der Wille des Gesetzgebers nicht die einzige Legitimitätsquelle darstellt. Daher bilden sie für Heller zusammen mit den Gesetzen eine normative Einheit, die vom Staat durch seine (positiv-rechtliche) Gesetzgebung nicht erschöpft werden kann.29 Ähnlich wie zuvor bereits die Rechtssätze lassen sich die Rechtsgrundsätze in zweifacher Weise betrachten: Von unten nach oben nehmen sie den Staat und insbesondere den Gesetzgeber in die Pflicht zum „richtigen“ Handeln; von oben nach unten wirken sie als Rechtfertigung des Rechtsetzers. Es ist diese Doppelperspektive, die das konstitutionelle Denken – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – besonders geprägt hat.

III.  Moderner Konstitutionalismus Die Verbindung von Liberalismus (Freiheitsrechte des Einzelnen) und Demokratie (Selbstbestimmung des Volkes) macht den inhaltlichen Kern des modernen Konstitutionalismus aus. Die älteren Spielarten, etwa in Form der konstitutionellen Monarchie, genügen den Anforderungen politischer Legitimation nicht mehr.30 Mögen in solchen Staaten auch Recht und Gesetz herrschen, sind doch die Möglichkeiten freiheitlicher Gesetzgebung (in unterschiedlichem Grade) begrenzt. Von der Verbindung politischer Freiheit und Gleichheit bleibt in solchen Fällen oftmals nur der fade Abglanz einer Gleichheitsgarantie vor dem Gesetz zusammen mit verschiedenen Grundrechten des Einzelnen, die ihm als Abwehrrechte gegen den Staat dienen. Statt politischer Freiheit, rechtliche Freiheiten. Im modernen KonstiHeller 1928b, S. 425 – 427. Dafür mangelt es ihnen bereits an einer hinreichenden (individualisierten) Bestimmtheit, um ein normgemäßes Verhalten anordnen zu können. 28  Heller 1928a, S. 228 f. 29 Vgl. Dyzenhaus, S. 197. 30  Pars pro toto Benhabib. 26  27 

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tutionalismus findet hingegen die politische Autonomie des Volkes ihren Ausdruck in rechtlich verfaßten Verfahren der demokratischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Deren institutionelle Ausgestaltung ist jedoch Gegenstand eines komplexen Theoriediskurses. Das zeigt sich u.a. in dem Diskurs innerhalb der Demokratietheorie, der sich um folgende Frage dreht: Wieviel Deliberation verlangt das Ideal der volonté generale von den demokratischen Akteuren und Verfahren? Und wieviel Dezision (der Mehrheit) erträgt es?31 Aus der Warte des Konstitutionalismus führt eine solche Frage zum Problem, die Gewichte im Grundverhältnis zwischen der Volkssouveränität als verfassunggebenden Gewalt einerseits und der rechtlichen Verfaßtheit der Politik auf der anderen Seite angemessen zu bestimmen. Idealtypisch lassen sich in der gegenwärtigen Diskussion fünf Zugänge unterscheiden:32 (1) In einer liberalen Variante des Konstitutionalismus stellen grundlegende Rechte des Einzelnen – in der Tradition John Lockes life, liberty, and estate – die unverzichtbare Basis für jede freiheitliche politische Ordnung dar. Sie sind in diesem Sinne von universaler Gültigkeit; und ein Großteil liberaler Verfassungstheorien versucht eine überzeugende Begründung für diesen Anspruch der Universalität zu liefern. Zu den bekannten und elaborierten Entwürfen zählt John Rawls’ Theorie of Justice (1971), die in einem „Restatement“ nach drei Jahrzehnten der intensiven und kritischen Auseinandersetzung unter dem Titel Justice as Fairness (2001) neuerlich vorgelegt worden ist. An seiner Theorie läßt sich der – aus liberaler Sicht notwendige – Vorrang des Rechts vor der Politik im Prozeß der Verfassunggebung studieren: Nicht das souveräne Volk, sondern die moralischen Prinzipien des Rechts und ihre Beachtung bei der Entfaltung der Rechtsverfassung entscheiden über die Legitimität der politischen Ordnung. Zur Begründung solcher allgemeingültigen Prinzipien bedient sich Rawls eines Gedankenexperiments:33 Für welche Verfassungsprinzipien würden sich freie und vernünftige Menschen in einem „Urzustand“ (original position) entscheiden, in dem sie zwar hinreichend über die Grundzusammenhänge des gesellschaftlichen und politischen Lebens informiert sind, aber unter dem „Schleier des Nichtwissens“ nichts über ihre konkrete Lage wissen (d. h. über ihren sozialen Status, über Rasse, Geschlecht etc.)? In einer solchen Lage, so Rawls, würden sich alle Akteure auf zwei basale Gerechtigkeitsgrundsätze einigen können: (i) Jeder Mensch hätte die gleichen Grundfreiheiten, soweit dies mit den Grundfreiheiten der anderen Menschen verträglich ist. (ii) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind immer dann zulässig, wenn sie entweder mit Ämtern oder Positionen verbunden sind, die allen prinzipiell of-

31  Zu den paradoxen Beziehungen, die im Rahmen einer politiktheoretischen Analyse auftauchen: Honig. 32  Loughlin/Walker, S. 6 f. 33  Rawls 1971, S. 17 – 21, 118 ff.; ders. 2001, S.  14 – 18, 80 – 134.

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fenstehen (faire Chancengleichheit), oder wenn sie denjenigen, die am wenigsten begünstigt sind, am meisten zugutekommen (Differenzprinzip).34 (2) Gegen diesen universalistischen Anspruch einer Gerechtigkeitskonzeption hat der Kommunitarismus das Eigenrecht konkreter Gemeinschaften verteidigt. In einer frühen Kritik an Rawls hat u.a. Michael J. Sandel bereits darauf hingewiesen, daß erst die Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften sowie die Teilhabe an gemeinsamen Wert- und Moralvorstellungen den Einzelnen in die Lage versetzen, sich ein Urteil über Gerechtigkeitsprinzipien zu bilden.35 Ins Politische gewendet folgt daraus ein allgemeiner Vorrang des Öffentlichen (und Politischen) vor privaten Angelegenheiten: So stehen die individuellen Rechte unter dem Vorbehalt der Gemeinwohlverträglichkeit. Und die Verfassung selbst ist vor allem als ein Ausdruck der politischen Traditionen zu verstehen, als Erzeugnis eines organischen Wachstums, hinter den der einmalige Akt der Verfassunggebung an Bedeutung zurücktritt. (3) Einen dritten Weg zwischen Liberalismus und Kommunitarismus strebt Jürgen Habermas mit seiner diskurstheoretischen Rekonkstruktion des demokratischen Rechtsstaates an.36 In seiner Sicht droht eine liberale, an den Rechten orientierte Limitierung der politischen Öffentlichkeit negative Auswirkungen auf die politische Partizipation der Bürger zu entwickeln und damit letztlich zu einer Trennung von Staat und Gesellschaft zu führen. Aber auch die kommunitaristische, an der Demokratie orientierte Vorrangstellung der Öffentlichkeit hat einen Nachteil, weil sie nur allzu leicht die individuellen Rechte relativiert und den Bürger im Endeffekt rechtlich schutzlos stellt. Habermas plädiert daher für eine Symbiose von privaten Rechten und öffentlicher Selbstbestimmung, eine Gleichursprünglichkeit von Rechtsstaat und Demokratie, aus der sich eine produktive Spannung zwischen den verfaßten Gewalten einerseits und dem Volk andererseits ergebe. In diesem Ansatz kommt dem Volk als demokratischem Souverän im Hintergrund weiterhin eine legitimatorisch bedeutsame Rolle zu, sofern sich die Interessen der Bürger durch deliberative Verfahren in das politische System einspeisen lassen. (4) In den Augen von Hardt und Negri wird eine solche Vorstellung der Rolle des demokratischen Souveräns nicht gerecht. Es ist nicht mehr das staatlich organisierte Volk, sondern die über die staatlichen Grenzen hinaus miteinander zur multitude verbundenen Vielen im empire, die im eigentlichen Sinne das Heft des Handelns in der Hand haben.37 Das Empire kennt keine Außengrenzen mehr, sondern umfaßt die Weltgesellschaft insgesamt; es ist dadurch allerdings für Hardt und Negri kaum mehr als eine leere Form. In wechselnden, flexiblen Organisationen sind die Vielen der Multitude in der Lage, ihre strategischen Interessen durchzusetzen, denen gegenüber sich der Staat mit seinen überkommenen hierarchischen Strukturen und Ansprüchen mittelfristig als ohnmächtig erweist. Nach Hardt/Negri erweist sich Rawls 1971, S. 54 – 117; ders. 2001, S. 39 – 79. Sandel. 36  Habermas, Kap. III. 37  Hardt/Negri. 34  35 

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das radikale Potential des modernen Konstitutionalismus daher in der multilateraler Governance, indem die Multitude die Chance besitzt, das zwischen lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Rechtsbereichen fragmentierte Recht zu ihren Gunsten auszunutzen und sich dadurch in zunehmender Weise von staatlichen Zwängen zu befreien.

IV. Aufgabenfelder Ungeachtet der Unterschiede verstehen sich sämtliche Ansätze des Konstitutionalismus als eine Reaktion auf ein Grundproblem, das sich mit De Maistres kleiner Schrift De la souveraineté du peuple (1794) pointieren läßt. Danach ist das Volk zwar der Souverän, ohne jedoch seine Macht auch souverän ausüben zu können.38 Soll die freiheitliche Selbstbestimmung dennoch gelingen, darf die politische Macht nicht willkürlich ausgeübt werden. Vielmehr muß sie durch Recht gebunden und legitimiert zur authority werden – so die zentrale Einsicht Thomas Hobbes. Die zahlreichen, mit diesem Transformationsprozeß verbundenen Fragen und Probleme lassen sich in drei Rechtsebenen teilen: der Verfassungsebene (1.), der Gesetzgebung (2.) sowie der Rechtsanwendung (3.). Auf allen drei Ebenen fällt der politischen Theorie die Aufgabe zu, die empirischen Probleme des Verhältnisses zwischen den Bereichen des Rechts und der Politik zu beobachten und deren normative Implikationen theoretisch zu erfassen. 1.  Normative Ordnung des Politischen Die Aufgabe, die ursprüngliche Einheit der politischen (Volks-)Souveränität in eine demokratische Organisation zu übersetzen, die den Regeln der Gesetze folgt, macht, wie gesehen, den Kern des Konstitutionalismus aus. Es ist zudem bereits deutlich geworden, daß wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen modernen Varianten davon abhängen, wie das Verhältnis von Recht und Politik am Ursprung einer Ordnung verstanden wird. Um das Beispiel noch einmal aufzugreifen: Soll die Verfassung so eingerichtet sein, „als ob“ das Volk vernünftigerweise nicht anders als zustimmen könnte? Oder muß tatsächlich eine Art Konsens vorliegen, auf dessen Grundlage eine Verfassung legitimerweise erst erwachsen kann? Die erste Frage wirft die Nachfrage auf, wie sich diese Art der Vernunft rechtfertigen ließe, auf die man sich beruft. Aber auch eine politischere Fassung dieses Verhältnisses zieht Probleme nach sich: Ist die Einheit keine des Rechts, d. h. nach vernünftigen Prinzipien geordnete Rechtsvorstellung, aus welchen Quellen stammt sie dann? Paradigmatisch lassen sich zwei Antworten unterscheiden: die der Kulturnation und die der Willensnation. Die Kulturnation bezieht sich auf eine gemeinsame Sprache, ein geteiltes Verständnis von Geschichte oder die Vorstellung eines gemeinsamen Bildungsideals, etwa das Deutschland der „Dichter und Denker“. Während in solchen Konzepten die Nation als eine prä-politische Ein38 

De Maistre, S. 3.

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heit verstanden wird, ist die Willensnation das Produkt eines dezidiert politischen Aktes, der etwa wie im Falle Frankreichs oder der Vereinigten Staaten in einem revolutionären Akt der Verfassunggebung seinen Ausdruck findet. Vor dem Hintergrund dieser paradigmatischen Gegenüberstellung lassen sich drei Problemfelder einer Verfassungstheorie markieren, an der Rechtsphilosophie und politische Theorie zu gleichen Teilen beteiligt sind: (i) Ist Volkssouveränität – im Sinne der Lehre vom Gesellschaftsvertrag – Ausdruck einer normativ verstandenen Einheit, auf die politisches Handeln (regulativ) immer bezogen bleibt bzw. bleiben soll? Oder wird mit der Volkssouveränität – im Sinne der Elitentheorie – ein historisches Subjekt bezeichnet, das bestimmte Inter­ essen als allgemeinverbindlich durchgesetzt hat? (ii) Eng mit diesen Fragen verbunden sind auch die Fragen nach dem Status des Volkes: Ist es fiktiver oder tatsächlicher Träger souveränen politischen Handelns. Ist es ein realer oder doch potentieller Akteur? Oder handelt es sich um einen Endpunkt rechtlicher Zurechnung politischen Handelns. (iii) Schließlich: Liegt die Identität der politischen Einheit der Verfassunggebung voraus (z. B. als Wertegemeinschaft) oder wird sie erst durch den Akt der Verfassunggebung zur politischen Gemeinschaft? Um die Relevanz der theoretischen Reflexion an dem letzten Aspekt noch ein wenig zu verdeutlichen: Überblickt man die Richtung der Studien zu politischen Gemeinschaften (Nationen, Regionen etc.), so ist die Tendenz mit Händen zu greifen, mit der vor allem die Kontingenz des Entstehens und Bestehens dieser Gemeinschaften veranschaulicht wird. Gemeinsame Werte oder Einstellungen sind nicht „natürlich“ vorhanden, sondern bilden sich erst in einem politischen Prozeß als gemeinsame Vorstellungen heraus,39 die dann im Zusammenspiel mit dem Recht ihren allgemeinverbindlichen Status erhalten. Das hat Rückwirkungen für das Verfassungsverständnis. Verfassungen müssen sich keineswegs auf vorgängige politische Identitäten beziehen, sie können politische Identitäten gegebenenfalls selbst schaffen. Sie wirken damit nicht nur grenzziehend und stabilisierend, sondern auch grenzüberwindend und dynamisch. Die Kontingenz von Verfassung kommt damit selbst in den Blick – und damit auch die Aufgabe der politischen Gemeinschaft, sich im Rahmen der Verfassung immer wieder aufs neue nach der eigenen Identität zu befragen.40 Ein Beispiel dafür ist das Projekt der Europäischen Integration, das auf absehbare Zeit Schwierigkeiten haben wird, eine nachhaltige Antwort auf die Frage zu finden, wo die Grenzen Europas eigentlich liegen. Geht es um solche Grundfragen der politischen Ordnung, ist die Leistungsfähigkeit des Rechts ebenso bald erschöpft wie die Auskunftsfähigkeit der Rechtswissenschaft. Beide sind hochgradig flexibel, wenn es darum geht, sich den Veränderungen innerhalb politischer Ordnungen anzupassen. Je stärker sich die Veränderungen jedoch auf die politische Ordnung (polity) selbst beziehen, desto 39 

40 

Anderson. Lindahl.

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klarer treten der politische Charakter des Rechts hervor sowie die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die Entscheidungen vollzogen werden. In diesen Fällen ist die Rechtswissenschaft gut beraten, den Dialog mit der politischen Theorie zu suchen. 2.  Rechtsetzung durch Recht und Politik Dieser Dialog sollte auch auf der Ebene der Rechtsetzung fortgesetzt werden. Gegenstand sind hier weniger die legitimationstheoretisch bedeutsamen Grundsatzfragen des Zusammenhangs von Freiheit und Ordnung, sondern ist die soziale Funktion des Rechts, die im öffentlichen Frieden besteht. Sowohl die Funktion selbst als auch die tatsächlichen Wirkungen des Rechts lassen sich vom internen Standpunkt der Rechtswissenschaft nur schwer, vom externen Standpunkt der politischen Theorie – im Zusammenspiel mit empirischen Sozialwissenschaften – hingegen sehr wohl beobachten und beschreiben. Erst von diesem externen Standpunkt aus wird deutlich, daß das Recht die politische Kommunikation, in der es oftmals um Gewinner und Verlierer geht, maßgeblich entlastet: Die Rechtsförmigkeit legitimitiert und limitiert Entscheidungen der Politik und trägt auf diese Weise zu deren Akzeptanz bei. Dieser grundsätzliche Zusammenhang läßt sich – aus der Warte des Rechts – idealtypisch in vier Verhältnisbeziehungen zur Politik entfalten.41 (1) Recht als Zweck der Politik: Es gehört zum demokratischen Selbstverständnis, daß allgemeinverbindliche Entscheidungen aus einem pluralen politischen Kampf hervorgehen. Diesen Aspekt betont vor allem Max Webers Bestimmung der Politik als ein Streben nach Macht und Machterhaltung. Auch und gerade in der Politik gilt Weber zufolge, daß Macht die Chance bedeutet, den eigenen Willen gegen das Widerstreben des anderen durchzusetzen.42 Aber eine solche Durchsetzung eigener Interessen ist stets begleitet von dem allgemeinen Interesse, daß die Befehle befolgt werden. Die Frage nach den Motiven der Rechtsbefolgung ist ein altes Thema der Ideengeschichte (z. B. Machiavelli, Hobbes), dem sich mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaft die sogenannten compliance studies angenommen haben.43 Sie bestätigen tendenziell die alte Vorstellung, daß die Dauerhaftigkeit der Ordnung davon abhängt, ob der Gerechtigkeitsanspruch der jeweiligen politischen Ordnung von den Bürgern dieser Ordnung geteilt wird. Mit anderen Worten: Gerechtigkeitsvorstellungen scheinen ebenso Teil der Politik zu sein wie der Kampf um Macht. Gerade dieser Aspekt scheint demokratische Systeme, sofern sie ihre Implementationsphase überwunden haben, weniger krisenanfälliger zu machen als autoritäre Regime.44 41 Zu den Kategorien und Verhältnisbestimmungen grundlegend der Aufsatz von Grimm, S. 501 ff. 42  Zum Politikbegriff Weber 1988, S. 506 f.; zur Machtdefinition ders. 1980, S. 28. 43  Siehe die Beiträge in Shelton. 44  Differenzierte Analyse bei Hadenius/Teorell.

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(2) Recht als Produkt der Politik: Die Rolle der Politik beschränkt sich jedoch auf eine dienende Funktion gegenüber dem Recht. Sie hat überdies die notwendigen Anpassungsleistungen zu erbringen, mit der die jeweilige als gerecht empfundene Ordnung vor der sozialen Erstarrung bewahrt wird. Der Anspruch einer modernen politischen Ordnung geht über den Erhalt der Verhältnisse hinaus; die Politik strebt selbst aktiv deren Reform in Form von Verrechtlichung an. Das Recht ist dann Ausdruck des politischen Gestaltungswillens. Es wird dadurch selbst Gegenstand des Streits – und zu einem Produkt, das aus dem „Kampf um’s Recht“ (Rudolf von Jhering) hervorgeht. Der Hinweis auf die politischen Auseinandersetzungen, die der Gesetzgebung vorausgehen und sie in den verschiedenen institutionellen Stadien begleiten, ist geeignet, den Blick auf die Komplexität des politischen Prozesses in zweifacher Weise zu schärfen: erstens für die beteiligten Akteure, deren Interessenlagen und unterschiedlichen Politikstile (arguing vs. bargaing);45 und zweitens für den Kompromißcharakter des Rechts, der aufgrund der (mitunter sehr) gegensätzlichen Auffassungen zwischen den Akteuren (gegebenenfalls auch zwischen den und innerhalb der Koalitionsparteien) gegebenenfalls nur oberflächlich durch rhetorische Formeln überdeckt werden kann. (3) Recht als Rahmen der Politik: Die Eigenlogik der Politik zeigt sich überdies auch daran, daß die Aushandlungsprozesse nur teilweise in den vorgegebenen politischen Arenen stattfinden. Mitunter werden politische Räume nach den Bedürfnissen der Akteure (neu-)geschaffen, während vorhandene Institutionen an Bedeutung verlieren; so hat unter den Bedingungen der modernen Parteiendemokratie vor allem das Parlament lang schon seine Bedeutung als Sitz der Entscheidungsfindung eingebüßt (outsourcing). Diese Dynamiken schaffen jedoch der Politik keine Freiräume vom Recht. Vielmehr erweist sich das Recht als flexibler Begleiter, indem es die Mitgliedschaft sowie die internen Verfahren über Satzungen regelt. Keine Politik, die als allgemeinverbindlich durchgesetzt werden soll, kann auf diese Art der Rechtsförmigkeit verzichten. Die rechtliche Verfaßtheit politischer Organisationen begünstigt eine innere Gliederung der Willensbildung, die Hannah Arendt (wie vor ihr bereits Hegel) als den Ermöglichungsraum für politisches Handeln begriffen hat.46 Die rechtliche Organisation selbst macht den Unterschied, weil in ihr eigene Erfahrungen und Ergebnisse ermöglicht werden. Erst in diesen Räumen, die ihre eigene logic of appropriateness47 erfordern, sind Politiker mehr als „reine“ Interessenvertreter und müssen über die Fähigkeit zum politischen Denken und Handeln verfügen. Intelligenz und Expertise helfen, können aber die Erfahrungen und die spezifische Fähigkeit in der politischen Auseinandersetzung mit anderen Akteuren nicht ersetzen.

Elster 1995. Arendt (S. 150 – 152) wendet sich damit gegen das herkömmliche Verständnis der Gewaltenteilung als Gewaltenkontrolle. 47  March/Olson 2004. 45 Grundlegend 46 

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(4) Recht als Maßstab der Politik: Aus der Ebenenunterscheidung von Verfassungsrecht und einfachem Recht, Charakteristikum der Entwicklung des neuzeitlichen Verfassungsstaates, erwächst eine Arbeitsteilung zwischen Recht und Politik mit Vorteilen für beide Seiten: Sowohl für die Geltung als auch für die Akzeptanz des Rechts ist eine gewisse Stabilität im Wandel unerläßlich. Recht, das sich den Lebensverhältnissen nicht anzupassen vermag, wird zu „totem Recht“. Besitzt es jedoch keine Dauerhaftigkeit, kann es den Bürgern nicht die Erwartungssicherheit bieten, die zu den wesentlichen Funktionen des Rechts zählt. Darüber hinaus wird auch die Politik entlastet, weil sich die komplexen politischen Aushandlungsprozesse nicht (unmittelbar) auf die Rahmenbedingungen der Politik selbst beziehen.48 Kaum etwas erweist sich in der Politik schwieriger als institutionelle Reformen.49 Um so besser also, wenn die Spielregeln des Spiels nicht jedesmal aufs neue erfunden werden müssen. Die bekannten und anerkannten Verfahrensregeln erleichtern zudem den politischen Verlierern, ihre Niederlage zu akzeptieren. Durch die von der Verfassung gewährleisteten Grundrechte ist die unterlegene Minderheit überdies vor einer andernfalls stets möglichen „Tyrannei der Mehrheit“ geschützt, vor der als einer der ersten Alexis de Tocqueville so beredt gewarnt hat.50 3.  Voraussetzungen einer gelingenden Rechtspraxis Zu den Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates gehört die Balancierung von Recht und Politik, nicht nur in der Rechtsetzung, sondern auch in der Rechtsanwendung. Diese Anforderung ist nachfolgend anhand von zwei Themenbereichen zu konkretisieren, die eng miteinander zusammenhängen: Das erste Thema bezieht sich auf die Frage des politischen Einflusses auf die Auslegung des Rechts; ein Problem, das seine Bedeutung vor allem durch die Unabhängigkeit der Gerichte im Rahmen der Gewaltenteilung und insbesondere der richterlichen Tätigkeit erhält. Im Rahmen des zweiten Themas richtet sich der Blick auf den Rechtspraktiker: Um noch einmal auf die Kelsen-Schmitt-Debatte zurückzukommen: Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Positionen besteht (wie dargelegt) darin, das Verhältnis von Handeln, Macht und Politik als einen Ableitungszusammenhang zu begreifen: Dezisionistische Entscheidungen sind sowohl für Schmitt als auch für Kelsen ein Ausdruck von Macht, die wiederum einen strukturellen Bezug zum Politischen aufweist. Gleich Schmitt sieht Kelsen das politische Moment der Rechtsprechung; im Unterschied zu diesem beschreibt diese Struktur für Kelsen den Alltag des Rechtsstaates und keinen Ausnahmezustand; ein Alltag im übrigen, der gestützt wird durch die richterliche „Berufsethik zur Neutralität“.51 Mit dem Hinweis auf die Berufsethik taucht ein Begriff auf, der die Enge des Kelsenschen HandlungsbeImmergut/Anderson. March/Olson 1996. 50  Tocqueville, S.  284 – 301. 51  Kelsen 1931, S. 45.

48  49 

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griffs erhellt: Würde man tatsächlich das Handeln eines öffentlichen Amtsträgers auf das kompetentiell zugestandene freie Ermessen reduzieren, legte man die Axt an die Voraussetzungen der Verfassungsstaatlichkeit. Denn die Entscheidungen würden jeden Bezug zur freiheitlichen Ordnung verlieren. Kelsens Beispiel des richterlichen Habitus der Neutralität veranschaulicht selbst bereits, daß andere Momente neben dem dezisionistischen Sprung beim praktischen Handeln eine Rolle spielen, die ihre eigenen Rationalitätspotentiale haben. (1) Um einen Zugang zur praktischen Rationalität zu gewinnen, ist es erforderlich, verschiedene Formen des Dezisionismus zu unterscheiden. Das ergibt sich im Grunde genommen bereits aus der basalen Form des Dezisionismus-Problems, der „Applikationsaporie“.52 Sie entsteht, kurz gesagt, weil sich das Recht nicht selbst anwenden kann, sondern einen Rechtsanwender benötigt. Bei Kelsen und Schmitt erwächst aus diesem Umstand die Macht des „Entscheiders“. Aber statt die Folgen der Applikationsaporie unmittelbar als Machtproblem in den Graubereich des Rechts zu überführen, läßt sich ihr in normativer Absicht auch die Pflicht der praktischen Vernunft entnehmen, Auslegung und Anwendung einer Institution zu übertragen (sub IV. 1.). Bereits in dieser Begründung der Institutionenbildung liegt ein Zugewinn an Rationalität, der jedoch dann verspielt wird, wenn aus der Applikationsaporie kurzschlüssig die Auflösung der Unterscheidung von Recht und Politik gefolgert wird. Denn diese Form des politischen Dezisionismus kann einer gehaltvollen Beschreibung des Verfassungsstaates und seiner Institutionen kaum gerecht werden. Politische Institutionen sind in einem Verfassungsstaat rechtlich verfaßte Institutionen, deren politische Rationalität sich gleichwohl nicht auf ihre rechtliche Verfaßtheit beschränkt. Nicht in der mangelnden Kontrolle liegt ihre eigentliche Macht, sondern in ihrer Kreativität, die sie aufbringen müssen, um den Anspruch des Verfassungsstaates zu verwirklichen, den dieser gegen sich selbst erhebt. Das hat u.a. Konsequenzen für die juristische Methodenlehre, die hier nur kurz angedeutet werden können: (i) Mit Begriffen wie „Anwendung“ oder „Subsumtion“ geht oftmals eine unpolitische Vorstellung vom Recht einher. Recht wird hier nur als Entfaltung logischer Begrifflichkeiten verstanden. Aber diese Sichtweise wird dem modernen Recht nicht gerecht – und ist mehr Ideologie als Wirklichkeit. Zum demokratischen Willensbildungsprozeß gehören nicht nur die Pluralität der Akteure und deren Interessenvielfalt, sondern auch die zahlreichen Kompromißlösungen, die mitunter weniger in der Sache als mehr in der rhetorischen Formulierung gefunden werden (sub IV. 2.). Normen solcher Gesetze sind daher auch nicht Ausdruck reiner Logik, die sich ohne „anwenden“ lassen. Sie müssen konkretisiert werden.53

Wieland, S. 13. Konkretisierungsleistung ist bei Prinzipien (z. B. Gleichheit) in der Regel hoch, bei einfachen Regeln („…Wahlen finden alle vier Jahre statt…“) zumeist gering. Aber der erste Eindruck kann täuschen: Wird auch im Krieg gewählt? 52 

53  Die

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(ii) Im Prozeß der Konkretisierung spielen die Normzwecke eine maßgebliche Rolle. Die gesetzgeberischen Intentionen zu konkretisieren, setzt beim „Anwender“ – gerade auch vom Richter – nicht nur Kreativität voraus, sondern verlangt überdies ein Verständnis für den jeweiligen Policy-Sektor – und ab einer bestimmten Komplexität dieses Bereichs auch der involvierten politischen Aushandlungsprozesse. (iii) Aufgrund der sozialen Funktion des Rechts sind nicht zuletzt auch die Wirkungen der Rechtsanwendung, vor allem die Rückwirkungen auf die beteiligten (und betroffenen) Akteure, zu beachten. Diese Art des politischen Denkens läßt sich vor allem bei oberen Gerichten beobachten, die sich in der Regel bereits im Vorfeld ihrer Entscheidungen über deren mögliche Folgen informieren und darauf in den Beratungen Bedacht nehmen. (2) Die kurzen Hinweise zur Methode der Rechtsanwendung verdeutlichen, daß das Verhältnis von Recht und Politik nicht allein eine theoretische Herausforderung darstellt, sondern eine überaus praktische Bedeutung besitzt. In den Institutionen und Ämtern trifft man auf die Wirklichkeit des Staates. Dort stellt sich alsbald heraus, wie freiheitlich die Ordnung ist, in der man lebt; und wie es der Staat mit der Bindung an die Rechtsordnung hält. In der Organisation ihrer öffentlichen Gewalt ist die freiheitliche Ordnung auf eine spezifische „Haltung“ ihrer Beamten und Angestellten angewiesen, eben auf ein Amtsethos, das rechtlich nur schwer zu bestimmen und noch schwerer zu regeln ist. Es handelt sich hierbei um eine Kombination aus intellektueller und charakterlicher Fähigkeit, in der sich Sinn für die Wirklichkeit der geordneten Freiheit paart mit einem Streben, zur Verwirklichung dieser Freiheit beizutragen. So, wie der Bürger Gemeinsinn benötigt, um Bürger sein zu können, so hängt das Amtsverständnis des Amtswalters entscheidend von seinem Verfassungssinn ab, von seiner Fähigkeit also, seine spezifischen Aufgaben im Lichte der Verfassung als Ausdruck einer freiheitlichen Ordnung zu begreifen. Läßt sich ein solches Amtsethos auch nicht rechtlich vorschreiben, so hat es gleichwohl seine eigenen Grundlagen, aus denen ein solches Ethos entstehen kann. Es sind dies Bildung und Witz. Bildung heißt in diesem Zusammenhang zunächst schlicht, daß sich der einzelne Amtswalter seine eigene Auffassung zu den Anforderungen des Amtes „bildet“. Daß dabei die rechtlichen Vorgaben zu beachten sind, beispielsweise jene des Dienstrechts, steht außer Frage. Ebenso fraglos bleibt jedoch der Amtswalter gerade im Amt eine frei denkende Person und erst dadurch kann der Einzelne im Amt seine Besonderheit für die Allgemeinheit erkennen und einsetzen – und dadurch dem Gemeinwohl „in besonderer“ Weise dienen. Die Bildung ist insofern ein doppelter Prozeß, in dem der Einzelne am Amtsethos mitwirkt und teilhat, ohne es selbst bewirken zu können. Ein solches Amtsethos läßt sich weder lehren noch lernen – es läßt sich jedoch vorleben. Daher kommt es weniger auf die Ausbildung, sondern vor allem auf den Ausbilder an. Er kann Vorbilder gelungener Amtsführung und Anschauung für ein vernünftiges Amtsverständnis liefern, insoweit eine Vorstellung vom Amtsethos vermitteln und dadurch zur „Ausbildung“ eines Amtsethos beitragen. Dieser Umstand ist für die Besetzung von Ämtern als Bestandteil der Öffentlichen Gewalt

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bedeutsam. Wie das Amt vom Amtswalter Verantwortung für seine Entscheidungen verlangt, so verlangt es bei seiner Besetzung auch nach einer verantwortlichen Auswahl geeigneter Kandidaten. Im Falle von Mandaten muß sich die Richtigkeit im Akt der demokratischen Wahl erweisen. In anderen Fällen müssen sachliche Kriterien den Ausschlag geben. Dazu zählt die Befähigung ebenso wie die fachliche Leistung, beides Produkte der Bildung und Ausbildung. Anders hingegen bei der persönlichen Eignung, die sich auf den Sinn für die Sache bezieht, der über den Sachverstand hinausgeht und auf den gelingenden Umgang mit ihr zielt. Es ist im Kern der Witz, der die Urteilskraft, das verständige Begreifen einer Sache, zur Klugheit werden läßt.54 Witz muß man haben – ohne ihn bleibt der ­Kenntnisreichste ein Fachidiot, letztlich ein Dummkopf.

V.  Herausforderungen der Ausbalancierung Die strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik ist nicht als das Ergebnis eines einmaligen Aktes der Verfassunggebung zu verstehen. Vielmehr handelt es sich selbst um einen Prozeß der täglichen Balancierung in den Bahnen politischer Institutionen, der in hohem Maße einer praktischen Klugheit der beteiligten Akteure im Umgang mit den Eigenlogiken und Erfordernissen der Politik und des Rechts bedarf. Daher bleibt dieser Prozeß der Ausbalancierung bei allen Routinen, die ihn stabilisieren, in vielfacher Weise störanfällig. Drei der größten Störpotentiale seien abschließend zumindest angedeutet: (1)  Eine weitreichende Verrechtlichung würde die Politik jener Potentiale berauben, die sie zur Innovationsfähigkeit befähigen. Politisches Handeln und Entscheiden unter den Bedingungen einer modernen repräsentativen Demokratie mit Volksparteien und Interessengruppen läßt sich nicht auf eine „ausübende Rechtslehre“ à la Kant beschränken. Mehrheiten müssen erkämpft, Meinungsmacht erobert, Massen mobilisiert werden; das alles ist ohne Kompromisse, Zugeständnisse und Rücksichten nicht zu erreichen – mögen sie auch zu Lasten der Sache selbst gehen. Politik ist in dieser Hinsicht immer auch eine Kunst der situativen Klugheit, die sich der Rechtskontrolle entzieht. Ihr Metier ist es, Sachfragen im Modus der personellen Interaktion zu verhandeln. Politisch zu handeln bedeutet immer für andere zu handeln – und für den Erfolg und Mißerfolg zur Rechenschaft gezogen zu werden. In diesem Sinne sind alle Politiker „Verantwortungspolitiker“.55 Aber für den politischen Erfolg lassen sich nur in begrenzter Weise rechtliche Maßstäbe finden; politische Verantwortung hat nur eine geringe Schnittmenge mit rechtlicher Verantwortlichkeit: So ist die Entscheidung darüber, ob ein führender Politiker „gehen“ muß, selten eine Frage des Rechts (gar des Strafrechts), sonder oft das Ergebnis einer allgemeinen Meinung, er sei nicht mehr „tragbar“. (2)  Die Klage über die geringen politischen Spielräume infolge einer ausufernden Verrechtlichung sämtlicher Lebensbereiche wird des öfteren angestimmt. Aber 54  55 

Zur Begrifflichkeit Kant [1798] 1983, S. 516. Weber 1988, S. 551 f.

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sie sollte nicht dazu führen, das andere Extrem zu übersehen: die sogenannten „rechtsfreien Räume“. Darunter werden landläufig Räume bezeichnet, in denen das Recht faktisch nicht mehr durchgesetzt werden kann, weil das Gewaltmonopol des Staates sich hier als Fiktion erweist. Die Beispiele dafür sind vielfältig: Wohnbezirke, die durch private Sicherheitsdienste kontrolliert werden (gated communities), Stadtviertel, in die sich die Polizei nicht mehr oder nur noch sehr sporadisch hineintraut (Slums), die Unterwanderung von Verwaltungseinheiten durch organisierte Kriminalität (Mafia) oder des ganzen Staates durch terroristische Verbände ( failing states). Eine radikalere Sicht des Problems rechtsfreier Räume, die auf das normative Moment des Rechts selbst zielt, findet sich etwa bei Agamben:56 In seinen Augen sind die angeführten Beispiele nur die sichtbare Spitze eines tieferen Problems. Es entsteht nicht dadurch originär, daß sich Leben vom Recht trennt und dadurch rechtlos wird. Es ist das Recht, das sich des Lebens bemächtigen muß, weil es andernfalls keinen Inhalt hätte. Indem aber das Recht das Leben vereinnahmt, bezieht es sich nur auf das reine Leben, abgetrennt von allen Lebenskontexten, die das Leben lebenswert machen. Das menschliche Leben wird so auf seine Lebendigkeit (im Gegensatz zum Tod) reduziert. Die existentielle Abhängigkeit des menschlichen Lebens, dessen Schicksal vom Recht so oder anders entschieden werde könne, ist keine Ausnahme, sondern eine alltägliche Erfahrung – etwa von alten Menschen am Ende ihres Lebens, wenn unklar ist, wer über das Lebensende bestimmt: Arzt, Patient, Angehörige etc.57 (3)  Agambens Theorie des homo sacer hat zum Teil heftige Kritik hervorgerufen.58 Dazu haben seine Lust an der Polemik, vor allem aber seine (unhistorischen) Vergleiche, die es ihm erlauben, das gesamte moderne Rechtssystem unter den Verdacht einer biopolitischen Todesmaschinerie zu stellen, maßgeblich beigetragen. Gleichwohl lassen sich die Irritationen, die seine Kritik erzeugen, produktiv in kritische Anfragen an die Grenzen des Rechts wenden, und zwar vor allem dort, wo es um Regelungen geht, die den Anfang und das Ende des Lebens betreffen. Agambens Hinweis auf die Struktur der Souveränität – die Recht setzt, dadurch selbst aber über dem oder außerhalb des Rechts steht – betrifft zudem auch ein Grundproblem im Verhältnis zwischen Recht und Politik, das hier als dritte Her­ ausforderung kurz anzusprechen ist: In der Neuzeit war die über den (mensch­ lichen) Gesetzen stehende Herrschaft noch ein Kennzeichen der Herrschaftsmacht (legibus solutus). Unter den Bedingungen eines modernen Rechtsstaates hingegen gehört die Bindung der Politik an Recht und Gesetz zu den grundlegenden Verfassungsprinzipien. Wie aber kann eine solche Bindung sichergestellt werden? Letztlich gar nicht. Denn die Kontrolle der staatlich handelnden Akteure richtet sich wiederum an den Staat. Der Wille zur Selbstbindung begleitet die Suche nach dem geeigneten Hüter der Verfassung, die seit Platon auf der Agenda der politischen Zu den verschiedenen Beispielen vgl. Agamben, S. 127 ff. Zum Problem des living will siehe Lembcke 2008. 58  Zur Diskussion über das homo sacer project vgl. die Beiträge in dem Band von Norris; zur Kritik siehe außerdem Lembcke 2009, S. 580 ff. 56  57 

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Philosophie steht. Platons Antwort nimmt im Grunde einen Großteil der modernen Antwort vorweg: Denn einen Philosophen zum König zu machen, verbindet sich mit dem Ziel, daß die Ordnung sich aus Gründen der Vernunft selbst an ihre Ordnung halten solle. Die Kontrolle der Bindung der Politik an Recht und Gesetz mündet mithin letztlich in einer Selbstbindung. Von Odysseus kann man lernen, daß diese Einsicht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Klugheit bedarf. Er ließ sich daher im Wissen um seine eigene Schwäche, den Gesängen der Sirenen nicht widerstehen zu können, rechtzeitig an den Mast fesseln – und kam so unbeschadet in den Genuß ihrer Kunst.59

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Zur Rationalität der Selbstbindung Elster 1979.

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Oliver W. Lembcke

– Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Drath et al. Leiden, 1928a, S. 203 – 242. – Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Drath et al. Leiden, 1928b, S. 421 – 433. Henkel, Michael: Hermann Hellers Theorie der Politik und des Staates. Die Geburt der Politikwissenschaft aus dem Geiste der Soziologie. Tübingen, 2011. Henkel, Michael/Lembcke, Oliver W.: Politikwissenschaft als Theorie der Politik. Hermann Hellers theoretische Grundlegung der Politikwissenschaft, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2003, 2003, S. 30 – 54. Honig, Bonny: Between Decision and Deliberation: Political Paradox in Democratic Theory, in: American Politcal Science Review 101 (1), 2007, S. 1 – 17. Immergut, Ellen/Anderson, Karen M.: Historical Institutionalism and West European Politics, in: West European Politics 31 (1 – 2), 2008, S. 345 – 369. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, in: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 9. Darmstadt, 1983, S. 193 – 251. – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Darmstadt 1983, S. 397 – 690. Kelsen, Hans: Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 5, 1929, S. 30 – 84. – Wer soll Hüter der Verfassung sein? Berlin, 1931. – Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Wien, 2. Aufl., 1992. Kirste, Stephan: The Temporality of Law and the Plurality of Social Times. The Problem of Synchronizing Different Time Concepts through Law, in: Michel Troper & Annalisa Verza (Hrsg.): Legal Philosophy. General Aspects: Concepts, Rights and Doctrines. Stuttgart, 2002, S. 23 – 44. Lembcke, Oliver W.: Exception Rules? Freedom and Order in a State of Exception, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 107 (Political Philosophy), 2007a, S.  119 – 128. – Hüter der Verfassung. Eine institutionentheoretische Studie zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts. Tübingen, 2007b. – Regulating the Living Will: The Role of Non-state Law at the End of Life, in: Verschuren, Jonathan J./van Schooten, Hanneke (Hrsg.): International Governance and Law: State Regulation and Non-State Law. Cheltenham/Northampton, 2008, S. 191 – 208. – Politische Theorie des nackten Lebens: Giorgio Agamben, in: André Brodocz/ Gary S. Schaal (Hrsg.): Politische Theorie der Gegenwart, Bd. 2. Opladen/Farmington Hills, 3. Aufl., 2009, S. 560 – 598. – Konstitutionelles Gesetz im sozialen Rechtsstaat. Zu einem Grundbegriff der Staatslehre Hellers, in: Marcus Llanque (Hrsg.): Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers. Baden-Baden, 2010, S. 239 – 260. – Über die Eigenart des Rechts moderner Gesellschaften – eine politiktheoretische Skizze (internationales Graduiertenkolleg der Martin-Luther-Universität, Halle/Wittenberg: „Formenwandel der Bügergesellschaft – Japan und Deutschlang im Vergleich“) 2013.

Über den Verweisungszusammenhang von Politik und Recht

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– Staats(rechts)lehre oder Rechts(staats)lehre? Zum Rechtspositivismus bei Jellinek und Kelsen, in: Rainer Schmidt (Hrsg.): Rechtspositivismus: Ursprung und Kritik. Baden-Baden, 2014, S. 83 – 134. Lepsius, Oliver: Kelsens Demokratietheorie, in: Ehs, Tamara (Hrsg.): Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung. Wien, 2009, S. 67 – 89. Lindahl, Hans: Constituent Power and Reflexive Identity: Towards an Ontology of Collective Selfhood, in: Loughlin, Martin/Walker, Neil (Hrsg.): The Paradox of Constitutionalism. Constituent Power and Constitutional Form. Oxford, 2007, S. 9 – 24. Loughlin, Martin/Walker, Neil: Introduction, in: dies. (Hrsg.): The Paradox of Constitutionalism. Constituent Power and Constitutional Form. Oxford, 2007, S. 1 – 8. March, James G./Olson, Johan P.: Institutional Perspectives on Political Institutions, in: Governance 9 (3), 1996, S. 247 – 264. – Logic of Appropriateness (Working Paper No. 9). Oslo, 2004. Norris, Andrew: Politics, Metaphysics, and Death. Essays on Giorgio Agamben’s Homo Sacer. Durnham/London, 2005. Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge (Mass.), 1971. – Justice as Fairness. A Restament, Hrsg. von Erin Kelly. Cambridge (Mass.)/London, 2001. Sandel, Michael J.: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge (Mass.), 1982. Scheuerman, William E.: Carl Schmitt’s Critique of Liberal Constitutionalism, in: The Review of Politics 58 (2), 1996, S. 299 – 322. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin, 7. Aufl., 1996. – Verfassungslehre. Berlin, 8. Aufl., 1993. – Der Hüter der Verfassung. Berlin, 4. Aufl., 1996. Shelton, Dinah: Commitment and Compliance. The Role of Non-Binding Norms in the International Legal System. Oxford, 2000. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Beide Teile in einem Band. München, 1987. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen, 5. Aufl., 1980. – Politik als Beruf, in: ders.: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen, 5. Aufl., 1988, S. 505 – 560. Wieland, Wolfgang: Aporien der praktischen Vernunft. Frankfurt/Main, 1989.

Rechtswissenschaft und Geschichte Rechtswissenschaft zwischen Grundlagenkrise und Selbstbeschauung Marcel Senn*/** 1

Bereits in den 1970er und 1980er Jahren war das Verhältnis von Geschichte und Recht unter methodologischen und interdisziplinären Aspekten Gegenstand intensiver fachwissenschaftlicher Erörterungen. Davon zeugt die bis heute in ihrer Qualität unerreicht gebliebene, zweibändige Sammlung „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften“, die Dieter Grimm 1973 herausgegeben hatte1 und worin sich auch ein Beitrag von Hans Fenske zur Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft findet.2 Damals ging es allerdings um die Bewältigung einer realen Grundlagenkrise der Rechtswissenschaft. Die Bewältigung sollte durch Rezeption methodologi∗  Dieser Beitrag gibt die Situation bis zum Anfang des Jahres 2009 und entsprechend die damalige Ansicht des Autors wider. Er wurde daher auf dem Vortragsstand vom Frühjahr 2009 belassen, ergänzt um eine zusätzliche Quellenangabe in Anm. 10. Auf den vorliegenden Beitrag hat der Autor jedoch schon andernorts verwiesen. Vgl. Senn, Marcel: Rechtswissenschaft ohne reflexiven Habitus?, in: R. Sethe et al (Hrsg.): Kommunikation. Festschrift für Rolf H. Weber zum 60. Geburtstag, 2011, S. 913 – 929; Zweitveröffentlichung dieses Titels, in: Journal für Juristische Zeitgeschichte, Band 13 (2012) 1, S. 3 – 20; ders., Wissenschaftsgeschichte als Mittlerin zwischen Öffentlichkeit und Recht, in: Rg 19 (2011), S.  300 – 308; ders., Rechtswissenschaft und Juristenausbildung. Fünf kritische Beiträge zu Grundlagenfragen der Wissenschaft des Rechts nach Einführung der Bologna-Reform, 2013. **  Ich danke lic. iur. Rico Gubler, der wissenschaftlicher Mitarbeiter an meinem Lehrstuhl für Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte und Rechtsphilosophie in den Jahren 2007 bis 2009 war, für seine Abklärungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts sowie anregende Diskussionen. 1  Grimm 1973, 1976 und 1976 (Band 2). 2 Die damaligen Ausführungen zum Verhältnis von „Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft“ von Hans Fenske will ich hier nicht aufgreifen, auch wenn ich sie durchaus anerkenne. Indessen hat sich der Kontext, indem sie entwickelt wurden, grundlegend verändert, so dass das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Geschichte erneut aus einem anderen Blickwinkel zu erörtern ist. Daher thematisiere ich im Rahmen der vorgegebenen Überschrift nicht einfach das Verhältnis zweier Disziplinen, wie dies Fenske noch tat, sondern insbesondere das Verhältnis von Recht und Geschichte überhaupt (Fenske, insb. S.  48 ff.).

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scher Komponenten aus anderen Disziplinen erfolgen, um die Rechtswissenschaft wissenschaftstheoretisch zu konsolidieren. Von einer Krise der Rechtswissenschaft lässt sich gegenwärtig jedoch nicht mehr sprechen. Stattdessen würde ich eher von einem selbstgefälligen Sicherheitsgefühl reden. Ich denke, es wäre der Rechtswissenschaft sogar zu wünschen, sie erhielte erneut eine Chance, sich und ihr Tun eingehender reflektieren zu müssen. Ein Symposium alleine, auch wenn noch so vielfältig und umsichtig geplant, vermag dies nicht. Es bleibt stets eine bloß theoretisch abstrakte Erörterung ohne die Notwendigkeit, die Infragestellung auch als eine existenzielle Bedrohung aushalten und produktiv überwinden zu müssen. Daher verstehe ich unsere Diskussionsbeiträge im Sinn einer kritischen Wesensbestimmung der Rechtswissenschaft und als Prüfung ihrer Beziehungsmöglichkeiten zu anderen Disziplinen.

I.  Entwurf einer Binnenperspektive auf Geschichte und Rechtswissenschaft Von daher versuche ich nun eine Binnenperspektive der Rechtswissenschaft und ihrer Beziehung zur Geschichte zu entwerfen. Ich frage zunächst: Wie geschichtlich bedingt ist diese Wissenschaft vom Recht, und wie geschichtlich ist das Recht als Gegenstand dieser Wissenschaft? Schließlich, wie ist das Verhältnis von Rechtsund Geschichtswissenschaft unter dem Aspekt zu würdigen, dass es eine eigene juristische Disziplin, die Rechtsgeschichte, gibt? Dass ich diese Fragen als Rechtshistoriker und Jurist aufwerfe, ermöglicht eine Fokussierung und erzeugt, so hoffe ich, eine konzisere Darstellung, die auch eine kontroverse Diskussion beflügeln kann. Mein Ziel ist es, die Notwendigkeit der methodologischen Selbstvergewisserung der Rechtswissenschaft als eine historische Kulturwissenschaft herausarbeiten zu helfen. Dazu gibt es, wenn ich recht sehe, nur wenige einschlägige neuere Beiträge, namentlich von Hermann Schnädelbach3 und Otto Gerhard Oexle4 sowie von zwei Rechtsphilosophie-Kongressen, die jüngst zu diesem Thema in Deutschland und der Schweiz durchgeführt worden sind.5

II.  Entstehung des historischen Gesichtspunktes in der Rechtswissenschaft Das „historische“ Bewusstsein der Jurisprudenz wurde im Späthumanismus erstmals deutlicher ausgebildet. Zwei Erfahrungen waren hierfür maßgeblich: Zum einen diejenige eines bis zu diesem Zeitpunkt unkritischen Umgangs mit Quellentexten, zum anderen die Erfahrung eines wissenschaftlichen Dogmas mit politischer Implikation, dass römisches Recht „Kaiserrecht“ sei. Dieses Dogma konnte Schnädelbach, S. 43 ff., 62. Oexle 2001, insb. S. 34 f. 5  Senn/Puskás; Dreier/Hilgendorf. 3 

4 

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sich während Jahrhunderten halten und wurde erst im 17. Jh. überwunden. Beide Erfahrungen führten im Ergebnis zu einer bewussten und kritischen Haltung im Umgang mit Recht und zwar aus der besonderen Erfahrung seiner Geschichtlichkeit heraus.6 Diese Einsicht in die Geschichtlichkeit wurde in der Spätaufklärung, durch die Göttinger Schule der 1770er Jahre, und dann insbesondere nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches durch die Historische Rechtsschule gefestigt. Die neue Rechtswissenschaft entwickelte sich nach 1815 auf der Grundlage der Kantschen Kritik der Wissenschaften im Sinn einer formalen bzw. methodisch operierenden Rechtswissenschaft. Sie koppelte sich damit von einer material-ethisch konzipierten Jurisprudenz auf der einen Seite ab, andererseits sollte sie als Wissenschaft vom Recht aber nicht nur systematisch-abstrakt wie noch zur Zeit des Rationalismus deduzieren, sondern empirisch beobachten, und dies hieß „historisch“ arbeiten. Es ging damals folglich gerade nicht um die Begründung einer Geschichtswissenschaft des Rechts. Im Mittelpunkt der wissenschaftstheoretischen Bestrebungen stand vielmehr ein Konzept der „historisch reflexiven Wissenschaft vom Recht“ im philosophischen Sinne. Recht sollte als ein (durchaus im modernen Sinn) soziologisches Phänomen betrachtet und dessen wissenschaftliches Erklärungsvermögen auch permanent weiter entwickelt werden. Es sollte sich somit weder ein Objektivismus reiner Geschichte ergeben, noch sollte sich das Recht in einer abstrakten Theorie erschöpfen. Recht und Wissenschaft sollten sich vielmehr wechselseitig mit der Veränderung einer Gesellschaft, somit organisch, weiter entwickeln und sich als fundamentale Elemente der Kultur einer bestimmten Region und ihrer Bevölkerung etablieren. In dem Sinn waren Recht und Wissenschaft in dieser Epoche auch geschichtlich, wenn auch noch nicht national-geschichtlich. Dieses „historische“ Bewusstsein ging jedoch mit dem Positivismus und insbesondere der Orientierung an naturalistischen Wissenschaftlichkeitsvorstellungen zunehmend verloren. Damit spreche ich von Vorformen eines abstrakt-soziologischen Denkens sowie Vorstellungen, wie sie etwa die Kriminalanthropologie, der Sozialdarwinismus in der Theorie vom „Kampf ums Recht“ oder die verschiedenen Rassenlehren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert repräsentierten,7 und zwar in breiterem Ausmaße als die landläufige Rechtsgeschichte dies meist pfleglich darstellt. Indem die Rechtswissenschaft ihre Entwicklung naturalisierte und sie 6  Es

handelte sich um eine grundlegende Erfahrung, dass das maßgebliche Recht (auf romanistischer Grundlage) von Kirche und Reich einer seriösen Edition bedurfte (Corpus Iuris Canonici, 1582; Corpus Iuris Civilis, 1583) und dass dieses Recht keineswegs von oben, also vom Kaiser, erlassen worden war, sondern dass es sich erst allmählich über die Gerichts- und Verwaltungspraxen und somit über den Berufsstand von Juristen entwickelt hatte (Conrings Kritik der Lothar-Legende, 1643): Dazu vgl. Senn 2007b, S. 206 – 212; neuerdings kritisch: Schumann. 7  Haferkamp, insb. S. 113 ff.; Senn 2007b, S. 381 – 399; Senn/Gschwend, S. 73 – 102 sowie 157 – 180.

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dadurch konkret und substanziell in den Formen von „Rasse“, „Typus“ und „Vorteil des Stärkeren“ vergegenständlichte, entäußerte sie sich auch eines Teiles ihres intellektuellen und diskursiven Entwicklungspotenzials. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg – nachdem man den großen Unsinn solcher vermeintlicher Wissenschaftsobjektivität am erzeugten Elend und Leid konkret zu messen hatte –, stellte sich erzwungenermaßen eine historisch-kritische Vernunft der Art ein, dass Nutzen und Sinn einer historisch reflexiven Rechtswissenschaft erneut Thema wurden.8 Die dadurch entstandene methodologisch kontroverse Debatte innerhalb der Rechtswissenschaft erreichte ihren Höhepunkt um 1980. In diesen Auseinandersetzungen avancierte auch der Fachbereich der Rechtsgeschichte zu einem zentralen Diskussionsgegenstand. Wenn ich recht sehe, wird seit rund fünfzehn Jahren die Rechtswissenschaft wieder zunehmend „enthistorisiert“. Durch die damit einhergehende Entkoppelung von ihren Rahmenbedingungen wird sie auch entpolitisiert, und gleichzeitig wieder von einem zwar methodologisch systemischen, im Kern aber biologischen Objektivismus eingeholt.9 Dies lässt sich ebenfalls im Bereich der Rechtsgeschichte nachvollziehen. Rechtsgeschichte sollte in Forschung und Lehre weitgehend durch Rechtstheorie ersetzt werden, wie sich dies etwa mit Blick auf Umstrukturierungsversuche am Max-Planck-Institut in Frankfurt am Anfang dieses Jahrzehnts beobachten ließ.

III.  Methodologische Debatte in der Rechtsgeschichte (1960 – 1990) Um die Bedeutung der Geschichte in der Rechtswissenschaft zu erhellen, möchte ich die Schwerpunkte der methodologischen Debatten zwischen 1960 und 1990 kurz skizzieren.10 Die Rechtswissenschaft wie auch ihre Unterdisziplin „Rechtsgeschichte“ wurden in einer ersten Phase dieser Debatte durch zwei Ereignisse geprägt: 1. Durch einen Methodenimpuls, wie er damals insbesondere durch die Hermeneutik und die Topik durch Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ (1960)11 sowie Theodor Viehwegs „Topik und Jurisprudenz“ (1953)12 ausgelöst worden war. Gadamer machte deutlich, dass jede Interpretation stets ein applikativer Vorgang sei, in den die Subjektivität des Interpreten einfließe, und dass erst die Reflexion in Bezug auf diesen Vorgang auch eine kritisch angenäherte Objektivität ermöglichen könnte. Viehweg brachte dann den innovativen Charakter des scholastischen Problemdenkens wieder ins Gespräch. Gerade Gadamers Argumentation lieferte die Trasse, um methodologische Ansätze aus den Sozialwissenschaften zu rezipieren. Mitteis, insb. S. 83 ff. Hilgendorf, insb. S. 117 f und 120. 10  Vgl. dazu Senn 2012, 1982, 1993 und 1998. Ferner Klippel, insb. S. 1 – 4. 11  Gadamer, insb. S. 270 ff., S. 387 ff.; Zäch, insb. S. 320 ff. 12  Viehweg, insb. S. 111 –119 ff. 8 

9 Vgl.

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2. Durch die Frage, was Rechtsgeschichte innerhalb der Rechtswissenschaft überhaupt soll. Für Viele damals war sie (und ist heute noch) nicht viel mehr als lästiger Ballast, bestenfalls ästhetische Zierde in einem praktisch orientierten Studium. Dieses Nützlichkeitsdenken eines positivistischen Selbstverständnisses der Juristenzunft wurde allerdings vor dem Hintergrund der Zeit um 1968 ebenso plötzlich wie radikal in Frage gestellt.13 Die Rechtswissenschaft selbst hatte sich damals zu rechtfertigen. Vorstellungen einer friedfertigeren Gesellschaft mit vermehrter sozialer Gerechtigkeit statt einer Gesellschaft des dauernden Kampfes und Krieges entwickelten auch das Bedürfnis nach einer Historie als Selbstreflexion. Für die Rechtsgeschichte ergab sich dadurch eine Chance: Sie erhielt – vor dem Hintergrund der Suche nach einer gerechteren Gesellschaft – eine Aufklärungsfunktion betreffend das Recht und seine Ordnungsfunktion. Vor diesem „politisierten“ Hintergrund in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften wurde nunmehr auch die Frage nach dem Grundlagenmodell für die Rechts- wie Geschichtswissenschaft und insbesondere der Geschichte des Rechts zentral. Diese Frage stellte sich damals als Alternative zwischen bürgerlicher oder marxistischer Wissenschaft.14 Die Tatsache, dass Deutschland politisch in Ost und West geteilt war, spiegelte sich auch in der methodologischen Dichotomie wider. Angesichts des politischen Zielkonzepts des Marxismus und seiner Finalisierung im Szientismus15 konnte die historisch-materialistische Methodologie – trotz Qualitäten – im Westen nicht übernommen werden. Also entwickelte man eine geschichtswissenschaftliche Variante und bezeichnete diese als „sozialhistorische“ Sichtweise. Dieses im „bürgerlichen“ Lager angesiedelte Zwischenkonzept wurde mit Fragestellungen und Methoden aus den humaner erscheinenden Sozialwissenschaften wie Psychologie, Politologie und insbesondere der Soziologie angereichert. Das Meiste freilich blieb auf postulativer Ebene. Es herrschte mitunter die nicht unberechtigte Hoffnung, dass diese modernen Disziplinen Probleme besser fokussieren und analysieren können, um vermehrt allgemeine Aussagen aus gleichmäßig verlaufenden Entwicklungen zu gewinnen. Man erhoffte sich dadurch, von der erzählten Ereignisgeschichte zu einer Geschichte im Sinn „einer allgemeinen historischen Soziologie des Rechts“ zu gelangen.16 Dieses angestrebte Konzept hatte durchaus eine vergleichbare Funktion, wie schon die geschichtliche Rechtswissenschaft nach 1815. Dieses neue Konzept stand somit zwischen den beiden anderen Konzepten der bürgerlichen resp. marxistischen Rechtsgeschichte. Damit gab es drei Modelle, die sich wie folgt charakterisieren lassen: als traditionell historistische, marxistisch nomologische und sozialwissenschaftliche Rechtsgeschichte.17 Ogorek, insb. S. 22 f., 48, 82 ff. Seiffert, S.  49– 56, 95 – 104, 166 f; Raphael, S. 130 ff, 202 ff. 15  Was dies rückblickend konkret bedeutete, zeigt jetzt der ausgezeichnete Beitrag von Schmidt-Lux, insb. S. 54 ff, 67. 16  Vgl dazu: Raphael, S. 173 – 194, 202 – 207. 17  Etwas differenzierter lassen sich diese Modelle so darstellen (vgl. Senn 1982, S. 121 ff., 136 ff., 189 ff.): 1. Eine historistische Rechtsgeschichte, die eine Geschichte erzählen will. 13  14 

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IV.  Probleme aus der Top-Down-Konzeption der Rechtsgeschichte um 1990 Ich vertrat damals die neue Linie der sozialwissenschaftlichen Perspektive, glaubte forschungs- wie auch lehrmäßig historisch fundierte nomologische Aussagen gewinnen und diese im Sinne von Allgemeinaussagen auch darstellen zu können.18 Herr Oexle19 war – mit Recht – hierin skeptischer. Ich will meinen Konflikt nur andeuten und auf zwei, drei Punkte fokussieren: Sowohl die Lektüre von Luhmanns „Recht der Gesellschaft“20 aus dem Jahre 1993, als auch die Erfahrung mit Prüfungskandidaten in Rechtsgeschichte ab 1995 vergällten mir zunehmend den Gefallen an meiner Konzeptidee. Luhmann und seine JüngerInnen nutzten Geschichte offensichtlich als Steinbruch zur Untermauerung der Systemtheorie. Dies schien und scheint mir sachlich wie methodologisch unzulässig. Und die Studierenden lehrten mich, dass das, was im Unterricht als intellektuelle Anregung gedacht war, von ihnen mehrheitlich nicht selbständig verarbeitet und weiter entwickelt werden konnte oder wollte, sondern dass sie es vorzogen, Auswendiggelerntes als Essenz daherzusagen. Das schien ihnen nicht nur prüfungssicherer, sondern auch vom Lernaufwand her leichter.21 Dies führte aber zum Gegenteil, nämlich Dieses historiographische Modell einer narrativen Ereignisgeschichte des Rechts kannte drei verschiedene Binnenkonzipierungen. Die drei Binnenkonzipierungen der historistischen Rechtsgeschichte sind: a) eine positivistisch quellenfixierte und dogmatische Interpretation. Sie zeigt linear verlaufende Entwicklungen. Meist fungiert sie als sogenannte Einleitungshistorie zur Dogmatik; b) Eine weitere Konzeption war die quellenorientierte, aber kontemplative, dem Ideal der Objektivität verpflichtete Auffassung, die auch weitere Hintergrundselemente in die Interpretation einbezog. Sie wollte die historische Realität gleichsam wieder erstehen lassen und ging meist von einem idealistischen, aus der naturrechtlichen Debatte der Nachkriegszeit gewonnenen Rechtsbegriff aus; c) eine zwar ebenfalls auf Quellen gestützte, jedoch applikative und somit selbstbewusste Rechtsgeschichte, die über die Prämissen ihres Tuns offen diskutiert. Sie versteht Geschichte als Konstruktion. 2. Das Gegenmodell zur historistischen Rechtsgeschichte bildete die nomologische Sichtweise einer Rechtsgeschichte im Sinne des Marxismus, wonach das Recht stets Derivat aus ökonomischen und sozialen Gegensätzen einer Gesellschaft und somit Ausdruck der Machtverhältnisse sei, und 3. das Modell einer sozialwissenschaftlichen Rechtsgeschichte, die eine Synthese aus den divergierenden Anschauungen darstellte und den ereignisgeschichtlichen Diskurs in eine stärker verallgemeinernde Aussage überführen wollte, um damit zu zeigen, wie Gesellschaft grundsätzlich funktioniert. Sie verwendete dazu theoretische Erkenntnisse aus anderen Disziplinen, insbesondere soziologische oder psychologische Erklärungsmuster, um den geschichtlichen Stoff aussagekräftiger zu strukturieren. 18  Senn 1982, S. 180 ff. 19  Oexle 1987, insb. S. 96 – 99. 20  Luhmann 1993. 21  Wie konnte dieser Entwicklung begegnet werden? Ich dachte: Es sollte Wissen zwar gefordert werden, doch dieses selbst sollte nur subsidiär von Bedeutung sein. Denn von angehenden Akademikern war zu erwarten, dass sie analog zum juristischen Falldenken in der Lage sein sollten, Wissen anhand einer Problemstellung selbständig argumentativ zu entwickeln. Daher sollte diese Selbständigkeit selbst und somit weniger das Gelernte

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zur Ideologisierung des Denkens: Sowohl geschichtliches als auch soziologisches Denken wurden dadurch instrumentalisiert. Es war somit genau jenes Problem entstanden, das im Beschrieb zu unserem Symposium als Fehlentwicklung aus dem Top-Down-Vorgehen geschildert worden ist. Also musste diese Entwicklung korrigiert werden und das Auge der angehenden Juristinnen und Juristen sollte für die hermeneutische Kompetenz im Umgang mit Texten, dem Alltagsgeschäft in der Praxis, geschult werden. Aus diesem Grunde schien es ratsam, theoretische Ansätze als hypothetische Parameter in der Lehre auch erst dann einzubringen, wenn der Text als solcher überhaupt einmal in seiner historischen Dimension verstanden und verortet werden konnte. Ich will nicht in Abrede stellen, dass im Forschungsbereich sozialwissenschaftliche Methoden als heuristische Mittel eingesetzt werden können. Die wenigen rechtshistorischen Versuche, die ich jedoch bislang hierzu gesehen habe, zeichnen sich meistens durch einen theoretischen Introitus – genährt aus Luhmannscher Systemtheorie, ab und zu aufgemischt mit Bourdieu oder Foucault – aus, auf den dann eine gewöhnliche Geschichte erzählt wird. Dass die methodologisch einst fruchtbare Diskussion – wenn ich dies richtig beurteile – nach Mitte der neunziger Jahre abbrach und in die beschriebene wissenschaftstheoretische Sackgasse führte, kann wohl auch darin gesehen werden, dass in der Zeit zwischen 1980 und 2007 beinahe ein Viertel der germanistischen und ein Drittel der romanistischen Lehrstühle in Deutschland und der Schweiz abgeschafft bzw. umgewidmet worden sind.22 Es ließe sich also sagen, dass die belohnt werden. Dies hieß, anonymisierte Texte aus der Rechtsgeschichte vorzulegen. Die gedankliche Arbeit sollte am und mit dem Text erfolgen, siehe dazu: Senn 2007a, , insb. S.  85 – 88; Senn/Thier, S. 1 – 5. Die Studierenden sollten die geschichtlichen Probleme, die ein Text aussagt, aus der sachverhaltsbezogenen, d. h. historischen Relevanz heraus erläutern und interpretieren, dabei Möglichkeiten und Alternativen statt einfach richtige Antworten erwägen, so wie eben die Juristen im Gerichtsalltag mit Problemen auch umzugehen pflegen. Gestützt darauf sollten sodann Zuordnungen vorgenommen und abschließend erklärt werden, was die historischen Problemstellungen heute für eine Bedeutung haben könnten. Dabei sollte gerade die Differenz und nicht die Kontinuität, wie dies bei falscher Anwendung des bottom-up-Ansatzes meist der Fall ist, bewusst gemacht werden. Dadurch sollte die Überforderung der intellektuellen Durchdringung des Stoffes erleichtert werden und durch das Angebot der eigenen Interpretation, die die Studierenden mit sich bringen können, sofern sie sich gehörig mit dem Stoff auseinandergesetzt haben, ersetzt werden. Mit dieser Revision der eigenen Position hatte ich im Unterricht einigen Erfolg, das heißt, ich kam dem ursprünglichen Ziel auf einem anderen Wege näher als durch eine nicht reflektierte Applikation bzw. Rezeption fachfremder Elemente, die öfters zu einer akademischen Selbstgefälligkeit verkommen. An dieser Stelle lässt sich meines Erachtens eine Verzahnung von Recht und Geschichte resp. Rechtswissenschaft und Geschichte zeigen, wenn wir einen intelligenten Begriff von Rechtsgeschichte entwickeln. 22  Die Zusammenstellung erfolgte durch Rico Gubler auf der Grundlage von Gerhard Koebler (, besucht am 19. Mai 2009). Köbler hat eine umfassende Datenbank erstellt, die u. a. Informationen über Juristen zusammenführt. Wertet man diese Datenbank aus, lässt sich in Deutschland und der Schweiz eine deutliche

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Existenzsicherung der Selbstproblematisierung am Ende vorausging und in die Suche nach einem „theoretischen“ Fundament mündete, das ein sicherer Ankerplatz zu sein schien. Liest man das seither publizierte Schrifttum zum Verhältnis von Recht und Geschichte und den betreffenden methodologischen Grundfragen, so muss man ohne Umschweife feststellen, dass es mit Blick auf argumentative Neuerungen kaum Nennenswertes zu vermelden gibt. Vielmehr muss man konsterniert feststellen, dass sich die meisten Autoren und Autorinnen – von drei Ausnahmen abgesehen 23 – kaum mehr befleißigen, das Schrifttum der früheren Diskussionen kritisch zu sichten bzw. eingehender zu würdigen.24 Dies betrifft insbesondere auch jenes Häufchen von systemtheoretisch angehauchten Aperçus und selbstreferentiellen Déjàvus, die zwar intelligent geschrieben,25 substanziell aber unergiebig26 sind.27

V.  Folgerungen für eine erneuerte „geschichtliche Rechtswissenschaft“ Kehren wir damit zurück zu den Fragestellungen des Anfangs. Meine These ist: Recht kann man nur als historisches Phänomen und somit als Kulturprodukt verstehen. Sozialwissenschaftliche Fragestellungen oder Methoden mögen dabei heuristisch helfen, eine Sache besser oder doch anders zu verstehen. Doch jegliches Verstehen muss aus dem Bewusstsein heraus erfolgen, dass Methoden wie Theorien Instrumente sind und dies auch bleiben, weil sie als solche keine Wirklichkeitssicht verbürgen und darstellen können, sondern immer nur Näherungen ermöglichen. Abnahme der Lehrstühle mit rechtshistorischer bzw. römischrechtlicher Widmung feststellen. (Nicht einbezogen wurden nach 1980 neu gegründete Universitäten, bzw. Fakultäten). In den allermeisten Fällen waren die rechtshistorischen Lehrstühle schon immer mit anderen, „nützlichen“ Materien wie Zivilrecht, Prozessrecht etc. gekoppelt. 23 Pio Caroni mit seiner „Einsamkeit des Rechtshistorikers“ (Caroni) oder Joachim Rückert (Rückert 1998, 2003). Sie überzeugen auf der Ebene des historistischen Konzepts argumentativ, auch wenn Innovation ausbleibt. Von den Jüngeren mag Louis Pahlow aus Bayreuth zu beeindrucken, zumal er auch der einzige ist, der die Bandbreite früherer Argumentationen berücksichtigt (Pahlow, S. 9 ff.). 24  So wurde 2005 in der Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte eine methodologische Diskussion einzuleiten versucht, teilweise mit Beiträgen, die auf einem solch tiefen Niveau waren, dass sie keinen Einfluss zu erzeugen vermochten und sofort verblassten; sie war ebenso substanzlos wie einzelne Beiträge weitgehend auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichten zu können vermeinten. 25  Fögen, insb. S. 14 ff.; Amstutz 2002, 2003; Aschke; Stichweh, S. 68 ff. 26  Eine grundlegende kritische Beurteilung der Systemtheorie findet sich allgemein bei: Merz-Benz/Wagner und im Besonderen zu ihrer Rezeptionsmöglichkeit in der Rechtsgeschichte bzw. Geschichte: Thier; Sutter, insb. S. 233 ff.; Dux, insb. S. 52 –54; Gizewski, insb. S. 481 ff., 492; Günther, insb. S. 140. 27  Die Lage ähnlich beurteilend: Hilgendorf , S. 118 ff.

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Wird die Wissenschaft des Rechts seriös verstanden, so kann sie stets nur eine reflektierende Annäherung an das historische Kulturprodukt meinen. Dies schließt freilich nicht aus, dass die Praxis daraus Nutzen ziehen kann. Theoretisch lässt sich nach meiner Auffassung nie methodologische Gewissheit bzw. „gewisses Wissen“ feststellen. In diesem kritischen Ansatz scheint man sich von Weber28 bis Wehler29 heute immerhin einig. Wer die gegenteilige Auffassung vertritt, wird schnell zum Apologet des „großen Systemzauber[er]s“ und somit Repräsentant des Glaubens an eine in sich geschlossene „letztendliche“ Funktionalität, was nichts anderes als eine Form des Szientismus ist und somit nur eine neue „Meta-Physik“ abgibt.30 Dann endet die Geschichtlichkeit des Rechts in vermeintlich absoluter Erkenntnis. Wenn ich die Relativität und Relationalität des Rechts in der Weise betone, so will ich keineswegs einen Relativismus propagieren, sondern vielmehr ein historisch methodologisches Denken im Sinn des permanenten Prozesses postulieren, welches auf die Fakten und ihr Interpretationsspektrum fokussiert ist und so Objektivität und Subjektivität immer wieder problembezogen zu einander ins Verhältnis bringt. Was bleibt, scheint vielleicht nicht viel, und dennoch ist dies Wenige nicht leicht zu erfüllen: Redlichkeit und Transparenz im Vorgehen, Plausibilität und Differenzierung in der Argumentation. Dies kann im Bereich des wissenschaftlich offenen Gesprächs und kritischen Widerspruchs aber doch öfters verwirklicht werden. Der Weber., insb. S. 313. Wehler, insb. S. 163 ff. 30  Der Irrtum des wissenschaftlichen Denkens besteht im Dafürhalten, dass die Welt nach Notwendigkeiten bzw. Gesetzen derart funktioniere, dass sie wie ein naturgesetzlicher Zusammenhang auch in den kulturellen Belangen erfasst und dargestellt werden könne. Doch die Denk- und Handlungsmöglichkeiten im kulturellen Bereich sind weitaus vielfältiger, als sie in einem wissenschaftlichen Sinne voraussehbar wären. Sie lassen sich denn auch fast ausschließlich retrospektiv als vernünftiger oder nicht-vernünftiger Ausdruck begreifen. Dies lässt sich eben daran erkennen, dass und auch wie viele irrationale Formen möglich sind. Wäre diese Welt des Kulturellen ein Prozess, der sich im Sinne beengender Gesetzesvorgaben verhielte, so würde sich kaum je Neues ereignen bzw. entwickeln können. Die Welt, von der hier die Rede ist, ist die Welt der Menschen. In dieser Welt werden die Menschen als die geistigen wie handelnden Akteure gesehen und nicht bloß als psychische Teilsysteme. Menschen erzeugen die Welt, wie sie selbst ein Produkt dieser Welt sind. Genauso wenig ist daher die Geschichte bloß ein Sammelsurium von Geschichten und damit eine letztlich beliebige (also willkürliche) Konstruktion von Welt. Wenn von Konstruktion zu sprechen ist, dann in der Weise, dass die Geschichte stets eine von Menschen für Menschen Sinn gebende Erklärung darstellt, wie und was das menschliche Leben ist. Sie zeigt auf, wie Menschen handeln können, nicht müssen, und warum sich das Leben einer Gesellschaft nicht als Notwendigkeit, sondern als Möglichkeit so entwickelte, wie es dies konkret tat. Und auch das Recht ist stets nur ein Versuch der Regelung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, denn nur Menschen bedürfen des Rechts. Auch das Recht ist ein Erzeugnis des menschlichen Geistes und der Handlungsebene von Menschen. Es nimmt eine entscheidende Rolle ein, insofern es die kulturellen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen prägt, wie es seinerseits durch diese Rahmenbedingungen geprägt wird. 28  29 

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Alleingang bleibt wohl ein einsamer Weg. Deshalb ist die interdisziplinäre Kommunikation zwischen den Fachleuten von grundlegender Bedeutung. In dem Sinne muss die Rechtswissenschaft als eine im philosophischen Sinn „reflexive historische Wissenschaft vom Recht“ verstanden werden, die sich durch ihren Grad der Reflexion und eine plausible Argumentation auszeichnet. Von daher würde ich auch die Differenz und nicht die Harmonie und folglich die Inkaufnahme der Aporie des Gesprächs verteidigen. Erst dann lässt sich die Pluralität auch angemessen zum Ausdruck bringen, weil Wissenschaft in erster Linie nicht materielle Resultate, sondern einen Dialog über Suche und Deutung – nach dem Rechten – darstellt.

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„Inkongruente Perspektiven“  Interdisziplinarität aus soziologischer Sicht Giancarlo Corsi

I.  Interdisziplinarität als Problem Dass die wissenschaftliche und akademische Forschung immer interdisziplinärer wird, ist schwer zu bestreiten. Das gilt für die angewandte Forschung, z. B. in der Entwicklung von Technologien oder in bestimmten Bereichen wie der Medizin, wo verschiedene Kompetenzen zugleich nötig sind, in denen nicht nur Biologie, sondern auch Chemie, Physik oder Technik von Bedeutung sind. Das gilt auch für die sogenannten „humanities“, zu denen manchmal auch die Soziologie oder die Sozialpsychologie gezählt werden; es ist inzwischen normal, dass zu Themen geforscht wird, die die Bildung heterogener Arbeitsgruppen vorsehen.1 Wie immer, wenn es sich um Entwicklungen gewisser Komplexität handelt, bremst die Tendenz in die eine Richtung die Tendenz in die andere nicht, im Gegenteil: Man weiß aus der praktischen Erfahrung, dass den Verhältnissen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen einige ungeschriebene Regeln zugrunde liegen. Normalerweise halten sich die Anhänger dieser oder jener Disziplin an den „mainstream“ und ziehen nur selten das in Betracht, was anderswo passiert. Ob es sich um dominante Paradigmen, um Konservatorismus, oder um effektive kognitive Schwierigkeiten handelt, um die Voraussetzungen der Forschung in anderen Bereichen zu verstehen, ist schwer zu sagen. Das sind jedenfalls normale Tendenzen und Prozesse, die u.a. auch innerhalb der einzelnen Disziplinen zu beobachten sind, z. B. wenn konkurrierende Theorien entwickelt werden, oder wenn die Spezialisierung zur Fragmentierung der Forschung führt. Die Öffnung wird in der Regel positiv und die Schließung negativ beurteilt (wer weiß, ob mit Recht) und es kann sein, dass Interdisziplinarität auch deshalb 1  Z. B. wenn man über die Sprache forscht, wobei sprachwissenschaftliche, semiotische, psychologische, neurobiologische usw. Kompetenzen nützlich sein könnten. Oder in den Sozialwissenschaften, wenn man sich für die Besonderheiten hochproblematischer Gebiete interessiert, wie die Peripherien der großen Städten oder große Gebiete auf einigen Kontinenten. Dann können Soziologen mit Juristen, Politologen, Wirtschaftswissenschaftlern und sogar Architekten zusammenarbeiten. Für Juristen sind außerdem die Kontakte mit der Soziologie nunmehr geläufig und neuerlich werden auch die Beziehungen zu anscheinend fernen Disziplinen wie der Wirtschaft gepflegt.

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geschätzt wird, zumindest als Empfehlung. Auf jeden Fall geht es um eine generalisierte Tendenz, und Varietät und Quantität der beforschten Themen stellen keine Gründe dar, sie zu beschränken oder zu hindern. Wie man aufgrund der Forschungsberichte feststellen kann, kann es auch funktionieren, und wer die Aufgabe hat, Forschung zu stimulieren oder zu finanzieren, geht nunmehr davon aus, dass Interdisziplinarität besser sei als Monodisziplinarität. Wo liegt aber dann das Problem? Vielleicht nicht so sehr im Verhältnis von Erwartung, die selbst die Idee von Interdisziplinarität erweckt, und konsolidierter, strukturierter Praxis, die manchmal enttäuschend ist. Vor einigen Jahrzehnten haben die Entwicklungen in sehr abstrakten Disziplinen wie Kybernetik oder Kognitionstheorien tatsächlich Erwartungen wachsen lassen, die nicht ganz erfüllt worden sind.2 Solche Versuche führen oft dazu, dass besonders abstrakte Theorien, die eben deshalb mehr Chancen haben, interessant für andere Disziplinen zu sein, sich sowohl inflationär als auch deflationär entwickeln. Sie werden zugleich oft zitiert und oft ignoriert, lassen gleichsam Schulen und zugleich Verdacht oder sogar Aversion gegen „grand theories“ entstehen.3 Natürlich kann aus der Interdisziplinarität keine generalisierte, allen Disziplinen gemeinsame Betrachtung der Wirklichkeit entstehen, also keine Ausdehnung derselben Begriffe und Begriffsbeziehungen auf alle gesellschaftlichen Teilsysteme, als ob Wissenschaft und Recht, Politik und Theologie oder – warum nicht? – Physik und Chemie mit denselben Theorien oder Methoden arbeiten könnten. Im Gegenteil: Man würde vermuten, dass, gerade wenn Interdisziplinarität funktioniert, die verschiedenen Perspektiven auseinanderlaufen und sich ihr Wissen, also ihre Theorien und Methoden, von dem Wissen anderer Disziplinen mehr und mehr unterscheidet. Überschneidungen wären dann nur auf der Ebene einzelner Projekte sinnvoll, also nur vorübergehend. Wie immer: Es bleibt eher unklar, unter welchen Bedingungen die Kontakt- und Zusammenarbeitsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Disziplinen ermöglicht und beschränkt werden. Es ist mit anderen Worten nicht so klar, was das „Inter“ von Interdisziplinarität bedeutet und bezeichnet und es ist deshalb unklar, ob und warum die Erwartungen an Interdisziplinarität wirklich begründet sind. In diesem Beitrag möchten wir versuchen, eben das zu erklären und wir starten mit jenem Präfix, das eine Verbindung und einen Unterschied zugleich bezeichnet.

2  Man denke z. B. an Autoren wie Edgar Morin, der die Tragweite bestimmter Begriffe wie Autopoiesis oder Selbstreferenz schon sehr früh erblickte (siehe dazu paradigmatisch im strengeren Sinn Morin 1977/1980/1986); oder an „Transdisziplinen“ wie Konstruktivismus, Beobachtungstheorie usw. (siehe unter vielen anderen Schmidt und Luhmann/Maturana/Namiki/Redder/Varela). 3  In der Soziologie war das der Fall von Talcott Parsons und heute auch von System­ theorie.

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II.  Wissenschaftliche und akademische Disziplinen Fangen wir mit dem Unterschied an. Wenn von Disziplinen, von Wissenschaft oder Forschung die Rede ist, denkt man sofort an verschiedene akademische Bereiche (wie Biologie, Soziologie, Rechtswissenschaften usw.), an verschiedene Bezugsrealitäten (man spricht eben von physischer im Unterschied zur organischen oder sozialen Realität) und auch an verschiedene Berufe, ganz zu schweigen von der Publizistik oder von den vielen „Kontaminationen“, die ständig auftauchen.4 Es ist eine Welt in Bewegung, die den sich im Laufe der Zeit etablierten disziplinären Bindungen gegenüber intolerant wird und trotzdem ständig auf der Suche nach neuen Begrenzungen ist. Die traditionellen disziplinären Aufteilungen werden in Frage gestellt, aber man hat den Eindruck, dass es bisher über die möglichen Alternativen wenig Klarheit gab. Die Soziologie kann dabei vielleicht helfen, und zwar mit einem ihrer Grundbegriffe, dem der Differenzierung.5 In der systemtheoretischen Sprache ist von Differenzierung immer in Bezug auf Systeme die Rede und damit ist die Möglichkeit gemeint, operative Grenzen zwischen einem System und seiner Umwelt oder zwischen einem und anderen Systemen zu beobachten. Der Begriff schließt auch den Fall ein, dass ein System sich selbst in sich selbst weiterdifferenziert, indem es Teilsysteme aufgrund von Kriterien bildet, die je nach dem Systemtyp oder historisch-evolutionär variieren können. Hier beschränken wir uns auf den Fall der Gesamtgesellschaft und der Form ihrer Innendifferenzierung in Teilsysteme, unter diesen natürlich Recht und Wissenschaft. Was die Differenzierungsform der Gesellschaft angeht, gehen wir von der inzwischen klassischen soziologischen Annahme aus, dass die moderne Gesellschaft funktional differenziert ist.6 Mit Funktion ist ein gesellschaftliches Problem gemeint, das das jeweilige Teilsystem (man denke z. B. an Religion, Politik, Familien, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht usw.) ständig lösen muss. Jedes Teilsystem hat das Monopol über die eigene Funktion und strukturiert sich entsprechend um sie herum. Das heißt, dass kein Teilsystem mit der Hilfe anderer Teilsysteme rechnen oder eigene Strukturen bzw. Prozesse delegieren oder exportieren kann. Natürlich kann und muss jedes Teilsystem das ausnutzen, was anderswo produziert wird: Es ist umso selbstständiger, je mehr es mit der Selbstständigkeit anderer Teilsysteme rechnen kann, die es voraussetzen und auf die es sich verlassen muss. Man denke nur ans Geld: Kein Krankenhaus und keine Schule, sowie kein Gericht könnte ohne ein Minimum an Finanzierung operieren. Aber das Geld ist selbstverständlich nur eine Umweltbedingung, um bestimmte Leistungen zu bekommen, vor allem auf 4  Z. B. die Verhältnisse zwischen Neurobiologie und Psychologie, oder zwischen Genetik und Medizin, oder sogar zwischen Soziologie und Biologie. 5  Umfangreiche Begriffsbestimmung in Luhmann 1984, S. 256 ff. und für den Fall der Gesellschaft Luhmann 1997, S. 595 ff. 6  Ein klassischer Vorschlag, der von Luhmann auf Durkheim (Rollendifferenzierung) durch Parsons (Differenzierung des Handlungssystems) zurückgeht, obwohl nicht in demselben theoretischen Sinn.

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der organisatorischen Ebene. Auf der Ebene der Funktionserfüllung kann nicht einmal diese Bedingung helfen. Man kann keine Gesundheit, kein Recht vor Gericht, keine Ausbildung kaufen – man kann „bestenfalls“ korrumpieren. Dasselbe gilt für jedes andere Teilsystem: Ohne irgendeine rechtliche Vorgabe könnte sich kein Unternehmensnetzwerk entwickeln, zumindest nicht genug für eine „normale“ Wirtschaft. Ohne wissenschaftliche Forschung würden die Infrastrukturen, die Technologie und die auch sehr ausdifferenzierten Kausalitäten fehlen, an denen sich alle anderen Teilsysteme bedienen. Außerdem – und das nähert uns weiter unserem Thema – kann kein Teilsystem seine eigene Funktion erfüllen, ohne verschiedene Formen von Eigenwissen zu entwickeln und das schließt praktisch jegliches Thema ein, über das im Teilsystem kommuniziert werden kann. Darunter sind auch jene Selbstbeschreibungen und Selbstdarstellungen, die in der Sprache der Systemtheorie als Reflexionstheorien bezeichnet werden, wie z. B. Theologie in der Religion, Pädagogik im Erziehungssystem, Erkenntnistheorien in der Wissenschaft und alles, was im Rechtssystem unter der Bezeichnung Rechtstheorie in ihren vielen Varianten registriert wird. Das ist ein wichtiger Punkt: Diese Theorien sind innere Produkte der jeweiligen Teilsysteme und nur dort können sie erfunden werden und ihren operativen Sinn finden. Trotz des nunmehr verbreiteten Sprachgebrauchs, den wir vielleicht der Humboldtschen Universitätsauffassung verdanken, nach dem alle akademischen Disziplinen Wissenschaft sind, haben Reflexionstheorien keinen wissenschaftlichen Charakter im strengeren Sinn – Ausnahme natürlich die wissenschaftlichen Erkenntnistheorien. Es wäre sinnlos, der Theologie, der Pädagogik oder der Rechtstheorie zuzumuten, dass sie mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden empirisch verfahren sollen – abgesehen von den generalisierten Publikationsstandards oder der Logik der Argumentation. Diese Selbstbeschreibungsformen beziehen sich immer ausnahmslos auf die vom jeweiligen System erfüllte Funktion und, wie immer sie ausgebaut werden und welche Beiträge sie auch immer benutzen wollen, werden immer nur die Operationen des Systems als Bezugspunkt haben. Für andere Teilsysteme können sie als Sonderfälle eventuell interessant sein, in denen geforscht werden kann, wie bei verschiedenen Subsoziologien. Das soll nicht missverstanden werden: Es geht nicht darum, den wissenschaftlichen Status der verschiedenen Disziplinen zu leugnen, als wäre er ein Verdiensttitel. Es geht eher darum, welche Probleme zu lösen sind: Wozu Pädagogik, wenn nicht in Hinblick auf den Moment, in dem der Lehrer die Schulklasse betritt und sich vor den Studenten findet? Wie kann ihm dabei geholfen werden, bis zur Pausenglocke ohne große Probleme zu „überleben“? Und wie kann man den Studenten zumindest die Möglichkeit anbieten, die Prüfungen zu bestehen, sie zu motivieren, ihnen das Wissen zu vermitteln, und wie kann man verstehen, ob sie verstanden haben? Oder: Wozu Rechtstheorien, wenn nicht in Hinblick auf den Entscheidungsmoment im Gerichtssaal? Wie können Anwälte, Richter, Prozessparteien genug Elemente finden, um zu verstehen, was als Argument gelten kann und was nicht? Wie können Fälle so verglichen werden, dass man erfahren kann, wann und wie bestimmte Fälle subsumiert, wann und wie Analogien entnommen werden können oder wann

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und wie neue Tatsachen bzw. neue Präzedenzfälle entstehen? Und welche Funktion haben Doktrinen, Kommentare, Dogmatik und die historisch-vergleichende Forschung, wenn nicht die, Materialien für die Entscheidungen zu schaffen? Trotzdem bleibt dieser Punkt kontrovers, wie auch während der Tagung zu merken war.7 Zweifellos werden die zwei Ebenen in bestimmten Fällen (z. B. mehr im Recht als in der Wissenschaft) auch stark getrennt, aber wenn man nach dem Sinn des Rechtswissens fragt, wie könnte man antworten: Die Ermöglichung von Entscheidungen in den Gerichten?8

III.  Divergenzen zwischen Recht und Rechtssoziologie Zur Klärung dieses Arguments auf einer, sozusagen, empirischen Ebene möchte ich ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung anführen. Wenn man mit Juristen arbeitet, die verstehen möchten, wie Kriminalitätsprobleme in hochproblematischen Gebieten wie den Favelas in Brasilien gelöst oder zumindest behandelt werden können, wird es nicht schwierig sein, auf gemeinsame Schlüsse zu kommen: Kriminalität in einer Favela ist oft die einzige praktizierbare Lebenschance für die Einwohner. Es ist klar, dass es vor allem um ein extremes Exklusionsproblem geht und deswegen um ein ebenso politisches wie auch rechtliches Problem. Und wenn man erfährt, dass Konfliktfälle, soziale Widersprüche, Interessens- oder Rechtsverletzungen vor den Bossen der Favelas behandelt werden, die entscheiden, ohne dass jemand ernsthaft daran denkt, die Behörde zu involvieren, wird sich der Soziologe überhaupt nicht wundern, im Gegenteil: Das kann nur die Normalität einer außergewöhnlichen Lage bestätigen. Der Jurist wird aber darin ein Negatives sehen, eine Niederlage in seiner Funktion und wird versuchen zu analysieren, wie das Recht auch für die Einwohner der Favela zugänglich gemacht werden kann. 7  In der Diskussion bei der Tagung im ZiF, die diesem Band zugrunde liegt, hat vor allem Dieter Grimm dagegen einige Vorbehalte geäußert, mit dem Argument, dass der Moment der Gerichtsentscheidung nicht unbedingt zentral für Rechtstheorien oder -philosophien sei. Sicherlich sind die abstrakteren theoretischen Analysen an die Richter nicht explizit adressiert – aber wenn dieses Wissen nicht im Hinblick auf die Gerichtsentscheidung produziert wird, dann aufgrund von welchem anderen Kriterium? 8 Zum Unterschied zwischen Rechtssoziologie und Rechtstheorie siehe eine kleine Schrift (eine Rezension) von Hans Kelsen (1912): Kelsen spricht von Juristen und damit meint er den Gesetzgeber, den Rechtspolitiker, den Richter und den Verwaltungsbeamten. Keine Spur vom Rechtstheoretiker – also von ihm selbst. Vielleicht weil der Rechtstheoretiker nur im Dienst der anderen seinen Sinn finden kann? Und wo er von Rechtssoziologie schreibt, wünscht er sich, dass es „der Soziologie einmal gelingen wird, ihre Materie ebenso exakt zu behandeln, wie es zum Beispiel der modernen Biologie gelungen ist“ (S. 614). Von einer Fusion oder Ersetzung der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie (die nur ein „merkwürdiger Selbstvernichtungsantrieb“ wäre, S. 602) ist überhaupt nicht die Rede, im Gegenteil: Kelsen hofft, dass Rechtstheorie und Rechtssoziologie sich weiter differenzieren, als ob eine starke Differenzierung die einzige Voraussetzung dafür sei, dass die beiden Disziplinen etwas wechselseitig voneinander lernen können. Man kann nur zustimmen.

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Z. B. beim Verlangen von Rechtssicherheit als Voraussetzung sozialer Ordnung. Aber Rechtssicherheit ist auch eine sehr riskante Alternative, weil Sicherheit nur heißt, dass entschieden wird, aber nicht, wie und nicht, dass die Entscheidung gerecht sein wird – zumindest nicht in dem dort gemeinten Sinn. Und das ist eben das, was in den Peripherien oder in den Unterschichten demotiviert, sich an die Justiz oder an die formalen Behörden zu wenden. Interessant ist, wie die verschiedenen Beobachter auf diese Schwierigkeiten reagieren. In Lateinamerika ist es oft der Fall, dass die Staatsanwälte auf die politische Intervention hoffen, und das ist normal. Es kann passieren, dass angesichts der soziologischen Analysen und Statistiken, die eine hochproblematische soziale Realität zeigen, das Problem der Rechtsdurchsetzung sich in ein politisches und moralisches Problem umwandelt. Z. B. wenn man die Kriminalität als Folge sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ansieht und nach mehr sozialer Integration oder Inklusion fragt und schließlich die Verfassung ändern will in der Hoffnung, dass die unterschiedlichen Erfordernisse in gemischten Imperativen zusammengefasst werden – gemischt heißt: politische, rechtliche, moralische und nicht zuletzt auch religiöse Imperative. Aber dadurch geht man das Risiko ein, an Differenzierung zu verlieren, sodass man nicht mehr versteht, ob es um Recht oder um Politik geht oder vielleicht einfach um eine Reaktion auf eine angeregte öffentliche Meinung. Aber man braucht nicht so weit zu gehen, um ähnliche Probleme zu finden. Der Staatsanwalt, der die Camorra in Neapel untersucht, wird rasch feststellen, dass die Repression bestimmter Tätigkeiten (wie Schmuggel oder Drogenvertrieb) auch tief gegenwirkende Effekte haben kann. Denn sollte die Camorra wirklich zerschlagen werden: Was könnten tausende Personen mit einer einzigen Kompetenz (Gewalt) dann tun? Der Soziologe hat keinen Zweifel an der Anerkennung einer Funktion sozialer Kontrolle der organisierten Kriminalität und wird nicht staunen, wenn er bemerkt, dass die Polizei nicht radikal operiert und der Grund dafür öffentlich nicht mitgeteilt werden kann und darf. Der Jurist wird sich aber frustriert fühlen und seine Zukunft um den Zwiespalt zwischen Resignation und Engagement strukturieren. So können auch tragische Heldenfiguren entstehen; oder angesichts der rechtlichen Schwierigkeiten können die Staatsanwälte eine politische Karriere wählen, nicht selten mit demagogischen Tönen.9 Die italienische Geschichte kennt eine Reihe solcher Fälle. Das ist ein eher konkreter Fall, an dem man sehen kann, wie Juristen und Soziologen dasselbe anders beobachten. Es gibt natürlich auch Themen und Diskussionen auf einem abstrakteren Niveau, die zeigen, wie die beiden Perspektiven schwer zu harmonisieren sind, und das auch dann, wenn Literatur und Begriffe mehr oder 9  Ich weiß nicht, ob das bestimmte italienische Karrieren erklären kann. Aber wenn Recht und Politik zu nah in Kontakt kommen und an Differenzierung verlieren, wird es schwierig zu verstehen, welche Programme auf der einen und auf der anderen Seite Erfolg haben könnten. Wenig programmatische Klarheit führt zu einer Überbeleuchtung von Personen, wie die moderne Politik zeigt.

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weniger dieselben sind. Es wird z. B. die Fragmentierung des Rechts diskutiert.10 Hauptargument dabei ist, dass die Globalisierung der Gesellschaft erhebliche, vielleicht auch beunruhigende Folgen hat, u.a. auch, dass neuere völkerrechtliche Entwicklungen und viele Formen von nichtstaatlichen Gerichtsinstitutionen eine gewisse Unordnung ins Recht bringen, ohne dass man deutlich verstehen kann, wie Konflikte zu lösen sind oder welche Normen weltweit tatsächlich gelten.11 Für die Juristen sind die verwaltungsmäßige Gliederung des Rechts, der formale Komplex der Jurisdiktion und Unterschiede wie privates/öffentliches Recht sehr wichtig;12 soziologisch gesehen ist aber die Frage, ob die Fragmentierung das Rechtssystem als solches oder die organisatorische bzw. formelle Struktur des Rechts betrifft. Wenn man von der innerrechtlichen Strukturierung der Entscheidungsverfahren (z. B. Quellenhierarchie oder Rolle des Staates) ausgeht, ist das Problem klar – aber wenn man von der Funktion des Rechts ausgeht, sind einige Vorbehalte bei der Bezeichnung „fragmentiert“ unausweichlich. Klagemöglichkeiten bestehen nach wie vor und Richterentscheidungen werden nach wie vor getroffen. Inwieweit sie konsistent sind und in diesem Sinne „gerecht“ ist gewiss eine Frage – aber eine andere.13 Man könnte außerdem denken, es geht um, alles in allem, ziemlich normale evolutionäre Veränderungen des Rechts – insofern normal, als die frühmoderne Segmentierung von Staaten und Jurisdiktionen tatsächlich mehr und mehr ihre Grenzen zeigt.14 An diese Diskussion knüpft eine weitere, gewissermaßen abstraktere an. Seit einigen Jahren werden Rolle und Funktion von Verfassungen in Frage gestellt und dazu haben auch Soziologen beigetragen. Auch hier spielen eben Globalisierungsprozesse oder Entwicklungen in den staatlichen Strukturen eine wichtige Rolle.15 Febbrajo/Gambino. Teubner 1997. 12  Siehe dazu Ladeur 2014: In einer Gesellschaft, wo Organisationen eine zentrale Rolle spielen, wird das Verhältnis von privatem und öffentlichem Recht insofern problematisch, als es einer ständigen Abstimmung von Fall zu Fall bedarf. Siehe auch Ladeur 1997a. 13  Man könnte hinzufügen, dass die Globalisierung überall, also in allen Teilsystemen der Gesellschaft, solche Folgen verursacht. Mir scheint, dass man immer zwischen Strukturen und System unterscheiden muss: Dass die aktuelle Gesellschaft jede strukturelle Einrichtung, vor allem auf organisatorischer Ebene, ständig konstruiert und dekonstruiert, ist unbestreitbar – man könnte sogar sagen: Man baut Strukturen auf in Hinblick auf Strukturänderung, wie die Organisationstheorie schon lange bemerkt hat (siehe Brunsson/Olsen; Brunsson; Kirste; Esposito 2005). Aber kein System kann mit seinen Strukturen identifiziert werden und das ist noch einmal ein Punkt, der für Soziologen fast trivial ist, für Juristen, Politologen, Theologen usw. vielleicht schwer anzunehmen. Man denke an die Probleme der Wirtschaft mit der Differenz von Produktion und Finanz, die im 20. Jh. ihr Gefährdungspotential deutlich gezeigt hat. 14  Andererseits hatte schon Kelsen (1928) darauf hingewiesen, das Völkerrecht habe das Primat über das staatlich organisierte Recht. Seine Idee ging natürlich nicht von den heutigen Problemen aus, aber wichtig ist hervorzuheben, dass jede rechtliche Konstruktion eben eine Konstruktion ist. 15 Eine große Resonanz erfuhr die Diskussion zwischen Dieter Grimm und Jürgen Habermas über das Verhältnis von Verfassung und öffentlicher Meinung in Europa. Siehe Grimm 2001 und Habermas. 10 Siehe 11 Siehe

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Es wird bemerkt, dass die klassische Idee des Staates eher in den Hintergrund zurücktritt zugunsten „hybriden“ Einrichtungen16 und insgesamt in die Richtung einer selbstorganisierenden Gesellschaft17 geht, die Verfassungen oder Teilverfassungen mit einer konstitutiven und zugleich limitativen Funktion auch auf der Ebene ihrer vor allem wirtschaftlichen, aber auch religiösen, wissenschaftlichen usw. Organisationen und Netzwerke generiert.18 Das ließe u.a. auch den systemischen Charakter verschiedener Medien verblassen und die Relationen zwischen ihnen in den Vordergrund bringen.19 Dadurch stellt sich aber die Frage nach Sinn und Funktion der Verfassung. Geht es um Legitimation des Rechts und der Macht und um ihre Beschränkung? Geht es um Letztbegründung staatlicher, heute eben auch nichtstaatlicher aber rechtlich relevanter Einrichtungen? Oder ist das dahintersteckende Problem die Positivierung des Rechts und seine endgültige Differenzierung von der Politik, so dass neuere Formen der Verknüpfung der beiden nötig werden?20 Hier kann man deutlich sehen, wie unterschiedlich die Beobachtungsperspektiven sind: Für die Juristen heißt Verfassung hauptsächlich Selbstbegründung und Selbstbeschränkung (vor allem durch Grundrechte),21 für die Politik bedeutet sie nicht nur Verzicht auf „traditionelle“ Mittel der Machtdurchsetzung, wie Korruption oder unkonditionierte Gewalt, sondern auch gleichsam Zwang zur Demokratisierung, für die Soziologie ist sie die Lösung eines Differenzierungsproblems. Wer auch immer solche Situationen beurteilen will: Interdisziplinarität kann nicht heißen, auf einen gemeinsamen Schluss oder zu einer von Juristen und Soziologen gemeinsamen Beschreibung zu kommen. Es geht vielmehr darum, das Beobachtungspotenzial auf beiden Seiten zu erweitern. Für den Soziologen handelt es sich in der Regel darum, Begriffe und Theorien zu entwickeln, „Daten“ zu sammeln und zu sehen, wie sie „verarbeitet“ werden können. Für den Juristen könnte es darum gehen zu verstehen, gleichsam wie gewunden der Weg zwischen Tatsache und Normen und wie groß das Risiko ist, gleiche Fälle ungleich zu behandeln. Und darin kann der Soziologe, der vielleicht den Finger auf die Wunde gelegt hat, kaum helfen.

16  Im Sinne Teubners 2002: „a highly ambiguous combination of networks with contracts and organizations“ (S. 12). 17 Siehe Ladeur 1997a und 1997b. 18 Siehe Teubner 2011a. Vgl. auch Thornhill 2008 und 2010. 19 Siehe Teubner 2011b und 2011c. 20  Das ist der Vorschlag Luhmanns (1990b), der die Funktion der Verfassung in der strukturellen Kopplung von Recht und Politik sieht. Soziologen beschäftigen sich selten mit Verfassungen und wenn, dann nicht aus dieser Perspektive: Siehe Thornhill 2011, der vor allem historisch-vergleichend mit Schwerpunkt auf Legitimation und Grundrechte vorgeht. 21 Siehe Grimm 2003, in Bezug auf die Möglichkeit einer Europäischen Verfassung. Dass „Selbst“-Begründung nicht problemlos möglich ist, sondern nur durch Annahme von Kurzschlüssen und Paradoxien, ist aber ziemlich klar. Sehr bewusst in dieser Hinsicht ist Tushnet.

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In diesem Sinne könnte man vermuten, dass durch die interdisziplinäre Forschung eine Zunahme der Divergenz der Beobachtungsperspektiven zu erwarten ist und nicht etwa eine Annäherung oder eine, wie temporäre auch immer, Übereinstimmung.22 Andererseits kann der Irritationsbegriff, der bei der Tagung im ZiF mehrmals erwähnt worden ist, nichts anderes bedeuten, als dass das irritierte System dazu angeregt wird, Informationen herzustellen in der Form von Überraschungen, Abweichungen, Erwartungsenttäuschungen usw. und dadurch neues Eigenwissen zu schaffen. Die Folgen der Irritationen, mit anderen Worten, sind von den gegebenen Strukturen bestimmt, mit einer kleinen Paradoxie: Die Irritationen hängen von denselben Strukturen ab, die sie ändern. Deshalb kann das Irritieren, oder besser, das Irritationspotential weder kontrolliert noch determiniert werden. Man kann bestenfalls versuchen, „zufallsempfindliche“ Strukturen aufzubauen, – noch eine Paradoxie – also ultrastabile Strukturen,23 die auf einem „loose coupling“24 zwischen sich selbst und den konkreten, von dem System ständig produzierten, Operationen gegründet sind. Vielleicht hat „Forschen“ gerade mit so etwas zu tun.

IV.  Interdisziplinarität als vorübergehende Kopplung Semantisch gesehen kann tatsächlich missverstanden werden, was man üblicherweise „Forschung“ nennt. Das Wort ist inzwischen in allen Disziplinen geläufig, vor allem seit seiner Institutionalisierung im akademischen Bereich. Jedes Teilsystem produziert ohne weiteres Forschung, mit variablen Freiheitsgraden oder operativen Bindungen.25 Wenn man versucht zu verstehen, was die verschiedenen Disziplinen in Bezug auf „Forschung“ gemeinsam haben, kann eine Antwort in der allgemeinen Fähigkeit gefunden werden, das eigene Begriffsvermögen, das Eigenwissen mehr oder weniger systematisch zu verarbeiten, es zu erweitern und zu verfeinern und ihm eine Form zu geben, die wiederholt, generalisiert und nur deshalb auch geändert werden kann. Von den Beiträgen des Konstruktivismus und der vielen Erkenntnistheorien weiß man, dass die Forschungsdynamik nicht von der Bezugsrealität (ihrerseits ein Produkt der Forschung) der verschiedenen Disziplinen bestimmt ist, sondern von der Konsistenz des verfügbaren „ko22  Man kann z. B. nicht erwarten, dass Juristen ihre normative Argumentationsweise aufgeben, um zu einer kognitiven zu konvertieren. Siehe beispielhaft den Aufsatz von Klaus Mathis über die Folgenorientierung in diesem Band: Auf die Frage, welche Alternativen der Richter bei einer Fallentscheidung hervorbringen wird, wenn er auch die Folgen seiner Entscheidung mit in Betracht ziehen muss, kann man zweierlei antworten – befürchtend, dass er sich an außerrechtlichen Kriterien orientieren wird, da die Folgen überall hinfließen, oder im Vertrauen auf die Fähigkeit des Rechts, dogmatisch und systematisch das Imaginäre des Richters zu kanalisieren. 23  Im Sinn von Ashby. 24  Ein nunmehr bekannter Begriff. Vgl. vor allem Weick. 25  Im wissenschaftlichen Bereich unterscheidet man z. B. zwischen angewandter und Grundforschung.

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gnitiven“ Stoffes, also den Begriffen und deren Systematisierung in Theorien.26 Es geht um Prozesse, die aufgrund einer morphogenetischen Logik beschrieben werden könnten, also aufgrund von Begriffen wie kritische Masse, Abweichungsverstärkung, strukturelle Unwahrscheinlichkeit usw. oder aufgrund der kühnen Argumente der Unterscheidungstheorie. Aber das sind Instrumente, die vor allem in der Soziologie noch nicht weit genug entwickelt sind.27 Hier beschränken wir uns auf einige nunmehr bekannte Aspekte. In der Wissenschaft hängen das Experimentier-Potenzial und das Theorie-Potenzial zusammen: Je mehr Begriffe miteinander in Theorien kombiniert werden können, desto mehr empirische Fälle können konstruiert werden (und umgekehrt).28 Im Rechtssystem korreliert das Entscheidungspotenzial einerseits mit der Fähigkeit, Tatsachen zu unterscheiden und deshalb große Mengen von vergleichbaren Fällen zusammenzustellen und andererseits mit der Fähigkeit, Begriffe zu abstrahieren und zu generalisieren. Ähnliche Korrelationen können für alle Teilsysteme gefunden werden. Forschen im Allgemeinen heißt dann, an der Kombinatorik von Begriffen, Unterschieden, Theorien, Methoden, Verfahren und jeder anderen Form zu arbeiten, die das Eigenwissen des jeweiligen Systems übernimmt. Man kann von einem Medium sprechen, das von der jeweiligen Perspektive ausgehend mehr oder weniger klare und scharfe Elemente produziert, die in mehr oder weniger stabilen unterschiedlichen Formen rekombiniert werden können.29 Mit „Form“ sind normalerweise Begriffe, oder besser, Unterscheidungen gemeint, deren Konturen davon abhängen, wie die anderen Begriffe und Unterscheidungen ihren Sinn ausgrenzen.30 Die Entwicklung der Disziplinen läuft parallel zur Steigerung der Selektivität der auflösbaren/rekombinierbaren Elemente des Mediums und deshalb auch zu seiner Extension, also zur Quantität der Elemente. Man kann daher den Begriff der Disziplin gerade als Begrenzung der Relevanz solcher Elemente, also als Selbstlimitierung des Wissens, sehen. In diesem Sinn geht es auch darum, wie und in welcher Masse die Wirklichkeit durch die Anregungen des Mediums registriert wird: Ein Experiment kann scheitern oder Erfolg haben, so wie das Recht neue Tatsachen entdecken kann, mit der Folge, dass die Voraussetzungen der rechtlichen Entscheidungen revidiert werden müssen – oder eben nicht. Forschen bedeutet dann: das Auflöse- und Rekombinationsvermögen der jeweiligen Disziplin auszunutzen.

26 

Für Literaturhinweise siehe oben, Anm. 2. Esposito 1992. 28  Wobei der Unterschied zwischen Theorie und Empirie eine rein interne Konstruktion ist – oder, anders gesagt: Die Differenz von Innen und Außen kann nur im System getroffen werden. Empirisch geht es nicht anders. 29  Zu diesem Mediumbegriff siehe Luhmann 1997, S. 190 ff. Zur Möglichkeit einer weiteren Generalisierung dieses Begriffs siehe auch meinen Beitrag Corsi 2012. 30  Und davon, was die disziplinierenden Kriterien wie Methoden und Verfahren zulassen. 27 Siehe

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Wichtig ist ferner, dass die Medien sich aufgrund einer besonderen eigenen Perspektive differenzieren. Für die Wissenschaft heißt Forschen immer nur das bloße Herstellen von Wissen (oder von Wahrheit als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium),31 während das Recht immer nur mit der Behandlung der Enttäuschung normativer Erwartungen zu tun hat. Nur von diesen Perspektiven ausgehend bekommen Theorien und Methoden in der einen oder anderen Disziplin einen operativen Sinn. Von einem komplementären Gesichtspunkt aus kann man sagen, dass dasselbe Element einen anderen Sinn gewinnt, wenn man eine andere Perspektive einnimmt. Das gilt z. B. schon für ein sehr allgemeines Phänomen wie die Kriminalität: Für die Soziologie ist sie nur eine Variable, die mit anderen in Verbindung gebracht werden und bestimmte lokale Situationen charakterisieren kann; für die Politik ist sie ein Problem, zumindest über einer bestimmten Schwelle, das vor dem Spiegel der öffentlichen Meinung gelöst werden sollte; für das Recht ist sie einfach alltägliche Normalität.32 Mit anderen Worten: Für den Soziologen geht es darum, die statistischen Zahlen zu analysieren und Korrelationen zu entnehmen und das ohne Rücksicht auf die Einzelfälle. Für den Juristen geht es darum, jeden Einzelfall zu berücksichtigen und nur aufgrund der Tatsache zu generalisieren oder auch zu überlegen, wie Verfahren, Sanktionen usw. tatsächlich wirkungsfähig sind. Daraus folgt, dass gerade eine stärkere Differenzierung der Medien (und deshalb der Disziplinen) die Voraussetzung bildet für das, das wir Interdisziplinarität nennen. Wenn das Medium genug entwickelt und damit auch von den anderen Medien genug getrennt ist, verschärfen sich die entgegengesetzten Tendenzen: Einerseits ist es leichter, andere Medien zu irritieren, andererseits wird es immer schwieriger, gemeinsame Gesichtpunkte bei der Beobachtung der Realität zu finden. Anders gesagt: Die Begriffe werden deutlicher und schärfer und dadurch auch exklusiver und die Theorien werden für externe Beobachter weniger verständlich. Aber gerade das kann andere Perspektiven und das, das man von dort her beobachten kann, attraktiver machen – vielleicht eben deshalb, weil es sich um unwahrscheinliche, kontrafaktische und im Grunde wechselseitig kaum akzeptable Perspektiven handelt. Wenn diese oder jene Disziplin Schwierigkeiten hat, das zu tun, wird sie weniger interessant sein für die anderen und es wird weniger möglich sein, Interdisziplinarität zu organisieren.33 31  Zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bzw. Überzeugungsmedien (in der Sprache von Talcott Parsons) siehe vor allem Luhmann 1997, S. 316 ff. 32  Zumindest in der Maße, als das Recht durchsetzbar bleibt. Andererseits: Wo Gewalt herrscht, gibt es kaum Raum für das Recht. 33  Man muss zugeben, dass gerade die Soziologie oft Schwierigkeiten hat, ihre eigenen Fragestellungen von denen anderer Disziplinen getrennt zu halten und deswegen kann sie sich selbst und andere nur sehr begrenzt irritieren. Systemtheorie ist ohne weiteres eine Ausnahme und gerade als soziologische Theorie. Während der Tagung wurde behauptet, dass Luhmann für die Juristen interessant sei, gerade weil er selbst Jurist und deshalb ein guter Kenner der Probleme des Rechts war. Ich bin nicht einverstanden: Natürlich hat seine Kenntnis des Rechts ihm erlaubt, in diesem Bereich viel (und mehr als in anderen) zu publizieren; aber seine Produktion schließt ebenso wichtige Beiträge auch in anderen Fächern

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Fassen wir zusammen: Je mehr ein Medium an „Distinktheit“ und „Anpassungsfähigkeit“, „Körnigkeit“ und „Viskosität“34 kombininieren kann, desto mehr kann es Gelegenheiten für vorübergehende Kopplungen mit anderen Medien anbieten. Je weniger es dies kann, desto schwieriger wird es sein, sich von der Realität getrennt zu halten, die es beobachtet, und umso weniger interessant wird es sein für andere Beobachter. Konfusion statt Irritation. Auf einer anderen Ebene soll außerdem die Tatsache beachtet werden, dass der Ort par excellence, wo geforscht werden kann und damit ein erheblicher Teil des Eigenwissens und alle Reflexionstheorien produziert werden können, die Universität (oder äquivalente Forschungseinrichtungen) ist. In den Universitäten bilden sich akademische Disziplinen,35 die von dem Entscheidungsdruck des jeweiligen Teilsystems befreit sind, also die Funktion nur indirekt erfüllen. Forschen in Jurafakultäten bedeutet noch nicht, einen Fall zu entscheiden, so wie Finanzmathematik zu lernen noch nicht heißt zu entscheiden, welche Aktien zu kaufen sind. Der einzige Druck, unter dem die Forscher stehen, ist, zu publizieren, d. h. die eigene Karriere zu pflegen einerseits, und das Eigenwissen der Disziplin zu erweitern – dessen Schicksal als Nützlichkeit und Prägnanz nur von dem Bezugssystem entschieden wird. Vielleicht ist es gerade wegen dieser Akademisierung der Wissensproduktion, dass man im Lauf der Zeit zu einer gewissen Uniformität der Forschungskriterien in den unterschiedlichen Teilsystemen gelangt ist: Methoden für die Interpretation und Verarbeitung von Quellen und Daten, selektives Korrelieren von Variablen (in der Form von Begriffen oder Zahlen), Pflege des Argumentierens und Standardisierung bei der Gliederung der Aufsätze, usw. mit einer manchmal hohen Pedanterie.36 Hier kann der Eindruck erweckt werden, es gehe auf alle Fälle um bloße Wissensproduktion ohne direkte Verbindung zu den Bezugsfunktionen. Aber es genügt zu sehen, wie jede Disziplin in ihrem akademischen und beruflichen Netz noch artikuliert wird, um eine weitere systemeigene und operationsbezogene Differenzierung festzustellen: In der Wissenschaft findet man Physik, Chemie, Biologie, Soziologie usw., im Rechtssystem Zivil-, Straf- oder Verfassungsrecht usw., wobei nicht nur die Bezugsprobleme, sondern auch die Ausbildungskriterien und die beruflichen Konturen differenziert werden. Es ist daher nicht nur eine Frage der gesellschaftlichen Innendifferenzierung, sondern auch der Innendifferenzierung der Teilsysteme in Disziplinen und Subdisziplinen mit einer heute sehr hohen Fragmentierung. Will man Möglichkeiten ein und ich würde sagen, dass das Interesse der Juristen für die Systemtheorie sich von der Theorie als solcher herausgibt – also von der Tatsache, dass Systemtheorie explizit darauf verzichtet, sich mit dem Eigenwissen anderer Disziplinen (des Rechts eingeschlossen) zu harmonisieren und gerade darin ihre wissenschaftliche Spezifität sieht. 34  Luhmanns Ausdrücke (1990a, S. 53). 35  Nicht unbedingt einem Teilsystem zuzuschreiben: z. B. Philosophie, Literaturwissenschaften usw. 36  Vom Gesichtpunkt der Publikationskriterien her siehe dazu das Heft XI, 1, 2005 von „Soziale Systeme“.

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und Grenzen der Interdisziplinarität erkennen, dann sollte man zwischen Disziplinen, die einen genauen Bezug zu einem Teilsystem (wie Recht, Politik, Erziehung, Theologie, usw.) oder zumindest eine nur akademische Existenz haben (wie Philosophie, Geschichtsschreibung, usw.) und Disziplinen, die zur Wissenschaft in strengerem Sinn gehören, unterscheiden. Man hat dann zwei Möglichkeiten: Interdisziplinarität als Kopplung zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und als Kopplung zwischen Disziplinen, die zu unterschiedlichen Teilsystemen gehören. Was den ersten Fall, die Kopplung von wissenschaftlichen Disziplinen, angeht, wird die Interdisziplinarität gewissermaßen dadurch erleichtert, dass Arbeitsmethoden und theoretische Gliederung der Begriffe manchmal gemeinsam sind37 – man denke auch nur an die Idee der Experimentierung und des nur hypothetischen Charakters des Wissens. Eine wichtige Rolle wird auch von Sondersprachen gespielt, die die Kommunikation universal kodifizieren, wie Mathematik und Logik – diese sind so wichtig, dass sie selbst akademische Disziplinen sind.38 Das verhindert natürlich nicht, dass Tendenzen zur Isolierung und ein gewisser „Konservatismus“ der verschiedenen Paradigmen sich profilieren bzw. durchsetzen. Man denke nur daran, wie schwierig es ist, psychologische und soziologische Analysen getrennt zu halten und die vielen wechselseitigen Missverständnisse zwischen den beiden Disziplinen.39 Im anderen Fall, der hier besonders interessiert, stößt Interdisziplinarität auf weitere, tiefere und radikalere Probleme, die wir schon hervorgehoben haben.40 Was unser Thema angeht: Die Soziologie – wie alle wissenschaftlichen Disziplinen – löst auf und rekombiniert ihre Begriffe und Methoden sehr ungezwungen auf eine Art und Weise, die für das Recht nicht vorschlagbar ist. Die Systemtheorie ist z.Zt. der auffälligste Fall und es gibt zahlreiche Publikationen zu Themen wie autopoietisches Recht, Codierung des Rechts, usw.41 Aber die Kopplung ist nur dank der Abstraktion möglich, und nicht dank der Begriffsvernetzungen oder der Morphologie der Theorie. Es kann dann passieren, dass der Bezugsautor zugleich pro und contra bezüglich derselben Argumente im selben Aufsatz zitiert wird – das ist bei Luhmann an mehreren Stellen der Fall. Für den Soziologen ist das ver37  Dies dank des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums der Wahrheit – das aber nur hier, innerhalb der Wissenschaft, normal und relativ ungestört die Kommunikation codieren kann. 38  Zur Zentralität von Zahlen und deren Kombinationskriterien siehe Cevolini. 39  Ganz zu schweigen von dem Gewicht, das sie anderswo haben, z. B. in der Wirtschaft, wo zum Kalkül der Risikobereitschaft bei Geldinvestitionen sich fast nur auf die Psychologie und auf die Mathematik verlassen wird, ohne auch nur minimal die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es darauf ankommt, wie die Zeit in der modernen Gesellschaft konstruiert wird (siehe dazu Esposito 2009). Oder in der Organisationstheorie, wo sogar die Ausbildung einiger der größeren Namen des Faches psychologisch ist. Alles in allem muss man doch sagen: selber Schuld! 40  Vor allem den unterschiedlichen Funktionsbezug. 41  Unter den ersten siehe Teubner 1987.

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mutlich ein Zeichen von Erfolg und eine Bestätigung der Neutralität der Theorie. Für den Juristen ist es schwieriger: vielleicht nur ein Zeichen eines verständlichen Missverständnisses.42 Das Problem ist dann: Was kann im Recht danach passieren, natürlich aufgrund von ausschließlich rechtlichen Relevanzen. Geht man von diesen Annahmen aus, bezeichnet Interdisziplinarität etwas Unmögliches, d. h. radikal divergente Beobachtungsperspektiven zu harmonisieren und zu koordinieren.43 Diese wechselseitige Unerreichbarkeit oder Unzugänglichkeit schließt jede Möglichkeit einer direkten Übersetzung von Theorien oder Begriffen von einer Disziplin in die andere aus. Man kann nur mit dem rechnen, was mit dem schon erwähnten Begriff der Irritation gemeint ist, d. h. mit der Möglichkeit, dass ein Unterschied auf der einen Seite Reaktionen auf der anderen auslöst. Das hat wieder mit dem Differenzierungsbegriff zu tun: Dieser Begriff setzt immer Geschlossenheit voraus, auch auf der strukturellen Ebene. Mit anderen Worten: Das Recht kann natürlich die gesellschaftliche Realität beobachten und auch sehen, was anderswo passiert, z. B. in der soziologischen Forschung – aber Folgen und Wirkungen hängen nur von seinen Strukturen ab und nicht etwa von der Komplexität der Theorie oder von den Absichten der Soziologen. Das Irritationspotential korreliert natürlich mit der Komplexität der gegebenen Strukturen und mit der Art der Provokation, die andere Beobachter anbieten können.44 Und das bildet die Voraussetzung für jede Art von Interdisziplinarität.45

V.  Inkongruenz als Voraussetzung von Interdisziplinarität Es kann sein, dass gerade dank dieser Divergenzen, die sich multiplizieren, die Anforderungen an Kollaboration und Zusammenarbeit von Soziologen und Juristen und das wechselseitige Interesse zunehmen. Dies wird umso verständlicher, wenn man an das Änderungstempo sozialer Verhältnisse denkt: Es wird z. B. bestimmt nicht so einfach sein, Kriterien der Generalisierung von Einzelfällen zu Luhmann 1990a, S. 457. Auf einem empirischen Niveau genügt es, sich die Probleme anzusehen, die entstehen, wenn man auf diese Weise arbeitet, z. B. eben in den Beziehungen zwischen Soziologie und Recht: Es geht meistens um wechselseitige Verständnisschwierigkeiten, um eine verschiedene Empfindlichkeit für Relevanzen und auf einer konkreteren Ebene um unterschiedliche Konstruktionsmodalitäten von Kausalbeziehungen. Siehe Luhmann 1993, vor allem S. 540 ff. und den dort zitierten Aufsatz von Donald Black. Was für einen Soziologen als normal erscheint, kann für einen Juristen unakzeptabel sein, wie z. B. die Tatsache, dass soziale Unterschiede diskriminierend wirken oder zu ungleichen Rechtsanwendungen führen können. Oder, dass in vielen Ländern oder Territorien das Recht anders aufgebaut und praktiziert wird, als die Rechtsordnungen vorsehen und vorschreiben – und vor allem: dass Kontroversen außerhalb der Gerichte entschieden werden können. 44  Nur: Man kann von außen nicht das bestimmen, was innerhalb des Systems passiert. 45  Und von eventuellen strukturellen Kopplungen. Luhmann 1993 sieht gerade in der Theorieentwicklung eine Möglichkeit, „Theorie selbst als Form struktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionsysteme einzusetzen“ (S. 543). 42 So 43 

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finden oder mit der Instabilität der Rechtsordnungen zurechtzukommen, ohne den Eindruck wachsender Ungerechtigkeit zu erwecken. Die Soziologie findet andererseits die Art und Weise sehr interessant, wie das Recht neue und unvorhergesehene Situationen verarbeitet. Man denke z. B. an die Verhältnisse zur Wirtschaft oder an nicht unbedingt neue, jedenfalls heute bedrohliche Sanktionsmöglichkeiten von legalem Verhalten, wie es bei der Gefährdungshaftung der Fall ist. Für Juristen fast eine Häresie? Wechselseitige Interessen und strukturbedingte Verständnissperren können kombiniert und verdichtet werden auch auf einer anderen Ebene als der theoretischen, und zwar durch organisatorische Mittel. Am besten kann man heute mit „Forschungsprojekten“ arbeiten, die u.a. institutionell gefördert werden und relativ leicht zu organisieren sind. Der Vorteil von Projekten liegt darin, dass sie nur durch formal organisierte Strukturen durchgeführt werden können, d. h. nur durch Entscheidungskonzentrate kleinen Formats, die in Bezug auf einflussreiche Faktoren extrem selektiv sind. Man weiß genau, wann sie anfangen und wann sie zum Ende kommen und das erlaubt, einen Bericht zu schreiben; sie erklären explizit, wer teilnehmen kann und wer nicht und das erlaubt, die unterdisziplinären Interferenzen zwischen den Kollegen oder den verschiedenen „Schulen“ zu limitieren – den Gegnern bleibt dann die Möglichkeit, die veröffentlichten Forschungsberichte zu rezensieren; die Problembezüge sind thematisch sehr begrenzt, sodass die unausweichlichen, der allgemeinen Ansätze typischen Interdependenzen vermieden werden. Organisationen sind u.a. praktisch der einzige Systemtyp, der so unterschiedliche Perspektiven, wie die von Recht und Wissenschaft oder anderen Disziplinen, in Verbindung setzen kann und zwar so, dass die Kopplung zwischen den Disziplinen kurz dauert und dann jede die Ergebnisse aus der eigenen Sicht ruhig verarbeiten kann.46 Ich weiß nicht, ob Forschungen über die Folgen solcher Projekte für das Recht vorliegen. Es wäre jedenfalls interessant zu sehen, ob die lokalen Rechtsordnungen die Ergebnisse irgendwie auch dann ausnutzen, wenn die Soziologen empfehlen, nicht allzu pedantisch mit Legalität oder Rechtskonformität zu sein. In den meisten Fällen, z. B. in den Programmen der EU, werden interdisziplinäre Projekte mit Juristen und Soziologen den sozialen Emergenzen bzw. Problemen gewidmet. Man könnte aber auch an andere gemeinsame Themen denken, wie z. B. die Verfassung: Soziologisch gesehen handelt es sich um ein Instrument, das das Recht kontingent und zukunftsoffen hält und in diesem Sinn um einen Freiheitsfaktor und nicht einfach um eine Selbstbindung des Rechtssystems.47 Anders sollen die euro46  Mir scheint, dass auch Werner Gephart in seinem Beitrag (und auch mündlich während der Tagung) etwas Ähnliches gemeint hat. Er spricht z. B. von institutionellen Orten, wo die Perspektiven wechselseitig übernommen werden können. 47  Und eben deshalb sollen die Grundwerte unbestimmt bleiben und semantisch leer. Siehe dazu Podlech. Aber in einer Diskussion mit Kollegen aus Brasilien wurde gegen meine Ansicht eingewendet (in Bezug auf einen Aufsatz: Corsi 2002), dass die verfassungsrechtlichen Werte ohnehin sehr konkret und in diesem Sinne effektiv sind, weil die

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päischen Konstituenten gedacht haben, mit nicht so guten Folgen. Ich weiß nicht, ob gut informierte und schlauere Soziologen und Juristen die bekannte Sackgasse hätten vermeiden können. Es wäre ja ein interessanter Fall von gezielter Interdisziplinarität gewesen, zugleich sehr pointiert und offen für sehr abstrakte Beiträge. Ein weiterer, extrem heißer Bereich betrifft den Themenkomplex Risiko. Das Recht hat schon mehrere Gelegenheiten gehabt, die Komplexität gewisser sozialer Verhältnisse zu testen, die Risiken nicht nur nicht vermeiden können, sondern herstellen und eingehen müssen, und das nicht nur in der Wirtschaft – man denke nur an die Politik oder an die Medizin.48 Dass die Betroffenen geschützt werden sollen, bleibt natürlich klar, aber man hat den Eindruck – zumindest in Italien – dass auch diejenigen, die Risiken eingehen wollen und müssen und damit andere gefährden, Rechtsinstitute bräuchten, die im Moment noch nicht existieren.49 Auch hier könnte die Soziologie Argumente beibringen, die über die Transparenz- oder Informationspflichten in den Entscheidungsprozessen hinausgehen. Andere Möglichkeiten ergeben sich aus Verbindungen zwischen Recht und Soziologie, die nichts mit Projekten oder mit genauen Zielsetzungen zu tun haben. Z. B. die Ausbildung von Juristen. In den italienischen Fakultäten wird das Recht in ziemlich rigiden Formen gelehrt und es wird wohl nicht nur auf Fachkompetenzen bestanden, sondern auch auf Einstellungen, Haltungen, Formulierungen usw., die oft etwas démodé aussehen. Ähnlich wie in anderen Bereichen, vor allem in der Mathematik, könnte man an so etwas wie „Probleme der Didaktik in den Jurafakultäten“ denken. Gewisse Disziplinen wie Sozialpsychologie oder eben Soziologie könnten sehr nützlich sein. Man kann sich eine Art von Sozialisation zur Selbstentfremdung vorstellen, also eine Art Fähigkeit, sich selbst kognitiv zu beobachten, sodass das Wissen sozusagen flüssiger wird. Auch andere Bereiche, wie etwa die historisch-vergleichende Forschung, würden davon profitieren. Ein italienischer Jurist, Aldo Schiavone, hat bemerkt, dass das römische Recht als Fach nur in den Jurafakultäten gelehrt wird und nicht auch in den Literaturwissenschaften oder bei den Historikern. Er hat geschrieben: Eine ungläubig faszinierende Welt, die nur in einem Fach verkapselt bleibt.50 Die Geschichtsund Sozialwissenschaften könnten vielleicht dabei helfen, dies aufzubrechen. Das sind nur Beispiele. Was man sich nicht erwarten kann, ist so etwas wie eine Metatheorie, wenn man damit eine den beiden Disziplinen gemeinsame Theorie Verfassungsgerichte auf ihrer Basis zu Entscheidungen kommen. Das will man natürlich nicht bestreiten, aber z. B. der Gleichheitssatz funktioniert nur, wenn er darauf verzichtet zu behaupten, wer, wann und wie wem gleich ist. 48  Für das schwierige Verhältnis von Medizin und Recht siehe Corsi 2015, S. 30 ff., 137 ff. 49  Das hat auch mit einem weiteren Thema zu tun, das aufgekommen ist: der Folgenorientierung. Ob eine solche Orientierung in einem System, wie dem des Rechts, möglich ist, wo die Entscheidungskriterien normativer Art sind, bleibt eine schwer positiv zu beantwortende Frage. Siehe den Beitrag von Klaus Mathis in diesem Band. 50 So Schiavone, S. 20: „dov’è insegnato, il diritto romano è presente nelle facoltà giuridiche, ma non è mai riuscito a penetrare in quelle di lettere classiche“.

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meint. Man wüsste nicht einmal, wie sie gegliedert werden sollte, ganz zu schweigen davon, wie sie wirksam gemacht werden könnte. Manchmal sucht man einen Treffpunkt von bestimmten Werten wie Gerechtigkeit, Justiz, Billigkeit, Freiheit oder sogar sozialer Ordnung. Aber die Unterschiede tauchen sofort wieder auf, wenn man versucht zu verstehen, wie diese Werte in Entscheidungsprogramme übersetzt werden könnten. Und nicht zufällig wird das sofort zur Sache der Politik – ein Fremdkörper für beide, Recht und Soziologie. Vielleicht sollte man die Gegenrichtung einschlagen und die Inkongruenz der Perspektiven pflegen und dann sehen, was auf der einen und der anderen Seite passiert, wenn man mit einem gemeinsamen Thema startet. Das hieße, mit einem Irritationspotential zu arbeiten, das vielleicht eine gewisse Lernfähigkeit mitimpliziert – obwohl sich keine Chance anbietet, die Argumente von einer Seite auf die andere unmittelbar zu exportieren. Mit den Worten der Veranstalter der Tagung im ZiF: Man sollte beide Wege zugleich begehen, bottom-up und top-down und versuchen zu verstehen, was der andere sieht, wenn er dasselbe beobachtet – vor allem: wenn der andere sich selbst beobachtet. Man würde sich zumindest dazu gezwungen sehen, die eigenen Entscheidungen der Möglichkeit anderer Optionen auszusetzen und damit an Selektivität zu gewinnen. Mit all dem werden die Differenzen nicht beseitigt – und das soll nicht als Problem angesehen werden. Die Innen- und Außenperspektive bleibt getrennt und im Grunde inkompatibel. Aber vielleicht ist es gerade diese Inkongruenz, die auf beiden Seiten dazu bewegen kann, Lernfähigkeit zu entwickeln, d. h. die Fähigkeit, Erfahrungen in Strukturen umzuwandeln.

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„Inkongruente Perspektiven“ 

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– Relazione vs sistema: un commento alla lecture di Pierpaolo Donati, Sociologia e politiche sociali, XIV, 2, 2011c, S. 179 – 184. Thornhill, Chris: Towards a historical sociology of constitutional Legitimacy, Theory and Society, XXXVII, 2, 2008, S. 161 – 197. – Niklas Luhmann and the sociology of the constitution, Journal of Classical Sociology, 10, 2010, S. 315 – 337. – A Sociology of Constitutions: Constitutions and State Legitimacy in Historical-sociological Perspective. Cambridge, 2011. Tushnet, Mark: Constitution-Making: An Introduction, Texas Law Review, 91, 2013, S.  1983 – 2013. Weick, Karl E.: Educational Organizations as Loosely Coupled Systems, Administrative Science Quarterly, 21, 1976, S. 1 – 19.

III.  Interdisziplinäre Felder I: Entscheidungen im Recht

Towards a Psychological Concept of Law Anne van Aaken

I. Introduction The problem of the concept of law is a question that ideally precedes all other questions of law because many legal problems have their root precisely in the nature of law - legal theories about the concept of law have a long tradition. “What is law”1 and what distinguishes law from other social practices?2 What are its necessary conditions and the role of morality? In legal theory, the debate on the concept of law has focused on the interrelation that holds among three elements to one another: authoritativeness, social efficacy, and material correctness. Different theories use those elements to varying degrees: whereas radical natural law theories discard the social efficacy criterion and authoritativeness, (pure) legal positivism discards material correctness or morality as a necessary element of law. Most contemporary theories are situated between those extremes. Theories about the concept of law also often contain implicit assumptions about how people behave and why. With the exception of natural law theories which are not as concerned with empirics, public morality and social efficacy are also empirical notions relevant to a concept of law. In spite of this, empirics of human behavior and their perception of morality and justice, traditionally being a domain of i.a. psychology,3 are not taken into account. The disconnect between “positive and normative legal theory (and for that matter, political and moral theory,” has often been deplored and attributed to two recurring conceptual problems: firstly, the gap between fact and value and secondly the gap between internal and external perspectives on law.4 This paper is not about the substance of the law as such, but focuses solely on the legal theory, thus it takes an external perspective on the law. It takes facts to inform normative theories about the law. Hart, p. 1 deems this the most persistent question of legal theory. Austin, p. 3 et seqq, p. 5 with a graph distinguishing “law” from analogous forms. International Law in his view is nothing but positive morality (p. 4). 3  Indeed, the understanding of human behavior is – next to psychology – a common undertaking of neuroscience (see Glimcher/Camerer/Fehr/Poldrack), anthropology (Henrich/Boyd/Bowles/Camerer/Fehr/Gintis), behavioral economics (Gintis/Bowles/Boyd/Fehr), evolutionary theory (Bowles/Gintis) and last but not least social psychology (Van Lange/ Balliet/Parks/Van Vugt). 4  Vermeule, p. 387. 1 

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The paper is an attempt to use contemporary psychological insights and explore their matching potential within legal theories. H.L.A. Hart deemed his concept of law “an essay in descriptive sociology”, meant to further the understanding of law, coercion, and morality as different but related social phenomena.5 To the best of my knowledge, hitherto, an essay in descriptive psychology in order to understand law, coercion and morality is missing: this is a first attempt to explore of a psychological concept of law. How are the insights of psychology and behavioral economics mirrored in legal theory? Which of the main legal theories take up (implicitly) insights also being found in psychology? The article does not attempt to elaborate an own concept of law but is a matching exercise which may generate insights into the empirical validity of legal theories and inform about the distinctiveness of law (as opposed to other social practices). Surely, behavioral economics cannot answer intricate and complex questions of differences in legal rules, but nevertheless I deem it useful to explore how psychology may back up legal theories (or not) and in what respect. Arguments around the concept of law can serve as an essential starting point for trying to reinterpret legal theory and the field of law in psychological terms.6 Having a realistic picture about human behavior should also be the basis for any legal theory. This article is just a starting point, outlining along which lines of reasoning this could go and it is oversimplifying and selective due to space restrictions at several instances. I hope nevertheless to illuminate central questions in legal theory. First, I will describe psychological foundations used – implicitly – in the analysis and theories of law (II.). Second, I will explore the behavioral assumptions underlying imperative theory, modern variants of legal positivism contrasting them with natural law theories (III.). The last part concludes (IV.).

II.  Behavioral Foundations Theories and assumptions about human behavior abound. It is impossible to deal with all of them. I would like to concentrate on rational choice theory and on psychology, mainly experimental psychology as it is also used in behavioral economics.7 Whereas rational choice theory is an assumption of how people behave8 and normative decision theory tells them how they should behave, psychology or behavioral economics analyzes how people really behave. Many of those assumptions, especially the rational choice assumption also underlie the law de lege lata Hart, preface, p. vi. For a similar attempt from a sociological perspective, see Cotterrell, p. 23 et seqq. 7  I use psychology and behavioral economics interchangeably. The experiments conducted since about 30 years have been undertaken by psychologists as well as economists; both seek to understand the deviation from the rational choice assumptions. The experimental methodology allows us to observe people’s social preferences and cognition under controlled circumstances. 8  Seminal on the role of assumptions in economics M. Friedman. 5 

6 

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– be it constitutional law, contract law (the reasonable man) or white collar criminal law – although consumer law tends to take into account behavioural economics.9 1. Rational Choice Model Past attempts to explain social order in economics and political science, including international relations, typically relied on the assumption of selfish and rational agents.10 Many economists use more complex models of rationality that include assumptions about the substance of preferences (thick rationality).11 A classical definition of rationality as used by economists is given by Gary Becker: “[A]ll human behavior can be viewed as involving participants who [1] maximize their utility [2] from a stable set of preferences and [3] accumulate an optimal amount of information and other inputs in a variety of markets.”12 The central tenets are utility maximization, stable preferences, rational expectations, and optimal processing of information. The economic analysis of law assumes that people react to laws or judicial decisions (“law in action”) as homines oeconomici, that is, rationally and utility maximizing. Sanctions13 and other legal norms operate as prices which increase or reduce prices of certain alternatives of action in comparison with others (relative price effects): law is a “gigantic price machine”.14 The expected reactions of adaptation are not deduced on the basis of real behavior but are based on the assumption of the REMM hypothesis.15 The analysis is incentive based and assumes extrinsic motivations for action. Preferences are assumed to be self-regarding: homo oeconomicus is neutral to other people, that is, he is neither envious or malicious nor altruistic. The phenomenon of social cooperation of which law is one manifestation, has long been modelled game theoretically by social scientists, mostly assuming rational agents.16 Having a legal order is itself an example of successful social cooperation.17 There is one main distinction drawn: coordination games and cooperation games. Law also has important coordinating functions which makes obeying the law also in people’s self-interest, e.g. traffic laws for driving right or left or an air Aaken 2014b and Aaken 2003. Kant, pp. 217 – 227 (Zum ewigen Frieden), p. 222 et seq.: “Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar”. 11  Thin rationality, in contrast, requires only the minimal conditions of completeness, reflexivity and transitivity. 12  Becker, p. 14. 13  E.g. liability for a certain behavior (negative sanctions; price increase) or subsidies (positive sanctions or price reduction). Law also opens possibilities for actions. 14 L. Friedman. 15  Resourceful, Evaluating, Maximizing Man. 16 Game theory models strategic interaction between actors. See for an introduction Baird/Gertner/Picker. 17  Gächter, p. 2. 9 See

10 Similarly

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traffic control language. Law can create a focal point. Once the standard is set, no further problems of compliance are to be expected; the law is self-enforcing. This is different with cooperation games: social order is of collective interest but individuals have an incentive to disregard the law if this promises to be more advantageous than abiding by the law. In this chapter, however, I will not discuss coordination problems, but focus on cooperation: they pose the real problems. Social order can be conceptualized as a public good game. Public goods are non-rivalrous and non-excludable. They are usually modelled as a prisoners’ dilemma game where (in a one shot game), the Nash Equilibrium is non-cooperation. It is individually rational not to cooperate although the group would be better off if all cooperated (i.a. the free-riding behavior is attributed to that social dilemma). In bilateral relationships, credible commitments (e.g. an enforceable contract) and the shadow of the future (in repeated games), may sustain cooperation. This is much harder in larger groups – social scientists are much more pessimistic about the cooperative outcome:18 “stable cooperation is possible in the two-person prisoner’s dilemma but is hard to achieve in large groups because no effective punishment targeted at non-compliant group members exists.”19 One important insight of many experiments using the public goods game is that cooperation is inherently unstable and tends to unravel to the worst outcome, predicted by self-interest. Does this mean that legal theories assuming only self-interested motivation and change of behavior only through external sanctioning, like Austin’s imperative theory, are correct? 2.  Behavioral Psychology The last twenty years of research in behavioral and experimental economics have challenged the view described above. Plenty of experimental research has shown that individuals are also motivated by other-regarding/altruistic and social preferences:20 “the principle of rationality, unless accompanied by extensive empirical research to identify the correct auxiliary assumptions, has little power to make valid predictions about political phenomena”21 – or for that matter – the phenomenon of 18  For details, see Cornes/Sandler and for global public goods, see Barrett. For Behavioral Game Theory, see Camerer. 19  Gächter, p. 3. 20  This started with the so-called Ultimatum Game. See Güth/Schmittberger/Schwarze, for a meta-analysis, see Engel 2011a. Other games include: the Dictator Game, the Power to Take Game, the Third Party Punishment Game, the Gift Exchange Game and the Trust Game. For details on the experiments, see Fehr/Schmidt. 21  Simon, p. 293, comparing in that paper two theories of human rationality that have found application in political science: procedural, bounded rationality from contemporary cognitive psychology, and global, substantive rationality from economics. The word “satisficing” is a conjunction of the words satisfy and suffice and means a strategy or cognitive heuristics that entails searching through the available alternatives until an acceptability threshold is met (instead of using the best available alternative by optimizing). See also Simon.

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law. Psychologists (and economists) have taken up Simon’s criticism, most prominently among them Kahneman, Tversky22 and Gigerenzer,23 exploring systematic heuristics and biases running counter to the rationality assumption, searching for a more realistic model of human behavior. Some of the so-called cognitive heuristics and biases analyzed in psychology are relevant to substantive law. This legal policy or regulatory viewpoint has been taken up by many scholars,24 but surprisingly an exploration of whether those insights inform jurisprudence is neglected. Since I am interested here in the law as a means of constructing social order, I will concentrate on those experiments which have been conducted on the role of reciprocity, sanctions, fairness and morality, neglecting other heuristics and biases. Experimental economists make a distinction (just as legal theorists) between the motivation (the reasons for action) and the behavior itself. Whereas some people indeed follow the assumption of rational-choice of maximizing their own, self-regarding behavior, others will behave selfishly under some conditions, but are not motivated by selfishness: “People can be non-selfishly motivated and end up behaving selfishly, but the converse also exists: selfish people behaving pro-socially.”25 Punishment (i.e. sanctioning) plays an important role in this but need not in all circumstances: social order can be sustained, to some extent, by internalized norms of proper conduct even in the absence of any formal enforcement (internal reasons for action). Here, morality can play an important role as well. Gächter discusses three pillars of social cooperation 26 which neatly match with arguments in different legal theories. The first pillar is internalized norms of cooperation, sustained by emotions such as guilt and shame; moral norms may be underlying those. The second pillar is the behavior of other people. Most people are “conditional cooperators” willing to cooperate if others do so as well. This motivation can sustain cooperation if enough people cooperate but can jeopardize social order if too many others follow selfish inclinations – it hints at reciprocity as a strong driver of behavior. The third pillar are sanctions meted out to anyone who does not cooperate; ideally punishment can work as a mere threat without being executed much; this punishment can be peer-punishment (as in primitive legal orders27 or parts of international law) or third-party punishment as in Western legal orders. The experiments are more informative on primary rules then on secondary rules, since they rather simulate “primitive” legal orders. 22  Starting with prospect theory and further extending in many other “biases”. See Kahneman/Tversky; Tversky/Kahneman 1981; Tversky/Kahneman 1974. 23  Gigerenzer/Selten; Gigerenzer/Goldstein; Gigerenzer/Todd. 24 Seminal Jolls/Sunstein/Thaler, p. 1476; for an overview see Jolls/Sunstein and Thaler/ Sunstein; for European Regulation, see Alemanno/Sibony and Engel/Englerth/Lüdemann/ Spiecker gen. Döhmann, both latter books include articles of mine on substantive law questions. For international law, see Aaken 2014a. 25  Gächter, p. 4. 26  For an extensive discussion of those pillars, simultaneously giving an overview on the experiments so far conducted, see Gächter. 27 As Hart, p. 91 et seq. calls them.

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a)  Moral Judgments Let’s turn to the role of moral judgments. One important determinant of people’s pro-social behavior is most likely internalized norms of what people consider the morally right thing to do. “[T]he real question is no longer whether many people have other-regarding preferences, but under which conditions these preferences have important economic and social effects.”28 For example, people donate anony­ mously to charities, they vote for reasons of civic duty although their vote is unlikely to be decisive, in most countries people pay their taxes despite low detection probabilities for evasion, and people also care for the environment out of moral convictions.29 Those preferences are especially important for explaining collective action central to law.30 Also anger and guilt are prototypical morally-linked emotions and are expected to be especially relevant in a context of social coope­ ration.31 Gächter reports on a study using techniques from moral psychology that elicited people’s moral judgments of free riding on a public good to understand to what extent free riding is perceived to be a moral problem. They found that people think that it is morally blameworthy and more so the more others contributed;32 it triggers anger by the cooperating individual. At the same time, free riding trigger feelings of guilt by the free rider – a feeling most people do not like, so calledguilt aversion.33 Those emotions are interesting for legal theory, since they trigger two different potential enforcement mechanisms of norms – external and internal punishment. Potential free riders might expect punishment from the angry coope­ rative members and thus act cooperatively on the basis of an extrinsic self-regarding incentive to avoid punishment by contributing. Guilt, in contrast, is a negative emotion that can serve as “internal punishment” and therefore provide an intrinsic reason for action.34 Cooperation can thus be supported to the extent that people think cooperating is the morally right thing to do and feel guilty if breaking the social contract. Traditional game theory does neither capture moral sentiments nor the relevance of beliefs about intentions of others, since it assumes that outcomes (and not beliefs) determine payoffs, but ever more experiments show how important the perceived (good) intentions of other actors are for interaction.35 Here, trust (or reputation) about the intention can play a role.36

Fehr/Schmidt at 617. With further references, see Gächter, p. 13. 30  For an application in human rights law, see Gintis 2012. 31  Gächter, p. 14. 32  Gächter, p. 14. 33  Haidt and Charness/Dufwenberg. 34 See Gächter, p. 14. 35  Falk/Fehr/Fischbacher 2008. 36 Furthermore, preferences may also depend on the type of opponent, so-called type-based reciprocity. Cf. Levine; Fehr/Schmidt. 28  29 

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Behavioral game theory attempts to capture those insights without giving up the strategic interaction basis.37 If actors are perceived as moral and legitimate, cooperation is fostered; if actors are deemed unfair, cooperation is undermined. This has been well-documented in experiments.38 b) Reciprocity Secondly, reciprocity has been recognized by social scientists39 as being one of the main basic principles that constitute societies. It can help explain the maintenance and development of social norms – and probably legal norms.40 In its most extensive definition, which is usually used in this literature, it consists of being favorable to others because others are favorable to you (it is thus rational-choice based). Behavioral economics takes a more differentiated look at the reciprocity principle. It identifies three possible rationales:41 (1) self-sustaining sequences of mutual favors which can be solely self-interested: “cooperative” or “retaliatory” behavior in repeated interactions is motivated by future benefits (explicable by rational choice, weak reciprocity); (2) balance (which assumes acts of comparison and matching), often related to equality and fairness concerns (strong reciprocity or reciprocity strictu sensu); (3) liking, because being favored induces liking which induces favoring (a sort of Facebook effect), or because liking can directly result from being liked. Reciprocal behavior in one-shot interactions is often called “strong reciprocity” (since rational choice theory would assume defection) in contrast to “weak reciprocity” that is motivated by long-term self-interest in repeated interactions.42 A reciprocal individual responds to actions he or she perceives to be kind in a kind manner, and to actions he or she perceives to be hostile in a hostile manner.43 Whereas an altruist is willing to sacrifice his or her own resources in order to improve the well-being of others, a spiteful or envious person is also willing to do this in order to punish others.44 Many people are strong negative reciprocators with punitive sentiments for wrongdoing.45 Most individuals are conditionally altruistic or spiteful: they are conditional cooperators. This has been well proven in the so-

37  It rather expands classical game theory by adding emotions, mistakes, limited foresight and leaning. Cf. Camerer, p. 3. 38  Falk/Fehr/Fischbacher 2008 (providing further references concerning the experiments). 39  Kolm, p. 371. 40  It has, e.g. as a main principle in international law, see Simma 1972; Simma 1970. From a legal theory perspective, see Boehme-Neßler. 41  Kolm. 42  See, e.g. Gintis 2000. 43  Falk/Fischbacher. 44  For a discussion of the motives to punish, see Falk/Fehr/Fischbacher 2005. 45  Surveyed in Gächter/Herrmann.

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called ultimate game,46 where it was shown that most people reject an offer; thus supporting the homo reciprocans prediction over the homo oeconomicus one.47 Those findings have been first studied in bilateral relationships but the same holds in multilateral or group environments. A large number of studies show that most people contribute to a public good in the beginning but contributions decrease over time in experiments that allow for repetition of the base game.48 In constellations where subjects make their contribution decisions simultaneously, i.e. they cannot respond to what they have observed others to do, they have to rely on the beliefs they hold about other group members‘ contributions and some experiments control for that.49 The results are consistent with strong positive reciprocity: on average, reported beliefs and own contributions are highly significantly positively correlated. Although this holds for the majority, some people contribute nothing despite the fact they believe others will contribute a lot.50 What are possible psychological mechanisms that produce strong negative and positive reciprocity? In the experiments, three important mechanisms were identified:51 first, a known conditional form of altruism is the so-called inequity aversion52 which describes a situation in which, in addition to the actor’s material self-interest, her utility increases if the allocation of material payoffs becomes more equitable. “Equitable” is of course an indeterminate notion and usually depends on the reference point; this is mostly the status quo. But it neatly connects to some notions of distributive justice. Other mechanisms are, secondly, social efficiency seeking (i.e. contributing to the public good) and thirdly, a desire to reward or punish intentions behind actions. In short, concerns for the well-being of others (for fairness and reciprocity) need to be taken into account if behavior in social interactions is to be understood.53 But can cooperation survive without sanctions? The sobering answer of many public good experiments repeatedly played around the world is that cooperation 46 

The proposer makes an offer of how to share a given amount (usually money) and the recipient can accept or reject the offer. In case of acceptance, the offered division is implemented; in case the recipient rejects, both get nothing. If the recipient is motivated solely by monetary payoffs, he or she will accept every offer. Therefore, the proposer will only offer the smallest money unit: this is expected by the homo oeconomicus hypothesis. 47 See Charness/Kuhn and overview of experiments supporting for strong positive reciprocity; the ultimatum game gives strong evidence about strong negative reciprocity. 48  Herrmann/Thöni/Gächter and Dufwenberg/Gächter/Hennig-Schmidt. In all subject pools people contribute substantial amounts initially but over time contributions dwindle to low levels almost everywhere. See for a rigorous analysis Fischbacher/Gächter and for a survey Chaudhuri. 49  Thus, some experiments ask the participants what they estimate the other group members will contribute (e.g., Dufwenberg/Gächter/Hennig-Schmidt. 50  Gächter, p. 10. 51  Gächter, p. 13 and Falk/Fehr/Fischbacher 2005. 52  Bolton/Ockenfels; Fehr/Schmidt; Charness/Rabin. 53  Fehr/Schmidt.

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almost invariably breaks down in repeated interactions. As Gächter holds: “Thus, the conclusion is inevitable and seems to vindicate Hobbes: in and of itself, that is, without external enforcement, social order is fragile and the time horizon as such is of no avail.”54 Cooperation is thus inherently fragile, and needs some support through other mechanisms to be sustainable.55 This is a strong hint at the necessity of sanctioning devices – such as law. c) Sanctions Sanctioning institutions are the “undisputed winner in a competition with a sanction-free institution”56 when institutions can be endogenously chosen. In experiments it could be shown that although people have an initial aversion against sanctioning, the entire population migrates successively to the sanctioning institution and strongly cooperates, whereas the sanction-free society becomes fully depopulated. Sanctioning institutions can thus be explained even from an evolutionary perspective.57 But not all sanctions are alike. If sanctions are perceived to reveal selfish or greedy intentions, they destroy altruistic cooperation almost completely, whereas sanctions perceived as fair leave altruism intact. Fair sanctions are especially those which sanction defectors in public-good games. In common pool resource (CPR) experiments58 it was also shown that the possibility to communicate and to sanction alleviates the inefficient excess appropriation of the resource (contrary to the prediction of rational choice theory). Whereas social norms are sanctioned in a decentralized way, law is commonly sanctioned by central institutions.59 Those have been mimicked in experiments. In Gächter, p.19. Gächter, p. 23. But see for crowding out effects also Balliet/Mulder/Van Lange. 56  Gürerk/Irlenbusch/Rockenbach. 57  Fehr/Fischbacher, p. 189: “The human capacity to establish and enforce social norms is perhaps the decisive reason for the uniqueness of human cooperation in the animal world. The evidence indicates that other animals largely lack the cognitive and emotional capacities that are necessary for social norms.” (footnotes omitted). Fehr/Gächter developed an experimental design to study punishment and cooperation in a sequence of ten one-shot (random group members – “Strangers”) and fixed group (“Partners”; same group members) public good game – settings that correspond to different real-life interactions. Strangers cooperate much less than Partners. Thus, in small groups and tribes “primitive legal orders” in the sense of HLA Hart might be sufficient to generate cooperation. But in large groups, such as nation-states, a sophisticated, credible legal system might be necessary in order to hold up cooperation. 58  For the classical rational choice prediction concerning CPR, see Selten. See also Falk/ Fehr/Fischbacher 2002 (finding that there is less appropriation in CPR and more contibution to public goods if the institutional set-up allows for (informal) sanctions and communication). For examples, see Ostrom. 59  This is different for international law in principle. 54  55 

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a third-party punishment game,60 the potential punisher is not an affected party, but an independent third party (this feature thus resembles law enforcement in reality). Since the third party is not affected by the decisions of the involved players, third-party punishment is a reflection of normative considerations. The results show that third parties are much more likely to punish a defector if the other player cooperated than if both defected; this reflects the findings above on moral judgments. Also centralized punishment by one group member only has been studied and found quite effective.61 The mere threat of punishment can be effective to uphold cooperation.62 This is also what would be expected by rational choice theory: for a norm being effective in guiding behavior, the expected sanction is decisive. This is also how law enforcement works in many instances. Thus, punishment can exert its power as a mere threat effect, yet the threat has to be there. If punishment is impossible, cooperation breaks down. Modern societies channel punitive sentiments into laws and a formal, institutionalized and centralized sanctioning system. d)  Norms Affecting Behavior Beyond Deterrence An old question in legal theory has been the distinction between social norms and law (both have sanctions). In addition to the direct deterrent effects of sanctions emphasized by the rational choice approach and imperative legal theories, legal scholars have suggested various indirect ways how lawmaking may affect behavior under the heading of “expressive law”.63 Does the “labelling” law bear upon its moral rightness, goodness, or legitimacy – and may this influence behavior?64 Law is then different from social norms because of their source – its legitimacy and what that signals. According to legal scholars, people may obey law because of norm-activation. However, the relevance of norm-mediated effects of lawmaking and/or adjudication (“expressive law adjudication”) has been contested.65 The disagreement among legal scholars is at least in part due to a lack of conclusive empirical evidence on whether and why a law backed by sanctions induces people to obey the law. 60  Fehr/Fischbacher. They deem social norms prior to legal norms (p. 185): “Cooperation in human societies is mainly based on social norms, including in modern societies, where a considerable amount of cooperation is due to the legal enforcement of rules. Legal enforcement mechanisms cannot function unless they are based on a broad consensus about the normative legitimacy of the rules – in other words, unless the rules are backed by social norms”. 61  O’Gorman/Henrich/Van Vugt. This experiment shows that allowing a single individual to punish increases cooperation to the same level as allowing each group member to punish and results in greater group profits. 62  Engel 2013. 63  McAdams 2000a; Cooter; McAdams 2000b; Sunstein; Anderson/Pildes. 64  Note that the assumed causal effect goes form labelling to behavior whereas in legal positivism the prerequisite element of law is social efficacy (i.e. the norm must influence behavior in order to be called law). Most probably is an interaction effect. 65  Adler.

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Tyran and Feld experimentally investigated the effects of no, mild and severe legal sanctions in the provision of public goods. They also compare exogenously imposed law and endogenously chosen law. If law is endogenously chosen, people vote in a referendum on whether or not to enact law. If law is exogenously imposed, it is enacted by the experimenter. The results show that severe sanctions almost perfectly deter free-riding – in accordance with the external incentive view. However, people also obey law backed by mild sanctions if it is accepted in a referendum, but not if it is exogenously imposed. Legal scholars may argue that a democratic source generates more legitimacy and this might well be so. But one may also argue that democratically generated laws are like mutual promises: Tyran and Feld show that voting in a referendum for mild law induces expectations of cooperation, and that people tend to obey the law if they expect many others to do so. Their explanation is that voting for mild law is interpreted as a signal for cooperation, and induces expectations of cooperation. These expectations, in turn, are shown to increase cooperation. As a consequence, subjects tend to obey the law if they expect most others to do so.66 The explanation they suggest thus has two elements: commitment and conditional cooperation. As mentioned above, the average person is a conditional cooperator who will make a positive initial contribution to the public good and then take the average contribution of the other group members as the new benchmark. Thus, a lot depends on the expectations of what others will do. Law can create exactly those expectations and prevent the breakdown of cooperation. If a norm is promulgated as law, especially in democracies, it signals legitimacy and a majority opinion – thereby also inducing fear of isolation.67 Law is more reliable than social norms in generating expectation since it is governed by authority. Engel and Kurschilgen argue two important empirical questions lie at the heart of the debate: “Do normative expectations have any autonomous effect on people’s behavior? If so, does this effect rest on the fact that the underlying norm is perceived to be law?”68 Engel investigates how participants react in the subsequent period to the experiences they have had in the previous period.69 If they had contributed less than the average and if they react by increasing their contributions, he argues that this can be interpreted as an adjustment to the perceived expectation of others to make a higher contribution. If many do not play by what this player believes to be the rule, she may react by herself ceasing to abide by it70 – or vice versa. There is thus a convergence of expectations. Legitimacy of the expectations is measured as perceived legitimacy by investigating how behavior develops if participants are given a chance to express disapproval through costly punishment, decentralized punishment being interpretTyran/Feld. phenomenon well established in social philosophy, see e.g. Noelle-Neumann; Scheufele. 68  Engel/Kurschilgen. 69  Engel 2011b. 70  Ibid, p. 776. 66 

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ed “as a (very embryonic) institutional intervention,”71 since the punisher sends a signal of her discontent with the behavior of another participant. Although there might be consequentialist as well as deontic reasons for punishment, if punishment in the last round is sensitive to the deviation from the contribution level in the penultimate round, then punishment demonstrates first, that punishment cannot be exclusively instrumental and second, that punishers regard negative deviations from the norm as unfair, leading to the conclusion that they interpret the contribution level as a normative expectation.72 Engel and Kurschilgen have conducted a more targeted experiment with two treatments. In the first treatment (“Norm”), participants elaborate normative expectations. In the second treatment (“Law”), expectations are embedded into a legal frame about the creation of customary law. Both treatments are shown to have a substantial positive effect on cooperation, but there is no significant difference between “Norm” and “Law.” This changes as soon as they make it possible for participants to sanction each other, at a cost. They conclude that in this case “the legal frame makes a crucial difference for cooperation as law and sanctions clearly seem to complement each other.”73 Those findings contradict rational choice approaches in so far as they rely on forces of “acculturation,”74 fairness components and expressive law. But still sanctioning seems to be a decisive element of law.

III.  Legal Theories and Their Implicit Behavioral Assumptions How can all those experiments inform the theoretical concept of law? As alluded to in the introduction, much of the discussions about the concept of law has centered around three issues: authoritativeness, social efficacy, and material correctness (or morality). The latter can be understood as social morality and is thus a question of empirics or it can be understood as a question of philosophy. The focus here will be only on the empirics – also trying to avoid the easily committed naturalistic fallacy.75 The above described findings are matched with theories of law, such as legal positivism and modern natural law theories. I will not develop a coherent concept of law here, but it is informative to look at legal theories through a psychological lens. How do these theories fare in the light of the psychological insights? A caveat is in order: the experiments are far from refined enough for the moment to discuss detailed intricacies of legal theory. Thus, the following thoughts are necessarily (too) blunt and speculative. Ibid, p. 777. Id. p. 778. 73  Engel/Kurschilgen, p. 2. 74  Goodman/Jinks. 75  All depends on the legal theory chosen. As Coleman, p. 147 explains: “The move from the prelegal to the legal is accomplished by the addition of secondary rules to the set of primary social rules of obligation: in particular, by the addition of a rule of recognition that solves the problem of uncertainty, that is, the epistemic problem of determining which norms are law”. 71 

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Let’s start with legal positivism, the dominant approach for a long time in developed legal systems. For the early positivists like Austin, positive law has three main features: it is a type of command, it is laid down by a political sovereign (“law set by political superiors to political inferiors”)76 and it has to be backed up by sanctions. This theory is easily compatible with a rational choice theory of external incentives. Austin, writing at the beginning of the 19th century, did not make a distinction between kinds of authority (authoritarian or democratic).77 He thus does not capture the difference shown in the experiments of laws externally imposed or laws democratically decided for the social effectiveness of the law: endogenously chosen law shows more social effectiveness than exogenous law. Nevertheless, as the experiments show – games without sanctions lead to a breakdown of social cooperation. Since then, the theory has become more refined. Being unable to do justice to its diversity,78 I concentrate on central tenets of legal positivism. Legal positivism has developed around a cluster of ideas, the most basic of which are the Social Fact Thesis, the Conventionality Thesis, and the Separability Thesis.79 The Social Fact Thesis (also known as the Pedigree Thesis) asserts that it is a necessary truth that legal validity is ultimately a function of certain kinds of social facts. The social fact thesis makes out the law to be a social artefact, on the reasoning that the law’s existence depends exclusively on social facts, such as the sovereign’s capacity to receive habitual obedience from the bulk of a given society, or the fact of officials’ accepting a certain kind of rules.80 This opens up the door to the psychological basis of acceptance of authority – something I have not been dealing with here but is worth exploring. But we can draw on expressive law theory. The Conventionality Thesis asserts that the criteria of legal validity are established by social convention among the officials of a given community; the rule of recognition. The existence of a convention, in turn, is made possible by a convergence of behavior and attitude. Hence, law is said to exist in a given society in that, within that society, behaviors and attitudes converge. The Conventionality Thesis (not only of officials, but of everybody) fits well with the psychological insights. Indeed, the convergence of expectations into a convention seems to even provoke the notion of law and justify punishment and sanctions: as normative expectations converge, they are backed up by non-instrumental sanctions. One may speculate that this holds not only for peer-punishment but also for the more sophisticated third-party punishment. Clearly, the experiments show that this can go both ways: behavior does indeed converge, but whether cooperation breaks down or not depends on sanctioning devices (central or not). So even if there are expectations ex ante of cooperation, also officials will adapt their behavior to the behavior of others Austin, p 3. Austin, p. 116 (Lecture VI, para 189). “Every positive law… is set by a monarch or a sovereign number, to a person or persons in a state of subjection to its author…“. 78  See e.g. Coleman. 79  Himma. 80  Coleman, p. 148: “… that the authority of law is a matter of its acceptance by officials”. 76 

77 

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in the next rounds. This is also what we see in different countries – cooperation may break down and lead to weak rule of law states. The Separability Thesis, foundation of positivism, asserts that law and morality are conceptually distinct, not necessarily factually distinct.81 This thesis grounds the positivist concept of law on only two defining elements – due enactment and social efficacy – so that any reference to moral correctness becomes a merely contingent possibility: what is law depends exclusively on what the authorities have enacted and on what is socially efficacious. In contrast, all forms of natural law theory subscribe to the Overlap Thesis,82 which is that there is a necessary relation between the concepts of law and morality. For substantive natural law theory, in every conceivable legal system, being a true principle of morality is a necessary condition of legality for at least some norms. According to this view, then, the concept of law cannot be fully articulated without some reference to moral notions. Finnis, e.g., is very detailed in what are natural law requirements – including very distinctive rights. What psychology finds is that many people are motivated by character virtues such as honesty and trustworthiness; they show an inequity aversion. Guilt and anger at those who do not adhere to moral norms (such as contributing to a public good) is a strong driver for behavior. This speaks for ingrained but rough notions of morality. Since also legal positivists would not deny that claim, they may nevertheless keep law and morality separate conceptually. But since law contradicting basic notions of morality and equality may see a decline in social efficacy unless backed up with strong sanctions, it may have to accept morality through the efficacy backdoor. To sum up: there is no law without sanctions or the threat of sanctions: cooperation breaks down without them. Conversely, once normative expectations converge, people resort to punishing those who do not contribute to the public good “law”. There are ingrained rough notions of morality and those may also induce punishment of those who do not adhere. Central third-party punishment, as we see it in developed systems of law, is more effective and it reflects moral or conventions of the third-party punisher (the officials in Hart’s words).

IV. Outlook Disputes about the correct theory of law will not go away. But the discussion can be informed about the insights we have from social science, biology, psychology about how people behave, when they cooperate and create social orders; law being one of the most important manifestations of social order. The experimental research is relatively young and mimics rather primitive and not developed legal orders. Furthermore, it is still too rough for many open questions in legal theory. The role of Coleman, p. 142. Finnis and for an overview Bix. As Bix holds: “The most important idea modern natural law theorists have brought to jurisprudence is that views of law that take into account law’s moral aspirations offer a better understanding of social institution”. 81 

82 

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norms, moral judgments and emotions such as guilt are the least well understood determinants of cooperation in social science. Conversely, reciprocity, although being such an important driver of behavior, has been neglected in theories of law, although it is deeply engrained in substantive law and can be considered as one element of justice. Furthermore, epistemologically, some questions of legal theory are just not answerable by social science. But some aspects of legal theory are grounded in social science insights and bridging those insights into legal theory seems a promising venture – where a lot is still to be done. This has been a first outline.

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Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext Bettina von Helversen

I. Einleitung Rechtliche Entscheidungen haben häufig weitreichende Konsequenzen. Täglich treffen Richter, Anwälte und Verteidiger Entscheidungen, die über das Leben von anderen Menschen bestimmen. Sie entscheiden, ob ein Angeklagter schuldig oder unschuldig ist, ob eine Berufung Chancen auf Erfolg hat oder, ob ein neues Gesetz der Verfassung entspricht. Dabei werden ihre Entscheidungen durch das Rechtssystem geleitet. Das deutsche Rechtssystem geht von einem Menschenbild aus, das den Menschen als „rationalen“ Entscheider, als einen Homo Oeconomicus sieht. Es wird angenommen, dass Menschen Entscheidungen treffen, indem sie alle relevanten Informationen suchen, diese Informationen unvoreingenommen gegeneinander abwägen und dann eine „optimale“ Entscheidung treffen, die alle Informationen berücksichtigt. Zum Beispiel gibt das Strafrecht zur Strafzumessung vor:1 1.  Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. 2.  Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wieder gut zu machen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. In den folgenden Paragraphen werden noch weitere Faktoren genannt, die die Strafzumessung beeinflussen (sollen). Dem Gesetz nach sollen Richter und Staatsanwälte also mehr als 10 Faktoren berücksichtigen und gegeneinander abwägen. Dabei wird implizit davon ausgegangen, dass die betroffenen Richter und Staatsanwälte diese Integration von komplexen Informationen leisten können, ja dass ein Abwägen und Integrieren aller Faktoren dem normalen Entscheidungsprozess entspricht. Es wird nicht berücksichtigt, in wie weit menschliche Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung diesen Annahmen entsprechen. Dabei ist 1 

Tröndle/Fischer, §46, 1 und 2.

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es durchaus fraglich, ob Menschen in der Lage sind, so viele Informationen für eine Entscheidung zu integrieren. Die Psychologische Forschung hat gezeigt, dass menschliche Entscheidungsfindung oft nicht dem Bild des Homo Oeconomicus entspricht. Im Gegenteil, Menschen verlassen sich häufig auf Heuristiken, wenn sie Entscheidungen treffen.2 Heuristiken sind einfache kognitive Entscheidungsregeln, die eine schnelle Entscheidungsfindung erlauben, indem sie einen Großteil der Informationen ignorieren. Ziel dieses Buchkapitels ist es, den Stand der psychologischen Forschung zur menschlichen Entscheidungsfindung darzustellen und zu diskutieren, welche Relevanz diese Befunde für die Rechtswissenschaft haben.

II.  Wie treffen Menschen Entscheidungen? Innerhalb des „rationalen“ Ansatzes des Homo Oeconomicus wird angenommen, dass menschliches Verhalten normativen Maßstäben, wie den Grundsätzen der Logik, der Wahrscheinlichkeitstheorie oder der Optimierung des persönlichen Nutzens, folgt. Dementsprechend wird angenommen, dass Menschen „rationale“ Entscheidungen treffen, d. h., dass sie entsprechend der normativen Vorgaben alle Informationen, die zur Verfügung stehen, berücksichtigen und dann „optimal“ zu einer Entscheidung integrieren. Zum Beispiel könnte ein optimales Vorgehen bei der Entscheidung über Schuld und Unschuld darin liegen, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, dass der oder die Angeklagte ein bestimmtes Verbrechen begangen hat. Dies wird erreicht, indem alle Fakten, die für und gegen die Täterschaft sprechen, entsprechend Bayes’ Theorem mit existierenden Vorannahmen über die Schuld integriert werden. Daraus ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, mit welcher der Angeklagte die Tat begangen hat. Die Aufgabe des Richters ist dann zu entscheiden, ob diese Wahrscheinlichkeit hoch genug ist um eine Verurteilung zu rechtfertigen. Die Annahme, dass menschliche Entscheidungen dieser Vorstellung von optimaler Entscheidungsfindung entsprechen, ist aus mehreren Gründen unrealistisch. Zum einen existiert häufig keine optimale Lösung, da das Entscheidungsproblem zu komplex oder das Entscheidungskriterium zu ungenau ist. Sogar in wohl-definierten Problemen wie Schach oder dem Travelling Salesman Problem stößt – ab einer gewissen Komplexität des Entscheidungsproblems – ein Optimierungsansatz an seine Grenzen: Eine optimale Lösung kann rein rechnerisch nicht mehr gefunden werden. Sie sind NP-complete.3 Das bedeutet, dass alle Lösungen, die für solche Probleme gefunden werden, immer nur Approximationen an eine optimale Lösung sind. Zum zweiten setzt ein Optimierungsansatz voraus, dass es ein klares und objektives Zielkriterium gibt, das maximiert werden soll. Die Entscheidungen, die Menschen treffen, sind häufig so komplex, dass es schwer fällt ein einzelnes Zielkriterium zu definieren, da die Ziele von der Interpretation und den Einstellungen der Entscheidungsparteien abhängen. Zum dritten setzt dieser Ansatz vor2 

3 

Gigerenzer/Todd/The ABC Research Group, S. 5; Tversky/Kahneman, S. 1124. Reddy, S. 15.

Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext

207

aus, dass Menschen über alle Information, die für die Aufgabe relevant sind, über den optimalen Algorithmus, mit dem die Informationen integriert werden können, und über die kognitiven und zeitlichen Ressourcen verfügen, die das Finden einer Lösung erfordert. Menschen verfügen aber nur in den seltensten Fällen über alle relevanten Informationen und haben im Allgemeinen weder die Zeit, noch die kognitive Kapazität, eine optimale Integration vorzunehmen.4 Simon argumentiert, dass menschliche Entscheidungsfindung nur verstanden werden kann, wenn man sowohl die Ziele des Entscheidungsträgers, als auch die Struktur des Entscheidungsproblems berücksichtigt. Wenn man eine bestimmte Entscheidungsumwelt betrachtet, ist es häufig für den Entscheidungsträger nicht notwendig, eine optimale Lösung zu finden, um seine Ziele zu verfolgen. In der richtigen Umwelt angewandt, können auch erstaunlich einfache Strategien eine ausreichend gute Lösung für ein Entscheidungsproblem finden. In diesem Sinne argumentieren Gerd Gigerenzer und Peter Todd, dass Menschen für unterschiedliche Typen von Entscheidungsproblemen einfache Strategien, sogenannte Heuristiken, entwickelt haben.5 Diese Heuristiken versuchen nicht eine optimale Entscheidung zu treffen, sondern ignorieren Informationen und erlauben so schnelle, konfliktarme Entscheidungen. Zu dem Grade, zu dem sie an die Struktur des Entscheidungsproblems angepasst sind, können diese Entscheidungen durchaus akkurat sein. Eine Vielzahl von psychologischen Forschungsprojekten belegt, dass Menschen häufig auf Heuristiken zurückgreifen, wenn sie Entscheidungen treffen.6 Ein Beispiel für so eine Entscheidungsregel ist die Rekognitionsheuristik.7 Die Rekognitionsheuristik nützt die Information, ob der Entscheidungsträger eine Person oder eine Sache wieder erkennt, um zu entscheiden, wie diese Person oder Sache auf einem unbekannten Kriterium abschneidet. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sollen entscheiden, welcher von zwei Tennisspielern mit größerer Wahrscheinlichkeit in Wimbledon gewinnen wird. Die Rekognitionsheuristik besagt, dass, wenn man von zwei Objekten eines wiedererkennt, aber das andere nicht, man sich für das wiedererkannte entscheidet. Wenn Sie nur einen der beiden Namen wiedererkennen, würden Sie als Nutzer der Rekognitionsheuristik also darauf setzten, dass dieser Tennisspieler gewinnen wird. Statt sich auf die Rekognitionsheuristik zu verlassen, könnten Sie auch alle Informationen, die Sie über die beiden Tennisspieler finden können, also z. B. wie viele Spiele sie in den letzten Jahren gewonnen haben, welchen Platz sie auf internationalen Rankings einnehmen, ob sie kürzlich eine Verletzungen hatten, etc. in die Entscheidung einbeziehen. Vielleicht würden Sie sogar ähnliche Entscheidungen treffen. Allerdings wäre dies viel aufwendiger und zeitraubender, als sich einfach auf Ihr Gedächtnis zu verlassen – und wie Scheibehenne und Bröder zeigen auch weniger effektiv: In ihrer Studie Simon, S. 129. Gigerenzer/Todd, S.  14 – 25. 6  Gigerenzer/Todd/The ABC Research Group, S.  50 – 52; Gigerenzer/Engel, S. 259, 407; Gilovich/Griffin/Kahneman, S.  3 – 4; Kahneman, S. 710; Todd/Gigerenzer, S. 168. 7  Goldstein/Gigerenzer. 4 

5 

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verglichen sie Vorhersagen von Experten, ATF Rankings und Rekognitionsraten als Prediktoren für Wimbledon. Sie konnten zeigen, dass die Rekognitionsheuristik zu besseren Entscheidungen führte als Strategien, die viele Informationen über die Spieler integrierten, und sogar Expertenrankings schlug.8 Warum kann die Rekognitionsheuristik so gut sein? Im Fall von Wimbledon nützt die Rekognitionsheuristik die Struktur der Umwelt aus. Die Korrelation zwischen Rekognition und der Wahrscheinlichkeit, in Wimbledon zu gewinnen, kommt nicht von ungefähr: Über gute Tennisspieler wird mehr in den Medien berichtet als über weniger gute und die Rekognitionsrate steigt, je häufiger ein Name in den Medien genannt wird. Dieses Beispiel zeigt aber auch, wann die Rekognitionsheuristik nicht zu guten Entscheidungen führt. Wenn es keinen Zusammenhang zwischen dem Kriterium und der Präsenz in den Medien gibt, dann ist auch die Rekognitionsheuristik ungeeignet, um in dieser Umwelt Entscheidungen zutreffen. Zum Beispiel ist für die Entscheidung, welche von zwei Krankheiten mehr Opfer pro Jahr fordert, die Rekognitionsheuristik häufig ein schlechter Prediktor.9 Aber Pachur und Kollegen zeigen auch, dass Menschen sensibel auf diese Umweltstruktur reagieren: Wenn Rekognition ein schlechter Prediktor war, ließen sich Menschen seltener von der Rekognitionsrate leiten, als wenn Rekognition ein guter Prediktor war. Allerdings kam dieser Verzicht auf die Rekognitionsheuristik zu einem Preis: Eine Entscheidung gegen die Rekognitionsheuristik war mit kognitivem Aufwand und einer höheren Reaktionszeit verbunden. Welche Strategien können Menschen verwenden, wenn die Rekognitionsheuristik keine guten Entscheidungen erlaubt oder nicht zwischen den Optionen differenziert? Gigerenzer und Selten schlagen vor, dass Menschen über eine ‚adaptive Werkzeugkiste‘ verfügen, aus der sie die passende Strategie für das jeweilige Entscheidungsproblem auswählen.10 Zum Beispiel könnten Sie sich stattdessen auf andere einfache Strategien wie take-the-best11 oder die Fluency Heuristik12 verlassen. Heuristiken wie die Rekognitionsheuristik oder take-the-best erlauben schnelle Entscheidungen, die kaum Informationen benötigen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Heuristiken zu suboptimalen Entscheidungen führen. Im Gegenteil, Heuristiken können zu genauso guten, wenn nicht besseren Entscheidungen als komplexere Modelle führen, wenn sie adaptiv, d. h. in der richtigen Umwelt, angewendet werden. Czerlinski und Kollegen zeigten in Simulationen, dass die takethe-best Heuristik über 20 verschiedene Umwelten hinweg mit einem Bruchteil an Informationen zu besseren Entscheidungen führte als eine multiple Regression, die alle Informationen berücksichtigt.13 Brighton und Gigerenzer zeigten, dass sich die take-the-best Heuristik in vielen Entscheidungsumwelten auch gegen state-ofScheibehenne/Bröder, S.  419 – 420. Pachur/Mata/Schooler, S.  904 – 907. 10  Gigerenzer/Selten. 11  Gigerenzer/Goldstein, S. 653. 12  Schooler/Hertwig, S.  612 – 614. 13  Czerlinski/Goldstein/Gigerenzer, S. 105. 8 

9 

Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext

209

the-art Algorithmen aus dem Bereich des Maschinenlernens durchsetzte.14 Wie ist es möglich, dass eine so einfache Strategie bessere Entscheidungen als hoch komplexe Algorithmen trifft? Die meisten unserer Entscheidungen sind komplex und werden unter Unsicherheit getroffen, d. h. die Informationen, die Menschen haben, können nicht perfekt vorhersagen, welche Entscheidung die richtige ist, sondern erlauben nur eine probabilistische Vorhersage. Eine gute Entscheidungsstrategie muss nicht nur in der Lage sein, im Nachhinein gute Entscheidungen zu treffen, d. h. wenn man weiß, welche Informationen zuverlässige Prediktoren waren, sondern sie muss vorhersagen können, welche Entscheidung man in Zukunft treffen sollte. Aber häufig ändern sich die Umstände, unter denen man Entscheidungen trifft, und Informationen, die gestern noch gute Prediktoren waren, können einen morgen in die Irre führen. Gerade unter diesen komplexen Umständen erlauben Heuristiken oft gute Entscheidungen, da sie zwar einfach, aber auch robuster sind. Während sich ein komplexeres Modell von weniger guten Informationen und kurzfristigen Schwankungen in der Informationsgüte beeinflussen lässt, ignorieren Heuristiken viele Informationen und sind so weniger fehleranfällig.15

III.  Heuristiken in rechtlichen Entscheidungen Da rechtliche Entscheidungen häufig sehr komplex sind, ein hohes Maß an Unsicherheit, aber nur wenig Zeit besteht, ist es mehr als wahrscheinlich, dass auch Richter und Staatsanwälte sich auf vereinfachende Strategien verlassen. Auch wenn Heuristiken insgesamt häufig zu guten Entscheidungen führen, können sie aber gerade im rechtlichen Bereich zu Abweichungen von den gesetzlich verordneten Entscheidungsprozessen führen. In diesem Sinne zeigen Dhami und Ayton, dass Laienrichter in England sich durch Heuristiken leiten ließen.16 Die Autoren untersuchten, wie Laienrichter Entscheidungen darüber, ob ein Angeklagter aus der Untersuchungshaft entlassen werden kann, trafen. Dem englischen Recht nach sollten Richter bei ihrer Entscheidung die Gefährdung der Allgemeinheit, die Folgen für den Angeklagten und die Folgen für die Gesellschaft gegeneinander abwägen. Dazu sollten sie Informationen über die soziale Einbindung und die Schwere und Art des Delikts verwenden, um die Fluchtgefahr und die Konsequenzen für den Angeklagten und die Gesellschaft abzumessen. Obwohl die Mehrheit der Laienrichter angab, all diese Informationen zu verwenden, zeigte eine Analyse von Dhami, dass diese Informationen nicht nötig waren, um die Entscheidungen der Richter vorherzusagen.17 In über 90 % der Fälle genügten drei Informationen, um die Entscheidung der Richter abzubilden: die Empfehlung der Staatsanwaltschaft, die Entscheidung der Polizei und Entscheidungen früherer Gerichte. Nur wenn alle vorherigen Entscheidungen für eine Entlassung aus der Untersuchungshaft ohne Brighton/Gigerenzer, S.  207 – 208. Todd/Gigerenzer, S.  169 – 170. 16  Dhami/Ayton, S.  157 – 158. 17  Dhami, S.  177 – 178. 14 

15 

Bettina von Helversen

210

Fordert die Anklage Stellung einer Kaution oder Untersuchungshaft ?

Ja

Nein

Hat ein anderes Gericht eine Kaution gestellt oder U-haft angeordnet ?

Kaution oder U-haft Ja

Nein

Hat die Polizei den Angeklagten in U-haft genommen?

Kaution oder U-haft Ja

Nein

Entlassung ohne Kaution

Kaution oder U-haft

Abbildung 1: Entscheidungsbaum von Laienrichtern (adaptiert von Dhami, S. 179)

Kaution sprachen, entschieden sich die Richter dafür (siehe Abbildung 1). Dieser Unterschied zwischen dem nach Gesetz erforderlichen Vorgehen und der tatsächlichen Vorgehensweise ist aber durchaus rational und nachvollziehbar, wenn man die gesamte Entscheidungsumwelt mit einbezieht: Die Laienrichter müssen ihre Entscheidungen mit einem hohen Maß an Unsicherheit treffen und haben so gut wie keine Möglichkeit, die Qualität ihrer Entscheidungen zu überprüfen oder zu verbessern. Normalerweise erhalten sie kaum Rückmeldung darüber, ob ihre Entscheidung korrekt war oder nicht. Wenn überhaupt, erhalten sie Feedback zu fälschlicherweise positiven Entscheidungen, d. h., wenn sie jemanden auf freien Fuß entlassen haben, der dann eine Straftat beging, niemals aber Feedback über fälschlicherweise negative Entscheidungen, also wenn sie jemanden in Untersuchungshaft nehmen ließen, der keine Straftat begangen hatte. Mit ihrer konservativen Entscheidungsregel minimieren die Laienrichter die Gefahr einer falsch positiven Entscheidung. Indem sie sich in hohem Maße auf die Entscheidungen anderer Instanzen verlassen, sorgen sie für eine Diffusion der Verantwortung, falls doch einmal ein auf Kaution entlassener Täter eine Straftat begeht. Auch bei der Strafzumessung gibt es erste Befunde, dass Staatsanwälte manchmal auf einfache Strategien zurückgreifen. In einer Analyse von Strafakten untersuchten von Helversen und Rieskamp, welche psychologischen Modelle am besten beschreiben konnten, wie hoch die Strafzumessungsvorschläge der Staatsanwaltschaft in einfachen Diebstahls- und Betrugsdelikten ausfielen und welche Faktoren die Höhe der Strafvorschläge beeinflussten.18 Sowohl für Geld- als auch für 18 

von Helversen/Rieskamp, S. 385.

Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext

211

Freiheitsstrafen zeigte sich, dass eine einfache Strategie die Strafzumessungsvorschläge am besten beschrieb. Diese Strategie rechnete die Anzahl der wichtigsten mildernden und verschärfenden Faktoren ungewichtet gegeneinander auf und schätzte dann eine typische Strafhöhe für das Delikte und die Kategorie der Strafwürdigkeit. Es zeigte sich, dass diese Strategie das Verhalten der Staatsanwälte besser erklären konnte als Modelle, die eine Gewichtung und Integration von allen Faktoren annahmen. Auch auf der Ebene des Gerichts zeigte sich keine komplexe Integration, da das Gericht in fast allen Fällen der Empfehlung der Staatsanwaltschaft folgte.

IV.  Der Einfluss von Informationspräsentation auf menschliche Entscheidungsfindung Diese Forschung lässt vermuten, dass auch im rechtlichen Bereich die Verwendung von Heuristiken weit verbreitet ist. Auch wenn Heuristiken nicht immer zu schlechteren Entscheidungen führen, kann es aber gerade im legalen Kontext wichtig sein, sicherzustellen, dass bestimmte Informationen nicht ignoriert werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob es möglich ist, menschliche Entscheidungsfindung zu beeinflussen und näher an die gewünschten Standards heranzuführen. Wie Menschen Entscheidungen treffen, welche Informationen sie berücksichtigen und damit auch wie korrekt die Entscheidungen sind, hängt zu einem hohen Grad von der Repräsentation der Informationen ab. Wie Informationen präsentiert werden oder wie ein Entscheidungsproblem formuliert wird, kann die gleiche Entscheidung in ein, ohne Mathematikstudium, fast nicht lösbares Problem oder in eine einfache Additionsaufgabe verwandeln, die schon Kinder lösen können. Nehmen Sie zum Beispiel ein Entscheidungsproblem, das durch die steigende Verbreitung von DNA-Tests täglich an Relevanz gewinnt: Wenn DNA als Beweismittel präsentiert wird, ist die entscheidende Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine DNA-Probe tatsächlich vom Angeklagten stammt, wenn ein positives Testergebnis vorliegt. Um diese Frage korrekt beantworten zu können, braucht man mehrere Informationen: Erstens, die Basiswahrscheinlichkeit des DNA Profils. Obwohl DNA Profile sehr selten sind, sind sie nicht einzigartig. Die Basiswahrscheinlichkeit gibt an, wie häufig ein bestimmtes DNA Profil in einer zufälligen Stichprobe aus der in Frage kommenden Population (zum Beispiel weiße Männer im Alter von 20 – 40 Jahren) gefunden wird. Die Basiswahrscheinlichkeit ist normalerweise sehr niedrig (z. B. 0,00001) und hängt von der Qualität und der Menge der gefundenen DNA ab. In vielen Fällen wird die Basiswahrscheinlichkeit fehlinterpretiert und mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Angeklagter unschuldig ist, wenn der DNATest positiv ausfällt, gleichgesetzt.19 Das ist aber nicht der Fall. Um die tatsächliche Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung nach einem positiven Testergebnis zu bestimmen, muss man zusätzlich die Wahrscheinlichkeit, mit der der DNA-Test ein positives Ergebnis erbringt, wenn tatsächlich eine Übereinstimmung vorliegt, 19 

Koehler, S. 22.

Bettina von Helversen

212

Natürliche Häufigkeiten

1.000.000 Männer

10 gleiches DNS Profil 10 positive

999.990 anderes DNS Profil

0 negative

3000 positive

=

10 + 3000

p (Profil)

= 0,00001

p (pos I Profil)

=1

p (pos I no Profil)

= 0,003

996.990 negative

p(match | positive test) 10

Bedingte Wahrscheinlichkeiten

p(match | positive test) 0,00001 x 1 = 0,00001 x 1 + 0,9999 x 0,003

Abbildung 2: Die Berechnung von bedingten Wahrscheinlichkeiten mit natürlichen Häufigkeiten (links) oder mit Wahrscheinlichkeiten (rechts) (adaptiert von Gigerenzer/Hoffrage, S. 687)

berücksichtigen. Diese Wahrscheinlichkeit ist bei vielen DNA-Tests sehr hoch und liegt nahe der oder bei 100 %. Weiters benötigt man die Wahrscheinlichkeit, mit der ein falsch positives Ergebnis gefunden wird, also wie häufig der DNA-Test eine Übereinstimmung berichtet, auch wenn tatsächlich keine vorliegt. Diese Wahrscheinlichkeit hängt, neben der Qualität des Tests, auch noch von menschlichen Fehlern ab. Zum Beispiel kann ein falsch positives Ergebnis durch eine unsachgemäße Handhabung der Probe im Labor oder eine Verwechslung verursacht werden. Nach Köhler kann diese Wahrscheinlichkeit bei 0,003 liegen.20 Bayes Theorem gibt an, wie diese Wahrscheinlichkeiten integriert werden sollten, um die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass bei einem positiven Testergebnis tatsächlich eine Übereinstimmung vorliegt, auszurechnen. Diese Informationen können entweder als Wahrscheinlichkeiten oder als natürliche Häufigkeiten angegeben werden. In Abbildung 2 sehen Sie eine Zusammenfassung der Informationen im Wahrscheinlichkeitsformat und im Format von natürlichen Häufigkeiten, ausgehend von einer Stichprobe von einer Million (siehe Abbildung 2). Hoffrage und Kollegen gaben in einer Studie Anwälten, die kurz vor einer Berufung zum Richter standen, und Studierenden des Rechts eine ähnliche Aufgabe.21 Eine Gruppe bekam das Problem in Wahrscheinlichkeiten der Standardform der Präsentation vor Gericht. Die 20  21 

Koehler, S.  25 – 26. Hoffrage/Lindsey/Hertwig/Gigerenzer, S.  2261 – 2262.

Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext

213

andere Gruppe erhielt das selbe Problem, aber mit Angaben in natürlichen Häufigkeiten. Bei den Informationen, die in Wahrscheinlichkeiten angegeben waren, gaben nur 13 % der werdenden Richter und 1 % der Studierenden die korrekte Wahrscheinlichkeit für eine Übereinstimmung an. Das änderte sich schlagartig, als statt Wahrscheinlichkeiten tatsächliche Häufigkeiten angegeben waren. In diesem Fall konnten 68 % der werdenden Richter und 44 % der Studierenden die Aufgabe lösen. Ein weiteres Beispiel, wie sehr die Art und Weise, wie eine Entscheidung gestellt wird, das Resultat der Entscheidung beeinflussen kann, kommt von Johnson und Goldstein.22 Johnson und Goldstein untersuchten, warum sich die Anzahl von Organspendern signifikant zwischen verschiedenen Ländern unterscheidet. Zum Beispiel liegt die Organspender Quote in Deutschland bei gerade mal 12 %, während sich in Belgien 98 % dafür entscheiden, nach ihrem Tod ihre Organe zu spenden. Die Autoren zeigten, dass dies keineswegs daran liegt, dass Belgier eine positivere Einstellung zu Organspenden haben als Deutsche: Auch wenn man Faktoren wie Religiosität oder Einstellung zu Organspenden kontrolliert, bleiben deutliche Unterschiede bestehen. Johnson und Goldstein argumentieren, dass die Rate von Organspendern weniger davon abhänge, welche Einstellung Menschen gegenüber Organspenden haben, als von der gesetzlichen Regelung des Landes. Während Deutschland und die USA einen „opt-in“ Grundsatz vertreten – also der Standard ist, dass man kein Organspender ist und man kann sich wahlweise als Organspender registrieren lassen – verfolgen andere Länder, wie zum Beispiel Belgien, einen „opt-out“ Grundsatz. In diesen Ländern ist jeder Bürger per default Organspender und kann wahlweise aus dem System aussteigen. Johnson und Goldstein zeigten nun in einem Experiment, dass die Angabe einer staatlichen Voreinstellung dazu führte, dass unter einer „opt-in“ Bedingung nur halb so viele Versuchsteilnehmer bereit waren, ihre Organe zu spenden, wie in einer „opt-out“ Bedingung oder, wenn keine staatliche Vorgabe gemacht wurde. Entscheidungsprozesse ergeben sich aus der Passung der Entscheidungsstrategien, die Menschen zur Verfügung haben und den Entscheidungsproblemen. In komplexen Problemen ist zu erwarten, dass sich die Entscheidungsträger auf vereinfachende Strategien verlassen, die die Komplexität der Probleme verringern und schnelle Entscheidungen erlauben, solange diese Strategien den Entscheidungsträgern erlauben, ihre Ziele zu erreichen. Wie die Studie von Dhami23 zeigt, kann nicht einfach angenommen werden, dass die Ziele eines Entscheidungsträgers automatisch mit den im Gesetz angenommenen übereinstimmen. Wenn ein bestimmter Entscheidungsprozess vom Gesetzgeber gewünscht ist, erfordert dies eine gründliche Analyse der Struktur des Entscheidungsproblems und, wenn nötig, eine Veränderung der Struktur oder der Repräsentation. Teilweise scheinen entscheidungspsychologische Erkenntnisse auch schon intuitiv in die Gesetzgebung eingeflossen zu sein. Zum Beispiel setzt sich die Höhe einer Geldstrafe aus der Anzahl der Tagessätze und der Höhe eines Tagessatzes zusammen. Die Anzahl 22  23 

Johnson/Goldstein, S.  1338 – 1339. Dhami.

Bettina von Helversen

214

der Tagessätze wird in Abhängigkeit von Tatschwere und Schuld bestimmt, während die Höhe der Tagessätze von den finanziellen Umständen des Verurteilten bestimmt wird. Die Anzahl und die Höhe der Tagessätze werden getrennt voneinander bestimmt und im Urteil angegeben. Diese Trennung führt dazu, dass die finanziellen Umstände eines Verurteilten und die der Schwere der Tat berücksichtigt werden und unabhängig voneinander eingeschätzt werden;24 eine Leistung, die bei der Angabe einer Gesamtstrafe wahrscheinlich nicht gewährleistet wäre. Diese prozedurale Regelung gibt ein Beispiel, wie Normen sicherstellen können, dass die gewünschten Informationen in eine Entscheidung einfließen, ohne auf ein rigides System wie Strafzumessungsrichtlinien, die den Freiraum der Richter bei der Strafzumessung auf ein Minimum beschränken, zurückgreifen zu müssen.

V. Zusammenfassung Wie Menschen Entscheidungen treffen, hängt in hohem Grade von der Umwelt und der Struktur der Aufgabe ab. Aber in den wenigsten Fällen ist zu erwarten, dass menschliche Entscheidungen rationalen Normen entsprechen. Wenn der Gesetzesgeber voraussetzt, dass menschliche Entscheidungen einem rationalen Prozess im Sinne des Homo Oeconomicus folgen, ist zu befürchten, dass die tatsächliche Entscheidungsfindung von den gewünschten Prozessen abweicht. Deswegen erscheint es unumgänglich, menschliche Entscheidungsprozesse in den Rechtswissenschaften zu berücksichtigen, insofern sie für die Interpretation und Befolgung von Gesetzen notwendig sind. Hier kann psychologische Forschung wichtige Inputs für die Rechtswissenschaften bieten. Die Berücksichtigung neuester psychologischer Erkenntnisse oder eine Einbeziehung der Psychologie in die Entwicklung von Normen könnte zu einer realistischeren Einschätzung menschlicher Entscheidungsprozesse führen und die Entwicklung von Entscheidungsregeln und Präsentationen unterstützen, um eine größere Übereinstimmung zwischen den tatsächlichen Entscheidungsprozessen und den vom Gesetzesgeber beabsichtigten Prozessen zu erreichen.

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24 

Hillsman, S. 51.

Heuristiken bei Entscheidungen im legalen Kontext

215

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Entscheiden und Entscheidungen Die Sicht der Psychologie Andreas Fischer und Joachim Funke

I. Einleitung Unter den vielen psychischen Funktionen des Menschen kommt der des Entscheidens eine zentrale Bedeutung zu: So besteht der tägliche Handlungsvollzug zum Beispiel aus einer ununterbrochenen Folge von Entscheidungen – angefangen mit der Frage, ob ich auf meinem Frühstücksbrötchen lieber Marmelade oder Wurst haben möchte, den Kaffee schwarz oder mit Milch, gezuckert oder ungezuckert, bis hin zu der abendlichen Entscheidung, vor dem Einschlafen noch ein Gläschen Rotwein zu trinken oder nicht. Entscheidungen sind etwas Alltägliches, wobei einzelne Entscheidungen auch durchaus große Tragweite haben können. Während manche Entscheidungen trivial und schnell getroffen sind, erscheinen andere polytelischer Struktur1 und können sich daher als konfliktbeladen erweisen.2 Entscheidungen sind seit Anbeginn der modernen Psychologie (etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts) ein viel-untersuchter Forschungsgegenstand: Waren es anfangs vor allem eher simple physiologische Aspekte (wie z. B. Reaktions- und Entscheidungszeiten bei der Darbietung von elementaren Reizen), sind im Laufe der Zeit immer komplexere Entscheidungsprozesse zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht worden. Dabei wurde früh deutlich, dass Menschen aufgrund ihrer kognitiven Beschränkungen3 systematisch von einem algorithmischen bzw. einem vermeintlich „rationalen“ Entscheidungsprozess abweichen – also davon, sicher den größtmöglichen Nutzen herauszuschlagen und dabei die Kosten bestmöglich zu minimieren – und sich stattdessen auf einfache Daumenregeln verlassen (sog. Heuristiken).4 In natürlichen Entscheidungssituationen entscheiden sich Menschen z. B. selten zwischen allen potentiell verfügbaren Optionen. Stattdessen beschränken sie sich auf das Wesentliche: Sie durchdenken zum Beispiel nacheinander einzelne ausgewählte Optionen, die ihnen in der vorliegenden Situation besonders vielversprechend Blech/Funke 2010. Weimar 2008. 3  Die Ressourcen für Entscheidungen sind begrenzt und selten kennt man z. B. alle Folgen einer Entscheidung oder deren Eintretenswahrscheinlichkeiten. 4  Gigerenzer/Brighton 2009. 1 Vgl. 2 

218

Andreas Fischer und Joachim Funke

scheinen, und entscheiden sich lediglich zwischen dem Umsetzen der Option oder dem Generieren weiterer Optionen (vgl. Recognition-Primed Decision Model).5 Auch richten sich Menschen selten nach objektiven Wahrscheinlichkeiten und Werten von Konsequenzen, sondern weichen in ihren Beurteilung von Gewinnen und Verlusten sowie deren Eintrittswahrscheinlichkeit systematisch davon ab (sog. Urteilsverzerrungen).6 Dabei lassen sie sich teilweise empfindlich davon beeinflussen, wie sich ihnen eine Entscheidungssituation darstellt (sog. Framing-Effekte). Lange Zeit wurden derartige Eigenheiten menschlicher Entscheidungsfindung als defizitär bzw. als Abweichung von einer idealen Norm betrachtet. Erst in den letzten Jahren setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die vermeintlichen Fehler im Entscheidungsprozess in der Tat bisweilen zu besseren Entscheidungen führen könnnen.7 Gerade in komplexen Entscheidungssituationen unter einem hohen Ausmaß an Unsicherheit8 sind einfache Heuristiken oft erstaunlich zielführend.9 Im nachfolgenden Beitrag soll auf diese und weitere Aspekte menschlichen Entscheidens näher eingegangen werden. Zunächst wollen wir einige der wesentlichen Grundbegriffe klären, bevor wir anhand einiger gängiger theoretischer Ansätze die Bandbreite des psychologischen Herangehens an den Themenkomplex „Entscheiden und Entscheidungen“ illustrieren. In einem abschließenden Teil soll die psychologische Perspektive auf menschliche Entscheidungsfindung dann noch einmal in wenigen Stichworten auf den Punkt gebracht werden.

II.  Urteilen, Entscheiden und Problemlösen Entscheiden und Entscheidungen – also Prozess und Ergebnis – sind aus psychologischer Sicht vor allem als Bestandteil menschlicher Handlungsregulation zu betrachten. Dabei sind Prozesse von stetig zunehmender Komplexität zu beobachten – beginnend bei verhältnismäßig einfachen Urteilen („judgements“), über das darauf basierende Entscheiden („decision making“) hin zum eigentlichen Lösen des Entscheidungsproblems („problem solving“). Die drei Begriffe beschreiben auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen von unten nach oben verschiedene Aspekte im Handlungsvollzug: (1) Auf der untersten Stufe haben wir individuelle basale Urteile, bei denen jeweils einem Urteilsobjekt ein Attribut auf einer Urteilsdimension zugeschrieben wird. Mit den Aussagen „Der Würfel wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/6 eine sechs zeigen“ oder „Eine sechs zu würfeln wird mir 100 Euro einbringen“ treffen wir zum Beispiel Sachurteile über einen Würfelwurf, die wahr oder falsch sein können. Auch dass eine Option verfügbar ist (z. B. an dem beschriebenen Klein 1998. Kahneman 2012. 7  Z. B. Gigerenzer/Brighton 2009. 8 Vgl. Funke 2012. 9  Gigerenzer/Brighton 2009. 5 

6 

Entscheiden und Entscheidungen

219

Glücksspiel überhaupt teilzunehmen) ist ein Sachurteil über die vorliegende Entscheidungssituation. Bei dem Urteil über den subjektiven Wert bzw. Nutzen einer Option handelt es sich hingegen um ein Werturteil, das stark von persönlichen Vorlieben und Lebensumständen abhängen kann (z. B. sind 100 Euro für einen Millionär weniger attraktiv als für einen Habenichts). Da die Umsetzung von Optionen zu Konsequenzen führen kann, die einen positiven, neutralen oder negativen Wert für den Entscheider haben, sind Urteile bzgl. dieser Konsequenzen in der Regel die wesentliche Grundlage des Entscheidungsprozesses. (2) Hat man die Entscheidungssituation hinreichend beurteilt, folgt in einem zweiten Schritt das eigentliche Entscheiden. „Entscheiden (decision making) ist der Prozess des Wählens zwischen mindestens zwei Optionen, mit dem Ziel, erwünschte Konsequenzen zu erreichen und unerwünschte Konsequenzen zu vermeiden. Der Prozess führt im günstigsten Fall zu einer Entscheidung (Wahl). Durch die Entscheidung wird eine Option selektiert und der Entschluss gebildet, diese zu realisieren, z. B. eine Handlung auszuführen.“.10 Diese Definition weist bereits über das Entscheiden selbst hinaus: Vielmehr ist das Ergebnis der Entscheidung „… eine Handlungsabsicht, die Intention. Ob diese Intention dann tatsächlich zur Implementierung der angestrebten Handlung führt, ist von anderen Prozessen und Faktoren [des Problemlösens] abhängig.“ Im ungünstigen Fall kann der Prozess des Wählens zwischen Optionen natürlich auch zu dem Ergebnis führen, dass keine Entscheidung getroffen wird. (3) Die dritte Stufe, Problemlösen, beschreibt die Umsetzung von Entscheidungen im Kontext der menschlichen Handlungsregulation: Ein Problem liegt immer dann vor, wenn ein Lebewesen ein Ziel hat, aber den Weg zu diesem Ziel nicht kennt.11 Problemlösen tritt insbesondere dann auf den Plan, wenn Ziele nicht ohne bewusste Entscheidungen (d. h. nicht routinemäßig) erreicht werden können. Beim Problemlösen werden also Entscheidungen bewusst aufgrund aktueller Bedürfnisse und Ziele in die Wege geleitet, getroffen, und vor diesem Hintergrund auf ihre Viabilität hin beurteilt. Charakteristischer Weise spielen beim Problemlösen Urteile bzgl. der Zielerreichung (bzw. des Abstands zwischen Ist- und Soll-Zustand), der Verfügbarkeit von Optionen oder dem Nutzen verfügbarer Optionen eine besondere Rolle: Die Frage etwa, wie man ein neues IKEA-Regal aufbaut, lässt sich wohl oftmals als eine Problemlösesituation charakterisieren, bei der man keine fertigen Routinen vorliegen hat, auf die man zurückgreifen kann, sondern für die ein neues Vorgehen zu finden ist. Um das Problem zu lösen, hat man zum einen die richtigen Handlungsschritte in Erwägung zu ziehen und zum anderen eine ganze Reihe von Entscheidungen zu treffen, die ihrerseits auf den Urteilen beruhen (z. B. Urteile über einzelne Objekte, ihre Position und Anordnung etc.), welche sich im Verlauf des Problemlösens verändern können.

10  11 

Betsch/Funke/Plessner 2011. Siehe z. B. Fischer 2015.

220

Andreas Fischer und Joachim Funke

Neben dieser Einordnung des individuellen Entscheidens in den größeren Kontext menschlichen Problemlösens12 ist an dieser Stelle auch eine wichtige Einschränkung im vorgetragenen Begriffsverständnis hervorzuheben: Wir beschränken uns im vorliegenden Kapitel bewusst auf individuelles Entscheiden. Da in der Psychologie eine klare Abgrenzung zwischen individuellen Urteilen, Entscheidungen und Problemlöseaktivitäten vorgenommen wird im Unterschied zu kollektiven Urteilen, Entscheidungen und Problemlösungen in sozialen Kontexten (z. B. kooperatives oder kollaboratives Problemlösen), soll diese Unterscheidung hier zumindest angeschnitten werden. Die Ausrichtung des eigenen Urteilens, Entscheidens und Problemlösens am Urteilen, Entscheiden und Problemlösen anderer Personen hat mit der kommunikativen Struktur menschlichen Handelns zu tun und justiert individuelle Prozesse an denen von Mitmenschen (eine beliebte Heuristik lautet zum Beispiel: „Wähle auf der Speisekarte in unbekannten Restaurants das, was Kollegen wählen, denen du vertraust“).13 Dies kann positive wie negative Auswirkungen haben, sprengt aber den Rahmen des vorliegenden Kapitels. Der interessierte Leser sei auf das Buch „Group Think“14 verwiesen.

III.  Entscheiden unter bekanntem Risiko Während einige Entscheidungen ohne jedes nennenswerte Risiko getroffen werden können (und daher lediglich eine Abwägung des Nutzens verschiedener Optionen erfordern), hat man es bei anderen Entscheidungen mit ungewissen Konsequenzen zu tun, die lediglich mit gewisser Wahrscheinlichkeit eintreten werden (sog. Risiken). Für die Beschreibung von Entscheidungen, bei denen sich alle relevanten Risiken relativ gut abschätzen lassen, sind v.a. Modellvorstellungen von Amos Tversky und Nobelpreisträger Daniel Kahneman15 bekannt geworden. Eine als „Asiatische Krankheit“ bekannt gewordene Problemstellung soll diese Art der Entscheidung illustrieren: Versetzen Sie sich vorübergehend in die Lage eines imaginären Gesundheitsministers. Angenommen Sie wüssten, dass eine bisher unbekannte asiatische Krankheit ihr Land heimsucht, von der anzunehmen ist, dass sie 600 Menschen töten wird. Von Wissenschaftlern seien daraufhin verschiedene gangbare Optionen vorgeschlagen worden, deren Folgen genau bekannt sind. Ihre Aufgabe als Gesundheitsminister ist es nun, eine Entscheidung zu treffen. Folgende Optionen stehen zur Wahl: Option A: 200 Menschen würden sicher gerettet; Option B: mit p=1/3 würden 600 Menschen gerettet, mit p=2/3 niemand.

Zur Übersicht siehe Funke 2003. Siehe z. B. Gigerenzer 2013. 14  Janis 1982. 15  Tversky/Kahneman 1974. 12  13 

Entscheiden und Entscheidungen

221

Wie würden Sie hier entscheiden? In psychologischen Experimenten entscheiden sich die meisten Teilnehmenden für Option A. Stellen Sie sich nun vor, es stünden statt der Optionen A und B lediglich die Optionen C und D zur Verfügung: Option C: 400 Menschen würden sicher sterben; Option D: mit p=2/3 würden 600 Menschen sterben, mit p=1/3 niemand. Hier entscheiden sich die meisten überraschenderweise für Option D. Das verblüffende an dieser Entscheidung ist, dass die Wahrscheinlichkeiten und auch die objektiven Ergebnisse der korrespondierenden Programme (sichere Option A=C, unsichere Option B=D) absolut identisch sind. Die Aussagen sind lediglich unterschiedlich „verpackt“, nämlich entweder positiv („retten“) oder negativ („sterben“) – zwei wahrscheinlichkeitstheoretisch gleichartige Situationen mit unterschiedlichen Rahmengeschichten („frames“) versehen. Der Einfluss dieser mathematisch irrelevanten Details auf die menschliche Entscheidungsfindung ist als Framing-Effekt bekannt geworden. In dem ersten Optionsbündel A und B geht es oberflächlich betrachtet darum, Menschen zu retten, also um Gewinne. Wie wir im folgenden Abschnitt noch genauer darlegen werden, zeigen menschliche Entscheider bei Gewinnen eine ziemlich geringe Risikobereitschaft – sie bevorzugen den sprichwörtlichen Spatz in der Hand gegenüber der Taube auf dem Dach. Damit wird das sichere Retten von 200 Menschenleben von den meisten Menschen über die Wahrscheinlichkeit gestellt, dass mit 1/3 Wahrscheinlichkeit 600 Menschen gerettet würden. Das zweite Optionsbündel C und D wählt hingegen eine Rahmengeschichte, in der vom Sterben die Rede ist, also von Verlusten. Um Verluste abzuwenden zeigen Menschen eine höhere Risikobereitschaft. Daher wählen sie bei dieser Rahmengeschichte Option D, bevorzugen also die geringe Chance einen Verlust vollständig abzuwenden ggü. dem sicheren Verlust von Menschenleben. 1.  Prospekt-Theorie von Kahneman und Tversky (1979) Die Prospekt-Theorie von Kahneman und Tversky16 wurde erstellt, um menschliches Entscheiden unter Risiko zu erklären (also in Entscheidungssituationen wie der gerade beschriebenen „Asiatischen Krankheit“, bei der alle relevanten Konsequenzen, sowie deren Werte und Wahrscheinlichkeiten im Wesentlichen bekannt sind). Die Prospekt-Theorie basiert im Kern darauf, dass Menschen nicht auf Basis objektiver Werte und Wahrscheinlichkeiten entscheiden, sondern beides auf eine subjektive Weise beurteilen und gewichten (sog. Evaluations-Phase), nachdem sie alle verfügbaren Informationen gesichtet und auf das Wesentliche reduziert haben (sog. Aufbereitungs-Phase): Der subjektive Wert einer Konsequenz lässt sich zum Beispiel als eine Funktion v der objektiven Konsequenz x darstellen (siehe Abbildung 1). Dabei wird der sub16 

Kahneman/Tversky 1979.

Andreas Fischer und Joachim Funke

v (x)

w (p)

222

x Abbildung 1: Wert-Funktion v (in Anlehnung an Kahenman/Tversky, 1979) Verluste schmerzen mehr als Gewinne erfreuen.

p Abbildung 2: Gewichtungsfunktion w (in Anlehnung an Tversky/Kahneman, 1992) Besonders geringe Wahrscheinlichkeiten werden überschätzt, große Wahrscheinlichkeiten werden unterschätzt.

jektive Wert einer Konsequenz abhängig von einem Referenzpunkt beurteilt: Konsequenzen, die unterhalb des Referenzpunktes (z. B. eines erwarteten Soll-Wertes) liegen, haben einen negativen subjektiven Wert, werden also als Verluste betrachtet. Konsequenzen oberhalb des Referenzpunktes haben hingegen einen positiven subjektiven Wert, werden als Gewinne betrachtet. Wie man an Abbildung 1 sieht, ist die Wert-Funktion v, die Kahneman und Tversky auf Basis ihrer bahnbrechenden Forschungen ermittelt haben, asymmetrisch (d. h. ein Gewinn von $ 100 ist weniger befriedigend, als ein Verlust von $ 100 schmerzt) und nimmt einen sigmoiden Verlauf an (d. h. der Unterschied zwischen $ 10 und $ 20 wird als größer empfunden als der Unterschied zwischen $ 110 und $ 120). Die subjektive Gewichtung der Wahrscheinlichkeit einer Konsequenz lässt sich als eine Funktion w der objektiven Wahrscheinlichkeit p darstellen. Dabei gilt, dass Personen geringe Wahrscheinlichkeiten tendenziell übergewichten (was der Grund für zahlreiche Lotto-Spieler sein dürfte), und große Wahrscheinlichkeiten tendenziell untergewichten (siehe Abbildung 2). Am Rand der Verteilung gilt: w(0) = 0 bzw. w(1) = 1 (d. h. ein sicheres Ereignis wird auch als solches beurteilt). Der subjektiv erwartete Nutzen (Subjective Expected Utility) einer Option setzt sich idR. additiv zusammen aus den Produkten von subjektivem Nutzen und subjektiver Gewichtung aller möglichen Konsequenzen der Option. Der o.g. Framing-Effekt lässt sich im Sinne der Prospekt-Theorie dadurch erklären, dass die sichere Rettung von 200 Personen in Option A als Gewinn im Vergleich zu 600 Toten dargestellt wird, während der Verlust von 400 Menschenleben in Option C einen Referenzpunkt von 0 Toten nahe legt. Wie man der Wertfunktion v entnehmen kann, wiegt ein Verlust von 400 Seelen subjektiv deutlich schwerer als die Rettung von 200 Personen. Darüber hinaus sorgt das Untergewichten von mittelgroßen und großen Wahrscheinlichkeiten (z. B. 2/3) dafür, dass die jeweils

Entscheiden und Entscheidungen

223

unsichere Alternative weniger ins Gewicht fällt, als ihre objektive Wahrscheinlichkeit nahelegen würde. In der Folge bevorzugen viele Personen Option D gegenüber Option C, während sie gleichzeitig Option A gegenüber Option B bevorzugen (obwohl in beiden Fällen das jeweils sichere Ereignis 200 Gerettete und 400 Tote implizieren würde). Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es neben dem in Punkt 3 vorgestellten Vorgehen auch eine Reihe anderer Wege gibt, den subjektiv erwarteten Nutzen zu bestimmen: Auf der einen Seite existiert z. B. eine Erweiterung der Prospekt-Theorie (Kumulative Prospekt-Theorie)17 die mit noch komplexeren Formeln arbeitet; auf der anderen Seite empfehlen jedoch Forscher wie Gigerenzer und Brighton18 für manche Situationen auch das simple (nicht anhand der Wahrscheinlichkeit gewichtete) Addieren des subjektiven Wertes aller Konsequenzen („tallying“-Heuristik), oder – noch simpler – statt der Summe über alle Konsequenzen lediglich den Wert der wichtigsten Konsequenz heranzuziehen, die eine Option als die beste ausweist („take the best“-Heuristik). Wie Gigerenzer und Brighton betonen, hängt eine optimale Bestimmung des Nutzens – und damit eine „ökologisch rationale“ situationsadäquate Entscheidung – stets von den Randbedingungen der Entscheidung selbst ab. 2.  Unconscious Thought Theory von Dijksterhuis und Nordgren (2006) In den letzten Jahren sind außerdem zahlreiche Anläufe unternommen worden, weitere Aspekte menschlichen Entscheidens theoretisch zu erklären.19 Einer der interessanten Ansätze in diesem Bereich stammt von dem niederländischen Forscher Ap Dijksterhuis,20 dessen „Unconscious Thought Theory“ sechs Prinzipien zur theoretischen Grundlage erklärt:21 1. Das Prinzip unbewusster Gedanken. Hier wird postuliert, dass es zwei Modi des Denkens gibt: bewusst und unbewusst. Bewusstes Denken ist durch eine durch Aufmerksamkeit geleitete Verarbeitung von Objekten oder Aufgaben gekennzeichnet, unbewusstes Denken erfolgt ohne Aufmerksamkeit. 2. Das Kapazitätsprinzip. Bewusstes Denken unterliegt den engen Kapazitätsbeschränkungen bewusster kognitiver Prozesse, wie sie bereits 1956 von Miller22 empirisch bestimmt wurden. Unbewusstes Denken verfügt über eine wesentlich größere Kapazität und kann daher wesentlich mehr Information simultan verarbeiten. 3. Das Aufwärts- (bottom up) versus Abwärts- (bottom down) Prinzip. Unbewusstes Denken operiert „bottom-up“, wogegen bewusstes Denken schemageleitet Tversky & Kahneman 1992. Gigerenzer/Brighton 2009. 19  Für einen umfassenderen Einblick vgl. Betsch/Funke/Plessner 2011. 20  Dijksterhuis 2004. 21  Siehe auch Dijksterhuis/Nordgren 2006. 22  Miller 1956. 17 

18 

224

Andreas Fischer und Joachim Funke

„top-down“ vorgeht. Die von Bettman, Luce und Pane23 eingeführten Metaphern von der Arbeitsweise des Architekten (top-down) bzw. Archäologen (bottom-up) illustrieren dieses Prinzip, wonach beim bewussten Denken das Ziehen von Schlussfolgerungen fast unvermeidlich ist, während unbewusstes Denken zu einer polarisierten und gut organisierten mentalen Repräsentation relevanter Objekte führt. 4. Das Gewichtungsprinzip. Unbewusstes Denken führt zu einer natürlichen Gewichtung der relativen Bedeutung verschiedener Attribute, während bewusstes Denken diesen natürlichen Prozess stört und daher in der Regel zu suboptimalen Gewichtungen führt, vorausgesetzt, es gibt nicht ein Attribut, das notwendigerweise alle übrigen dominiert (z. B. Kosten). In solchen Fällen kann bewusstes Denken aufgrund des Regelprinzip überlegen sein. 5. Das Regelprinzip bewussten Denkens. Bewusstes Denken kann exakten Regeln folgen und ist präzise, während unbewusstes Denken grobe Schätzungen liefert. Mit unbewusstem Denken lassen sich keine exakten arithmetischen Berechnungen durchführen, aber größer-kleiner-Relationen oder andere nicht-exakte Aspekte numerischer Attribute sind sehr wohl verfügbar. Auch die Negationsregel („nicht schlecht“ = „gut“) kann nur bewusst durchgeführt werden. Dass unbewusstes Denken keine Regeln aktiv befolgen kann, schließt aber nicht aus, dass es sehr gut das Befolgen von Regeln beurteilen kann. Implizites Lernen dokumentiert diesen Sachverhalt nachdrücklich. 6. Das Konvergenz- versus Divergenz-Prinzip. Bewusstes Denken und damit verbundene Gedächtnissuche erfolgt fokussiert und konvergent, während unbewusstes Denken divergent abläuft. Dieses Prinzip ist vor allem in Bezug auf kreative Prozesse wichtig. Vor dem Hintergrund dieser Postulate über die Unterschiede zwischen bewussten und unbewussten Denkprozessen berichtet Dijksterhuis24 über einen breiten Fundus theoriekonformer experimenteller Daten, in denen Versuchspersonen etwa die Qualität von vier Amsterdamer Wohnungen beurteilen sollten, zu denen je 12 Fakten gegeben wurden. Nach Lektüre der insgesamt 48 zufällig gebotenen Fakten sollten die Leser entweder (a) sofort ein Urteil abgeben (= unmittelbares Urteil), (b) drei Minuten gründlich über die gelesenen Fakten nachdenken und dann urteilen (= bewusstes Urteil), oder (c) nach drei Minuten, in denen ablenkende Aufgaben zu bearbeiten waren, eine Beurteilung liefern (= unbewusstes Urteil). Interessanterweise lieferte die unbewusste Verarbeitung die besten Resultate, gemessen als Differenz der Präferenz zwischen dem besten und dem schlechtesten Apartment. Dijksterhuis argumentiert dafür, dass angesichts der Menge und Vielfalt der vorgetragenen Fakten eine bewusste Bewertung dieser Informationen nicht möglich war und daher sowohl das unmittelbare als auch das bewusste Urteil weniger wertvoll

23 

24 

Bettman/Luce/Pane 1998. Dijksterhuis 2004.

Entscheiden und Entscheidungen

225

ausfallen als unter der Bedingung, in der diese vielen Fakten während einer Inkubationsperiode von drei Minuten offensichtlich Wirkung entfalten konnten.

IV.  Entscheiden unter absoluter Unsicherheit Während die Abwägung von – hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeiten bekannten bzw. abschätzbaren – Risiken mit den genannten Modellen bereits relativ gut beschrieben, erklärt und vorhergesagt werden können, sind andere Situationen durch das Fehlen entsprechender Wahrscheinlichkeitsangaben charakterisiert: Hier sind Entscheidungen unter absoluter Unsicherheit zu fällen, also ohne dass begründete Vermutungen über die objektiven Wahrscheinlichkeitden der relevanten Folgen verfügbar oder beschaffbar wären. Die meisten in der Forschung vorgeschlagenen Entscheidungsregeln für den Umgang mit absoluter Unsicherheit25 beziehen sich – mangels Alternative – ausschließlich auf den Nutzen der möglichen Konsequenzen: Eine besonders pessimistische Regel empfiehlt zum Beispiel, stets diejenige Option zu wählen, deren schlechtestes Ergebnis (mit minimalem Nutzen) im Vergleich zu den übrigen Optionen einen maximalen Nutzen liefert (sog. MaxiMin-Regel). Eine besonders optimistische Regel empfiehlt demgegenüber, diejenige Option zu wählen, deren bestes Ergebnis (mit maximalem Nutzen) im Vergleich zu den übrigen Optionen den maximalen Nutzen liefert (sog. MaxiMax-Regel). Auch Kombinationen der beiden Regeln wurden vorgeschlagen (die meist den besten und den schlechtesten möglichen Nutzen jeder Option verrechnen). All diese Regeln haben jedoch einen gewaltigen Nachteil: Menschen entscheiden unter absoluter Unsicherheit anders (und häufig besser). Betrachten Sie zum Beispiel die Entscheidungssituation in Tabelle 1: In den Spalten sieht man zwei Optionen (A und B), während in den Zeilen vier mögliche Sachverhalte zu sehen sind, die mit unbekannter Wahrscheinlichkeit vorliegen. Tabelle 1

Entscheidungssituation mit zwei Optionen (A und B) und deren vier möglichen Konsequenzen A

B

100

99

1

99

1

99

1

0

Jede Option realisiert nur eine der Konsequenzen, wobei die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens einer Konsequenz nicht bekannt sind. 25 

Für einen umfassenderen Überblick vgl. König et al. 2003.

226

Andreas Fischer und Joachim Funke

Nehmen wir der Einfachheit halber an, es läge nur jeweils einer der vier Zustände vor (aber der Entscheidungsfinder wüsste nicht welcher). Wie leicht einzusehen ist, liefert Option A im besten Falle das beste Ergebnis (100) und auch das schlechteste Ergebnis von Option A (1) ist immer noch besser als das schlechteste Ergebnis von Option B (0). Sowohl die MaxiMin-Regel als auch die MaxiMax-Regel würden zu Option A raten. Dennoch tendieren die meisten Menschen wohl intuitiv zu Option B, und das aus gutem Grund: In nahezu allen Fällen ist Option B der anderen Option überlegen, und selbst im schlechtesten Fall ist sie nur unwesentlich schlechter. Unter Laplaces Namen ist eine Lösung des Problems bekannt,26 die darauf setzt, im Falle absoluter Ungewissheit jeden Sachverhalt als gleich wahrscheinlich zu beurteilen und die Option mit dem größten Erwartungswert zu wählen (Laplace-Regel). Auch unter absoluter Ungewissheit, rät diese Regel also zu einer Entscheidung unter Annahme bekannter Risiken (siehe Abschnitt 3). Unterstützend hat Oswald Huber27 für realitätsnahe Entscheidungen unter Ungewissheit ein Modell aktiver Risiko-Entschärfung vorgeschlagen: Wenn man keine exakten Wahrscheinlichkeiten kennt, stellt sich nach Huber die Frage nach präventiven oder kompensatorischen Maßnahmen, mit denen bereits vor bzw. zusätzlich zu der eigentlichen Entscheidung ein eventuelles (unbekanntes) Risiko verhindert oder aufgefangen werden kann (risk-defusing operator, RDO). Bevor man sich z. B. entscheidet, ob man einen Urlaub in einer Region mit exotischen Krankheitserregern antritt oder lieber einen anderen Urlaubsort wählt, bietet sich etwa eine allgemeine Schutzimpfung als prophylaktische Entschärfung des unbekannten Erkrankungsrisikos an. Auch das Erstellen eines Plan B für den Fall eines unerwarteten Reiserücktritts lässt sich als RDO verstehen, sofern es die Entscheidung für eine Option mit unbekannten Risiken erleichtert.

V.  Komplexitätsbewältigung durch Erfahrung Nachdem wir in den ersten Kapiteln bereits darauf hingewiesen hatten, dass Entscheidungen in den größeren Kontext menschlichen Problemlösens eingebunden sind, wollen wir nun einige Implikationen herausstellen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Entscheidungen nicht isoliert voneinander getroffen werden, sondern teilweise voneinander abhängig sind.28 Betrachtet man statt einzelner Entscheidungssituationen eine Folge von Entscheidungen, wird klar, dass jede Entscheidung neben einem handfesten Nutzen oder Schaden (oder deren Ausbleiben) auch Erfahrungswerte bzw. Informationen liefert, die bei Folgeentscheidungen berücksichtigt werden können: Zum Beispiel steht man jedes Jahr erneut vor der Entscheidung über die Gestaltung des SomKönig et al. 2003. Huber 2012. 28 Vgl. Fischer/Greiff/Funke 2012. 26 Vgl. 27 

Entscheiden und Entscheidungen

227

merurlaubs; vergangene Entscheidungen können ebenso wie deren Konsequenzen die aktuelle Entscheidung empfindlich beeinflussen. So sind z. B. zu durchlebten Optionen eine größere Menge an Argumenten leichter zugänglich, verglichen mit Optionen, die man nur auf dem Papier vor sich hat – es werden also schlicht andere Konsequenzen bedacht, als wenn man die Entscheidung zum ersten Mal treffen würde.29 Auch in anderer Hinsicht wäre es unklug, Entscheidungen allzu isoliert zu betrachten: Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, dient eine Entscheidung in der Regel dem Vermeiden negativer Konsequenzen bzw. dem Erzielen positiver Konsequenzen. Insofern lässt sich aus den erzielten Konsequenzen für folgende Entscheidungen lernen: Die Entscheidungsforschung hat zum Beispiel wiederholt darauf hingewiesen, welch großen Einfluss die Erfahrung von Entscheidungssituationen und -ergebnissen (sog. Instanzen-Wissen)30 für reale komplexe Entscheidungen hat.31 Einen besonderen Wert entwickeln derartige Erfahrungen im Umgang mit Entscheidungsproblemen v.a. dann, wenn man bedenkt, dass Entscheidungen nicht nur Informationen generieren, sondern auch künftige Entscheidungssituationen bzw. die Optionen, die zur Wahl stehen, beeinflussen können (z. B. weil mehr Geld für den aktuellen Urlaub zur Verfügung steht, wenn beim letzten Urlaub gespart wurde). Durch Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Entscheidungen können einzelne Entscheidungen sehr komplex werden und ein großes Ausmaß an Lebenserfahrung erfordern. Nicht umsonst spricht man bei grundlegenden Entscheidungsproblemen auch der „Weisheit“32 – also dem erfahrungsbasierten Wissen darum, was ein gutes Leben ausmacht, und wie man es erlangt33 – eine tragende Rolle zu.34

VI.  Abschließende Bemerkungen Die hier vorgetragenen theoretischen Erwägungen und empirischen Befunde aus der psychologischen Forschung machen sich für eine Sichtweise stark, die in folgenden Leitideen zusammengefasst werden kann: Entscheiden ist ein Prozess, eingebettet in den Kontext menschlicher Handlungsregulation bzw. menschlichen Problemlösens. Wir möchten eindringlich davor warnen, Entscheidungen allzu isoliert zu betrachten. Vielversprechender scheint es uns zu sein, den Entscheidungsprozess stets vor dem Hintergrund zielführenden und problemlösenden Handelns zu betrachten. Die Beurteilung von Erwartungen und Werten absehbarer Konsequenzen spielt eine zentrale Rolle bei menschlichen Entscheidungen. Allerdings zeigen psychologische Experimente, dass diese Urteile selten mit objektiven Maßen von WahrBetsch/Funke/Plessner 2011. Fischer/Greiff/Funke 2012. 31  Z. B. Klein 1998. 32  Z. B. Dörner 1996. 33  Fischer 2015a. 34  Fischer 2015. 29 

30 Vgl.

228

Andreas Fischer und Joachim Funke

scheinlichkeit oder Wert übereinstimmen, sondern systematischen Abweichungen unterliegen (vgl. Urteilsverzerrungen). Die Darstellung der Entscheidungssituation (ob etwas zum Beispiel als Gewinn oder Verlust – z. B. im Vergleich zu einem willkürlichen Soll-Wert – dargestellt wird) kann einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung selbst haben, sodass trotz objektiv unveränderter Konsequenzen unterschiedliche Optionen gewählt werden (vgl. Framing-Effekte). Neben bewusstem Denken und vermeintlich „rationalem“ Entscheiden erforden viele Situationen auch unbewusste Prozesse und ein eher heuristisches Entscheiden. Gerade in komplexen Situationen, unter Zeitdruck oder einem hohen Ausmaß an Unsicherheit kann es sogar vorteilhaft sein, auf simple Heuristiken und unbewusste intuitive Informationsverarbeitung zu setzen (vgl. Gigerenzer & Brighton 2009). Der Wert von Lebenserfahrung für das Treffen realer komplexer Entscheidungen ist hervorzuheben: Ein kompetenter und weiser Umgang mit schwierigen und grundlegenden Entscheidungen basiert maßgeblich auf Lebenserfahrung und deren aktiver Nutzung im Entscheidungsprozess. Abschließend ist zu sagen, dass mit den vorliegenden Akzentuierungen psychologischer Forschung zum Entscheidungsprozess natürlich nur ein kurzer und entsprechend grober Überblick über vorliegende Literatur gegeben werden konnte. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Themenbereich empfehlen wir das Studium weiterführender Literatur.35

Literatur Betsch, Tilmann/Funke, Joachim/Plessner, Henning: Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Heidelberg, 2011. Bettman, James R./Luce, M. F./Payne, John W.: Constructive consumer choice processes, in: Journal of Consumer Research, 25 (1998), 187 – 217. Blech, Christine/Funke, Joachim: You cannot have your cake and eat it, too: How induced goal conflicts affect complex problem solving, in: Open Psychology Journal, 3 (2010), 42 – 53. Dijksterhuis, Ap: Think different: The merits of unconscious thought in preference development and decision making, in: Journal of Personality and Social Psychology, 87 (2004), 586 – 598. Dijksterhuis, Ap/Nordgren, Loran F.: A theory of unconscious thought, in: Perspectives on Psychological Science, 1 (2006), 95 – 109. Dörner, Dietrich: The logic of failure: Recognizing and avoiding error in complex situations. New York, 1996. Fischer, Andreas: Wisdom – The answer to all the questions really worth asking, in: International Journal of Humanities and Social Science, 5, 2015a, 73 – 83. 35 

Wie z. B. Betsch/Funke/Plessner 2011.

Entscheiden und Entscheidungen

229

– Assessment of Problem Solving Skills by means of Multiple Complex Systems – Validity of Finite Automata and Linear Dynamic Systems. Heidelberg, 2015. Fischer, Andreas/Greiff, Samuel/Funke, Joachim: The process of solving complex problems, in: Journal of Problem Solving, 4 (2012), 19 – 42. Funke, Joachim: Problemlösendes Denken. Stuttgart, 2003. – Complex problem solving, in: Encyclopedia of the sciences of learning, hrsg. von Norbert M. Seel. Heidelberg, 2012, 682 – 685. Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München, 2013. Gigerenzer, Gerd/Brighton, Henry: Homo Heuristicus: Why biased minds make better inferences, in: Topics in Cognitive Science, 1 (2009), 107 – 143. Huber, Oswald: Risky decisions: Active risk management, in: Current Directions in Psychological Science, 21 (2012) 26 – 30. Janis, Irving L.: Groupthink. Psychological studies of policy decisions and fiascoes. Revised and enlarged edition. Boston, 1982. Kahneman, Daniel: Thinking, fast and slow. New York, 2012. Kahneman, Daniel/Tversky, Amos: Prospect theory: An analysis of decision under risk, in: Econometrica, 47 (1979) 263 – 291. Klein, Gary: Sources of power. How people make decisions. London, 1998. König, W. et al.: Taschenbuch der Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsmathematik, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt/Main, 2003. Miller, George A.: The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information, in: Psychological Review, 63 (1956) 81 – 97. Osman, Magda: Controlling uncertainty: A review of human behavior in complex dynamic environments, in: Psychological Bulletin, 136 (2010) 65 – 86. Tversky, Amos/Kahneman, Daniel: Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, in: Science, 185 (1974) 1124 – 1131. – Advances in prospect theory: Cumulative representation of uncertainty, in: Journal of Risk and Uncertainty 5 (1992) 297 – 323. Weimar, Robert: Konflikt und Entscheidung. Frankfurt, 2008.

Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen? Neun Thesen Carsten Bäcker Der Jurist entscheidet nicht nur, wie jeder andere, über seine eigenen Angelegenheiten, sondern regelmäßig vor allem über die Geschicke anderer – sei es als Anwalt, als Richter oder im Verwaltungsdienst. Juristische Entscheidungen haben dabei stets mit Begründungen zu tun. Die Frage, welche Bedeutung Begründungen für juristische Entscheidungen haben, soll auf den folgenden Seiten aus einer diskurstheoretischen Perspektive beantwortet werden. Die Antwort unterteilt sich in neun Thesen. Da keine Antwort allein durch eine Anreihung von Thesen überzeugen kann, werden die Thesen zu begründen sein. Der Beitrag strukturiert sich daraus wie von selbst: Es wird, ausgehend von einer ersten, sehr allgemeinen These, in einem Wechselspiel von Thesen und Begründungen zur Explikation der Bedeutung von Begründungen juristischer Entscheidungen vorgedrungen. Es versteht sich, daß die damit gegebene Antwort nur in dem Maße überzeugen kann, in dem es gelingt, die sie stützenden Thesen überzeugend zu begründen.

These 1: Richtigkeit von Entscheidungen Die erste These stellt den Einstieg in den Horizont eines auf dem Begriff der Richtigkeit basierenden Entscheidungsverständnisses dar. Sie lautet: (T.1) Entscheidungen sollen richtig sein.

Der Begriff der Richtigkeit bleibt in T.1 vollkommen offen. Hinter T.1 steht allein die fundamentale Annahme, daß eine richtige Entscheidung einer falschen vorzuziehen ist. Jedenfalls solange der Begriff der Richtigkeit offen verstanden wird, also grundsätzlich jede Richtigkeitsdefinition zuläßt, wird diese These kaum auf Kritik stoßen können. Genau so lange stellt T.1 allerdings auch eine bloße Leerformel dar. Die zweite These beginnt, diese Leerformel mit Inhalt zu füllen.

These 2: Richtigkeit und rationale Begründbarkeit Die zweite These verknüpft den Begriff der Richtigkeit mit dem der rationalen Begründbarkeit. Sie lautet: (T.2) Entscheidungen sind genau dann richtig, wenn sie rational begründbar sind.

232

Carsten Bäcker

T.2 wird sich, im Vergleich zu T.1, auf eine geringere allgemeine Zustimmung stützen können. Mit der verringerten Hoffnung auf allgemeine Zustimmung geht ein gesteigertes Bedürfnis einer überzeugenden Begründung einher. Zu begründen ist, daß eine Entscheidung genau dann richtig ist, wenn sie rational begründbar ist. Bevor die Begründung von T.2 in den Blick genommen wird, ist es zweckmäßig, genauer zu erörtern, was T.2 verlangt. Denn indem T.2 nur verlangt, daß die Entscheidung rational begründbar ist, wird nicht vorausgesetzt, daß jede Entscheidung auf einer rationalen Begründung beruhen muß.1 Eine Entscheidung ist im Ergebnis im Sinne von T.2 nicht weniger richtig, wenn sie zwar nicht rational begründet wurde, aber rational begründbar ist. Der Nachweis der rationalen Begründbarkeit einer Entscheidung kann also, im Grundsatz unbeschadet ihrer Richtigkeit, auch ex post geliefert werden. Demnach sind die Vorgänge der Entwicklung oder Entdeckung einer Entscheidung einerseits und die der Rechtfertigung oder Begründung andererseits zu trennen.2 In dieser Trennung liegt ein Vorteil des mit T.2 zulässigen ex post-Maßstabes. Wird nach der richtigen Begründbarkeit gefragt, fallen erhebliche Anforderungen an die Rationalität der (juristischen) Entscheidungsfindung weg. Auf der anderen Seite schließt der ex post-Maßstab nicht aus, daß die Entscheidung schon in ihrer Entstehung rational begründet werden kann und auch ebenso begründet worden ist. Überdies ist anzunehmen, daß die institutionalisierte Sicherstellung von im Ergebnis rationalen Entscheidungen dazu führt, Entscheidungen schon im Findungsprozeß rational zu begründen; dies etwa indem, wie im Prozeßrecht, die Angabe von Entscheidungsgründen zur Pflicht für die Gerichte gemacht wird. Auf diese Weise kehrt sich der Maßstab der richtigen Begründbarkeit in der Praxis hin zu einem der richtigen Begründung,3 ohne aber diesen – schon angesichts des praktischen Mangels an Zeit und umfänglicher Erkenntnismöglichkeit – kaum erfüllbaren Rationalitätsanspruch für alle Fälle und unbedingt erheben zu müssen. 1  Höhere Anforderungen stellt das Bundesverfassungsgericht, wenn es ausführt: „Die Entscheidung [des Richters] muß auf rationaler Argumentation beruhen“, BVerfGE 34, 269 (287). 2  So auch Neumann 2005, S. 381, der diese Zweiteilung „zwischen dem Prozess der Herstellung des Urteils (der Rechtsfindung) einerseits und der Darstellung (der Rechtfertigung) andererseits“ für notwendig hält. Denn die juristische Argumentation solle „nicht Entscheidungsmotive und -prozesse aufdecken, sondern überzeugende Gründe für die Entscheidung anführen“. – Neumanns Unterscheidung entspricht die Unterscheidung zwischen dem Entdeckungszusammenhang (context of discovery) und dem Rechtfertigungszusammenhang (context of justification), vgl. Aarnio/Alexy/Peczenik, S. 14. 3  In diesem Sinne ist es zutreffend, wenn Neumann mit Blick auf richterliche Entscheidungen ausführt: Die „Feststellung, daß die Rechtfertigung der Entscheidung mit den ‚wirklichen‘ Entscheidungsmotiven nicht übereinstimmt, [ist] für die Entscheidung wie ihre Begründung zwar nicht notwendig, wohl aber tendenziell disqualifizierend“, Neumann 1986, S. 5.

Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen?

233

Wenden wir uns wieder der Begründung von T.2 zu. Hinter T.2 steht ein bestimmtes Verständnis der Richtigkeit. Während T.1 offen für jede Art eines Richtigkeitsbegriffes ist, also Richtigkeitsdefinitionen verschiedener philosophischer Wahrheitstheorien4 ebenso zuläßt wie etwa die der Lehren verschiedener Religionen, setzt T.2 eine Theorie der Richtigkeit voraus, die Richtigkeit als rationale Begründbarkeit ansieht. Hinter T.2 steht daher das Ideal einer argumentativen Rationalität. Das Ideal argumentativer Rationalität erinnert wiederum an das Begründungsmodell, welches von Argumentations- oder Diskurstheorien, wie sie in der Rechtsphilosophie etwa von Habermas und Alexy vertreten werden, getragen wird.5 In diesem Sinne scheint aus T.2 bereits die Diskurstheorie heraus, die als Grundlage der späteren Thesen dienen wird. Dabei soll die Diskurstheorie hier nicht als alternativlos für das Erreichen richtiger Entscheidungen im Sinne von T.1 hingestellt verstanden werden. Denn den mit T.2 vorausgesetzten diskursiven Argumentations- oder Begründungsmodellen stehen alternative Konzeptionen oder Theorien richtiger Entscheidungen gegenüber. Bleibt man im rechtsphilosophischen Kontext, um den es in dieser Untersuchung geht, so sind dies zumindest zwei Modelle: das Ermessensmodell und das Erkenntnismodell richtiger Entscheidungen. Im Ermessensmodell, wie es etwa in Kelsens Reiner Rechtslehre6 oder in Harts Concept of Law7 erkannt werden kann, ist die richtige Entscheidung letztlich nicht Gegenstand einer rationalen Begründbarkeit, sondern liegt im, innerhalb bestimmter Grenzen freien, Ermessen des Entscheiders.8 Eine von vornherein einzig richtige Entscheidung existiert im Ermessensmodell nicht. Im Erkenntnismodell dagegen, das namentlich Dworkin in Taking

4 Einen illustrativen Überblick über die verschiedenen Wahrheitstheorien bietet, aus rechtsphilosophischer Sicht, Neumann 2004a, S. 14 – 37. 5  Nach Neumann sind vom diskurstheoretischen Argumentationsmodell des Rechts ein topisch-rhetorisches und ein deskriptiv-analytisches Argumentationsmodell zu unterscheiden, vgl. Neumann 1986, S. 12. Diese Modelle stellen indes keine alternativen Zugänge dar. Sie sind eher als verschiedene Perspektiven auf das einheitliche Phänomen Argumentation zu betrachten, die in einer ganzheitlichen diskurstheoretischen Analyse zu berücksichtigen sind. Ähnlich sieht es Klatt, S. 196 f., der für eine Überwindung der Grenzen zwischen den verschiedenen „Theorieschulen“ zum Wohle einer „voll entwickelte[n] Theorie juri­ stischer Argumentation“ plädiert. – Einen frühen Schritt in die Richtung dieses inklusiven Verständnisses stellt etwa der gemeinsame Aufsatz von Aarnio, Alexy und Peczenik dar, vgl. Aarnio/Alexy/Peczenik. 6  Näher zum Ermessensmodell in Kelsens Theorie vgl. Bäcker 2008, S. 25 – 30. 7  Zum Ermessensmodell in Harts Theorie vgl. Bäcker 2008, S. 25, dort Fn. 24. 8 Nach Kelsen ist die Entscheidung des Richters nur in den Grenzen des positiven Rechts gebunden. Da das positive Recht oftmals „mehrere Möglichkeiten der Vollziehung“, Kelsen 1934, S. 94, offenhält, bleibe dem Richter in diesen Fällen „stets […] ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens“, Kelsen 1934, S. 91. Wie der Richter seinen Spielraum ausfüllt, sei keine rechtliche, sondern eine politische Frage, vgl. Kelsen 1950, S. xv. – Näher zu Kelsens Verständnis der juristischen Interpretation vgl. Paulson 2008, insb. S. 23 – 34.

234

Carsten Bäcker

Rights Seriously9 ausgeprägt hat, sind absolut richtige Entscheidungen möglich. Sie bestehen bereits im Recht, der Richter muß sie nur noch erkennen.10 Im Vergleich zu Diskurs- und Argumentationstheorien weisen allerdings beide alternativen Modelle, das Ermessensmodell und das Erkenntnismodell, für eine Theorie richtiger (juristischer) Entscheidungen Schwächen auf, die sich insbesondere aus ihrem eingestandenen Begründungsdefizit ergeben. Denn beide Theorien können keine Antwort auf die Frage geben, wie im Bereich des bloßen Ermessens oder bloßen Erkennens einer Entscheidung eine Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Entscheidung möglich sein soll. Das Argumentationsmodell tritt an, gerade dieses Defizit durch das Ideal der argumentativ zu entwickelnden richtigen Antwort aufzulösen. Auf diese Weise will das Argumentationsmodell einen dritten Weg zwischen dem freien Ermessen einerseits und dem determinierten Erkennen andererseits markieren.11

These 3: Gebot rationaler Begründbarkeit Die Kombination der ersten beiden Thesen führt zu einer dritten, bloß explikativen These. Wenn Entscheidungen richtig sein sollen (T.1), und Entscheidungen richtig sind, wenn sie rational begründbar sind (T.2), dann sollen Entscheidungen rational begründbar sein. T.3 lautet also: (T.3) Entscheidungen sollen rational begründbar sein.

Diese These ist die Konsequenz aus der grundlegenden Entscheidung, richtiges Handeln falschem vorzuziehen, und der Annahme, Richtigkeit sei gleichbedeutend mit argumentativer Begründbarkeit. Setzt man diese Entscheidung und diese Annahme als gegeben voraus, hätte die vorliegende Untersuchung auch mit T.3 beginnen können. In jedem Fall ist T.3 sämtlichen Zweifeln an T.1 und T.2 ausgesetzt; das Gebäude bricht zusammen, wenn T.1 oder T.2 falsch sind. Ob aber T.1 und T.2 und damit auch T.3 richtig sind, hängt von der Frage ab, ob und wie rationale Begründbarkeit erreichbar ist. Das ist Gegenstand der vierten These, die dem Begriff der Richtigkeit als rationaler Begründbarkeit diskurstheoretische Substanz verleiht. Näher zum Erkenntnismodell in Dworkins Theorie vgl. Bäcker 2008, S. 30 – 32. kann nur ein idealer Richter – Dworkin nennt ihn Herkules: „I have invented […] a lawyer of superhuman skill, learning, patience, and acumen, whom I shall call Hercules“, Dworkin 2002, S. 105 – die jeweils einzig richtige Antwort auf jede Rechtsfrage finden. Dies gelingt dem Richter durch die Abwägung von Rechtsprinzipien. – Diese sog. one right-answer thesis, vgl. Dworkin, 1977, S. 58 – 84, ist bis heute vieldiskutiert. Für einen Überblick vgl. Roumeliotis, S.  72 – 96. 11  Vgl. etwa Neumann 1986, S. 2, nach dem „die Theorie der juristischen Argumentation einen dritten Weg zwischen juristischem Determinismus einerseits und juristischem Dezisionismus andererseits“ markiere. Ähnlich hält auch Alexy 1978a, S. 51, die seinem Argumentationsmodell zugrundegelegte Diskurstheorie für einen Mittelweg zwischen dem „Alles-oder-Nichts“ des Determinismus einerseits und des Dezisionismus andererseits. 9 

10  Allerdings

Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen?

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These 4: Rationale Begründungen und diskursive Verfahren Die vierte These definiert, was unter rationaler Begründbarkeit im Sinne der Diskurstheorie zu verstehen ist. Sie verknüpft den Begriff der rationalen Begründbarkeit mit dem diskursiver Verfahren: (T.4) Rational begründbar sind Entscheidungen durch diskursive Verfahren.

T.4 geht davon aus, daß diskursive Verfahren es ermöglichen, die Rationalität einer Entscheidung zu bewerten. Dabei bleibt in T.4, ebenso wie schon in T.2, offen, ob die Entscheidung nur ex post auf ihre rationale Begründbarkeit hin überprüft wird oder auch ex ante rational begründet ist. Für T.2 genügt es jedenfalls dem erhobenen Anspruch nach, wenn diskursive Verfahren nicht zur Gewinnung, sondern nur zur Überprüfung der Entscheidung herangezogen werden. Der Diskurs oder das diskursive Verfahren ist jedoch die Methode, die im diskurstheoretisch geprägten Argumentationsmodell des rationalen Begründens rationale Entscheidungen durch rationale Entscheidungsfindungen ermöglichen soll. Im Diskurs ist in einem Wechselspiel von Gründen und Gegengründen, also mit Argumenten, die richtige Antwort auf eine gegebene Frage zu suchen und zu finden. Der Diskurs ist dabei keine freie Argumentation, sondern eine Argumentation, die an ganz bestimmte Argumentationsregeln, die Diskursregeln, gebunden ist.12 Einen repräsentativen Katalog solcher Argumentationsregeln hat Alexy zusammengestellt. Er versammelt in seinem Katalog der „Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses“13 28 Diskursregeln und -formen, die er aus einer Analyse verschiedener prominenter Argumentationstheorien und Theorien praktischer Diskurse entwickelt.14 Auf die Wiedergabe dieses Katalogs sei hier verzichtet.15 Worauf es im Rahmen des vorliegenden Thesenpapiers ankommt, ist, daß diskursive Verfahren sich ihrer Idee nach – wie sich besonders deutlich in Alexys Begründung seines Regelkatalogs zeigt16 – durch drei grundlegende Ansprüche 12  Daraus läßt sich eine Definition des Diskurses gewinnen: Eine Argumentation ist genau dann ein Diskurs, wenn sie den Diskursregeln folgt. 13  Alexy 1978, S. 361. 14 Alexy bezieht Arbeiten zum Emotivismus (Stevenson) ebenso wie zu den sprachphilosophischen Grundlagen (Wittgenstein, Austin) und zur moralischen Argumentation (Hare, Toulmin, Baier) in seine breit angelegte Aufarbeitung der Argumentationstheorien ein. Prägend für Alexys Theorie sind aber vor allem Habermas’ Diskurstheorie, die Theorie der Beratung der Erlangener Schule (Lorenzen, Schwemmer) und Perelmanns Theorie der Argumentation, wobei davon Habermas von größtem Einfluß auf Alexys Theorie war; ebenso Neumann 1986, S. 70; Braun, S. 50. Dennoch stellt Alexys Diskurstheorie eine eigenständige Variante der Diskurstheorie dar; so auch Gril, S. 14. 15  Für eine Zusammenstellung der Regeln und Formen des allgemeinen, praktischen sowie des juristischen Diskurses vgl. die „Tafel der erarbeiteten Regeln und Formen“ in Alexy 1978, S. 361 – 367. 16 Vgl. Alexy 1995, S. 138. – Zu einigen Einwänden gegen Alexys Begründung dieser grundlegenden Ansprüche vgl. Bäcker 2012, S. 81 – 88; sowie noch unten, zu These 6.

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auszeichnen, denen sie gerecht werden müssen: den Ansprüchen auf Gleichberechtigung, auf Universalität und auf Zwanglosigkeit. Mit diesen drei Ansprüchen oder Forderungen sind, so Alexy, „die wichtigsten Bedingungen für die Vernünftigkeit von Diskursen“17 beschrieben. Nun ist leicht einzusehen, daß eine vollkommene Gleichberechtigung ebenso wie eine echte Universalität oder eine absolute Zwanglosigkeit „aus tatsächlichen Gründen“18 niemals zu erreichen sind. Diese drei Forderungen sind daher stets nur approximativ erfüllbar.19 In der Logik der Diskurstheorie können diskursive Verfahren deswegen nur in dem Maße vernünftige oder richtige Ergebnisse liefern, in dem diese zentralen drei Forderungen erfüllt sind. Hierin liegt eine Wurzel der Relativität diskursiver Verfahren und ihrer Ergebnisse.

These 5: Notwendige Relativität diskursiver Verfahren Die fünfte These trägt der Relativität diskursiver Verfahren und ihrer Ergebnisse Rechnung. Sie lautet: (T.5) Diskursive Verfahren und ihre Ergebnisse sind notwendig relativ.

Die Relativität diskursiver Verfahren und ihrer Ergebnisse ergibt sich, wie gesehen, schon aus dem Umstand, daß den in der Diskurstheorie grundlegenden Rationalitätsforderungen nach Gleichberechtigung, Universalität und Zwanglosigkeit stets nur approximativ entsprochen werden kann. Die Auswirkungen dieser Relativität werden deutlicher, wenn das klassische zweistufige Modell der herkömmlichen Diskurstheorie etwas näher betrachtet wird.20 Im zweistufigen Modell der Diskurstheorie wird ein bloß vorgestellter idealer Diskurs, als erste Stufe, von einem realen Diskurs, als zweiter Stufe, unterschieden. Allein auf der ersten Stufe könnte, nach den Vorstellungen der klassischen Diskurstheorie, allen drei Rationalitätsforderungen vollkommen entsprochen werden. So ist der ideale Diskurs etwa bei Alexy dadurch definiert, daß21 unter den Be17  Alexy 1978, S. 242. Entsprechend normieren in Alexys Regelkatalog die „Vernunftregeln“ diese drei Forderungen. 18  Alexy 1978, S. 240. 19  Vgl. etwa Aarnio/Alexy/Peczenik, S. 43: Die Vernunftregeln, die die drei grundlegenden Ansprüche explizieren, vgl. eben, Fn. 17, machen „den idealen Charakter praktischer Vernunft deutlich, der sich in ihrer nur approximativen Realisierbarkeit niederschlägt“. – Dem stimmt auch Habermas 1983, S. 101, zu: „Freilich legt die Regelform [der Vernunftregeln] […] das Mißverständnis nahe, als würden alle real durchgeführten Diskurse diesen Regeln genügen müssen. Das ist in vielen Fällen ersichtlich nicht der Fall, und in allen Fällen müssen wir uns mit Annäherungen zufrieden geben“. 20  Die klassische Diskurstheorie sieht sich einer ganzen Reihe kritischer Einwände ausgesetzt, von denen einige eine Rekonstruktion der Diskurstheorie in einer relativistischen Lesart erfordern. Zu dem Entwurf einer solchen relativistischen Diskurstheorie in einem Drei-Ebenen-Modell vgl. noch unten, These 6; näher Bäcker 2012, S.  116 – 174. 21  Alexy 1989, S. 113.

Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen?

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dingungen unbegrenzter Zeit, unbegrenzter Teilnehmerschaft und vollkommener Zwanglosigkeit im Wege der Herstellung vollkommener sprachlich-begrifflicher Klarheit, vollkommener empirischer Informiertheit, vollkommener Fähigkeit und Bereitschaft zum Rollentausch und vollkommener Vorurteilsfreiheit die Antwort auf eine praktische Frage gesucht wird. Auf der zweiten Stufe, im realen Diskurs, gibt es demgegenüber keine vollkommenen Bedingungen. Hier sind die Diskursbedingungen ausnahmslos „begrenzt“:22 Reale praktische Diskurse sind dadurch definiert, daß unter den Bedingungen begrenzter Zeit, begrenzter Teilnehmerschaft und begrenzter Zwanglosigkeit mit begrenzter sprachlich-begrifflicher Klarheit, begrenzter empirischer Informiertheit, begrenzter Fähigkeit zum Rollentausch und begrenzter Vorurteilsfreiheit die Antwort auf eine praktische Frage gesucht wird. Als realen Diskursteilnehmern, die wir alle sind, stehen uns allein die realen und damit begrenzten Diskurse zur Verfügung. In den begrenzten Umständen, unter denen allein reale Diskurse betrieben werden können, findet die Approximativität der fundamentalen Rationalitätsansprüche sein Pendant. In demselben Ausmaß, in dem die Diskursbedingungen im realen Diskurs begrenzt sind, ist auch die Rationalität der Diskursergebnisse begrenzt. Da die Diskursbedingungen in der Realität unserer Welt nicht nur gelegentlich, sondern notwendig begrenzt sind – wir haben nicht unendlich viel Zeit, um mit unendlich vielen Teilnehmern einen unendlichen diskursiven Austausch führen zu können –, ist auch die Rationalität der Diskursergebnisse notwendig begrenzt. Die nach der klassischen Diskurstheorie intelligiblen idealen Diskursbedingungen können allerdings im realen, tatsächlich geführten Diskurs zu unterschiedlichen Graden realisiert werden. Der Grad der Rationalität der Diskursergebnisse ist deswegen relativ auf das Ausmaß der Realisierung der idealen Diskursbedingungen und damit auf den Grad der Erfüllung der Rationalitätsforderungen. Dieser Umstand hat einen relativen Rationalitätsbegriff zur Folge: Je weitgehender die Rationalitätsforderungen erfüllt sind, umso rationaler ist das Diskursergebnis. Für die Bedeutung von Begründungen in Entscheidungen hat diese diskurstheoretische Einsicht in die Relativität der Rationalität, die T.5 zugrundeliegt, erhebliche Auswirkungen. Denn die in T.5 beschriebene notwendige Relativität diskursiver Verfahren überträgt sich, mit T.4, auf rationale Begründungen: Rationale Begründungen sind notwendig relativ.

These 6: Zwei Arten der Relativität diskursiver Verfahren Die Relativität auf die Rationalitätsforderungen ist noch nicht die einzige Relativität, die sich auf diskursive Verfahren auswirkt. Vielmehr lassen sich zwei Arten der Relativität diskursiver Verfahren voneinander unterscheiden:

22 

Alexy 1990, S. 35.

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(T.6) Die Relativität diskursiver Verfahren und ihrer Ergebnisse besteht in der Relativität auf

(a) die Begründung des Diskurses als Prozedur (außerdiskursive Relativität)



(b) die qua diskursiver Prozedur möglichen Lösungen (diskursive Relativität).

Die in T.5 beschriebene Relativität auf die Rationalitätsforderungen, die sich aus der lediglich approximativen Erfüllbarkeit der Rationalitätsforderungen als Derivat idealer Diskursbedingungen ergibt, ist ein Aspekt der außerdiskursiven Relativität. Dieser Relativität auf die Rationalitätsforderungen ist eine noch fundamentalere Relativität vorgelagert: die der Rationalitätsforderungen selbst. Die Rationalitätsforderungen – also die Ansprüche auf Gleichberechtigung, Zwanglosigkeit und Universalität – wären nur dann nicht relativ, wenn es für sie eine von jeder Voraussetzung unabhängige Begründung gäbe. Eine solche Begründung kann die Diskurstheorie jedoch nicht leisten, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Die Begründung der Rationalitätsforderungen ergibt sich, nach der Diskurstheorie, aus grundlegenden Argumentationsregeln. Diesen lasse sich der folgende fundamentale Zusammenhang von Begründungen und Rationalitätsforderungen entnehmen:23 Mit Begründungen werden, jedenfalls was das Begründen als solches anbelangt, die Ansprüche auf Gleichberechtigung, Zwanglosigkeit und Universalität erhoben. Nun sind auch grundlegende Argumentationsregeln zu begründen. Um sie zu begründen, ist eine noch grundlegendere Begründung nötig, die letztlich ohne Voraussetzungen, die wiederum zu begründen wären, auskommen müßte. Der Versuch, eine solche voraussetzungslose Letztbegründung von Argumentations- oder Begründungsregeln zu erreichen, steht vor dem Friesschen Trilemma,24 oder, in der geläufigeren Bezeichnung von Albert, dem Münchhausen-Trilemma.25 Dieses Trilemma bezeichnet nach Albert die folgende Situation:26 Alexy 1995, S. 138. Friessche Trilemma hat Popper, in Anlehnung an Fries’ Schrift „Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft“ (1821 – 1831), wie folgt beschrieben: „Will man die Sätze der Wissenschaft nicht dogmatisch einführen, so muß man sie begründen. Verlangt man eine logische Begründung, so kann man Sätze immer nur auf Sätze zurückführen: die Forderung nach logischer Begründung (das Vorurteil des Beweises, sagt Fries) führt zum unendlichen Regreß. Will man sowohl den Dogmatismus wie den unendlichen Regreß vermeiden, so bleibt nur der Psychologismus übrig, d. h. die Annahme, daß man Sätze nicht nur auf Sätze, sondern z. B. auch auf Wahrnehmungserlebnisse gründen kann“, Popper, S. 69 f.; Hervorhebung beibehalten. Die Hörner des Friesschen Trilemmas bestehen also im Dogmatismus, im unendlichen Regreß und im Psychologismus. 25 Alberts Münchhausen-Trilemma und Poppers Friessches Trilemma unterscheiden sich der Sache nach kaum. Die Friesschen Hörner des Dogmatismus und des Psychologismus finden sich im Münchhausen-Trilemma im dritten Horn, dem Abbruch des Verfahrens, wieder. Das zweite Horn im Münchhausen-Trilemma, der logische Zirkel, kommt im Friesschen Trilemma nicht vor, da der logische Zirkel durch die Voraussetzung einer „logischen Begründung“ von vornherein exkludiert ist. 23 Vgl. 24  Das

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Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung – bzw. die betreffende Aussagen-Menge – zurückgeführt hat, wieder eine Begründung verlangen. Das führt zu […] einem Trilemma, das ich […] das Münchhausen-Trilemma nennen möchte. […] Man hat hier offenbar nur die Wahl zwischen: 1. einem infiniten Regreß, […] 2. einem logischen Zirkel […], und […] 3. einem Abbruch des Verfahrens. 26

Den Versuch einer das Münchhausen-Trilemma überwindenden Letztbegründung haben für die Diskurstheorie insbesondere Habermas und Apel, aber auch Alexy unternommen. Dabei setzen alle diese Begründungen auf transzendentale, also apriorische und damit voraussetzungslose Argumente. Diese Argumente haben die folgende Struktur:27 1. Es ist notwendig P. 2. Es ist nur dann P, wenn Q. 3. Also ist notwendig Q.

Apel versucht, die Letztbegründung mit einem transzendentalphilosophischen Ansatz im „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ aufzuzeigen.28 Er hält es für die Einsicht transzendentaler Reflexion, „daß etwas deshalb nicht begründet werden kann, weil es die Bedingung der Möglichkeit aller Begründung ist“.29 Apel geht es, wie auch Habermas und Alexy, darum, „die notwendigen Bedingungen der menschlichen Argumentation möglichst vollständig zu rekonstruieren“.30 Ausgehend von dem „apriorischen Faktum der Argumentation als einem nicht zu hintergehenden […] Ansatzpunkt“, im obigen Schema P,31 gelangt er zu Albert, S. 15, Hervorhebung beibehalten. Struktur vgl. etwa Paulson 1990, S. 171 f.: „Wenn man die Struktur eines ‚transzendentalen Arguments‘ im allgemeinen betrachtet, so handelt es sich dabei um ein Argument, demzufolge ein Satz ‚P‘, der als wahr angenommen wird, nur dann wahr sein kann, wenn ein anderer Satz ‚Q‘ ebenfalls wahr ist“. Vorzugswürdig ist es, statt von „Wahrheit“ von „Notwendigkeit“ zu sprechen, so auch Alexy 1995, S. 133. 28  Apel, S. 415, nimmt eine Grundentscheidung für die Argumentation an. Er setzt seiner Transzendentalphilosophie den grundlegenden „Willen zur Argumentation“ voraus. Für Apel ist diese Letztentscheidung dabei mehr als ein kontingenter Willensentschluß. Denn der fundamentale Willensentschluß für die Argumentation sei mit der von ihm eingeführten Idee der „transzendentalen Reflexion“ verbunden, nach der „dieser Wille in jeder philosophischen Grundlagendiskussion vorausgesetzt werden kann und muß, da sonst die Diskussion selbst keinen Sinn hat“. Deswegen sei „der Wille zur Argumentation nicht empirisch bedingt, sondern transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeder Erörterung hypothetisch angenommener empirischer Bedingungen“; Hervorhebungen beibehalten. Die Letztentscheidung für die Argumentation betrachtet Apel also als transzendental notwendig, und damit als letztbegründet. 29  Apel, S. 406. 30  Apel, S. 411. 31 Mit Alexy 1995, S. 134, wird das transzendentale Argument an dieser Stelle zu einem transzendentalpragmatischen Argument, da „die Praxis der Argumentation den Ausgangspunkt des Arguments“ bilde. 26 

27 Zur

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Q, den „([…] noch zu eruierenden) logischen und moralischen Bedingungen der kritischen Kommunikation“.32 Der notwendige oder apriorische Zusammenhang im Sinne des Satzes 2 im obigen Schema ergibt sich für Apel daraus, daß jede Argumentation die Bedingungen der Argumentation „schon implizit voraussetzt“.33 Wer diesen Zusammenhang verneine, begebe sich „damit zugleich der Möglichkeit des Selbstverständnisses und der Selbstidentifikation“.34 Apels Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma besteht also darin, die Notwendigkeit qua Unhintergehbarkeit dieser grundlegenden Argumentationsregeln anzunehmen, die sich aus dem Faktum der Argumentation ergäbe. In ähnlichen Bahnen verlaufen auch Habermas’ universalpragmatischer Begründungsansatz35 und Alexys transzendentalpragmatischer Begründungsvorschlag.36 Ähnlich wie Apel vertritt Habermas die These, ein Verzicht auf die Annahme der grundlegenden Argumentationsregeln führe zu „Schizophrenie und Selbstmord“.37 Alexy führt zustimmend aus, der Mensch sei eben ein „discursive creature“, der bei einer Entscheidung gegen seine argumentative oder diskursive Natur „a kind of self-destruction“ begehe.38 Da hier nicht der Raum ist, diese düsteren transzendentalen Begründungen und die umfangreiche Kritik daran39 auch nur im Ansatz nachzuzeichnen, muß die Behauptung genügen, daß die transzendentalpragmatische Letztbegründung bisher noch nicht überzeugend gelungen ist. Einsichtig mag diese Behauptung schon sein, weil es nicht überzeugend ist, daß der Mensch in allen Zeiten und unter allen UmApel, S. 414. Apel, S. 414. 34  Apel, S. 414. 35  Vgl. für einen Überblick Habermas 1983; ders. 1984a. – Da Habermas und Apel ihre Ansätze fast schon im Dialog entwickelt haben, ist die Differenz ihrer Positionen, wie es Wellmer, S. 76, dort Fn. 1, beschreibt, „nicht immer ganz leicht zu bestimmen“. – Für eine Gegenüberstellung der Apelschen und der Habermasschen Position vgl. etwa Pavlakos, S.  10 – 15. 36  Vgl. insbesondere Alexy 1995. Für eine knappe Zusammenfassung der Alexyschen Begründung vgl. Bäcker 2012, S. 45 – 53. – Alexy selbst bezeichnet seinen Ansatz als „schwach“, Alexy 1991, S. 420, da er der nackten Transzendentalpragmatik Apels noch einige empirische Argumente hinzufügt. Im Grunde ist schon Apels Transzendentalpragmatik in diesem Sinne schwach, da sie das empirische Faktum der Argumentation voraussetzt. 37  Habermas 1983, S. 112. 38  Alexy 2004, S. 43, der sich hier auf Brandom bezieht. 39  Vgl. für Kritik an Apels Vorschlag etwa Engländer, S. 81 – 84; Hilgendorf, S. 131 – 137; Keuth, S.  196 – 214; Patzig, 260 – 269; Steinvorth, S.  81 – 88; Trapp, S. 168 – 192. – Für Kritik an Habermas’ Konzeption vgl. wiederum Engländer, S.  70 – 81, Hilgendorf, S.  158 – 185, Keuth, S. 306 – 319, Steinvorth, S. 88 – 117, sowie Trapp, S. 192 – 207; außerdem Fusfield und Gril, S. 25 – 123. – Für meine Kritik an Alexys Begründungsvorschlag, in der ich auf die nur zum Teil zu widerlegenden Einwände insbesondere von Engländer, Hain, Hilgendorf, Gril, und Neumann eingehe, vgl. Bäcker 2012, S. 40 – 115; vgl. ferner S. 187 – 191 für eine Antwort aus Sicht der rekonstruierten Diskurstheorie auf Weinbergers Fundamentalkritik, vgl. Weinberger. 32  33 

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ständen notwendig argumentieren muß (Ist P notwendig?).40 Noch weniger vermag die Annahme zu überzeugen, daß der Mensch, wenn er argumentiert, dies in Befolgung apriorisch notwendiger Sprachregeln unternehmen muß (Ist P nur dann, wenn Q?).41 Im Gegenteil spricht vieles dafür, daß die von Habermas, Apel und Alexy als notwendig vorausgesetzten Sprachregeln bloß relativ notwendig sind.42 Denn selbst wenn zugestanden wird, daß die vorausgesetzten Sprachregeln unserem gegenwärtigen Diskursverständnis notwendig zugrundeliegen, sind diese Sprachregeln doch immer Ausdruck unserer gegenwärtigen, historisch und kulturell kontingenten Überzeugungen.43 In einer auf dieser Einsicht der historisch-kulturellen Kontingenz unserer Rationalitätsforderungen fußenden relativistischen Diskurstheorie wird der starke Anspruch einer Letztbegründung zugunsten einer voraussetzungsärmeren Jetztbegründung44 aufgegeben. Die Jetztbegründung setzt nur noch voraus, daß wir davon ausgehen können, daß der Mensch unter den bestehenden Umständen unserer Zeit argumentieren muß und dies gegenwärtig, unter den gegebenen historisch-kulturellen Bedingungen, im Sinne der fundamentalen Annahmen der Diskurstheorie unternimmt. Mit dieser Jetztbegründung läßt sich das Münchhausen-Trilemma übrigens nicht nur umgehen, sondern sogar überwinden.45 Diese Überwindung des Münchhausen-Trilemmas verursacht für die Argumentationstheorie allerdings erhebliche Kosten. So ist der Begriff des in allen Zeiten und unter allen Umständen idealen Diskurses zugunsten eines stets relativen 40  Alexy

gründet sein Argument auf die analytische oder apriorische Notwendigkeit des Sprechakts der Behauptung. Diese Notwendigkeit, die ein transzendentales Argument voraussetzt, läßt sich jedoch nicht erweisen, vgl. Bäcker 2012, S. 53 – 63. 41 Vgl. Bäcker 2012, S. 61 – 89. 42 Vgl. Bäcker 2012, S. 71 – 74. 43  Der Einwand der historischen und kulturellen Kontingenz der Diskursregeln findet sich besonders deutlich bei Engländer. Er geht davon aus, daß Alexys Ausgangspunkt, der Sprechakt des Behauptens, einen bloß „historisch-konkreten Sprechakt“ markiere, der durch „historisch kontingente Regeln“ bestimmt sei, Engländer, S. 55. Engländer ist im Ergebnis zuzustimmen. Die von Alexy herausgestellten Rationalitätsforderungen können nicht beanspruchen, die universell notwendigen Voraussetzungen der Möglichkeit von Behauptungen zu sein. Sie sind nicht mehr, wohl aber auch nicht weniger, als relativ notwendige Ansprüche, und zwar relativ auf die Sprachpraxis und den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis, also auf historisch und kulturell kontingente, empirisch zu bestimmende Gegebenheiten, vgl. Bäcker 2012, S. 86 – 88. 44  Die Idee der Jetztbegründung übernehme ich von Tschentscher, vgl. Tschentscher, S. 264. 45 Näher zu dieser Überwindung des Münchhausen Trilemmas vgl. Bäcker 2012, S. 175 – 181. Die wesentliche Idee der Jetztbegründung besteht darin, statt eines unhintergehbaren, „archimedischen“ (Albert, S. 18) Ausgangspunktes der Erkenntnis einen hintergehbaren Ausgangspunkt zu setzen. Dieser Ausgangspunkt ließe sich als „popperianisch“ bezeichnen, da die Idee der Jetztbegründung der Sache nach Poppers Basissätzen entspricht, vgl. Bäcker 2012, S. 179, dort Fn. 637.

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Diskursideals46 aufzugeben. Das Diskursideal beschreibt nicht einen unter allen Umständen idealen Diskurs, sondern nur noch eine im Rahmen einer bestimmten Kulturgeschichte gewachsene, gegenwärtige, anhand der Erfahrung und der Vernunft überprüfte Vorstellung eines idealen Diskurses. Die Leistungsfähigkeit der relativistischen Diskurstheorie sinkt damit gegenüber der klassischen Variante drastisch, ebenso wie der erkenntnistheoretische Anspruch. Die relativistische Diskurstheorie kann nicht mehr beanspruchen, daß in Diskursen absolute Wahrheiten oder Richtigkeiten wenigstens hypothetisch erreichbar wären, sondern nur noch, daß relative Wahrheiten oder Richtigkeiten das Ziel sein können. Sie taugt also nicht mehr als Theorie der Wahrheit oder Richtigkeit, verstanden als absolute Wahrheit oder Richtigkeit, die namentlich Habermas die Diskurstheorie als Konsensustheorie der Wahrheit versprechen läßt.47 Denn alle Diskursergebnisse sind zwingend auf das zugrundeliegende, historisch-kulturell kontingente und insofern selbst relative Diskursideal relativiert.48 Die diskursexterne Relativität diskursiver Verfahren setzt sich also aus zumindest zwei ganz unterschiedlichen Relativierungen zusammen. Die erste Relativierung ist die der bloßen Jetztbegründetheit. Sie ergibt sich aus der Ablehnung der transzendentalen Annahme der klassischen Diskurstheorie, es gäbe letztbegründete, universal gültige Regeln des Behauptens. Mit der Ablehnung dieser Annahme wird die Diskurstheorie zu einer relativistischen Theorie. Die zweite Relativierung ist die der Approximativität. Sie besteht, in der klassischen ebenso wie in der relativistischen Variante der Diskurstheorie, in der bloß approximativen Erfüllbarkeit der Rationalitätsforderungen, die in den idealen Diskursbedingungen des idealen Diskurses – oder des Diskursideals in der relativistischen Theorie – ausgestaltet sind. Zu diesen zwei metadiskursiven Relativierungen gesellt sich noch eine dritte diskursexterne Relativität. Das unterschiedliche Maß der Erfüllbarkeit der metadiskursiven Rationalitätsforderungen erlaubt es, in ihrer Ausgestaltung zu unterNäher zum Diskursideal Bäcker 2012, S. 128 – 131. Habermas 1984, S. 219, der ausführt: „Wahrheit meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsensus zu erzielen“. Habermas geht dabei nicht von tatsächlich durchgeführten Diskursen aus, die zu tatsächlichen Konsensen führen; er setzt ein ideales Kriterium voraus. Dieses ideale Kriterium ist die potentielle Zustimmung aller: „Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen“. – Relativiert wird der Anspruch der Konsensustheorie aber schon in seiner Entpotentialisierung, also seiner Realisierung in tatsächlichen Diskursen und tatsächlichen Konsensen. Die Zustimmung aller anderen ist aus tatsächlichen Gründen nicht einholbar. Hinzu kommt die fundamentalere Relativierung, nach der selbst die potentielle Zustimmung aller bloß historisch-kulturell kontingent ist. Habermas könnte freilich die potentielle Zustimmung aller unter allen Umständen und zu jeder Zeit zur Bedingung der Wahrheit machen. Eine solche Bedingung wäre aber ersichtlich allzuweit von der Realität entfernt, um noch brauchbar zu sein. 48  In der Konsequenz dieses Ansatzes muß nicht die Leugnung einer Existenz absoluter Wahrheit oder Richtigkeit liegen. Die relativistische Diskurstheorie bestreitet aber die menschliche Fähigkeit, eine solche Wahrheit jemals mit Gewißheit erkennen zu können. 46 

47 Vgl.

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schiedlichen Diskurssystemen zu gelangen, in denen zu unterschiedlichen, aber jeweils gleichermaßen relativ richtigen Ergebnissen gekommen werden kann. Es können also in verschiedenen Diskurssystemen diskursiv gleichermaßen richtige Ergebnisse produziert werden, die sich vom metadiskursiven Standpunkt aus betrachtet gleichrangig gegenüberstehen. Dies kann als Schwäche der Diskurspluralität bezeichnet werden. Nun ließen sich diese außerdiskursiven Relativitäten als ein notwendiges strukturelles Problem ansehen, da sie unter den begrenzten Bedingungen unserer Welt nicht zu umgehen sind. Damit ist zwar, im Sinne der relativistischen Lesart der Diskurstheorie, auf die Gewißheit der Erkenntnis einer absoluten Wahrheit zu verzichten. Aber in den Grenzen dieser Relativität könnte sich immerhin doch eine Wahrheit erreichen lassen, die zumindest im Rahmen des jeweiligen Diskurssystems solange als wahr gelten kann, wie unsere fundamentalen Annahmen der grundlegenden Argumentationsregeln nicht widerlegt werden. So gesehen wäre diese Relativität zu verschmerzen. Doch auch diese Annahme überschätzt noch die Leistungsfähigkeit der Diskurstheorie. Denn es besteht eine weitere erkenntnistheoretische Schwäche, die jedem Diskurs intern ist. Sie besteht in der Möglichkeit verschiedener gleichermaßen richtiger Antworten in einem Diskurs. Sowohl in der klassischen, ideali­ stischen Diskurstheorie als auch in der relativistischen Diskurstheorie ist es nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich möglich, in einem Diskurs verschiedene gleichermaßen diskursiv mögliche Antworten zu gerieren.49 Allein eine diskursiv notwendige oder, negativ formuliert, diskursiv unmögliche Antwort wäre aber, relativ auf den zugrundeliegenden Diskurs, einzig richtig.50 Diskursiv bloß mögliche Antworten sind dagegen nicht nur auf den zugrundeliegenden Diskurs relativ, sondern auch auf die übrigen diskursiv möglichen Antworten. Diese Schwäche beschreibt die Entscheidungsindefinität diskursiver Verfahren.51 Der Bereich relativer Wahrheit oder Richtigkeit, den die Diskurstheorie wegen der außerdiskursiven Schwächen ohnehin nur anbieten kann, schmilzt damit noch weiter auf diejenigen Antworten zusammen, die nicht bloß diskursiv möglich, sondern diskursiv notwendig bzw. unmöglich sind.

49  Dies gilt in der klassischen Diskurstheorie nicht nur für in jeder Hinsicht begrenzte, sondern selbst für potentiell unendliche und insofern ideale Diskurse. So ist es nach Alexy 1989, S. 114, „möglich […], daß auch nach einer potentiell unendlichen Diskursdauer von den Diskursteilnehmern noch miteinander unvereinbare Normen vertreten werden. Das Ergebnis der Prozedur wäre dann sowohl N als auch ¬N“. „Daß sowohl N als auch ¬N richtig sein können, heißt nicht mehr, als daß sowohl N als auch ¬N diskursiv möglich sein können“, S. 124. 50  Zu den diskursiven Modalitäten der Möglichkeit, der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit vgl. Habermas 1984, S. 241; Alexy 1978, S. 256 f.; Bäcker 2012, S.  222 – 224. 51 Vgl. Bäcker 2012, S. 162 – 164.

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These 7: Notwendige Relativität von Entscheidungen Mit der siebten These wird die Konsequenz aus der Relativität diskursiver Verfahren, die zur Relativität rationaler Begründungen führt, für alle Entscheidungen gezogen, die auf diskursiven Verfahren beruhen. Sie lautet: (T.7) Entscheidungen können nur relativ richtig sein.

T.7 ist die notwendige Folge der Zugrundelegung der Argumentationstheorie in Gestalt der Diskurstheorie als Theorie der rationalen Begründung. Entscheidungen können demnach nur relativ richtig sein. Mit T.6 sind sie, erstens, relativ in Bezug auf den zugrundeliegenden Diskurs, der seinerseits relativ auf die zugrundeliegenden Annahmen hinsichtlich der grundlegenden Argumentationsvoraussetzungen ist. Zweitens sind die Entscheidungen relativ auf die übrigen diskursiv möglichen Entscheidungen. Die Ausnahmslosigkeit, mit der T.7 von der Relativität von Entscheidungen ausgeht, speist sich allerdings aus der außerdiskursiven Relativität. Denn die diskursinterne Relativität ist nicht ausnahmslos; sie besteht nicht in den Fällen diskursiver Notwendigkeit oder Unmöglichkeit. Gerade die diskursinterne Relativität ist im rechtstheoretischen Kontext allerdings von größter Bedeutung. Denn sie fordert ein Modell des Rechts, in dem diese Relativität, die Schwäche der Entscheidungsindefinität des diskursiven Verfahrens, durch die Installation von Entscheidungsprozeduren in Gestalt eines Gesetzgebungsverfahrens und eines Gesetzesanwendungsverfahrens behoben wird. Ein solches Modell bietet die Diskurstheorie mit dem vierstufigen prozeduralen Modell des Rechts.52 Da es einer eigenen Untersuchung bedürfte, näher auf das vierstufige Modell und seine Probleme einzugehen,53 sei hinsichtlich der Auswirkungen der diskursinternen Schwäche hier nur festgehalten, daß die diskursive Entscheidungsindefinität nur durch außerdiskursive Entscheidungen für eine der diskursiv möglichen Entscheidungsalternativen überwunden werden kann. Die außerdiskursiven Entscheidungen sind als solche argumentativ nicht weiter begründbare Entscheidungen, bleiben insofern also, im Paradigma der Argumentationstheorie, letztlich irrational oder willkürlich. Das Erfordernis willkürlicher Entscheidungen ist dabei keine Schwäche der Argumentationstheorie selbst, sondern Ergebnis der Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Argumentationsfähigkeit unter den gegebenen Bedingungen unserer Welt. 52 Das vierstufige prozedurale Modell des Rechts umfaßt zwei diskursive und zwei entscheidungskompetente Stufen. Die erste Stufe besteht im allgemeinen praktischen Diskurs, dessen Entscheidungsindefinität auf der zweiten Stufe, dem demokratischen Gesetzgebungsverfahren, überwunden wird. Auf der dritten Stufe befindet sich der juristische Diskurs, in dem die Gesetze angewandt werden und dessen Entscheidungsindefinität auf der vierten Stufe durch richterliche Entscheidungen überwunden werden, vgl. grundlegend Alexy 1981, vereinfacht in Alexy 1985, S. 499 f. – Obwohl das vierstufige prozedurale Modell des Rechts die Verknüpfung von Diskurstheorie und Rechtssystem verkörpert, ist es bisher noch kaum rezipiert worden. 53 Vgl. Bäcker 2011.

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Diese Notwendigkeit außerdiskursiver Entscheidungen hat Folgen für den Anspruch der auf der Diskurstheorie fußenden Argumentationstheorie, einen dritten Weg zwischen dem Dezisionismus des Ermessensmodells und dem Determinismus des Erkenntnismodells anbieten zu können. Denn auch mit dem Argumentationsmodell läßt sich eine Entscheidung nicht in jedem Fall vollständig argumentativ rechtfertigen. Das Argumentationsmodell bietet aber, im Gegensatz zu den anderen Modellen, eine Methode oder Prozedur der Rechtfertigung an, die gewährleistet, daß soweit wie möglich begründet wird. Erst wenn es keine Argumente mehr gibt, also nicht weiter begründet werden kann, läßt das Argumentationsmodell außerdiskursive Entscheidungen zu.54 Nur das Argumentationsmodell führt damit immer zu so weit wie möglich begründeten Entscheidungen. Da das Argumentationsmodell zwar nicht zur Gewißheit, aber doch zu einer optimalen Rationalität – verstanden als möglichst weitgehende Begründetheit55 – führt, bietet es die Rationalität als dritten Weg zwischen Erkennen und Ermessen an.56 Das Argumentationsmodell ermöglicht es so, die Forderung nach Rationalität, die an Entscheidungen gestellt wird,57 so weit wie möglich einzulösen. Mehr als das, mehr als optimale Rationalität, kann nicht erreicht und daher auch nicht gefordert werden. Die in T.7 formulierte Einsicht in die notwendige Relativität von Entscheidungen führt zu dem Bedürfnis, die Relativität – die schon nicht aufgehoben werden kann – zumindest zu verringern. Dieses Bedürfnis nimmt die achte These auf.

These 8: Postulat möglichst weitgehender Begründung Die Relativität von Entscheidungen kann, solange sie aus Sicht der Diskurstheorie notwendig ist, niemals vollkommen zurückgedrängt werden. Insbesondere die unter T.6 beschriebene metadiskursive Relativität wäre nur unter den Bedingun54  In diese Richtung auch Neumann 2005, S. 384: „Auch dort, wo der kognitive Bereich überschritten ist, geht es im Bereich des Rechts nicht um pure Dezision, sondern um begründetes Entscheiden“. 55  Ähnlich schon Sieckmann, S. 240, der ausführt: Entscheidungen, „denen keine Rationalitätsmängel nachgewiesen werden können, und die daher beanspruchen können, das Rationalitätsgebot soweit wie möglich zu erfüllen, sind als rational begründet anzusehen“. 56  Damit soll nicht gesagt sein, daß sich das Ermessensmodell, das Erkenntnismodell und das Argumentationsmodell als Antipoden gegenüberstehen müssen. Jedenfalls gibt es im Argumentationsmodell des Rechts Elemente des Ermessens (etwa in Abwägungen) und des Erkennens (etwa in Subsumtionen). Darüber hinaus kann angenommen werden, daß auch Kelsen einem Argumentationsmodell des Rechts beipflichten könnte, solange die Argumente bis zur Stufe des Ermessens allein dem positiven Recht entstammen. Hieran anknüpfend wäre es eine eigene Untersuchung wert, ob sich das Argumentationsmodell als Modell der juristischen Argumentation mit einer solchen Beschränkung auf das positive Recht vereinbaren ließe. Mir scheint das Argumentationsmodell des Rechts im Grundsatz mit dem Rechtspositivismus ebenso vereinbar wie mit dem Nichtpositivismus, vgl. Bäcker 2012, S. 324; für eine diskurstheoretische Antwort auf die Positivismusfrage vgl. Bäcker 2015, S. 293 – 308. 57  Vgl. etwa Horn, S. 146: „Es wird Rationalität gefordert“.

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gen einer anderen, idealen Welt zu vermeiden. Auch die diskursive Schwäche der Entscheidungsindefinität kann nicht aufgehoben werden, sie besteht theorieimmanent. Allerdings können die Auswirkungen der erkenntnistheoretischen Relativität beschränkt werden. Auf die Beschränkung dieser Auswirkungen ist der größte Wert zu legen. Namentlich die in der relativistischen wie in den klassischen Varianten der Diskurstheorie bestehenden Auswirkungen der Schwäche der Approximativität werden beschränkt, wenn die Diskurse im Rahmen der tatsächlichen Möglichkeiten möglichst weitgehend an den Rationalitätsforderungen ausgerichtet werden. Diese Rationalitätsoptimierung läßt sich durch die Einführung normativer Sätze, der Diskursprinzipien, transportieren.58 Die Diskursprinzipien verlangen eine möglichst weitgehende Realisierung der fundamentalen Rationalitätsforderungen, letztlich des Diskursideals, relativ auf die gegebenen tatsächlichen Diskursbedingungen. Sie gebieten, einen optimalen Diskurs zu führen. Damit stellen die Diskursprinzipien die normative Ausgestaltung des Postulats der Optimierung der Diskurs­ umstände dar. Dieses fundamentale diskurstheoretische Postulat lautet: Um ein Höchstmaß an Rationalität zu erreichen, ist alles daran zu setzen, die Umstände der tatsächlichen Diskurse nach Maßgabe des Diskursideals zu optimieren. Ein optimaler Diskurs führt zu einer Argumentation, die relativ auf die gegebenen Argumentationsbedingungen möglichst rational ist. Je rationaler die Diskurse sind, umso rationaler sind die Diskursergebnisse. Die optimale Rationalität der Argumentation überträgt sich daher auf die auf ihrer Grundlage erlangten Entscheidungen. Nur so kann es gelingen, auch die Auswirkungen der diskursinternen Relativität zu verringern. Diese wird auf ein Mindestmaß beschränkt, wenn Entscheidungen im Rahmen möglichst rationaler Diskurse möglichst weitgehend begründet werden. Zu dem Postulat der Optimierung der Diskursumstände tritt damit das Postulat möglichst weitgehender Begründung. Diesem Postulat verleiht die achte These Ausdruck: (T.8) Entscheidungen sind möglichst weitgehend zu begründen.

Mit T.8 ist die Konsequenz aus der begrenzten Leistungsfähigkeit der Argumentation im Sinne der Diskurstheorie gezogen. Zwar ist es, in allen Varianten der Diskurstheorie, nicht zu vermeiden, daß im Falle mehrerer diskursiv möglicher Antworten eine außerdiskursive Entscheidung für eine dieser Antworten getroffen werden muß. Es bedeutet aber dennoch einen erheblichen Rationalitätsgewinn, zumindest bis zu dieser Schwelle gleichoptimaler Rationalität diskursiver Möglichkeit zu argumentieren.

58 Zu

den Diskursprinzipien, dem darauf gründenden eindimensionalen Drei-Ebenen-Modell des Diskurses und den Vorzügen dieses Modells gegenüber dem herrschenden zweidimensionalen Modell vgl. Bäcker 2012, S. 127 – 170.

Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen?

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These 9: Anspruch auf relative Richtigkeit juristischer Entscheidungen Für den juristischen Kontext ergeben sich aus der vorgetragenen, diskurstheoretischen Analyse verschiedene Konsequenzen. Stellvertretend soll hier nur die für das behandelte Thema bedeutsamste Konsequenz betrachtet werden: der Anspruch, mit dem juristische Entscheidungen zu fällen sind. Juristische Entscheidungen, etwa des Richters, des Staatsanwaltes oder des Gesetzgebers, sind, wie alle Entscheidungen, aus diskurstheoretischer Perspektive immer nur relativ richtig. Angesichts der diskursexternen Schwäche der Relativität des Diskursideals kann es auch von vornherein nie darum gehen, absolut richtige Entscheidungen zu finden. Aber auch relativ auf das Diskursideal als herrschendes Rationalitätsverständnis und auf das positive Recht als herrschendes Kriterium des juristischen Diskurses ist angesichts der diskursinternen Schwächen nur zu beanspruchen, daß die Entscheidungen möglichst weitgehend rational sind.59 Den korrespondierenden Anspruch auf eine möglichst weitgehende Rationalität und damit auf eine relative Richtigkeit hat der Jurist allerdings zu erheben.60 Die neunte These lautet daher:61 (T.9) Juristische Entscheider erheben den Anspruch auf relative Richtigkeit.

Eine möglichst weitgehende Rationalität ist nur in möglichst rationalen Diskursverfahren zu erreichen, die so weit wie möglich durchzuführen sind. Entscheidend für das Ausmaß der Rationalität einer juristischen Entscheidung ist demnach, neben dem Grad der Rationalität des positiven Rechts, das Ausmaß der Rationalität der zugrundeliegenden Argumentation. Ist die zugrundeliegende Argumentation so rational wie möglich, wird auch die Entscheidung so rational wie möglich sein.62 59  Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung gelangte Müller, S. 71: „Die Notwendigkeit ‚maximaler‘ Rationalität der Rechtsfindung folgt aus der Unmöglichkeit ihrer vollständigen Rationalität; eine solche anzunehmen, hieße den mitkonstitutiven Entscheidungs- und Wertungscharakter von Recht verkennen“. Dabei beruht Müllers Feststellung freilich nicht auf einer diskurstheoretischen Herleitung, sondern auf einer „topischen Hermeneutik“, S. 76. 60 Der Anspruch auf relative Richtigkeit, den der juristische Entscheider, etwa der Richter, erheben muß, bedeutet eine Abkehr vom Ideal der einzig richtigen Antwort. Die herrschende Meinung unter den Argumentationstheoretikern hält dagegen daran fest, den Richter einen Anspruch auf absolut richtige Entscheidungen, zumindest als regulative Idee, erheben zu lassen, so insbesondere Neumann 2004, S. 342; ders. 2004a, S. 39 – 41; auch Habermas 1994, S. 277; wohl auch Alexy 1988, S. 304; ders. 2004, S. 359 f. Näher zum Problem Bäcker 2012, S. 326 – 334. 61  Ähnlich schon MacCormick, S. 282: „It makes sense to demand that judges strive after ,correctness‘ in their decision making and to seek the best decision within the limits of the law and the bounds of practical reasonableness“ (Hervorhebung eingefügt). 62  Vereinfachend könnte eine Entscheidung dann als rational (begründet) bezeichnet werden, wenn sie so rational wie möglich (begründet) ist. – Es wäre zu entgegnen, daß ein solcher Sprachgebrauch die Relativität der Rationalität verschleiert. Die Gleichsetzung des Höchstmaßes an Rationalität als idealem Begriff mit der Rationalität als realem Begriff hät-

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Daran ändert auch die zu konstatierende Notwendigkeit willkürlicher Entscheidungen im Recht nichts. Das Eingeständnis der Notwendigkeit außerdiskursiver und insofern willkürlicher Entscheidungen im Recht bietet aber eine theoretische Erklärung für die etwa von Kaufmann beobachtete Tatsache, daß „in gerichtlichen Verfahren und in der juristischen Methodenlehre nichtrationale Momente, insbesondere Dezision und Macht, eine […] große Rolle“63 spielen. Die Einsicht in die Notwendigkeit solcher irrationaler Elemente in juristischen Entscheidungen sollte indes nicht dazu führen, diese Elemente hinzunehmen. Sie muß dazu anregen, diese Elemente offenzulegen und sie zu minimieren.64 Der Weg zur Minimierung willkürlicher Elemente im juristischen Entscheiden ist aus diskurstheoretischer Perspektive vorgezeichnet. Er besteht in drei Schritten. Zunächst (1) ist die Existenz dieser willkürlichen Elemente einzugestehen, dann (2) sind die Umstände des juristischen Diskurses im Sinne des Diskursideals zu optimieren, um (3) die optimale Rationalität des Entscheidens durch möglichst weitgehendes, argumentatives Begründen in der juristischen Praxis zu gewährleisten.

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Was bedeuten Begründungen für juristische Entscheidungen?

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Carsten Bäcker

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Vom Nutzen der Rechtstheorie für die angewandte Ethik Spezifizierung, Abwägung und Kasuistik in der Bioethik Norbert Paulo Die Rechtstheorie hat als eines der Grundlagenfächer an juristischen Fakultäten einen schweren Stand. Wie der Wissenschaftsrat 2012 richtig konstatiert hat, wird sie zunehmend marginalisiert und in Forschung und Lehre zu Gunsten solcher Bereiche der Rechtswissenschaft eingeschränkt, die von sich eine größere Praxisrelevanz behaupten.1 Wenn letzteres der Maßstab ist, scheint der weitere Weg der Marginalisierung vorgegeben zu sein. Schließlich behaupten die vor allem rekonstruktiv vorgehenden Grundlagenfächer nicht primär Praxisrelevanz in diesem recht oberflächlichen Sinne; ihnen geht es vielmehr zunächst darum, das Recht zu verstehen. Dass aus einem besseren Verständnis Kritik und Potential für Verbesserungen des Rechts – auch der Rechtspraxis – erwachsen können, muss in einem Band, der interdisziplinären Aspekten der Rechtswissenschaft gewidmet ist, wohl nicht weiter erläutert werden. In diesem Sinne ist die Rechtstheorie als ein Grundlagenfach natürlich praxisrelevant. Ich möchte in diesem Beitrag den Versuch unternehmen, zu zeigen, dass diese Praxisrelevanz keineswegs nur auf das Recht selbst beschränkt ist, sondern viele Einsichten bereit hält, die auch für andere normative Bereiche informativ sind. Konkret möchte ich darlegen, wie die Bioethik von der rechtstheoretischen Methodendiskussion lernen kann, ihre eigenen Methoden zu verbessern. Ich versuche mithin, den üblichen Erkenntnisweg umzudrehen. Normalerweise greifen die Grundlagenfächer auf Erkenntnisse aus Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Linguistik oder Geschichte zu, um damit die Rechtswissenschaft zu bereichern. Mein Weg geht andersherum. Ich biete den Ethikerinnen einen Einblick in die Rechtswissenschaft, den sie für die Ethik fruchtbar machen können.2 Es wird sich zeigen, dass dieser Zugang noch einen zweiten Blick über den Tellerrand nahe legt. Nachdem ich im Hauptteil gezeigt habe, wie eine Prinzipienethik, die dem kontinentaleuropäischen Civil Law strukturell sehr nahe steht, von ebenjenem lernen kann, möchte ich nämlich am Ende des Beitrags andeuten, dass die Methoden des Common Law interessante Einsichten für eine andere ethische Tradition, nämlich die Kasuistik, bereithalten. 1 Siehe

den Bericht des Wissenschaftsrats „Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen“. 2  Ausführlicher hierzu Paulo (im Erscheinen b).

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Norbert Paulo

I.  Recht und Ethik: Normen und Methoden3 Warum ein solcher Versuch, Lerneffekte zu erreichen, im Bereich der Methoden besonders vielversprechend ist, zeigt eine einfache Überlegung. Ethikerinnen und Juristinnen stellen sich ganz ähnlichen Problemen. Sie müssen unter Rückgriff auf abstrakte und generelle Normen konkrete und individuelle Fragen beantworten.4 Und sie müssen dies auf eine Art und Weise tun, die transparent und rational nachvollziehbar ist. Kurz: Ethikerinnen und Juristinnen müssen einen methodengeleiteten Umgang mit Normen beherrschen. Denken Sie nur an Fragen wie diese: Sollte eine Ärztin aus moralischer Sicht den ernsthaften und wiederholt vorgebrachten Sterbewunsch einer Patientin respektieren und sie bei dessen Umsetzung unterstützen? Auch wenn die Patientin Anzeichen von Depression zeigt? Ändert sich die Bewertung, wenn diese Anzeichen eine Folge der wiederholten Zurückweisung ihres Wunsches sind? Um solche und andere schwierige Fragen zu beantworten, benötigt man einen normativen Referenzrahmen. Juristinnen werden im Medizin(straf)recht nachsehen. Medizinethikerinnen haben es etwas schwerer.5 Ihnen ist nämlich kein Normensystem vorgegeben. Das heißt aber natürlich nicht, dass sie keines hätten. Nun hat sicher nicht jeder Mensch ein expliziertes System moralischer Normen. Aber je professionalisierter die Beschäftigung mit der Bioethik ist – denken Sie nur an die Mitglieder von Ethikkommissionen, des Ethikrates oder an die Fachleute in bioethischen Forschungszentren – desto expliziter und reflektierter ist üblicherweise das jeweils in Anschlag gebrachte moralische Referenzsystem. Ethik, auch angewandte Ethik, ist mehr als ein Rosinenpicken aus zufällig zusammengewürfelten moralischen Erwägungen. Die angewandte Ethik ist aber andererseits auch schon lange über den Punkt hinaus, den ganz klassischen Moral­ traditionen treu zu bleiben und zu versuchen, Fragen wie die gerade angedeutete zur Sterbehilfe allein mittels der klassischen Moralprinzipien zu beantworten.6 Ob man nun mit dem Utilitätsprinzip fragt, welche Lösung zum größten Glück bei der größten Zahl von Menschen führen würde, oder ob man sich am Kantischen Ich greife hier und im Folgenden teilweise zurück auf meinen Aufsatz: Paulo 2015. beschränke mich auf Prinzipienethiken und blende damit solche Positionen aus, die meinen, in der Ethik ohne Generalisierungen auskommen zu können (oder zu müssen), vgl. etwa Dancys Partikularismus (2004) und Gesangs Verteidigung des Generalismus (2000). Zum Skeptizismus der ethischen Kasuistik in Bezug auf Prinzipien komme ich am Ende kurz zu sprechen. 5  Gleiches gilt für konkrete Fragen in anderen Bereichen der angewandten Ethik, bspw. die Wirtschaftsethik, die Umweltethik oder die Tierethik. Ich beschränke mich in diesem Beitrag aus Platzgründen auf die Medizinethik (die ich im Übrigen synonym mit „Bioethik“ verwende). 6  Inzwischen sollte deutlich geworden sein, dass ich die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ synonym verwende. Weder in der Umgangssprache noch innerhalb der akademischen Philosophie hat sich eine klare Unterscheidung beider Begriffe herausgebildet. Ich hoffe, dass in meinen Ausführungen im jeweiligen Kontext deutlich wird, ob ich eher auf konkrete Regeln oder auf das Theoretisieren über solche Regeln Bezug nehme – ersteres wird teilweise als Moral, letzteres als Ethik bezeichnet, vgl. etwa von der Pfordten, S. 1 ff. 3 

4  Ich

Vom Nutzen der Rechtstheorie für die angewandte Ethik

255

kategorischen Imperativ orientiert und überlegt, welche im konkreten Fall handlungsleitende Maxime so beschaffen ist, dass man von ihr zugleich wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz werde – welches klassische Moralprinzip man auch immer in Anschlag bringt, ein Problem wird schnell offensichtlich: Diese Prinzipien sind zu abstrakt, um eine klare Entscheidung in konkreten medizinethischen Fragen vorzugeben. Aus diesem Grund hat sich in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Aufkommen immer neuer Möglichkeiten der Medizin die angewandte Ethik als eigene philosophische Disziplin herausgebildet und verbreitet aus den klassischen Moralprinzipien solche Prinzipien entwickelt, die konkreter sind und somit die handlungsleitende Funktion der Moral besser erfüllen. Es handelt sich also um eine Ausdifferenzierung, wie auch das Recht sie durchgemacht hat. Tom Beauchamp und James Childress etwa haben vier ethische Prinzipien vorgeschlagen, die den gesamten Bereich der Medizinethik erfassen und handlungsleitender sein sollen als die klassischen Moralprinzipien. Diese vier Prinzipien sind weithin bekannt: Respekt vor Autonomie (respect for autonomy), Nichtschaden (nonmaleficence), Wohltun (beneficence) und Gerechtigkeit ( justice).7 Allerdings sind sie noch immer zu abstrakt, als dass sie klare Entscheidungen in konkreten medizinethischen Fragen vorgeben könnten. In der Ethik wie im Recht bedarf es neben der Normen noch geeigneter Methoden zur Konkretisierung und Anwendung von Normen. Schließlich erwarten wir, dass zwischen der Einzelfallentscheidung und den in Anschlag gebrachten Prinzipien eine Beziehung besteht. Beauchamp und Childress nutzen für ihre medizinethische Theorie, den principlism, vor allem zwei Methoden, nämlich Spezifizierung (specification) und Abwägung (balancing). Beide Methoden sollen helfen, unter Rückgriff auf die Prinzipien Einzelfallentscheidungen transparent zu treffen und zu rechtfertigen. Beides ist eminent wichtig im Umgang mit schwierigen medizinethischen Fragen, über die oftmals kein gesellschaftlicher Konsens besteht.8 Im Folgenden versuche ich am Beispiel des einflussreichen Verständnisses der Methoden der Abwägung und der Spezifizierung bei Beauchamp und Childress anzudeuten, wie die Rechtstheorie die Methodendiskussion in der angewandten Ethik bereichern kann. Schließlich beschäftigen sich Juristinnen schon seit sehr langer Zeit mit Methodenfragen. In der Ethik werden solche Fragen erst seit wenigen Jahrzehnten ausführlicher diskutiert, nämlich erst seitdem die Ethik durch die immer neuen technischen Entwicklungen und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit in Erklärungsnot geraten und die hinter all den metaethischen Debatten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange verborgene Leitfrage der Ethik – Was soll ich tun? – wieder in den Vordergrund getreten ist. Die Beantwortung dieser Leitfrage bedarf einer normativen Grundlage und geeigneter Methoden. In der Ethik ist es sicherlich leichter als im Recht, sich der bindenden Kraft eines bestimmten Regelsystems zu entziehen. Selbst wenn man eine bestimmte Rechtsnorm für inhaltlich falsch hält, für ineffizient etwa oder für un7 Vgl.

Beauchamp/Childress, S. 101 ff. Quante, S. 9 ff.

8 Siehe

256

Norbert Paulo

moralisch, ist man grundsätzlich weiter an sie gebunden. Dies gilt nicht in gleicher Weise für die Ethik. Wenn man bspw. den principlism nicht weiter als individuell leitend ansehen möchte, weil er nicht die Menschenwürde als höchstes Gut schützt, ist man frei darin, sich ein alternatives System zu suchen oder selbst zu entwickeln. Es besteht also ein Unterschied auf der Bindungsebene zwischen Recht und Ethik. Auf der Ebene der Methoden besteht dieser Unterschied hingegen nicht. Egal welches System man konkret vertritt, man wird immer vor dem Problem stehen, die jeweiligen Normen transparent und rational mit konkreteren Normen und mit Einzelfallentscheidungen verbinden zu müssen. Dem Problem kann man nur entgehen, wenn man den Anspruch auf Systematizität, Transparenz und Rationalität aufgibt.

II. Spezifizierung Ich habe schon gesagt, dass ich mich zunächst exemplarisch auf zwei Methoden konzentrieren möchte – die Abwägung und die Spezifizierung. Wenn hier von Spezifizierung die Rede ist, dann ist nicht bloß das metaphorische Verständnis, dass etwas spezifischer gemacht wird, gemeint. Gemeint ist die Methode der Spezifizierung wie sie von dem Philosophen Henry Richardson entwickelt und in die medizinethische Debatte eingeführt wurde.9 David DeGrazia hat das Potential dieser Methode speziell für den principlism erkannt und bezeichnet die Methode als „the most significant contribution to bioethical theory in some time“.10 Was aber ist diese Spezifizierung? Grob gesagt geht es bei ihr darum, eine Norm spezifischer zu machen, indem man ihren Anwendungsbereich verringert. Dies geschieht durch die Hinzufügung von Bedingungen, die bspw. spezifizieren wo, wann, wie und durch wen eine Handlung vorzunehmen ist. Spezifiziert wird also nicht durch die Feststellung der Bedeutung der Terme der Norm (Interpretation), sondern durch die Verringerung des Anwendungsbereichs der Norm. Dadurch soll ihre Anwendung im Einzelfall Schritt für Schritt leichter werden. Richardson geht davon aus, dass das Phänomen der Moral so komplex ist, dass wir nie in der Lage sein werden, tatsächlich universell gültige Moralprinzipien zu formulieren. Stattdessen, so Richardson, müssen wir uns mit prima facie-Normen begnügen, die immer offen sind für Ausnahmen und sogar für Revisionen. Diese Sichtweise passt zu vielen Theorien in der angewandten Ethik. Und sie hat eine entscheidende Auswirkung in methodischer Hinsicht: Wenn wir es in der Ethik immer mit prima facie-Normen zu tun haben, dann können wir nicht aus diesen Normen deduzieren, weil die Deduktion gerade das Vorhandensein einer universellen Norm voraussetze.11 Die Spezifizierung soll also gerade dort eine stabile Verbindung zwischen abstrakten und konkreteren Normen bzw. Einzelfalllösungen herstellen, wo die Deduktion als Option ausfällt. Zugleich soll die Spezifizierung rationaler sein als die eher

Richardson 1990. DeGrazia, S. 524. 11  Richardson 2000, S. 287 ff. 9 Siehe

10 

Vom Nutzen der Rechtstheorie für die angewandte Ethik

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intuitionistische Abwägung. Wie genau funktioniert also die Spezifizierung? Hier ist Richardsons Definition: „Norm p is a specification of norm q (or: p specifies q) if and only if (a) norms p and q are of the same normative type; (b) every possible instance of the absolute counterpart of p would count as an instance of the absolute counterpart of q (in other words, any act that satisfies p’s absolute counterpart also satisfies q’s absolute counterpart); (c) p specifies q by substantive means … by adding clauses indicating what, where, when, why, how, by what means, by whom, or to whom the action is to be, is not to be, or may be done or the action is to be described, or the end is to be pursued or conceived; and (d) none of these added clauses in p is irrelevant for q.“12

Diese Definition klingt etwas obskur, u.a. weil sie mit kontrafaktischen Annahmen arbeitet. Sie soll für universelle und für nicht-universelle (also prima facie-) Normen funktionieren. Bei nicht-universellen Normen soll man sich immer fragen, wie die Spezifizierungsrelation bei dem universellen Gegenstück (absolute counterpart)13 der Norm aussehen würde. Davon abgesehen zeigen Richardsons Erläuterungen zu der Definition, dass es vor allem auf die Kriterien (b) und (c) ankommt. Die Idee ist demnach, dass eine Norm p eine Spezifizierung einer Norm q ist, wenn jeder Fall von p auch immer ein Fall von q ist (Kriterium b) und wenn p tatsächlich spezifischer als q ist, weil Bedingungen hinzugefügt wurden (Kriterium c). Kriterium (b) sorgt also für die Einengung des Anwendungsbereichs der ursprünglichen Norm während (c) sagt, wie diese Einengung zu geschehen hat, nämlich durch die Hinzufügung von Bedingungen.14 Eine Definition der ‚Respekt vor Autonomie‘-Norm im principlism als ‚erlaube kompetenten Personen, ihre Freiheitsrechte auszuüben‘ wäre demnach keine Spezifizierung, weil sie Richardsons Kriterien nicht erfüllt.15 Sie engt den Anwendungsbereich der Autonomienorm nicht ein, sondern expliziert nur ihre Bedeutung. Eine Spezifizierung wäre etwa: „Respektiere die Autonomie von Menschen, indem du als Ärztin den Sterbewunsch einer Patientin respektierst.“ Diese Norm könnte man weiter spezifizieren: „… indem du sie bei der Umsetzung des Sterbewunsches unterstützt“, und weiter: „… auch wenn die Patientin Anzeichen von Depression zeigt“, und noch weiter: „… jedenfalls wenn diese Anzeichen eine Folge Richardson 1990, S. 295 f. Der hier zitierte Aufsatz von Richardson findet sich auf Deutsch in dem sehr hilfreichen, von Rauprich/Steger herausgegebenen Band. 13  Richardsons Begrifflichkeiten sind mitunter nicht sehr gut gewählt. Was er als „absolute“ bezeichnet, übersetze ich hier als „universell“. Gemeint ist eigentlich, dass universelle bzw. absolute Normen solche sind, die all-quantifiziert sind. Eine Norm der Form „Für alle x,y,z gilt: Wenn X, dann soll Y“ wäre also universell bzw. absolut; sie ist nicht offen für Ausnahmen. 14  Die Kriterien (a) und (d) sind eher Randkriterien; ich lasse sie im Weiteren außer Acht. 15 Vgl. Beauchamp, S. 310 ff. 12 

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der wiederholten Zurückweisung ihres Wunsches sind.“ Dieses Beispiel zeigt, wie der Anwendungsbereich der Ursprungsnorm durch die Hinzufügung von Bedingungen immer weiter eingeengt werden kann.16 1.  Spezifizierung als formale Relation Für das Verständnis der Spezifizierung als Methode ist es wichtig, zu sehen, dass sie lediglich eine formale Relation zwischen zwei Normen – einer abstrakteren und einer spezifischeren – ist. Die Spezifizierung selbst liefert keinerlei Kriterien für die Rechtfertigung einer Norm. Ebenso wenig gibt sie selbst Kriterien für die Wahl zwischen verschiedenen möglichen Spezifizierungen einer abstrakten Norm an. Im genannten Sterbehilfe-Beispiel wären Richardsons Kriterien für Spezifizierung etwa auch hiermit erfüllt: „Respektiere die Autonomie von Menschen, indem du als Ärztin den Sterbewunsch einer Patientin respektierst, indem du sie bei der Umsetzung des Sterbewunsches unterstützt, es sei denn die Patientin zeigt Anzeichen von Depression.“ Die Frage, ob nun diese Spezifizierung oder die oben vorgeschlagene besser ist, wird nicht von der Spezifizierungsrelation beantwortet.17 Für diese Auswahl zwischen alternativen Spezifizierungen greift Richardson auf das weite Überlegungsgleichgewicht zurück18, wie es seit John Rawls diskutiert wird und vor allem von Norman Daniels weiterentwickelt wurde. Diese Bezugnahme passt zwar wiederum gut zum principlism bei Beauchamp und Childress, ist allerdings nicht zwingend. Man kann die Spezifizierung ebenso gut mit anderen Rechtfertigungstheorien verbinden, z. B. mit Formen des Utilitarismus, des Kantianismus, der Kasuistik oder einfach mit dem Mehrheitsprinzip. Nicht zu sehen, dass die Spezifizierung eine rein formale Relation zwischen zwei Normen und kein materiales Prinzip ist, ist ein zentrales Missverständnis, dem ein Großteil der Literatur unterliegt.19 Diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten, ist in der Rechtstheorie Allgemeingut. Bei Robert Alexy heißt die formale Relation – bei ihm die Deduktion – interne Rechtfertigung, während die materialen Rechtfertigungsprinzipien „extern“ genannt werden.20 Bei Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann ist die Rede von Haupt- und Nebenschema.21 Der Punkt ist der gleiche: Die formale Relation ist unabhängig von den in Anschlag gebrachten materialen Prinzipien. So trivial der Punkt erscheinen mag. Er ist als Vorbedingung von formaler Gerechtigkeit und Regelanwendungsgleichheit ein Kernelement von Transparenz und Gerechtigkeit.22

Für eine komplette Falllösung mittels Spezifizierung siehe Rauprich. Tomlinson, S. 64. 18 Siehe Richardson 1990, S. 300. 19  Vgl. etwa Strong, S. 323 ff. oder Quante/Vieth, S. 5 ff. 20  Alexy 1983, S. 273 ff. 21  Koch/Rüßmann, S. 48 ff. 22  Vgl. nur Perelman, S. 9 ff. und Rawls, S. 78 und 265 ff. 16 

17 Vgl.

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2.  (Keine) Trennung zwischen Normentwicklung und Anwendung Die Spezifizierung bringt als Methode auch in dem engeren Verständnis als formale Relation zwischen zwei Normen eine Reihe von Problemen. Ich möchte hier nur eines davon hervorheben, nämlich die fehlende Trennung zwischen Normentwicklung und Normanwendung23 – auch dies ist eine Unterscheidung, die in der Rechtstheorie zentral ist. Es ist zunächst überraschend, dass Richardson zwar eigentlich das Ziel vor Augen hatte, unter Rückgriff auf abstrakte Normen konkrete Fälle oder Probleme zu lösen, er dieses Ziel dann aber bereits auf Normebene als erfüllt ansieht. Spezifizierung beginnt mit einer abstrakten Norm und endet mit einer spezifischeren Norm. Keine Norm beantwortet aber konkrete und individuelle Fälle oder Probleme. Jede Norm, sei sie noch so spezifisch, bedarf der Anwendung auf das konkrete und individuelle Problem. Es scheint also, als wäre die Spezifizierung ein Mittel zur Weiterentwicklung des jeweiligen Moralsystems und kein Mittel zur Lösung konkreter Probleme. Richardson hat natürlich Recht, dass es immer leichter wird, Normen anzuwenden, je spezifischer sie formuliert sind. Aber das macht die Anwendung dieser Norm nicht irrelevant. Selbst eine recht spezifische Norm wie „Respektiere die Autonomie von Menschen, indem du als Ärztin den Sterbewunsch einer Patientin respektierst, indem du sie bei der Umsetzung des Sterbewunsches unterstützt, es sei denn die Patientin zeigt Anzeichen von Depression“ bedarf noch der Anwendung im Einzelfall. Es muss noch festgestellt werden, ob die Bedingungen der Norm bei der konkreten Patientin erfüllt sind. Man wird um eine Interpretation der Norm (sowie der Fall- oder Problembeschreibung) nicht umhin kommen, um die Kluft zwischen Norm und Einzelfall zu überbrücken. Insbesondere Koch und Rüßmann haben sich darum verdient gemacht, herauszuarbeiten, wie interpretativ und logisch komplex diese Überbrückung selbst in einfach gelagerten Fällen ist.24 Man muss die Spezifizierung also von einem Teil der ihr zugedachten Aufgabe befreien. Sie allein kann keine Einzelfälle beantworten. Zum einen ist sie nur eine formale Relation zwischen zwei Normen, die nicht selbst vorgibt, welche von mehreren möglichen Spezifizierungen gewählt werden soll. Zum anderen verbleibt sie per definitionem auf der Normebene und erreicht nie die Ebene des Einzelfalls. Beide Probleme sind aber behebbar, indem man die Spezifizierung explizit mit einer Rechtfertigungstheorie verbindet und in ein System verschiedener Methoden der Normanwendung und Normentwicklung25 einbettet. Sie selbst würde dabei zu Letzteren gehören. Derart eingebettet kann Spezifizierung sinnvoll sein – speziell Für eine ausführliche Diskussion weiterer Probleme siehe Paulo (im Erscheinen a). Koch/Rüßmann, S. 14 ff. und 48 ff. 25  Ich unterscheide Normanwendung und Normentwicklung in der Weise, dass erstere mit gegebenen Normen arbeitet und diese unverändert lässt, während letztere das jeweilige normative System immer verändert, sei es durch die Hinzufügung neuer Normen oder durch die Revision bestehender Normen. 23 

24 

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für ethische Theorien, die üblicherweise nicht den Detailgrad eines Rechtssystems haben (sollen).

III. Abwägung Im Gegensatz zu Richardson sehen Beauchamp und Childress die Spezifizierung nicht als eine Alternative zur Methode der Abwägung, sondern als deren Ergänzung.26 Während die Spezifizierung eher der Weiterentwicklung des ethischen Normsystems dient, indem sie die Generierung immer konkreterer Normen ermöglicht, ist die Abwägung eher für Einzelfallentscheidungen relevant. Insbesondere kommt es auf die Abwägung an, wenn zwei prima facie-Normen miteinander in Konflikt geraten. Und dies geschieht in Prinzipienethiken wie dem principlism andauernd. Es ist geradezu die Grundidee solcher Prinzipienethiken, dass die jeweiligen ethischen Prinzipien nicht hierarchisch oder lexikalisch geordnet sind, sondern ihr Gewicht nur im konkreten Einzelfall bestimmt werden kann. Während im obigen Sterbehilfe-Beispiel das Prinzip des Respekts vor Autonomie das Nichtschadensprinzip überwiegen könnte, mag dieses Verhältnis in anders gelagerten Fällen anders sein. Es gibt keinen abstrakten Vorrang eines Prinzips über irgendein anderes. Die Vorrangbeziehungen können nur in konkreten Einzelfällen bestimmt werden. Wie aber findet diese Bestimmung statt? Beauchamp und Childress versuchen dem Einwand, Abwägung sei ein rein intuitiver Vorgang und mithin anfällig für Irrationalität, zu begegnen, indem sie Kriterien benennen, die erfüllt sein müssen, um Einschränkungen von Prinzipien im principlism rechtfertigen zu können. Und zwar diese: „1. Good reasons can be offered to act on the overriding norm rather than on the infringed norm. 2. The moral objective justifying the infringement has a realistic prospect of achievement. 3. No morally preferable alternative actions are available. 4. The lowest level of infringement, commensurate with achieving the primary goal of the action, has been selected. 5. Any negative effects of the infringement have been minimized. 6. All affected parties have been treated impartially.“27

Diese Kriterien sind insgesamt hilfreich. Jedoch trifft dies nicht auf alle zu. Problematisch ist ferner, dass sie unsystematisiert nebeneinander stehen und einfach ad hoc, ohne weitere Begründung, eingeführt werden. Drei dieser sechs Kriterien – nämlich 1, 3 und 6 – kann man direkt als wenig hilfreich beiseitelegen. Kriterium 1 ist extrem unbestimmt und scheint eher ein weiterer Verweis auf die Abwägungs26  27 

Beauchamp/Childress, S. 17 ff. Beauchamp/Childress, S. 23.

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metapher zu sein, als selbst die Abwägung zu steuern. Geradezu dubios ist Kriterium 3, ist es doch eine grundlegende Anforderung an jede moralische Bewertung: Wenn es eine moralisch vorzugswürdige Alternative gibt, dann ist diese – aus Sicht der Moral – vorzuziehen. Kriterium 6 verlangt Unparteilichkeit. Diese Forderung ist an sich sehr berechtigt. Fast alle ethischen Theorien beinhalten eine Unparteilichkeitsforderung – entweder als ausdrückliches Prinzip oder indirekt durch die Nutzung genereller Normen. Eine Norm ist grob gesagt dann generell, wenn ihr „Adressatenkreis mit allgemeinen Merkmalen beschrieben und durch Anwendung dieser Merkmale im Einzelfall bestimmbar ist“28. Wenn ich eine derartige generelle Norm parteilich anwende, dann wende ich sie falsch an. Unparteilichkeit gehört zu jeder Prinzipienethik, hat aber nichts mit der Abwägung zu tun.29 Viel interessanter sind die drei übrigen Bedingungen, die allerdings bei Beauchamp und Childress unsystematisiert daherkommen und ad hoc eingeführt werden. Die Systematisierung dieser Kriterien, die ich hier vorschlage, macht sich die Parallelität zwischen den Kriterien und dem rechtstheoretischen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zunutze. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entstammt bekanntermaßen dem deutschen öffentlichen Recht, wird heutzutage aber fast weltweit eingesetzt, um Konflikte zwischen Rechtsprinzipien aufzulösen.30 Besonders relevant ist er im Bereich der Grund- und Menschenrechte; diskutiert wird er aber auch als Grundelement einer zunehmend globalisierten Rechtsordnung.31 Im Kern besagt der Grundsatz, dass Rechte oder Prinzipien im Konfliktfall nur eingeschränkt werden können, wenn dies (1) mit einem legitimen Ziel geschieht, (2) die eingesetzten Mittel zur Zielerreichung tatsächlich geeignet sind, (3) die Mittel die mildesten sind, die zur Zielerreichung zur Verfügung stehen (Erforderlichkeit), und wenn (4) die Mittel im engeren Sinne verhältnismäßig sind (Abwägung/ balancing). Wenn man diesen Grundsatz nun mit Beauchamp und Childress’ Kriterien vergleicht, scheint es schon an einer Entsprechung für die erste Verhältnismäßigkeitsbedingung (legitimes Ziel) zu fehlen. Diese Bedingung besagt, dass nur solche Ziele ein Rechtsprinzip einschränken können, die selbst in dem jeweiligen Rechtssystem legitim sind. Der principlism kennt eine solche Bedingung nicht direkt; indirekt aber schon: Schließlich kommt es im principlism erst dann zu einem abwägungsbedürftigen Konflikt, wenn zwei Prinzipien kollidieren – und zwar zwei principlism-immanente Prinzipien. Die Struktur des principlism setzt diese Bedingung also voraus. Das rechtstheoretische Geeignetheitskriterium verlangt eine rationale Verbindung zwischen dem verfolgten Ziel und den dafür eingesetzten Mitteln. Die Mittel Koch/Rüßmann, S. 81. Vgl. auch Tomlinson, S. 55. 30 Vgl. Barak, S. 181 ff.; kritisch: Urbina, S. 49 ff. 31 Vgl. Klatt/Meister, S. 1 ff. 28  29 

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müssen zumindest geeignet sein, das Ziel zu erreichen. Dieses Kriterium hat einen starken empirischen Einschlag, verlangt also oftmals die Beantwortung schwieriger tatsächlicher Fragen, und schließt bloß symbolische Maßnahmen aus. Ein ganz paralleles Kriterium ist das zweite bei Beauchamp und Childress. Eines verwundert bei deren Formulierung allerdings: Sie vergessen, sicherzustellen, dass die Erfolgsaussichten gerade mit den eingesetzten Mitteln bestehen – es wäre hingegen wenig sinnvoll, wenn zwar das verfolgte Ziel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, jedoch nicht mit dem aktuell vorgesehenen Mittel. Beauchamp und Childress’ Kriterien 4 und 5 sind das Spiegelbild zur Erforderlichkeitsbedingung im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Es ist nicht ganz klar, ob Kriterium 5 eigenständig ist. Impliziert die Auswahl derjenigen Option mit der geringsten Beeinträchtigung nicht bereits die Minimierung der Auswirkungen der Beeinträchtigung? Möglich wäre allerdings, dass Auswirkungen auf Dritte gemeint sind. Die rechtstheoretische Erforderlichkeitsbedingung verlangt, dass kein weniger beeinträchtigendes Mittel verfügbar sein darf, das zur Zielerreichung mindestens ebenso geeignet ist, wie das gewählte. Auch hier ist also oft empirisches Wissen gefragt. Außerdem ist diese Bedingung eine Aufforderung zur Kreativität, gilt es doch, sich immer wieder zu fragen, ob es nicht doch noch Alternativen gibt, die milder sind. Ob die mildere Alternative dann nur irgendwie (wie im principlism) oder genauso effektiv (wie im Recht) das Ziel erreichen muss, ist eine Frage, die weiterer Präzisierung bedarf. Genau für solche Fragen könnten externe Effekte, wie sie Kriterium 5 evtl. andeutet, relevant sein. 1. Zwischenergebnis Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Wir haben gesehen, dass Beauchamp und Childress’ Kriterien 1, 3 und 6 wenig hilfreich bzw. deplatziert sind. Außerdem haben wir gesehen, dass die Struktur des principlism zusammen mit den Kriterien 2, 4 und 5 weitgehend den ersten drei Stufen des rechtstheoretischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechen. Dieses Zwischenergebnis ist etwas überraschend. Schließlich sollten die sechs Kriterien dem Einwand begegnen, dass Abwägung im principlism zu irrational und intuitiv sei. Von Abwägung war bisher aber gar nicht die Rede. Ein erneuter Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz macht deutlich, was hier passiert: Die Kriterien des principlism übernehmen genau die Funktion der drei ersten Stufen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nämlich die Vorbereitung des eigentlichen Abwägungsprozesses. Die ersten Stufen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes haben eine Filterfunktion. Sie schließen nach und nach verschiedene in Betracht gezogene Maßnahmen und Mittel als illegitim aus. Nur solche Mittel und Maßnahmen, die alle drei Bedingungen erfüllt haben, bedürfen überhaupt einer Abwägung. Ebenso im principlism: Die Kriterien

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begrenzen die Anzahl der Fälle, die einer Abwägung bedürfen. Sie steuern aber selbst nicht die Abwägung.32 2.  Die eigentliche Abwägung Nun, da wir dank des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein klareres Bild haben, welche Funktion Beauchamp und Childress’ Kriterien haben, wissen wir aber noch immer nicht, wie die eigentliche Abwägung im principlism funktioniert. Verstreute Hinweise machen jedoch zumindest zwei Elemente deutlich, die für die Abwägung besonders wichtig zu sein scheinen, nämlich dass (1) die Gewichtung der Prinzipien im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände vorzunehmen ist und dass (2) Unsicherheiten sowie Erfolgsaussichten zu berücksichtigen sind.33 Auch hier bringt ein Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mehr Klarheit. Nach dem sehr einflussreichen Modell Alexys besteht Abwägung im Wesentlichen aus drei Stufen.34 Auf der ersten Stufe werden die abstrakten Gewichte der betroffenen Prinzipien oder Rechte bestimmt. Abstrakt sind die Gewichte hier in dem Sinne, dass sie nicht von den konkreten Umständen im Einzelfall abhängen sondern in allen Fällen gleich sind. So ist etwa die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) abstrakt gewichtiger als das Recht, Gesellschaften zu gründen (Art. 9 Abs. 1 GG). Eine solche abstrakte Ordnung soll es im principlism nicht geben. Relevanter sind daher die folgenden Stufen. Auf der zweiten Stufe geht es um den Grad der Beeinträchtigung der betroffenen Prinzipien. Diese Grade können nicht abstrakt, sondern nur im konkreten Einzelfall bestimmt werden. So mag in einem Fall einer zweifelhaften Zwangsunterbringung in einer geschlossenen Anstalt zwar das öffentliche Wohl betroffen sein, weil die Untergebrachte ein gewisses Risiko darstellt. Viel gravierender und konkreter betroffen sind in einem solchen Fall aber Prinzipien, die die Freiheit der Betroffenen schützen sollen. Auf der dritten Stufe schließlich geht es um die empirische Sicherheit (oder Unsicherheit), die der gewählten Maßnahme zugrunde liegt. Je höher der Grad an Beeinträchtigung eines Prinzips auf der zweiten Stufe ist, desto sicherer muss man sich hinsichtlich der Prämissen der gewählten Maßnahme sein, die diese Beeinträchtigung mit sich bringt. Diese kurzen Bemerkungen sollten bereits deutlich machen, dass Alexys Modell die beiden eher intuitiven Hinweise von Beauchamp und Childress aufnehmen und zu ihrer Präzisierung und Systematisierung beitragen kann. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Struktur der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Recht und im principlism derart ähnlich ist. Schließlich ist das Prinzipienverständnis bei Alexy und bei Beauchamp und Childress nahezu identisch35; Tomlinson, S. 55 f. Beauchamp/Childress, S. 20 ff. 34  Vgl. etwa Alexy 2003, S. 436 ff. 35 Vgl. Alexy 1996, Kapitel 3 und Beauchamp/Childress, S. 13 ff. 32 Vgl. 33 

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beide bauen auf W.D. Ross’ Idee von prima facie-Normen auf, die im Konfliktfall nach genau einer solchen Struktur verlangen, wie sie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bietet. Alexy versucht sogar, den Grundsatz aus der Normstruktur heraus zu begründen.36 Alexy und andere haben dieses dreigliedrige Grundmodell der Abwägung sehr detailliert ausgearbeitet.37 Ein Blick hierauf – der mir hier aus Platzgründen nicht möglich ist – ist auch für die Ethik informativ. 3. Kritik Die Abwägungsdebatte innerhalb der Rechtstheorie hat aber auch kritische Punkte hervorgebracht, die in der ethischen Debatte noch erstaunlich unterbelichtet sind. So wird etwa schon länger diskutiert, ob der Abwägung eine konsequentialistische Maximierungslogik zugrunde liege, die jeder normativen Theorie eine (oft verborgene) konsequentialistische Schlagseite gibt.38 Bereits Alexys Bezeichnung der Prinzipien als „Optimierungsgebote“ legt diese Vermutung nahe. Wenn diese Kritik zuträfe, dann wäre die Abwägung aber – anders als viele Vertreter der Prinzipientheorie behaupten – kein normativ neutrales Element einer Argumentationstheorie, also ein Element der internen Rechtfertigung, das nur auf (substantielle) externe Rechtfertigungen verweist, um die konkreten Gewichte im Einzelfall zuzuweisen.39 Der Grundsatz wäre quasi normativ strukturiert. Ich kann hier keine umfängliche Antwort auf diese Kritik bieten. Andeuten möchte ich aber wenigstens, dass es nicht notwendig ein Problem darstellt, das Neutralitätsideal aufzugeben. Schließlich könnte man den gesamten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als eine elaborierte Verbindung rivalisierender Moraltheorien verstehen. Die Grundidee, Rechte als normative Kategorie zu nutzen, ihnen bestimmte Gewichte zuzuordnen und Rationalitätskriterien aufzustellen, die die Einschränkung der Rechte steuern, ist – wie die ersten Stufen des Grundsatzes – tief in der deontologischen Denkweise verankert. Die Stufen der Erforderlichkeit und der Angemessenheit bieten erst danach die Möglichkeit, komparativ und konsequentialistisch maximierend feinzusteuern, wo die gröbsten Ungerechtigkeiten bereits im Voraus deontologisch ausgeschlossen wurden. Eine zweite Kritiklinie, die im Recht wie in der Ethik gleichermaßen relevant wie bisher ungelöst ist, besagt, dass Abwägungen fast immer an Unvergleichbarkeit (incomparability) oder Inkommensurabilität scheitern.40 Die Grundidee ist, dass zwei Dinge – seien es Stühle, Blumen, Rechte oder Prinzipien – nur dann miteinander verglichen werden können, wenn es einen gemeinsamen Referenzpunkt gibt.41 So kann man zwei Stühle etwa in Bezug auf ihre Größe oder ihren Preis vergleiAlexy 1996, S. 100 ff. Vgl. etwa Klatt/Meister, S. 7 ff. 38 Vgl. Urbina, S. 49 ff. 39  Zu diesem Missverständnis der Kritik siehe bspw. Klatt/Meister, S. 56, 64 f. 40 Vgl. Endicott, S. 5 ff. 41 Vgl. Chang, S. 6. 36  37 

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chen und sagen, dass der eine größer oder teurer ist als der andere. Was ist aber der Referenzpunkt in der Abwägung von Prinzipien? Verschiedene Vorschläge wurden unterbreitet42, die jedoch alle nicht durchweg überzeugend erscheinen. Auch diese bisher ungelösten Kontroversen innerhalb der Rechtstheorie können das Verständnis der Abwägung und vergleichbarer Methoden in der Ethik verbessern.

IV. Kasuistik Bisher habe ich mich auf den principlism als eine sehr einflussreiche Variante einer Prinzipienethik beschränkt, die dem Civil Law strukturell sehr nahe steht. Entsprechend habe ich mich vor allem solcher Elemente bedient, die der kontinentaleuropäischen Rechtstheorie entspringen. Nun möchte ich in einem kurzen Ausblick noch andeuten, dass Lerneffekte auch zwischen der Rechtstheorie des Common Law und der ethischen Kasuistik entstehen können. Anknüpfen möchte ich hierfür an der oft festgestellten Ähnlichkeit zwischen Common Law und Kasuistik in der Ethik. John Arras etwa hat die Kasuistik „common law morality“ und „morisprudence“ genannt.43 Ähnliche Bezeichnungen finden sich bei Beauchamp und Childress44 sowie bei Albert Jonsen und Stephen Toulmin45, auf deren Ausarbeitung der Kasuistik ich mich hier beschränke.46 Der grundsätzliche Unterschied zwischen Common Law und Civil Law auf der einen Seite und Kasuistik und Prinzipienethik auf der anderen ist der gleiche: Während Civil Law und Prinzipienethik bei der Entscheidung von Einzelfällen auf Normen zurückgreifen, die sie auf die Fälle anwenden, wählen Common Law und Kasuistik einen ganz anderen Zugang. Letztere suchen bei Einzelfallentscheidungen nicht nach Normen, sondern nach Fällen, in denen ähnliche Streitfragen bereits entschieden wurden. Jonsen und Toulmin haben diesen Zugang zu normativen Fragen für die Ethik neu belebt, indem sie vor allem auf die Kasuistik zurückgegriffen haben, wie sie von den Jesuiten im 16. und 17. Jahrhundert praktiziert wurde. Aus der Tradition des Common Law haben sie nicht – oder jedenfalls nicht über metaphorische Bezugnahmen hinaus – geschöpft. Die ethische Kasuistik greift die verbreitete Einsicht auf, dass Menschen sich oft in der Beurteilung von Einzelfällen sicher sind, jedoch nicht in den abstrakteren Gründen für die jeweilige Entscheidung. In praktischen Lebensbereichen läge unsere Sicherheit eben im Konkreten, nicht im Abstrakten (wie in theoretischen Bereichen wie z. B. der Geometrie). Prinzipien­ ethiken würden dieser Einsicht nicht gerecht und täten so, als wäre die Ethik Teil des Theoretischen, wo wir uns über abstrakte Prinzipien einigen könnten.47 KasuBarak, S. 484 sowie Klatt/Meister, S. 63. Arras, S. 35 ff. 44  Beauchamp/Childress, S. 400. 45  Jonsen/Toulmin, S. 316. 46  Ich tue dies, weil es – soweit ich sehe – die am besten ausgearbeitete und einflussreichste ethische Kasuistik ist. 47  Jonsen/Toulmin, S. 10 ff. 42 Vgl. 43 

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istik will also weg von Prinzipien und hin zur Argumentation mittels Analogien zwischen Einzelfällen. Zumindest für den Bereich der Medizinethik, für den ihr Buch The Abuse of Casuistry vor allem gedacht ist, kommen sie damit auch der Denkweise von Medizinerinnen entgegen, die ihr Fach vor allem anhand paradigmatischer Fälle gelernt haben und nicht über den Umweg hochabstrakter Theorien. Eine kasuistische Falllösung soll grob in drei Schritten ablaufen.48 Zunächst muss man die Morphologie des Falles verstehen, was zweierlei erfordert: erstens die Herausarbeitung der Maximen, die im Zentrum des Falles widerstreiten, und zweitens die Bestimmung der relevanten Umstände des Einzelfalls. Im zweiten Schritt wird eine Taxonomie gebildet, also eine Anordnung vergleichbarer Fälle von einem klaren paradigmatischen Fall hin zu immer zweifelhafteren Fällen im gleichen Problemfeld. Im dritten Schritt – Kinetik – findet dann die eigentliche Entscheidung statt, welcher ähnliche Fall die Entscheidungsgrundlage des aktuellen Falls werden soll, welche Analogie also die entscheidende ist. Dieses Modell der Falllösung in drei Schritten wurde verschiedentlich kritisiert.49 Ich möchte hier nur einen der vielen Punkte herausgreifen, in denen die Rechtstheorie helfen kann, die Funktionsweise der ethischen Kasuistik besser zu verstehen, nämlich die Rolle von Paradigmen. Diese werden in der Kasuistik verstanden als Regeln, die abstrakter sind als die Maximen in der Morphologie. Sie sollen paradigmatische Regeln für Richtigkeit oder Falschheit sein – bspw. sexueller Missbrauch von Kindern –, die eine Entscheidung dann determinieren, wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen.50 In Einzelfällen können Paradigmen also wie prima facie-Normen überwogen werden. Kasuisten sehen hierin trotzdem keine Aufgabe ihrer Prinzipienskepsis, da sie die Paradigmen immer als in konkreten Fällen formulierte Regeln ansehen. Dies ist freilich auch im Common Law der Fall. Eine Falllösung im Common Law besteht üblicherweise aus fünf Elementen: (a) der Fallbeschreibung, (b) der relevanten Rechtsfrage, (c) der Erwägung dieser Frage, (d) der Entscheidung über diese Frage (ratio decidendi) und (e) der Entscheidung über den konkreten Einzelfall, die aus (d) folgt.51 Die meisten dieser Elemente einer Falllösung finden sich – bei genauerer Analyse – auch in der Kasuistik. Fraglich ist dies lediglich in Bezug auf (d), die ratio decidendi, die zur Grundlage einer deduktiv52 getroffenen Einzelfallentscheidung wird. Im Recht ist es genau diese Entscheidung der Rechtsfrage, die als Paradigma für zukünftige Entscheidungen herangezogen wird. Richterinnen hangeln sich nicht von Einzelfallentscheidung zu Einzelfallentscheidung (also von Element (e) zu Element (e)), sondern sie suchen Regeln, die auf ihren konkreten Fall anwendbar sind. Dies sind auch die Regeln, die als Paradigma Eingang in Lehrbücher und Kommentare finden. Wie die Paradigmen in der Jonsen, S. 296 ff. Siehe etwa Tomlinson, S. 99 ff. 50 Vgl. Jonsen/Toulmin, S. 307. 51 Vgl. Lamond. 52  Zur Rolle der Deduktion in Analogieschlüssen siehe Brewer, S. 1003 ff.

48 Vgl. 49 

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ethischen Kasuistik werden auch die rechtlichen Paradigmen in konkreten Fällen entwickelt und formuliert. Und natürlich helfen die anderen Elemente der Lösung des paradigmatischen Falles bei der Auslegung der paradigmatischen Regel. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Paradigma nichts ist als eine Regel – im Recht wie in der ethischen Kasuistik. Genau wie in der Kasuistik wird ein Paradigma auf einen neuen Fall deduktiv angewendet – ganz wie ein Gesetz im Civil Law. Wenn der neue Fall die Tatbestandsmerkmale der ratio decidendi eines Paradigmas erfüllt, dann muss das Paradigma grundsätzlich angewendet werden. In diesen Fällen wird nicht einmal mit Analogieschlüssen gearbeitet, sondern schlicht aus der ratio decidendi deduziert.53 Die Bindung an das Paradigma ist jedoch nur bedingt. Sollte der neue Fall zwar unter die Regel des Paradigmas fallen, aber auch Merkmale aufweisen, die der dem Paradigma zu Grunde liegende Fall nicht aufwies, und werden diese neuen Merkmale als so relevant angesehen, dass es richtig erscheint, das Paradigma nicht auf den neuen Fall anzuwenden, dann können Gerichte im Common Law die Regel des Paradigmas verändern (distinguishing).54 Dies geschieht durch die Hinzufügung weiterer Kriterien des Ausgangsfalls mit dem Effekt, dass der aktuelle Fall nicht mehr unter die neue Regel fällt. Dieses Zusammenspiel von Regel und Ausnahme spiegelt ziemlich genau das wider, was Jonsen und Toulmin für ihre Kasuistik entwickeln wollten, aber leider nur auf recht unpräzise Art und Weise getan haben.55 Das Common Law könnte hier als Beispiel dafür dienen, wie man die gewünschte Orientierung an Fällen – mit dem Schwerpunkt auf Umständen des Einzelfalls – verbinden kann mit der Nutzung von Paradigmen, ohne entweder in einen Prinzipienfetischismus oder in einen Prinzipienskeptizismus zu verfallen.

V. Fazit Ich habe in diesem Beitrag zunächst die zwei Methoden vorgestellt und diskutiert, die Beauchamp und Childress in ihrem principlism nutzen, nämlich die Spezifizierung und die Abwägung. Unter Rückgriff auf die Rechtstheorie habe ich auf Probleme hingewiesen und Verbesserungsvorschläge angedeutet. Gleiches habe ich sodann unter Rückgriff auf das Common Law für die ethische Kasuistik getan. Ich hoffe, mit diesem kurzen Beitrag gezeigt zu haben, dass die Methodendiskussion in der Rechtstheorie für jene in der Ethik überaus informativ ist. Eine Weiterentwicklung der Methoden ist ein sehr aussichtsreicher Weg, der Kritik an der angewandten Ethik insgesamt, sie sei zu untheoretisch und unwissenschaftlich, zu begegnen. Raz, S. 180 ff. Von der Möglichkeit des overrulings sehe ich hier ab, weil die Kompetenz dafür bei nur sehr wenigen (hohen) Gerichten liegt, während jedes Gericht ein distinguishing vornehmen darf. Zu der genauen Vorgehensweise beim distinguishing siehe Raz, S. 186 f. 55 Vgl. Jonsen/Toulmin, S. 252, 316. 53 Vgl. 54 

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Norbert Paulo

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Folgenorientierung im Recht* Folgenorientierung im Recht

Klaus Mathis∗∗ „The proof of the pudding is in the eating, not in the cookery book.“ Aldous Huxley

This essay analyses the significance of consequentialism in legislation and legal adjudication. After a short discussion of legislative impact assessment, the debate on consequentialism in legal adjudication is presented in detail, making particular reference to the situation in Germany, Switzerland and Anglo-American countries. By way of exemplification, the discussion moves on to consider the application of the Hand Rule in tort liability.

I. Einleitung Die Folgenorientierung hat das Recht in jüngster Zeit vor allem von zwei Seiten in Beschlag genommen: von der Ökonomie über die Ökonomische Analyse des Rechts und von der Ökologie über die Umwelt- und Technikfolgenabschätzung.1 Dieser Aufsatz fokussiert primär, aber nicht nur, auf die Anwendung ökonomischer Analysekonzepte im Recht. Während die Folgenberücksichtigung in der Rechtsetzung allgemein unbestritten ist, scheiden sich die Geister bei der Frage, ob auch in der Rechtsanwendung Folgenargumente eine Rolle spielen dürfen. Wenn man davon ausgeht, dass die Rechtsanwendung einen rechtsschöpferischen Aspekt beinhalten kann und somit die Gerichte2 in gewissen Bereichen eine gesetzgeberische Funktion übernehmen, drängt sich die Frage auf, ob sie dann nicht auch die Folgen ihrer Entscheidung in der Urteilsfindung berücksichtigen sollten.

∗ Eine englische Fassung dieses Aufsatzes ist unter dem Titel „Consequentialism in Law“ erschienen in: Klaus Mathis (Hrsg.): Efficiency, Sustainability, and Justice to Future Generations, Dordrecht u.a. 2011, S. 3 ff. **  Prof. Dr. iur. Klaus Mathis, MA in Economics, ist Inhaber der Tenure-Track-Professur für Öffentliches Recht und Recht der nachhaltigen Wirtschaft an der Universität Luzern. Er dankt seinem Assistenten Balz Hammer, MLaw (Luzern), für die wertvolle Mitarbeit. 1  Deckert, Folgenorientierung, S. 1. 2  Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Verwaltungsbehörden.

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II.  Folgenorientierung in der Rechtsetzung Das Instrument der Gesetzesfolgenabschätzung wird heute in den meisten Ländern – wenn auch in unterschiedlicher Weise – eingesetzt. Die OECD empfiehlt ihren Mitgliedsländern seit 1995, eine „Regulatory Impact Analysis“ (RIA) im Rahmen der Gesetzgebung durchzuführen. Ein Schwerpunktprogramm der OECD bildet dabei „SIGMA“ (Support for Improvement in Governance and Man­ agement in Central and Eastern European Countries).3 In der EU wurde infolge des Mandelkern-Berichts (2001) ein Plan zur Vereinfachung und Verbesserung des Regulierungsrahmens verabschiedet, der für die wichtigsten Gesetzgebungsvorhaben eine Folgenabschätzung vorschreibt.4 In Deutschland ist der „Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung“ maßgeblich, der im Juli 2000 im Auftrag der Bundesregierung veröffentlicht wurde.5 In Österreich gibt es den Arbeitsbehelf „Was kostet ein Gesetz?“ (1992), der allerdings eher betriebswirtschaftlich ausgerichtet ist.6 Bei der Gesetzesfolgenabschätzung kommen immer häufiger auch ökonomische Analyseinstrumente zur Anwendung. In den USA etwa sind Kosten-Nutzen-Analysen bei wichtigen Regulierungen schon seit langem üblich. Die Schweiz kennt auf Bundesebene seit dem Jahr 2000 das Instrument der Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) und orientiert sich dabei an den Empfehlungen der OECD.7 Die verfassungsrechtliche Grundlage dazu findet sich in Art. 170 der schweizerischen Bundesverfassung. Danach hat die Bundesversammlung dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.8 Der spezifische gesetzliche Anknüpfungspunkt für eine prospektive Analyse von Erlassentwürfen findet sich in Art. 141 Abs. 2 Bst. g des Parlamentsgesetzes. Danach müssen die Botschaften des Bundesrates zu Erlassentwürfen Ausführungen zu den Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Umwelt enthalten, soweit substanzielle Angaben dazu möglich sind. Gemäß dem Beschluss und den Richtlinien des Schweizerischen Bundesrates vom 15. September 1999 müssen daher alle Erlasse vor ihrer Verabschiedung einer Analyse der wirtschaftlichen Auswirkungen unterzogen werden. Die Analyse soll die folgenden fünf Prüfpunkte enthalten: (1) Notwendigkeit und Möglichkeit staatlichen Handelns; (2) Auswirkungen auf die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen; (3) Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft; (4) Alternative Regelungen; (5) Zweckmäßigkeit im Vollzug. Die Regulierungsfolgenabschätzung ist in 3 Weigel,

S. 194 ff. Bundesministerium des Innern, Der Mandelkern-Bericht – Auf dem Weg zu besseren Gesetzen. Siehe hierzu auch Andrea Hanisch, Institutionenökonomische Ansätze in der Folgenabschätzung der Europäischen Kommission. 5 Carl Böhret/Götz Konzendorf, Leitfaden zur Gesetzesfolgenabschätzung; siehe dies., Handbuch der Gesetzesfolgenabschätzung (GFA), sowie etwa Matthias Dietrich, Folgenabschätzung von Gesetzen in Deutschland und Großbritannien. 6 Weigel, S. 195. 7  Siehe hierzu OECD, Regulatory Impact Analysis. 8  Zur Situation in der Schweiz siehe auch Mader, S. 100 ff. 4 

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der Schweiz bis jetzt im Wesentlichen als eine prospektive Analyse im Rahmen der Ausarbeitung von Erlassen des Bundes zum Tragen gekommen. Ergänzend dazu kommt das Instrument des KMU-Verträglichkeitstests zum Einsatz. Bei wichtigen Regulierungen wird eine Kosten-Nutzen-Analyse verlangt. Die Stärke der Kosten-Nutzen-Analyse liegt darin, dass sie versucht, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Maßnahme oder eines Projektes umfassend zu bewerten. Es ist aber auch auf die Schwächen dieser Methode hinzuweisen: Durch den Zwang zur Monetarisierung müssen auch Wirkungen geldmäßig bewertet werden, für die keine Marktpreise zur Verfügung stehen. Während die Kosten in der Regel relativ leicht monetär bewertet werden können, muss der Nutzen häufig mittels Hilfskonstruktionen und durch grobe Annäherungen abgeschätzt werden. Aufgrund dieser Unsicherheiten entsteht ein ziemlich großer Bewertungsspielraum, der die Aussagekraft der Ergebnisse in Frage stellen kann. Hinzu kommt, dass die zukünftigen Kosten und Nutzen auf einen Referenzzeitpunkt diskontiert werden müssen. Dabei spielt die Wahl des Diskontierungssatzes eine entscheidende Rolle im Hinblick auf das Ergebnis.9 Weiter ist zu beachten, dass es bei der Kosten-Nutzen-Analyse grundsätzlich keine Rolle spielt, welche gesellschaftlichen Gruppen die Nutznießer sind und wer die anfallenden Kosten einer gesetzlichen Regelung tragen muss. Es genügt, wenn der gesellschaftliche Saldo aus Nutzen und Kosten positiv ist. In der Terminologie der Wohlfahrtsökonomie reicht es also, wenn das Kompensations-Kriterium nach Kaldor-Hicks erfüllt ist.10 Es ist deshalb zu fordern, dass in jedem Fall die gesetzlichen Regelungen immer auch im Hinblick auf ihre Wirkung auf die Einkommensverteilung analysiert werden, wenn die politischen Entscheidungsträger zu einer abschließenden Gesamtbeurteilung gelangen sollen.

III.  Folgenorientierung in der Rechtsanwendung Wenn von Folgen richterlicher Entscheidungen die Rede ist, muss zuerst geklärt werden, welche Folgen damit gemeint sind. Grundsätzlich lassen sich Rechtsfolgen und Real­folgen unterscheiden. Nach Lübbe-Wolff sind die Rechtsfolgen jene Folgen, die durch Rechtssätze an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geknüpft sind. Realfolgen hingegen sind die tatsächlichen Folgen der Geltung und Anwendung von Rechtssätzen.11 Die Realfolgen lassen sich weiter in die Folgen für die vom Urteil direkt Betroffenen (Mikrorealfolgen) sowie die Folgen für die gesamte Gesellschaft (Makrorealfolgen) unterteilen.12 In ähnlicher Weise wird auch zwischen den Folgen, die unmittelbar mit dem geschehenen Fall in Verbindung stehen, Zur Problematik von Kosten-Nutzen-Analysen siehe z. B. Lester B. Lave, Benefit-Cost Analysis. 10  Siehe hierzu eingehender Mathis, S. 56 ff. 11  Lübbe-Wolff, S. 25. 12 So van Aaken, S. 171 f.; vgl. auch Wälde, S. 6. Sambuc, S. 101 ff., spricht von „Individualfolgen“ und „Sozialfolgen“. Siehe zum Ganzen auch Deckert, Folgenorientierung, S. 115 ff. 9 

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und den Folgen der Präjudizwirkung des Urteils auf das zukünftige Verhalten der direkt Betroffenen wie auch der übrigen Normadressaten13 unterschieden.14 Zu beachten ist ferner, dass die Folgenanalyse methodisch aus einem positiven und einem normativen Teil besteht: In einem ersten Schritt sind die zu erwartenden Folgen zu ermitteln, in einem zweiten Schritt sind diese Folgen zu bewerten. Folgen sind nicht per se gut oder schlecht, die gleichen Folgen können je nach Werthaltung oder Parteistellung positiv oder negativ bewertet werden. Um die Folgen zu ermitteln, ist man insbesondere auf sozialwissenschaftliche, technologische oder psychologische Kenntnisse angewiesen; um die Folgen zu bewerten, benötigt man normative Kriterien. Ein Unterschied zwischen der traditionellen juristischen und der ökonomischen Methode besteht darin, ob der Fall in der retrospektiven oder der prospektiven Perspektive betrachtet wird. Aus juristischer Sicht ist gewöhnlich ein konkreter Fall, der sich bereits ereignet hat, zu beurteilen (retrospektive Sicht). Wenn von Folgen der richterlichen Entscheidung die Rede ist, dann stehen primär die Rechtsfolge und die damit direkt verbundenen Mikrorealfolgen im Vordergrund. Makrorealfolgen werden seltener angesprochen.15 Bei der ökonomischen Betrachtungsweise interessieren hingegen die Makrorealfolgen, und zwar im Hinblick auf die Präjudizwirkung des Urteils auf das zukünftige Verhalten aller Normadressaten (prospektive Sicht). Das Bewertungskriterium ist dabei die allokative Effizienz. Dies soll an einem Beispiel erklärt werden: Bei der Deliktshaftung kümmert sich der Jurist um die Schadensregulierung zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten, der infolge eines geschehenen Schadensereignisses den erlittenen Schaden ersetzt haben will. Aus ökonomischer Sicht stellt sich die Frage anders: Welche Auswirkung hat das Urteil auf das zukünftige Verhalten potenzieller Schädiger und Geschädigter, d. h. wie wird sich etwa ihr Verhalten betreffend Vorsichtsmaßnahmen oder Aktivitätsniveau auswirken, welche Kosten und Nutzen fallen dabei an und wie verändert sich die allokative Effizienz bzw. die gesellschaftliche Wohlfahrt? Aus rechtlicher Sicht stellt sich bei der Folgenberücksichtigung die grundsätzliche Frage, welche der genannten Folgen für den Richter rechtserheblich sind, d. h. es bedarf der Abklärung, für welche Folgen sich das Recht öffnet und welche in der Rechtsanwendung berücksichtigt werden dürfen bzw. müssen.16 Unproblematisch sind freilich jene Fälle, in denen das Gesetz das Gericht explizit anweist, gewisse 13 

Im Strafrecht spricht man von Spezial- und Generalprävention. Lübbe-Wolff, S. 139 ff., unterscheidet in diesem Sinne „Entscheidungsfolgen“, d. h. die Auswirkung der Anordnung der autoritativen Entscheidung auf die Betroffenen (z. B. die Freiheits- und Geldstrafen und deren Auswirkungen auf die einzelnen Verurteilten und die Lebensverhältnisse ihrer Familien usw.), sowie „Adaptationsfolgen“, d. h. die allgemeine verhaltensbeeinflussende Wirkung rechtlicher Regelungen. 15  Es gibt aber durchaus juristische Begriffe wie z. B. das „öffentliche Interesse“ oder die „Verhältnismäßigkeit“, die auf die Berücksichtigung der Interessen der gesamten Gesellschaft bzw. damit verbundene Ziel-Mittel-Relationen abstellen. 16 Hoffmann-Riem, S. 38. 14 

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Folgen zu berücksichtigen. In den anderen Fällen dürfte es von Bedeutung sein, ob man die Berücksichtigung der Entscheidungsfolgen als „rechtspolitisch“ qualifiziert, weshalb sie in der „rechtlichen“ Argumentation der Gerichte nichts zu suchen hätten, oder ob man sie als Bestandteil des juristischen Entscheidungs- und Argumentationsprogramms einstuft.17 Interessant ist dabei, dass diese Frage nicht etwa nur im kontinentaleuropäischen Recht, sondern auch im angloamerikanischen Raum prominent diskutiert wird. Es wird deshalb im Folgenden nicht nur die Diskussion in der deutschsprachigen Literatur, sondern auch die entsprechende Kontroverse im angloamerikanischen Schrifttum skizziert.18 1.  Argumente gegen Folgenerwägungen Im deutschsprachigen Raum dürfte Niklas Luhmann der schärfste Gegner einer Folgenorientierung in der Rechtsanwendung sein. Diese wird bei Luhmann durch den Gesetzgeber konditional programmiert, d. h. wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (Tatbestand), dann ist eine bestimmte Entscheidung zu treffen (sog. Wenn-Dann-Form).19 Auf diese Weise soll sehr hohe Komplexität in kongruent erwartbare Entscheidungen umgesetzt werden (Stabilisierung von Erwartungen).20 Luhmann grenzt so das programmierte (Rechtsanwendung) vom programmierenden Entscheiden (Rechtsetzung) ab. Die Einseitigkeit der Optik von Konditionalprogrammen kann auf höheren Entscheidungsebenen dadurch korrigiert werden, dass über den Erlass und über die Änderung von Konditionalprogrammen politisch unter Zweckgesichtspunkten entschieden wird.21 Luhmann lehnt deshalb die Folgenorientierung in der Rechtsanwendung ab, weil die Gefahr bestehe, dass ein Rechtssystem, dem eine gesellschaftspolitische Folgenorientierung zugemutet werde, seine dogmatische Selbststeuerung preisgebe und sich überhaupt nicht mehr an Kriterien orientiere, die das Entscheidungsprogramm transzendierten, sondern nur noch an den Folgen selbst.22 Er plädiert daher für eine Entlastung der Rechtsanwendung von der Folgenverantwortung: „Eine solche Entlastung von voller Folgenverantwortung ist notwendig, wenn die Funktion des Konditionalprogramms erfüllt werden soll, erwartbare Ereignisreihen zuverlässig in Aussicht zu stellen. Auch durch den Gleichheitssatz ist diese Struktur zementiert. 17 Neumann,

Theorie, S. 234. Die Literatur zur Folgenproblematik ist unüberschaubar geworden. Die nachfolgende Darstellung erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 19 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 227. 20 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 229. Ders., Argumentation, S. 29, sieht die Aufgabe der juristischen Argumentation darin, dass mit deren Hilfe „das System das eigene Überraschtwerden auf ein erträgliches Maß“ reduziere. 21 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 234. Zur Umsetzung der konditionalen Programmierung in der Verwaltung siehe ders., Automation, S. 35 ff. 22 Luhmann, Rechtssystem, S. 48. 18 

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Würde der Jurist für situationsbedingte Folgen seiner Entscheidung verantwortlich gemacht werden, müßte er ganz andere Informationen in den Entscheidungsgang aufnehmen und verarbeiten, müßte er einen ganz anderen Arbeits- und Prüfstil entwickeln, Voraussagen, Wahrscheinlichkeitserwägungen, Wirtschaftlichkeitsrechnungen und Nebenfolgenbewertungen durchführen, und er würde damit zu einem unberechenbaren Element werden, und dies um so mehr, je rationaler er verfahren würde.“23

Luhmann führt demnach hauptsächlich drei Argumente gegen die Folgenorientierung in der Rechtsanwendung ins Feld: das Argument der Rechtssicherheit, das Argument der Rechtsgleichheit und das Argument der Überforderung der Gerichte. Ein an anderer Stelle angeführtes viertes Argument lautet, dass durch die Folgenorientierung die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet sei.24 Es sei schlechterdings nicht zu sehen, wie sich Rechtsfragen im entscheidungsnotwendigen Detail auf soziologische Theorien oder auf Methoden der empirischen Sozialforschung beziehen ließen.25 Luhmanns Kritik leidet am Umstand, dass es sich dabei um Behauptungen oder Vermutungen handelt, die lediglich auf einer abstrakten Ebene vorgetragen werden. Es scheint sogar, dass er sich kaum je wirklich Gedanken gemacht hätte, wie er sich die von ihm so vehement kritisierte Folgenorientierung konkret vorstellt.26 Ganz offensichtlich geht er irrigerweise von der Vorstellung einer fallweisen, unsystematischen und hasardistischen Folgenberücksichtigung aus. Er verkennt dabei, dass auch bei einer Folgenberücksichtigung ein Fall nicht als ein einzigartiges Ereignis behandelt werden darf, sondern als Exemplar einer Gattung von Fällen gleicher Art betrachtet werden muss.27 Auch die Folgenberücksichtigung hat sich nach einer bestimmten Systematik und Logik zu richten und ist mittels dogmatischer Strukturen entsprechend zu kanalisieren. Zudem hat sie sich stets im Rahmen der Spielräume von gesetzlichen Tatbeständen und Rechtsfolgen zu bewegen.28 Entsprechend wird sich auch bei der Berücksichtigung von Folgenargumenten eine Konstanz und Kohärenz der Rechtsprechung einstellen. Wenn bei der Folgenorientierung diese Randbedingungen beachtet werden, sind weder die Rechtssicherheit noch die Rechtsgleichheit oder die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet. Einzig das Argument der möglichen Überforderung der Gerichte stellt ein echtes Problem dar. Dieses Problem manifestiert sich nicht nur auf der kognitiven, sondern auch auf der normativen Ebene:29 In einem ersten Schritt sind die Folgen zu ermitteln, was unter Umständen erhebliche sozialwissenschaftliche Kenntnisse erfordert und mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden sein kann. Zu beachten ist dabei, dass die Gerichte unter Entscheidungszwang stehen und die 23 Luhmann,

Methode, S. 4. Siehe auch ders., Ausdifferenzierung, S. 276.

24 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 232. Ebenso ders., Ausdifferenzierung, S. 140 ff. und 275 ff. 25 Luhmann,

Rechtssystem, S. 9. S. 234. 27 Koch/Rüßmann, S. 234. 28 Rottleuthner, S. 114 f. 29 Seiler, Rechtsanwendung, S. 57 ff. 26 Koch/Rüßmann,

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Prozessökonomie es gebietet, dass der Fall innert nützlicher Frist erledigt wird. Aber selbst wenn alle Folgen bekannt sind, müssen in einem zweiten Schritt diese Folgen bewertet werden. Manche Folgen mögen offensichtlich erwünscht oder unerwünscht sein. Häufig entstehen jedoch Folgen, über deren Bewertung man sich streiten kann, oder die Folgen wirken sich für gewisse Betroffene positiv, für andere negativ aus, so dass der Per-Saldo-Effekt unklar ist. Die Forderung, wegen diesen praktischen Problemen auf eine Folgenberücksichtigung ganz zu verzichten, ist aber irrational. Vielmehr muss es darum gehen, die Folgenberücksichtigung so weit wie möglich zu betreiben.30 Die Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse stellt dabei zweifellos einen Fortschritt gegenüber den häufig kritisierten richterlichen Alltagstheorien dar.31 Esser findet Luhmanns Vorstellung der programmierten Rechtsanwendung nicht nur unzutreffend, sondern sogar im höchsten Maße gefährlich: „Die totale Systemautonomie des Rechts dagegen verbietet jede kritische Reflexion des Interpreten über Bedingungen und Motivationen seines Vorverständnisses, damit aber auch jede rationale Richtigkeitskontrolle, und führt gerade das ideologisch abgedichtete und sich autonom gebärende Rechtssystem in die Arme der politischen Manipulation.“32

Auch Rhinow kritisiert, dass die Sicht Luhmanns auf überholten justizlogischen Vorstellungen basiert und die rechtstheoretische Diskussion eher zu verschleiern als zu befruchten geeignet erscheine.33 Das anzuwendende Recht liege eben nicht als „Programm“ lückenlos bereit, weshalb der Konkretisierungsprozess nicht vorrangig als programmiertes Entscheiden aufgefasst werden könne, da der Rechtsanwender selbst auch Produzent des geltenden Rechts sei.34 Obwohl der Konsequenzialismus im angloamerikanischen Raum auf eine lange Tradition zurückblicken kann,35 hat die Folgenorientierung in der Rechtsanwendung 30 Koch/Rüßmann, S. 235. Ansätze dazu finden sich bei Martina R. Deckert, Praktische Durchführbarkeit folgenorientierter Rechtsanwendung – Auf dem Weg zu einer folgenorientierten Rechtswissenschaft. 31 Vgl. Rottleuthner, S. 115 f. 32 Esser, Vorverständnis, S. 141, siehe auch S. 205 ff. Zum Begriff des Vorverständnisses siehe nachstehend Abschnitt 2. 33 In der Tat scheint sich Luhmann an der längst überholten Vorstellung Montesquieus zu orientieren, wonach die Richter nur ein Subsumtionsautomat bzw. „la bouche qui prononce les paroles de la loi“ (Montesquieu, XI, 6) seien. Siehe hierzu auch Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert. Grimm, S. 140 f., weist zudem darauf hin, dass – insbesondere im öffentlichen Recht – neben den klassischen Konditionalnormen immer häufiger meist vage formulierte Finalnormen (Zielbestimmungen, Zweckprogramme) anzutreffen sind. Es liegt auf der Hand, dass auch dieser Umstand die Notwendigkeit der konsequenzialistischen Sichtweise in der Rechtsdogmatik verstärkt hat (vgl. Sommermann, S. 53). Siehe auch Klaus Hopt, Finale Regelungen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung. 34 Rhinow, S. 256. 35  Siehe hierzu nachstehend Abschnitt 2.

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dennoch ebenfalls prominente Kritik erfahren. So fordert Ronald Dworkin in „Hard Cases“ (1975)36 im Rahmen seiner Unterscheidung von Prinzipien („principles“) und Argumenten im Interesse des Gemeinwohls bzw. kollektiver Ziele („policies“), dass Gerichte auch bei der Entscheidung schwieriger Fälle („hard cases“) sich grundsätzlich auf Prinzipienargumente beschränken sollten, weil politische Zielargumente dem Gesetzgeber vorbehalten seien.37 Nach Dworkin leiten sich aus Prinzipien Rechte ab, während dies bei politischen Zielargumenten nicht der Fall sei:38 „Arguments of policy justify a political decision by showing that the decision advances or protects some collective goal of the community as a whole. The argument in favor of a subsidy for aircraft manufacturers, that the subsidy will protect national defense, is an argument of policy. Arguments of principle justify a political decision by showing that the decision respects or secures some individual or group right. The argument in favor of anti-discrimination statutes, that a minority has a right to equal respect and concern, is an argument of principle.“39

Richter sind nach Dworkin bei der Bestimmung des Inhalts von Rechtsnormen immer ans Recht gebunden und dürfen nicht rechtsschöpferisch tätig werden, sie haben auch kein Ermessen.40 Gemäß seiner „These der Rechte“ („rights thesis“) ist das Recht als ein System von individuellen Rechten zu begreifen, die mit Hilfe von richterlichen Entscheidungen zugunsten der einen oder anderen Partei durchzusetzen sind, wobei auch in schwierigen Fällen immer einer Partei das Recht zusteht, den Rechtsstreit zu gewinnen.41 Damit verbunden ist die „These der einzig richtigen Entscheidung“ („one right answer thesis“), d. h. dass die Gerichte auch in schwierigen Fällen den einzig richtigen Entscheid fällen können und müssen.42 Wie man sich in seinem Konzept die richterliche Tätigkeit vorzustellen hat, demonstriert Dworkin anhand des fiktiven, mit übermenschlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestatteten Richters Herkules.43 Die einzig richtige Lösung existiert auch in schwierigen Fällen und kann von einem mit herkulischen Fähigkeiten ausgestatteten Richter erkannt werden. Wenn ein Richter glaubt, das Recht sei unvollständig, inkohärent oder unbestimmt, dann liegt dies an seinen begrenzten intellektuellen Fähigkeiten und nicht an der angeblichen Unvollkommenheit des Rechts.44 H. L. A. Hart fasst Dworkins Theorie und deren Auswirkungen auf die Rechtsprechung trefflich wie folgt zusammen: 36 Dworkin,

TRS, S. 81 ff. Dworkin, TRS, S. 85; Watkins-Bienz, S. 83. Siehe auch Bittner, S. 227 ff.; Wolf, S.  364 ff.; Harris, S. 201 ff. 38 Harris, S. 201. 39 Dworkin, TRS, S. 82. 40 Greenawalt, Discretion, S. 361. 41 Dworkin, TRS, S. 81 ff.; Watkins-Bienz, S. 83. 42 Dworkin, TRS, S. 279 ff., sowie ders., MP, S. 119 ff. Auf eine Kritik der offensichtlich fragwürdigen These der einzig richtigen Entscheidung wird hier verzichtet. Siehe z. B. Ott, S.  183 ff.; Watkins-Bienz, S. 117 ff.; Bittner, S. 233 ff.; Auer, S. 85 ff. 43 Dworkin, TRS, S. 105 ff., sowie ders., LE, S. 239 ff. 37 

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„[A] judge who thus steps into the areas of what he calls policy, as distinct from principles determining individual rights, is treading forbidden ground reserved for the elected legislature. This is so because for him not only is the law a gapless system, but it is a gapless system of rights or entitlements, determining what people are entitled to have as a matter of distributive justice, not what they should have because it is to the public advantage that they should have it.“45 44

Die Ablehnung von Policy-Argumenten in der Rechtsprechung begründet Dwor­kin hauptsächlich mit den Argumenten der Demokratie, der Rückwirkung und der Kohärenz. Gemäß dem Demokratieargument seien Richter meist nicht vom Volk gewählt oder gegenüber der Wählerschaft zumindest nicht in derselben Weise verantwortlich wie die Legislative und folglich nicht legitimiert, neues Recht zu setzen.46 Beim Rückwirkungsargument weist Dworkin darauf hin, dass es stoßend wäre, wenn eine Partei einen Prozess aufgrund einer Verletzung einer Pflicht verliere, die ihr erst ex post facto auferlegt worden sei.47 Schließlich befürchtet Dworkin bei der Zulässigkeit von Policy-Argumenten einen Verlust der Kohärenz der Rechtsprechung. Bei Prinzipienargumenten müsse deren Anwendung in Einklang mit früheren Fällen geschehen, was eine Gleichbehandlung garantiere. Die Erreichung bestimmter politischer Ziele erfordere jedoch nicht unbedingt eine solche Gleichbehandlung.48 In Dworkins Konzept darf sich demnach ein Gericht, wenn es bei einer kohärenten Anwendung der Prinzipien zum Schluss kommt, dass ein Kläger einen Anspruch auf Schadenersatz wegen unsorgfältiger medizinischer Behandlung hat, nicht vom politischen Argument beeinflussen lassen, dass solche Klagen zu exorbitanten Kosten für Vorsichtsmaßnahmen im Gesundheitswesen führen.49 Damit hat das Gericht – und dies ist die für die Frage der Folgenorientierung bedeutsame Schlussfolgerung – einzig darüber zu entscheiden, wem welche Rechte zukommen, und hat sich Erwägungen über die Realfolgen seines Entscheides für die Betroffenen sowie für die Gesellschaft zu enthalten. Hart kritisiert, dass nach Dworkins Konzept ein Richter bei der Beurteilung eines neuen Falles ein allgemeines Prinzip suchen müsse, das sowohl die Entscheidung bisheriger Fälle dieser Art wie auch den neuen Fall erklären könne. Es sei dabei jedoch sehr gut möglich, dass es verschiedene Prinzipien gebe, die zu den früheren Entscheidungen passten, aber unterschiedliche Lösungen für den neuen Fall liefern würden.50 Es handelt sich folglich bei der Ermittlung der richtigen Lösung nicht nur um ein Erkenntnisproblem. Selbst ein mit übermenschlichen Eigenschaften ausgestatteter Richter wie Herkules könnte unter diesen Umständen 44 Hart,

S. 183. S. 141. 46 Dworkin, TRS, S. 84. 47 Dworkin, TRS, S. 84. 48 Dworkin, TRS, S. 88. 49 Harris, S. 202. 50 Hart, S. 139. 45 Hart,

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die einzig richtige Lösung nicht ermitteln. Es sei im Übrigen daran erinnert, dass bereits Kelsen davor warnte, die Fiktion der einzig richtigen Deutung einer Rechtsnorm zu vermeiden: „Rechtswissenschaftliche Interpretation muß auf das sorgfältigste die Fiktion vermeiden, daß eine Rechtsnorm stets nur eine, die ‚richtige‘ Deutung zuläßt. Das ist eine Fiktion, deren sich die traditionelle Jurisprudenz zur Aufrechterhaltung des Ideals der Rechtssicherheit bedient. Angesichts der Vieldeutigkeit der meisten Rechtsnormen ist dieses Ideal nur annäherungsweise realisierbar.“51

Hart weist schließlich darauf hin, dass Dworkins strikte Ablehnung einer Berücksichtigung gesellschaftlicher Folgen in der Rechtsprechung den Überzeugungen vieler Juristen zuwiderlaufe und Ausdruck seiner Feindlichkeit gegenüber dem Utilitarismus sei: „This exclusion of ‚policy considerations‘ will, I think, again run counter to the convictions of many lawyers that it is perfectly proper and indeed at times necessary for judges to take account of the impact of their decisions on the general community welfare. […] Professor Dworkin’s exclusion of such considerations from the judge’s purview is part of the general hostility to utilitarianism that characterizes his work […].“52

Auch Neil MacCormick hält Dworkins strikte Trennung von Prinzipien und politischen Zielen für unzutreffend. Diese würden sich nicht als Opponenten gegenüberstehen, sondern seien im Gegenteil aufeinander bezogen: „[T]he spheres of principle and of policy are not distinct and mutually opposed, but irretrievably interlocking […].To articulate the desirability of some general policy-goal is to state a principle. To state a principle is to frame a possible policy-goal.“53

Nach MacCormick sind Argumente der Richtigkeit und die Verfolgung von Zielen zwei Seiten derselben Medaille, da die Werte der Rechtsordnung Ausdruck der geltenden Politik seien.54 Auch Greenawalt kommt zum Schluss, dass die Unterscheidung zwischen Prinzipien und politischen Zielen verschwimme, wenn sich jedes politische Ziel in ein rechtliches Prinzip transformieren lasse und umgekehrt.55 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass als Hauptargumente die fehlende Legitimation und Funktionalität der Gerichte sowie die Gefährdung der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit gegen die Folgenberücksichtigung in der Rechtsan-

51 Kelsen,

RR, S. 353. S. 141. Zu Dworkins Antwort auf Harts Kritik siehe den Anhang in Dworkin, TRS, S. 292 ff. 53 MacCormick, Legal Reasoning, S. 263 f. 54 MacCormick, Legal Decisions, S. 257. Ähnlich Hiebaum, S. 86, der geltend macht, „dass jedes Prinzipienargument seine Überzeugungskraft einer, wenn auch unhinterfragten ‚policy-Orientierung‘ verdankt“. 55 Greenawalt, Policy, S. 1013 f. Zu Dworkins Antwort auf Greenawalts Kritik siehe den Anhang in Dworkin, TRS, S. 294 ff. 52 Hart,

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281

wendung vorgebracht werden.56 Die unter Juristen weit verbreitete Ablehnung von Folgenerwägungen dürfte zudem in einer unheiligen Allianz von konservativen und progressiven Juristen liegen. Erstere befürchten, dass die Folgenorientierung als trojanisches Pferd außerrechtliche und politische Argumente in die Zitadelle der juristischen Argumentation einschleusen und so die tradierte Dogmatik aufweichen könnte. Letztere sehen in der Folgenorientierung ein Einfallstor für utilitaristische Argumente, wodurch der Individualrechtsschutz zwecks Verfolgung gesellschaftlicher Ziele, insbesondere unter Anführung von Kostenargumenten, aus den Angeln gehoben werden könnten. 2.  Argumente für Folgenerwägungen Auer weist darauf hin, dass es nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch unmöglich sei, „rechtliche“ von „rechtspolitischen“, d. h. folgenorientierten ethischen und sozialwissenschaftlichen Argumenten außerhalb des engen Bereichs gesetzlicher und innerrechtlicher Wertungen abzugrenzen und damit eine Klasse rechtlich bindender Argumente aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs hervorzuheben.57 Sie beruft sich dabei u.a. auf Hans Kelsen und Josef Esser. Kelsen äußerte sich zu diesem Thema im Aufsatz „Wer soll der Hüter der Verfassung sein“ (1931) wie folgt zu dieser Frage: „Die Meinung, daß nur die Gesetzgebung, nicht aber die ‚echte‘ Justiz politisch sei, ist ebenso falsch wie die, daß nur die Gesetzgebung produktive Rechtserzeugung, die Gerichtsbarkeit aber nur reproduktive Rechtsanwendung sei. […] Indem der Gesetzgeber den Richter ermächtigt, innerhalb gewisser Grenzen gegensätzliche Interessen gegeneinander abzuwägen und Konflikte zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden, überträgt er ihm eine Befugnis zur Rechtsschöpfung und damit eine Macht, die der richterlichen Funktion denselben ‚politischen‘ Charakter gibt, den die Gesetzgebung – wenn auch in höherem Maße – hat. Zwischen dem politischen Charakter der Gesetzgebung und dem der Justiz besteht nur eine quantitative, keine qualitative Differenz.“58

Esser weist auf die Problematik des „Vorverständnisses“ bei der richterlichen Interpretation von Rechtsnormen hin.59 Mit Vorverständnis rede er nicht von der persönlichen Sozialerfahrung, in der ein Richter aufgewachsen sei – und über die er sich freilich auch Rechenschaft geben müsse –, sondern im hermeneutischen Sinne eines unvermeidlichen Vorgriffs auf die Sinn- und Ergebnisfrage, die eine praktische Wissenschaft auszeichne.60 In der Folge hält er die Vorstellung einer wertneutralen Dogmatik für naiv: 56  Siehe für eine Übersicht etwa auch Deckert, Folgenorientierung, S. 13 ff.; Eidenmüller, S. 414 ff.; Koch/Rüßmann, S. 227. 57 Auer, S. 81. 58 Kelsen, Verfassung, S. 67. Er bezieht sich hier insbesondere, aber nicht nur, auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. 59 Esser, Vorverständnis, S. 136 ff. 60 Esser, Möglichkeiten, S. 101 f.

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„Vergröbernd und verzerrend wirkt es, wenn man diese Überzeugungselemente [des Richters] zurückzuführen versucht auf die Kategorien von ‚rechtspolitischer‘ und ‚rechtsdogmatischer‘ Wahrheit. Solche Schlagworte verdecken die Zusammengehörigkeit und das Zusammenwirken dieser Entscheidungselemente in der Überzeugungsbildung. […] Damit verkennt man, daß grundsätzlich in jeder Entscheidung ‚nach positivem Recht‘ beide Kräfte des Rechtsbewußtseins Einfluß auf die Urteilsbildung nehmen: Das Streben nach ‚lebensnaher‘ und ‚vernünftiger‘ Entscheidung im Sinne der Sachzwänge und der Gerechtigkeitsforderung für schutzwürdige Erwartungen und das Verantwortungsbewußtsein für die Erhaltung eines Rechtssystems, dessen Stabilität nur ‚kleine Schritte‘ der Entwicklung erlaubt.“61

Ferner sprechen sich auch Podlech und Sambuc für eine gewisse Folgenberücksichtigung aus. Podlech ist wie Esser der Ansicht, dass es eine wertungsfreie Rechtsanwendung nicht oder kaum gebe. Er folgert daraus, dass für jede Wertung gelte, dass über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit bzw. ihre Annehmbarkeit für die Gesellschaft eine Diskussion der Folgen dieser Wertung für die Gesellschaft stattfinden müsse. Er erhofft sich dadurch einen Rationalitätsgewinn, da so das juristische Terrain der Auseinandersetzung mit der Wertproblematik nicht irrationalen Positionen allein überlassen werde.62 Sambuc argumentiert, dass sich die justizielle Normbildung durch die Qualität ihrer Ergebnisse und/oder durch die Begründung ihrer Zielsetzungen legitimieren könne. Folgenerwägungen könnten dabei zur Qualität der richterlichen Regelbildung beitragen, indem sie eine zweckrationale Verfolgung von Regelungszielen ermöglichten. Die Regelungsziele, d. h. die Wertpräferenzen, vermöchten sie per se aber nicht zu begründen. Folgenerwägungen könnten aber zur Begründung von Regelungszielen beitragen, da sie die Feststellung der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit prospektiver Entscheidungsfolgen mit positivierten gesetzlichen Wertungen und Rechtsprinzipien erlaubten.63 Deckert weist in ihrer Studie darauf hin, dass nicht zuletzt die verbreitete Unzufriedenheit mit den Leistungen und Möglichkeiten der herkömmlichen juristischen Methodenlehre einen Grund für die Folgenorientierung darstelle. Die klassischen canones könnten ihre Orientierungsrolle in vielen Fällen nur unzureichend erfüllen. Unbefriedigend erscheint insbesondere der Umstand, dass die Befolgung der einzelnen Auslegungskriterien zu unterschiedlichen Ergebnissen führt und eine verbindliche Rangfolge nach herrschender Auffassung nicht existiert.64 Es sei zu vermuten, dass es der gängigen Praxis entspreche, von Fall zu Fall dasjenige Auslegungsergebnis zu wählen, das zum befriedigenden Ergebnis führe.65 Rüthers betont insbesondere die Unvermeidbarkeit von Folgenerwägungen im Rahmen der richterlichen Rechtsfortbildung.66 Denn diese bedeute unweigerlich 61 Esser,

Vorverständnis, S. 151 f. S. 209. 63 Sambuc, S. 139. 64 Deckert, Auslegung, S. 481; zur Rangfolge siehe auch Larenz, S. 345. 65 Deckert, Auslegung, S. 481; siehe auch Engisch, S. 101. 66  Siehe hierzu etwa Rolf Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. 62 Podlech,

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Normsetzung und damit Teilnahme an der Rechtspolitik. Dies hätte zwei bedeutsame Konsequenzen: Einerseits reiche eine auf die begriffliche Klassifikation und Differenzierung ausgerichtete, rein logische Denkarbeit für die rechtspolitische Funktion der Dogmatik bei der Rechtsfortbildung nicht aus. Dogmatik sei daher im Kern immer wertbezogen und weltanschaulich geprägt.67 Die Teilnahme an der Rechtspolitik bedeute andererseits zugleich eine Folgenverantwortung und impliziere damit ein Folgenabwägungsgebot bei der Aufstellung dogmatischer Begriffe und Grundsätze. Dogmatische Aussagen seien auch Instrumente zur Gestaltung der Realität, weshalb die vorhersehbaren Folgen des Gestaltungsprozesses nicht außer Acht bleiben könnten. Es sei dabei auf die sozialen Wirkungszusammenhänge und die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zurückzugreifen.68 Neumann spricht zutreffend von der Janusköpfigkeit der juristischen Argumentation: Einerseits sei diese in hohem Maße autoritätsorientiert (Bindung an die Autorität des Gesetzes, aber auch an die Bedeutung von Präjudizien und der „herrschenden Meinung“). Andererseits werde in zunehmendem Maße konsequenzialistisch, d. h. unter Bezug auf die zu erwartenden Folgen der Entscheidung, argumentiert.69 Neumann fordert, dass generelle Folgenerwägungen, die für die Entscheidung von Bedeutung waren, offenzulegen seien. Diese Forderung nach Methodenehrlichkeit dürfe jedoch nicht als Verzicht auf eine am Gesetz orientierte Argumentation missverstanden werden. Auch dort, wo der Richter in erster Linie nicht eine gesetzmäßige, sondern eine sachgerechte Entscheidung anstrebe, bleibe seine Entscheidung wie auch seine Argumentation an die Vorgaben des Gesetzes gebunden.70 Neumann konstatiert ferner, dass die von Kriele71 und Esser72 geforderte und teilweise auch bereits diagnostizierte Entwicklung von einer „verdeckten“ zu einer „offenen“ richterlichen Argumentation in einem erstaunlich weiten Ausmaß stattgefunden habe.73 In der Schweiz hatte sich schon Arthur Meier-Hayoz in seiner Habilitationsschrift „Der Richter als Gesetzgeber“ (1951) mit der Rolle des Richters befasst. Er machte dabei auch auf die Wertungsproblematik aufmerksam, wobei er insbeson-

Rüthers, Rechtstheorie, S. 214. Rüthers, Rechtstheorie, S. 214. 69 Neumann, Argumentationslehre, S. 112. 70 Neumann, Argumentationslehre, S. 6. 71 Siehe Martin Kriele, Offene und verdeckte Urteilsgründe. Gemäß Kriele, S. 117, ist für die Legitimität der richterlichen Entscheidung „Voraussetzung, daß es der juristischen Grundlagenforschung gelingt, die verdeckten Urteilsgründe der Diskussion, und das heißt: der vernünftigen Kontrolle, zu erschließen“. 72 Siehe Josef Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts. Esser beklagt, dass die Urteilsbegründungen den Argumentationsweg kaum widerspiegelten (S. 9), und fordert den Einsatz der „rhetorischen Mittel des offenen Diskurses und der vordogmatischen Argumente“ (S. 31). 73 Neumann, Argumentationslehre, S. 117. 67 

68 

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dere darauf hinwies, dass im konkreten Fall die Abgrenzung zwischen gesetzlicher und richterlicher Wertung schwierig sei: „Bei abstrakter Betrachtungsweise lässt sich […] sagen, das Abgrenzungskriterium zwischen Gesetzesauslegung und Gesetzesergänzung sei darin zu erblicken, dass die entscheidenden Zweckgesichtspunkte dort dem Gesetz zu entnehmen seien und hier vom Richter in eigener Wertung der Interessen gefunden werden müssen. Wo liegt aber im konkreten Einzelfall diese Grenzlinie zwischen gesetzlich festgelegtem und richterlich festzulegendem Zweck? Die prinzipielle Unterscheidung zwischen gesetzlicher und richterlicher Wertung verflüchtigt sich oft bei seiner Anwendung auf konkrete Fälle, ist vielfach kaum durchführbar.“74

Ferner postulierte Meier-Hayoz in seinem Kommentar zu Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) neben dem grammatischen, systematischen, teleologischen und historischen Element auch die Berücksichtigung des „realistischen Elements“ in der Auslegung.75 Obwohl die Optik etwas verengt auf die Frage der Praktikabilität76 zu sein scheint, stellt das realistische Argument einen Aspekt der Folgenbetrachtung dar: „[E]s seien die Realien zu berücksichtigen, das heisst die tatsächlichen Verhältnisse, in denen das Gesetz wurzelt und die es ordnen will, diejenigen der stofflich-körperlichen wie diejenigen der geistig-seelischen Welt: Wirtschaft und Wissenschaft, Natur und Technik, Sitten und Gebräuche, sowie vor allem die gesellschaftlichen Anschauungen und Wertvorstellungen. […] Realistisch muss die Auslegung ferner in dem Sinne sein, dass sie […] leichte Realisierbarkeit (Praktikabilität) des Rechtes anstrebt.“77

Zu erwähnen bleibt ferner die in Art. 4 ZGB explizit angesprochene Berücksichtigung der Billigkeit. Der Billigkeitsentscheid soll ein im Einzelfall stoßendes Ergebnis der Entscheidung korrigieren.78 Auch hier wird auf die Folgen der Entscheidung – wenn auch nur für die betroffenen Parteien – abgestellt. Des Weiteren hat sich auch Rhinow schon früh für eine Folgenorientierung stark gemacht. Entscheidungen des Rechtsetzers und Rechtsanwenders würden nicht nur durch Verfahren legitimiert, sondern auch durch ihre Ausrichtung und laufende Überprüfung an Kriterien der Richtigkeit: „Die strukturelle Offenheit des Normengefüges und das entsprechende Einfließen von Gerechtigkeitserwägungen und von Elementen der Sozialwirklichkeit im Prozeß der Rechtsverwirklichung entlasten den Rechtsanwender nicht von Folgenverantwortung, 74 Meier-Hayoz,

Richter, S. 58 (Hervorhebung durch den Verfasser). BK, Art. 1 N 210 ff. Ders., BK, Art. 1 N 179, lehnt sich dabei an Friedrich Carl von Savigny an, der die vier Auslegungselemente „grammatisch“, „logisch“, „historisch“ und „systematisch“ unterschied, wobei er diese durch die Hinzufügung des „teleologischen Elements“ und der Forderung nach der Berücksichtigung des „inneren Werts des Ergebnisses“ ergänzte. Siehe von Savigny, S. 213 ff., 216 ff. und 225. 76  Siehe hierzu Mathis/Anderhub, S. 306 ff. 77 Meier-Hayoz, BK, Art. 1 N 211 und 213. 78  Siehe hierzu Mathis/Anderhub, S. 302 ff. 75 Meier-Hayoz,

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sondern machen ihm im Gegenteil die Berücksichtigung bestimmter, normrelevanter Auswirkungen seiner Entscheidung gerade zur Pflicht.“79

Die Folgenberücksichtigung erweise sich so nicht nur als Instrument der Rationalisierung der Normsetzung, sondern entwickle sich zu einem zentralen Legitimationsfaktor, auf den das Richterrecht mangels anderer Legitimationsmöglichkeiten – wie etwa die demokratische Legitimation der Legislative – angewiesen sei. Die Folgenorientierung erweise sich so als Postulat zur Überwindung eines strukturellen Legitimationsdefizits des Richterrechts.80 Biaggini stellt fest, dass die schweizerische Methodenlehre sowie auch die Praxis eine Berücksichtigung der generellen Entscheidungsfolgen bejaht. Die Ergebniskontrolle, d. h. die Rücksichtnahme auf ein vernünftiges Ergebnis, gehöre mit Recht zu den anerkannten Auslegungsregeln. Die präjudizielle Wirkung jeder richterlichen Entscheidung lege es im Übrigen nahe, die Folgenorientierung nicht nur zu dulden, sondern dem Richter zur Pflicht zu machen.81 Allerdings weist auch Biaggini auf die Problematik der Überforderung der Gerichte bei der Ermittlung genereller Tatsachen sowie der möglichen Folgen rechtsfortbildender Regelungen hin, da die Verfahrensregeln der Gerichte nicht darauf ausgerichtet seien, außerjuristischen Sachverstand zu aktivieren.82 Fraglich sei daher nicht, ob sich der Richter an den Folgen orientieren dürfe, sondern ob es ihm erlaubt sei, Recht fortzubilden, wenn er die Folgen nicht abschätzen könne.83 In neuerer Zeit hat sich in der Schweiz insbesondere Feller mit der Folgenerwägung in der Rechtsprechung befasst.84 Er ortet außer bei der richterlichen Rechtsfortbildung u.a. auch gewisse Ansätze der Folgenorientierung bei den verschiedenen Auslegungselementen, insbesondere beim teleologischen Element.85 Er kommt außerdem zum bedeutsamen Schluss, dass wenn das Gesetz mehrere Lösungen zulasse, der Rechtsanwender in analoger Anwendung von Art. 1 Abs. 2 ZGB die Folgen seiner Entscheidung berücksichtigen solle.86 Folgenerwägungen gehören demnach vor allem dann zum Argumentarium, wenn zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Auslegungsvarianten auszuwählen ist.87 Wie in Deutschland lehnen herrschende Lehre und Rechtsprechung eine feste Rangfolge der Ausle79 Rhinow,

S. 256. S. 256 f. 81 Biaggini, S. 395 f. 82 Biaggini, S. 395. 83 Biaggini, S. 396. 84  Siehe für eine knappe Übersicht auch Schluep, N 2954 ff. 85 Feller, S. 11 ff. und 131. Etwa auch Koch/Rüßmann, S. 230 ff., wollen die Folgenorientierung bei der objektiv-teleologischen Auslegung verorten. Deckert, Folgenorientierung, S. 55, hingegen sieht im klassischen Methodenkanon keinen Platz für folgenorientierte Auslegung. In der Praxis würden aber, zumeist unter dem Deckmantel der ratio legis, in der Tat Folgenerwägungen angestellt. 86 Feller, S. 134. 87 Gächter, S. 188. 80 Rhinow,

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gungselemente ab. Das Schweizerische Bundesgericht spricht von pragmatischem Methodenpluralismus: „Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen.“88

Das Folgenargument könnte damit als Metaregel dienen, um im Anwendungsfall die Rangfolge der grundsätzlich gleichrangigen Auslegungselemente zu bestimmen. Das Lehrbuch „Schweizerisches Bundesstaatsrecht“ dürfte den Meinungsstand in der Schweiz gut zusammenfassen: „Die Gewichtung der verschiedenen Auslegungselemente im Einzelfall enthält ein Element der Wertung. Dabei hat das rechtsanwendende Organ auch auf das Resultat der Auslegung zu achten: Es hat die Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden unter anderem auf ein befriedigendes, vernünftiges und praktikables Ergebnis auszurichten. Dies entspricht – ob bewusst oder unbewusst, offengelegt oder versteckt – der Aufgabe und dem Bemühen jedes verantwortlichen Gesetzesanwenders. Wenn die rechtsanwendenden Behörden mehr sein wollen als blosse Subsumtionsautomaten, tragen sie mit an der Verantwortung für sinnvolle Entscheide.“89

Mit dem „Resultat der Auslegung“90 dürften sicherlich die Rechtsfolgen und die damit direkt verknüpften Mikrorealfolgen angesprochen sein, nicht unbedingt 88 

BGE 134 IV 297, E. 4.3.1, S. 302. Häfelin/Haller/Keller, N 135. 90  Die Rückwärtsdeduktion vom Ergebnis her ist allerdings nicht unproblematisch. Es ist freilich keine Kunst, ins Schwarze zu treffen, wenn man die Scheibe um den Einschuss herum malt. Möglicherweise liegt aber die „große Kunst“ gerade darin, mittels Anwendung und Konstruktion dogmatischer Figuren das Ergebnis mit scheinbar logischer Stringenz in eine bestimmte Richtung zu lenken. Vgl. Kriele, S. 110, mit der Forderung nach Offenlegung der wahren Entscheidungsgründe (S. 116 f.). Coles, S. 185, stellt gar die Behauptung auf, dass unabhängig davon, ob der Richter direkt auf Folgen zurückgreife oder dogmatische Begriffe, Institute oder Theorien bemühe, die in ihrer aktuellen Bedeutung durch Folgenerwägungen bestimmt werden, der Einfluss von Folgenerwägungen auf die richterliche Entscheidung sich nachweisen lasse. Seiler, Einführung, S. 222, hält es für ein durchaus legitimes Vorgehen, zunächst einmal eine Frage intuitiv zu entscheiden und das Ergebnis anschließend aufgrund der Auslegungselemente im Sinne einer Rationalitäts- und Plausibilitätskontrolle zu überprüfen. Wichtig sei dabei aber die Offenheit, vom intuitiv gefundenen Ergebnis abzuweichen und nicht zu versuchen, es um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Auch Sambuc, S. 111, weist zu Recht darauf hin, dass Folgenerwägungen nicht dazu dienen dürfen, den Weg zu einem erwünschten Ergebnis an unzweifelhaften Gesetzesbindungen vorbei zu eröffnen. Zur Gefährlichkeit der Nichtbeachtung dieses Grundsatzes siehe Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus. 89 

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ausgeschlossen sind jedoch auch die Makrorealfolgen.91 So fordern Forstmoser und Vogt, dass Folgenerwägungen im Rahmen der Auslegung auch im Hinblick auf die präjudizielle Wirkung des Urteils und seine Ausstrahlung über den Einzelfall hinaus anzustellen seien.92 Ein Gericht sollte jedenfalls dort, wo es sich im Bereich zulässiger richterlicher Rechtsfindung bewege, Folgenerwägungen anstellen und die Breitenwirkung eines ins Auge gefassten Urteils bei seiner Entscheidfindung mitberücksichtigen.93 Kramer fordert, dass sich der Richter, wenn seine Entscheidung vom Gesetzgeber nicht oder nur sehr vage „konditional programmiert“ sei, nicht hinter imaginären „Grundwertungen“ der Rechtsordnung oder Tatbestandsfiktionen verstecken, sondern diese, gleich wie der Gesetzgeber, bewusst autonom begründen solle. Dies sei nicht nur ein Gebot der Methodenehrlichkeit, sondern nur so könne der richterliche Entscheid diskutierbar und akzeptanzfähig werden.94 Wie bereits erwähnt, hat im angloamerikanischen Raum der Konsequenzialismus eine lange Tradition. So machte sich bereits Oliver Wendell Holmes in seinem Aufsatz „The Path of the Law“ (1897) für eine Berücksichtigung der Folgen in der Rechtsanwendung stark und wandte sich gegen einen starren Formalismus: „Behind the logical form lies a judgment as to the relative worth and importance of competing legislative grounds, often an inarticulate and unconscious judgment, it is true, and yet the very root and nerve of the whole proceeding. You can give any conclusion a logical form.“95

Holmes wollte den starren Formalismus und die tradierten Dogmen überwinden. An deren Stelle sollte eine Berücksichtigung der Ziele und der Wahl der Mittel dieser Ziele treten. Holmes dachte dabei insbesondere auch an ökonomische Ana­ lysemethoden: „I look forward to a time when the part played by history in the explanation of dogma shall be very small, and instead of ingenious research we shall spend our energy on a study of the ends sought to be attained and the reasons for desiring them. As a step toward that ideal it seems to me that every lawyer ought to seek an understanding of economics.“96

Hart spricht gar von einer Revolte gegen den Formalismus, an der Holmes zusammen mit dem Philosophen John Dewey und dem Ökonomen Thorsten Veblen beteiligt gewesen sei.97 In der Folge hätten die Juristen in Amerika Abschied von der Vorstellung genommen, dass das Rechtsdenken unabhängig von der Politik

91 

Zu den Begriffen Mikro- und Makrorealfolgen siehe zu Beginn des Teils III. § 19 N 113. 93 Forstmoser/Vogt, § 19 N 115. 94  Kramer, S. 218. 95  Holmes, S. 466. 96  Holmes, S. 474. 97  Hart, S. 130. Im kontinentaleuropäischen System konnten sich diese Ideen – trotz Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz – allerdings nicht durchsetzen. 92 Forstmoser/Vogt,

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und der sozialen Realität sei.98 „The Path of the Law“ erschien ein Jahr vor William James’ bahnbrechendem ersten Aufsatz über Pragmatismus, „Philosophical Conceptions and Practical Results“ (1898), wonach der einzige Test einer Idee ihre praktischen Konsequenzen seien.99 Dieser Aufsatz markierte den Beginn der pragmatischen Bewegung in den Vereinigten Staaten, wobei der Begriff „Pragmatismus“ Charles Sanders Peirce zugeschrieben wird.100 John Dewey hat dabei die Ansicht vertreten, dass die Folgenorientierung nicht etwa die Rechtssicherheit vermindere, sondern erhöhe. Angesichts der Schnelligkeit des sozialen Wandels sei es schwierig, neue Fakten in alte Kategorien einzupassen. Die Folge davon sei eine Irrationalität und Unvoraussehbarkeit der rechtlichen Entscheidungen:101 „[T]o claim that old forms are ready at hand that cover every case and that may be applied by formal syllogizing is to pretend to a certainty and regularity which cannot exist in fact. The effect of the pretension is to increase practical uncertainty and social instability.“102

Um diesem Problem zu begegnen, sollten sich rechtliche Entscheidungen daher an ihren Konsequenzen orientieren. Dieser pragmatische Instrumentalismus setzte sich in den USA durch und kulminierte in Karl Llewellyns „The Common Law Tradition“ (1960).103 In neuerer Zeit weist auch Neil MacCormick auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Folgen hin. Er lehnt sowohl eine Entscheidungsfindung, die sich nur an den Konsequenzen, wie auch eine, die sich nur an der „Richtigkeit“ der Entscheidung orientiert, ab. Stattdessen spricht er sich für einen Mittelweg aus, bei dem die Konsequenzen auch eine gewisse Rolle spielen sollen:104 „So I reject both extremes and entertain only the middle view that some kinds and some ranges of consequences must be relevant to the justification of decisions. […] I conclude that some element of consequentialist reasoning must be present in any sound deci­ sionmaking process, in any satisfactory mode of practical deliberation.“105

Zwar beruhe ein gerichtliches Urteil auf rechtlichen Prinzipien, doch sei dies allein nicht hinreichend für eine vollständige Legitimation des Entscheides. Dieser sei nämlich u.a. auch an seinen Konsequenzen zu testen.106 Das konsequenzialistische Argument scheint sich bei MacCormick zwar eher auf normative Folgen zu

Horwitz, S. 142. James, S. 434; Horwitz, S. 142. 100  James, S. 406. 101  MacCormick, Legal Decisions, S. 241 f. 102  Dewey, S. 26. 103  MacCormick, Legal Decisions, S. 242. 104  MacCormick, Legal Decisions, S. 239 f. 105  MacCormick, Legal Decisions, S. 240. 106  MacCormick, Legal Reasoning, S. 250. 98 

99 

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beziehen, d. h. auf die Auswirkungen eines Urteils auf spätere Entscheidungen und andere Rechtsregeln.107 Dabei sollen mehrere Kriterien Anwendung finden: „It involves multiple criteria, which must include at least ‚justice‘, ‚common sense‘, ‚public policy‘, and ‚legal expediency‘.“108

Insbesondere mit dem Kriterium der öffentlichen Ordnung und der Zweckmäßigkeit werden demnach aber auch Realfolgen in den Test miteinbezogen. 3.  Folgerungen für die Rechtspraxis Wie diese Analyse zeigt, vermag eine pauschale Ablehnung von Folgenerwägungen in der Rechtsanwendung nicht zu überzeugen. Interessanterweise wird die Diskussion in den verschiedenen Rechtskulturen des deutschsprachigen und angloamerikanischen Raums in ähnlicher Weise ausgetragen. Rechtsanwendung ist nicht einfach nur Anwendung bereits bestehender Regeln, sondern hat häufig auch eine rechtsschöpferische Komponente. Eine strikte Trennung von rechtlichen und rechtspolitischen Argumenten ist daher nicht möglich. Zusammenfassend lässt sich deshalb folgern, dass immer dann, wenn der Rechtsanwender modo legislatoris tätig wird, ihn wie den Gesetzgeber eine Folgenverantwortung trifft, die er nur wahrnehmen kann, wenn er auch entsprechende Folgenerwägungen vornimmt. Dies gilt namentlich für die richterliche Rechtsfortbildung sowie – zumindest in schwierigen Fällen – bereits bei der Auslegung von Rechtsnormen, insbesondere dann, wenn zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Auslegungsvarianten auszuwählen ist. Wenn auf diese Weise Folgenargumente in die richterliche Entscheidung miteinfließen, sind folglich auch die entsprechenden Entscheidungsgründe offenzulegen. Dies stellt nicht nur ein Erfordernis der Methodenehrlichkeit und der Transparenz dar, sondern ist auch deshalb notwendig, weil dadurch die Urteile leichter nachvollziehbar und diskutierbar sind. Auf diese Weise kann die Folgenberücksichtigung nicht nur die Qualität der Urteile, sondern auch die Legitimation der Rechtsanwendung erhöhen.

IV.  Das Beispiel der „Hand Rule“ Ein berühmtes Beispiel für die Anwendung ökonomischer Argumentationsfiguren in der Rechtsanwendung ist die sog. „Hand Rule“, die auf Learned Hand, einen amerikanischen Bundesrichter zurückgeht. Dieser hat 1947 in einem Urteil eine ökonomische Methode zur Bestimmung des effizienten Sorgfaltsmaßstabes formuliert, die als Learned Hand Formula oder Hand Rule in die Literatur eingegangen ist. In dem zu beurteilenden Fall ging es um die Frage, ob der Eigentümer einer Barke dafür haftbar gemacht werden könne, dass er diese während mehrerer 107 

108 

Rudden, S. 193 f. MacCormick, Legal Reasoning, S. 252 f.

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Stunden unbeaufsichtigt gelassen hatte. In dieser Zeit riss sich die Barke von ihrem Standplatz los und kollidierte in der Folge mit einem anderen Schiff. Richter Hand führte in seinem Urteil aus: „[T]here is no general rule to determine when the absence of a barge or other attendant will make the owner of the barge liable for injuries to other vessels if she breaks away from her moorings. […] It becomes apparent why there can be no such general rule, when we consider the grounds for such a liability. Since there are occasions when every vessel will break from her moorings, and since, if she does, she becomes a menace to those about her, the owner’s duty, as in other similar situations, to provide against resulting injuries is a function of three variables: (1) The probability that she will break away; (2) the gravity of the resulting injury, if she does; (3) the burden of adequate precautions.“109

In der weiteren Urteilsbegründung konkretisierte Richter Hand diese Ausführungen mit einer mathematischen Formel. Wenn B die Kosten für die Vorsichtsmaßnahmen des Schädigers darstellt, P für die Schadenswahrscheinlichkeit und L für den voraussichtlichen Schaden steht, dann ergibt sich eine deliktische Haftung aus Verschulden, solange gilt: B < P * L. Eine Fahrlässigkeitshaftung setzt nach der „Hand Rule“ genau dann ein, wenn der Erwartungswert des Schadens größer ist als die Kosten für seine Vermeidung. Wenn hingegen die Vermeidung eines Schadens mehr Aufwand erfordert, als der Erwartungswert des potenziellen Schadens beträgt, ist eine Haftung bei Unterlassung der entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen zu verneinen. Allgemeiner formuliert ist gemäß der „Hand Rule“ eine bestimmte Handlung nur dann erforderlich, wenn sie effizient ist, d. h. wenn sie für die Gesellschaft mehr Nutzen als Kosten generiert.110 1.  Das Folgenparadoxon Auf den ersten Blick erscheint die „Hand Rule“ als eine äußerst praktische Regel zur Bestimmung der Fahrlässigkeit, da das Gericht in jedem einzelnen Haftungsfall den Sorgfaltsmaßstab individuell festlegen und auf diese Weise den speziellen Gegebenheiten des konkreten Falles besonders Rechnung tragen kann.111 Dadurch erlaubt sie dem potenziellen Schädiger, die Möglichkeit einer Haftung wegen Fahrlässigkeit besser einzuschätzen, woraufhin dieser von einer gefährlichen Tätigkeit Abstand nehmen oder stattdessen kostengerechte Vorsichtsmaßnahmen treffen kann. In diesem Sinne stellt die „Hand Rule“ eine effiziente Haftungsregel dar, da sie insgesamt dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Kosten von Schäden und deren Vermeidung zu minimieren. Probleme können sich aber ergeben, wenn man sich fragt, wie das Ausmaß der relevanten Folgen zu bestimmen ist. Das Gericht hat ex post zu beurteilen, ob der Schädiger das Risiko seines Verhaltens ex ante richtig eingeschätzt und kostengerechte Vorsichtsmaßnahmen getroffen hat. Für die Haftung kann es eine entschei109 

United States v. Carroll Towing Co., 159 F.2d 169, 173 (2d Cir. 1947). Siehe hierzu eingehender Mathis, S. 97 ff. 111  Cooter/Ulen, S. 351 f. 110 

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dende Rolle spielen, ob nur die unmittelbaren Folgen des konkreten Falles (d. h. die Mikrorealfolgen) oder auch weiter entfernte Folgen für die Gesellschaft (d. h. die Makrorealfolgen) berücksichtigt werden. Dies kann zu einem Paradoxon führen, wie das folgende Beispiel illustriert.112 Angenommen, ein Fahrzeuglenker missachte eine rote Verkehrsampel, um eine lebensbedrohlich verletzte Person rechtzeitig ins Krankenhaus zu fahren. Die Kosten des dabei verursachten Unfalls seien 40. Der Nutzen, der aus der Rettung des Verletzten resultiert, betrage 50. Ausgehend von diesen Zahlen ist es aus der Sicht des Fahrzeuglenkers effizient, die rote Ampel zu überfahren und die verletzte Person zu retten. Das Gericht würde aufgrund dieser Daten das Verhalten des Fahrzeuglenkers in Anwendung der „Hand Rule“ als nicht fahrlässig beurteilen und eine Haftung verneinen.113 Geht man nun allerdings davon aus, dass dieses Gerichtsurteil weiter gehende Folgen für die gesamte Gesellschaft zeitigt, indem es beispielsweise generell eine schlechtere Befolgung der Verkehrsregeln durch andere Fahrzeuglenker nach sich zieht, müsste das Gericht eigentlich diese Folgekosten ebenfalls miteinkalkulieren und bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Wenn diese gesellschaftlichen Folgekosten beispielsweise 20 betragen, wären die Gesamtkosten 60 und würden damit den Nutzen von 50 überwiegen. Der Fahrzeuglenker hätte dann gemäß der „Hand Rule“ seine Sorgfaltspflicht verletzt und müsste demnach haften.114 Darin liegt nun das Folgenparadoxon: Wie aufgezeigt, würde der Schädiger bei einem Urteil A, das nur die beim Unfall entstehenden Kosten von 40 berücksichtigt, nicht haften. Gleichzeitig hätte ein solches, die Haftung verneinendes Urteil A jedoch zur Folge, dass generell die Verkehrsregeln schlechter beachtet würden und aus diesem Grund gesellschaftliche Folgekosten von insgesamt 20 entstünden. Das Gericht könnte nun auch diese gesellschaftlichen Folgekosten berücksichtigen wollen, wobei es feststellen würde, dass die Gesamtkosten von neu 60 jetzt höher wären als der zu erreichende Nutzen von 50. Gestützt darauf müsste das Gericht unter Anwendung der „Hand Rule“ zum Schluss kommen, dass der Schädiger fahrlässig gehandelt hätte und dass in seinem Urteil B die Haftung zu bejahen wäre. Würde das Gericht nun dieses Urteil B erneut auf seine gesellschaftlichen Folgenkosten hin untersuchen, würde es jetzt aber erkennen, dass solche gar nicht mehr entstünden. Das die Haftung bejahende Urteil B hätte nämlich – im Unterschied zum Urteil A – keine schlechtere Beachtung der Verkehrsregeln zur Folge. Das Fehlen dieser gesellschaftlichen Folgekosten müsste jedoch wieder zu einem die Haftung verneinenden Urteil A führen, wobei die aus diesem Urteil A resultierenden gesellschaftlichen Folgekosten erneut ein die Haftung bejahendes Urteil B begründen würden, usw. Es liegt ein logischer Zirkel vor, als das Entstehen der

112 

Das folgende Beispiel supponiert Verschuldenshaftung des Fahrzeuglenkers. Fletcher, S. 191. 114  Fletcher, S. 191. 113 

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gesellschaftlichen Folgekosten vom jeweiligen Urteil abhängt und umgekehrt das jeweilige Urteil vom Entstehen der gesellschaftlichen Folgekosten.115 Fletcher schlägt zur Lösung dieses Problems vor, streng zwischen den Folgen des zu beurteilenden Akts („consequences of the act being judged“) und den Folgen des urteilenden Akts („consequences of the act of judging“) zu unterscheiden.116 Ausgehend von dieser Differenzierung postuliert er zwei Lösungen: Die gesellschaftlichen Folgen des Einzelfalls (d. h. die Makrorealfolgen) seien bei der Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes nicht zu beachten, außer wenn sie außerordentlich hoch sind. Eine radikalere Lösung stelle die generelle Nichtbeachtung der Makrorealfolgen bei der Beurteilung eines konkreten Falles dar.117 2.  Die Bilateralismus-Kritik Gegen die „Hand Rule“ wird eingewendet, dass diese Haftungsregel allein auf dem Kriterium der Effizienz beruht, indem sie ex ante versucht, das optimale Maß an Vorsichtsmaßnahmen für potenzielle Schädiger und Geschädigte festzulegen sowie auf denjenigen den Schaden zu überwälzen, der diesen mit dem geringsten Aufwand hätte vermeiden können.118 Das Ziel besteht also darin, die richtigen Anreize zu kostenwirksamem Verhalten zu setzen und somit schließlich den gesellschaftlichen Wohlstand zu maximieren.119 In diesem Sinne kommt der „Hand Rule“ eine rein abschreckende Funktion (Präventivwirkung) zu. Coleman kritisiert diesen Ansatz, weil dieser die normative Beziehung zwischen Geschädigtem und Schädiger nicht erklären könne (sog. Bilateralismus-Kritik). Man analysiere dabei ex ante hypothetische Schadensfälle unter dem Gesichtspunkt der Kosten- und Risikominimierung. In Tat und Wahrheit habe aber ein Gericht ex post reale Schadensfälle zu beurteilen, die zwei ganz konkrete Parteien beträfen, die aufgrund des Schadensereignisses miteinander in einer normativen Beziehung stünden:120 „The problem that confronts economic analysis, or any entirely forward-looking theory of tort law, is that it seems to ignore the point that litigants are brought together in a case because one alleges that the other has harmed her in a way she had no right to do. Litigants do not come to court in order to provide the judge with an opportunity to pursue or refine his vision of optimal risk reduction policy.“121 115  Zu beachten ist allerdings, dass es sich hier um ein konstruiertes Beispiel handelt. Dabei ist insbesondere die Annahme, dass beim Urteil A die Verkehrsregeln generell schlechter befolgt würden, fragwürdig. Wenn die Fahrzeuglenker nur in vergleichbaren Fällen die rote Ampel überfahren, entsteht das Problem nicht. 116  Fletcher, S. 193. 117  Fletcher, S. 193 f. 118  Coleman, Practice, S. 14. Calabresi, S. 136 ff., spricht in diesem Zusammenhang vom „cheapest cost avoider“. 119  Coleman, Practice, S. 13. Siehe hierzu eingehender Mathis, S. 166 ff. 120  Coleman, Practice, S. 16 ff. 121  Coleman, Practice, S. 17.

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Für Coleman hingegen erklärt das Konzept der korrektiven Gerechtigkeit das Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem am besten.122 Statt an der korrektiven Gerechtigkeit, die von der bilateralen Natur der Rechtsbeziehung ausgehe, orientiere sich die ökonomische Rechtsanalyse an einem gesellschaftlichen Ziel, der Förderung der Effizienz.123 Interessanterweise hält Dworkin die „Hand Rule“ als mit seiner Theorie vereinbar und bestreitet, dass man mit deren Anwendung ein kollektives Ziel verfolge. Diese stelle nur einen Mechanismus dar, um Rechte miteinander in Einklang zu bringen: „Since Hand’s test [and similar arguments] are methods of compromising competing rights, they consider only the welfare of those whose abstract rights are at stake. They do not provide room for costs or benefits to the community at large, except as these are reflected in the welfare of those whose rights are in question. […] Hand’s formula, and more sophisticated variations, are not arguments of that character; they do not subordinate an individual right to some collective goal, but provide a mechanism for compromising competing claims of abstract right.“124

Wenn man Dworkins Konzeption folgt, wäre – zumindest für die „Hand Rule“ – nicht nur die Bilateralismus-Kritik entkräftet, da ja gar kein kollektives Ziel verfolgt würde. Gleichzeitig wären für die Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes nur Nutzen und Kosten der betroffenen Parteien (d. h. die Mikrorealfolgen) maßgebend, was auch das oben erwähnte Folgenparadoxon vermeiden würde. Leider vermag aber Dworkins Argumentation nicht zu überzeugen, denn selbst wenn nur die Nutzen und Kosten der beteiligten Personen berücksichtigt würden, lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die „Hand Rule“ gleichwohl – wenn auch in unzureichender Weise, da nicht alle gesellschaftlichen Nutzen und Kosten miteinbezogen werden – die allokative Effizienz als kollektives Ziel verfolgt. 3.  Ansätze im schweizerischen Haftpflichtrecht Das schweizerische Haftpflichtrecht kennt die Verschuldenshaftung und die Kausalhaftung.125 Die wichtigste außervertragliche Verschuldenshaftung ist dabei in Art. 41 des Obligationenrechts (OR) geregelt, wonach derjenige den Schaden trägt, der diesen widerrechtlich aus Absicht oder Fahrlässigkeit einem anderen zufügt. Absicht und Fahrlässigkeit werden in der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung unter dem Begriff des Verschuldens zusammengefasst. Nach der traditionel122 Ähnlich argumentieren Ernest J. Weinrib, The Idea of Private Law; Benjamin Zipursky, Rights, Wrongs, and Recourse in the Law of Torts, sowie Martin Stone, On the Idea of Private Law. Zur gleichen Thematik siehe auch Jules Coleman, Tort Law and the Demands of Corrective Justice, sowie Stephen R. Perry, Comment on Coleman: Corrective Justice. 123  Damit verbunden sei der unerschütterliche Glaube an den Staat als Motor des sozialen Wandels. Coleman, Costs, S. 344. 124  Dworkin, TRS, S. 99 f. 125  Roberto, § 3 N 34.

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len Auffassung versteht man unter Fahrlässigkeit, dass eine urteilsfähige Person nicht dermaßen sorgfältig gehandelt hat, wie dies eine vernünftige Durchschnittsperson unter den gleichen Umständen getan hätte. Diese Definition bestimmt jedoch noch nicht, wie sorgfältig sich eine vernünftige Durchschnittsperson unter eben diesen Umständen verhalten würde.126 Damit sich aber ein Gericht in einem konkreten Fall mit der Frage des Verschuldens befassen kann, benötigt es einen Sorgfaltsmaßstab zur Bestimmung des vernünftigen Verhaltens. Die „Hand Rule“ könnte dabei als Maßstab herangezogen werden, um das Verhalten einer vernünftigen Durchschnittsperson in der gleichen Situation zu bestimmen. In diesem Sinne entspräche der Begriff der vernünftigen Durchschnittsperson der ökonomischen Figur des homo oeconomicus.127 Es bleibt dabei anzumerken, dass ökonomische Überlegungen im schweizerischen Haftpflichtrecht nicht völlig neu sind. So ist beispielsweise trotz der Kausalhaftung des Art. 58 OR die Sorgfaltspflicht des Werkeigentümers nicht unbegrenzt, als die Zumutbarkeit von Unterhaltsmaßnahmen zur Vermeidung von Werkmängeln durch den Vergleich der entsprechenden Kosten mit dem erzielten Nutzen bestimmt wird.128 Kramer spricht sich nachdrücklich für ökonomische Überlegungen bei der Konkretisierung des zentralen haftpflichtrechtlichen Begriffs der Fahrlässigkeit aus und verweist dabei explizit auf die „Hand Rule“.129 Nach der Auffassung von Bundesrichter Hansjörg Seiler und von Laurent Bieri könnte die „Hand Rule“ im schweizerischen Haftpflichtrecht bereits de lege lata angewendet werden.130 Wenn die Gerichte dieser Meinung nicht folgen, wäre gegebenenfalls de lege ferenda eine Änderung von Art. 41 OR notwendig, um die „Hand Rule“ als Sorgfaltsmaßstab bei der Beurteilung des Verschuldens explizit im Gesetz zu verankern.

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Realistische Rhetorik als Methodik der Jurisprudenz Einführung: Rhetorik und Philosophie João Maurício Adeodato Abhängig davon, wie weit der Begriff der Philosophie gefasst wird, befindet sich die Rhetorik inner- oder außerhalb der Begriffsbestimmung. Wenn Philosophie die Suche nach der Wahrheit für die Kognition und nach der Gerechtigkeit für die Ethik bedeutet, und Rhetorik auf diese Begriffe verzichtet, so ist sie kein Teil der Philosophie. Nimmt man hingegen an, dass Philosophie nicht diese Ziele hat, dann befindet sich die Rhetorik im Gegensatz zur Ontologie, und beide konstituieren eine grundlegende Dichotomie der westlichen philosophischen Tradition. Charakteristisch für die rhetorische Philosophie ist die Idee von der Sprache als gemeinsamer Punkt jener „Wirklichkeiten, in denen wir leben“.1 In der Linie Arnold Gehlens fasst Hans Blumenberg die anthropologischen Grundlagen der westlichen Philosophie in zwei gegensätzlichen Tendenzen zusammen. Die hier vorgenommene Trennung kommt jener Zweiteilung Essentialismus kontra Rhetorik oder der Dichotomie Wahrheit kontra Mutmaßung gleich. Eine signifikante Veränderung des Paradigmas der Moderne und Post-Moderne wäre, die Vorstellung vom Menschen als triumphierende Spezies aufzugeben, die die Natur dominiert und demnach die „Krone der Schöpfung“ darstellt. Er wird dann als zögernd, metaphorisch, vermittelnd in seiner Beziehung zur Umwelt agierend verstanden, beherrscht von der Notwendigkeit, die bestehende Distanz zu der ihn umgebenden Natur ausgleichen zu können. In der Terminologie Gehlens wird der Mensch in der anthropologischen Philosophie einerseits als ein reiches Wesen, andererseits als ein armes Wesen, gemäß der Beziehung zu seiner Umwelt, wahrgenommen. Den ontologischen, essentialistischen Philosophien ist die Sprache ein reines Instrument, ein Mittel zur Entdeckung der Wahrheit, welches einigen offensichtlich ist, anderen wiederum mit allen Kombinationen und Eklektizismen hinter seiner Fassade verborgen bleibt. Bedeutsam ist hierbei die Idee, dass es dem Menschen möglich ist, an Hand von Methode, Logik, Intuition, Emotion und der kompetenten Anwendung seines gesamten kognitiven Apparates zur Wahrheit zu gelangen, das heißt, zu einer Schlussfolgerung, welche sich allen zu akzeptieren aufzwingt. Im Bereich der Ethik beläuft sich die Wahrheit auf das Korrekte, auf das Gerechte. Im Gegensatz hierzu sind sich Rhetoriker diverser Strömungen darüber einig, dass es sich dabei um eine Illusion handelt und die Sprache nicht nur das höchstmögliche 1 

Blumenberg, S.  104 – 136.

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Maß der Übereinstimmung, sondern auch das einzige ist. Und selbst wenn diese Übereinstimmung vorübergehend sowie umstandsbedingt ist und sehr häufig unterbrochen wird, ist sie das Einzige, das „Rationalität“ genannt werden kann. Als vollständiges Wesen besitzt der Mensch das Kriterium und ist fähig die Wahrheit zu „ent-decken“, während die Sprache lediglich als Instrument und die Rhetorik nur als eine Verzierung dient, durch welche jener, der spricht, die Umwelt mehr oder weniger wirkungsvoll prägen kann. Als bedürftiges Wesen ist der Mensch nicht in der Lage, irgendeine Wahrheit die Welt betreffend, unabhängig von einem linguistischen Kontext, zu begreifen. Dieser linguistische Kontext ist die einzige künstliche Wirklichkeit, mit der er fähig umzugehen ist.

I.  Die Grundlagen der aristotelischen Rhetorik: ḗthos, páthos und lógos Diese sind die drei Überzeugungsmittel der Kommunikation in der aristotelischen Rhetorik und bilden die Eigendarstellung des Redners: „Ersteres zielt auf den persönlichen Charakter des Redners ab; das Zweite sucht einen bestimmten geistigen Zustand beim Hörer hervorzurufen; das Dritte, das Mittel des Beweises oder des vermeintlichen Beweises, wird durch die Worte des eigentlichen Diskurses beliefert“.2 Sie tauchen immer wieder in der rhetorischen Terminologie auf und bedürfen daher einer kurzen Erläuterung, um sodann auch die Stellung der Rhetorik im Recht verstehen zu können. Bei Aristoteles wird die Verbindung von Rhetorik und moralischer Tugend deutlich dargestellt. So begleitet das ḗthos die Tugend (aretḗ) und die Überlegung oder Vorsicht (phrónēsis). Gerade diese Wechselbeziehung wurde jedoch stets hinterfragt und seit jeher diskutieren die Gelehrten über die verschiedenen Kriterien der begrifflichen Unterscheidung von ḗthos, aretḗ und phrónēsis. Wenn Aristoteles selbst darauf bestand, dass die Rhetorik ohne eine gute Ethik nicht genutzt werden dürfe, sehen Gegenansichten sie als Mittel für Ziele jeglicher Art. Gerade die Existenz dieser Kontroverse belegt das tausendjährige Problem des Verhältnisses zwischen Rhetorik und Ethik (Lehre des ḗthos). Charakteristisch für das ḗthos, das aus dem Brauch hervorgeht, ist, dass es sich im Erscheinungsbild, den Zügen, der Gesinnung, dem Blick und der Körperhaltung widerspiegelt. In diesem physischeren Sinne handelt es sich zunächst um den Ort an dem man lebt, an den man gewöhnt ist, Tiere eingeschlossen. Anschließend wird zu den Bezeichnungen „Anwendung, Angewohnheit, Art“ übergegangen. Und in einem dritten Sinne wird das ḗthos schließlich in Bezug auf die Ausprägung des Charakters, die Fähigkeit zu bestimmten Einstellungen und menschlichen Verhaltensmustern ausgelegt, als wenn man über ein träumerisches, cholerisches oder melancholisches ḗthos spricht. Eine vierte, vielleicht schon etwas spätere Interpre-

2 

Aristotle, v. 8, I, 2, 1356a1 – 5 u. 14 – 16, S. 595.

Realistische Rhetorik als Methodik der Jurisprudenz

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tation bezieht sich auf den Eindruck, der vom Redner bei der Rede erzeugt wird, und kommt somit der Bedeutung des páthos nahe.3 Páthos, im Plural páthē, bedeutet Leidenschaft, Emotion, Gefühl. Außerhalb des philosophischen Gesprächs wurde er in den gewöhnlichen Sprachgebrauch übernommen und bezeichnet all jene Formen des Gefühls, die dem Leiden nahe kommen, im Gegensatz zu einem aktiven Handeln. In der Rhetorik Aristoteles’ steht das páthos in Verbindung mit dem Hörer und das ḗthos auf Seiten des Sprechers, wenn diese Verbindung auch schon vor allem durch neuere Autoren gelöst, gar aufgelöst worden ist. Der Begriff des páthos zeigt sich in jeglicher Art von Emotion, Schmerz oder Freude, durch welche sich die Personen so verändern, dass ihr Handeln und ihre Entscheidungen sich signifikant von denen ihres Normalzustandes unterscheiden. In der Renaissance wurde die Rhetorik des páthos systematisiert als ein Teil der Topik, der die sogenannten „pathetischen Argumente“ vereinigt. Abgesehen von der Darstellung dieser seelischen Zustände beschreibt páthos auch den Ausdruck oder die Artikulation dieser Gefühle und, was noch wichtiger scheint in Hinblick auf die Rhetorik deutet es auch auf eine gewisse Qualität des Diskurses hin, die darin besteht, im Zuhörer dieselben Gefühle zu wecken, die der Redner zu übermitteln wünscht. Hier liegt der entscheidende Punkt: Das páthos (des Redners), der das páthos (des Zuhörers) wegen der Kunst der Rhetorik erweckt. Diese pathetische Übertragbarkeit des Diskurses ergibt sich, wenn der Redner es schafft, eine Abneigung gegen das, was er angreifen will (Empörung, deínōsis, indignatio) oder Zustimmung und Anschluss an das, was er verteidigen möchte (Mitleid, Erbarmen, eleeinología, miseratio) herbeizuführen. Der Begriff lógos, im Plural lógoi, wurde mit „Vernunft“ oder „Wissenschaft“ übersetzt, jedoch scheint es, als bedeute er ursprünglich „Sprache“. Der erste Sinn des Wortes lógos (in der verbalen Form légein) ist sprechen, sagen, und hat am Anfang nur den Akt selbst zum Inhalt, danach allerdings auch das Resultat des Aktes, das heißt die Rede selbst. Die zweite erlangte Konnotation des Wortes ist die des Vereinens, Sammelns, wie etwa in Katalogen (katálogos) zusammengestellt wird. Diese Bedeutungen scheinen seit ihrem Auftauchen auf das Wort lógos bezogen zu sein, so wie auch die der Vernunft, Argumentation, Definition, des Denkens, Verbs, Satzes usw. – viele von ihnen immer wieder in der Rhetorik auftretend.4 Der Sinn von lógos enthält einen gewissen Gegensatz zu dem von érgon, was Ergebnis, Effekt, Wirkung, Realität bedeutet. Diese Differenzierung zwischen lógos und érgon taucht schon bei Anaxagoras auf und die Sophisten machen sie bald zu dem Unterschied zwischen nómos und phýsis, durch den zugleich dem lógos ein normativer Charakter verliehen wird. Später erst trat die Logik in der Form, in der sie heute verstanden wird, auf; sie musste jedoch lange Zeit mit vielen anderen Bedeutungen konkurrieren. Von Aristoteles zum Beispiel wird die methodische 3 

4 

Liddel/Scott, S. 480 u. 766. Bailly, S. 581 u. 894. Ueding, S. 624.

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Studie des rational-deduktiven Denkens Analytik genannt und nicht Logik, welche eher für den argumentativen Disput genutzt wird. Für den Philosophen ist es danach die Analytik und nicht die Logik, die sich der Rhetorik entgegenstellt. In dieselbe Richtung definieren Sophisten wie Isokrates die Rhetorik als Kunst des lógos.

II.  Von der Sophistik zur Rhetorik: Einfügung des Historizismus, des Skeptizismus und des Humanismus Die Rhetorik, als Philosophie, ist aus der Sophistik hervorgegangen und hat sich dann weiter als jene ausgedehnt. Diese Erweiterung ist begrifflichen Ausdifferenzierungen und neuen Einstellungen und Auslegungen zu verdanken, welche der Sophistik philosophische Einfügungen einbrachten und die Rhetoren der Sophistik in rhetorische Philosophen verwandelten. Die wichtigsten Beiträge jener Art kamen aus dem Historizismus, dem Skeptizismus und dem Humanismus. Diese Ansicht ist keinesfalls die einzige. Andere Autoren verstehen das Aufkommen von Rhetorik und Sophistik parallel, dabei beschäftigte sich die Rhetorik mit der Reflexion über die Sprache und die Sophistik mit der Art der Macht, was zum abschließenden Kriterium ihrer Unterscheidung hätte werden können.5 Einen großen Impuls erhält dieser Umwandlungsprozess von Sophistik in Rhetorik mit der „humanistischen Wende“, auch „sokratische Wende“ genannt. Dadurch hat sich die Philosophie eingehender mit dem Menschen und der Ethik auseinandergesetzt als mit dem Kosmos, also die vorsokratische Tradition gewandelt, welche eine Ontologie der Natur suchte, vergleichbar mit modernen Astronomen und Physikern. Diese humanistische Veränderung lässt sich nicht nur Sokrates, sondern auch den Sophisten zuschreiben, die sich mit den Sokraten um das Verhältnis zwischen gut und schlecht stritten. Die antiken Wurzeln des Humanismus werden in die Römische Republik in der Form des sogenannten „Scipionenkreises“ wieder aufgenommen, begründet von Scipio Aemilianus und der studia humanitatis. Schon bei Cicero sind diese Begriffe zu finden. Die Ursprünge des Humanismus können aber weiter bis auf Heraklit, der einer der ersten Wegbereiter war, zurückverfolgt werden. Er unterschied den Menschen von den anderen Lebewesen an Hand des Verstandes und der Sprache (lógos), das das Differenzierungsmerkmal der Menschlichkeit ist. Das sehr mehrdeutige Wort Historizismus wird hier wie im antiken Griechenland verstanden, wo die Geschichte als ein Teil der Rhetorik gesehen wurde und aus exemplarischen Erzählungen über ethisch positive oder auch negative Verhaltensformen bestand, die Beispiele für eine überzeugende Argumentation liefern konnten. Diese historischen Beispiele waren gerade deshalb eine Konkretisierung der Überzeugung, ein vollendetes argumentum auctoritatis. Aristoteles behauptete demgemäß, dass ein Argument (enthýmema), das auf einem Beispiel basiert, von

5 

Ballweg 1982, S. 33.

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dem die Menschen glauben, dass es wirklich stattgefunden habe, überzeugender sei als eines, das diesen Glauben nicht genieße.6 Es war die Revolution des kartesianischen Rationalismus, die eine ätiologische und eschatologische Konzeption von Geschichte hervorbrachte. Das neue Geschichtsbild wurde zum einen kausal, als ein Studium von natürlichen Ursachen und Wirkungen, zum Beispiel der neuen Paradigmen von Physik und Biologie, und zum anderen progressiv verstanden, insofern es sich stets zum Besseren hin entwickele. Der Historizismus der Rhetorik ist wie die Arbeit Sisyphos‘ gedacht, versucht gegen diese ätiologischen und eschatologischen Perspektiven anzugehen. Die Geschichte sollte weder in kausalen Termen gedacht werden, noch läuft sie auf einen vorher bestimmbaren Punkt hinaus, gerade weil die vorübergehenden Übereinstimmungen über die Bedeutungen umständlich und unendlich variabel, manchmal sogar widersprüchlich sind. Genau wie Sisyphos nicht weiß, bis wohin Berg aufwärts er den Stein zu tragen imstande ist, weiß die Menschheit nicht, wo sie ankommen wird. Und so wird jedes historische Geschehen Moment für Moment konstruiert. Die Kritik und die Veränderung der Paradigmen, denen sich die Moderne in dieser vorübergehenden Herrschaft des Humanismus, der sich über die Renaissance hin etabliert hatte, unterworfen hat, ist schon von Mulcaster 1580 vorhergesehen worden, sowie von Francis Bacon, der eine größere Hingabe zu den Naturwissenschaften vertrat und die exzessiv rhetorische Bildung kritisierte. Einige Zeit später wurde mit dem kartesianischen Rationalismus und hobbesschen Realismus eine neue Mentalität im Westen installiert und die Geschichte nicht mehr als Aufzeichnung von exemplarischen Berichten, sondern als „kausale“ Enthüllerin „natürlicher“ Verbindungen zwischen Fakten erkannt, wie schon gesagt. Die rhetorische Perspektive kann sich nicht auf die subjektiven Sicherheiten der solipsistischen Auffassung der kartesianischen Methode berufen. Sprache impliziert Zusammenleben, denn es gibt keine Kommunikation in der Isolation, impliziert Vielfältigkeit und demnach Relativierung der Auffassungen von Wahrheit, denn die Menschen nehmen die Realität auf unterschiedliche Weise wahr. Im Gegensatz zu den herrschenden Philosophien der Gegenwart – Ontologien, Essentialismen oder Konventionalismen, Eschatologien und Evolutionstheorien –, welche das Wissen und die Ethik zu einem gewissen Maß absolut und unabhängig von der Sprache oder dem Ergebnis einer historisch objektiven Entwicklung verstehen, vertritt der Humanismus die Auffassung, dass das Wissen und die Ethik nur innerhalb der Sprache und des Relativismus, den diese mit sich bringt, möglich sind. Folglich sind sie rhetorisch. Es fehlen also noch ein paar Worte über die Skepsis, die ebenfalls eine starke Verbindung zum Historizismus und zur Rhetorik pflegt. Die historischen Abläufe werden mit Hilfe weiterer Begriffe beschrieben, die die Skeptiker, da ihnen keine 6 

Aristotle, v. 8, II, 20, 1394a, 5, S. 641.

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andere Möglichkeit zur Verfügung steht, in ontologisch beladenen Worten ausdrücken müssen. Nietzsche, Visionär der „Linguistischen Wende“ von Wittgenstein, die nur im 20. Jahrhundert stattfinden konnte, sagt: „Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“7 Die historische Perspektive birgt auf diese Weise eine skeptische Komponente in sich, eine Resignation gegenüber der Unmöglichkeit des definitiven Begreifens jener Dinge, die in der Geschichte ablaufen, die Geschichte „haben“, wie Nietzsche sagt. Was dagegen menschlich ist, verändere sich mit der Geschichte, und dies kann nur anhand einer relativen Denkweise verstanden werden: relativ bezüglich der Präferenzen der Beteiligten, bezüglich der linguistischen Übereinstimmungen, der Fähigkeit, einem anderen Schaden zuzufügen, Vorteile zu verteilen, usw. Auf den Lehren der pyrrhonischen Skepsis basierend führen zu diesem Relativismus zwei Auffassungen: Zum einen die isosthéneia im Bereich der Erkenntnis und zum anderen die ataraxía im Bereich der Ethik. Isosthéneia ist der Versuch, jegliches endgültige Urteil aufzuschieben, welches zu einer Weltanschauung und einem spirituellen Zustand führen würde, den die Skeptiker als wünschenswert erachten. Erreicht werden kann dieser insbesondere durch das Abwägen der diversen Faktoren innerhalb einer Kontroverse, das auf eine „gleiche Kraft“ (wörtlich „isosténia“) der Argumente hinausläuft. Dies gleicht dem bereits angesprochenen „dissoi lógoi“ des Protagoras: Jede Kontroverse hat mehrere Seiten und es gibt keine „richtige“ Perspektive. Ataraxía bedeutet Unerschütterlichkeit, denn der Ausdruck entsteht aus der Negation der tarachḗ, der Störung, Unruhe, Verwirrung, die Unglück bringt. Zur Unerschütterlichkeit gelangt der Skeptiker insbesondere dank der adiaforia, die ihm ein wichtiger Wert ist: die Überzeugung, dass die Dinge und Ereignisse indifferent zu den Menschen sind und dass der Zufall, das Pech und das Glück zum Leben dazugehören, denn die „Rationalität“ ist allein im Menschen und nicht in der Welt zu finden. Diese geistigen Zustände tragen, sozusagen, zur Idee der Mäßigung, oder auch metriopatheia, bei – ebenfalls ein Ideal der Stoiker und Epikuristen. Die skeptische Einstellung bedeutet, nicht ganz frei von den unvermeidbaren Störungen des Lebens zu sein: Aber diese als böse oder als Resultat des Gegensatzes zu den menschlichen Begierden zu beurteilen ist nicht vernünftig und erschwert die ataraxía. Zusammenfassend betrachtet stellt die Sophistik die erste rhetorische Bewegung in der Geschichte des westlichen Denkens dar. Der Begriff der Rhetorik ist somit komplex und wandelte sich mehrmals im Laufe der Geschichte, was seine Definition überaus erschwert. Aber sowohl die Rhetorik, als auch die juristische Lehre (im Sinne einer engeren Auslegung des Rechts, der Rechtsprechung oder Rechts„wissenschaft“) scheinen aus der Sophistik hervorgegangen zu sein. Die Rhetorik teilt sich auf in eine Theorie der Figuren und des Stiles (im formalen en7 

Nietzsche, II, 13, S. 317.

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geren Sinne), die Rhetorik der Zierde und eine Argumentationstheorie von enthymematischer Struktur, die topische Rhetorik – von den antiken Griechen auch als eine der Bedeutungen von „Dialektik“ verstanden. Aristoteles definierte den Begriff der Topik als die Gesamtheit der Gemeinplätze, die, wie das Paradigma, eines der Fundamente der enthymematischen Argumente bildet. Heute, Viehwegs Denken folgend, wird die Topik als eine dieser zwei Unterteilungen der Rhetorik angesehen, Seite an Seite mit der Figurenlehre; für andere sind Topik und Rhetorik Synonyme, im Gegensatz zur Logik und Philosophie.8

III.  Dimensionen der Rhetorik: Rhetorik als Methode, Methodologie und Methodik Es wird hier versucht, auf die Anregungen Ottmar Ballwegs näher einzugehen.9 Rhetorik soll hier in drei Bedeutungen verstanden werden: Die materielle, existenzielle Rhetorik ist die zwischenmenschliche Beziehung selbst, durchwegs als Kommunikation verstanden, die eine gründliche „Ebene“ der Realität konstituiert: Sie ist die Art und Weise, wie die Menschen effektiv miteinander kommunizieren, ihre Künste und Techniken, mit anderen umgehen zu können und die soziale Umwelt selbst zu weben. Die materielle Rhetorik ist „natürlich“, insofern sie sich augenblicklich zu geben scheint, frei von jeder Art von Reflexion, sie ist Teil der jeweiligen anthropologischen Kondition, sie verfasst die Daten der menschlichen Geselligkeit im Sinne einer „realen“ Kommunikation. Die These lautet dann, dass die einzige mögliche Kenntnis über „die“ Welt sich auf Berichte reduziert, und das ist der anthropologische Zustand der Rhetorik oder die rhetorische Kondition der „Natur“ des Menschen. Erkenntnis kann nicht isoliert gewonnen werden, wie es Sokrates und Descartes wollten. Sie ist von der Intersubjektivität abhängig und jegliche intersubjektive Kommunikation ist rhetorisch, was so viel heißt wie: Der Mensch ist kein „rationales“, sondern ein rhetorisches Tier. Auch die intrasubjektive Kommunikation, der Dialog mit sich selbst, der das Denken charakterisiert, ist rhetorisch. Die Erforschung des menschlichen Gehirns, seiner „Regionen“ und Reaktionen auf alle möglichen Reize mit allen möglichen Maschinen und Methoden kann unendlich kartographiert werden: Sie besteht immer nur aus den temporären kommunikativen Konsensen, die durch Berichte übertragen werden. Die Elektrokardiogramme, das Bombardement von Elektronen und die mentalen Krankheiten sind Teile dieser Berichte, die ihrerseits das menschliche Leben konstituieren. Auf diese Weise ist die materielle Rhetorik, wie man zugestehen mag, die einzige „ontologische Kondition“ der Anthropologie. Der Mensch kann nur in dieser Perspektive begriffen werden, ohne die materielle Rhetorik ist er nicht menschlich. 8 

9 

Viehweg; Schlieffen, S.  42 – 64. Ballweg 1982, S. 27 – 71; Ballweg 1989, S. 15 – 42; Ballweg 1990, S. 34 – 43.

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Es geht um diese merkwürdige linguistische Kondition der Spezies, immer zu sich zurückkehrend in einem „rationalen“ Universum von Zeichen und Bedeutungen. Hermann Cohen sagt, dass „nur das Denken dazu in der Lage ist, das Sein hervorzubringen“.10 De facto ist es die Sprache, nicht das „Denken“ als ein metaphysischer Begriff, die „das Sein“ produziert, in einer sehr wörtlichen Form. Im Sinne der materiellen Rhetorik gibt es keinen Unterschied zwischen Quasaren und schwarzen Löchern auf der einen Seite, sowie zwischen mittelalterlichen bzw. heutigen Engeln und Dämonen, auf der anderen. Der heutige Mensch glaubt und lebt inmitten von Autos, Viren und Wolkenkratzern; Teil der mittelalterlichen „Realität“ (mit immer noch treuen Nachfahren), abgesehen von den Tieren und Personen, waren Hexen, Seher und Vorhersager. Aus diesem Grund würde ein Richter der Gegenwart in einem Rechtsstreit Argumente, die auf Zeitreisen basieren, nicht akzeptieren und Bürger des Mittelalters verstünden natürlich keine Geschichten über Reisen in Raketen und Flugzeugen. Das ändert sich aber. Entscheidend ist der Glaube an das Erzählte und diese kommunikativen Verbindungen bauen die materielle Rhetorik (die Realität) auf. Aus der heutigen Autorität der Wissenschaft sind Bakterien und irreversible Kontaminierungen Gegenstand jeglicher Art wortreicher Berichte, wenn auch nur wenige Personen etwas davon verstehen. Fast niemand weiß etwas über die Kriterien und empirischen Daten, die diese bestimmte Information (Bericht) mit sich bringt. Auf die gleiche Weise – Aristoteles hat schon in der Rhetorik gewarnt – sind einige Argumente derart komplex und so viele Voraussetzungen erforderlich, dass sich ihre Diskussion als ineffizient oder einfach unverständlich erweist, wie es des Öfteren in der Wissenschaft vorkommt. Viele wichtige menschliche Subjekte können nicht mit apodiktischen Syllogismen behandelt werden. Was wirklich interessiert, ist der rhetorische Glaube. Die diskursiven Zwänge dieser Übereinkünfte können strikter oder loser sein, mehr Glaube oder Informationen erfordern, wie Religion und Wissenschaft deutlich zeigen. Die „rhetorische Realität“ bleibt jedoch dieselbe. Sie besteht aus einer Serie von anerkannten Behauptungen bestimmter privilegierter Beobachter (Wissenschaftler oder die Spitze der Kirche, zum Beispiel), das heißt, aus diskursiven Berichten an die sie glauben und von denen sie behaupten, sie „sind“ real. Der Erfolg des Berichts hängt davon ab, die umstehenden Teilnehmer dazu zu bringen, an ihn zu glauben, an seine materielle Rhetorik, seine Existenz, seine Realität. Über etwas zu kommunizieren ist das, das dieses Etwas existent macht, eben darin besteht die materielle Rhetorik. Aus Sicht der Erkenntnistheorie besteht der Subjektivismus in der Tradition der kartesianischen Sicherheit fort, sodass die Garantie des Beweises das subjektive Gewissen der inneren Erfahrung mit ihrer Selbstkohärenz ist. Davon wird nach der „hermeneutischen Wende“ (oder linguistischen) abgewichen. Das subjektive Wissen nimmt keine wichtige Rolle mehr ein, als wirksame Quelle wird das in10 

Cohen; Vancourt, S. 18 f.

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tersubjektiv geltende, von der Außenwelt stammende Wissen anerkannt. Da es keine subjektive Wahrheit gibt, darf der epistemologische Vorrang der inneren Erfahrung nicht überwiegen; die Lösung leitet sich aus einem Inhalt der Bedeutung im Bereich einer gemeinen Sprache zu anderen Personen weiter, mit der Option, öffentlich kontrollierbare Regeln entweder wieder aufzunehmen oder dies zu unterlassen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Anderen zur Konstruktion irgendeiner Bedeutung, irgendeiner Kommunikation.11 Aus dieser öffentlichen Kontrolle der Sprache „existiert“ die Welt. Diese Schwierigkeiten können jedoch nicht durch eine „Sache an sich“ gelöst werden als „reale“ Stimulation des Wissens, des Gefühls, des Denkens. Nicht nur die Erkenntnis ist rhetorisch, die menschliche Existenz selbst ist es. Es scheint so, als gäbe es keine „Eindrücke“, „Wahrnehmungen“, nichts, das außerhalb der Sprache existieren könnte, sei es auch das Sprechen mit sich selbst, das das Denken bildet. Realität ist Kommunikation, Berichte über Berichte, es gibt keine Ereignisse „an sich“. Es lässt sich nicht einmal sagen, dass „die Sache an sich ist“, wie es Kant wollte, denn dies macht außerhalb des ätiologischen Vorurteils keinen Sinn. Dass man einen Grund suchen muss und nicht wie es sich gehört die Autonomie der linguistischen Übereinkünfte in Betracht zieht. Und nicht nur das begriffliche Denken funktioniert rhetorisch, sondern auch das malerische und alle Arten von Bedeutungen, aller Typen von Sprache. Die rhetorische Perspektive, die hier erläutert wird, ähnelt ebenso wenig wie die von Kant der Auffassung Berkeleys über das menschliche Wissen, die zum Beispiel das kartesianische Paradigma nicht aufgibt. Berkeley behauptet, dass alle Realität mental ist und was existiert, ist dasselbe wie das Wahrgenommene; aber wahrnehmen bedeutet nicht nur durch die sensible Wahrnehmung (Sehvermögen, Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn). Die Bücher in der Schublade, argumentiert Berkeley, existieren, weil an sie gedacht wird, wenn sie sich vorgestellt werden. Das Argument ist der Rhetorik nah, denn es kann kein Objekt begriffen werden, ohne dass der Geist es begreift, oder: Es kann nicht das Unbedachte bedacht werden, dies ist eine contradictio in terminis. Aber Berkeley unterstützt die Voraussetzungen der Ontologien der Wahrheit, abgesehen von seinem Skeptizismus. Es gibt einen erkenntnistheoretischen Subjektivismus, ein Vertrauen in das Individuum als Quelle des Kriteriums des Wissens. Der Unterschied zur materiellen Rhetorik ist, dass diese von der öffentlichen Kontrolle der Sprache ausgeht, auf die sich die konditionalen und temporären Übereinstimmungen, die die Sprache bilden, beziehen, die subjektiven Kriterien der geeichten Realität ignorierend, solche wie das Denken, das Cogito von dem sich Berkeley nicht befreien konnte. Die materielle Rhetorik sorgt sich um die „Fakten“, die intersubjektive Berichte über andere kommunikative Verbindungen, nach der Wahrnehmung jedes einzelnen und durch die Interaktion, immer Teilnehmer mit Teilnehmer, konzipieren. 11 

Apel, S.  30 – 31.

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Dieser materiellen Dimension entspricht hier die Methode. Die Methoden sind Arten, wie die Kommunikation in der Umgebung stattfindet, die Regelmäßigkeiten des Verhaltens der Personen. Dieses „wirkliche“ Verhalten besteht seinerseits aus den rhetorisch regulierten Erzählungen, den diskursiven Berichten, den „Fakten“, das heißt, rhetorische Beschreibungen von linguistischen Anregungen, die auch linguistisch wahrgenommen werden. Die initialisierende „Materie“ der Erkenntnis ist nicht das Ding an sich der transzendentalen Ästhetik Kants, aber jene Rhetorik. Die Methoden sind die mehr oder weniger regulären Formen, mittels derer diese Berichte, die die Menschen die Realität wahrnehmen lassen, sich ordnen. Alle menschlichen Beziehungen mit der Umgebung gestalten sich auf diese Weise, sei es das „Natürliche“, sei es das „Soziale“. Auf dieser Ebene gibt es keine Reflexion, die materielle, existentielle Rhetorik ist die Zusammenstellung der Methoden der menschlichen Aktion. Dies beschreibt den Zustand des Menschen in der bereits angesprochenen Auffassung Hans Blumenbergs. Ein Wesen, das keinen genauen Platz in der Welt hat und deshalb seine Welt der Sprache entwickelte, eine Welt nur für ihn und aus derer er auch nicht auszubrechen vermag. Hieraus ergibt sich die solipsistische Anthropologie, der diese Konzeption der Rhetorik unterliegt. Diese tritt sowohl auf der intrasubjektiven als auch auf der intersubjektiven Ebene auf, wie gesagt, weil das Denken ebenfalls rhetorisch vorgeht. Wenn ein Mensch selbständig um sich herum die eigenen Berichte konstruiert, die sich ihm durchaus erschließen, kann die allgemeine Kontrolle der Sprache ein Maßstab der „Realität“ sein, wie zum Beispiel in dem Fall, in dem man jemanden als „verrückt“ bezeichnet, jemanden, der in einer Situation glaubt, die alle anders wahrnehmen. Auf der anderen Seite erschafft jedoch das isolierte Individuum – deshalb hat jeder etwas Verrücktes an sich – Selbstmilde und Kompensationsmechanismen, welche gegenüber der allgemeinen Kontrolle der Sprache (was die anderen glauben, es sei die „Realität“) Vorrang haben. Dies ist leicht zu beobachten, bei einigen mehr, anderen weniger, wenn bestimmte Leute sich für intelligent, ehrlich oder gute Musiker halten. Die Erscheinung dieses Solipsismus ist auch innerhalb einer ganzen Gemeinschaft möglich und so kann die allgemeine Kontrolle der Sprache selbst fantastische „Realitäten“, Berichte erzeugen, die mehr und mehr an Bestandskraft durch ihren kollektiven Charakter gewinnen, wie in dem Märchen Des Kaisers neue Kleider.12 Die „normalen“ Personen bestätigen sich ihre Normalität durch die Übereinstimmung mit der größten Zahl der Mitmenschen. „Ein Verrücktsein, das die meisten Leute in gleicher Weise besitzen, kann nicht als Verrücktsein angesehen werden“.13 Ohne Bewertungsmaßstäbe gelangt diese Einbildung an die Grenzen des allgemeinen Wahnsinns, für die es keine einzige empirische Stütze gibt. In der metaphysischen Figurenwelt kann man von einer Umleitung des Volksgeistes sprechen oder 12  13 

Andersen, S.  111 – 117. Roth, S. 245.

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vom unechten objektiven Geist, wie es Nicolai Hartmann formulierte.14 Auf diese Weise kann die gegenwärtige (aktuelle) allgemeine Kontrolle der Sprache nicht helfen. Die rhetorische Perspektive aber, mit ihrem toleranten Skeptizismus und der historischen Entfremdung vermag es, eine Meta-Kontrolle zu liefern und die empirische Vernunft zu schützen. Zu sagen, dass die Realität selbst Rhetorik ist, bedeutet auch, dass die Sprache die menschlichen Beziehungen an Hand von Versprechen, die gehalten werden oder auch nicht, ganz oder zum Teil kontrolliert. Dies ist reale, sofortige, normative Kontrolle. Durch diesen Aspekt des menschlichen Verstandes jedoch haben aktuelle Erwartungen als Referenz die Zukunft, die nicht existiert, sie wird sich lediglich eingebildet, mit Hilfe einer gegenwärtigen Erzählung, die wiederum existent ist. Die praktische oder strategische Rhetorik ist reflektierend und begründet einen ersten Grad der Meta-Rhetorik, eine Rhetorik über der materiellen Rhetorik, die von ihr ausgeht und zu ihr zurückführt, um sie zu rekonstruieren und so auf sie einzuwirken. Um zu dieser Praxis zu gelangen, braucht die strategische Rhetorik eine Lehre, jene Komposition von Regeln, von der Auslegung der Rhetorik der Methoden ausgehend, die zum Ziel hat, auf sie Einfluss zu üben, Erfolg zu ermöglichen. Sie beobachtet, auf welche Weise materielle Rhetorik funktioniert, sie kontrolliert, welche Methoden gelingen und sie bildet dabei eine teleologische und normative Pragmatik. Wörtlich handelt es sich um eine Methodologie (Theorie der Methoden) über die materielle Rhetorik (die ihrerseits wiederum aus Methoden gemacht wird). Es handelt sich um eine Praktik, die gelehrt werden kann und eine Lehre von Erlebnissen, Auslegungen und Reflexionen aufbaut. Diese Ebene der Rhetorik beliefert die Topik, die Theorie der Argumentation, Sprach- und Stilfiguren. Die praktischen Diskurse sind Strategien, um „Fakten“ (Berichte der materiellen Rhetorik) zu modifizieren und sie in Objekten der Erfahrung zu errichten, das heißt, relativ festgelegte Fakten, an die sich einige ausgewählte Berichte anschließen, zum Nachteil anderer; die Benutzer legen sie fest, verwandeln diese Meinungsberichte in Objekte, die vermutlich die Definitionen der Sprache einleiten, die „korrekten“ Diskurse, die „Wahrheit“ entdecken. Die rhetorische Methodenlehre ist diese Ansammlung von Strategien, die den Erfolg im Auge haben, sie ist ein Überblick über Methoden, die in bestimmten Kontexten funktionieren und darüber, wie sie funktionieren, eine Theorie, die zur Praxis bestimmt wird. Diese strategische Rhetorik ermittelt, welche tópoi häufiger in einer Rede auftauchen, die genutzten Methoden für diesen oder jenen Effekt, also wie die rhetorischen Gemeinplätze gestaltet, genutzt und manipuliert werden. Sie setzt sich mit dem kairós auseinander, dem richtigen Moment zu sprechen und etwas geschehen zu lassen, beschäftigt sich mit dem Einfluss der Sprache, der Gestik, der benötigten Taktiken und deren Wirkungen auf die materielle Rhetorik, auf das Verhalten des Subjekts. Die methodologische oder strategische Rhetorik – die Ballweg 14 

Hartmann, S. 338 f.

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„praktische Rhetorik“ genannt hat – greift auf die Übungen und Reflexionen ihrer Ergebnisse zurück, und lernt von ihnen. Schließlich versucht die analytische Rhetorik einen beschreibenden Überblick zu haben und abstrahiert von axiologischen Präferenzen, sie nimmt an dem Kampf um die Konstitution der materiellen Rhetorik nicht teil. Ungleich der strategischen, ist die beschreibende Rhetorik also nicht normativ. Mit der Terminologie Viehwegs kann gesagt werden, dass die analytische Rhetorik zetetisch, die strategische dogmatisch ist. Die analytische Rhetorik will die Semiotik erweitern und gleichermaßen den Faktoren Zeichen, Bedeutung (Objekt) und Teilnehmer innerhalb des linguistischen Systems Aufmerksamkeit schenken, was nicht einfach ist und es sollte begriffen werden, dass „diese Schwierigkeit sie von der Semiotik unterscheidet“.15 Zu behaupten, dass die analytische Perspektive der Rhetorik eine Methodik bildet, bedeutet, dass, so wie sie aus den zwei vorhergehenden rhetorischen Graden hervorgeht, sie weder mit der Methode (im Sinne eines Kommunikationsmaßstabes), noch mit der Methodologie (metá-[h]odós-lógos, der Strategie zur Kontrolle und Einflussnahme auf jene Methoden), verwechselt werden kann. Die Rhetorik der Methodik analysiert die Beziehungen zwischen der Verarbeitung der menschlichen Sprache und der Entwicklung von Strategien aufgrund der Erfahrungen, die die Teilnehmer gesammelt haben. Diese dritte Ebene dient der nötigen Distanzierung, um die anderen zwei verstehen zu können. Speziell auf das Recht bezogen, behauptet Friedrich Müller, dass die juristische Methodik die Aufgabe hat, die diversen Funktionen und Formen der Rechtsanwendung und Verwirklichung zu verdeutlichen (Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Justiz, Rechtswissenschaft) in Hinblick auf eine generelle, vorwegnehmende, juristische, textuelle Struktur sowie die Notwendigkeit der Konkretisierung der Normen. Die Methodik erforscht das praktische Arbeiten der Organe und Individuen, die diese Funktionen ausführen. Sie versucht zu erfassen, definieren, letztendlich diese Realisierungsformen zu strukturieren (hier genannte Methoden, materielle Rhetorik), auf der einen Seite, und die Strategien, zu denen die in diese Formen involvierten Personen greifen (die Methodenlehre, Methodologie) zu beobachten, auf der anderen.16 Zusammenfassend: Methode ist der Weg (ὁδóς, hodós), den man gehen muss, um gewisse Ziele zu erreichen. Methodologie ist die Lehre über die Methoden, das heißt, die Auffassungen, die man über diese Wege bildet und der Versuch, sie zu kontrollieren. Methodik ist das analytische Auseinandersetzen mit der Beziehung zwischen diesen Methoden und Methodologien. So kann man wohl sagen, dass die analytische Rhetorik wissenschaftlich, die anderen zwei Ebenen dogmatisch sind. Im Bereich des Rechts sollte die Methodik weder mit der juristischen formellen Logik oder mit der Disziplin „Methodenlehre“ verwechselt werden, noch mit einer 15  16 

Ballweg 1989, S. 19 – 20. Müller 1997, S. 25 – 36; Müller 2000, S. 21 – 23, 38 u. 51 f.

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Technik zur Falllösung. Noch weniger ist sie eine neue Methode, denn die Methoden werden von der Methodologie erforscht und es ist diese Beziehung, wie schon erwähnt, die die Methodik interessiert. Die analytische Ebene als eine Methodik zu betrachten suggeriert, über die Methodologie hinauszugehen und anzuerkennen, dass die Methodik ebenfalls die praktischen Aspekte der Rhetorik zum Gegenstand hat. Die überzeugende oder betrügerische Kraft der strategischen Rhetorik, über die so viel geschrieben worden ist, strapaziert die Rhetorik nicht, aber verwandelt sie in ein Objekt der (analytischen) Rhetorik selbst, die erst jetzt mit Nachdruck erforscht wird. Es handelt sich um die Meta-Sprache (Meta-Sprache der zweiten Ebene oder Meta-Meta-Sprache) zur Auslegung der materiellen und strategischen Rhetorik, ohne das Ziel, auf sie einzuwirken.

IV.  Zukünftige Entwicklung hin zu einer rhetorischen Rechtsmethodik Die hier skizzierte rhetorische Methodik besteht aus einer Theorie über die Beziehung zwischen der Theorie der Praxis (die Methodologie – die dogmatischen Konstruktionen und Verfahren, im Fall des Rechts) und eben dieser Praxis (Ansammlung von Methoden); sie sucht eine Meta-Meta-Theorie, die den konkreten Fall in ein Verhältnis zu den Methodologien setzt, die sich nach ihm zu richten versucht; sie will diesen Einfluss erforschen, den die Methodologien auf die Methoden haben. Die strategische Argumentation richtet sich auf Ziele, sie will irgendeine Art von Wirkung erreichen, sie versucht, Übereinstimmung und Zustimmung zu provozieren. Die Unterhaltung ist eine Möglichkeit und die Sprache ein Werkzeug des Redners zur Beeinflussung des Zuhörers. Aus dieser strategischen Argumentation ergeht der Vorwurf an die Rhetorik, dass sie nicht der „Gerechtigkeit“ der Entscheidung dienlich ist, sondern der Manipulation des Nächsten mit dem Ziel, den Standpunkt desjenigen, der redet, zu stabilisieren und zu stärken. So weit so gut, aber die analytische Rhetorik beansprucht, diese metonymische Reduktion der Rhetorik auf nur eine ihrer anerkannten Bedeutungen – die strategische – zu bekämpfen. Diese rhetorischen Ebenen durchdringen einander, sie sind nicht strikt trennbar, denn eine Strategie nutzt die Analyse und eine rhetorische Analyse kann sich zum Studienschwerpunkt einer anderen Analyse wandeln, usw. Aber die Dreiteilung Ballwegs wird hier als ein weiterer Schritt im Vergleich zu Kelsen verstanden, der die normative Ebene der materiellen und der praktischen Rhetorik in den Rechtsnormen nicht ausdifferenziert, obwohl sein Begriff des Rechtsatzes als analytisch verstanden werden kann. Es lässt sich annehmen, dass die rhetorische Haltung einen anderen Beitrag, abgesehen von ihrem strategischen und ausschmückenden oder ihrer Unterstützung des Kommunikationserfolgs, leisten kann. Die methodische Stellung der Rhetorik

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kann das Wissen über die menschlichen Beziehungen bereichern, eventuell seine Regeln legitimieren, seine Übereinstimmung mit den Spielregeln prüfen (zum Beispiel, dem Gesetz und anderen Quellen juristischer Normen, im Fall des Rechts) und ebenfalls Unterstützung für die Akzeptanz von Entscheidungen liefern. Beim Definieren einer agonistischen Dimension erläuterte Ballweg nicht, wie sich mit Klarheit, ohne die Zeichen zu beachten, Beziehungen zwischen Teilnehmern erkennen lassen. Ebenso wenig ging er darauf ein, wie sich „Beziehungen“ von „Zeichen“ trennen lassen, so als gäbe es die Möglichkeit einer Intersubjektivität ohne Zeichen. Dieser Aufsatz hat versucht, die Konzeption der Rhetorik als menschliche Kondition der Existenz, als Materie der Menschlichkeit, näher zu beleuchten, denn das ist die Basis zum Verständnis der drei Ebenen der Rhetorik. Ein genereller Einwand besteht darin, dass eine methodische Rhetorik sich von der ontologischen Angewohnheit, von der Subjekt-Objekt Opposition auszugehen, vereinnahmen lässt. Wird die Kategorie Subjekt-Objekt der Semiotik Morrises zur Grundlage genommen, was nimmt diese Unterscheidung ein? Eine mögliche Antwort ist, dass die Rhetorik nur registriert und analysiert, dass diese „Kategorie“ Subjekt-Objekt eine Form der menschlichen Kommunikation verfasst, ohne seinen angeblich notwendigen Charakter zu übernehmen. Die Sprache hat die Dichotomie geschaffen und genutzt, so muss die Rhetorik sie in Betracht ziehen, denn im materiell rhetorischen Sinne „existieren“ Subjekt und Objekt. Die Rhetorik hat es niemals mit einem Subjekt im Einzelnen zu tun, sondern immer mit Zeichenbenutzern, sodass die relationale, intersubjektive Perspektive genauso von den Risiken des empirischen Objektivismus abweicht, wie auch von denen des kartesianischen Subjektivismus, wobei beide ontologisch sind. Rhetorik findet zwischen Individuen statt, genau genommen gibt es, wie bereits erwähnt, keine Objekte, Sachen, Dinge. Diese sind stets konditionale, temporäre und selbstreferenzielle, linguistische Übereinkommen – von den Umständen abhängig, die die Individuen gemeinsam festlegen. In der hier vorgeschlagenen Perspektive beschränkt sich die Rhetorik nicht auf den Konsens, wie es kontemporäre Rhetoriker möchten, welche – genauso wie die Gegner der Rhetorik – an die strategische Funktion der Rhetorik gebunden bleiben.17 Es wird hier eine „strategische“ statt einer „praktischen“ Rhetorik vorgeschlagen, um klarer zu machen, dass diese Ebene der Rhetorik nicht nur mit dem Konsens arbeitet. Noch einmal gesagt, ist die These hier gegen beide metonymische Reduktionen: gegen die Gegner der Rhetorik, die sie auf ihre strategische Seite reduzieren und gegen die Rhetoriker selbst, die sie noch enger auf den Konsens und die Überzeugung reduzieren, die nur einen Teil der strategischen Rhetorik bilden, wie immer einen wichtigen. Sogar in der methodologischen Dimension lässt erkennen, dass es nicht ausschließlich um Überzeugung und die Suche nach dem Konsens geht und Rhetorik 17 

Gast, S. 32.

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auch durch strategische Aktionen entstehen kann, mittels Einschüchterung und anderer Formen zur Kontrolle des Dissenses. Rhetorik stimmt nicht mit Gewalt überein, aber die Gewaltdrohung kann rhetorisch wirken, wie auch die Autorität und der Köder. Die rhetorische Methodik kann ebenso nicht mit der traditionellen Hermeneutik verwechselt werden, denn diese ist wesentlich textlicher, ging sie doch aus der Auslegung von Bibeltexten und Talmuden hervor. Auf dieselbe Weise sich auszudifferenzieren, versucht die Rhetorik, Begriffe zu bewahren, wie den der „symbolischen“ Effizienz, Konstitutionalisierung oder Positivierung des Rechts oder andere wissenschaftliche Jargons, denn jede Effizienz, jede Manipulation der „Realität“, jede Positivierung ist symbolisch. Es gibt keinen Nachweis für eine „reale Effizienz“, eine „wahre Effizienz“, um mit der symbolischen Effizienz verglichen werden zu können, lediglich unzählige und unterschiedliche Möglichkeiten, allesamt symbolisch. In Zusammenfassung der hier aufgeführten konstruktivistischen Aspekte und abgesehen vom allgemeinen Ziel, darzulegen, was die umfassendere Einstellung der hier vertretenen Rhetorik bedeutet, ist es die These dieses Beitrags, dass der Nutzen der Begriffe Methode, Methodologie und Methodik die Klassifikation der rhetorischen Eigenschaften in Material, Praxis und Analytik (Ballweg) präzisieren kann. Diese terminologische Reinigung hebt die analytische Rhetorik als geeignetste philosophische Einstellung, sowohl um die Welt kennen zu lernen (Erkenntnistheorie) als auch um sie zu beurteilen (Ethik) und zu handeln, hervor.

Literatur Andersen, Hans Christian: Des Kaisers neue Kleider, in: ders. (Hrsg.): Märchen, übersetzt von H. Denhardt, Ditzingen, 1986. Apel, Karl-Otto: Wittgenstein und Heidegger: Kritische Wiederholung und Ergänzung eines Vergleichs, in: B. McGuiness (Hrsg.): Der Löwe spricht … und wir können ihn nicht verstehen. Ein Symposion an der Universität Frankfurt anläßlich des hundertsten Geburtstags von Ludwig Wittgenstein, Frankfurt/Main, 1991. Aristotle: Rhetoric. Trad. W. Rhys Roberts. Col. Great Books of the Western World. Chicago, 1990, v. 8. Bailly, Anatole: Dictionnaire Grec Français (rédigé avec le concours de E. Egger). Paris, 2000 (27e. ed.). Ballweg, Ottmar: Entwurf einer analytischen Rhetorik, in: H. Schanze/J. Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik und Philosophie, München, 1989. – Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: ders./T.-M. Seibert (Hrsg.): Rhetorische Rechtstheorie, Freiburg, 1982. – Rhetorik und Vertrauen, in: E. Denninger/M. Hinz/P. Mayer-Tasch/G. Roellecke (Hrsg.): Kritik und Vertrauen – Festschrift für Peter Schneider zum 70. Geburtstag, Frankfurt/ Main, 1990. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben – Aufsätze und eine Rede, Stuttgart, 1986, S. 104 – 136.

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Die Bedeutung der Rhetorik für das Recht Dreizehn Thesen Joachim Lege Welche Bedeutung hat die Rhetorik für das Recht? Die Antwort ist leicht: Rhetorik ist die Mutter der Jurisprudenz,1 d. h. der rationalen Beschäftigung mit Rechts­ problemen. Die Jurisprudenz hat sich dieser Herkunft häufig geschämt. Aber die Verwandtschaft lässt sich nicht leugnen.

I.  Die historische Bedeutung der Rhetorik Man kann dies historisch gut belegen. Bevor es bei den alten Römern das Recht in eben der Form gab, wie es bis heute Grundlage für unsere Rechtskultur ist, gab es bei den alten Griechen Rhetorik. Es muss heute offen bleiben, warum die Griechen es letztlich nur zu Philosophie und nicht bereits zu einem wissenschaftlichen Recht gebracht haben.2 Wir können aber in insgesamt dreizehn Thesen die historische (I) und die heutige (II) Bedeutung der Rhetorik für das Recht skizzieren. These 1: Die antike Gerichtsrhetorik ist die Wurzel der Jurisprudenz. Aus ihr hat sich ein rationaler Umgang mit dem Recht herausentwickelt.

Die antike Rhetorik3 ist nicht etwa entstanden aus der Dichtung oder aus der Tragödie, nicht als Stilkunde oder als Anleitung zu politischer Rede. Sie ist entstanden als Gerichtsrhetorik:4 Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus, in den griechischen Kolonien auf Sizilien. Anlass war der Sturz der dortigen Tyranneis,

1  Der Vater ist unbekannt. Es spricht einiges dafür, dass es Gott war, genauer Jupiter, Genitiv Jovis, denn von ihm leitet sich der Name „ius“ ab. Unzutreffend daher Digesten 1.1.1: „est autem ius a Iustitia sicut a matre sua, ergo prius fuit iustitia quam ius.“ 2  Ein erster Grund ist vermutlich die Überschaubarkeit der Polis, ein zweiter und vielleicht wichtigerer: Es gab für die Richter keinen Begründungszwang, also auch keine Entscheidungssammlungen, die zu einem Textkorpus von ausreichender Komplexität, d. h. geordneter Unübersichtlichkeit, anwachsen konnten. 3 Standardwerk: Martin (sehr detailliert, wenig übersichtlich); siehe auch Clarke; Fuhrmann; Ueding; ausführlich Ueding/Steinbrink; ferner Knape 2000a, 2000b. 4  Zum Folgenden (und darüber hinausgehend) Kalivoda mit zahlreichen weiteren Nachweisen; s. auch Lege 1999b, S. 428 – 432.

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also Gewaltherrschaften,5 mit der Folge, dass es viele – wie man heute beschönigend sagen würde – „offene Vermögensfragen“6 gab, im Klartext: viele Enteignete, die ihr Hab und Gut zurückhaben wollten. Um sich wegen dieser Fragen nun nicht erneut die Köpfe einzuschlagen, erfanden ein gewisser Korax und ein gewisser Teisias Methoden, wie man sich rational7 um das streiten kann, was rechtens war und künftig sein sollte. Diese Anfänge liegen freilich noch im mythischen Dunkel, und wir kennen die antike Rhetorik erst in ihrer schon zum System ausgearbeiteten Form, etwa in den Lehrbüchern von Aristoteles (384/383 – 322/1 v. Chr.),8 Cicero (106 – 43 v.  Chr.)9 und Quintilian (30 – 96 n. Chr.)10 oder in der berühmten „Rhetorik an Herennius“.11 Diese Lehrbücher waren meist aufgebaut nach den Arbeitsstadien des Redners (oder genauer Rhetorikers, denn im antiken Griechenland musste man sich vor Gericht selbst vertreten, und so arbeiteten die Rhetoriker vornehmlich als „Logographen“, d. h. Redenschreiber und Vortragstrainer). Dabei war das erste Stadium das wichtigste: die Stoffsammlung, lateinisch inventio, griechisch Heúrēsis. Und hier ist nun besonders bedeutsam: Diese Stoffsammlung war von der „Sache Recht“ her strukturiert. Sie zeigte einen Weg hin – griechisch mét’hodos (!) – zu den Problemen, die sich auftun, wenn man es mit Recht zu tun hat: Probleme mit dem Fall und Probleme mit dem Text. Beides ist Gegenstand der sog. Statuslehre, und man übersetzt Status – wörtlich Stellung,12 Problemstellung – vielleicht am besten mit „Station“.13 5  Gegenbegriff ist Basileía – Königreich –, so wie im Vaterunser: Dein (wörtlich König-) Reich komme. 6 Siehe das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz – VermG), das zunächst als Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt I Nr. 5 Teil des Einigungsvertrags vom 23.9.1990 war (Bundesgesetzblatt Teil II, abgekürzt: BGBl. II S. 1159), Neubekanntmachung am 3.8.1992 (BGBl. I S. 1446). Gegenstand dieses Gesetzes war die Frage, wie nach der Wiedervereinigung Enteignungen in der ehemaligen DDR und in der Zeit zuvor (1945 bis 1949) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) behandelt werden sollten; siehe dazu Lege 1999a, S. 10 f., 13; ders. 2004b; ders. 2004a. 7  Mit „rational“ meine ich nur: ohne sich die Köpfe einzuschlagen, wohl aber mit dem Zwang, für eine Entscheidung Gründe anzugeben (lateinisch rationem reddere); nicht also im Sinne von „objektiv vernünftig“, denn insofern gilt nach wie vor: „Be reasonable! means: do it my way“ (Adomeit, S. 73). 8  Deutsche Ausgaben: Aristoteles 2002 – ein Großkommentar! – ; Aristoteles 1980; Aristoteles 1999. 9  Deutsche Ausgabe: Cicero 1998. 10  Lateinisch-deutsche Ausgabe: Quintilianus. 11  Ca. 80 v. Chr.; sie wurde früher fälschlich Cicero zugeschrieben; in ihr besonders deutlich die Gliederung nach den Arbeitsstadien des Redners. – Lateinisch-deutsche Ausgabe: Anonym: Rhetorica ad Herennium. 12  Der Begriff soll ursprünglich aus dem Boxen gekommen sein, nämlich die Stellung des Faustkämpfers bezeichnet haben, siehe Martin, S. 29. 13  In Anlehnung an die Arbeitsweise des Richters bis heute: Klägerstation, Beklagtenstation, Beweisstation, Tenorierungsstation.

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These 2: Die sogenannten Statūs rationales enthalten bereits die Unterscheidung: Tatfrage, Rechtsfrage, prozessuale Durchsetzung. Darüberhinaus werden bei der Rechtsfrage Abschichtungen vorgenommen, die dem heutigen Straftataufbau entsprechen oder auch der Unterscheidung von Anspruch und Einrede.

Es gab vier Statūs rationales.14 Ihr Gegenstand ist der Fall im Sinn von Lebenssachverhalt und Rechtsfall. Beim ersten Status, dem sog. status coniecturalis, ging es um die Tatfrage, die quaestio facti: Hat der Angeklagte die Tat begangen, hat er z. B. wirklich das Goldstück aus dem Tempel entwendet? Der zweite Status geht über zur Rechtsfrage, zur quaestio iuris: Was „ist“ die Tat, rechtlich betrachtet? In unserem Fall des Goldstücks im Tempel: ein sacrilegium (Tempelraub) oder nur ein Diebstahl? Dies war der status definitionis. Der dritte Status hieß status qualitatis: Welche Bewertung verdient die Tat, auch wenn man sie bereits als Straftat definiert hat? Klassisches Beispiel ist hier „vis contra vim“, also Gewalt gegen Gewalt, kurz: Notwehr. Oder auch „compensatio“: Vergleich des angerichteten Schadens mit dem bewirkten Nutzen, kurz: rechtfertigender oder entschuldigender Notstand. Man sieht: Die Statūs Nr. 2 und 3, also definitionis und qualitatis, entsprechen im Wesentlichen dem, was wir bis heute im Strafrecht prüfen: Tatbestandsmäßigkeit, Rechtfertigungsgründe, Entschuldigungsgründe.15 Oder zivilrechtlich gedacht, etwa im Rahmen des § 823 BGB (Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung): Anspruchsgrundlage, genauer: Erfüllung ihrer Voraussetzungen, und mögliche Einreden. Der vierte Status, status translationis, handelte schließlich davon, was man prozessual tun konnte, etwa in unserem Tempelfall die Zuständigkeit des profanen Gerichts bestreiten. These 3: Die sogenannten statūs legales enthalten eine Lehre zur Textinterpretation, über die wir bis heute nicht wesentlich hinausgekommen sind.

Die Statūs legales16 – von lex, das Gesetz – sind ein Katalog der Problemstellungen, die sich beim Umgang mit Rechtstexten ergeben. Es sind ebenfalls vier. Der erste Status, genannt scriptum et voluntas, handelt davon, dass Gesetzeswortlaut und Wille des Gesetzgebers auseinanderfallen können. Ein Gesetz bestimmt z. B.: Jeder Fremde, der die Stadtmauer betritt, wird mit dem Tode bestraft. Die Stadt wird belagert, ein Fremder hilft mit, die Feinde zurückzuschlagen – von der Stadtmauer aus. Soll er nun getötet werden? Das kann der Gesetzgeber, trotz eindeutigen Wortlauts, wirklich nicht gewollt haben. Zweiter Status: leges contrariae. Das eine Gesetz sagt: Wer einen tyrannischen Herrscher tötet, bekommt ein Standbild. Zweites Gesetz: Von Frauen dürfen keine Standbilder aufgestellt werden. Wie nun, wenn eine Frau die Stadt von dem Tyrannen befreit? Lösungsvorschlag (er gilt bis heute): Das speziellere Gesetz geht dem generellen vor („lex specialis derogat

Das Folgende nach Martin, S.  29 – 44. Horak. 16  Das Folgende nach Martin, S.  44 – 52. 14 

15 

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legi generali“).17 Dritter Status: ambiguitas – der Text ist mehrdeutig. Dafür habe ich kein wirklich schönes Beispiel,18 aber es ist wohl auch nicht nötig. Der vierte Status heißt syllogismus – leider, denn gemeint ist nicht der Syllogismus im Sinn der Logik, also eine aus mehreren Sätzen bestehende Schlussfolgerung. Gemeint ist vielmehr die Argumentation über den Gesetzestext hinaus, sei es im Wege der Analogie oder des Umkehrschlusses. Schulbeispiel der Rhetorik: Das Gesetz bestraft Vatermord mit einer besonders widerlichen Todesstrafe. Wie halten wir es mit einem Muttermörder? Bestrafen wir ihn per analogiam ganz ebenso? Oder wollte das Gesetz unseren Fall bewusst nicht erfassen? Wir sehen auch hier: Die Statuslehre behandelt im Wesentlichen die Probleme, die sich heute noch bei der Auslegung von Rechtstexten und bei der sog. Rechtsfortbildung jenseits des Textes stellen. Und sie tut dies, nebenbei bemerkt, erfrischend unprätentiös (denken Sie zum Kontrast an die verquaste Methodenlehre von Larenz).19 * * * Wenn man nun mit Hilfe der Statuslehre die Probleme des Falls lokalisiert hatte, mussten sie auch noch gelöst werden. Dazu die folgende These 4: Die Lehre von den sogenannten písteis (Überzeugungsmitteln) ist eine Anleitung zur Argumentation. Sie enthält nicht nur „Gemeinplätze“ (Topoi), die möglichst überall anwendbar sind (sog. Topik). Vielmehr ist z. B. der vollständige rhetorische Syllogismus (Epicheírēma) nichts anderes als das, wozu sich auch heute noch Justizsyllogismus und Subsumtion zusammenfügen.

Erläuterung:20 pístis, plural písteis, kommt von peíthein: überzeugen, überreden. Ich halte nun die in der Altphilologie übliche Übersetzung mit „Beweis“ für wenig glücklich und „Überzeugungsmittel“ für besser. Es gab nämlich zwei Arten von písteis, und nur die sog. písteis átechnoi – „untechnischen Beweise“ – sind das, was wir juristisch auch heute noch „Beweismittel“ nennen: Zeugen, Urkunden, damals allerdings auch Folter und sogar Gerüchte. Und sie heißen átechnoi, weil sie keine besondere Téchne, keine besondere Kunstfertigkeit verlangen. Anders die písteis technoí: Das sind Techniken, Techniken des Argumentierens. Hauptgegenstand dieser Lehre ist daher, wie man einen schlüssigen Gedankengang aufbaut: klassischerweise in fünf Schritten als sog. vollständigen rhetorischen Syllogismus oder auch Epicheírēma21 (darin steckt griechisch cheír, die Hand):22 Statt vieler Zippelius 2006, § 7 c, S. 39. Schulbeispiel nach Quintilianus, VII 9, 5: Heißt es in einem Testament, der Verstorbene wolle „in culto loco“ (auf bebautem Land) beigesetzt werden oder „inculto loco“ (auf unbebautem Land)? 19  Larenz. 20  Das Folgende nach Martin, S.  95 – 137. 21  Das Folgende nach Cicero 1998, I 67; auch zitiert bei Martin, S. 104 f. 22  Gegenstück zum Epicheírēma ist das sog. Enthýmema, bei dem einer oder mehrere Schritte fehlen und das sich dadurch offenbar dem Herzen (thymós) schneller erschließt. 17 

18  Ein

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(1) Aufstellung des Obersatzes (propositio), aus dem die ganze Kraft des Arguments folgen soll. (2) Erläuterung/Begründung (approbatio) des Obersatzes. (3) Hinzufügung (assumptio) dessen, was sich aus dem Obersatz im Hinblick auf das, was gezeigt werden soll, ergibt. (4) Erläuterung/Begründung (approbatio) dieser Hinzufügung. (5) Schlusssatz (complexio), in dem alles kurz zusammengefasst wird.

Am praktischen Beispiel: Wir prüfen, ob und wie A wegen Mordes zu bestrafen ist.23 (1) Wer einen anderen heimtückisch tötet, ist mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen (§ 211 StGB). (2) Heimtücke ist das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. (3) A hat den B heimtückisch getötet. (4) Er hat nämlich, als B schlief, den Gashahn aufgedreht. (5) Also ist A mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.

In eben dieser Fünfgliedrigkeit – ich nenne es den Vollständigen Juristischen Syllogismus (VJS)24 – argumentieren wir noch heute. Und genau besehen sind in ihm die beiden Hauptbestandteile juristischer Kunst, die wir den Studenten von Anfang an eintrichtern, wahrlich kunstvoll zusammengefügt: der sog. Justizsyllogismus in den Schritten (1), (3) und (5) und die sog. Subsumtion in den Schritten (2), (4) und (3).25 Die Lehre von den písteis enthielt neben dieser Lehre von den Schlussformen weiterhin eine Lehre von Argumentformen, etwa den Argumenten a fortiori (Erstrecht-Schlüsse, also a maiore ad minus oder a minore ad maius). Und sie konnte auch eine Topik26 enthalten: eine Sammlung von Gesichtspunkten oder Gemeinplätzen (tópos heißt wörtlich Ort), die sich für ein Argument verwenden lassen. Diese Sammlung war manchmal übrigens nach den Statūs geordnet, und so könnte man etwa den Satz ‚Das speziellere Gesetz verdrängt das generelle“ als Topos bezeichnen. (Im Einzelnen ist das Verhältnis von Topik und písteis kompliziert, jedoch muss dies hier nicht geklärt werden. Auch die sog. Topik-Diskussion der 1950er bis 1970er Jahre muss außer Betracht bleiben).27 Fassen wir zusammen: Man darf die antike Gerichtsrhetorik mit gutem Recht als den Beginn einer rationalen Methode des Umgangs mit der Sache Recht be23  Nach BGH, Beschluss vom 22.9.1956 – Aktenzeichen GSSt 1/56 –, BGHSt 9, 385 (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Band 9, S. 385 ff.). 24  Lege 2012, S. 261 f., auch 276 f. 25  Lege, ebd.; Lege 2006, S. 13 f.; siehe auch bereits Lege 1999b, S. 441 – 445, ferner S.  452 – 460, auch S.  383 – 385, 600 f. 26  Klassische Werke: Aristoteles, Topoi, deutsche Ausgaben: 1882, 1968, 2004. – Cicero, Topica, lateinisch-deutsche Ausgabe: 1983. 27 Klassiker: Viehweg. Hauptthese: Das juristische Denken sei primär „topisches“ Problemdenken und nicht „axiomatisches“ Systemdenken. Treffend zu den Übertreibungen auf beiden Seiten der Diskussion schon Zippelius 1967; Otte.

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zeichnen – wobei rational hier nur heißen soll: ohne Gewalt, aber mit dem Anspruch auf Begründung („rationem reddere“ heißt ja: Rechenschaft ablegen). These 5: Die Bedeutung der antiken Rhetorik für das römische Recht war umstritten. Früher hat man aus Aversion gegen die Rhetorik jeglichen Einfluss geleugnet. Heute scheint sich ein unbefangeneres Verständnis durchzusetzen.

Diese These betrifft die Frage, ob das Römische Recht, im 19. Jahrhundert von vielen geradezu zum Inbegriff irdischer Rechtsvernunft erhoben, der Rhetorik irgendetwas zu verdanken hat. Im Grunde ist die Frage fast albern, denn natürlich hatten alle römischen Honoratioren, auch die Juristen, in ihrer Jugend eine rhetorische Ausbildung durchlaufen.28 Mit demselben Recht könnte man daher fragen, ob sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Spuren des gymnasialen Deutschunterrichts von Herrn Grimm 29 finden. Nichtsdestoweniger gibt es ältere Untersuchungen, die nachweisen, dass sich im Corpus Iuris Civilis, jenem gewaltigen Textkorpus des Römischen Rechts, kein Einfluss der Rhetorik finde.30 Aber dahinter stand wohl eine ideologische Übersteigerung der Suche nach dem „an sich“ Wahren, Guten und Schönen – eine Übersteigerung, der jeglicher instrumenteller Vernunftgebrauch suspekt war. Mittlerweile sieht man die Rhetorik in Rechtshistorikerkreisen wohl unbefangener.31 So hat etwa der Pandektenexperte Ulrich Falk seinen Mannheimer Lehrstuhl denominieren lassen für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Rhetorik.32 These 6: Im Mittelalter war die Rhetorik als Teil des Triviums Vorschule für das Studium an den höheren Fakultäten. Die Studenten wussten damals also, wie man überzeugend disputieren kann, schon bevor sie sich auf das materielle Recht einließen.

Diese These schließt die historische Lücke zwischen der antiken Rhetorik als Mutter der Jurisprudenz und der heutigen Bedeutung der Rhetorik für die Juris­ prudenz – also eine Lücke von rund 2000 Jahren. Sie will im Wesentlichen nur behaupten: Die Rhetorik war niemals tot.33 Besonders präsent war sie an den mittelalterlichen Universitäten als Teil des sog. Studium generale, das alle Studenten Clarke, S.  21 – 35; Kalivoda, S. 328 f. Dr. Dieter Grimm (geb. 1937), von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Grimm war Teilnehmer des ZIF-Symposions in Bielefeld, auf dem dieser Vortrag gehalten wurde. 30  Himmelschein; durchaus versöhnlich aber der Schluss: „So sind wir vielleicht auch heute in unserer modernsten Problematik mehr Schüler der Rhetoren als wir es ahnen, und vielfach, wenn wir uns einbilden originell zu denken, sagen wir nur die jahrtausendealten loci communes nach“. 31  Streng aber noch Wesel, S. 139: Der Einfluss der Rhetorik sei allenfalls „sehr gering“. 32  http://www.uni-mannheim.de/fakul/jura/ls/falk/ (aufgerufen am 3.12.2015). 33  Zum Folgenden in aller Knappheit Ueding, S. 83 f., 95 ff.; zur frühen Neuzeit S. 98 ff.; ausführlich zur Geschichte der Rhetorik vom Mittelalter bis zur Aufklärung Ueding/Steinbrink, S.  48 – 135. 28 Vgl.

29  Prof.

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durchlaufen mussten, bevor sie zu den höheren Fakultäten – also Jura, Medizin, Theologie – zugelassen wurden. Dieses Studium generale unterteilte sich in eine Unterstufe, das Trivium („Dreiweg“), bestehend aus den drei Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik (d.i. die alte Bezeichnung für Logik), und eine Oberstufe, das Quadrivium („Vierweg“), bestehend aus den Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Die Rhetorik war also im wahrsten Sinn des Wortes „trivial“, und vielleicht haben sich die fertigen Vollakademiker deshalb später ihrer geschämt (so wie sich nach Karl May die erwachsenen indianischen Krieger dafür schämten, als Kinder mit Pfeil und Bogen auf Schmetterlinge geschossen zu haben).

II.  Die heutige Bedeutung der Rhetorik So viel zur Historie, nun zur heutigen Bedeutung der Rhetorik. These 7: Die Rhetorik als Lehrfach fristet im Recht, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis, seit dem 19. Jahrhundert ein Schattendasein. Die neueren Ansätze im Deutschen Richtergesetz, sie gemeinsam mit anderen „Schlüsselqualifikationen“ wieder in die Juristenausbildung hineinzuholen, sind eher halbherzig.

Zum ersten Satz: Das war nicht immer so. Vielmehr gab es bis zur Wende zum 19. Jahrhundert an den deutschen Universitäten neben den trockenen Vorlesungen auch eine Lehre der sog. „Practischen Jurisprudenz“: Referier- und Dekretierkunst, Staats- und Kanzleipraxis, Archiv- und Registraturwissenschaft, Verteidigungskunst usw.34 Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts setzte sich die Vorstellung durch, die Universität sei allein für die „Wissenschaft“, d. h. theoretische Vermittlung des Stoffs zuständig, während die Praxis erst im Vorbereitungsdienst (Referendariat) zum Zuge komme. Es ist frappierend, dass die heutige Hochschulpolitik offenbar eine Rückkehr in die davorliegende Zeit anstrebt: Die Universitäten sollen, insbesondere in den neuen Bachelor-Studiengängen, „berufsqualifizierend“ ausbilden, sie sollen „skills“ vermitteln, die die „employability“ steigern.35 Für Jurastudenten also wieder Referierkunst, Archivwissenschaft, Kanzleikunde? Nun, des Kaisers neue Kleider sind natürlich ein bisschen bunter: Man spricht von Schlüsselqualifikationen.36 Allerdings scheint es, als hätten die wesentlichen Gestalter der juristischen Ausbildung – also die Justizminister und die Juristischen Fakultäten – die neue Mode nur ungern mitgemacht. So schreibt § 5a Abs. 3 Satz Schröder. – Die Referier- und Dekretierkunst umfasste offenbar auch das, was heutige Juristen erst im Vorbereitungsdienst lernen, nämlich aus realen Akten im Wege der sog. „Relationstechnik“ die entscheidenden Punkte herauszuarbeiten und einen Entscheidungsvorschlag zu präsentieren; dabei wurde übrigens auch die antike Rhetorik, insbesondere Quintilian (Fn. 10) und Cicero (Fn. 9), zitiert (a.a.O. S. 60 – 62). 35  Die Umstrukturierung der Universitäten im Zuge des sog. Bologna-Prozesses ist zur Zeit ein höchst umstrittenes Thema; sehr kritisch z. B. Scholz/Stein. 36 Erster auf dem Lehrbuchmarkt: Römermann/Paulus; nunmehr auch Brinktrine/ Schneider. 34 

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1 DRiG37 zwar vor, Inhalt des Studiums seien auch „die erforderlichen Schlüsselqualifikationen“ (dazu gehören etwa: Rhetorik, aber auch Mediation, d. h. außergerichtliche Streitschlichtung, Verhandlungsführung, sogar Vernehmungstechnik). Gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (JAPO M-V) – und ebenso vermutlich in den anderen Ländern – muss der Student jedoch in seinem ganzen Studium nur an einer einzigen Lehrveranstaltung aus diesem Bereich teilgenommen haben. Dies klingt weniger nach Konzept als nach Zugeständnis an den Zeitgeist, so wie er sich in Gestalt von Bildungsministern und Hochschulrektorenkonferenz zeigt. These 8: Rhetorik im materiellen Sinn – also das, was Texte und überhaupt Sprachakte auch gefühlsmäßig überzeugend macht – ist im Recht nach wie vor überall präsent.

Ein Beispiel:38 Das Bundesverfassungsgericht hatte zu entscheiden, ob es gegen das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) verstößt, wenn aufgrund des Tierschutzgesetzes einem türkischen Metzger das sog. Schächten verboten wird, also das Schlachten von Tieren ohne Betäubung durch Ausblutenlassen nach Öffnung der Halsschlagader. Der erste Satz der Entscheidungsgründe, genauer: der Sachverhaltsschilderung, lautete nun: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland das Schächten als Schlachtmethode nach jüdischem Ritus weitgehend erlaubt (vgl. dazu und zum Folgenden BGH, DÖV 1960, S. 635 f.).“ Und der dritte Satz: „Deutschlandweit wurde der Zwang, warmblütige Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, durch das Gesetz vom 21. April 1933 (RGBl. I S. 203) eingeführt, das nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs das Ziel verfolgte, den jüdischen Teil der Bevölkerung in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen zu verletzen (a.a.O., S. 636).“39 Nach dieser Eröffnung konnte man kaum noch erwarten, die Entscheidung werde zu Ungunsten des Metzgers ausgehen. Weiteres Beispiel: die Mauerschützenprozesse. Dort finde ich es geradezu unseriös, wenn das Bundesverfassungsgericht sich die Darstellung des Landgerichts zu eigen macht, nach der die DDR-Grenzsoldaten wie wild auf einen Menschen geschossen hätten, der doch nur die Spree durchschwimmen wollte.40 Nur ganz 37  Deutsches Richtergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.4.1972 (BGBl. I S. 713), für den hier maßgeblichen Kontext geändert durch Gesetz vom 11.7.2002 (BGBl. I S. 2592). 38  Zum Grundlegenden: Sobota 1990; auch Lege 1999b, S. 569 – 574; eher klassisch-anwendungsbezogen Gast. 39  BVerfG, Urteil vom 15.1.2002 – Aktenzeichen 1 BvR 1783/99 –, BVerfGE 104, 337 (338) (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 104, Seite 337 bzw. 338). 40  BVerfG, Urteil vom 24.10.1996 – Aktenzeichen 2 BvR 1851/94 etc. –, BVerfGE 95, 96 (119 f., 142 f.): „Das Schießen auf einen unbewaffneten Menschen, der für den Beschwerdeführer und seinen Mittäter deutlich erkennbar nichts weiter [sic!] vorgehabt habe, als das gegenüberliegende Ufer der Spree zu erreichen, und von dem keinerlei Gefährdung oder Schädigung ausgegangen sei, könne unter keinem Gesichtspunkt als gerechtfertigt angesehen werden.“ Damit habe das Landgericht hinreichend „dargelegt, die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei unter den festgestellten Umständen ein

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harmlos die Spree durchschwimmen? Nach den rechtlichen Kategorien der DDR war die Überwindung der Staatsgrenze, hier gebildet von der Spree, ein schweres Verbrechen, nämlich Republikflucht. Das darf man doch nicht mit einer falschen Rhetorik übertünchen!41 Über diese beiden Beispiele hinaus lässt sich an beliebig anderen juristischen Texten nachweisen, wie sehr der Duktus von rhetorischen Mitteln geprägt wird – Kernbeobachtung: je problematischer der Punkt, desto emphatischer der Stil. Katharina Sobota (jetzt Gräfin von Schlieffen) hat sogar einmal „rhetorische Seismogramme“ gezeichnet anhand der Analyse von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.42 These 9: Theoretisch betrachtet, lässt sich diese materiale Rhetorik in Anlehnung an die Semiotik und die Sprachwissenschaften als Pragmatik bezeichnen. Pragmatik ist die reale Bedeutung eines Zeichens, also das, was es real bewirkt oder bewirken soll.

In aller Kürze:43 Semiotik ist die Lehre von den Zeichen. Sie ist, wie die Rhetorik, eigentlich uralt, z. B. gilt Augustinus (354 – 430), von Hause Rhetoriklehrer, auch als Klassiker der Semiotik. Die heutige Semiotik geht zurück auf – unabhängig voneinander – Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) und Charles Sanders Peirce (1839 – 1914). Der weltweit berühmteste Semiotiker ist Umberto Eco (1932 – 2016). Aus der Semiotik stammt die Erkenntnis, dass jedes Zeichen eine dreistellige Relation ist: (1) das Zeichen als solches, z. B. ein Wort oder ein Satz oder eine Fahne; (2) das, worauf es sich bezieht, z. B. eine Baustelle oder ein Stuhl oder ein Sachverhalt; (3) die eigentliche Bedeutung des Zeichens, das, was es im Hinblick auf den Gegenstand sagen soll, z. B.: „Achtung, Baustelle! Bitte drumherumfahren“. Kurz: Die wahre Bedeutung eines Zeichens ist das, was es in einer konkreten Situation praktisch bewirkt oder bewirken soll.44 In Anlehnung an diese Unterscheidungen hat die moderne Linguistik, genauer, hat Charles William Morris (1901 – 1979), im Hinblick auf Sprachen und ihre derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres [sic!] einsichtig und damit offensichtlich war.“ 41  Zugegeben: Landgericht und BVerfG haben a.a.O. natürlich die Frage des Befehlsnotstandes und des damals geltenden DDR-Rechts thematisiert; aber sie haben diese durchschlagenden Bedenken eben in unzulässiger Weise mit einem schiefen Bild beiseite geschoben. – Ein Vorschlag zur richtigen Lösung der Problematik: Schlink, S. 435: rückwirkendes Strafgesetz nach Änderung des Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot). 42  Sobota 1992; von Schlieffen S. 55 ff. 43  Neueste Einführungen: Kjørup; Chandler. Siehe auch Lege 1999b, S. 213 – 225, speziell zur Peirce’schen Semiotik S. 225 – 242. – An der herrschenden juristischen Methodenlehre ist die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts ziemlich spurlos vorbeigegangen. 44 Siehe auch Peirce’ berühmte Pragmatische Maxime: „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object“, Popular Science Monthly 12 (1878), pp. 286 – 302, hier zitiert nach Peirce.

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Verwendung eine andere Dreiteilung eingeführt: Semantik, Syntaktik, Pragmatik. Semantik meint die Beziehung der Zeichen zu den Objekten, die sie bezeichnen – sozusagen die Vokabeln. Syntaktik ist die Lehre vom Zusammenhang der Zeichen untereinander – sozusagen die Grammatik. Und Pragmatik? Pragmatik ist nach Morris die Lehre von den Beziehungen der Zeichen zu ihren Interpreten – also letztlich Rhetorik, nämlich alles, was man mit Hilfe von Semantik und Syntaktik macht, um damit etwas zu bewirken: „How to Do Things With Words“, so der Klassiker45 von John Langshaw Austin (1911 – 1960). Auf Deutsch heißt das Buch übrigens, rhetorisch weniger durchschlagkräftig, „Zur Theorie der Sprechakte“.46 These 10: Eine solche Rhetorik als Pragmatik berücksichtigt die „Situationsgebundenheit“ aller rechtlichen Sprachakte. Derselbe Text hat eine andere Bedeutung, wenn er aus der Position des Anwalts, des Gerichts oder des Wissenschaftlers vorgetragen wird.

Zum hier verwendeten Terminus „Sprachakte“: Das ist kein Versehen, es soll gerade nicht „Sprechakte“ heißen, denn dies klingt im Deutschen zu sehr nach Mündlichkeit. Sprachakte sind also: gesprochene oder geschriebene Wörter, Sätze, Schlussfolgerungen; aber auch größere Texte wie Klage- oder Anklageschriften, Gerichtsentscheidungen, Gesetze, Gutachten, wissenschaftliche Aufsätze, Kommentare etc. Zu Satz 2 der These 10: Stimmt das wirklich? Nehmen wir als Beispiel den Satz: „A hat den B ohne Warnung ins Gesicht geschlagen“. Wenn der Anwalt des B ihn äußert, ist er eine Hypothese, die er bereit sein muss zu beweisen. Wenn das Gericht ihn in sein Urteil schreibt, bedeutet er: Das sehen wir als erwiesen an und legen es der rechtlichen Würdigung zu Grunde. Weiteres Beispiel: Wenn der Anwalt des B schreibt: „Der Anspruch des Klägers auf Schadensersatz ergibt sich aus § 823 BGB“, dann ist klar, dass dies eine Hypothese ist, die primär zweckrational aufgestellt ist, die aber doch den Anspruch erhebt, objektiv dergestalt richtig zu sein, dass jeder vernünftige Mensch und vor allem das Gericht ihr folgen muss. Wenn das Gericht diesen Satz schreibt, bedeutet er: Ja, es ist, nach geltendem Recht, objektiv (sachlich) richtig. Und wenn diesen Satz ein „Wissenschaftler“ schreibt, gemeint: jemand aus der akademischen Rechtswissenschaft, z. B. in einer Urteilsrezension? Dann sollte er eigentlich ebenfalls mit dem Anspruch auf objektive Richtigkeit antreten. Aber leider handelt es sich gerade in der sog. Wissenschaft oft um mehr oder weniger verkappte Interessentenliteratur. Je mehr dies der Fall ist, desto mehr wird freilich „in the long run“47 das Ansehen, ja die Autorität der „Wissenschaft“ leiden (ich knüpfe damit an Herrn Vorländer an, an seine Überlegungen zur Rolle des Interpreten und wie er Autorität gewinnt oder verliert).48 Austin 1962. Austin 1979. 47  Das „in the long run“ ist ein Kernmotiv der Peirce‘schen Philosophie, vgl. Lege 1999b, z. B. S. 25, 85 f., 189 – 193 und öfter. 48  Leider konnte der Vortrag von Hans Vorländer in diesem Band nicht dokumentiert werden. 45 

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These 11: Ein rhetorisches Phänomen in allen Bereichen der Jurisprudenz, das dem deutschen Rechtsdenken allerdings wenig bewusst ist, kann man als narrative Kraft bezeichnen. Z. B. gewinnt im Rechtsstreit letztlich derjenige, der die bessere Geschichte zu erzählen hat (vgl. den Film „Amistad“). Und in der Rechtswissenschaft kann es einen großen Unterschied machen, ob man die Darstellung einer Streitfrage mit Theorie A oder mit Theorie B beginnt.

Diese These ist eher ein Exkurs. Angeregt ist sie von dem Film „Amistad“ aus dem Jahr 1997, er stammt von Steven Spielberg, ist aber weniger bekannt. Thema ist eine wahre Geschichte aus der Zeit des Sklavenhandels: Auf einem der unzähligen Sklaventransportschiffe zwischen Kuba und den Südstaaten, auf der unter spanischer Flagge segelnden „Amistad“, hatte die Ladung, also die Sklaven, die Besatzung überwältigt und das Schiff in ihre Gewalt gebracht. Sie gelangten in die USA, sie erhielten dort Asyl, und nun klagte niemand Geringeres als die spanische Königin auf Herausgabe ihres Eigentums. Erst nahm sich nur ein junger Anwalt der Sache der Sklaven an, dann auch der alte, erfahrene Anwalt John Quincy Adams, zuvor der sechste Präsident der USA, gespielt von Anthony Hopkins. Und dieser alte erfahrene Anwalt sagt nun, als er vom Anführer der Sklaven wissen will, was geschehen ist: „Vor Gericht gewinnt am Ende immer, wer die bessere Geschichte zu erzählen hat“.49 Und dann macht in der Tat erst die ganze grauenhafte Geschichte, die das Opfer gar nicht erzählen mag, den Geschworenen klar, dass man Menschen nicht wie Sachen behandeln darf. Was das Geschichtenerzählen in der akademischen Jurisprudenz angeht, kann ich eine eigene Erfahrung beisteuern: Es kann einen großen Unterschied machen, ob man die Schilderung einer umstrittenen Frage mit Theorie A oder mit Theorie B beginnt. Bis zum Jahr 1990 wurde z. B. die umstrittene Frage, was unter dem Begriff „Enteignung“ in Art. 14 GG zu verstehen sei, in etwa wie folgt traktiert: „Der Bundesgerichtshof (BGH) hat unter Enteignung zunächst dies, dann das und letztlich jenes verstanden. Daraus ergibt sich folgender Begriff der Enteignung. Dann kam 1981 das Bundesverfassungsgericht und hat in einer schwer verständlichen Entscheidung im Wesentlichen gesagt: ‚So nicht!‘ Daraus folgen diese und jene Korrekturen der bisherigen Rechtsprechung des BGH, die der BGH selbst zum Teil schon vorgenommen hat.“ Ich habe 1990 in meinem juristischen Erstlingsaufsatz50 ganz einfach und sehr bewusst die Reihenfolge umgekehrt: (1) Das Bundesverfassungsgericht hat 1981 in der Nassauskiesungsentscheidung, so wie ich sie auslege, bestimmte dogmatische Grundsätze aufgestellt. (2) Vor diesem Hintergrund erzähle ich die Geschichte der BGH-Rechtsprechung neu: die Geschichte vor dem BVerfG-Beschluss und die Geschichte danach. Und in dieser Perspektive ergibt sich: (a) Wie war das bloß alles, vor dem BVerfG, unglaublich inkonsistent, unübersichtlich und verquer! (b) Und 49  Auch die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Renate Jaeger hat einmal durchblicken lassen, wie sehr die unübertroffene Art englischer Anwälte, einen Fall zu erzählen, die Richter beeindruckt. 50  Lege 1990.

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wie sind nun, nach dem BVerfG, viele „Korrekturen“ des BGH nicht wirklich Korrektur, sondern geradezu dreister Boykott. These 12: Die Omnipräsenz der Rhetorik im materiellen Sinn verlangt nach einer wieder stärkeren Einbindung der Rhetorik als Lehre in die juristische Ausbildung. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil nur auf diese Weise die „Akteure“ nicht zufällig durch Talent oder Herkunft begünstigt werden, sondern mit einer gewissen Chancengleichheit gegeneinander antreten können.

These 12 braucht keine besondere Erläuterung. Man könnte allenfalls fragen, ob Rhetorik nur in der juristischen Ausbildung einen besonderen Platz einnehmen sollte, ob sie nicht vielmehr, in Gestalt eines Studium generale, allen Studierwilligen vorweg beigebracht werden sollte. Man würde damit das kompensieren, was die Schule, insbesondere das Gymnasium, heute nicht mehr leistet. Zu erwähnen bleibt: Die Idee, dass Rhetorik nicht etwa ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile vermittelt, sondern – nicht zuletzt durch Entlarvung unseriöser Tricks – ganz im Gegenteil erst Waffen- und Chancengleichheit schafft, ist nicht von mir. Sie stammt von meinem Freund Christof Gramm, und er vermittelt sie ganz praktisch in Kursen und in Publikationen.51 These 13: Was der Rhetorik fehlt, ist die Idee objektiver Richtigkeit – so wie man sie in einem Recht, das als Wissenschaft will auftreten können, voraussetzen muss.

Gehen wir einmal davon aus, dass erfolgreiche Rhetoriker zumindest ahnen, worauf ihr Erfolg beruht. Dann werden sie jedenfalls wissen: Er beruht nicht darauf, dass sie andere zur Zustimmung zwingen können. Er beruht noch nicht einmal darauf, dass man sie für ihre instrumentelle Geschicklichkeit, ja ihre Chuzpe, eine ausweglose, auf den ersten Blick völlig klare Sache52 in ihr Gegenteil umzubiegen, staunend bewundern muss. Sondern er beruht darauf, dass man ihnen folgt, weil das, was sie vertreten, als richtig erscheint. Rhetoriker müssen also zumindest so handeln und die Dinge53 so darstellen, als ob es so etwas wie objektive, sachliche Richtigkeit gibt (also nicht bloß subjektive Zweckmäßigkeit). Und dies ist dann der Punkt, wo sich Gut und Böse trennen. Die bösen Rhetoriker gehen davon aus, dass es objektive Richtigkeit in Wahrheit gar nicht gibt, dass man diese Idee aber sehr schön instrumentell einsetzen kann, um andere ohne äußeren Zwang zu etwas zu bringen, das sie eigentlich gar nicht wollen. Man kann diese Haltung auch Ironie nennen. (Es ist die erste Reaktion, wenn man entdeckt hat, dass Wahrheit oder Richtigkeit Paradoxien sind: Es gibt sie, und es gibt sie nicht.) Die guten Rhetoriker gehen davon aus, dass es objektive Richtigkeit wirklich gibt, oder besser: dass dies eine regulative Idee ist, die im konkreten Fall immer wieder verwirklicht werden muss. Deshalb können die guten Rhetoriker eben nicht jede Sache vertreten (und sind deshalb auf den ersten Blick die schlechteren RheZ. B. Gramm. Das Wort „Sache“ stammt übrigens vom althochdeutschen sah-ha: die Rechtssache. 53  Das Wort „Ding“ stammt von althochdeutschen thing: Volks- und Gerichtsversammlung. 51 

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toriker),54 sondern nur eine solche, die sie für richtig oder wenigstens vertretbar55 halten. Eine solche Haltung kann man letztlich wohl nur ertragen, wenn man ein gewisses Pathos56 mitbringt: Pathos, d. h. Leidenschaft für Wahrheit und Wahrhaftigkeit, für Richtigkeit und Aufrichtigkeit; vielleicht sogar Leidensfähigkeit, gerade gegenüber Ironikern, die auf den ersten Blick ja immer die Intelligenteren zu sein scheinen. Aber vielleicht sollten wir die bösen Rhetoriker besser nicht Ironiker nennen,57 sondern Sophisten.58 Sophisten glauben nicht wirklich an das, was sie vertreten. Sie glauben z. B. nicht wirklich daran, dass es im Recht – sagen wir: im Grundgesetz – eine immanente Vernunft, eine immanente Richtigkeit gibt, die man aus dem Text jeweils am Fall herausholen muss – und dann von Fall zu Fall dogmatisch weiterzuspinnen hat. Sie glauben vielmehr, dass es in jedem Fall eine „politisch vernünftige“ Lösung gibt, die man eigentlich schon vorher weiß, aber irgendwie auch noch mit einigen Topoi aus dem Grundgesetz untermalen und ausschmücken muss. Oder nein, gar nicht aus dem Grundgesetz, sondern: aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, aus den Kommentaren zum Grundgesetz,59 aus dem Handbuch des Staatsrechts,60 kurz: aus dem ganzen barocken Drumherum der letzten 60 Jahre – kürzlich hat Herr Klippel diesen Barock als das „Vernunftrecht unserer Zeit“ bezeichnet.61 Bei Anlegung dieser Maßstäbe folgt: Vieles, was als Rechtswissenschaft auftritt, ist in Wahrheit gar nicht Jurisprudenz, sondern Sophistik – sagen wir: 70 bis 80 Prozent der sog. Staatsrechtslehre. Es ist schlechte Rhetorik, Rhetorik ohne Strenge, ohne wahrhafte Disziplin, manchmal geradezu unernst,62 – Rhetorik, in 54 

„Gut“ hier also nicht im Sinn von „anständig“, sondern von „technisch geschickt“. „Vertretbarkeit“ ist eine Kernkategorie der Jurisprudenz, die allerdings selten thematisiert wird, insbesondere nicht ihr Verhältnis zur Richtigkeit; meine Haltung dazu: Lege 1999b, S. 584 – 588. – In der antiken Rhetorik hat man sich offenbar über Arten und Grade der Vertretbarkeit Gedanken gemacht, s. Kalivoda, S. 334: dem Rechtsempfinden entsprechend (genus honestum), es in Frage stellend (dubium), es schockierend (admirabile), es wegen Bagatellität nicht berührend (humile), es durch Komplikation belastend (obscurum). 56  Zu Ironie und Pathos bereits Lege 1997, S. 98 f. 57  Nicht zuletzt aus Hochachtung vor der berühmten, schon von Platon selbst (in der „Politeia“) thematisierten Ironie des Sokrates. 58  Natürlich habe ich gegen die eigentlichen, vorsokratischen Sophisten nicht dieselbe Antipathie, wie sie die klassische Altphilologie des 19. Jahrhunderts hatte, und natürlich kann man die Sophistik auch als griechische Aufklärung interpretieren. Dennoch trifft der Begriff Sophist den bloß instrumentellen Vernunftgebrauch wohl immer noch am besten. 59  Deren Zahl beträgt mittlerweile über fünfzehn, und es kommen gerade wieder neue dazu, zuletzt Sodan und Epping/Hillgruber. 60  Begründet 1987 von Josef Isensee und Paul Kirchhof, mittlerweile zehn Bände in dritter Auflage. – Siehe zur Literaturlage statt vieler den Überblick bei Zippelius/Würtenberger, § 57, S. 638 ff. 61  Klippel. 62  Vgl. etwa den Beschluss vom 26.7.2002 – Aktenzeichen 1 BvR 558/91 [!] –, BVerfGE 105, 252 – Glykolwein –, in dem eine jahrelange intensive Diskussion um den „fakti55 

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der der Zweck die Mittel heiligt. Das Schlimmste daran: Wir sind an all das mittlerweile so gewöhnt, dass wir es kaum noch wahrnehmen. Aufklärung täte daher Not, Erweckung aus dem barocken, dogmatischen Tiefschlaf unserer breiigen Alltagsjurisprudenz, konkret etwa: Betonung der Klarstellungsfunktion der Verfassung,63 etwas, das heute so gut wie vergessen ist. Paradoxerweise könnte diese Aufklärung vielleicht gerade mit Hilfe der Rhetorik erfolgen: durch eine Besinnung auf das, was sie kann, aber auch, was ihr fehlt.64 Rhetorik – ursprünglich die Vorschule, die Vor-Disziplin zur wahren Jurisprudenz – könnte heute das Instrument sein, um eine ins Kraut geschossene Pseudo-Dogmatik wieder zu disziplinieren. Dies wäre dann allerdings primär nicht eine Frage der Inter-Disziplinarität, sondern der Disziplinarität, und dabei darf die Jurisprudenz von der Rhetorik nicht das erhoffen, was nur sie allein kann: die eigene disziplinäre Identität finden. Vielmehr gilt für die Jurisprudenz insofern: Ohne die Idee von rechtlicher Richtigkeit65 hat sie keine Disziplin und ist sie keine Disziplin – zumindest keine ernstzunehmende.

Literatur Adomeit, Klaus: Rechtstheorie für Studenten. Heidelberg, 3. Aufl. 1990. Anonym: Rhetorik an Herennius, herausgegeben und übersetzt von Th. Nüßlein, 1998. Aristoteles: Rhetorik, 2 Halbbände, übersetzt und erläutert von Ch. Rapp. Berlin, 2002. – Rhetorik, herausgegeben und übersetzt von G. Krapinger. Stuttgart, 1999. – Rhetorik, übersetzt und erläutert von F. G. Sieveke. München, 1980. – Topik, übersetzt von E. Rolfes. Hamburg, 1968. – Topik, übersetzt von J. H. von Kirchmann. Heidelberg, 1882. – Topik, übersetzt von T. Wagner. Stuttgart, 2004. Austin, John Langshaw: How to Do Things With Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. Cambridge/Massachusetts, 1962 (2nd ed. 1975). – Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart, 1979. Brinktrine, Ralf/Schneider, Hendrik: Juristische Schlüsselqualifikationen. Berlin/Heidelberg, 2008. Chandler, Daniel: Semiotics: The basics, 2nd ed. New York, 2007. Cicero, Marcus Tullius: De inventione/Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum/Über die beste Gattung von Rednern, herausgegeben und übersetzt von Th. Nüßlein. Düsseldorf/Zürich, 1998. schen Grundrechtseingriff“ mit leichter Hand ignoriert wurde. – Aus dem Aktenzeichen ersieht man, dass die Sache im Jahr 1991 beim BVerfG eingegangen war, die Beschwerdeführer mussten also elf Jahre (!) auf die Entscheidung warten. 63  Siehe mein Plädoyer „Zurück zum Text, zurück zum Fall“: Lege 2007, S. 1063. 64 Vgl. Falk, S. 149: „Der endliche Weg zur Wahrheit führt nicht um die Technik herum, sondern durch die Technik hindurch“ – ein Zitat aus den Briefen Rudolf von Iherings. 65  Dazu zuletzt Lege 2008.

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– Topik, übersetzt von H. G. Zekl. Hamburg, 1983. Clarke, Martin Lowther: Rhetoric at Rome (1953, second ed. 1966), rev. third ed. London New York, 1996; dt. Die Rhetorik bei den Römern. Ein historischer Abriss. Göttingen, 1968. Epping, Volker/Hillgruber, Christian (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar. München, 2009. Falk, Ulrich: Der Gipfel der Pandektistik: Bernhard Windscheid (1817 – 1892), in: J. Lege (Hrsg.): Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945. Tübingen, 2009. Fuhrmann, Manfred: Die antike Rhetorik. München/Zürich, 3. Aufl., 1990. Gast, Wolfgang: Juristische Rhetorik. Heidelberg, 4. Aufl., 2006. Gramm, Christof: Argumentieren. So behalten Sie in Diskussionen die Oberhand. Freiburg/ Berlin/München/Zürich, 2005. Himmelschein, Jury: Studien zu der antiken Hermeneutica iuris, in: Symbolae Friburgenses in Honorem Ottonis Lenel, o. J. Leipzig, 1935, S. 373 – 424. Horak, Franz: Die rhetorische Statuslehre und der moderne Aufbau des Verbrechensbegriffs, in: F. Horak/W. Waldstein (Hrsg.): Festgabe für Arnold Herdlitczka zu seinem 75. Geburtstag. München/Salzburg, 1972, S. 121 – 142. Kalivoda, Gregor: Juristische Rhetorik. Systematische, historische und interdisziplinäre Aspekte der forensischen Beredsamkeit, in: K. Lerch (Hrsg.): Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Berlin/New York, 2005, S.  321 – 342. Kjørup, Søren: Semiotik. Paderborn, 2009. Klippel, Diethelm: Rechtsphilosophie und geistiges Eigentum, Vortrag auf der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) am 25.9.2008 in Tübingen. Knape, Joachim (2000a): Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart, 2000. – (2000b): Was ist Rhetorik? Stuttgart, 2000. Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Berlin, 6. Aufl., 1991. Lege, Joachim: Das Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit. Einige Fußnoten zu Konrad Hesse, Deutsches Verwaltungsblatt 2007, S.  1053 – 1064. – Der Konkurs eines Unrechtsstaates, Der Staat 38 (1999a), S. 1 – 19. – Enteignung und „Enteignung“. Zur Vereinbarkeit der BGH-Rechtsprechung mit Art. 14 GG, Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 864 – 872. – Gleichheit im Unrecht für die Alteigentümer? Neue Justiz (2004a), S. 385 – 389. – Ist Alteigentum geschichtsfest?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.5.2004 (2004b), S. 8. – Pragmatismus und Jurisprudenz. Tübingen, 1999b. – Rechtsbegriffe. Ihre Logik, ihre Bedeutung, ihre Richtigkeit, Greifswalder Halbjahresschrift für Rechtswissenschaft 1, 2006, S. 1 – 16.

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– Subsumtion pragmatisch: Deduktion, Induktion und Abduktion, in: G. Gabriel/R. Grösch­ner (Hrsg.): Subsumtion – Schlüsselbegriff der juristischen Methodenlehre. Tübingen, 2012, S. 259 – 280. – Was heißt und zu welchem Ende studiert man als Jurist Rechtsphilosophie? Ein systemtheoretischer Versuch, in: R. Gröschner/M. Morlok (Hrsg.): Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs (ARSP-Beiheft 71), 1997, S. 83 – 104. – Was Juristen wirklich tun. Jurisprudential Realism, in: W. Brugger/S. Kirste (Hrsg.): Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 2008, S. 207 – 232. Martin, Josef: Antike Rhetorik. Technik und Methode (Handbuch der Altertumswissenschaft). München, 1974. Otte, Gerhard: Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag und Aufgaben. Rechtstheorie 1, 1970, S.  183 – 197. Peirce, Charles Sanders: Collected Papers, ed. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge/ Massachusetts, 1931 – 1935, repr. 1960, vol. 5 paragraph 402 (CP 5.402). Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis Oratoriae Libri XII/Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, 2 Bände, herausgegeben und übersetzt von H. Rahn. Darmstadt, 3. Aufl., 1995. Römermann, Volker/Paulus, Christoph: Schlüsselqualifikationen für Jurastudium, Examen und Beruf. München, 2003. Schlieffen, Katharina von: Rhetorische Analyse des Rechts: Risiken, Gewinn und neue Einsichten, in: R. Soudry (Hrsg.): Rhetorik. Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis. Heidelberg, 2. Aufl., 2006, S. 42 – 64. Schlink, Bernhard: Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, Neue Justiz 1994, S.  433 – 436. Scholz, Christian/Stein, Volker: Bologna-Schwarzbuch. Bonn, 2009. Schröder, Jan: Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 1979. Sobota, Katharina: Rhetorisches Seismogramm – eine neue Methode in der Rechtswissenschaft, Juristenzeitung, 1992, S. 231 – 237. – Sachlichkeit: Rhetorische Kunst der Juristen. Frankfurt/Main, 1990. Sodan, Helge (Hrsg.): Grundgesetz. München, 2009. Ueding, Gert: Klassische Rhetorik. München, 1995. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Stuttgart/Weimar, 4. Aufl., 2005. Viehweg, Theodor: Topik und Jurisprudenz. München, 5. Aufl., 1974. Wesel, Uwe: Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen. Köln/ Berlin/Bonn/München, 1967. Zippelius, Reinhold: Juristische Methodenlehre. München, 10. Aufl., 2006. – Problemjurisprudenz und Topik, Neue Juristische Wochenschrift 1967, S. 2229 – 2234. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas: Deutsches Staatsrecht. München, 32. Aufl., 2008.

Reasoning from Neutrality and the Political Conception of Justice Vasiliki E. Christou

I. Introduction In this essay I shall try to show what it is to reason from a neutral viewpoint, how neutrality may be described in positive terms, and in what way it may form an attractive ideal for the basic structure of a society, promoting stability as a matter of necessity but also a bond of loyalty. First, I shall briefly present various approaches to the principle of neutrality as well as the criticism it faces. Second, I shall explain that the political conception of justice in the work of John Rawls and the related idea of public reason represent a form of justificatory neutrality. In positive terms, neutrality is not just to avoid comprehensive ideals, it is also to reason on political grounds when it comes to matters concerning the public political forum. Third, I shall use the example of abortion to illustrate the public and neutral way of reasoning. Finally, I shall present the idea of an overlapping consensus as Rawls’s answer to critics claiming that autonomy, understood as the underlying principle of political justice, is not at all a neutral and commonly accepted ground; on the contrary, it is just a privileged theory of a good life.

II.  Forms and Levels of Neutrality The notion of neutrality is at the core of political liberalism. It means that the state should maintain equal distance to various conceptions of the good, and not favor one over the other.1 In this sense the underlying principle of neutrality is equality.2 Furthermore, it is a doctrine of restraint3 in the service of freedom of conscience and the freedom to manifest one’s beliefs or ideas (freedom of speech and arts, of assembly, and of religion). Moreover, it protects against abuse of state powRawls 1999, p. 457: „Historically one common theme of liberal thought is that the state must try to be neutral, as it is said, with respect to comprehensive doctrines and their associated conceptions of the good“; Larmore 1996; Barry, p. 139. 2  Dworkin 1986, p. 190 – 191. 3  Raz, p. 110: „The doctrine of political neutrality is a doctrine of restraint for it advo­ cates neutrality between valid and invalid ideas of the good“. 1 

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er, as nobody is permitted to use state power, state means, and state facilities only to inflict on other adults her perceptions of a good life. It is a principle against state paternalism and in this respect sometimes also called „prophylactic neutrality“.4 Neutrality reflects the main ideals of the so-called classic liberalism.5 For more recent perfectionist approaches, which also claim to belong to the family of liberal ideals, neutrality is on the one hand impossible,6 on the other hand it does not bear any moral value. As Steven Wall points out, for perfectionists the state should take an active role „in creating and maintaining social conditions that best enable their subjects to lead valuable and worthwhile lives“.7 Using Sher’s theory as an example, what is important is not that the state maintains equal distances to the various ideals thriving in the civil society, but on the contrary that it fosters and promotes values. According to Sher those values are intrinsic to the fundamental capacities of a person.8 Not only is neutrality questioned by a number of thinkers that value autonomy (and in that sense claim to be liberal), but it also appears in different forms and with different meanings even among the classic liberal thinkers.9 One basic distinction drawn is the one between neutrality of procedure and neutrality of results (consequential neutrality, neutrality of outcome10, neutrality of effect or of influence). One may understand neutrality of aims or of intent11 as well as justificatory neutrality as being within the broader meaning of procedural neutrality. Proced­ ural neutrality and its variations are, to my mind, closer related to deontological conceptions of liberalism – i.e. conceptions of liberalism that focus on the morality of each individual act, instead of a state of affairs. On the other hand, neutrality of results relates to consequentialist and teleological approaches to liberalism. Take, for example, the theory of Joseph Raz, where it is, in the end, crucial to secure a state of affairs with a good number of different notions of the good, a sufficient pluralism of goods, so that each individual may choose and pick the most suitable one for her life.12 This end being achieved, it is not crucial to safeguard neutrality or equal distances from different notions of the good in each state action. Another contested issue about neutrality is the extent to which it is applicable. According to the late Rawls, it suffices that neutrality is being applied at the constitutional level, meaning the basic structure of a society. On the contrary, DworSher, p. 33. George, p. 20. 6  Raz, p. 123. 7  Wall, p. 8. 8  These are the following: to understand and know more of the world surrounding us (cognitive capacity), to set and implement reasonable life plans (practical capacity), and the capacity to build friendly, family, or other affiliations (social capacity). Sher, pp.  202 – 211. 9  For an overview of the various forms of neutrality see Huster. 2002, 5 – 46. 10  Larmore 1987, p. 44. 11  Rawls 1999, p. 458. 12  Raz, p. 395. 4 

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kin’s idea of neutrality, which De Marneffe13 describes as „concrete neutrality“, is considered to be more inclusive, thus not differentiating between the constitutional and the legislative level. To my mind there is less to this disagreement than it seems. Even when accepting neutrality only at constitutional level, one would not be ready to jeopardize by means of parliamentary law what has been achieved at the constitutional level. In other words, mere constitutional neutrality already implies a good number of restrictions for the legislator with regard to basic rights guarantees. To put it in other words, accepting that a law should abide the principle of neutrality would not lead someone to deny the power ascribed to the legislator by the principle of majority to effectuate state „policies“ in Dworkin’s sense.14 Neutrality does not interfere with the power of the legislator to implement the will of the majority regarding state policies, as long as basic liberties and the all-purpose means, as described below, are not at stake.

III.  What is the Political Conception of Justice? Here I will argue that the political conception of justice [hereafter: Political Justice], as Rawls put it in his writings, is an attractive restatement of liberal neutrality itself, as Political Justice may, according to Rawls, „be presented independently from comprehensive doctrines of any kind“.15 This means to talk about neutrality not just in negative but also in positive terms; the gain is eventually a clearer understanding of what neutrality is and what is not. In other words neutrality not only means equal distance from different notions of the good (negative definition); it also means, positively, to reason in the public sphere with political arguments, and to exclude comprehensive doctrines, either religious, ethical or philosophical. Political arguments are those corresponding to the Political Conception of Justice. Therefore public reason is a principle of restraint, a form of justificatory neutrality, narrowing down the kinds of arguments qualifying for public dialogue: they need to be equally indifferent to the various notions of the good or, to put it in another way, they need to derive exclusively from Political Justice,16 which is a „freestanding“ conception of justice, independent from different notions of the good and comprehensive doctrines. For this reason, according to Rawls, Political Justice is accepted by the people as a fair fundament of society, producing social stability, and a bond of loyalty to the political society. De Marneffe, 1990, p. 253. Dworkin 1977, pp.  11 – 45, 46 – 80. 15  Rawls 2002, p. 143. 16 See Baur, p. 2153: „[The] Rawlsian notion of public reason focuses on the limits that are to be placed on the kinds of reasons to which citizens may legitimately appeal when deliberating and making decisions publicly about constitutional essentials and matters of basic justice.“ Also Michelman, p. 971, 975. Contrary to the above Gutmann/Thomson claim that the idea of public reason in late Rawls is a comprehensive, not a political one. See Gutmann/ Thomson, p. 39 and FN 65. 13  14 

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The main elements of Political Justice may briefly be summarized as follows: Political Justice includes a list of basic rights, liberties, and opportunities as well as a list of all-purpose-means, necessary for the realization of the basic rights and liberties, and adequate for all citizens to make effective use of their freedoms.17 The basic rights and liberties have priority over notions of the individual good, over the common good, and over perfectionist values.18 The list of basic rights and liberties includes rights familiar to western constitutional regimes, like freedom of speech, and of assembly, privacy, freedom of religion and of the arts etc.19 Political Justice purports to include a whole family of political conceptions, provided that they have in common „the ideas of citizens as free and equal persons and of society as a fair system of cooperation over time“.20 The Theory of Justice is only one among those political conceptions, different from Political Justice, inter alia, in that the Theory endorses as a distributive principle the difference principle,21 whereas to Political Justice it suffices to protect the all-purpose-means. Political arguments may also reflect secondary values that enhance and accommodate the basic rights and liberties, such as rationality, effectiveness and efficiency.22 Public reason is a doctrine of restraint not only with respect to the reasons recognized as legitimate to justify coercion and state action, but also with respect to its area of applicability. Public reason is not the only reason in a liberal society. One has to differentiate between the „public political forum“, where public reason is the appropriate way of reasoning, and the so-called „background culture“, where dialogue from a particular, comprehensive point of view is not only allowed, but also promoted by Political Justice itself, i.e. freedom of conscience and speech.23 The public political forum, Rawls goes on to explain, has three parts: „the discourse of judges in their decisions, and especially of the judges of a supreme court; the discourse of government officials, especially chief executives and legislators; and finally, the discourse of candidates for public office and their campaign managers, especially in their public oratory, party platforms, and political statements“.24

The restraints of public reason do not apply in the civil society. They apply in the public forum and only with regard to the basic structure of a society. The latter reminds of the discussion about mere constitutional versus legislative neutrality mentioned earlier.

Rawls 2002, p. 141. As in A Theory of Justice. See Rawls 2001, pp. 92 – 99. See also Rawls 2005, p. 291. 19  Rawls has argued that such list of basic liberties derives from the two moral powers of a person, namely the capacity for a sense of justice, and the capacity for a conception of the good. See Rawls 2005, pp. 310 – 324. 20  Rawls 2002, p. 141. 21  Rawls 2001, pp. 107 – 112. 22  Rawls 2002, p. 144. 23  Rawls 2002, pp. 133 – 134. 24  Rawls 2002, p. 133. 17 

18 

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Another way to describe public reason as justificatory neutrality is to say that a law has to be justified on merely political grounds, or that it has to meet the restraints of public reason. If a law passes the test of public reason, then it is a legitimate one in a society of free and equal citizens. How does public reason actually work in practice? The law prohibiting and punishing rape for example is justified publicly on the basis of the right of women to equally participate in social life, and to choose their partners; it is not justified on the basis of protection of some comprehensive ideal of sexual romance, abstinence or purity.25 Another example is monogamy. Rawls argues, that monogamy may be justified on political grounds, namely by the state’s interest to protect the family as the social organization, in which autonomy and the belief in the basic liberties are cultivated.26 Specifically monogamy is a way to safeguard equality of women. On the other hand monogamy may not be justified as a way to promote a particular kind of family organization stemming from certain religious or ethnic tradition. Tradition or religion as a reason of state action is not a public, political one and thus it is not legitimate in a society organized according to Political Justice. A state may, on political grounds, be interested in family organization in order to achieve its broader goal to guarantee the reproduction of political society over time. The continuation of the society is a secondary political value, enhancing basic liberties and equality of women, as explained above, because society is the accommodating facility for the development of basic liberties.

IV.  Arguing About Abortion: an Example of Public Reasoning To provide a better understanding of the application of public reason, it is good to employ abortion as yet another example, because it is one of the most contested ethical issues in western societies. Additionally it is essential that we can find a manifestation of public reasoning in related judicial opinions.27 Abortion is beyond doubt an issue on which reasonable people tend to disagree because it goes back to the question of the beginning of human life and touches on deep metaphysical, ethical and religious convictions. If one tries to argue from the viewpoint of the Catholic Church, then the possibility to reach an agreement with Jews, Anglicans or atheists is evidently excluded. To reach an agreement, one must not reason on partial grounds, starting from comprehensive ideas and beliefs, as the latter cannot be recognized as valid outside the circle of particular groups and thus cannot form part of a public argumentation.28 Reasoning from belief is a private way of reasoning, because recognition and acceptance of such reasoning

Nozick, pp.  272 – 273. Rawls 2002, p. 147. 27  See also Christou, pp.  159 – 166. 28  Sunstein embraces the same approach of falling back from beliefs and philosophical arguments. See Sunstein 1996, pp. 35 – 61; Sunstein 2000. 25 

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presupposes a bond much stronger that the one of the political society, namely a bond of family, of friendship or of a spiritual or religious group. For these reasons, the United States Supreme Court in its first landmark decision on abortion, Roe v. Wade,29 decided to set comprehensive arguments aside. To use the words of the majority opinion „[w]e need not resolve the difficult question of when life begins. When those trained in the respective disciplines of medicine, philosophy, and theology are unable to arrive to any consensus, the judiciary, at this point in the development of man’s knowledge, is not in a position to speculate the answer“.30

In this opinion the Court declared the right of a woman to decide freely on abortion during the first trimester of pregnancy, by invoking the legal (and not religious) conception of a person and her life, as the latter arose from precedents and legal history. Taking this consideration into account, the Court concluded that it was clear that the legal system and tradition never perceived the unborn as a person. Then the Court recognized a state’s legitimate and outweighing interest to protect future life at the third trimester of pregnancy, and respectively the state’s power to prohibit abortion at that stage. As regards the second trimester the Court accepted that the competing state’s interest to protect the life and integrity of a woman could override the protection of future life.31 In Roe the Supreme Court ruled merely on political, neutral grounds. To argue from neutrality is one thing, but to argue neutrally, using public reason, and be persuasive or offer the best possible reasoning at the same time is another. The reasoning in Roe was political, but it was not convincing and it was also not the best possible political reasoning that could be offered. Legal certainty and precedent are commonly recognized principles of judicial argumentation, but they have no absolute force or intrinsic value, as they are secondary political values, supplementary and supportive of the basic liberties. If legal certainty and precedent are no longer supportive of the basic liberties, they have no political value whatsoever. For example in Brown v. Board of Education32, which ended racial segregation in education, the Supreme Court ruled precisely on the principle, that precedent was of no political value, but on the contrary that it contravened the principles of Political Justice. In its second milestone opinion on abortion, Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey,33 the Supreme Court actually reasoned on fundamental political grounds. Namely tradition and precedent were no longer the key issue of its reasoning, but the principle of personal autonomy itself. The Court, without deciding on the question whether the nasciturus is a person, outlined the fact that during the 29 

Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973). Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973), 160. 31  Roe v. Wade, 410 U.S. 165 – 166. 32  Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). 33  Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). 30 

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first trimester of pregnancy a very close, relationship of no analogy exists between woman and nasciturus, and that, from an autonomy perspective, it appears more than plausible, to claim that the pregnant woman decides on the continuation of that very close relationship.34 To use the words of the majority opinion „[M]atters, involving the most intimate and personal choices a person may make in a lifetime, choices central to personal dignity and autonomy, are central to the liberty protected by the Fourteenth Amendment. At the heart of liberty is the right to define one’s own concept of existence, of meaning, of the universe, and of the mystery of human life. Beliefs about these matters could not define the attributes of personhood were they formed under compulsion of the State.“35

V.  Overlapping Concensus and the Priority of Autonomy in the Public Sphere Assuming that, with the above-mentioned examples, it is clear enough what the neutral viewpoint or the viewpoint of Political Justice is, one might further say that there is nothing neutral in reasoning from autonomy; autonomy is itself a comprehensive theory, which is not commonly accepted. To declare autonomy as a neutral standpoint of reasoning is to ascribe a privilege to a theory of the good among other theories. Such criticism is very well known, and I need not draw more on that.36 However I believe that the theory of Rawls offers quite persuasive and elaborate counter arguments to that criticism. Rawls does not state that a pro-life activist would be ready to accept that autonomy is the right ground for deciding on the issue of abortion. However, to raise such an issue would be like posing the wrong question at the wrong time. What Rawls supports, to my mind, is that even a prolife activist is ready to accept autonomy as a critical argument, not in actual time and space, here and now, but in a situation of a reflective equilibrium, namely when such a person rethinks and contemplates on the rules set and equally accepted at the foundation of a society and of the social contract. At this point, the so-called overlapping consensus comes into play, which is a different way – different from the famous original position – to think about the social contract.37 Contrary to the original position, the pro-life activist does not decide to enter the social contract on merely political grounds, namely grounds deriving from the political conception of justice. Additionally at entering the social contract she does not ignore her ideas of a good life as in the original position. In other words, the pro-life activist is very well aware of her beliefs and moral sentiments on the issue of abortion. The prolife activist decides to enter the social contract of a society with a public reason Papageorgiou 1992, p. 115, and FN 22. Casey, 505 U.S. at 852. 36 See for example Gutmann, 1985, 308 – 22. Nussbaum, 2011, 3 – 45. Also Boucher, 2006, 19 – 37. 37  Papageorgiou 1994. 34 See 35 

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based on the political conception of justice, because she is persuaded that in such a society her beliefs will prosper, in that she will be free from state intervention to spread these beliefs in the society. Possibly a Court or the Legislator would decide the question of abortion on autonomy grounds, but the issue would not necessarily have to reach that far. If the issue of abortion or other contested moral issues were resolved in the background culture where – thanks to autonomy – comprehensive doctrines thrive, and pluralism is cultivated, then issues like abortion do not have to be resolved in the public forum. However, if such an issue reaches the public political forum, then everybody has to abstain from their beliefs and let autonomy decide the case – because, as paradox as it may sound, they have chosen autonomy for their own good, and for each one’s different particular good.38 To choose autonomy for one’s own good from each different partial perspective is to reach an overlapping consensus.39 The argument above would not be persuasive enough, if Rawls had not set some constraints on the doctrines of good that could reach an overlapping consensus and be part of the social contact. Not all doctrines of good could reach the overlapping consensus, but only doctrines deprived of a will to dominate over all others and eliminate them.40 In other words fundamentalist doctrines are excluded from any reflective procedure on the social contract. Fundamentalism may self-explanatorily not fit in any idea of moral consensus. Furthermore, excluding fundamentalism from the discourse on the basic structure of society is necessary in a political society promoting peace internally but also in international law. To say that even fundamentalist doctrines have to take part in the social contract would be to talk about a whole different society indeed, and to such society the Rawlsian doctrine is neither open nor tolerant – but to any other comprehensive idea, to my mind, it is.

VI. Conclusion The classic notion of liberal neutrality is best understood and also workable as justificatory neutrality: when it comes to basic liberties, crucial for the morality of a state is how and why each state action is decided, and not what it might lead to. Furthermore, justificatory neutrality is not satisfied by mere introductory notes to certain statutes, where usually the motives and goals of the legislator are described, that keep equal distance from different notions of the good. It is only satisfied when the law is grounded on political arguments, deriving from Political Justice. Arguments based on the political conception of justice are, according to Rawls, commonly accepted in a society of free and equal citizens as the content of public Papageorgiou 1994, pp. 148 – 149. See also Sourlas, p. 50. Christou, pp.  135 – 143. 40  Rawls 2002, p. 178 and p. 150: „While no one is expected to put his or her religious or non-religious doctrine in danger, we must each give up forever the hope of changing the constitution so as to establish our religion’s hegemony, or of qualifying our obligations so as to ensure its influence and success“. 38  39 

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reason. How is that possible in pluralism? How is it possible that deeply divided, comprehensive doctrines, either religious or ethical, would agree on Political Justice, in other words on autonomy as the underlying idea of their common society? To answer these questions Rawls uses the idea of an overlapping consensus, which is yet another way to talk about the social contract. All comprehensive doctrines, the fundamentalist ones, which would wish to eliminate all others, being excluded, choose Political Justice for the basic structure of their society, because Political Justice, through autonomy and freedom of ideas, would give them the opportunity to flourish in the civil society, and guarantees the absence of state intervention.

References Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973). Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). Barry, Brian: Justice as Impartiality. A Treatise on Social Justice, Volume II, Clarendon Press. Oxford, 1995. Baur, Michael: On Actualizing Public Reason, Fordham Law Review 72 (2004), pp.  2153 – 2175. Boucher, David: Uniting What Right Permits with What Interest Prescribes: Rawls’s Law of Peoples in Context, in Martin, Rex/Reidy, David A. (eds.), Rawls’s Law of Peoples. A Realistic Utopia, Blackwell Publishing, 2006, 19 – 37. Christou, Vasiliki: Ta dyo eide synaineses stin politike dikaiosyne kata ton John Rawls. Mia ermeneutike proseggise [Two kinds of concensus to Political Justice in John Rawls. An approach to Rawls]. Isopoliteia 2005, pp. 131 – 171. Dworkin, Ronald: A Matter of Principle. Oxford, 1986. – Taking Rights Seriously. London, 1977. George, Robert: Making Men Moral. Civil Liberties and Public Morality. Oxford, 1995. Gutmann, Amy: Communitarian Critics of Liberalism, Philosophy & Public Affairs, 14 (1985), pp.  308 – 22. Gutmann, Amy/Thomson, Dennis: Democracy and Disagreement. Cambridge (a.o.), 2nd edition, 1997. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung (Beiträge zum öffentlichen Recht, Band 90). Tübingen, 2002. Larmore, Charles: Patterns of Moral Complexity. Cambridge, 1987. – The Morals of Modernity. Cambridge, 1996. De Marneffe, Peter: Liberalism, Liberty, and Neutrality, Philosophy & Public Affairs 19 (1990), 253 – 274. Michelman, Frank: Relative Constraint and Public Reason: What Is „the Work We Expect of Law?“, Brooklyn Law Review 67 (2002), pp. 963 – 985. Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. Oxford, 1975.

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Nussbaum, Martha C.: Perfectionist Liberalism and Political Liberalism, Philosophy & Public Affairs, 39 (2011), 3 – 45. Papageorgiou, Konstantinos: E politike dynatoteta tes dikaiosynes, Symvolaio kai synainese ston John Rawls [The Possibility of Political Justice. Contract and Consensus in John Rawls]. Athens, 1994. – Interessen, moralische Berücksichtigung und das „Lebensrecht des Nasciturus“, ARSP 1992, pp. 108 – 117. Rawls, John: A Theory of Justice (in Greek edition). Athens, 2001. – Political Liberalism, New York, Columbia University Press, expanded edition, 2005. – The Idea of Public Reason Revisited, in: The Law of Peoples. Cambridge (a.o), 2002 (4rth printing). – The Priority of Right and Ideas of the Good, in: Collected Papers. Harvard 1999, pp.  449 – 472. Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford, 1986. Sher, George: Beyond Neutrality. Perfectionism and Politics. Cambridge, 1997. Sourlas, Paul: Philosophia kai demokratia. O phovos tou platonismou se Rawls kai Habermas [Philosophy and Democracy. The Fear of Platonism in Rawls and Habermas]. Isopoliteia, 4 (2000). Sunstein, Cass: Constitutional Agreements Without Constitutional Theories, Ratio Juris 13 (2000), 117 – 130. Sunstein, Cass: Legal Reasoning and Political Conflict. New York/Oxford, 1996. Wall, Steven: Liberalism, Perfectionism, and Restraint. Cambridge, 1998.

IV. Interdisziplinäre Felder II: Der Menschenrechtsdiskurs

Interdisziplinarität und Mehrebenenanalyse in Georg Jellineks Statuslehre Winfried Brugger Der im Jahr 1851 geborene Georg Jellinek war schon in jungen Jahren als umfassend gebildeter Wissenschaftler bekannt. Seine Karriere führte ihn von Leipzig über Wien und Basel ab 1890 nach Heidelberg, wo er bis zu seinem Tod 1911 lehrte.1 Sein Todestag jährte sich am 12. Januar 2011 zum hundertsten Mal. Mehrere Teile und Begriffe seines Werks2 haben Klassikerstatus erreicht: (1) das Wort vom Recht als ethischem Minimum, (2) die ganz Frankreich in Aufregung versetzende These über den Ursprung der Menschenrechte, der in Nordamerika und nicht in Frankreich liege und mehr mit Roger Williams als Jean-Jacques Rousseau zu tun habe, (3) die Zwei-Seiten-Theorie des Staates in Jellineks monumentaler Staatslehre von 1900, (4) das berühmte Wort von der normativen Kraft des Faktischen sowie (5) die hier näher zu behandelnde Statuslehre aus seinem Buch „Das System der subjektiven öffentlichen Rechte“ von 1892, in 2. Auflage 1905 gedruckt und im folgenden als „System“ bezeichnet. In fast allen deutschen Grundrechtslehrbüchern und Grundgesetz-Kommentaren wird bei den Arten und Funktionen der Grundrechte auf Georg Jellineks Statuslehre hingewiesen. So lesen wir in dem führenden Grundrechtslehrbuch von Pieroth und Schlink folgendes: „Die klassischen Funktionen der Grundrechte im Verhältnis zwischen Einzelnen und Staat sind von Georg Jellinek … mit den Begriffen des status negativus, status positivus und status activus unterschieden worden. Dabei bezeichnet status jeweils einen Zustand des Einzelnen gegenüber dem Staat, der in verschiedenen Grundrechten ausgeformt und gesichert ist.“3 So richtig dies ist, ist doch damit bei weitem nicht alles angesprochen, was Georg Jellinek in seinem „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ oder gar in seinem Gesamtwerk mit der Statuslehre verband. Eine Gesamtsicht in einem Aufsatz zu entwerfen, ist nicht möglich. Dazu ist das Material im „System“ zu umfangreich, das schon von den behandelten Jurisdiktionen her das Deutsche Reich, Österreich, Schweiz und die USA umfaßt, von historischen Exkursen ganz zu schweigen. Doch lassen sich die Konturen der interdisziplinären Ebenen skizzieren, die bei Jellinek im „System“ zusammenwirken, um dessen Zentrum, die Statuslehre, zu entwerfen. In die Statuslehre gehen rechtslogische, rechtsgeschichtliche und rechtsethische Analysen ein. Biographische Informationen in Kempter; Hof, S. 215 ff. Seine Schriften werden nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Siglen zitiert. 3  Pieroth/Schlink, § 4 I, Rn. 75; ähnlich Hufen, § 5 Rn. 1 ff., und viele andere.

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I.  Zur Rechtslogik In den Eingangsabschnitten des „Systems“ entwickelt Jellinek rechtspositivi­ stisch eine Analyse von „Recht“, „objektivem Recht“ sowie „subjektiven Rechten“ im öffentlichen Recht wie im Privatrecht. Es geht ihm um die „Glieder eines einheitlichen logischen Ganzen“ (S 58). Die Rechtsbegriffe grenzt er von empirischen Begriffen, Kausalerklärungen, Naturrechtslehren oder Metaphysik ab: „Eine juristische Theorie muß eben die Erscheinungen des Rechtslebens erklären können: sie darf weder psychologisch noch naturwissenschaftlich, weder empirisch, noch realistisch, sie muß vielmehr ausschliesslich juristisch sein“ (S 34 f.). In diesem Sinne behandelt Jellinek das objektive Recht als Prius vor dem subjektiven Recht; die subjektiven Rechte werden analysiert in der Vermittlung von Interessen- und Willenstheorie: „Was objektiv gefaßt als Gut erscheint, wird subjektiv zum Interesse“ (S 43), sagt Jellinek, und fügt hinzu: „Der Wille ist das notwendige Mittel, durch welches das ‚Etwas‘ zum Gute oder Interesse wird“ (S 44). Das Verhältnis des objektiven Rechts zum subjektiven Recht führt nach Jellinek zu den Modalitäten „Gebieten, Verbieten, Erlauben, Gewähren, Versagen, Entziehen“ (S 45). Die Abgrenzung zwischen privaten und öffentlichen subjektiven Rechten bemißt sich nach der Art des Interesses: Private Rechte werden im exklusiven oder überwiegenden Interesse des Individuums verliehen, sie dienen seinen Genußmöglichkeiten, modal sind sie Dürfen-Rechte für Jellinek. Subjektive öffentliche Rechte dagegen werden zumindest auch, wenn nicht vorrangig, im staatsgliedlichen Interesse verliehen. Hier steht der Mensch, wie Jellinek meint, „nicht als isolierte [oder privat assoziierte, bourgeoise]4 Persönlichkeit, sondern als Glied des Gemeinwesens“ (S 53) im Vordergrund. Wie sind diese Beziehungen ausgestattet? Welche Rechte und Pflichten gibt es?

II.  Rechtsethik und Rechtsgeschichte Hier ist der Punkt, wo Jellinek die Rechtslogik mit Ethik und Geschichte auffüllt. Denn bei allem subjektiven und vorgeschaltet objektiven Rechte ist ja noch etwas Weiteres vorausgesetzt: der Begriff des Rechts und des Staates selbst. Rein logisch spricht nichts dagegen, Recht als Zwang und Staat als unbegrenzte Herrschaft, ja Willkürherrschaft anzusehen. Jellinek spricht in der Tat von der formellen Souveränität des Staates, die unbegrenzt, alles andere unterwerfend sei,5 an späterer Stelle nennt er den Status subiectionis ein „potentiell allseitiges Subjektionsverhältnis“ (S 197 f.). Doch ergibt sich ein anderes Bild, wenn man die formale Analyse material ergänzt, wie das Jellinek tut. Dann analysiert man die Zwecke, deren Erfüllung sich die Staatsgewalt im Laufe der Geschichte vorgenommen hat.6 Schon immer herrschte Kampf um gute Herrschaft, um Gemeinwohlbindung, und 4 

Einfügungen in eckigen Klammern stammen von W.B. Siehe S. 9 f. 6  Dazu ausführlich StL Kap. 7, 8 und 10.

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der Geschichtsverlauf stellt sich für Jellinek als eine Entwicklung dar, in der die Bindung von Macht und kollektivem Zwang zunächst durch andere als rechtliche Mächte, nämlich Religion und Tradition, zustande kam. Dann schritt die Rechtsentwicklung fort zu objektiver Rechtsbindung in Form von Grundverträgen und Verfassungen, schließlich kam es zur subjektiven Berechtigung der durch diese Bindungen objektiv Begünstigten. An einem datumsmäßig nicht genau festzumachenden Punkt, ab dem man von „ethischer Moderne“ sprechen kann,7 verbindet sich dann die historische Anreicherung der Begriffe von Recht und Staat mit der ethischen Reflexion auf diese Organisationsform und dem Kampf für den „modernen Staat“ im nicht chronologischen, sondern rechtsethischen Sinn. An diesem Punkt kommt Jellinek zu dem Schluß: „Alles Recht ist Beziehung von Rechtssubjekten … Auch der Staat kann nur Rechte haben, wenn ihm Rechtspersönlichkeiten gegenüberstehen. Ein faktisches Herrschaftsverhältnis wird zum rechtlichen nur dann, wenn beide Glieder: Herrschender und Beherrschter als Träger gegenseitiger Rechte und Pflichten sich anerkennen“ (S 10) oder „als solche Rechtsgenossen sind“ (S 10). In diesem Sinne spricht Jellinek vom Staat als einer Organisation, die 1. gebietsbezogen ist, 2. ein Volk hat, entweder als bloße Bevölkerung oder als Volk im emphatischen Einheitssinne. Ein Staat übt 3. Herrschaft aus als juristische Person, die formell frei, souverän sein mag, aber 4. als Zweckeinheit material gebunden ist, nämlich 5. an das Gemeinwohl, das sich 6. objektiv- und subjektivrechtlich ausbuchstabiert, je nach geschichtlicher Lage und verfassungsrechtlicher Ausgestaltung.8 An anderer Stelle spricht Jellinek davon, der Staat besitze Persönlichkeit. „Persönlichkeit oder Person ist die Fähigkeit, Träger von Rechten sein zu können, mit einem Worte die Rechtsfähigkeit“ (S 28). Genauer gesagt: In der Moderne, im modernen Staat, stehen sich mit Staat und Bürger zwei Rechtspersonen gegenüber, mit gegenseitigen Rechten und Pflichten. Dieser Status überhaupt, kann man sagen, begründet die Rechtsperson für Staat wie Individuum. Der konkrete Umfang der gegenseitigen Rechte dagegen schafft die Rechtspersönlichkeit oder, wie man mit Blick auf Art. 2 GG9 auch sagen könnte, die Rechtspersönlichkeitsentfaltung. Wie kommt Jellinek zu diesem inhaltlich, ethisch angereicherten Verständnis von Recht und Staat? Durch eine geschichtliche Anreicherung der Zweckanalyse, die jeder Organisation zugrunde liegt. „Es ist eine als Produkt jahrtausendelanger Entwicklung erkannte sittliche Forderung, den Menschen schlechthin als Rechts7  Während man diesen Schritt nicht mit einem einzigen Datum versehen kann, ist es sehr wohl möglich, repräsentative Werke oder Ereignisse für die ethische Moderne zu nennen. Dazu gehören zweifelsohne Kants Rechtsphilosophie sowie im politischen Bereich die bürgerlichen Revolutionen in den USA und Frankreich. 8  Siehe S. 195, 215 ff., 292 f. 9  Art. 2 Abs. 1 GG setzt fest: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“.

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subjekt anzuerkennen …“ (S 28); davon zu unterscheiden sind nach ihm Staaten und Rechtsordnungen wie Sklavenstaaten, die dem Sklaven natürliche Willensfähigkeit, aber keine Rechtsfähigkeit zusprachen.10 Noch einmal anders gesagt: Ab diesem Zeitpunkt hantiert der Jurist mit zwei unterschiedlichen Rechts- und Staatsbegriffen: einmal klein-, ein andermal großgeschrieben. Kleingeschrieben ist „Recht“ konkreter oder abstrakter Befehl, „Staat“ steht für die souveräne, ungebundene Befehlsgewalt in organisierter Form. Großgeschrieben steht Recht für verläßliche Regeln, die gerecht sein müssen, jedenfalls nicht ungerecht sein dürfen, Staat steht für material gebundene und subjektivrechtlich gezügelte Machtorganisa­tion.11 Der Rechtsstatus für den Bürger bzw. der Rechtsstaatsstatus für den Staat überhaupt ist gebunden an die grundsätzliche gegenseitige Anerkennung als Rechtsträger,12 als jemand, der ein Recht auf Rechte hat, wie Hannah Arendt gesagt hat.13 Der konkrete Umfang an Rechten und Pflichten im Rahmen der „Rechtspersönlichkeit“ läßt sich nur geschichtlich eruieren und im Rahmen partikularer Verfassungsordnungen analysieren. Und was sagt die Geschichte? Hier kommt im „System“ wie in vielen anderen Publikationen von Jellinek hinter dem Rechtspositivisten der Rechtshistoriker zum Vorschein: „Die Persönlichkeit des Individuums ist … keine stetige, sondern eine veränderliche Größe … Alle sozialen und politischen Kämpfe der neueren Zeit hatten die Vergrößerung der Persönlichkeit zum Inhalt. Dem Sklaven und Leibeigenen wurde sie gegeben, die der Untertanen ist gewachsen … Der Bürger des modernen Staates mit Wahlrecht, ungehinderter Erwerbs- und Besitzfähigkeit ist eine dem Umfang nach von dem an die Scholle gebundenen, von der Teilnahme an dem Staate ausgeschlossenen Angehörigen des feudalen und absoluten Staates verschiedene Persönlichkeit“ (S 84).14

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Siehe S. 28, 84, 86 f. Grundgesetz gibt es eine Parallele hierzu in den Begriffen „Gesetz“ und „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG. 12  Im Grundgesetz findet dies Ausdruck im horizontalen Bereich der Privatrechtssubjekte untereinander in der Schranke der jeweiligen „Rechte anderer“ bei der Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie vertikal, zwischen befehlendem Staat und gehorchendem Individuum, in der Achtung der Eigenständigkeit und des Eigenwerts der Individuen. Siehe die Formulierung des Menschenbildes des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 4, 7, 15 f.: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten Individuums, das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“ 13 Siehe Arendt, S. 754 ff. 14  Siehe auch S. 71, 201 sowie die Aufsätze in MR. 11  Im

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III.  Die Statuslehre Damit ist die Statuslehre erreicht, die nach Jellinek zwar vom Status subjectionis, von der formell unbegrenzten Herrschaftsbefugnis des Staates auszugehen hat, über die er die Bürger verpflichten und notfalls zwingen kann. Doch kennzeichnend für den modernen Staat ist die Einschränkung und Transformation seiner Herrschaft durch die Status negativus, positivus und activus, wie das folgende längere Zitat zusammenfaßt: „Einmal zieht der Staat eine Grenzlinie zwischen sich und der subjizierten Persönlichkeit, er erkennt eine staatsfreie, d. h. seiner Herrschaft prinzipiell entzogene Sphäre des Individuums an … Er hat, zum positiven Handeln im individuellen Interesse sich bestimmend, dem einzelnen die rechtliche Fähigkeit anerschaffen, seine Tätigkeit in Anspruch zu nehmen … Endlich gesteht der Staat, dessen Willen an dem menschlicher Individuen seine Substanz hat, einem kleineren oder größeren Kreise von Individuen die Fähigkeit zu, in seinem, des Staates Interesse tätig zu werden …“ (S 85). „Durch die Zugehörigkeit zum Staate, durch die Gliedstellung, welche der Mensch in ihm empfängt, wird er … nach verschiedenen Richtungen qualifiziert. Die möglichen Beziehungen, in denen er zum Staate stehen kann, versetzen ihn in eine Reihe rechtlich relevanter Zustände. Die Ansprüche, die sich aus diesen Zuständen ergeben, sind das, was man als subjektive öffentliche Rechte bezeichnet. Sie bestehen … ausschliesslich aus Ansprüchen, die sich unmittelbar auf rechtliche Zustände gründen“ (S 86). „Durch die die Basis aller staatlichen Wirksamkeit bildende Unterwerfung unter den Staat befindet sich der einzelne innerhalb der individuellen Pflichtsphäre, im passiven Status, im status subiectionis, in dem die Selbstbestimmung und daher die Persönlichkeit ausgeschlossen ist … Zur Vollziehung bestimmter Zwecke berufen, ist [der Staat aber] durch die ihm sittlich notwendige Anerkennung der Persönlichkeit der ihm Eingegliederten in seiner Handlungsfähigkeit ebenfalls beschränkt; er erscheint durch die Rechtsordnung selbst rechtlich verpflichtet … Die neuere politische Geschichte hat nicht zum geringsten die stetige Vergrößerung der Einzelpersönlichkeit und damit die Einschränkung des Staates zum Inhalt … Die Herrschaft des Staates ist eine sachlich begrenzte, im Gemeininteresse ausgeübte Herrschaft. Sie ist eine Herrschaft über nicht allseitig Subjizierte, d. h. über Freie. Dem Staatsmitgliede kommt daher ein Status zu, in dem er Herr ist, eine staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre. Es ist die der individuellen Freiheitssphäre, des negativen Status, des status libertatis, in welcher die streng individuellen Zwecke durch die freie Tat des Individuums ihre Befriedigung finden. Die gesamte Tätigkeit des Staates ist im Interesse der Beherrschten ausgeübt … [So gewährt er] dem Individuum positive Ansprüche … , erkennt er ihm den positiven Status, den status civitatis zu … Die Tätigkeit des Staates ist nur durch individuelle Tat möglich. Indem der Staat dem Individuum die Fähigkeit zuerkennt, für den Staat tätig zu werden, versetzt er ihn in einen Zustand gesteigerter, qualifizierter, aktiver Zivität. Es ist der aktive Status, der Status aktiver Zivität, in welchem der sich befindet, der die s.g. politischen Rechte im engeren Sinne auszuüben berechtigt ist. In diesen vier Status: dem passiven, dem negativen, dem positiven, dem aktiven erschöpft sich die gliedliche Stellung des Individuums im Staat. Leistungen an den Staat, Freiheit vom Staat, Forderungen an den Staat, Leistungen für den Staat sind die Gesichtspunkte, unter welchen die öffentliche Rechtsstellung des Individuums begriffen sein will. Diese vier Status bilden eine aufsteigende Linie, indem das Individuum zuvörderst dem Staate Gehorsam leistend der Persönlichkeit bar erscheint,

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hierauf ihm eine selbständige, staatsfreie Sphäre zuerkannt wird, sodann der Staat selbst sich zu Leistungen verpflichtet, bis schliesslich der individuelle Wille an der staatlichen Herrschaftsausübung teilnimmt oder sogar als Träger des staatlichen Imperiums anerkannt wird“ (S 86 – 88).

Noch einmal anders gegliedert stellt sich die Statuslehre bei Jellinek wie folgt dar: (1) Vorrangig ist die Gliedstellung des Menschen in einem größeren Ganzen im allgemeinen (Status i.w.S.) und die Gliedstellung des Menschen im modernen Staat im besonderen (Status i.e.S.).15 (2) Diese Gliedstellung umfaßt eine Relationsbeziehung zwischen dem Ganzen und den Gliedern, die Jellinek auch ein „streng persönliches Verhältnis zwischen Staat und Individuum“ (S 57) nennt. Man kann sie auch abstrakte oder konzeptionelle Qualifikation der Persönlichkeit nennen. (a) Beiden Mit-Gliedern kommt Subjekt-, Person und Persönlichkeitscharakter und nicht nur Objekt- oder Subjektionscharakter zu. (b) Ferner beziehen sich diese Relationen auf ein „Sein“ (S 84), also eine Beziehung, die für den Gesamtcharakter oder die Identität16 der beiden Subjekte wie deren Beziehung konstitutiv ist. (c) Jellinek spricht insoweit auch von einem „dauernden Verhältnis“ (S 56), von „dauernden Eigenschaften und Fähigkeiten“ (S 57). (3) Die einzelnen Gliedstellungen, Richtungen, Zustände, Seinsrelationen, Status gliedern sich aus in solche der (a) Unterordnung, der (b) Abwehr von Herrschaft, der (c) positiven Leistungen im Individualinteresse sowie der (d) Aneignung der bislang fremden Staatsgewalt durch die Betroffenen. Der Fall (a) ist ein Pflichtenstatus, der, so weit er reicht, individuelle Berechtigungen ausschließt; dort herrscht dann die Hoheitsgewalt des Staates. Die berechtigenden Status (b) bis (d) sind noch keine Rechte, aber ihr Haben,17 ihre „Anerkennung“ (S 122), ihre Achtung und Gewährleistung ist erfordert in Form der

15  Der „allgemeinere Fall“ will sagen, daß es „Status“ im nicht spezifisch staatsrechtlichen Sinn in allen Ganzheiten verkörpernden Lebensgemeinschaften innerhalb und außerhalb des Rechtes gibt. Das sagt und erläutert Jellinek selbst: S. 88 – 93. Für ihn sind die staatsrechtlichen Status der eigentliche Fall, die anderen Fälle haben analogen Charakter. Dazu ein paar Anmerkungen im letzten Abschnitt; ausführlich Brugger. 16  Siehe auch die Formulierungen des BVerfG in dem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 zur Wahrung der Identität des Grundgesetzes. „Identität“ als Rechtsbegriff ist umstritten, weil der Begriff eigentlich aus der Psychologie und Sozialwissenschaft kommt. Er ist aber inzwischen in das Primärrecht der Europäischen Union integriert, wo in Art. 6 Abs. 3 des EU-Vertrags von der Achtung der Identitäten der Mitgliedstaaten die Rede ist; dazu von Bogdandy, § 12. Man könnte auch sagen: „Identität“ signalisiert den verfassungsänderungsfesten Teil einer Verfassung oder eines Grundrechtsteils, in Jellineks Terminologie: ein „juristisches Sein“, das jenseits einzelner Rechtspositionen zu konstitutiven Verdichtungen geführt hat. 17  Jellinek formuliert: „Das Recht hat ein Haben, die Person ein Sein zum Inhalt“ (S 84).

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(4) Rechte, der subjektiven öffentlichen Rechte, die dann im Bedrohens- oder Verletzungsfalle zu (5) einzelnen Rechtsansprüchen sich verwandeln. „Eine konkrete, aus dem subjektiven Recht entspringende, gegen eine bestimmte Person gerichtete aktuelle Forderung ist aber ein Anspruch“ (S 54). Diese wiederum können sich (a) auf die materiellen Gehalte, Interessen, Güter und/oder (b) formell auf deren gerichtliche Durchsetzung erstrecken.18 (6) Die von Jellinek schon früher19 eingeführten Modi rechtlicher Wirkungen gliedern sich dann je nach Status und konkretem Recht/Anspruch. Das Recht kann die natürliche Freiheit beschränken, anerkennen oder erweitern. Auf der Pflichten- oder beschränkenden Seite finden sich dann Befehl, Machtversagen, Verbot, Strafe, Entzug und polizeilicher Zwang. Rechteverleihend, rechtspräzisierend oder rechtskreiserweiternd sind die Modi von Erlauben, Dürfen, Gewähren und Machtverleihen in Form von subjektiven privaten oder öffentlichen Rechten und Kompetenzen für Träger von Hoheitsgewalt. Zu all diesen Rechtsmodi breitet Jellinek ein großes Feld an Material aus dem Deutschen Reich, Österreich, der Schweiz und den USA aus. Hier sollen fünf Punkte diskutiert werden, die in das am Ende abgedruckte aktualisierte Schaubild von Jellineks Statuslehre eingearbeitet sind. Die fünf Punkte betreffen im wesentlichen die ersten vier der dort genannten acht Status, also die Rechtslage, die Jellinek bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet hat. Der erste Punkt betrifft den Status subjectionis, die Herrschaftsrechte des souveränen Staates.20 Es wurde schon erwähnt, daß Jellinek hier von formell freier Souveränität spricht, die als solche auch eine Willkürherrschaft sein oder zu einer solchen entarten kann. Faktisch aber läßt sich schon dieses erste, in den heutigen Grundrechtslehrbüchern in der Regel nicht erwähnte Stadium funktionellrechtlich verstehen. Jellinek sieht alle Staatsmacht materiell auf das Gemeinwohl verpflichtet. Das kann in bezug auf die Machtfülle eines souveränen Staates nichts anderes bedeuten, als daß er diese Machtfülle effektiv nur dann ausüben darf und soll, wenn denn anders Anarchie, Bürgerkrieg oder ein sonstiger Ausnahmezustand nicht zu befrieden ist. In solchen Situationen bedarf es der unbegrenzten Souveränität.21 Das klingt nach Thomas Hobbes, aber eben einem nicht mehr anthropologisch verstandenen homo-homini-lupus-Hobbes, sondern einem geschichtlich kontextualisierten Hobbes, der einem ebenfalls geschichtlich kontextualisierten Carl ­Schmitt 18 

Siehe Kap. XXI. Siehe S. 45 ff., 52, 58 f., 194. 20  Zum Status subiectionis siehe Kap. VII, XI ff. 21  Das Grundgesetz hat hier mit den besten Absichten versucht, auch noch für solche Notstandsfälle eine rechtssichere und verfassungsgebundene Lösung zu etablieren. Siehe Abschnitt X a im Grundgesetz. Ob dieses Arrangement in einem wirklichen Ausnahmezustand tatsächlich funktionieren könnte, wird von manchen bezweifelt. 19 

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mit seiner Betonung der Bedeutung des Ausnahmezustandes22 nicht zu ferne steht. Es geht also in diesem 1. Stadium moderner Staatlichkeit um Lebensschutz unter Bedingungen, die eine alles andere unterwerfende Staatsmacht erfordern, aber eben nur vorübergehend, bis das Morden unter den verfeindeten Fraktionen oder Religionen der Gesellschaft abgestellt ist. Der zweite Punkt betrifft eine generelle Aussage über alle vier klassischen wie die folgenden neueren Status: Alle von ihnen betreffen Probleme, die aus der Lösung eines vorhergehenden Problems entstehen, zwar nicht automatisch, aber, wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, doch typischerweise. Also etwa: Kaum macht sich der souveräne Staat breit und sorgt für Ruhe und Ordnung, ist der Boden bereitet für Rufe nach mehr Freiheit vom Staat, was bei klugen Souveränen zu mehr Zurückhaltung führt, aber in der Regel politische Kämpfe gegen die Herrscher erfordert.23 Deshalb ist die funktionelle Sicht des Staates oft verknüpft mit historischen Kämpfen um institutionelle und subjektivrechtliche Neujustierung und in der Regel Bekämpfung der kollektiven politischen Macht. Das am Ende abgedruckte Schaubild bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß die jeweils erkämpften Status mit einem spezifischen und zentralen Rechtsgut zu tun haben, das subjektivrechtlich und objektivrechtlich mit passenden Instrumenten zu schützen ist. Die einzelnen ordnungsrechtlichen Instrumente sind in der 3. Spalte aufgeführt, daneben in der 4. Spalte auch noch hervorstechende Vertreter der Politischen Philosophie und Rechtsphilosophie. Beim dritten Punkt geht es um die rechtsphilosophischen Prinzipien, die sich in diesen Kämpfen um die Statusanreicherung zur Geltung bringen. Das Schaubild benennt die klassische Sichtweise in der 2. Spalte bei den jeweiligen Schutzgütern: In den ersten vier Stadien geht es um eine sich immer mehr ausdifferenzierende Philosophie der Freiheit mit entsprechenden rechtlichen Absicherungsinstrumenten: Zunächst muß das Leben als Vitalvoraussetzung von Freiheit überhaupt gesichert sein. Dann geht es um Freiheit von staatlicher Überwältigung, dann um die politische Freiheit zur Transformation der fremden Herrschaft in eigene Herrschaft durch Demokratisierung, schließlich um die Gefahr der Vergleichgültigung der materiellen Interessen von Minderheiten, Armen und Schwachen auch in einer Demokratie.24 Hegel hat diese Entwicklungsreihe in die Worte gefaßt: Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.25 Hier geht es um Liberalismus in einem sich immer weiter verfeinernden Sinne.26 Man kann den Aufbau der vier Status auch in Kategorien von Gleichheit thematisieren. Für Jellinek stand das nicht im Vordergrund, was sich leicht erklären läßt. Jellinek argumentierte um die vorletzte Jahrhundertwende, also um 1900, und damit in einer Rechtslage, in der dem Monarchen noch Souveränität zustand, in Schmitt, S. 13: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. bei Jellinek etwa die Aufsätze zur Bedeutung der Erkämpfung der Religionsfreiheit in MR und in SR II 50 f. 24 Siehe Jellinek, SR II 50 ff. 25 Siehe Hegel, S. 32, 77, 86, 134. 26 Hierzu Kirste, S. 132 ff. 22 Siehe 23  Siehe

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der Parlamente Monarchenmacht beschränkten statt ersetzten, in der zum Beispiel noch kein allgemeines Wahlrecht existierte, in der in mehreren Hinsichten Männer und Frauen unterschiedlich behandelt wurden und in denen die Bevölkerung noch mit größeren sozialen Ungleichheiten lebte, als man dies heute anerkennen würde. Trotzdem ist die Statuslehre auch gleichheitsrechtlich verstehbar und fortentwickelbar: Schon der Unterordnungs- und allgemeine Gehorsamsstatus aller Einwohner ist ein gleicher.27 Die Abwehrrechte sichern formelle Gleichheit in der individuellen und gruppenmäßigen Entfaltung. Die Mitwirkungsrechte zielen in allen ihren Varianten eine größere Gleichheit in der Anverwandlung der fremden Staatsmacht in eine autonome Selbstorganisation an. Und die sozialen Rechte sollen unangemessene Ungleichheiten, insbesondere unzumutbare Risiken in der Lebensführung, angleichen.28 Es verwundert deshalb nicht, daß Rechtsphilosophen wie Gustav Radbruch29 oder Ronald Dworkin30 das Gleichheitsprinzip als grundlegendes Organisationsprinzip ansehen wollen. Bei Dworkin steht „equal respect“ für die gleiche Gehorsams-, Freistellungs- wie letztlich auch Mitwirkungskomponente; „equal concern“ ist die gleiche Interessenberücksichtigung bei staatlichen Leistungen.31 Man sieht also viertens, wie sich die philosophische Reflexion in die Entwicklung der einzelnen Grundrechtsstatus einbaut und wie sie eindringt in die politischen Kämpfe der Zeit, die Jellinek bis zur Jahrhundertwende 1900 aufgearbeitet und interdisziplinär auf den historischen, philosophischen und juristischen Begriff gebracht hat. Bei all dem ist keine Geschichtsautomatik, gar im Sinne eines unvermeidlichen Fortschritts, eingebaut. Es ist dies ein historischer Kontextualismus, dessen Grundlage die geschichtliche Kontingenz dieser Ereignisse ist. Kontingenz meint zumindest: kein Determinismus, aber auch nicht bloße Zufälligkeit, sondern Abhängigkeit der Realgeschichte samt der sie reflektierenden philosophischen Begrifflichkeit und der jeweils passenden institutionellen Arrangements von den Handlungen, Deutungen und Bewertungen aller beteiligten Akteure. Es hätte auch anders kommen können, aber es ist in dem, was Jellinek für seine Zeit beschreibt, nicht anders gekommen. Rückblickend spricht auch einiges dafür, daß die von ihm genannten Probleme und Problemlösungen sogenannte „standard threats“ und „standard solutions“ kollektiver Organisation darstellen.32 In dem Schaubild ist dies 27 

Siehe SR II 18 f. Jellinek spricht SR II 43 vom „zunehmenden Gefühl der Solidarität“ zu seiner Zeit. 29 Siehe Radbruch, § 9. 30 Siehe Dworkin, S. 180 ff., 272 ff., 292. 31  Man kann in bezug auf Statusanreicherungen auch an den Begriff Leben denken, der zunächst Überleben meint und dann zu Optimierungen über materiell gutes Leben und eigenständige geistige und politische Lebensführung führen kann. Oder man nimmt den Begriff der Demokratie, die jenseits des Instruments Mehrheitsentscheidung optimierend als Entwicklung von der Herrschaft eines, mehrerer bis zur Herrschaft aller Bürger reicht, und dann eben vom Interesse her Überleben und körperliche Integrität bis zu Gutleben und kollektive politische Mitwirkung umfaßt – wahre und umfängliche Repräsentation aller. Ähnliche Überlegungen könnte man auch in bezug auf die Begriffe Legitimität und Gerechtigkeit anstellen. 32  Zu dieser Terminologie siehe Shue, S. 17, 29 ff. 28 

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dadurch eingefangen, daß die Abfolge der vier klassischen Status eine konzeptionelle ist, die nicht identisch mit der genauen historischen Abfolge sein muß; man denke an das Stichwort „verspätete Nation“ für Deutschland.33 Das Schaubild bringt diese Flexibilität je nach Lage und historischer Kontingenz dadurch ein, daß bei den institutionellen Lösungen jeweils nur Prinzipien wie Gewaltenteilung oder Kommunikationsgrundrechte genannt sind; wie die konkreten Regeln insoweit faktisch aussehen oder aussehen sollten, sagt eine solche abstrakte Bezeichnung nicht. Das wird von Land zu Land und in den einzelnen Geschichtsperioden verschieden sein. Allerdings gibt es in den grundsätzlichen Arrangements, wie Jellinek betont,34 in aller Regel nicht unendlich viele institutionelle Optionen. Der Werkzeugkasten ist ziemlich klein, und die Minimalverständnisse der Organisationsprinzipien etwa von Demokratie und Gewaltenteilung waren damals und sind auch heute noch konsentiert. Das Schaubild zeigt fünftens ein Weiteres: Die Anreicherung des Staats- und des Statusverständnisses ist nicht nur etwas Gutes, sondern auch etwas Komplizierendes: Je zahlreicher die Facetten von Freiheit oder Gleichheit oder Demokratie sind und je anspruchsvoller die Anforderungen an die Staatsmaschine formuliert werden, desto häufiger werden Spannungen und politische Streitigkeiten bzw. heutzutage Verfassungskonflikte auftreten: Meint Säkularisierung eine strikte Trennung von Staat und Kirchen oder werden Kooperation und ein Verweis auf christliche Traditionen erlaubt? Wenn mit der Liberalisierung, also der Beschränkung, Disziplinierung und Kultivierung der Staatsmacht, ernst gemacht wird, läßt sich dann noch effektiv brutalen Angriffen auf das Lebensrecht der Bevölkerung begegnen, etwa in Fällen von finalen Todesschüssen, Rettungsfolter oder von Terroristen gekaperten Flugzeugen? Es geht mir hier nicht um eine Antwort auf diese inhaltlichen Fragen, ich weise nur anhand der Statusanreicherung darauf hin, daß diese nicht nur eine Legitimitätsbereicherung ist, sondern auch eine Spannungsund Konfliktsanreicherung darstellt.

IV.  Status vor dem modernen Staat? Jedenfalls kurz soll die Frage gestellt werden: Gab es vor dem modernen, souveränen Staat schon Status? Die Antwort ist: ja und nein! Für alle vier Status gab es auch schon im mittelalterlichen, feudalen Staat und im alten Reich funktionelle Äquivalente:35 Der Status subiectionis war kein territorial-sachlicher Unterworfenheitsstatus mit allgemeiner Gehorsamspflicht gegen33  Siehe den gleichnamigen Buchtitel von Plessner. Der Sache nach spricht schon Jellinek diesen Punkt an: SR II 48, 52 f. 34  Siehe S. 40 und S. 13 Fn. 1: „Sorgsame historische Untersuchung lehrt, daß für alle ethischen, politischen und juristischen Grundfragen eine bestimmte Zahl typischer Lösungen existiert“. 35  Siehe MR 31 ff., 69 ff.; StL 316 ff., 327 f.; SR II 17 f., 53, 237 ff., 287; Kielmannsegg, Kap. 1 und 2.

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über den Anordnungen des Rechtssubjekts Staat; statt dessen war die Unterworfenheit eine persönliche gegenüber dem Herrscher, die mit gegenseitigen Dienst- und Abgabediensten einerseits, aber eben auch mit Fürsorgepflichten des Herrschers seinen Untertanen gegenüber andererseits verbunden war. Diesen Pflichten des Herrn gegenüber dem Untertan entsprach zwar kein individuelles Klagerecht vor unabhängigen Gerichten, aber als objektive Pflicht des Herrschers zur Fürsorge um Leib und Leben und Familie und Ehre der Untertanen bestand der Status positivus, wenngleich dem traditionellen Normbestand die faktische Aufgabenerfüllung nicht immer entsprach. Wahlrechte des Status activus waren bei weitem nicht so verbreitet wie zu Jellineks Zeiten, wo der Parlamentarismus als Forum der Volksrechte dabei war, sich immer mehr Rechte gegen den Monarchen zu erkämpfen, wenngleich ohne allgemeines Wahlrecht der erwachsenen Bevölkerung; aber besonders herausgehobene Stände wie Fürsten, Geistliche und freie Städter hatten sich Wahl- und Mitspracherechte für Königs- und Kaiserwahlen erkämpft; das einfache Volk konnte sich mit Rechtsschutzbegehren an die Herrscher wenden. Rechte des Status negativus ergaben sich für politisch einflußreiche Stände aus einschlägigen Verträgen zur Herrschaftseinschränkung und den faktisch engeren Grenzen der Herrschaftseinflußnahme auf die Untertanen, verglichen mit modernen Methoden von Einheitsstaat oder gar totalitärem Staat. Die Entstehung des modernen Einheitsstaates in Form der königlichen Territorialherrschaft stellte demgegenüber, wie Jellinek treffend sagt, eine Einverleibung der vielen Herrschaftsmächte nach oben dar, verbunden mit einer Gleichschaltung der vielgliedrigen Untertanenebenen nach unten, in Richtung eines einheitlichen Staatsvolkes mit einheitlichem Staatsbürger- und Gehorsamsstatus.36 Erst danach konnte die direkte und einheitliche Statusverbindung zwischen Individuum und Staat entstehen, die vorher eine persönliche Treueverbindung mit unterschiedlichen Rechts- und Verpflichtungsgraden war. Man kann es auch anders sagen: Erst mit der Entstehung absoluter monarchischer Herrschaft über ein Territorium und eine Bevölkerung war die Einheit an Herrschaft erreicht, die eine einheitliche, zentrale, effektive Ordnung auf der oberen Ebene – einen Staat im engeren Sinne – mit einer einheitlichen Bevölkerung, den Untertanen, dem Volk, auf der unteren Ebene korrelierte.37 Vorher gab es weder die Ein-Herrschaft noch das Ein(ig)-Volk. Es gab nicht den état im Singular, sondern die états im Plural, im Rahmen eines manchmal hilflosen Reiches, samt unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Form von Ständen, deren Rechtslage („Rechtspersönlichkeit“ i.S.v. Jellinek) sich durch viele ungleiche Würden und Privilegien auszeichnete. Der Schritt zur modernen Staatlichkeit ist nicht nur für die Art und den Umfang von Herrschaft entscheidend, sondern auch für die Art und Weise, wie juristisches 36 

Siehe SR II 18 f. Zur Kontrastfolie des Mittelalters siehe SR II 4, 17 f., 46 ff.; S. 287. Grawert, S. 213 ff., und Jellinek, S. 287: „Satz von Hobbes, daß der Staat der große Leviathan sei, der alles ursprüngliche Herrschaftsrecht der ihm Eingegliederten verschlungen habe“. 37 Siehe

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Denken samt seinen staatsrechtlichen Begriffen zu verfahren hat. Erst in einer solchen Lage wird die mittelalterliche Heterarchie von Rechtsminderung und Rechts­ privilegierung ersetzt durch eine klare Hierarchie mit einer Spitze. Erst dann kann statt von einer vielfach gestuften Lehns- und Ständeverfassung von einer Einheit von Recht und Organisation/Staat die Rede sein.38 Erst dann wird der Begriff der Souveränität als höchste Vereinheitlichungsmacht faßbar, erst dann gibt es Staatsbürger in einem einheitlichen Verstande, erst dann lassen sich Begriffe wie Konsistenz oder Kohärenz von Rechtsnormen sinnvoll entwickeln. Erst dann kann, weitergedacht, eine Reine Rechtslehre einigermaßen sinnvoll von einer Grundnorm an der Spitze einer Hierarchie von Rechtsnormen ausgehen.39

V.  Transnationale Gemeinschaften und Statuslehre Jellinek war nicht nur Verfassungshistoriker und Staatsrechtler, sondern auch Völkerrechtler und hatte ein klares Auge für die Notwendigkeit der transnationalen Zusammenarbeit. In Kap. XIX des „Systems“ finden sich dazu einschlägige Bemerkungen, die ausführlichste Fundstelle ist seine „Lehre von den Staatenverbindungen“ von 1882, neu ediert von Walter Pauly 1996. Jellinek betont, daß die Staaten immer schon im Zustand der Staatengemeinschaft leben, wo ihre Interessenwahrnehmung oft „durchkreuzt, gehemmt, beeinflußt, verändert [wird] durch andere [Staaten]“ (StV 91). Jellinek sieht drei Stadien der Völkerrechtsentwicklung vor sich: Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander,40 heute würde man sagen: Kriegsrecht, Koexistenzrecht und Kooperationsrecht. Er analysiert die einzelnen Instrumente, wie den Verwaltungsvertrag und den politischen Vertrag, worunter etwa Allianzverträge wie heutzutage der Nato-Vertrag fallen. Aber er sieht auch Möglichkeiten engerer Kooperation, die in Richtung Europarecht weisen: „Wenn aber die Interessen, welche durch den Vertrag gewahrt werden sollen, zusammenfallen, wenn ein gemeinschaftliches Interesse vorliegt und demnach nicht Ergänzungsbedürfnis, sondern Solidarität den Grund des Vertrages bildet, dann erlangt die Vereinbarung einen ganz anderen Charakter. Nicht Austausch, sondern Gemeinsamkeit wird da der Zweck sein … Hier ist das Band von Staat zu Staat ein festeres und innigeres als im ersten Fall. Nicht sowohl ein Sich Vertragen, als vielmehr ein Sich Verbünden ist hier der Zweck der Vereinigung“ (StV 107 f.). Sich-Verbünden klingt primär nach politischer und hier wiederum nach militärischer Verbündung, und diese ist bei Jellinek in der Tat umfaßt. Gleichwohl sieht er hier größere Konflikt- und Auflösungsgefahren als bei den anderen Interaktionssphären, „den Interessen des ökonomischen, literarischen, des Rechtslebens, Siehe neben den schon genannten Jellinek-Stellen Hattenhauer, Kap. VI „Die Staaten und das Reich“, S. 269 ff., etwa S. 287: „Der junge Staat war noch weit von einer geschlossenen Rechtsquellenlehre entfernt. Die Rechtskreise und Rechtsmassen überschnitten und überlagerten einander vielfältig … Rechtseinheit war noch kein Ziel“. 39  Siehe späterhin Kelsen. 40  Siehe S. 320. 38 

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der Verkehrsverbindungen, kurz des ganzen modernen materiellen und geistigen Verkehrslebens. Gewiss können auch hier scharfe Gegensätze in den Interessen der Staaten vorwalten, welche bestimmend auf ihre ganze Politik einwirken und sogar zum Kriege zu treiben vermögen …“ (StV 109). „Aber die moderne Weltcultur hat gemeinsame Interessen aller civilisirten Völker sowohl, als auch einer grösseren oder geringeren Anzahl unter ihnen geschaffen, und diese gemeinsamen Interessen, welche auf der gemeinsamen Cultur beruhen und daher bleibend sind, gewähren eine sichere und dauernde Basis für Verträge, welche die ganze Zeit ihres stipulirten Bestandes hindurch eingehalten werden, als auch für bleibende internationale Institutionen“ (StV 109). Diese Chance sieht er insbesondere für die zivilisierten Staaten im allgemeinen und für Europa im besonderen: „Innerhalb der Staatengemeinschaft entwickeln sich durch geographische und historische Zusammengehörigkeit die Staatensysteme, als durch lebhafteren und reicheren Verkehr und in Folge dessen durch specielle gemeinsame Rechtsnormen sich abschließende internationale Gruppen. So kann man insbesondere von dem europäischen Staatensysteme als einer besonderen Gruppe innerhalb der Staatengemeinschaft reden. Diese völkerrechtliche Staatengemeinschaft wird aber im Laufe der Culturentwicklung eine immer innigere. Immer mehr gemeinsame Interessen entstehen, d. h. Interessen, welche über das Wohl und Wehe eines einzelnen Volkes hinausragen und, je mehr gemeinsame Interessen, desto grösser die Zahl und mannigfacher die Art der Lebensverhältnisse, in welche die Staaten zu einander treten, desto breiter das Geflecht der internationalen Rechtsnormen, das sie umschlingt. Steigende Cultur ist verbunden mit Abnahme der Selbstgenugsamkeit des Einzelstaates … Je lebhafter jedoch die Zivilisation sich eines Staates bemächtigt, desto mehr ist er darauf angewiesen, Anknüpfungspunkte mit anderen Staaten zu suchen und die gefundenen zu benutzen. Welche unabsehbare Fülle von Handels-, Schifffahrts-, Post-, Telegraphenverträgen sind in unserem Jahrhundert berreits beschlossen worden! Jede neue Entdeckung und Erfindung bringt neue Bindeglieder zwischen den Staaten hervor. Die Eisenbahnen, welche unmerklich die Grenzen der Staaten überschreiten, haben diese selbst einander genähert,41 und die Telegraphendrähte, welche den Erdball umschlingend den staatslosen Ocean durchlaufen,42 legen ein sichtbares Zeugniss dafür ab, dass die Organismen der Völker mit einander verbunden sind“ (StV 96 f.). Jellineks umfangreiche Analysen können im einzelnen hier nicht dargelegt werden. Statt dessen fasse ich die in dem Schaubild (siehe Anhang, S. 359) erwähnten drei Argumente zusammen, die für eine Überschreitung der Rechtsorganisation auf nationaler Ebene sprechen. Alle haben damit zu tun, daß auf dieser Ebene (oder möglicherweise auch der darüber angesiedelten kontinentalrechtlichen Ebene) die

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Man denke heutzutage in der EU an die offenen Staatsgrenzen im Rahmen des Schengen-Regimes. Siehe Oppermann, § 24 III 3. 42  Parallele heutzutage ist das Internet.

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Freiheit43 als Leitwert bedroht ist, daß mit anderen Worten Souveränitäts- oder Herrschaftsdefizite vorliegen. Das Defizit in der Souveränität kann, überschlägig formuliert, nur darin liegen, daß sie entweder zu stark, zu schwach oder zu partikularistisch ist. Nationalstaatliche Souveränität ist zu schwach, wenn die jeweilige Aufgabe die territorialen Grenzen des Staatsgebiets überschreitet. In den Worten Jellineks: „Die zivilisierten Staaten jedoch stehen kraft ihrer nicht durch die Mittel des Einzelstaates allein lösbaren Aufgaben, sodann historisch wirkender Kräfte, vor allem kraft der gemeinsamen an den Staatsgrenzen nicht ihr Ende findenden [Ökonomie und] Kultur in einer sozialen, in ununterbrochenem Verkehr sich äussernden Gemeinschaft …“ (S 311). Nationalstaatliche oder auch europarechtliche Souveränität ist zu stark, wenn sie den Rechtsstatus der ihr Eingegliederten entweder gar nicht oder nicht ausreichend achtet. Dann bietet sich eine Verlagerung auf eine Instanz weiter oben an, soweit von dieser eine bessere Ausbalancierung zu erwarten ist. Ohne weiteres zu erwarten ist freilich eine solche Abgabe von Herrschaftsrechten nicht. Sie bedarf in der Regel einer Katastrophe auf der unteren Ebene, wie wir das im 2. Weltkrieg mit Deutschland erlebt haben. Nationalstaatliche oder europarechtliche Souveränität ist zu partikularistisch, wenn außerhalb des schon erwähnten Kreises von Staatstotalitarismus im Staat oder zwischen Staaten Binnendifferenzierungen eingezogen werden, die sich angesichts des sich entwickelnden Rechtsethos nicht mehr ohne weiteres legitimieren lassen. Dazu gehören Unterscheidungen nach Ausländer/Bürger44 sowie ausgeschlossene Differenzierungskriterien wie etwa Religion oder zunehmend sexuelle Ausrichtung, die sich typischerweise in den Diskriminierungsverboten wiederfinden. „Nicht ausreichende“ Rechte als Fall des „zu starken“ Staates können also auch in die Kategorie „zu partikularistisch“ fallen. In allen drei Fällen geht es um eine genuin normative und/oder entwicklungsgeschichtlich qualifizierte Sichtweise der drei Staatskriterien: Gebiet, Gewalt, Volk. Das Gebiet darf nicht vollständig abgeschottet werden, etwa gegen Einwanderung und Flüchtlinge. Die Staatsgewalt muß sich binden, darf etwa keine Folter anwenden. Das Staatsvolk ist nicht mehr die alleinige Kategorie für innerstaatlichen Schutz; solcher muß auch Fremden oder der „Bevölkerung“ zustehen. Völkerrechtlich mag man die drei Kriterien Gebiet, Volk und Gewalt lange als reine Effektivitätskriterien angesehen haben, heutzutage sind für ihre rechtsethisch angemessene Sichtweise qualifizierende Merkmale einzusetzen.45 43  Wie weiter oben schon angemerkt, ist es nicht ausgeschlossen, statt Freiheit auch andere Leitwerte wie etwa Gleichheit einzusetzen. 44  Siehe beispielsweise Sier. 45  So ist etwa die Aufnahme von Staaten in die Vereinten Nationen gebunden an die Versicherung der Einhaltung der für die UN selbst geltenden Maßstäbe etwa des Menschen-

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Jellinek ist nun der Ansicht, daß sich auch in der völkerrechtlichen und supranationalen Koordination die Elemente der Statuslehre widerspiegeln – zwar nicht direkt, weil es am Staatscharakter fehlt, aber doch analog:46 Grund dafür ist die in „Recht“ und so auch in „Völkerrecht“ generell angelegte Selbstbeschränkung der einzelnen Staaten als unabhängige Rechtssubjekte im gemeinsamen Interesse.47 Diese führt dazu, daß die Unterwerfung im Status subjectionis unter die gemeinsamen Regeln keine absolute, sondern eine beschränkte ist, soweit die Regeln eben reichen. Die davon nicht berührte Ebene wird durch den Status libertatis geschützt; dazu zählt insbesondere der Bereich, in dem die Handlungen des einen Staates auf den anderen keinen Einfluß haben können, also völkerrechtlich irrelevante Handlungen; ferner zählt dazu der Bereich, in dem der Einzelstaat sich weder vertraglich noch in der Praxis gemeinsamen Regeln unterstellt hat. Der aktive Status kommt ins Spiel, soweit die Staaten zur Abgrenzung oder Koordinierung ihrer Bereiche Aktivitäten entfalten, ja aufgrund der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen entfalten müssen. Der positive Status schließlich bezieht sich auf alle diejenigen organisatorischen oder finanziellen Leistungen, die zur Verwirklichung der gemeinsamen Interessen notwendig sind. Die Analogie bezieht sich auf zwei Punkte: Statt um „höhere Macht“ und „Souveränität“ mit der Möglichkeit der Delegation einzelner Hoheitsbefugnisse, wie sie für Jellinek nur für Staaten in Betracht kommt, geht es über und unter der Ebene der Souveränität analog (nur) um gegenseitige Koordination und Bindung, wenngleich rechtlicher Art; statt um komplexe kollektive Gefüge mit hierarchischer Struktur geht es analog um tendenziell einfachere Verbindungen insbesondere vertraglicher Art.

VI.  Statuslehre in unterstaatlichen und vorrechtlichen Gemeinschaften Der letzte Punkt bezieht sich auf Jellinek als Gemeinschaftstheoretiker par excellence, als liberaler Kommunitarist, wie aus heutiger Sicht zu sagen wäre.48 Sein Ausgangspunkt ist die Zweckhaftigkeit einer jeden menschlichen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung: „Im Staate, wie im natürlichen Organismus ist eine stete Tätigkeit auf Verwirklichung seiner Zwecke gerichtet … Durch diese … Tätigkeit empfangen beide Erscheinungen ihre Einheit, ‚beide sind Zweckeinheiten, Entelechien‘“ (S 41). Die Zwecke mögen einfach oder komplex, flüchtig oder perennierend, bewußt oder unbewußt sein, jedenfalls schaffen sie praktisch Einrechtsstandards; siehe Art. 4 UN-Charta. Ähnliches gilt für die Aufnahme neuer Staaten in die Europäische Union nach Art. 49 EU-Vertrag. 46  Die analoge Anwendung gilt auch für den Staatenbund und den Bundesstaat. Siehe Kap. XVIII. 47  Siehe StV 34: „Ausschließliche Verpflichtbarkeit durch eigenen Willen ist das juristische Merkmal des souveränen Staates“. 48  Siehe neben Fn. 14 die einschlägigen Aufsätze in Brugger 1999.

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heit, Zielrichtung und bewegen sich in Richtung Organisation – nicht notwendig staatliche Organisation. Typischerweise bilden sich Autoritätsfiguren, die für die jeweilige Gemeinschaft den leitenden Zweck betreuen, notfalls organisieren, etwa Vater und Mutter für eine Familie, oder Priester für eine Glaubensgemeinschaft, oder Vorstände für einen Verein. Jellineks These ist, daß in der ethischen Moderne, also insbesondere seit Kant,49 in einer jeden Gemeinschaft die Mitglieder einen Status subjectionis, libertatis, activus und positivus haben bzw. haben sollten. Die Statuslehre selbst steuert nicht den leitenden Zweck der jeweiligen Gemeinschaft oder Gesellschaft bei. Zur Bestimmung der ideé directrice oder des Codes, um mit Maurice Hauriou und Niklas Luhmann zu sprechen,50 muß man in der geschichtlichen Entwicklung phänomenologisch in diese Vergemeinschaftungen eintauchen und ihren jeweiligen Steuerungs- und Organisationsanspruch klären. Dann stellen sich Fragen wie: Worum geht es in Familie, Glaubensgemeinschaft, Wissenschaft, Recht und Staat? Erst wenn man diese Leitideen verstanden hat, kann man sinnvoll über eine passende Strukturierung der vier Status nachdenken. All das gilt selbstverständlich nur, wenn man mit Jellinek die schon für die Entwicklung der modernen Staatlichkeit konstitutive Wendung hin zu einem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung mitmacht – auf individueller wie kollektiver Seite. Wenn man aber mit Jellinek diesen Schritt tut, ist man mit einem Denker konfrontiert, der in unnachahmlicher Weise soziale Ordnungstheorie, Rechtsphilosophie, Geschichtswissenschaft und Staatsrechtslehre verknüpft. Gestorben ist Jellinek vor 100 Jahren, sein Werk kann das 21. Jahrhundert auf all den genannten Ebenen immer noch bereichern.

49 

Siehe schon oben Fn. 6. Hauriou, S. 34 ff.; Luhmann, Kap. 4: Codierung und Programmierung.

50 Siehe

Schutzgut/ Problem: Unsicherheit durch Lösung: Institutionelle Sicherung durch Vertreter in Rechts- und Sozialphilosophie 1. Souveränität: Leben / Machtzersplitterung, BürgerTerritorialstaat, Fürsten-, dann StaatsJean Bodin, Bürger im status subieckrieg, Anarchie souveränität, Nationalstaat, SäkulariThomas Hobbes tionis sierung 2. Liberalität: Freiheit von/ Souveränitätsanmaßungen, Gewaltenteilung, Abwehrrechte, Montesquieu, John Locke, Bürger im status libertatis, Bevormundung in der Gesellschaft: Rechtsstaat, zum Teil Föderalismus, Immanuel Kant, negativus Religion, Wirtschaft, Privatsphäre Selbst(vor)sorge Federalist Papers 3. Demokratie: Politische Freiheit zu/ Souveränitätsan- Grundrechte auf Kommunikation, poli- J.-J. Rousseau, Bürger im status activus maßungen, politische Entmündigung tische Partizipation, Volkssouveränität Immanuel Kant 4. Sozialstaat: Gesellschaftliche Freiheit zu/ Souverä- Sozialversicherung, soziale Rechte in Lorenz von Stein, Bürger im status positivus nitätsindifferenz: Verarmung, soziale Verfassung oder Gesetzgebung, objekti- Hermann Heller, Ausbeutung der Schwachen ve Grundrechtsfunktionen John Rawls, „Lüth“ 5. Ökologischer Staat: Ökologische Lebens- und FreiheitsRessourcenschutz, Schutz der öffentliHans Jonas, Bürger im status oecolovoraussetzungen / Umweltzerstörung chen Umweltgüter, Staatsziel UmweltTheorie ökonom. Externagicus schutz litäten, „Von Anthropo- zu Bio- und Ökozentrik“ 6. Kulturstaat: Kulturelle Entfaltungsvoraussetzungen/ Staatsziel Kultur, objektive GrundGeorg Jellinek, Bürger im status culturalis Kälte, Anonymität des Massenlebens rechtsfunktionen zur Unterstützung Peter Häberle reicher Lebenswelten 7. Transnationalität I: Freiheit im nationalen politischen VerEuroparecht: Eingliederung in Europä­ Europaidee: W. Churchill, J. Monnet, R. Schuman, Bürger im status Europaeus band / Souveränitätsdefizite, National- ische Gemeinschaft/Union EMRK W. Hallstein u.a. staaten in Europa zu schwach, zu stark, zu partikularistisch 8. Transnationalität II: Freiheit im Staatenverbund / National- Völkerrecht: Eingliederung in interUniversalmoral: Bürger im status universalis staaten, EU in der Welt zu schwach, zu nationale Organisationen, MenschenEine Welt/Menschheit, stark, zu partikularistisch rechtspakte Immanuel Kant, John Rawls, Jürgen Habermas

Staat-Bürger-Verhältnis

Eine aktualisierte Version von Georg Jellineks Statuslehre für das 21. Jahrhundert Interdisziplinarität und Mehrebenenanalyse in Georg Jellineks Statuslehre 359

Anhang

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Winfried Brugger

Literatur Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4, 1949, S. 754 ff. Bogdandy, Armin von: Europäische Verfassung und europäische Identität, in: Schuppert u.a. (Hrsg.): Europawissenschaft. Baden-Baden, 2005. Brugger, Winfried: Georg Jellinek als Sozialtheoretiker und Kommunitarist, Der Staat 49, 2010, S. 405 ff. – Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Baden-Baden, 1999. Dworkin, Ronald: Taking Rights Seriously. Cambridge, (Mass.), 1978. Grawert, Rolf: Staat und Staatsangehörigkeit. Berlin, 1973. Hattenhauer, Hans: Europäische Rechtsgeschichte. Heidelberg, 1992. Hauriou, Maurice: Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze. Hrsg. von Schnur. Berlin, 1965. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie-Werkausgabe, Bd. 12. Frankfurt/Main, 1970. Hof, Hagen: Georg Jellinek, in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Heidelberg, 4. Aufl., 1996. Hufen, Friedhelm: Staatsrecht II. München, 2. Aufl., 2008. Jellinek, Georg: Das System der subjektiven öffentlichen Rechte. Tübingen, 2. Aufl., 1905. – StL Allgemeine Staatslehre, Kronberg, Ts. 1976 (Nachdruck des 5. Neudrucks der 3. Auflage, die von Walter Jellinek mit Verwertung des handschriftlichen Nachlasses durchgesehen und ergänzt wurde). – StV Die Lehre von den Staatenverbindungen, hrsg. von Pauly. Goldbach, 1996 (Nachdruck der Ausgabe Wien, 1882). – SR I und II Ausgewählte Schriften und Reden, Band I und II. Berlin, 1911. – MR Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, sowie: Replik auf Emile Boutmy, in: Schnur ( Hrsg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte. Darmstadt, 1964, S. 1 ff., 113 ff. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre (1934), Studienausgabe der 1. Auflage. Tübingen, 2008. Kempter, Klaus: Die Jellineks 1820 – 1955. Düsseldorf, 1998. Kielmansegg, Peter Graf: Volkssouveränität. Stuttgart, 1977. Kirste, Stephan: Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt, 2010. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/Main, 1993. Oppermann, Thomas: Europarecht. München, 3. Aufl., 2005. Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard: Grundrechte. Staatsrecht II, 25. Auflage. Heidelberg, 2009. Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation (1935). Frankfurt/Main, 1974. Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, Studienausgabe. Heidelberg, 1999. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Berlin, 6. Aufl., 1991. Shue, Henry: Basic Rights: Subsistence, Affluence, and U.S. Foreign Policy. Princeton/New York, 2. Aufl., 1996. Sier, Angelika: Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft. Berlin, 2001.

Menschenrechte und Recht Zu Gustav Radbruchs „Fünfter Minute“ Georg Lohmann 1.  Die Verhältnisse zwischen Menschenrechten und Recht lassen sich in zwei Richtungen betrachten. Der volle Begriff der Menschenrechte ist ein juridischer, und so brauchen die Menschenrechte zu ihrer vollen Entfaltung (Konkretion, Durchsetzung und Schutz) das Recht, und zwar als nationales wie internationales. Braucht aber auch das Recht die Menschenrechte? 2.  Gustav Radbruch hat in seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (1946) auf die Menschenrechte verwiesen, um „richtiges“ von „unrichtigem“ Recht zu unterscheiden.1 Der Kontext ist hier bekannt und so will ich Radbruchs Begrenzung des „positivistischen Rechtsdenkens“ auf Grund der Erfahrungen der Nazi-Zeit nur noch mit einem Zitat aus der 5. Minute der genialen „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ in Erinnerung rufen: „Fünfte Minute. Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitgehender Übereinstimmung gesammelt, dass in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“2

Das Besondere ist, dass Radbruch hier nicht einfach nur Gerechtigkeit (und Gemeinwohl) als (die) übergesetzliche(n), moralische(n) Norm(en) nennt, mit der (denen) die Rechtsgeltung im Falle eines „unerträglichen“ Widerspruchs aufgehoben werden kann, sondern allgemeiner und sehr vorsichtig von Menschen- und Bürgerrechten spricht. Zwar macht er das durchaus traditionell aus der Perspektive des Natur- und Vernunftrechts, und traditionell ist auch die Vorstellung, die Menschenrechte hätten sich durch die „Arbeit der Jahrhunderte“ zu einem „festen Bestand herausgearbeitet“. Aber weder glaubt Radbruch, dass ein philosophisches Natur- oder Vernunftrecht allein, noch, dass die historisch sich vollziehende Entwicklung der 1  „Der

Rechtscharakter fehlt weiter allen jenen Gesetzen, die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten“, Radbruch, S. 217. 2  Radbruch, S. 210.

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Georg Lohmann

Menschenrechtskonzeptionen vor jedem Zweifel an ihrer Geltung und Normativität feien würden. Gegen die Unsicherheiten von philosophischer Vernunft und kontingenter Geschichte setzt er als Ergänzung die letztlich politischen „Erklärungen“ der Menschen- und Bürgerrechte, mit denen eine „weitgehende[…] Übereinstimmung“ erzielt werden konnte, so dass erst durch das Zusammenspiel dieser drei Komponenten Vernunft, Geschichte, Politik der normative Anspruch dieses Unrichtigkeitsmaßes für das Recht gegen allfällige Zweifel verteidigt werden kann. Die Frage ist nun: Fungieren die Menschenrechte wie ein externer Maßstab des Rechts oder sind sie in irgendeiner Weise dem Recht intern eingeschrieben? Die erste Möglichkeit vertreten liberale Auffassungen, die den moralischen, vorstaatlichen Vorrang der Menschenrechte betonen. Sie streiten mit republikanischen Positionen, die den Vorrang der Volkssouveränität betonen und die Menschenrechte rechtsintern begreifen. Die Diskussion lässt sich auf die grundsätzlichen Differenzen zwischen Locke und Rousseau zurückführen und wird heute z. B. zwischen J. Rawls, auf der einen Seite, und J. Habermas, auf der anderen, geführt. 3.  Das ist nun zum einen eine interdisziplinäre Problemstellung für das Recht, zum anderen eine spezifische Aufgabe für die Philosophie. Die Philosophie, so sehe ich es im Anschluss an Habermas, hat die Aufgabe, die unterschiedlichen Ansprüche, die sich aus Vernunft, Geschichte und Politik für das Recht ergeben, aufzunehmen und miteinander zu vermitteln. Sie weist ihnen nicht mehr von einer absoluten Position aus die Plätze zu, sondern rekonstruiert die jeweils rationalen Ansprüche, überprüft und vermittelt sie.3 Das muss sie umso mehr, da der Maßstab selbst, die Menschenrechte, komplexe Rechte sind, die eine moralische, juridische und historisch-politische Dimension habe4 und deren unterschiedliches Gewicht ebenfalls eine Auseinandersetzung der Philosophie mit anderen Disziplinen erfordert. Ich möchte nun, im Anschluss an Radbruchs „5. Minute“, einige Überlegungen in aller Kürze zur Diskussion vorstellen.5 4.  Würden wir die Menschenrechte rein moralisch verstehen, dann läge es nahe, sie dem Recht gegenüber als vorpolitische, überrechtliche, durch allgemeine Vernunft begründbare Normen zu verstehen. Eine solche Auffassung vertreten liberale Positionen.6 Sie müssen weder auf Erfordernisse des Rechts selbst, noch auf Einflüsse der Verarbeitung historischer Erfahrungen, noch auf politische Bedingtheiten Rücksicht nehmen, sondern nach ihrer Auffassung sind die Menschenrechte allein Produkt der rationalen Argumentation philosophischer Überlegungen.

Habermas 1983, S. 9 – 28. Lohmann 2010. 5  Inzwischen habe ich eine Reihe von Punkten an anderer Stelle ausgeführt, siehe Lohmann 2011a; Lohmann 2013; Lohmann 2014. 6  Z. B. Larmore, S. 326 ff. 3 

4 Ausführlicher

Menschenrechte und Recht

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In Wahrheit aber sind die Menschenrechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 in eine historisch und auch systematisch neue, nun internationale Konzeption7 gefügt, die wesentlich in Reaktion auf die Barbareien der Nazi-Zeit und der Kriegsverbrechen zu verstehen ist. Radbruch hat das 1945 wohl auch so empfunden. Weil die ungeheuren Verbrechen der Nazi- Zeit (und auch des Stalinismus und der Kolonialmächte) nicht mehr ohne klare begriffliche Kritik sein sollten, wurde versucht, dem unvorstellbaren Grauen dieses „Gattungsbruchs“8 eine ebenso umfassende normative Konzeption entgegenzustellen. Die Menschenrechte werden jetzt gegenüber ihrer bisherigen Geschichte radikaler, fundamentaler und umfassender konzipiert, was sich an der neuen Bedeutung und Rolle des Begriffs der Menschenwürde zeigt,9 und sich auch in ihren formalen Charakteristika niederschlägt: sie sind universalistische, kategorische, egalitäre, fundamentale und individualistische „subjektive Rechte“. Insbesondere ihr universeller und kategorischer Anspruch sprengt jede konkrete, besondere Rechtsgemeinschaft, die als solche partikular und an die Bedingung einer Mitgliedschaft gebunden ist, und damit gerade nicht im Menschrechtssinne kategorisch und universal ist. Moralisch gesehen korrespondieren ferner den Menschenrechten umfassende Pflichten, die, zwar über den jeweiligen Staat und die Staatengemeinschaft vermittelt, sich in der Weise einer „Drittwirkung“ auf alle Menschen in der gleichen Weise erstrecken. Und schließlich sind es nicht nur Unterlassungspflichten, sondern Schutzund Hilfspflichten, die insbesondere an rechtlich fixierten Staatsgrenzen nicht halt machen, sondern einen globalen Anspruch erheben. Menschenrechte überfordern daher, moralisch gesehen, jedes besondere Rechtssystem. Es ist daher riskant, sich auf eine rein moralische Sicht der Menschenrechte zu beschränken. Die liberale Position, die davon ausgeht, dass die Menschenrechte vorstaatliche, moralisch begründete Rechte sind, hat daher die Menschenrechte zumeist nur sehr selektiv verstanden, nur als negative Freiheitsrechte, und hat die philosophisch gut begründbaren Ausweitungen etwa des mit den Menschenrechten gegebenen Gerechtigkeitsanspruch auf globale Gerechtigkeit zurückgewiesen.10 Auch eine liberale Position hat ihre Meriten: Wie immer das Recht gestaltet ist, Rechtssetzung und Rechtsanwendung dürfen der liberalen Freiheitsauffassung nach den Menschenrechten nicht widersprechen. Insofern beinhalten die Menschenrechte einen kritischen Vorbehalt gegenüber dem Recht und der Demokratie – dies natürlich auch deshalb, weil es auch in Demokratien zu Verletzungen der Menschenrechte kommen kann, und dies in gravierendem Maße: Mehrheitsbeschlüsse können zu völlig willkürlichen Einschränkungen von Minderheitsrechten Ich unterscheide nationale, internationale und transnationale Konzeptionen der Menschenrechte, siehe dazu vorerst Lohmann 2014. 8  Diese These vertritt beeindruckend Zimmermann. Mit Bezug auf die Menschenrechte siehe auch Menke/Pollmann. 9  Lohmann 2011 b. 10  Z. B. Rawls; dazu Lohmann 2009. 7 

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Georg Lohmann

führen. Gegen diese in jedem Rechtsstaat formal möglichen Fehlentscheidungen stellt die Berufung auf Menschenrechte eine wichtige Kritikmöglichkeit dar. Ferner kann auch eine liberale Position fordern, dass die sozialen Menschenrechte beachtet werden und sich im weltweiten Maßstab für soziale Gerechtigkeit und Minimalversorgung eingesetzt wird.11 Schließlich kann sie auf die Schaffung weltbürgerlicher Zustände für alle hinwirken. 5.  Mit der republikanischen Auffassung verschieben sich die Dinge ein wenig. Es geht jetzt vornehmlich um das Verhältnis von Menschenrechten und Rechtssetzung, also Volkssouveränität, während das Verhältnis von Menschenrechten und Rechtsanwendung erst in einem zweiten Schritt beachtet wird. J. Habermas hat in „Faktizität und Geltung“ (1992) zunächst eine mehr republikanische Auffassung vertreten, nach der den Menschenrechten kein Vorrang vor der Demokratie zukomme, sondern beide „gleichursprünglich“ seien. Habermas geht (ähnlich wie Kant) von der These aus, dass Recht und Moral unterschiedliche Formeigenschaften haben. Das positive Recht entkopple sich von der Moral und ergänze die autonome Moral funktional (es kompensiert organisatorische, kognitive und motivationale Schwächen der Moral). Das moralisch Richtige aber, wenn es mit Mitteln des formalen Rechts gefordert würde, unterliege den formalen und abstrakten Rechtsanforderungen. In einem späteren Aufsatz12 präzisiert Habermas die verbleibende Bindung des Rechts an die Moral: Das Recht bleibe intern an Moral gebunden, insofern Moral eine notwendige Bedingung in einem legitimen Rechtsetzungsprozess und in einer legitimen Rechtsprechung ist. Angesichts der von Radbruch schon konstatierten Mehrdimensionalität der Menschenrechte erscheint die Habermas’sche Lösung daher zunächst angemessener. Habermas’ These ist nun, dass Volkssouveränität und Menschenrechte miteinander durch einen „internen Zusammenhang“ vermittelt seien. „Das Erfordernis der rechtlichen Institutionalisierung einer staatsbürgerlichen Praxis des öffentlichen Gebrauchs kommunikativer Freiheiten (wird) eben durch die Menschenrechte selbst erfüllt“.13 Daraus folgert er, und das ist der Unterschied zu einer liberalen Auffassung: „Menschenrechte, die die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichen, können dieser Praxis nicht als Beschränkung von außen auferlegt werden“ (ebd.). Der Unterschied liegt also darin, dass die liberale Position die Menschenrechte als notwendige Bedingung von legitimer Demokratie, also einschränkend, versteht, während Habermas von ermöglichenden Bedingungen spricht.14 Aber auch Habermas kann seine These nur selektiv den Menschenrechten gegenüber durchführen. Konstitutiv für ihn sind die politischen Teilnahmerechte, die die politische Autonomie sichern, während seiner Meinung nach die liberalen AbSiehe dazu Lohmann 2000. Ich beziehe mich hier auf den Aufsatz von Habermas 1994. 13  Habermas 1994, S. 89. 14  Zur Kritik an der Rede von „ermöglichenden Bedingungen“, die nicht zugleich „beschränkende“ Bedingungen sein sollen, siehe Gosepath, S. 215 ff. 11 

12 

Menschenrechte und Recht

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wehrrechte (und die sozialen Teilhaberechte) sekundäre Rechte sind, insofern sie von der politischen Recht­setzung abhängig sind. Weil die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung sich des Mediums des Rechts bedienen muss, das Recht aber die private Autonomie von Rechtspersonen voraussetzen muss, „gäbe es ohne Grundrechte, die die private Autonomie der Bürger sichern, auch kein Medium für die rechtliche Institutionalisierung jener Bedingungen, unter denen die Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie Gebrauch machen können. Deshalb setzen sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraus, ohne dass die Menschenrechte vor der Volkssouveränität oder diese vor jener einen Primat beanspruchen können“.15 Damit aber wird die ursprüngliche These einer „Gleichursprünglichkeit“16 hier nur negativ bestimmt: A ist „gleichursprünglich“ mit B, heißt: A ist nicht vor B, und B ist nicht vor A. Das lässt die Möglichkeit offen, beide, Demokratie und Menschenrechte, nicht wechselseitig sich begründen zu lassen, sondern beide als in einem Dritten begründet zu sehen.17 6.  Die liberale Auffassung sagt: Dieses begründende Dritte ist eine Moral der universellen und gleichen Achtung aller. Die republikanische Position muss hier ein Verfahren der politischen und rechtlichen Selbstbindung entwickeln. Habermas versteht den Begriff eines Rechtes im Konzept der Menschenrechte wesentlich nur als juridisches Recht. Die Folge dieser Entscheidung ist, dass Habermas die Menschenrechte als innere Notwendigkeit des demokratischen Rechtsstaats bestimmen muss. Dies hat aber problematische Folgen, weil so zunächst nicht begründet werden kann, wieso die Menschenrechte einen universalen und kategorischen Anspruch haben können. Rechte innerhalb demokratischer Gesellschaften gelten zunächst nur für die jeweiligen Rechtsgenossen und können durch legitime Beschlüsse der Mitglieder geändert werden. Habermas versucht nun den rechtsinternen, besonderen Charakter der Menschenrechte dadurch herauszustellen (und damit diesen Einwänden zu begegnen), dass er darauf hinweist, dass Grundrechte 1) einen verfassungskonstitutiven Charakter haben, dass 2) sie sich als Adressaten an alle Menschen, und nicht nur an alle Bürger wenden, und dass sie 3) „ausschließlich unter dem moralischen Gesichtspunkt begründet werden können“.18 Habermas’ These ist, dass diese nur moralische Begründung für die Grundrechte hinreichend sei, dass dadurch aber ihr juridischer Charakter nicht geändert würde und sie dadurch also nicht zu vorstaatlichen, moralischen Rechten würden. Für die universellen, kategorischen, usw. Geltungsansprüche der Menschenrechte bedeutet dies, dass sie als staatlich gesatzte Rechte von entsprechenden politischen Entscheidungen, auf nationaler wie internationaler Ebene, zugleich Habermas 1994, S 91. Der Begriff selbst taucht auch bei Heidegger in Sein und Zeit auf. 17  Diese Kritik an Habermas und auch einen Vorschlag, wie genau das „dritte Prinzip“ zur Begründung von Menschenrechten und Demokratie gefasst werden muss, bei Gosepath, S.  218 ff. 18  Habermas 1995, S. 311. 15  16 

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abhängig sind und bleiben. Das hat positive, aber auch problematische Folgen. Habermas wendet sich m.E. zu Recht gegen eine menschenrechtlich begründete Moralisierung der Weltpolitik. Wenn Verletzungen der Menschenrechte im globalen Maßstab oder in anderen Weltgegenden eingeklagt werden sollen, dann muss darüber ein ordentliches Gerichtsverfahren möglich sein, d. h. es ist ein globaler Menschenrechtsgerichtshof zu schaffen. Dies ist mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zumindest im Ansatz geschehen. Nur auf diesem Wege ist einem moralisierenden „Menschenrechtsfundamentalismus“ vorzubeugen, der nur „durch die weltbürgerliche Transformation des Naturzustandes zwischen den Staaten in einen Rechtszustand vermieden“19 werden kann, wie ihn etwa Kant im „Ewigen Frieden“ erstmals entworfen hat. Auf der anderen Seite bestimmen die historisch motivierten und besonderen Interessen der Staaten den Umfang, mit dem die Staatengemeinschaft völkerrechtlich, und die Gemeinschaft der Staatsbürger innerstaatlich, die Menschenrechte in die internationalen Pakte und als Grundrechte in die jeweiligen Verfassungen aufnehmen. Keineswegs besteht hier ja eine Eins-zu-Eins Entsprechung. Wenn aber bei den jeweiligen Rechtsetzungen die politischen und letztlich kontingenten Interessen dominieren können, was bleibt dann noch von den Geltungsansprüchen der Menschenrechte?20 So versicherte die chinesische Regierung gegenüber dem Menschenrechtsrat in Genf, dass sie sich verstärkt auf die Beachtung der Menschenrechte verpflichte, aber erklärte zugleich, wie sie die Menschenrechte verstehe, nämlich passend zu ihrer Politik. Dass eine solche politische Zähmung und Passendmachung der Menschenrechtsidee nicht widerspruchslos hingenommen wird, zeigen die Menschenrechtsaktivitäten von Bürgern in China. Sie berufen sich auf zunächst moralisch entworfene Konzeptionen der Menschenrechte oder eben auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die folgenden internationalen Pakte.21 7.  Doch kehren wir zu unserem Ausgangsproblem zurück. Die m.E. richtige, an den Leistungen des Rechts orientierte Ernüchterung einer Menschenrechtspolitik impliziert keineswegs, dass nicht doch, gegen Habermas’ Selbstverständnis, die Menschenrechte einen moralisch begründeten Vorrang vor der Rechtssetzung haben. Zwar ermöglichen die Menschenrechte, und hier besonders die politischen Teilnahmerechte, die demokratische Willensbildung, aber sie beschränken sie zugleich auch. Ermöglichung und Beschränkung sind nicht, wie es der anfängliche Gegensatz zwischen der liberalen und der republikanischen Auffassung suggerierte, gegeneinander auszuspielen, sondern sie sind miteinander verbunden. Diese Verbindung wird deutlicher, wenn wir sie als Selbstbindung der Prozesse der Rechtssetzung an die Beachtung der Menschenrechte verstehen.22 Habermas 1994, S. 56. Insbesondere für den Anspruch des Rechts auf negative Freiheit untersucht das: Günther, S. 350 ff. 21 Siehe Lohmann 2008. 22  Alexy. 19 

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Im demokratischen Rechtsstaat werden die Menschenrechte in die Verfassung aufgenommen und verwandeln sich in Grundrechte. Über die Einhaltung der Grundrechte entscheidet der demokratische Prozess, also in der Regel das Parlament, das wegen der Mehrheitsregel und überhaupt als Souverän an die Beachtung der Menschenrechte nur durch Selbstbindung gebunden ist. Im demokratischen Verfassungsstaat werden deshalb die Konflikte zwischen Grundrechten und Demokratie, die in jeder realen Demokratie aufbrechen können, durch eine Konkretisierung dieser Selbstbindung geregelt: Eine Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert und schlichtet sie. „Wenn sich (ein) … Reflexionsprozess zwischen Öffentlichkeit, Gesetzgeber und Verfassungsgericht dauerhaft stabilisiert, kann von einer gelungenen Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat gesprochen werden“.23 Natürlich ist das keine letztgültige Lösung des oben genannten Problems, sondern es ist im Zusammenspiel zwischen Gesetzgeber, Verfassungsgerichtsbarkeit und ungebundener Öffentlichkeit nur das Prozedere vorgegeben, in dem im Zusammenspiel von Moral, Recht, Geschichte und Politik um ein richtiges Verständnis der Menschenrechte gestritten wird und in dem sich ein gesetzgebender gemeinschaftlicher Wille erst zu bilden hat. Schaut man sich die Vorkehrungen für die notstandsfeste Beachtung der Menschenrechte24 - nicht aller, aber doch der wichtigsten – national und international an, so muss man nicht den Eindruck haben, dass die Menschenrechtspolitik die Menschenrechte nur zu einem Instrument staatlicher Interessen degradiert. Auch in einer öffentlich zu erklärenden Notstandssituation muss ein Staat, um seinen Anspruch an Legalität und Rechtsstaatlichkeit zu erhalten, diese Rechte bzw. entsprechende Verbote beachten. Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind „notstandsfest“: Art. 6: Recht auf Leben; Art. 7: Folterverbot; Art. 8: Sklaverei- und Leibeigenschaftsverbot; Art. 11: Verbot der Haft bei Vertragsnichterfüllung; Art. 15: keine Strafe ohne Gesetz; Art. 16: Anerkennung der Rechtsfähigkeit; Art. 18: Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit.25 Sie markieren die Schwelle, die Radbruch im Auge hatte, als er einen Maßstab für unrichtiges Recht forderte, der aufgrund historischer Lernprozesse angesichts der Barbarei der Nazizeit konzipiert wurde, und dessen moralischer Stachel angesichts gegenwärtiger Barbareien und Ungerechtigkeiten immer wieder geschärft wird. Die Aufgabe der Philosophie ist es, in diesen wechselseitigen Meinungs- und Willensbildungsprozessen die unterschiedlichen Bereichsansprüche auf ihre Implikationen und Begründetheit zu überprüfen und zu kritisieren.

Alexy, S. 264. Z. B. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1966, Art. 4.; in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 15; dazu Peters. 25  Siehe auch „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2005, S. 141 ff. 23  24 

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Literatur Alexy, Robert: Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: St. Gosepath/G. Lohmann, Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt/ Main, 1998. Deutsches Institut für Menschenrechte: Die „General Comments“ zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Baden-Baden, 2005. Gosepath, Stefan: Das Verhältnis von Demokratie und Menschenrecht, in: H. Brunkhorst (Hrsg.): Demokratischer Experimentalismus. Frankfurt/Main, 1998, S. 215 ff. Günther, Klaus: Liberale und diskurstheoretische Deutungen der Menschenrechte, in: W. Brugger/U. Neumann/St. Kirste (Hrsg.): Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main, 2008, S. 350 ff. Habermas, Jürgen: Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: Kritische Justiz, Jg. 28, H.3, 1995. – Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: ders. Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/Main, 1983, S. 9 – 28. – Über den internen Zusammenhang von Rechtstaat und Demokratie, in: U.K. Preuß (Hrsg.): Zum Begriff der Verfassung. Frankfurt/Main, 1994. Larmore, Charles. E.: Die Wurzeln radikaler Demokratie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41/ 1993, S. 326 ff. Lohmann, Georg: Soziale Menschenrechte und die Grenzen des Sozialstaats, in: W. Kersting (Hrsg.): Politische Philosophie des Sozialstaats. Weilerwist, 2000, S. 351 – 371. – Zum Problem der Individualisierung von Menschenrechten in China - Kommentar, in: E. Klein/Ch. Menke (Hrsg.): Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. 15 Jahre Wiener Menschenrechtskonferenz. Berlin, 2008, S. 62 – 78. – Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte und korrespondierende Pflichten. Eine Skizze, in: H. Gander (Hrsg.): Menschenrechte. Philosophische und juristische Positionen. Freiburg, München, 2009, S. 35 – 58. – Zur moralischen, juridischen und politischen Dimension der Menschenrechte, in: H. Sandkühler (Hrsg.): Recht und Moral. Hamburg, 2010, S. 135 – 150. – Demokratie und Menschenrechte, Menschenrechte und Demokratie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 19 (2011). Berlin, 2011a, S. 145 – 162. – Menschenwürde als „soziale Imagination“. Über den geschichtlichen Sinn der Deklaration der Menschenrechte und Menschenwürde nach 1945, in: N. Knoepffler/P. Kunzmann/ M. O’Mal­ley (Hrsg.): Facetten der Menschenwürde. Freiburg, München, 2011b, S. 54 – 74. – Menschenrechte zwischen Verfassung und Völkerrecht, in: M. Breuer u.a. (Hrsg.): Der Staat im Recht. Berlin, 2013, S. 1175 – 1188. – Menschenrechte und transnationale Demokratisierungen. Überforderungen oder Erweiterungen der Demokratie?, in: M. Reder/M. Cojocaru (Hrsg.): Zukunft der Demokratie. Stuttgart, 2014, S. 64 – 77. Menke, Christoph/Pollmann, Arnd: Philosophie der Menschenrechte. Zur Einführung. Hamburg, 2007. Peters, Anne: Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention. München, 2003. Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders. (Hrsg.): Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 1946 (hrsg. v. R. Dreier und S. L. Paulson. Heidelberg, 1999). Rawls, John: The Law of Peoples. Harvard, 1999. Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg, 2005.

Kollektive Rechte Zur Wechselbeziehung rechtswissenschaftlicher und philosophischer Analysen1 Frank Dietrich

I. Einleitung In allen modernen Gesellschaften leben Menschen zusammen, die sich verschiedenen nationalen oder ethnischen Gemeinschaften zugehörig fühlen. Sie sprechen häufig unterschiedliche Sprachen, gehören unterschiedlichen Religionen an und pflegen unterschiedliche Lebensstile. Die kulturelle Vielfalt, die ein wesentliches Kennzeichen moderner Gesellschaften darstellt, birgt ein nicht zu unterschätzendes Spannungs- und Konfliktpotenzial. Insbesondere Minderheiten nehmen sich oftmals als benachteiligt und in ihrem Fortbestand als eigenständige Gemeinschaften bedroht wahr. Die Sensibilität für die Belange kleinerer nationaler oder ethnischer Gruppen hat in jüngerer Zeit in vielen Gesellschaften spürbar zugenommen. Sowohl innerstaatlich wie auch international sind zahlreiche Rechte geschaffen worden, die ihre Kultur schützen und ihnen mehr politische Selbstbestimmung ermöglichen sollen. Die Entstehung von Kollektiv- bzw. Gruppenrechten hat in den Rechtswissenschaften wie auch der Philosophie eine intensive Diskussion ausgelöst. Das Thema bietet somit einen geeigneten Gegenstandsbereich, um die Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erörtern. Im folgenden Abschnitt soll zunächst der Begriff der kollektiven Rechte erläutert und zwei Problembereiche – das Sprachenrecht und das Selbstbestimmungsrecht – vorgestellt werden (II.). Darauf aufbauend soll im nächsten Schritt gezeigt werden, inwiefern philosophische Diskussionen einen Beitrag zur Klärung rechtswissenschaftlicher Fragestellungen leisten können (III.). Anschließend soll dargelegt werden, inwiefern die Analysen, die in rechtswissenschaftlichen Arbeiten vorgenommen werden, Eingang in philosophische Argumentationen finden können (IV.). Das Ergebnis der Untersuchung soll im letzten Abschnitt kurz resümiert werden (V.).

Der vorliegende Beitrag stützt sich in verschiedenen Passagen auf Textstellen aus Diet­ rich 2010. Der Autor dankt dem Verlag de Gruyter für die freundliche Zustimmung zur Nutzung des Materials. 1 

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II.  Kollektive Rechte Mit dem Begriff der kollektiven Rechte oder der Gruppenrechte wird in den Rechtswissenschaften wie auch der Philosophie eine Vielzahl unterschiedlicher Rechte bezeichnet. Missverständnisse entstehen häufig schon deshalb, weil sich die Argumente, die die an der Diskussion beteiligten Autoren vorbringen, auf verschiedene Arten kollektiver Rechte beziehen. Nachstehend soll daher der Begriff der kollektiven Rechte näher betrachtet und eine Unterscheidung zwischen zwei Rechtstypen vorgenommen werden (2.1). Um das Verständnis der methodologischen Überlegungen im dritten und vierten Abschnitt zu erleichtern, sollen einige Erläuterungen zu den verwendeten Beispielen vorangestellt werden. Sowohl mit Blick auf das Sprachenrecht (2.2) wie auch das Selbstbestimmungsrecht (2.3) sollen die maßgeblichen juristischen Regelungen dargestellt und die zentralen philosophischen Fragestellungen erläutert werden. 1.  Zur Typologie kollektiver Rechte In der wissenschaftlichen Literatur werden sehr unterschiedliche juridische und moralische Rechte als kollektive Rechte angesprochen. Unter dem Begriff werden z. B. das von der Religionsgemeinschaft der Sikhs geforderte Recht, ohne Helm Motorrad fahren zu dürfen, das Recht einiger Sprachgemeinschaften, muttersprachlichen Schulunterricht zu erhalten, das Recht von Minoritäten, in politischen Entscheidungsgremien repräsentiert zu sein, sowie das Recht autochthoner Gruppen, über die Nutzung ihrer traditionellen Siedlungsgebiete bestimmen zu dürfen, verstanden. In Anbetracht der verschiedenartigen Probleme, die die genannten Kollektivrechte für demokratische Rechtsordnungen aufwerfen, erscheint eine Unterteilung in zwei Arten von Rechten angezeigt.2 Zu unterscheiden sind zum einen Rechte, die von allen mündigen Personen in Anspruch genommen werden können, die der betreffenden Gemeinschaft angehören. Träger dieser Rechte sind die Individuen; sie werden nur deshalb als kollektiv bezeichnet, weil ihre Zuschreibung allein auf Grund der Gruppenzugehörigkeit erfolgt. Von ihnen abzugrenzen sind Rechte, über die eine Gemeinschaft als Ganze – nicht jedes ihrer Mitglieder – verfügt. Die Rechte des zweiten Typus können nur durch Repräsentanten ausgeübt werden, die die Befugnis haben, im Namen des Kollektivs zu handeln. Im Rahmen liberaler Verfassungsstaaten erscheint die Gewährung von Gruppenrechten der ersten Art vor allem im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz problematisch. Gewöhnlich basiert die Zuschreibung der Rechte auf der nationalen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit der Individuen, also auf Faktoren, die eigentlich nicht als Diskriminierungsmerkmal herangezogen werden dürfen. Allerdings verfolgt der Gesetzgeber nicht das Ziel, Minderheiten schlechter zu 2  In

der wissenschaftlichen Literatur finden sich noch weitaus detailliertere Systematisierungsvorschläge; Levy 1997 hat sich z. B. für eine Unterteilung in acht Typen kollektiver Rechte ausgesprochen.

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stellen, sondern intendiert im Gegenteil, ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ähnlich den Behindertenrechten handelt es sich um eine positive Diskriminierung, die sich darum bemüht, bestehende Nachteile auszugleichen oder zu mindern. Faktisch haben kollektive Rechte der ersten Art in allen modernen Demokratien in mehr oder minder großem Umfang Anerkennung gefunden. Ganz andere Probleme für eine liberale Verfassungsordnung werfen Rechte auf, die einer Gruppe als Ganze eingeräumt werden. Im Unterschied zu den vorstehend erörterten Rechten, die im Kern noch immer Individualrechte verkörpern, finden hier Kollektive als eigenständige Träger von Rechten Anerkennung.3 Dadurch werden Konflikte mit individuellen Grundrechten – sowohl von Mitgliedern der eigenen Gruppe wie auch von anderen Bürgern – zu einer realen Gefahr. So können z. B. die Landrechte, über die eine autochthone Gemeinschaft verfügt, die Eigentumsrechte von Angehörigen des Kollektivs einschränken oder zunichte machen. Ferner können die Repräsentanten des Stammes die Freizügigkeit anderer Bürger beschneiden, indem sie ihnen den Zuzug auf das Gebiet verweigern, das ihrer Selbstverwaltung untersteht. Ungeachtet der genannten Schwierigkeiten finden sich auch Beispiele für kollektive Rechte der zweiten Art in den Rechtsordnungen verschiedener demokratischer Staaten. 2. Sprachenrecht a)  Internationales und staatliches Recht Sprachenrechte gehören, da sie von den einzelnen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft in Anspruch genommen werden können, zur ersten Kategorie der vorstehend unterschiedenen Gruppenrechte. Sie haben sowohl im Völkerrecht, z. B. in verschiedenen Menschrechtsdokumenten, wie auch in den Rechtsordnungen demokratischer Staaten Anerkennung gefunden. Grundsätzlich gilt es zwischen negativen Freiheitsrechten und positiven Anspruchsrechten, über die die Individuen im sprachlichen Bereich verfügen, zu differenzieren. Erstere fungieren als Abwehrrechte, die die freie Sprachwahl und Sprachausübung in der Privatsphäre gewährleisten sollen. Sie verpflichten den Staat, die sprachliche Selbstbestimmung der Individuen zu respektieren und sich repressiver Maßnahmen zu enthalten. Die negativen Freiheitsrechte schützen insbesondere die Angehörigen von Minderheiten vor Vorschriften, die ihnen den Gebrauch ihrer Muttersprache vollständig oder in bestimmten Tätigkeitsbereichen untersagen. Die positiven Anspruchsrechte zielen im Gegensatz zu den negativen Freiheitsrechten nicht darauf ab, die sprachliche Autonomie der Individuen im Privatbereich zu schützen. Sie begründen vielmehr Forderungen an den Staat, sich im Verkehr mit den Behörden der eigenen Sprache

Mit Bezug auf beide Rechtstypen stellt sich, wie Jovanović betont, das Problem, mögliche Rechtsträger gegen andere Kollektive, wie etwa die Gruppe der Fußballfans, abzugrenzen (im vorliegenden Band …). 3 

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bedienen oder an öffentlichen Schulen muttersprachlichen Unterricht erhalten zu können.4 Im Völkerrecht findet die Sprache u. a. in den Menschenrechtspakten von 1966 im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung Erwähnung. In Artikel 2 beider Pakte verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, die im Vertragstext aufgelisteten Rechte ohne Diskriminierung in Hinblick auf die Sprache zu gewähren. Demnach dürfen grundlegende Rechte, wie z. B. die Meinungsfreiheit, nicht den Angehörigen bestimmter Sprachgemeinschaften vorenthalten werden. Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sichert zudem Art. 27 sprachlichen Minderheiten ausdrücklich das Recht zu, sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Neben den genannten negativen Rechten gewährt Art. 14 IPBPR, der sich mit Gerichtsverhandlungen befasst, den Individuen auch ein positives Sprachenrecht. Den Angeklagten wird explizit ein Anspruch zugestanden, in einer ihnen verständlichen Sprache über die gegen sie erhobenen Vorwürfe unterrichtet zu werden und während des Verfahrens gegebenenfalls unentgeltlich einen Dolmetscher hinzuziehen zu können. Weit über die maßgeblichen Menschenrechtsdokumente hinausgehende Bestimmungen enthält die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen. Die Geltung der Charta beschränkt sich freilich auf die – bis dato 25 – Staaten, die sich zu ihrer Ratifikation entschlossen haben. Auch in den Rechtsordnungen demokratisch verfasster Staaten sind in verschiedener Form Sprachenrechte verankert. Ähnlich den vorstehend erwähnten Menschenrechtspakten nennt z. B. Art. 3 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes die Sprache als einen Faktor, der keine diskriminierende Behandlung zulässt. Nach herrschender Auffassung beinhaltet ferner die in Art. 5 GG geschützte Meinungsund Pressefreiheit das Recht, sich in der Sprache seiner Wahl zu äußern. Die vollumfängliche Gewährung negativer Sprachenrechte, die die deutsche Rechtsordnung auszeichnet, ist in modernen Demokratien aber keineswegs selbstverständlich. So enthält z. B. die französische Rechtsordnung verschiedene Bestimmungen, die die freie Sprachwahl der Individuen in der Privatsphäre einschränken. Die Regelungen betreffen primär gesellschaftliche Bereiche, wie etwa Wirtschaft oder Wissenschaft, in denen eine zunehmende Verdrängung der französischen durch die englische Sprache zu beobachten ist. So wird z. B. in Frankreich den Anbietern von Waren und Dienstleistungen verbindlich vorgeschrieben, für ihre Produkte in der französischen Sprache zu werben.5 Zusätzlich zu den genannten Schutzrechten verfügen kulturelle Minderheiten in vielen demokratischen Staaten über einen rechtlichen Anspruch auf Verwendung ihrer Sprache als Amts- und/ Green, S. 660 ff. Frankreich bestimmt der zweite Artikel des sogenannten „Loi Toubon“: „Dans la désignation, l’offre, la présentation, le mode d’emploi ou d’utilisation, la description de l’etendue et des conditions de garantie d’un bien, d’un produit ou d’un service, ainsi que dans les factures et quittances, l’emploi de la langue francaise est obligatoire. Les mêmes dispositions s’appliquent à toute publicité écrite, parlée ou audiovisuelle“. 4 Vgl. 5  In

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oder Schulsprache. So kann z. B. in Deutschland die Gemeinschaft der Sorben gemäß Art. 6 Abs. 1 der sächsischen Landesverfassung die Einrichtung öffentlicher Schulen verlangen, an denen Unterricht in sorbischer Sprache angeboten wird. b)  Die philosophische Diskussion Im Blickpunkt philosophischer Arbeiten, die sich mit dem Thema Sprachenrecht befassen, steht zumeist die Frage nach ihrer moralischen Legitimation. Besondere Aufmerksamkeit hat die Rechtfertigung positiver Anspruchsrechte gefunden, die die Angehörigen kultureller Gemeinschaften vom Staat einfordern können. Zur Begründung von Kollektivrechten im Bereich der Amts- und Schulsprache wird gewöhnlich auf die Bedeutung abgestellt, die ihr Besitz für die Gruppenmitglieder hat. Das Interesse an positiven Sprachenrechten erklärt sich zunächst aus dem instrumentellen Wert, den sie für das Erreichen individueller Ziele haben. In modernen Staaten, die sich durch eine hohe Regelungsdichte auszeichnen, können die Bürger bei vielen ihrer Vorhaben nicht umhin, mit staatlichen Behörden in Kontakt zu treten. Wer z. B. ein Kraftfahrzeug nutzen oder ein Gewerbe betreiben will, muss sich über die relevanten rechtlichen Bestimmungen informieren und bei der zuständigen staatlichen Stelle eine Genehmigung einholen. Die dazu erforderliche Kommunikation mit der Behörde wird erheblich erschwert, wenn sich der Antragsteller einer Sprache bedienen muss, die er nicht oder nur defizitär beherrscht. Auch die schulischen Erfolgsaussichten eines Kindes hängen wesentlich davon ab, ob der Unterricht in der Sprache seiner Eltern abgehalten wird. Insofern kann es im Interesse kultureller Minderheiten liegen, über einen staatlich garantierten Zugang zu muttersprachlichem Unterricht zu verfügen.6 Positive Sprachenrechte werden jedoch nicht nur deshalb für wichtig erachtet, weil sie den Individuen helfen, ihre jeweiligen Ziele zu realisieren. Zwei weitere Momente können ihrer Wertschätzung zugrunde liegen: Zum einen leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Erhalt einer Sprache und der mit ihr verbundenen kulturellen Praktiken; zum anderen bringen sie symbolisch die gesellschaftliche Anerkennung für die kulturelle Besonderheit einer Bevölkerungsgruppe zum Ausdruck. Dem Fortbestand der Muttersprache wird nicht nur von Menschen Bedeutung beigemessen, die auf sie als Mittel der Verständigung angewiesen sind. Auch Personen, die eine oder mehrere andere Sprachen beherrschen, empfinden das Aussterben der Sprache, mit der sie aufgewachsen sind, oftmals als Verlust. Die Muttersprache ist Trägerin zahlreicher Erinnerungen und stellt einen wichtigen Bestandteil der individuellen Lebensgeschichte dar. Darüber hinaus kann auch das Bewusstsein, einer bestimmten kulturellen Tradition verpflichtet zu sein, Perso-

6  Wenn

auf dem Arbeitsmarkt ausschließlich oder ganz überwiegend Kompetenzen in der Mehrheitssprache nachgefragt werden, können für Minderheiten freilich Anreize entstehen, auf muttersprachlichen Unterricht zu verzichten.

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nen, die nicht mehr die Sprache ihrer Vorfahren erlernt haben, motivieren, sich für deren Erhalt einzusetzen.7 Die Entscheidungen, die bezüglich der Amts- und Schulsprachen getroffen werden, haben ferner eine nicht zu unterschätzende symbolische Bedeutung.8 Sie gelten insbesondere den Angehörigen von Minderheiten gegenüber häufig als Ausdruck des kulturellen Selbstverständnisses des Staates. Die Berücksichtigung einer Minderheitensprache als offizielle Landessprache signalisiert der betreffenden kulturellen Gruppe, dass sie von der Bevölkerungsmehrheit als fester Bestandteil der politischen Gemeinschaft betrachtet wird. Sie wird von ihren Mitgliedern gewöhnlich als Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung für ihre besondere kulturelle und sprachliche Identität gedeutet. Umgekehrt wird die Weigerung, eine Minderheitensprache in den Rang einer Amts- und Schulsprache zu erheben, nicht selten als Akt der Ausgrenzung wahrgenommen. Die fehlende Bereitschaft, ihrer Sprache einen gleichberechtigten Status zuzuerkennen, erscheint aus Sicht der Minorität symptomatisch für die Geringschätzung, die ihrer Kultur von Seiten der Mehrheit entgegengebracht wird. 3. Selbstbestimmungsrecht a)  Internationales und staatliches Recht Das Selbstbestimmungsrecht stellt, da es nur von einer Gruppe als Ganzes wahrgenommen werden kann, ein Beispiel für den zweiten Typus kollektiver Rechte dar.9 Völkerrechtliche Bedeutung hat das Prinzip der Selbstbestimmung erstmals durch die Charta der Vereinten Nationen erlangt, die am 25. Juni 1945 beschlossen wurde. Zu den grundlegenden Zielen der Organisation erklärt Art. 1: „The Pur­ poses of the United Nations are: […]; 2. To develop friendly relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-determination of peoples, and to take other appropriate measures to strengthen universal peace […].“ Der herrschenden Auffassung in der Völkerrechtslehre zufolge konstituiert die Charta der Vereinten Nationen aber noch kein Recht auf Selbstbestimmung. Sowohl Art. 1 als auch Art. 55, der eine gleichlautende Formulierung enthält, benennen lediglich 7  Auch zur Verteidigung von Eingriffen in die negativen Sprachenrechte der Mehrheit ist in der philosophischen Diskussion der besondere Wert betont worden, den die Mitglieder kultureller Minderheiten dem Erhalt ihrer Sprache beimessen. Das Ziel, den Fortbestand einer gefährdeten Sprache langfristig zu sichern, sei bedeutend genug, um eng begrenzte Eingriffe in die individuellen Freiheitsrechte zu legitimieren (vgl. Brett, S. 353 ff. und Taylor, S. 43 ff.). 8 Vgl. Levy 2000, 235 ff. 9  In der philosophischen Diskussion bemühen sich verschiedene Autoren, ein moralisches Recht auf politische Selbstbestimmung unter Bezugnahme auf die individuelle Assoziationsfreiheit zu begründen. Die Entscheidung für die Unabhängigkeit muss aber auch hier von der Bevölkerung eines Teilgebiets kollektiv – häufig gegen den Willen einer dem etablierten Staat loyal gesinnten Minderheit – getroffen werden (siehe II. 3. b) und IV. 1.).

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Ziele, deren Verwirklichung die internationale Staatengemeinschaft anstrebt, und haben insofern deklaratorischen Charakter. Auch die Bezeichnung als Prinzip, die in beiden Artikeln gebraucht wird, steht nach überwiegender Meinung der Ableitung konkreter Rechtsansprüche entgegen.10 Zentrale Bedeutung für die Entstehung eines Rechts auf Selbstbestimmung besitzt die Resolution 1514 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der sie 1960 die Beendigung der Kolonialherrschaft gefordert hat. Im Text der Entschließung heißt es: „[…] All peoples have the right to self-determination; by virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development […]“ (Res. 1514 XV). Eine von der Generalversammlung verabschiedete Resolution hat zwar grundsätzlich nur den Status einer Empfehlung, die keine unmittelbare Rechtswirkung entfaltet. Da sie die Mitglieder der Vereinten Nationen einstimmig angenommen haben, darf aber von einem geteilten Rechtsverständnis der gesamten Staatengemeinschaft ausgegangen werden. Im Prozess der Entkolonialisierung hat die Forderung, frei von Fremdherrschaft zu leben, unter expliziter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht in einer Vielzahl von Fällen Anerkennung gefunden. Die Verlautbarungen der Staatengemeinschaft und ihr tatsächliches Verhalten haben somit eine gewohnheitsrechtliche Grundlage für die Selbstbestimmung der Völker geschaffen.11 Eine vertragliche Verankerung findet das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Menschenrechtspakten, die die Vereinten Nationen im Jahre 1966 initiiert haben. In beiden Pakten bestimmt Art. 1 Abs. 1 gleich lautend: „All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.“ Eine viel beachtete Aussage zum Selbstbestimmungsrecht hat ferner die „Friendly Relations Declaration“ getroffen, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1970 einstimmig angenommen wurde. In der Passage der Deklaration, die sich mit der Selbstbestimmung der Völker befasst, werden erstmals verschiedene Formen konkretisiert, in denen das Recht ausgeübt werden kann. Die an erster Stelle genannte Bildung eines souveränen und unabhängigen Staates lässt keinen Zweifel daran, dass das Selbstbestimmungsrecht den Anspruch auf einen eigenen Staat umfasst.12 Die Praxis der Staatengemeinschaft und die Menschenrechtspakte geben der Selbstbestimmung der Völker eine sichere Grundlage im Gewohnheits- wie auch Vertragsrecht. Bei der Interpretation des Selbstbestimmungsrechts sieht sich die Völkerrechtslehre aber mit gravierenden Problemen konfrontiert. Auf den ersten Blick lässt der Anspruch auf Eigenstaatlichkeit, über den die Rechtsträger scheinHannum, S. 33 f. Ipsen, S. 389 ff. 12 Die maßgebliche Textpassage lautet wie folgt: „The establishment of a sovereign and independent State, the free association or integration with an independent State or the emerg­ence into any other political status freely determined by a people constitute modes of implementing the right of self-determination by that people“ (Res. 2625 XXV). 10 Vgl. 11 

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bar verfügen, die Abspaltung von einem anerkannten Staat zu. Eine Deutung des Selbstbestimmungsrechts als Befugnis zur Sezession gerät aber unweigerlich in Konflikt mit anderen grundlegenden Normen des Völkerrechts. Sie widerstreitet insbesondere dem Souveränitätsprinzip, das allen Staaten die ausschließliche Entscheidungsgewalt über ihre inneren Angelegenheiten zuspricht. Indem die Charta der Vereinten Nationen das Prinzip der territorialen Integrität eigens erwähnt, unterstreicht sie die herausgehobene Bedeutung, die der Schutz der räumlichen Grenzen von Staaten besitzt.13 Die Sezession eines Landesteils, die den Hoheitsraum des betroffenen Staates gegen seinen Willen beschneidet, läuft somit seinem Anspruch auf Souveränität entgegen. Innerstaatlich spielt das Selbstbestimmungsrecht von Teilgruppen – verstanden als Sezessionsrecht – nur eine untergeordnete Rolle. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Staaten in ihren Verfassungstexten kein vollumfängliches Recht auf politische Unabhängigkeit anerkannt. In der Vergangenheit haben – zumindest formaliter – die Sowjetunion in Art. 72 ihrer Verfassung und Jugoslawien in der Präambel der Verfassung von 1974 ihren Teilrepubliken ein Recht auf Sezession zugestanden.14 Gegenwärtig findet sich ein Sezessionsrecht in Art. 39 der Verfassung von Äthiopien sowie in Art. 115 in Verbindung mit Art. 113 der Verfassung von St. Kitts und Nevis.15 Ferner hat der oberste kanadische Gerichtshof 1998 in einem Gutachten erklärt, der mit einer „klaren Mehrheit“ zum Ausdruck gebrachte Wunsch der Provinz Quebec, die politische Unabhängigkeit zu erlangen, dürfe von der Bundesregierung nicht ignoriert werden.16 Im gleichen Jahr hat Großbritannien im so genannten „Good Friday Agreement“ Nordirland die Möglichkeit der Abspaltung und Vereinigung mit der Republik Irland eingeräumt.17 Zudem hat Großbritannien der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in Schottland zugestimmt, das am 18. September 2014 mit 44,8 % Ja-Stimmen nur knapp gescheitert ist. b)  Die philosophische Diskussion Die Positionen, die in der politischen Philosophie zur Legitimation von Sezessionen vertreten werden, lassen sich in drei Gruppen unterteilen. In grundsätzlicher Opposition stehen die als „remedial right theories“ und die als „primary right theories“ bezeichneten Begründungsansätze zueinander. Bezüglich der zuletzt genann13  Im Kapitel 1 der Charta, in dem die leitenden Ziele und Prinzipien der Weltgemeinschaft – darunter auch die Selbstbestimmung der Völker – dargelegt werden, heißt es im zweiten Artikel: „[…] 1. The Organization is based on the principle of the sovereign equality of all its Members. […] 4. All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state […].“. 14 Vgl. Cassese, S. 16 und Radan, S. 195 ff. 15 Vgl. Pavković/Radan, S. 228 f.; Jovanović, S. 136 ff. 16  Des Rosiers. 17 Vgl. Jovanović, S. 144 ff.

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ten Konzeptionen kann eine weitere Unterscheidung zwischen nationalistischen und individualistischen Varianten getroffen werden. Die Vertreter der drei Theorierichtungen stimmen insoweit überein, keine prinzipiell ablehnende Haltung zu separatistischen Bestrebungen einzunehmen. Praktisch alle an der Diskussion beteiligten Autoren halten unter bestimmten Umständen die Forderungen einzelner Bevölkerungsteile nach politischer Unabhängigkeit für gerechtfertigt. Die Bedingungen, an die sie die Legitimität von Gebietsabspaltungen knüpfen, und mithin der Umfang des von ihnen befürworteten moralischen Sezessionsrechts differieren jedoch erheblich.18 Die Anhänger der „remedial right theories“ behandeln das Recht, einen unabhängigen Staat ins Leben zu rufen, analog zum Widerstandsrecht. Aus ihrer Sicht ist die Abspaltung eines Landesteils nur dann erlaubt, wenn sie der Beendigung einer ungerechten Herrschaftsausübung des Staates dient. Die ungerechten Handlungen, die eine Sezession rechtfertigen können, werden von den Vertretern der „remedial right theories“ z. T. unterschiedlich bestimmt. Sie nennen aber übereinstimmend die unrechtmäßige Annexion des betreffenden Gebietes und die schwerwiegende Verletzung elementarer Menschenrechte als Legitimationsgründe. Der Wille einer Bevölkerungsgruppe, eine selbständige politische Gemeinschaft zu gründen, konstituiert aus ihrer Sicht keinen Anspruch auf einen eigenen Staat. Dieser Auffassung widersprechen die Verfechter von „primary right theories“, die ein grundlegendes, also nicht erst durch ungerechte Behandlung entstehendes Recht auf Sezession vertreten. Die nationalistischen und die individualistischen Versionen der „primary right theories“ unterscheiden sich hinsichtlich der Festlegung, wer als Inhaber des Sezessionsrechts zu gelten hat. Die Autoren, die die erstgenannte Theorierichtung vertreten, stellen den Gedanken der nationalen Selbstbestimmung in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Ihrer Überzeugung nach sind allein Bevölkerungsgruppen, die als Nation betrachtet werden können, zur Sezession und Gründung eines eigenen Staates berechtigt. Im Gegensatz zu der zuvor skizzierten Position verlangen sie von einer nationalen Gemeinschaft keine besonderen Rechtfertigungsgründe für ihr Unabhängigkeitsbegehren. Aus ihrer Sicht haben z. B. die Basken allein deshalb ein Recht, eine freie Entscheidung über die Sezession zu treffen, weil sie eine Nation verkörpern. Ihr Anspruch auf politische Selbstbestimmung hängt nicht davon ab, ob sie seitens der spanischen Zentralgewalt in moralisch unzulässiger Weise behandelt werden. Die Vertreter individualistischer „primary right theories“ bestreiten hingegen, dass ausnahmslos nationale Gemeinschaften ein Sezessionsrecht besitzen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist nicht die Idee der nationalen Selbstbestimmung, sondern ein individuelles Recht auf Vereinigungsfreiheit. Im Prinzip halten sie jede beliebige Assoziation von Individuen für befugt, aus der vorhandenen politi18  Als wichtigste Arbeiten zur „remedial right theory“ können Buchanan 1991 und 2004 gelten; Beispiele für nationalistische Formen der „primary right theories“ bieten Margalit/ Raz, Miller und Moore; individualistische Varianten der „primary right theories“ repräsentieren Beran, Gauthier und Wellman.

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schen Gemeinschaft auszutreten und einen neuen Staat ins Leben zu rufen. Wenn sie Einschränkungen des Sezessionsrechts vornehmen, dann gewöhnlich um individuelle Freiheiten zu schützen und z. B. die Unterdrückung von Minderheiten durch die Separatisten zu verhindern. Die individualistischen Varianten der „primary right theories“ lassen die Abspaltung von Teilgebieten in mehr Fällen als die konkurrierenden Positionen zu, weil sie weder das Erleiden von Unrecht zur Bedingung erheben noch besondere Anforderungen an die Rechtsträger stellen.

III.  Philosophische Impulse für die Rechtswissenschaften Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen zum Sprachen- und Selbstbestimmungsrecht lässt sich nun die Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit an konkreten Beispielen erörtern. Im vorliegenden Abschnitt gilt es zunächst darzulegen, welche Bedeutung Diskussionen, die in der Philosophie geführt werden, für die Behandlung rechtswissenschaftlicher Fragen haben können. Zum einen soll mit Bezug auf das Sprachenrecht gezeigt werden, inwiefern philosophische Überlegungen bei der Interpretation auslegungsbedürftiger Rechtsnormen hilfreich sein können (3.1). Zum anderen soll am Beispiel des Selbstbestimmungsrechts verdeutlicht werden, inwiefern philosophische Theorien einen Beitrag zur Lösung von Normkonflikten im Recht leisten können (3.2). 1.  Die Interpretation von Rechtsnormen Die Sprache findet, wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, sowohl im Völkerrecht wie auch im Verfassungsrecht im Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz Berücksichtigung. Neben Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und Religion wird explizit auch die Sprache als eines der Merkmale genannt, auf deren Grundlage keine Ungleichbehandlung erfolgen darf. Welche Regelungen dem sprachlichen Diskriminierungsverbot im Einzelnen unterliegen, wird durch den Gleichheitsgrundsatz nicht näher bestimmt und bedarf insofern der rechtswissenschaftlichen Analyse. Ein gravierendes Problem ergibt sich aus der Praxis zahlreicher Staaten, zwischen Immigranten und Autochthonen zu differenzieren. Ansprüche auf Verwendung der eigenen Sprache als Amts- oder Schulsprache werden ausschließlich autochthonen Bevölkerungsgruppen zugestanden. So genießen z. B. in Deutschland die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein und die sorbische Minderheit in Sachsen, nicht jedoch die – zahlenmäßig weitaus größere – Gruppe der türkischstämmigen Einwanderer positive Sprachenrechte.19 Für die Untersuchung der Frage, ob die rechtliche Praxis dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht, kann sich die Einbeziehung der philosophischen Diskussion in verschiedener Hinsicht als lohnend erweisen. Zunächst gilt es zu prüfen, ob die 19  Eine

Ausnahme bildet der Anspruch auf einen Dolmetscher vor Gericht, der grundsätzlich jedem Angeklagten zusteht, der die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend spricht.

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Bedürfnisse, die mit der Gewährung positiver Sprachenrechte befriedigt werden sollen, eine Unterscheidung zwischen Immigranten und Autochthonen nahe legen. Der Besitz positiver Sprachenrechte kann, wie vorstehend dargelegt, aus drei Gründen von den Angehörigen kultureller Minoritäten begehrt werden. Ihnen kann erstens Bedeutung beigemessen werden, weil sie die Verwirklichung individueller Ziele erleichtern, zweitens, weil sie den Erhalt der Sprache fördern, und drittens, weil sie die Anerkennung ihrer kulturellen Identität zum Ausdruck bringen. Mit Blick auf die genannten Gründe ist zu fragen, ob sie für Immigranten die gleiche Bedeutung wie für Autochthone besitzen. Gruppen, die in ein Land einwandern, zeigen zwar zumeist eine größere Bereitschaft sich an die Mehrheitskultur anzupassen als angestammte Minoritäten. Der Wille zum Erlernen der Mehrheitssprache ist aber keineswegs garantiert und auch ernsthafte Anstrengungen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, können scheitern. Folglich können auch Angehörige von Immigrantengruppen ein instrumentelles Interesse haben, über Anspruchsrechte im Bereich der Amts- und Schulsprache zu verfügen. Der Fortbestand ihrer Sprache gibt Immigranten hingegen gewöhnlich keinen Grund, sich für positive Sprachenrechte einzusetzen. In der Regel hat die Sprache der Immigranten in ihrem Herkunftsland eine sichere Basis und ist, wie im Fall der türkischstämmigen Einwanderer, nicht vom Aussterben bedroht.20 Wenn sie eine besondere kulturelle Identität beibehalten haben, können sie aber die symbolische Anerkennung ihrer Gemeinschaft durch die Gewährung positiver Sprachenrechte für wichtig erachten. Insgesamt machen daher die Gründe, die zur Rechtfertigung positiver Sprachenrechte vorgebracht werden, die unterschiedliche Behandlung von Immigranten und Autochthonen nicht einsichtig. Neben den vorstehend genannten Wertaspekten verdienen zwei Rechtfertigungsstrategien Beachtung, die in der philosophischen Diskussion erörtert werden. Zum einen hat Will Kymlicka ein an die Vertragstheorie anknüpfendes Zustimmungsargument für die Ungleichbehandlung von Autochthonen und Immigranten vorgebracht. Demnach haben die Immigranten mit der Entscheidung, im Staat ansässig zu werden, ihre Zustimmung zu der dort geltenden Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht. Sie könnten mithin nicht verlangen, dass die bestehenden Regelungen des Sprachenrechts an ihre spezifischen kulturellen Interessen angepasst werden.21 Das angeführte Argument erscheint jedoch in zweierlei Hinsicht unbefriedigend. Erstens gilt es weder für Personen, die zum Zeitpunkt der Einreise minderjährig waren, noch für Angehörige nachfolgender, also im Land geborener Generationen. Ihnen kann wegen ihrer Unmündigkeit bzw. wegen des Fehlens einer als Einwilligung interpretierbaren Handlung keine Zustimmung zu der vorgefundenen Rechtsordnung unterstellt werden.22 Zweitens ist unklar, worauf genau sich die Zustimmung bezieht, die die Immigranten mutmaßlich erteilt haben. Mit 20  Allerdings können sich, wie das Beispiel der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein deutlich macht, nicht alle autochthonen Gruppen auf den zweiten Grund berufen. 21 Vgl. Kymlicka, S. 95 ff. 22 Vgl. Mason, S. 270.

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dem Akt der Einwanderung haben sie möglicherweise nicht alle rechtlichen Detailregelungen, wie etwa sprachenrechtliche Bestimmungen, sondern lediglich die grundlegenden Verfassungsprinzipien anerkannt. Wenn sie sich aber nur mit zentralen Verfassungsprinzipen, wie dem Gleichheitsgrundsatz, einverstanden erklärt haben, können sie sehr wohl den diskriminierenden Charakter des geltenden Sprachenrechts beanstanden. Zum anderen hat – worauf die zweite Rechtfertigungsstrategie hinweist – der Staat die Möglichkeit, dem Gebot der Gleichbehandlung Rechnung zu tragen, indem er bei der Differenzierung zwischen eingesessenen Bevölkerungsgruppen und Immigranten einer allgemeingültigen Regel folgt. Der Staat kann grundsätzlich jeder kulturellen Gemeinschaft, deren Mitglieder dauerhaft im Land leben, einen Anspruch auf Gewährung positiver Sprachenrechte zugestehen. Da aber seine Leistungsfähigkeit begrenzt ist, kann er nach Kriterien, die in gleicher Weise auf Autochthone und Immigranten Anwendung finden, Einschränkungen vornehmen. So kann z. B. der Staat nur kulturellen Gemeinschaften, die in einer Region einen bestimmten Prozentsatz an der Bevölkerung stellen, ein (regionales) Amtssprachenrecht zugestehen. Damit läuft er nicht Gefahr, hohe Kosten aufwenden zu müssen, um Dienstleistungen der Verwaltung auch in der Sprache sehr kleiner Gemeinschaften anzubieten. Da Immigranten zumeist über das Land verteilt leben, während sich autochthone Gruppen stärker in ihren traditionellen Siedlungsgebieten konzentrieren, kann so ihre unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt werden.23 Die Differenzierung erklärt sich dann nicht aus der Bevorzugung einer oder mehrerer Sprachen, sondern aus der Notwendigkeit, eine finanzielle Überforderung der öffentlichen Hand zu vermeiden. Allerdings schließt die vorstehende Argumentation die Gewährung positiver Sprachenrechte für Immigrantengruppen nicht prinzipiell aus; wenn sie das festgelegte Kriterium erfüllen, können sie auf der Basis des Gleichheitsgrundsatzes die Anerkennung ihrer Sprache als Amtssprache einfordern. 2.  Normkonflikte im Recht Ein wichtiges Beispiel für eine rechtsinterne Normkollision bietet der Widerspruch, der zwischen dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung und dem Recht der Staaten auf territoriale Integrität besteht. In der Völkerrechtslehre hat zunächst die Auffassung dominiert, die Staatensouveränität müsse als die grundlegendere Rechtsnorm angesehen werden. Die Geltung des Selbstbestimmungsrechts war nach überwiegender Meinung auf den Prozess der Entkolonialisierung beschränkt, d. h. nur Kolonialvölkern wurde das Recht zugestanden, sich von Fremdherrschaft zu befreien. Erste Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Interpretation kamen schon zu Beginn der 70er Jahre auf, als sich Ost-Bengalen (Bangladesch) von Pakistan abspalten und schnell internationale Anerkennung erlangen konnte. Die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts konnte hier – in Ermangelung einer 23 Vgl.

Dietrich 2004, S. 15 ff.

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Kolonialmacht – nicht als ein Akt der Entkolonialisierung verstanden werden.24 Noch gravierendere Probleme für die vorstehend skizzierte Position haben die Vorgänge aufgeworfen, die zum Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens im Jahre 1991 geführt haben. Die Reaktion, die die meisten Staaten auf die Sezession z. B. Estlands oder Sloweniens gezeigt haben, lässt sich nur schwer mit der Annahme eines auf den kolonialen Kontext begrenzten Selbstbestimmungsrechts in Einklang bringen. In der Völkerrechtslehre wird zunehmend die Auffassung vertreten, die Wahrnehmung der mit der Staatensouveränität verbundenen Rechte sei an Bedingungen gebunden. Insbesondere könne ein Staat, der die Menschenrechte seiner Bürger in gravierender Weise verletzt, keinen Anspruch auf territoriale Integrität geltend machen. Folglich könne eine als „Volk“ qualifizierte Bevölkerungsgruppe, die massiver Verfolgung oder Unterdrückung ausgesetzt ist, das Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nehmen, ohne die Souveränitätsrechte des Staates zu verletzen. So schreibt z. B. Robert McCorquodale: „The right of self-determination applies to all situations where peoples are subject to oppression by subjugation, domination and exploitation by others. It is applicable to all territories, colonial or not, and to all peoples“.25 Die in dem angeführten Zitat dargelegte Position kann der Rolle, die das Selbstbestimmungsrecht im Prozess der Entkolonialisierung gespielt hat, unschwer gerecht werden. Die europäischen Kolonialsysteme in Asien und Afrika waren durch ein Ausmaß an Unterdrückung gekennzeichnet, das die Bildung unabhängiger Staaten gerechtfertigt hat. Darüber hinaus bietet die Interpretation den Vorteil, die Bedeutung erklären zu können, die das Selbstbestimmungsrecht in nichtkolonialen Fällen erlangt hat. Ihre Anhänger können sich aber nicht nur auf die veränderte Haltung, die die Staatengemeinschaft zu Sezessionen eingenommen hat, sondern auch auf wichtige Rechtsdokumente berufen. Neben den schon erwähnten Menschenrechtspakten verweisen sie insbesondere auf eine Passage aus der „Friendly Relations Declaration“, in der der Anspruch auf territoriale Integrität ausdrücklich auf Staaten bezogen wird, die die gesamte Bevölkerung repräsentieren und sich rassischer wie auch weltanschaulicher Diskriminierung enthalten.26 Nach Einschätzung vieler Völkerrechtler werden in dem Text der Deklaration erstmals 24  Eine frühe Formulierung dieser Position findet sich bei Buchheit, der bereits im Jahre 1978 zu der folgenden Einschätzung gelangt ist: „[The] image of the State as a privileged but not absolutely unassailable entity has apparently now been accepted by the international community. […] The international reaction to a situation like Bangla Desh […] confirms the belief that the world community has accepted the legitimacy of secession as a self-help remedy in cases of extreme oppression“ (Buchheit, S. 221 f.; vgl. Nanda, S. 275 ff.). 25  McCorquodale, S. 883. 26 Im Anschluss an die Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht heißt es dort: „Nothing in the foregoing paragraphs shall be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of sovereign and independent States conducting themselves in compliance with the principle of equal rights and self-determination of peoples as described above and thus

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Bedingungen genannt, von deren Erfüllung der Besitz bedeutender Souveränitätsrechte abhängt. Demnach kann ein Staat, der ein unter seiner Herrschaft stehendes Volk ausgrenzt und massiv unterdrückt, keine Rechte geltend machen, die einer Sezession widersprechen.27, 28 Eine an der Verletzung von Menschenrechten orientierte Interpretation des Selbstbestimmungsrechts sieht sich jedoch mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Staatenpraxis ergibt zurzeit noch insofern ein heterogenes Bild, als z. B. Tschetschenen oder Tibetern ungeachtet der offenkundigen Missachtung ihrer Menschenrechte keine Befugnis zur Sezession zugestanden wird. Zudem finden sich weder im Völkergewohnheits- noch im Völkervertragsrecht detailliert ausgearbeitete Kriterien für die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts. Hier mag sich für die Völkerrechtslehre die Befassung mit den „remedial right theories“ der Sezession als lohnend erweisen, die in der philosophischen Diskussion eine wichtige Rolle spielen (siehe Abs. 2.3.2). Ihre Anhänger vertreten die Auffassung, ein (moralisches) Recht zur Sezession könne nur von Bevölkerungsgruppen geltend gemacht werden, die einen gravierenden Beschwerdegrund gegen den existierenden Staat haben. Sie stimmen insofern mit dem Grundgedanken der vorstehend dargelegten völkerrechtlichen Interpretation des Selbstbestimmungsrechts überein.29 Im Rahmen der „remedial right theories“ sind die Kriterien, denen eine Sezession genügen muss, um als gerechtfertigt gelten zu können, ausführlich thematisiert worden. So finden sich z. B. in den Arbeiten Allen Buchanans interessante Überlegungen zu der Frage, wie die Vorenthaltung demokratischer Institutionen und der Bruch innerstaatlicher Autonomieabkommen zu bewerten seien.30 Die dort vorgebrachten Argumente können wichtige Anregungen für die rechtswissenschaftliche Analyse der vorstehend skizzierten Problematik enthalten.

IV.  Rechtswissenschaftliche Impulse für die Philosophie Die bisherigen Überlegungen haben auf die Bedeutung hingewiesen, die philosophische Arbeiten für die Beantwortung rechtswissenschaftlicher Fragen haben können. Im Weiteren gilt es – wiederum am Beispiel der kollektiven Rechte – die Beziehung beider Disziplinen unter umgekehrten Vorzeichen zu betrachten. Zunächst soll gezeigt werden, inwiefern rechtswissenschaftliche Beiträge für Kohäpossessed of a government representing the whole people belonging to the territory without distinction as to race, creed or colour“ (Res. 2625 XXV). 27 Vgl. Ipsen, S. 422 f. 28  Erwähnung verdient hier auch das Kosovo-Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 22. Juli 2010, das die Frage, ob die Abspaltung von Serbien gegen geltendes Völkerrecht verstößt, negativ beantwortet. 29  Für die Vertreter von „remedial right theories“ spielt die Frage, ob eine vom Staat verfolgte Minderheit ein „Volk“ konstituiert, keine Rolle; sie erkennen im Unterschied zum Völkerrecht allen Gruppen, die gravierendem staatlichen Unrecht ausgesetzt sind, ein Sezessionsrecht zu. 30 Vgl. Buchanan 2004, S. 142 ff und 357 ff.

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renzargumente philosophischer Autoren eine wichtige Rolle spielen können (4.1). Sodann soll verdeutlicht werden, inwiefern sie für die Behandlung neuer oder bislang vernachlässigter philosophischer Probleme Bedeutung haben können (4.2). 1.  Rechtsnormen als Ausgangspunkt von Kohärenzargumenten Bei der Rechtsetzung finden neben anderen Gesichtspunkten nicht selten auch moralische Überzeugungen des Gesetzgebers Berücksichtigung. Viele Rechtsnormen haben eine moralische Grundlage und können auf die Wertvorstellungen hin untersucht werden, die für ihre Erzeugung maßgeblich waren. In demokratischen Staaten, in denen die Repräsentanten des Volkes die Gesetze erlassen, bringt das Recht den Mehrheitswillen zum Ausdruck. Insofern kann im geltenden Recht ein Indiz für die Werthaltungen gesehen werden, die von den meisten Gesellschaftsmitgliedern eingenommen werden. Zudem gewähren demokratische Staaten grundlegende Freiheitsrechte, die den Bürgern die Möglichkeit geben, Kritik zu artikulieren. Somit kann auch das Ausbleiben von Protest gegen geltende rechtliche Bestimmungen als Indiz für eine mehrheitliche Zustimmung gewertet werden.31 In philosophischen Arbeiten können die moralischen Informationen, die im Recht enthalten sind, als Ausgangspunkt für Kohärenzargumente dienen. Dazu müssen in einem ersten Schritt die Wertvorstellungen rekonstruiert werden, auf denen die relevanten rechtlichen Regelungen beruhen. Dabei können sich rechtswissenschaftliche Analysen, die sich bemühen, die Intentionen des Gesetzgebers und die wertmäßigen Grundlagen der Rechtsnormen zu klären, als hilfreich erweisen. Im nächsten Schritt können kohärenztheoretische Argumentationen dann die Konsequenzen aufzeigen, die die Akzeptanz einer Rechtsnorm für andere Regelungsbereiche hat. Damit führen sie Personen, die eine Rechtsnorm A moralisch billigen, Gründe vor Augen, auch die Schaffung oder Änderung einer Rechtsnorm B zu befürworten. Denn um eine widerspruchsfreie Position einzunehmen, müssen sie bereit sein, die moralischen Prinzipien, die sie der Bewertung von Rechtsnorm A zugrunde legen, auch auf die Rechtsnorm B anzuwenden. Ein Beispiel für die vorstehend skizzierte Argumentation bieten verschiedene Varianten der „primary right theories“ der Sezession. Wie im zweiten Abschnitt erläutert, sprechen „primary right theories“ grundsätzlich allen Bevölkerungsgruppen, die über eine geeignete territoriale Basis verfügen, einen moralischen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit zu. Viele Vertreter von „primary right theories“ berufen sich ausdrücklich auf Wertvorstellungen, die demokratischen Verfassungen zugrunde liegen.32 Als Anknüpfungspunkt ihrer Argumentation fungieren insbesondere das Prinzip der Volkssouveränität, das Recht auf Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freizügigkeit. Ihrer Auffassung nach sprechen die moralischen 31  Selbstverständlich handelt es sich nur um Anfangsvermutungen, die einer näheren Prüfung bedürfen und sich als falsch erweisen können. 32  Beispiele finden sich in Beran, S. 25 f.; Philpott, S. 355 ff.; Copp, S. 290 ff.; Wellman, S. 35 ff. und Dietrich 2007 sowie 2010, S. 242 ff.

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Überlegungen, die die Bürger zur Anerkennung der genannten Verfassungsnormen bewegen, auch für die Billigung eines konstitutiven Sezessionsrechts. Die kohärenztheoretische Begründungsstrategie, derer sich viele Anhänger der „primary right theories“ bedienen, soll im Weiteren am Beispiel der Vereinigungsfreiheit veranschaulicht werden. Das Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit hat eine negative und eine positive Seite; es verbürgt den Individuen sowohl die Freiheit von als auch die Freiheit zur Vereinigung. Im negativen Sinne schützt es die Rechtsträger vor der erzwungenen Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft und sichert ihnen die Möglichkeit des Austritts zu. Im positiven Sinne räumt es ihnen die Befugnis ein, sich mit Gleichgesinnten zur Verfolgung wirtschaftlicher, politischer, religiöser oder sonstiger Interessen zu verbinden.33 Die grundrechtliche Garantie der Vereinigungsfreiheit, die sich in allen modernen Demokratien findet, trägt wichtigen moralischen Überzeugungen Rechnung. Sie erkennt zum einen die immense Bedeutung an, die die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften gewöhnlich für das Leben der Bürger besitzt. Durch das Recht, Vereinigungen zu gründen und in ihnen zusammenzuwirken, wird den Individuen die Möglichkeit gegeben, die sozialen Aspekte ihrer Autonomie zu verwirklichen. Zum anderen zeigt sie sich für die Gefahren sensibel, die von Gemeinschaften ausgehen, die die Selbstbestimmung der Bürger nicht respektieren und Zwang gegen sie ausüben. Die negative Seite der Vereinigungsfreiheit verfolgt das Ziel, die Individuen vor der Mitgliedschaft in Assoziationen zu bewahren, die sie gegen ihren Willen vereinnahmen wollen. Das in den Verfassungen demokratischer Staaten verankerte Recht auf individuelle Vereinigungsfreiheit bezieht sich ausschließlich auf den innergesellschaftlichen Bereich. Der Staat wird als übergeordnete Gemeinschaft angesehen, auf die der Grundsatz der freien Assoziation keine Anwendung findet. Die im Vorstehenden kurz umrissenen Wertüberzeugungen, auf denen die Vereinigungsfreiheit basiert, legen eine derartige Einschränkung aber nicht nahe. Wenn das Recht, Gemeinschaften bilden bzw. ihnen fernbleiben zu können, eine zentrale Bedeutung für die Individuen besitzt, kann die staatliche Organisation nicht plausibel ausgenommen werden. Die Schutzfunktion, die der Staat hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit und anderer individueller Grundrechte ausübt, vermag nicht ausreichend zu erklären, warum ihm ein Sonderstatus zukommt. Denn solange die Separatisten demokratische Prinzipien respektieren und bereit sind, in einem neu gebildeten Staat zentrale Freiheitsrechte zu gewähren, bleibt die Möglichkeit zur ungehinderten Assoziierung bestehen. Insofern sprechen die normativen Überzeugungen, die der individuellen Vereinigungsfreiheit zugrunde liegen, auch für die Anerkennung eines Sezessionsrechts. Im negativen Sinne erlaubt die Gewährung einer Austrittsoption den Bürgern, die Mitgliedschaft in einer staatlichen Gemeinschaft zu beenden, der sie nicht weiter angehören wollen. Im positiven Sinne gestattet das Sezessionsrecht den Individuen, sich zu einer politischen Assoziation zusammenzuschließen, die mit ihrem freien Willen in Einklang steht. 33 Vgl.

Zippelius/Würtenberger, S. 255 ff.

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Der Verweis auf die Wertvorstellungen, auf denen die individuelle Vereinigungsfreiheit basiert, spricht allerdings weniger eindeutig für die „primary right theories“ als es zunächst erscheinen mag. Zwar können sich die Befürworter eines konstitutionellen Sezessionsrechts auf die Bedeutung berufen, die der Möglichkeit der Individuen, Gemeinschaften zu verlassen, grundsätzlich zugesprochen wird. Die Entscheidung für die Unabhängigkeit einer Region wird aber praktisch nie einstimmig gefällt; in der Regel zieht eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner den Verbleib im bestehenden Staat vor. Auch die Minderheit, die in einem Referendum, das über die Sezession eines Landesteils abgehalten wird, unterliegt, kann die Werte, auf denen die Vereinigungsfreiheit basiert, für sich in Anspruch nehmen. Der erzwungene Austritt aus dem gegebenen Staat und der Einschluss in eine neue politische Gemeinschaft, die ihr zugemutet werden, widersprechen eindeutig dem Grundsatz der freien Assoziation. Insofern bedarf es einer weitergehenden Begründung, warum den Angehörigen der Minderheit abverlangt werden darf, die staatliche Zugehörigkeit gegen ihren Willen zu wechseln. Die Position der „primary right theories“ gewinnt durch die Bezugnahme auf die oben angeführten Verfassungsnormen nur eine Anfangsplausibilität. Ihre endgültige Bewertung muss davon abhängig gemacht werden, inwieweit ihre Proponenten in der Lage sind, Lösungen für weiterführende Probleme anzubieten.34 2.  Rechtsnormen als Quelle moralischer Informationen Die im Vorstehenden angesprochenen Wertaspekte des Rechts können innerhalb einer philosophischen Argumentation noch eine weitere Funktion übernehmen. Einige Probleme, die sich aus moralischer Perspektive stellen, werden in der philosophischen Literatur nicht oder nur unzureichend behandelt. So hat z. B. die Frage, wie die Güter einer Gemeinschaft im Fall ihrer Auflösung auf die Mitglieder verteilt werden sollen, in Theorien der distributiven Gerechtigkeit kaum Beachtung gefunden. Im Rahmen einer philosophischen Theorie der Sezession erscheint es aber notwendig, normative Prinzipien für die Aufteilung von Staatsvermögen und -schulden zu entwickeln. Hier kann ein Blick auf das Scheidungsrecht, in dem die wechselseitigen Ansprüche und Pflichten der Ehepartner geregelt werden, eine wichtige Orientierungshilfe bieten. Die Bestimmungen des Scheidungsrechts beruhen auf moralischen Grundsätzen, die sich möglicherweise auch auf die staatliche Gemeinschaft anwenden lassen. Die Befassung mit rechtswissenschaftlichen Arbeiten kann hier einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die normativen Leitgedanken des Scheidungsrechts angemessen zu verstehen. Grundsätzlich spricht das moderne Scheidungsrecht beiden Partnern einen Anspruch auf die Güter zu, die sie im Verlauf der Ehe gemeinsam erworben haben. In ähnlicher Weise sieht es auch beide Partner für die finanziellen Verpflichtungen, die sie z. B. für den Bau eines Hauses übernommen haben, in der Verantwortung. 34 Zum Mehrheitsprinzip im Kontext von Sezessionsentscheidungen siehe Beran, S.  25 f.; Gauthier, S. 359 ff sowie Dietrich 2010, S. 299 ff.

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Das Vermögen wie auch die Schulden, die sich in der ehelichen Gemeinschaft angesammelt haben, müssen im Fall der Trennung aufgeteilt werden. Der Gedanke einer beidseitigen Verantwortung für die Güter und Belastungen, die im Laufe des gemeinschaftlichen Zusammenlebens entstanden sind, lässt sich unschwer auf den Kontext der Sezession übertragen. Das Vermögen des Staates – öffentliche Gebäude, Währungsreserven, militärisches Gerät, etc. – geht im Wesentlichen auf die Einkünfte zurück, die er aus den Steuerzahlungen seiner Bürger bezogen hat. Im Unterschied zur Ehescheidung spielt die Frage, inwieweit die Parteien Eigentum in die Gemeinschaft mitgebracht haben, bei Sezessionen gewöhnlich keine Rolle. Der Staat kann im Kern als Zugewinngemeinschaft gelten, die im Laufe ihres Bestehens ein mehr oder minder großes Vermögen angesammelt hat.35 Auch die Schulden stellen in demokratischen Staaten das Ergebnis gemeinsamer parlamentarischer Entscheidungen dar. Sie sind aufgenommen worden, um z. B. Aufgaben im Bereich der Bildung oder Infrastruktur zu finanzieren, die in der Regel allen Regionen des Staates zu Gute kommen. Insofern scheint es auch bei der „politischen Scheidung“ geboten, eine Aufteilung der bestehenden Guthaben und Verpflichtungen zu fordern. Weder darf der etablierte Staat das gesamte öffentliche Vermögen für sich beanspruchen noch darf sich die nach Unabhängigkeit strebende Region weigern, einen angemessenen Teil der Staatsschulden zu übernehmen.36 Einen weiteren Problembereich, für den sich das Scheidungsrecht als Orientierungshilfe anbietet, stellen die Abhängigkeiten dar, die aus dem gemeinschaftlichen Zusammenleben resultieren können. Grundsätzlich wird einem Ehepartner, der sich z. B. durch seine alleinige Erwerbstätigkeit in der ökonomisch stärkeren Position befindet, die Möglichkeit der Scheidung nicht verwehrt. Aus der Rollenteilung, die in der ehelichen Gemeinschaft zwischen Beruf und Haushalt praktiziert wurde, können sich aber Verpflichtungen ergeben, die über die Trennung hinauswirken.37 Der berufstätige Teil muss auch nach der Scheidung Versorgungsleistungen erbringen, solange der Partner nicht in der Lage ist, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Leitend ist hier der Gedanke einer gemeinsamen Verantwortung beider Seiten für die Strukturen, die sich in der Ehe herausgebildet haben. Dabei wird allerdings dem wirtschaftlich schlechter gestellten Partner die Pflicht auferlegt, seinen Unterhalt nach der Scheidung so weit wie möglich selbst zu decken. Anspruchsberechtigt ist er im Regelfall nur für eine Übergangs-

35  Eine Ausnahme stellen allein Kulturgüter, wie überlieferte Dokumente oder Kunstschätze, dar, die als historisches Erbe einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gelten können. Für sie muss gegebenenfalls eine Sonderregelung getroffen werden, die die Sezessionsparteien zu ihrem wechselseitigen Austausch verpflichtet. 36  Die Festlegung von Kriterien, auf deren Basis sich die beidseitigen Ansprüche präzise bestimmen lassen, ist freilich – ähnlich der Ehescheidung – mit gravierenden Schwierigkeiten verbunden. 37 Vgl. Dethloff, S. 182 ff.

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zeit, in der er z. B. das gemeinsame Kind betreut oder sich beruflich weiterqualifiziert.38 Die normativen Prinzipien, die den im Vorstehenden skizzierten Regelungen des modernen Scheidungsrechts zugrunde liegen, lassen sich auch auf Sezessionen anwenden. Den Einwohnern einer Region, die wichtige Funktionen für andere Landesteile erfüllt, kann grundsätzlich das Recht zugesprochen werden, sich für die Bildung eines eigenständigen Staates zu entscheiden. Die Abhängigkeit anderer Gebiete, die durch das gemeinschaftliche Zusammenleben entstanden ist, kann aber analog zur Ehescheidung Folgepflichten begründen. So darf z. B. eine Region, die einen maßgeblichen Beitrag zur staatlichen Energieversorgung leistet, ihre Lieferungen nicht unmittelbar nach dem Vollzug der Trennung einstellen. Sie muss dem Staat, von dem sie sich abspaltet, Gelegenheit geben, eine eigene Produktion zu errichten oder mit anderen Anbietern eine verlässliche Kooperation aufzubauen. Ihre Pflicht zur Fortsetzung der Energielieferungen beschränkt sich aber auf den Zeitraum, der zur Überwindung der bestehenden Abhängigkeit als ausreichend erachtet werden kann. Wenn der Staat in der Übergangsphase keine ausreichenden Anstrengungen unternimmt, seine Energieversorgung auf eine andere Grundlage zu stellen, kann er keine weiteren Ansprüche erheben.39, 40 Die Orientierung am Recht und die Bezugnahme auf rechtswissenschaftliche Analysen macht aber eine eigenständige philosophische Untersuchung keineswegs überflüssig. Zum einen muss geprüft werden, ob es beachtenswerte Alternativen zu den moralischen Prinzipien gibt, die im Scheidungsrecht verankert sind. Zum anderen muss die Übertragbarkeit der normativen Grundsätze, auf denen das Scheidungsrecht fußt, auf andere Gemeinschaften kritisch hinterfragt werden.41 So können z. B. die Einwohner einer Region, die sich mehrheitlich für die Sezession aussprechen, auf einen wichtigen Unterschied zur Ehescheidung verweisen. Die Ehe beruht auf einer übereinstimmenden Willenserklärung beider Partner, die sich freiwillig zur Bildung der Gemeinschaft und zur Übernahme der mit ihr verbundenen Pflichten entscheiden. Hingegen haben die Bürger weder vertraglich noch in anderer Form der staatlichen Gemeinschaft, in der sie miteinander leben, ihre Zustimmung erteilt. Daher erscheinen Zweifel angebracht, ob ihnen aus der Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft ähnliche Verpflichtungen wie Eheleuten erwachsen können. Die Auseinandersetzung mit der vorstehend skizzierten Dis­ analogie muss letztlich im Rahmen einer philosophischen Theorie der Sezession geleistet werden.

38  Die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Reform des Unterhaltsrechts beschränkt die Versorgungsansprüche des betreuenden Elternteils – sofern nicht besondere Gründe im Wohl des Kindes liegen – auf die ersten drei Lebensjahre (vgl. Kemper, S. 67 ff.). 39 Vgl. Dietrich 2010, S. 291 ff. 40  Interessante Fragen werfen die Abhängigkeiten auf, die hinsichtlich sozialer Transferleistungen zwischen verschiedenen Regionen eines Staates bestehen können. 41 Vgl. Aronovitch und Blahuta.

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V. Resümee Die beiden vorangegangenen Abschnitte haben am Beispiel des Sprachenrechts und des Selbstbestimmungsrechts verschiedene Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit skizziert. Sowohl für die Rechtswissenschaften wie auch für die Philosophie kann sich die Beschäftigung mit den Diskussionen, die in der jeweiligen „Nachbardisziplin“ geführt werden, als lohnend erweisen. Die thematischen Überschneidungen, die zwischen beiden Disziplinen bestehen, gehen freilich weit über den Gegenstand der kollektiven Rechte hinaus. Sowohl Probleme von grundlegender theoretischer Bedeutung, wie die Rechtfertigung von Strafe, als auch sehr spezifische Fragen, wie die Zulässigkeit der so genannten „Rettungsfolter“, stehen zugleich im Fokus rechtswissenschaftlicher und philosophischer Untersuchungen. Insofern dürften die vorstehenden Überlegungen zum Sprachenund Selbstbestimmungsrecht auch für eine Vielzahl anderer Themengebiete Relevanz haben. Die angeführten Beispiele können allerdings nicht beanspruchen, die Möglichkeiten der fächerübergreifenden Zusammenarbeit vollständig zu beschreiben. Der vorliegende Beitrag darf nur als erster Schritt zu einer umfassenden Klärung der komplexen Wechselbeziehung, die zwischen Rechtswissenschaften und Philosophie besteht, verstanden werden.

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– Von der weltanschaulichen zur kulturellen Neutralität des Staates? Überlegungen zum Sprachenrecht, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 90, 2004, S. 1 – 19. Gauthier, David: Breaking-Up: An Essay on Secession. In: Canadian Journal of Philosophy 24 (1994), S. 357 – 372. Green, Leslie: Are Language Rights Fundamental? In: Osgoode Hall Law Journal 25 (1987), S.  639 – 669. Hannum, Hurst: Autonomy, Sovereignty, and Self-Determination. The Accommodation of Conflicting Rights. Philadelphia, 1990. Ipsen, Knut: Völkerrecht. München, 2004. Jovanović, Miodrag: Constitutionalizing Secession in Federalized States. A Procedural Approach. Utrecht/Portland, 2007. Kemper, Rainer: Das neue Unterhaltsrecht. Köln, 2008. Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. Oxford, 1995. Levy, Jacob T.: Classifying Cultural Rights, in: Nomos 39 (1997), S. 22 – 66. – The Multiculturalism of Fear. Oxford, 2000. Margalit, Avishai/Raz, Joseph: National Self-Determination. In: The Journal of Philosophy 87 (1990), S. 439 – 461. Mason, Andrew: Political Community, Liberal-Nationalism, and the Ethics of Assimilation. In: Ethics 109 (1999), S. 261 – 286. McCorquodale, Robert: Self-Determination: A Human Rights Approach. In: International and Comparative Law 43 (1994), S. 857 – 885. Miller, David: On Nationality. Oxford, 1995. Moore, Margaret: The Ethics of Nationalism. Oxford, 2001. Nanda, Ved P.: Self-Determination under International Law: Validity of Claims to Secede, in: Case Western Reserve Journal of International Law 13 (1981), S. 257 – 280. Pavković, Aleksandar/Radan, Peter: Creating New States. Theory and Practice of Secession. Aldershot, 2007. Philpott, Daniel: In Defense of Self-Determination. In: Ethics 105, 1995, S. 352 – 385. Radan, Peter: Secession and Constitutional Law in the Former Yugoslavia. In: University of Tasmania Law Review 20 (2001), S. 181 – 204. Rosiers, Nathalie des: From Quebec Veto to Quebec Secession: The Evolution of the Supreme Court of Canada on Canada-Quebec Disputes. In: Canadian Journal of Law and Jurisprudence 13 (2000), S. 171 – 183. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M., 1993. Wellman, Christopher Heath: A Theory of Secession. The Case for Political Self-Determination. Cambridge, 2005. Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas: Deutsches Staatsrecht. München, 2005.

Conceptualizing Collective Rights Philosophical and Sociological Methodological Inputs Miodrag A. Jovanović

I. Introduction Elsewhere, I have argued that in the process of constructing a distinctive legal concept of collective rights, a putative legal theory cannot entirely rely on the specific juristic (normative) method of explicating and analyzing valid legal norms. That is, it cannot be purified in a way suggested by Kelsen.1 This is so, because in pursuing the task of conceptualization of collective rights, legal theory finds itself in a genuine legal situation of an emerging general legal concept. This situation is genuine, insofar as, even though the law constantly changes, legal theory is not that often faced with the dilemma whether some existing general legal concept is to be significantly modified, or some completely new concept is to be established. The notion of ‘collective rights’ can be found in various international and municipal legal instruments, references to it are equally made in a number of judicial decisions or expert legal opinions, as well as in numerous academic articles and books. However, it is often used as a synonym for some other expressions (e.g. jointly exercised rights, or rights designated to a subset of subjects, or class action i.e. collective litigation); or it is simply translated into well-established concepts, such as that of ‘individual rights’; or, even when legally guaranteed, it is made non-operative, by being not justiciable, etc. Accordingly, the existing legal practice provides an inconclusive answer as to whether ‘collective rights’ is a distinctive legal concept and whether collectives are to be recognized as a plausibly distinct category of right-holders. In such a situation, when there is enough legal material (statutory norms, judicial decisions, expert opinions, etc.) to work with, and yet there are serious doubts as to whether this leads to the emergence of some new general legal concept, legal theory has to actively get involved.2 This involvement, in turn, requires justificatory work and Jovanović 2012 a. Equally inapt, in that respect, is Hart’s approach. See Jovanović 2012 b. 2  One should here probably try to incur parallel with what, from our current perspective, might appear as a peculiar position of the first Roman jurists. Even though not acting as state officials, but rather as legal practitioners and jurisprudents at the same time, they managed profoundly to shape the outlook of Roman law. They often did so by providing 1 

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this justification is rarely just of theoretical or rational kind 3, it is also moral justification. The first part of the article, thus, offers a case in favor of a particular normative-moral stance of value collectivism in which ‘collective rights’ can be most adequately conceptualized. The second part of the paper is dedicated to the exposition of the problem of nomotechnical formulation of the recognized right-holding capacity of collective entities. At first glance, this seems to be a task for legal-drafting authorities. On a closer look, however, it turns out that this is an issue which necessarily reflects fundamental value judgments over the status of certain groups and their relationship with individuals, and as such has the potential to significantly reshape the everyday perception of social life of the affected social actors. Moreover, the way a right-holder is nomotechnically formulated will largely influence the subsequent processes of legal interpretation and adjudication. Consequently, this problem cannot be treated as falling within the exclusive domain of legal-drafting authorities, but has to be addressed by legal theory as well. In pursuing this task, legal theory has to rely on methodological assistance of social sciences, such as sociology and anthropology, particularly when dealing with problems of defining group membership in a non-coercive way, avoiding the imposition of elitist or static reading of group’s values etc.

“conceptualization” to what was inconclusive and contradictory legal material. Hence, while grounding their jurisprudential work on the existing practice, they also tended actively to reshape and direct it. Watson provides an example of the concept ‘possession’, which, from an examination of the praetorian interdicts, seemed to be unfamiliar concept to praetors. For this reason, interdicts often pointed in different directions, leaving many substantial legal questions open. “In these circumstances”, Watson says, “it was the jurists (acting in that capacity) who subsequently created the separate concept of possession based on the individual remedies granted by praetors for discrete situations of fact. They gave the notion substance and sought to create rules of general application.” Watson, generally, qualifies this trend of juristic conceptualization of that time as “no visible hand” and explains it in the following way: “Law develops in stages. New law often does not drive old law out, but builds on it without the lawmakers taking a fresh look at the issues. The result may be something approaching chaos.” It is in these situations that Roman jurists came in providing theoretical conceptualization and the more coherent guidance for practice. Watson, p. 92, 94. Even though current lawyers find themselves within a fairly developed system of divided labor, where state authorities, legal practitioners and jurisprudents have their own respec­tive areas of functioning, I believe that the aforementioned Watson’s remark about the nature of the law’s changes is still valid, which in turn might sometimes require an engagement of jurisprudence comparable to that of their Roman predecessors. 3  Summers argues that rational justification is a type of activity “that is, in its own way, analytical.” According to him, this would imply asking questions, like the following one: “What, if any, is the rational justification – the ‘case’ – for punishment as such?”. Questions like this “call upon the jurist to ‘make out a general case’ – to marshal and articulate general justifying arguments”. Summers, p. 875.

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II.  The Value-of-Groups Question – Methodological Implications In an article dismissing the case for collective rights, Tamir notes that those from the opposite camp very often “turn to international legal documents in which the rights of peoples are recognized.” However, she contends that “these documents are notoriously ambiguous both in their definition of rights bearers and in the definition of the rights that could be attributed to them”. Hence, Tamir chooses not to base her arguments on these documents, “but to seek an independent justification”4, which eventually leads her to reject the collective-rights concept. In a similar fashion, Galenkamp argues that “the question of the justification of collective rights is not an empirical, but a normative one. It does not concern the question whether these rights ‘exist’”, but rather “whether they should exist.”5 This primarily means a philosophical elucidation of the so-called “value-of-groups question”, which pertains to “the value of the existence of certain groups and the importance of protecting these groups against forces which might weaken or destroy them, perhaps even to the extent of outweighing certain rights of individuals (either within the group or outside it).”6 This is not an article in moral or political philosophy and, hence, it need not discuss the value-of-groups question, as Tamir does, independently of the existing legal rules. In fact, as an article in jurisprudence, it needs to address this question precisely because the existing legal practice provides an inconclusive answer as to whether collectives are to be recognized as a plausibly distinct category of right-holders. This also implies a difference in the scope of inquiry. A full-fledged moral or political-philosophical treatment of the value-of-groups question would potentially involve a much larger spectrum of issues, for instance, by discussing the intricate relations between individuals and groups through the prism of relevant values, such as freedom, autonomy, equality, etc. A jurisprudential treatment, however, must confine itself to demonstrating in which value standpoint, if any, would the concept of collective rights be most coherently grounded. In that respect, one should distinguish between several value standpoints on this issue. The first one might be called ontological individualism, insofar as it argues that, in phenomenological terms, all groups are in the end reducible to their individual members.7 That is, this stance “holds groups to be identical to sets (or mereological sums of individuals or person stages), mere fictions or reductively analyzed out of social scientific discourse. The truths about groups are held to be expressible, without loss, as truths about individuals.”8 Thomas Franck, for example, comes very closely to this position when claiming that rights of individuals are “inherent in the objective fact of being”, whereas rights ascribed to collective entities Tamir, p. 179, n. 27. Galenkamp, p. 293. 6  Hartney, p. 294. 7  Ibid., p. 299. 8  Sheehy, n. 3.

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cannot be anything else than mere “non-inherent historico-social constructs”.9 On the other hand, it can be argued that those who point to the similarity between the moral standing of individuals and certain collective entities necessarily develop their argumentation from the opposite stance of the ontological collectivism, which holds that collectives exist somehow independently of their individual members.10 This standpoint, according to the charge, resembles a proposition to treat the existence of the wood as something different from the existence of each and every tree that composes that wood. In the opinion of Boshammer, who employs this sort of charge, this stance is not only flawed in categorical attributing, insofar as imputes the category of subject to something – collective entity – that does not qualify for such a status, but it also leads to “fatal consequences”, reflected in the claim that collective-entity-subjects can possess their own inherent interests.11 With the possible exception of radical libertarians, most liberals do not deny the ontological existence of various collective entities and their importance for the life of individuals. What they endorse instead is the standpoint of value individualism, which assumes that “the lives of individual human beings have ultimate value, and collective entities derive their value from their contribution to the lives of individual human beings.”12 In Hartney’s explanation, value judgments are dependent upon the moral value of goals to be achieved, and the ultimate referential moral value is the well-being of individual human beings.13 Consequently, “the community has no value other than its contributions to successful lives of its members”.14 1.  A Case for Value Collectivism In what follows, I will make the case for value collectivism. This standpoint is at the opposite end of the axiological spectrum, and it concerns “the view that a collective entity can have value independently of its contribution to the well-being of individual human beings.”15 It is widely rejected even by those scholars who otherwise find justification for some form of collective rights. I will argue, nonetheless, that it is superior to the rival and still dominant view of value individualism16, insofar as it Franck, p. 252. “Ontological realism or holism about social groups is the thesis that groups are composite material particulars. Social groups are entities over which we quantify in the set of our best descriptions and explanations of the social world.” Sheehy, p. 428. 11  Boshammer, pp.  124 – 125. 12  Hartney, p. 297. 13  Ibid., p. 298. 14  Ibid., p. 299. 15  Hartney accurately notes that “[m]ost communitarians and defenders of collective rights do not appear to subscribe to such a view, since the point they are trying to make against those they perceive to be their opponents is the importance of communities for human lives. Ibid., p. 297. 16  As Torbisco Casals notes, “the main liberal objections to the idea of group rights” concern “the recognition of collective moral agents and the violation of the humanistic principle or value-individualism.” Torbisco Casals, p. 43. 9 

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can provide a more coherent grounding of certain forms of collective rights, particularly those that are attached to groups, which are not organized around liberal values of individual autonomy and tolerance (e.g. indigenous peoples). More generally, if treated as grounded in this stance, international and municipal legal provisions whose main purpose is group protection, can be comprehended more adequately. One might argue again that it is possible to undertake the proposed jurisprudential task by simply providing a better theoretical explanation of legal practice, while avoiding “the urge to grind an axe”.17 Marmor, for instance, might say that what I am proposing here is “a view about values that are inherent in a certain practice” – in this case, the practice of directly or indirectly vesting rights in collective entities. He might suggest that to form “a theoretical view about purpose or value that explains a given practice, is not the same as forming an evaluative judgment about it, nor is the latter entailed by the former.”18 Alternatively, he might argue that I am employing a somewhat more controversial argument. It would be similar to Hart’s stance that, not only it is morally good to recognize the truth of some set of descriptive propositions about law19, but that certain aspects of this descriptive account of law as a social practice “are good as well.”20 In Hart’s case, this amounts to a thesis that the addition of secondary rules in developed legal systems is a good thing, since it remedies some inherent defects of rudimentary legal systems composed solely of primary rules. Marmor believes, however, that even to hold a position like this one is not incompatible with the methodological request for descriptive and morally neutral legal theory. He says that Hart’s claim is not that this development makes the law “morally more legitimate” or a “better institution”, but simply that it “enables the law to better serve its functions; it makes it more efficient, qua law.” Whereas the former appraisal is normative, the latter is not.21 As for the first possible reading of my argument, it would be very hard to claim that my proposition is simply that the standpoint of value collectivism is inherent in the current international and municipal legal practice of granting rights to groups. 17  Summers notices that this urge is also traceable in the work of analytic jurists, who “have, from time to time, smuggled their own value preferences into what they seem to want to present as conceptual analysis. While purporting to analyze concepts, they have really been evaluating and recommending.” Summers, p. 880. 18  Marmor, p. 700. 19  Marmor discusses several different charges that legal positivism is after all normative theory. He says that if we take P to stand for the core descriptive content of our theoretical treatment of law, then the normative position in this case would be the following one: It is the case that P, and it is morally-politically good if it is generally recognized that P. Legal positivism, as a descriptive and morally neutral theory of law, is compatible with this posi­ tion and Marmor associates it with Hart’s claim that the general recognition that legal validity and morality are not necessarily or conceptually linked would make us more susceptible to critical appraisal of the law. Ibid., p. 691. 20  In this case, however, the position is as follows: It is the case that P, and it is a good thing too. Marmor finds this normative position “more problematic”. Ibid., p. 692. 21  Ibid., p. 693.

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I hold no such proposition, because it would plainly not be true. Even though the relevant body of international and municipal law is commonly described in terms of the protection it offers to certain groups, the language of drafted legal provisions and adjudicated cases creates prima facie impression that the standpoint of value individualism is the one that more accurately encapsulates a given practice. However, contrary evidence, in favor of value collectivism, can be found as well, and it is my claim that, in this state of flux, jurisprudence has to take sides and to make a case for the value standpoint that would better support the respective legal practice. I argue that the preference should be given to the standpoint of value collectivism. Even so, perhaps it may be argued that I am simply making a descriptive and morally neutral statement that this value standpoint would enable the relevant body of international and municipal law “to better serve” its putative function of protecting certain groups? If so, I am not quite sure what such a statement might mean. Generally, there is a problem with Marmor’s response to what he calls ‘The Argument from Function’, which charges legal positivism with some hidden normative assumptions.22 Marmor keeps comparing ‘law’ with ‘knife’, as if both were tools of the same kind, thereby also equating the nature of their respective essential functions – to enhance efficiency and to cut things.23 However, although it is not at all controversial to claim that in order to enhance the sharpness of knife we simply have to sharpen it, which, in turn, will make it better suited for its function to cut things, it is hardly uncontroversial to claim that the essential function of law is efficiency, and that in order for law to be better suited for its function, it needs to develop an additional set of secondary rules. In other words, Marmor rightly points out that the statement, ‘the efficient law is good’ does not employ “normative-moral sense of ‘good’”. Nevertheless, it does not follow from this that observations about the essential functions of law or about the ways for law to get better suited for its functions are also of that kind. It is precisely at this level of “concept formation” that Perry attributes the normative-moral point of view to Hart’s theory.24 22  He ascribes this thesis to Perry, who argues that by determining that the principal func­tions of law are “to control, to guide, and to plan life out of court”, Hart necessarily refers “to the moral value, or point, of the institution of law.” Perry, p. 114. 23  Marmor, p. 693, 698. 24  Perry, p. 117. In his expositions of both The elements of law (Hart, pp. 91 – 99) and The minimum content of natural law (pp. 193 – 200), Hart proceeds from what he claims to be the most obvious truisms about human nature and the world we live in”, and then he draws the conclusions regarding the nature of primitive legal orders and the minimum content of law and morality. Although he relies on Hobbes’s and Hume’s conceptions of human nature (p. 303), but also on relevant anthropological studies of that time (p. 291), it is interesting to compare his findings with those of a field anthropologist, such as Margaret Mead. In the same year of the publication of The Concept of Law, she published an article in which she tried to determine, based on the comprehensive comparative fieldwork, some common legal rules for all human societies, which she considered the minimal core of ‘natural law’. Her list of those rules is different and less extensive than Hart’s. Mead, p. 52 – 53. This may make more plausible the claim that Hart does introduce some normative-moral assumptions about certain aspects of human nature and early human societies.

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Consequently, when arguing that the current legal practice provides enough grounds for the jurisprudential construction of a distinctive legal concept of ‘collective rights’, and that this requires adopting the standpoint of value collectivism, because this way the putative rationale of the respective body of international and municipal law will be rendered more intelligible, I necessarily make a normative-moral point of view. Here, I will try to show that the stance of value collectivism is generally defensible, which in turn implies the need to refute some common arguments against it. 2.  The Concept of Collective Existence In the contemporary literature, it is possible to identify at least three strategies for the refutation of value collectivism. According to the first, suggested by Boshammer, to hold the standpoint of value collectivism necessarily implies the unjustifiable assumption of the distinctive ontological existence of collective entity. She tries to clarify her position by taking the example of the 16th century colonization of Latin America led by the Spanish Conquistadores, which resulted in the extinction of the Inca civilization. Boshammer says that the thesis proposing a separate existence for a collective presumes that, in this and in similar cases, “the death of the people” cannot be equated with the total sum of deaths of its individual members. In order to demonstrate how “absurd” this proposition is she puts it in the form of the following question: “Have the Spaniards, therefore, except the Incas destroyed additionally, so to speak, the Inca community?”25 Even though Boshammer believes that the negative answer to this question is self-evident, it might turn out that she is wrong in assuming so. One has only to take into account the international crime of genocide in order to realize that the challenged claim is possible after all. In the words of Lemkin, the author of the term genocide, which represents a synthesis of the Greek noun “genos” (race, nation, tribe) and the Latin verb “caedere” (to kill), “genocide is directed against the national group as an entity, and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity, but as members of the national group.”26 Consequently, the criminalized “intent to destroy, in whole or in part” relevant groups can in principle be established even if the killing involved only a single member of the group.27 This is precisely what distinguishes the crime of genocide from the ‘simple’ crime of murder.28 The underlying idea of genocide is, therefore, that the group physical existence can be detached from the existence of its individual memBoshammer, p. 124. Lemkin, p. 79. Dinstein also stresses that “for a crime to amount to genocide, it has to be perpetrated against an ethnic or religious group ‘as such’.” Dinstein, p. 231. 27  To be sure, establishing the genocidal intent on a single murder case would in practice be extremely difficult, if not impossible task for a prosecutor. 28  On the distinction between intent and motive in the crime of genocide, especially in relation to the ‘as such’ formulation, see, e.g., May 2010a, pp. 137 – 154. 25 

26 

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bers, not necessarily in empirical terms, but in terms of a conceptually distinctive good that is worthy of criminal law protection.29 This distinctiveness of group existence becomes even more obvious, if one considers its cultural aspect. Hence, Thornberry emphasizes that besides living through individual lives of its members, collectives exist in yet another, equally important, aspect – “through the shared consciousness of its members, manifested perhaps through language, culture, or religion, a shared sense of history, a common destiny.” He argues that “[w]ithout this ‘existence’ it is possible to say that individuals live but the group does not.”30 In conceptualizing the “ethnic survival”, Anthony Smith also gives preference to “cultural forms” over “demographic reproduction”, insofar as “the survival capacity” of a group largely depends of the preservation of populations’ “attitudes, sentiments and perceptions as these are encoded in myths, symbols, memories and values – in short, their collective traditions and cultural forms.” Therefore, he concludes that genocide is, paradoxically, even less dangerous than ethnocide – a process in which a group is uprooted from its own culture.31 3.  Collective Interests – Façon de Parler? The second strategy for dismissing value collectivism is structured around somewhat different argumentation. Namely, it does not deny the separate existence of collective entities, but it rejects the idea that interests ascribed to collective entities can in any way be different from interests of their individual members. Therefore, when referring to the issue of ethnocultural survival, Kis explicitly states: “We can say that a community has an interest in its preservation and the flourishing of its culture if it is also possible to say that the individuals making up the community have an interest in the preservation of their community and the flourishing of its culture.” In other words, “[i]f there is no one who expects a benefit for herself from the existence of the community, then we cannot reasonably say that there are interests in the preservation of the community.”32 At the same time, if one is prepared to endorse the opposite claim – that a collective interest cannot be equated with the aggregate interest of individual members – than one has to deal with the

29  The

pertinent problem in the current legal practice of international law of genocide is not whether groups can be conceptually treated as distinct entities, but “whether groups should be defined objectively, on the basis of criteria that anyone can apply, or subjectively, in which only the perpetrators decide who is a member of a group and even what are relevant groups.” May 2010b, p. 91. 30  Thornberry, p. 57. 31  Smith, pp. 96 – 97. In the preparation of the Genocide Convention, the Ad Hoc Committee devoted a separate article to the issue of cultural genocide, but it was not accepted, with the explanation that the issue in question should be dealt with in the instruments for the protection of human and minority rights. Thornberry, p. 72. 32  Kis, p. 227.

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consequence that “it must be possible, in principle, for it (collective interest, M. J.) to conflict with the interest of most of the members of the group.”33 In order to clarify relevant aspects of this thesis, let us take an example of a country that received an international donation to improve the status of its ethnic minority. Since the only requirement of international donors was that the available sum should be spent in “the minority’s best interest”, the government decides to apply the multiple-choice mechanism of offers. Imagine that the beneficiary is an ethnic minority that is predominantly concentrated in a part of the country with the well-developed food, wine and agricultural production. Nevertheless, in order to enhance the export potential and the regional competitiveness of their products, these private enterprises are in need of the further technological advancement. Hence, one of the government’s proposals concerns the investment of the available fund into new technologies and their transfer to the local manufactures in which virtually all members of the ethnic minority are employed. At the same time, this ethnic community is well known for its extraordinary pieces of folk art, such as pottery, paintings and wooden sculptures, which are highly rated even beyond the borders of the state. For that reason, another government proposal is to use the donation to fund a special section of the national museum, dedicated to the history and artistic achievements of the ethnic minority. Now, is it reasonable to assume in this hypothetical case that the vast majority of members of this ethnic community would find it more beneficial for them as individuals to accept the first offer? On the other hand, is it reasonable, under the same circumstances, to assume that the interests of the ethnic group qua group would be better, that is more durably, safeguarded with the second offer? If the answers to both questions might be positive, as I believe that they might, then the strategy that treats collective interests as a mere façon de parler – a manner of speaking, figurative or conventional expression for individual interests of the group’s members34 – is also destined to fail. The hidden strategy of the aforementioned argument contra collective interests is to decoy the counter-claimant into the ‘democratic trap’. Here, one would presumably be forced to admit that collective interest could be different from the expressed interest of most of the members of the group only if the former is to be determined in some undemocratic way, say, through a process of God’s revelation to the leader of the group. However, the procedure for determining and formulating the interest of some collective body should not be confused with the logical and conceptual possibility that the collective interest is something different from interests of most of the group’s members.35 For instance, only few people are likely to object to the statement that it was in the best interest of the German nation Hartney, p. 300. This is how Raz speaks about ‘collective interests’ at one place in his The Morality of Freedom, p. 208. 35  At the same time, this does not imply abandoning democratic methods in determining, wherever possible, a more precise content of the legally protected collective interest, say, to cultural preservation. 33 

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not to have a Nazi government, even though this was a preference of majority of Germans at the time that government came to power. The practical problem with statements of this sort is that sometimes we can more credibly employ them only ex post facto, but that does not necessarily turn them into figurative expressions.36 4.  Can Collective Entities be Intrinsically Valuable? This brings me to the third strategy against value collectivism. It does not deny that collective entities can be said to have interests that are different from individuals composing it. For instance, in his well-known article on self-determination with Margalit, Raz reformulates his previous position, by arguing as follows: “Group interests cannot be reduced to individual interests. It makes sense to talk of a group’s prospering or declining, of actions and policies as serving the group’s interest or of harming it, without having to cash this in terms of individual interests.” The authors further contend that “[t]he group may flourish if its culture prospers, but this need not mean that the lot of its members or of anyone else has improved.” Consequently, although interests of a group are conceptually connected to the individual members’ interests, “such connections are nonreductive and generally indirect.” Yet, all said does not affect Margalit and Raz’s major point, namely, “that the moral importance of the group’s interest depends on its value to individuals.”37 As previously pointed out, Hartney advances a similar opinion. He holds that it may very well make sense to say that something is good for collective, even though it is not for its individual members. However, such an ascription of collective interests is “conditional”, insofar as “it presupposes a postulated goal”. The only way for an interest to become an unconditional, “and hence morally relevant”, is to be “connected up to the interest of human beings.” Hartney, thus, concludes that “there seems to be no way in which there could be a collective interest which is morally relevant: whatever interest there is in the survival of a group, it is a derivative interest, derived from the aggregate interest of its members in its survival …”38 Therefore, in order to defend the stance of value collectivism, its proponents must demonstrate that collective entity can be intrinsically valuable, that its value is not grounded in its contribution to the well-being of individuals composing it, 36  To hold this, furthermore, does not imply either that such statements can be asserted only ex post facto, or that the aforementioned thesis endorses some version of the ethics of consequentialism. It is obvious that the same statement regarding the best interest of German nation could be taken during the reign of Nazi regime. To deny this possibility would be to advance the crudest version of ethical relativism. On the other hand, the reason why statements of this sort are often more credible when taken from some historical distance lies in the simple fact that history tends to shed some new light on the events, decisions and actions that took place in a different set of circumstances. 37  “It is in the interest of the group to be held in high regard by others, but it does not follow that, if an American moon landing increases the world’s admiration for the United States, Americans necessarily benefit from this.” Margalit/Raz, p. 87. 38  Hartney, p. 300.

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but that it can be established independently, as a value in and for itself.39 Is this task indeed impossible as suggested by Hartney? My guess is that it is not. However, before clarifying my position, let me stress that in this discussion one has to distinguish between the two plausible claims of those who straightforwardly reject value collectivism. The first concerns the thesis that such a stance, although being a legitimate form of moral justification, is simply incompatible with liberal doctrine and, thus, genuine liberals should abandon it for the reasons of the conceptual purity.40 The second one, however, dismisses even the possibility of arguing in favor of value collectivism, grounding primarily its counter-position in the reasons of self-evidence. Hartney, for instance, speaks of “the truth of value-individualism”41, and he is followed by Boshammer, who argues that “the claim of the prime importance of individual’s freedom and well-being worthy of protection against any collective aims and collective ‘entities’ has reached the status of an objective truth”, since “nobody in the western world and in occidental philosophy doubts the claim seriously and hence it can be taken for certain.”42 I will here concentrate only on the latter argument. Structured in the aforementioned terms, the debate tends to revolve around the final values. However, as Bobbio accurately notes, “final values themselves cannot be justified but only premised: that which is final is, by its very nature, without foundation.”43 The individualistic concept, which holds that the single individual, and not the community as a whole, has ultimate intrinsic value, came only with the 17th century version of the doctrine of natural law, in particular, with Lock’s Two Treatise of Government. It was fiercely contrasted to the medieval concept of society as an organic whole, and, thus, was perceived from the defenders of ancien régime as “instigator of disunity, discord and the break-up of established order.” Bobbio reminds us of the persistency of the organic concept, by quoting Burke – “Individuals pass like shadows; the commonwealth is fixed and stable.”44 As Bobbio convincingly demonstrates, it turned out that the belief of classical liberal thinkers that incontrovertible rights can be deduced from one absolute principle of individualistically comprehended human nature is just an illusion. Not only that historically different interpretation of human nature and the ultimate value of individual well-being have led to historically variable and conflicting individual

Boshammer, p. 130. this position is advanced by Kymlicka in his ‘liberal theory of minority rights’, but as it will be later clarified he does not stick firmly to it. 41  Hartney, p. 298. 42  Boshammer, p. 137. 43  Bobbio, p. 5. As more precisely pointed out by Raz: “To say that something is of ultimate value is not to claim that one cannot justify the statement that that thing is valuable. It merely indicates that its value does not derive from its contribution to something else.” Raz, p. 177, n. 93. 44  Bobbio, p. 41. 39 

40  Essentially,

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rights45, but subsequently introduced rights were in no way deducible from the final values of individualism. In that respect, Bobbio mentions that the natural legal theory was for almost a hundred years against the introduction of social legislation, basing its opposition on the absolute principle of individual property.46 Once social rights were widely legitimated, they represented a clear testimony of the fact that “final values are antinomical, and cannot all be accomplished universally at the same time.”47 Hence, one may draw the conclusion that “rights are not fundamental by their nature. That which appears to be fundamental in a given historical era or civilization, is not fundamental in other eras or civilizations.”48 Apart from this persuasive historicist argumentation, the robust individualistic doctrine has lately been scrutinized from within some traditional liberal conceptual schemes. One such scheme is the social contract theory, which is a widely used methodological tool for the recognition of the individualistic political morality. Up until recently, political theorists have largely neglected that “social contract arguments serve to legitimate, through actual or implied consent, different ways of ordering the social and political relationships within a predefined group of individuals.” That is, all versions of the social contract theory “assume that there is sufficient reason for individuals deliberating about justice and the social contract to pay attention to each other’s proposals and decisions, rather than to those by individuals outside of this group.”49 In her survey, Canovan convincingly demonstrates that the discourses of liberalism, democracy, and theories of social justice “rely upon tacit assumption about the existence of political community”, and the presupposed community that political theory has in mind is nation.50 This plausible re-reading of the social contract theory opens the room for a serious reconsideration of the unquestionable prioritizing of value individualism. If some form of communal existence is a prerequisite for any meaningful deliberation over intrinsic individual goods, values, and interests, than it is hard to dismiss altogether the idea of equally justifiable deliberation over intrinsic collective goods, values, and interests. Let me sum up on this point. It was demonstrated that collective entities could be said to exist independently of their individual members. This existence can at times be recognized as a specific good worthy of the legal protection. Furthermore, it was shown that one might legitimately endorse the concept of collective interests, as something substantially different from the aggregate sum of individual interests. Finally, it was elucidated that value individualism is a product of one specific historical era, and as such cannot be absolutized, let alone taken as “truth”. In that respect, one may argue, contra the belief of adversaries of value collectivism that 45  Bobbio mentions three different regimes of inheritance, which all “conform perfectly to human nature”. Ibid., pp.  4 – 5. 46  Ibid., p. 9. 47  Ibid., p. 5. 48  Ibid., p. 6. 49  Yack, p. 108. 50  Canovan, pp. 44, 46.

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this standpoint is “counterintuitive”51, that there are many clear signs in the current global developments that value collectivism is endorsed intuitively, if not systematically, in our daily political and legal practice.

III.  Legal Drafting and the Legal Personality of Collectives The second methodological issue to be dealt with concerns the problem of legal drafting of the legal personality of collective entities. Legal drafting, in this respect, should not be confused with the jurisprudential task of constructing the concept of collectives as a separate category of right-holders. One can easily notice that legal theory, overall, does not operate with completely precise criteria for determining the legal personality of the traditional right-holders (Rechtssubjekte). It only provides some general criteria regarding the necessary conditions under which the status of legal subject may be acquired or lost, thereby leaving room for legal practice to determine more precise requirements, as well as exceptions and variations within respective legal systems. Hence, in civil and criminal law, this issue primarily revolves around the problem of the right timing for the designation of the legal personality to fetuses, for “[i]f fetuses are not ‘persons’, then no duty of care applies and the mother may treat the fetus as she would treat her own body.”52 In company law, the focus is on whether a recognized legal entity can be said to have, without exemptions, an independent personality, separate and distinct from its members and shareholders.53 Finally, in public international law, the debate is still concentrated on the necessary conditions for acquiring the status of state, which is the main legal subject of this system of law. While the 1933 Montevideo Convention remains the sole international legal instrument that prescribes the statehood criteria54, the pertinent problem of the international legal practice, which counter-affects international legal theory, concerns “the blurring of distinctions between what it takes to be a State and what it takes to get other states to recognize a state as such”.55 Boshammer, p. 134. Losco, p. 268. 53  Some of the problems in this field of law are triggered by rapid changes in the organizational structure of modern companies. As early as in the mid 1980s, Dan-Cohen wrote that “[t]he idea that the shareholder owns the corporation has lost much of its credibility.” Namely, “the significance of the individual shareholder to the corporation is on the decline even in his capacity as investor”, insofar as “a significant proportion of the investment funds at the disposal of large corporations is either self-generated or supplied by institutional investors such as banks, investments companies, insurance companies, and pension funds.” At the same time, “the shareholder, too, becomes less attached to a particular corporation. As portfolio theory recommends, the investor’s shares are likely to be diversified across many corporations.” Consequently, “the corporation can no longer be identified with a single homogenous group of individuals.” Dan-Cohen, pp.  18 – 19. 54  See, Art. 1, 1933 Montevideo Convention on the Rights and Duties of States, entered into force on 26 December 1934. 55  Grant, p. 445. 51 

52 

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This brief survey shows that, rather than generating criticism, problems encountered when conceptualizing and drafting a separate legal personality for relevant collective entities should be perceived instead as reflecting the general state of affairs in legal theory and practice. Admittedly, in this case one may find additional obstacles for both theory and practice. They stem from two different sources though. As for legal theory, the source of perplexity is a genuine situation of the emergence of a new concept, in which theory would need to construct the legal personality of collectives based on a rather confusing and contradictory international and municipal legal practice. This, in turn, requires jurisprudence to be more pro-active, to take sides and give preference to the moral-normative point of view that would render legal practice more intelligible. As for legal practice, potential problems in the process of legal drafting might stem from a specific nature of putative right-holders, namely, that they are “de facto, pre-legally existing non-reducible collectivities.”56 In order to become legal right-bearers, these collectives have to be recognized as such by law. This implies putting in the forefront the problem – “how to define the boundaries of the collectivity in a non-arbitrary and non-coercive way.”57 1.  Distinctive Methodological Tasks of Legal Theory and Legal Practice At first glance, this question appears to fall completely within the competence of legal drafting authorities.58 On closer examination, however, it seems that legal theory would still be able to provide some useful general methodological guidelines, by answering, for instance, the following questions: what general principles should be followed in transforming the pre-given, social identity of group into the legal personality; what in the language of legal drafting of collective personality might positively/negatively affect the subsequent processes of legal interpretation and adjudication; what techniques of legal drafting are the most adequate for the purpose of protecting certain collective interests and goods, etc. These guidelines would presumably come under what Kramer calls the “strategic” aspect of legal methodology, which involves developing methods of legal drafting (Methode der Rechtssetzung).59 Note that there is a thin, yet distinguishable, line between the methodological tasks of legal theory and legal practice. Theorists have to construct the legal personality of collective entities, based on both commendable and lamentable instances of legal practice, while legal practice have to put in the operative use the general right-holding capacity of collectives, by granting them legal status within the Galenkamp, p. 297. Kis, n. 6. 58  In the German history of legal methodological debates, it was often argued that the law drafting is in the political, rather than in the legal sphere of interest, and, hence, jurists have nothing there to deal with. However, as pointed by Bydlinski, this radical thesis can be rejected on the basis of a simple historical fact that jurists were and will be always involved in the law drafting process (Gesetzgebung). Bydlinski, p. 621. 59  Kramer, pp.  49 – 51. 56  57 

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given legal system. In that respect, just as legal practice, in its potential dealings with collectives as right-holders, would have resources of general methodological guidelines to follow (and it would obviously be free in deciding whether to do so), so would legal theory have a wealth of experience to reflect upon and, if necessary, to reconstruct the general concept (and the demands of scientific rigor would obviously oblige theory to do so).60 The next question is whether jurisprudence can provide useful methodological assistance in the problem area of legal drafting, by completely relying on its primary method of description and analysis of valid legal norms. It seems that in a situation when we are dealing with an emerging concept, and one of the distinctive features of the putative right-holder is its largely constituted social identity that has to be given the form of legal personality, jurisprudence is again in need of methodological assistance, this time from social sciences, like sociology and anthropology. This argument becomes more obvious when aforementioned tasks of methodological guidelines for the legal drafting process are discussed in more details. 2.  Social and Legal ‘Construction of Difference’ Take, for instance, the process of legal recognition of the separate legal status of a certain group. The underlying normative assumption of the collective rights talk concerns the recognition of uniqueness of the group particularity, as opposed to the universality of ‘sameness’.61 Accordingly, any attempt to draft a legal norm that will vest rights in a certain group is necessarily an instance of the legal recognition of that group’s social distinctiveness. At this point, jurisprudence needs to take into account some conceptual schemes of social sciences, because they can prove highly useful for the general guidelines on legal drafting. One such scheme, for instance, is provided in Eric Heinze’s work on the ‘minority’ concept. This author argues that the process of “the construction of difference” consists of three steps.62 The first one is “recognition of other peoples or groups as such – as different from one’s own, on the basis of, e.g., kinship, geography, language, anatomy, religion 60  Think of dramatic changes in the general design of concepts of natural and juristic persons, which resulted from comprehensive legislative changes in last 150 years, such as disappearance of slavery, legal emancipation of both minors and women, development of new and complex forms of companies, etc. 61  One might say that this stance is generally endorsed by various strands of the political theory of multiculturalism. For a liberal-egalitarian critique of multiculturalism, as an “anti-Enlightenment” politics that purports to destroy this universalism, see, e.g., Berry. 62  Appiah provides yet another three-step conceptual scheme of social labelling. According to his model, the first step concerns the existence of a “social conception” about certain group of persons. The next step “is the internalization of those labels as parts of the individual identities of at least some of those who bear the label.” Appiah argues that “[t]he final element of a social identity is the existence of patterns of behaviour toward Ls (where L stands as the shortcut for labeled persons, M. J.), such that Ls are sometimes treated as Ls.” Appiah, pp.  66 – 68.

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or customs.” The second step “consists of naming the difference”, while the third one concerns “evaluation of that difference through attribution of normative significance to it.”63 This last step, however, can be further sub-divided, as the normative conclusions correlate the other two steps – “One normative correlate is supremacism, another is egalitarianism.”64 Using this scheme to test the international human rights documents, Heinze concludes that it is subjected to one additional sub-division, between “universalist egalitarianism” (emanated, for instance, in the Universal Declaration of Human Rights) and “differentialist egalitarianism” (emanating, for instance, from the Convention concerning Indigenous and Tribal Peoples in Independent Countries). While in the former case ‘equality’ is “construed to mean that no differences among peoples would justify different treatment”, in the latter case, it is “construed to mean that differences are worthwhile, and can and should be maintained on equal footing”.65 Heinze emphasizes that this three-step process “purports only to reconstruct three defining ‘moments’ – albeit not in a strictly temporal sense – that can be discerned”, and that the function of this schema is “heuristic”. Hence, these three steps are sometimes hardly distinguishable in social reality.66 What general methodological principles can jurisprudence formulate and offer to legal drafters on the basis of these sociological insights? For instance, just as it is obvious that not all socially identifiable markers of group belonging would be equally relevant for the outsiders’ perception and recognition of separate group existence in sociological terms67, so it is obvious that legal recognition can be extended to a much smaller number of socially recognized groups. It is incumbent upon jurisprudence to determine some general formal qualities that groups have to meet as a precondition for the right-holding capacity, as well as to offer to legal drafters a non-exhaustive list of groups that normally qualify for this status.

Heinze, p. 34. Ibid., p. 35. 65  Ibid., p. 36. 66  “From a cognitive-psychological viewpoint”, says Heinze, “any distinction between the first two steps, recognition and naming, cognition and language, are strongly intertwined.” In addition, “step three does not necessarily follow steps one or two in a chronolog­ ical matter. Far from yielding a normative conclusion, naming and recognition often serve merely to justify a preexistent one, often in ways conspicuously ad hoc.” Ibid., p. 34. 67  Heinze’s understanding of the process of recognition implies that for the social con­ struction of some relevant group identity, the step of group self-identification will not suffice. French sociologists, Poutignat and Streiff-Fenart, point in exactly the same direction in their inquiry of the social construction of ethnic identity. Namely, they say that ethnic identity is never defined in purely endogene terms, through the internally established conditions of ‘membership’, but it is constructed in a dialectical relation to exogene definition, provided by non-group members. They call this dialectical process “categorial attributing” and this is what makes ethnicity a dynamic concept, subject to redefining and re-composition. Poutignat/Streiff-Fenart, p. 155. 63 

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When it comes to the step of social naming and labeling, legal drafters, as a rule, should follow the social attribution that is accepted by the group in question, because it will potentially enhance the prospects for the wider and smoother applicability of the legal rule. Legal practice, however, provides examples of disregard for this general methodological principle of legal drafting. Offe, for instance, mentions the example of the German policy of creating Ausländerbeirate (foreigners’ councils), as consultative bodies of local governments, which represent interest of immigrant communities. He says: “People represented by such councils often belong to half a dozen or more different nationalities. It would never occur to them having their identity cast in terms of being ‘foreigners’, an identity label that is entirely shaped by the perceptions and preferences of the domestic majority population.”68 Hence, in this case the naming step goes hand in hand with the recognition of perceived difference of the group concerned, and it demonstrates how “the authoritative assignment of group quality to a collectivity may be overly encompassing, forcibly tying together into a common membership status people who had never thought of themselves as belonging to one and the same group or, for that matter, to any group at all.”69 On the other hand, there are examples of cases where its putative members eventually accept this sort of artificial exogene group categorization. Take, for instance, the case of the American Indians, who for a long time remained faithful to their own separate tribal self-identification, but after decades of a uniform social and administrative treatment, they largely accepted this imposed overarching identity.70 3.  Implementation and Adjudication of Collective Rights As for the other issues of legal drafting of collective personality that might influence the subsequent processes of legal interpretation and adjudication, one of the most controversial concerns the legal definition of group membership. Normally, adjudicators will have to rely on the pre-legal, social criteria of group membership in order to decide whether the given legal norm applies in the particular case. This Offe, n. 26. Ibid., 128. 70  As pointed out by Mitnick, “the social label ‘American Indian’ reveals more about the European explorers’ true original objective (i.e. to locate a trade route to the East Indies), than it does about the ethnically diverse population to whom the label became attached.” Mitnick, p. 76. Somewhat paradoxically, the social naming of a minority group’s distinc­ tiveness, according to its own linguistic terms of self-identification, can on occasion reflect the majority’s attitude of supremacism and disrespect for the said group. For instance, one can sometimes hear in the Serbian public discourse that the term Shqiptar is used for denoting the member of the Albanian ethnic group. Even though this term is normally used in the Albanian language for the ethnic self-identification, in the particular historical and social context, this exogene naming of the group difference is perceived by members of this group as a sign of disrepute and stigmatization. Yet, this naming was never used in the legal instruments. 68  69 

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is in fact one of the defining features of collectives as right-holders, in comparison to juristic persons.71 However, legal practice offers plenty of contrary examples, where legislators tend to provide precise definitions of group membership. Some of these examples are notorious, because they represent instances of legally institutionalized supremacism of one group over another. Thus, one of the Nurnberg Race Laws, which the German government passed in September 1935, was The Law for the Protection of German Blood and German Honor (Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre). It forbade marriages and even sexual relations between Germans and Jews. Since these laws had not cleared up the major issue who was to count as a ‘full Jew’, the Nazis then issued, in November 1935, The First Regulation to Reich Citizenship Law (Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz). The category of ‘full Jew’ was ascribed to a person with at least three Jewish grandparents. Those with less were designated as Mischlinge (the Germans of mixed race) of two degrees: the first degree – with two Jewish grandparents; the second degree – with one Jewish grandparent.72 Similar legislative efforts can be found at the beginning of twentieth century in the southern states of the USA. Their intent was to implement the so-called ‘one drop rule’ in determining the category of ‘whites’. One of the ‘Jim Crow laws’ is the State of Virginia’s 1924 act on racial integrity, which inter alia states: “For the purpose of this act, the term ‘white person’ shall apply only to the person who has no trace whatsoever of any blood other than Caucasian; but persons who have one-sixteenth or less of the blood of the American Indian and have no other non-Caucasic blood shall be deemed to be white persons.”73 These last cases demonstrate that one of the general methodological guidelines would be that, when recognizing collective entities as legal subjects, legal drafters should not try to achieve ‘legal determinacy’ by using the language of ‘hard’ factors, for they may easily end up with something resembling the Nazi-like ‘legal eugenics’. For one thing, even in other less intricate areas of life, the nomotechnical ideal of legal determinacy through ‘precise’ language formulations and criteria is hardly attainable, and will not necessarily prevent ‘hard cases’ of interpretation and adjudication.74 Thus, if legal drafters are to avoid dangerous sideways of ‘legal eugenics’, they need to operate more flexibly with categories of collective social identities. Another pertinent problem for adjudicating authorities might concern the issue of determining whether certain religious or cultural practices fall within the content of the legally protected collective right. Legal drafters should be advised to bear in mind the anthropological dictum that “communities and cultures are not static, so that the interplay of identity, difference and rights should not be arbitrarily ter-

See more in Jovanović 2005, pp. 625 – 651. English version of these laws is available in Noakes/Pridham, pp.  463 – 467. 73  An Act to Preserve Racial Integrity (1924), available at www.eugenicsarchive.org/ html/eugenics/index2.html?tag=1239. 74  See, in general, Bix. 71 

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minated for the sake of some hegemonic interpretation of community.”75 Thus, a general methodological guideline would be to avoid, where applicable, very specific language regarding particular ethnocultural practices, and instead to adopt broader formulations, which would then enable adjudicators to interpret law in culturally sensitive ways. At the same time, the most important precept that jurisprudence can offer to adjudicators is to generally direct them towards serious religious and cultural inquiries before deciding individual cases, which might also require more frequent involvement of the relevant experts in the decision-making processes.76 There is a final concern of legal drafting that is directly dependant upon the plausibility of the theoretical construction of the ‘collective rights’ concept. The vast majority of both international and municipal instruments, whose explicit or implicit purpose is to provide protection for certain groups, predominantly use the language of individual rights, more precisely, the so-called ‘persons-belonging-to” formula.77 To be sure, the present nomotechnique was largely induced by the general post-Second World War political trend, which reflected in a conscious departure from the collective protection rhetoric, so characteristic for the preceding League of Nations. The task of a legal theory of collective rights is to provide clear criteria for a more precise classification of collective and individual rights, which will then serve as a reliable methodological guideline for the process of legal drafting. In the case of collective rights, this guideline would point to overcoming the current phase of collectives as “unacknowledged presence”78 and to the use of linguistic techniques that directly vest rights in collective entities, instead of the members of the group. It goes without saying that legal drafting authorities are politically free to accept or reject general methodological guidelines of jurisprudence.79 As for the methodFreeman, p. 39. this is an urgent need, demonstrates a recent case of the German judge, who rejected the application for a speedy divorce of physically abused Muslim woman, by referring to a passage in the Koran that supposedly gives a husband the right to beat his wife. V. Medick/A. Reimann ‘A German Judge Cites Koran in Divorce Case’, Spiegel, 21 March 2007, at http://www.spiegel.de/international/germany/0,1518,473017,00.html. 77 For an instructive comparative survey at the European continent with respect to the minority protection, which demonstrates this trend in legal drafting, see Hofmann, pp.  356 – 382. 78  In the concluding part of his book on minority rights, Thornberry says that, presently, “the group is ‘unacknowledged presence’ behind the individual rights. Collective rights are a substantive, if not a ‘formal’ aspect of legal entity. The greater part of this reality is given over to individual rights. ‘Minority rights’ are substantive and indirect, not formal and direct.” Thornberry, p. 396. 79  Apart from these specific guidelines, legal drafters should also follow some more general principles established by jurisprudence. Bydlinski speaks of several such principles: 1. the principle of economy, which means that certain regulation should be drafted in as less legal rules as possible (this principle consists of the following sub-principles: a) generality, instead of casuistic; b) reduction; and c) cross-referencing); 2. the principle of adequacy, 75 

76  That

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ological aspect of the story, if, in this respect, the undertaken clarificatory work of jurisprudence happen significantly to affect legal drafting practice, then the future methodological assistance of legal theory would primarily consist in reflecting upon instances of both good and bad legal practice, which also implies less depend­ ence on the ground work of social sciences. Being for the moment in the state of flux with respect to the emergence of the ‘collective rights’ concept, jurisprudence still needs a methodological helping hand of that sort and the main purpose of the second part of the article was to demonstrate this.

IV. Conclusion The language of collective rights is being used more than ever in the current international and domestic legal instruments. Yet, legal scholars are still in serious need of conceptualization of collective rights. My intention in this article was to emphasize that this task is hardly achievable by solely relying on the juristic (normative) method. Instead, what we need is the helping hand of moral philosophy, as well as of social sciences. Like many other contemporary legal theorists, Dworkin does not dwell much on the issue of collective rights, but he, nonetheless, leaves us an important caveat in a passing remark that “a political theory that counts special groups, like racial groups, as having some corporate standing within community, may therefore speak of group rights.”80 What he basically suggests is that, in order to use words ‘collective (group) rights’ to denote a meaningful legal concept, we initially have to provide some moral-philosophical justification for such a move. I tried to demonstrate here that the most coherent way to do that is to ground the concept of collective rights in the axiological position of value-collectivism. In the next step, it is necessary to address the problem of construction of the legal personality of collective entities. As noticed above, collectives, such as ethnic or linguistic groups, constitute the third type of right-holders, different from the ‘traditional’ ones, natural and juristic persons. With the former, they share a pre-given, largely constituted social identity and the capacity for moral standing, while with the latter, they share the need for the recognition by public law.81 However, one should keep in mind that “law and legally constituted relationships among persons inform social perceptions of identity, and social perceptions inevitably influence, and at comprehensibility and, depending on the circumstances, precision of legal expressions; 3. the principle of the systematic and coherent order of the presentation of legal material (Rechtsstoff ); and 4. the principle of an adequate announcement. Although, in Bydlinski’s words, these principles might at first glance appear as rather “banal”, which consequently puts under the question the whole project of methodology of legal drafting, it turns out not only that they are of vital importance for legal drafters, but also that they are often very hardly attainable in practice. Bydlinski, pp. 625 – 626, 628. 80  Dworkin, p. 91, n. 1. 81  This similarity stems from the fact that not every social grouping will qualify as the plausible right-holder, just as not every group of people with certain assets will qualify to be recognized as the juristic person.

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times even dominate, self-understanding.” In other words, both human beings and collectives “are never merely the product of preordained constitutive attachments”, nor they are “merely self-constituted.” They are, “in part as well, constituted by rights.”82 Consequently, in providing methodological guidelines to legal practice, legal theory will necessarily have to rely on inputs from social sciences as well.

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82 

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Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und die Kulturgeschichte des Rechts1 Mark S. Weiner

I. Einleitung Im Jahr 2003 feierten die Vereinigten Staaten den 200. Jahrestag des vom Obersten Gerichtshof gefällten Urteils im Fall Marbury gegen Madison, bei dem es sich um die möglicherweise wichtigste Entscheidung in der Geschichte des amerikanischen Rechtstaats handelt. Amerikanische Juristen gelten als recht nüchterne Zeitgenossen, von denen man spontane Begeisterungsausbrüche kaum erwartet, doch nach dem Marbury Jahrestag konnte man sogar in den juristischen Fakultäten amerikanischer Unis seine Freude kaum verbergen. Möglicherweise ist Ihnen bekannt, dass bei diesem Fall verkündet wurde, es sei „unbedingt die Aufgabe und Sache des Justizministeriums, zu bestimmen, was Recht ist“– wodurch das Prinzip der Normenkontrolle verfassungsmäßig in der Rechtsprechung verankert wurde.2 Mit dieser Etablierung des richterlichen Prüfungsrechts bestätigte John Marshall, der Präsident des obersten Gerichtshofes, in unvergesslicher Weise die Tragweite bundesstaatlicher Macht und die Verfassung als das höchste Gesetz. In 2004 begehen die Vereinigten Staaten auch den Jahrestag eines weitaus kontroverseren Ereignisses, bei dem es sich, im Hinblick auf die Lehrmeinung, um einen direkten Nachfahren des Falles Marbury handelt: den fünfzigsten Jahrestag des im Jahre 1954 gefällten Urteils im Fall Brown v. Board of Education3 Im Fall Brown erklärte der Supreme Court die in öffentlichen weiterführenden Schulen praktizierte Rassentrennung für verfassungswidrig und läutete damit das Ende der Jim Crow Ära ein, eines Systems rassischer Apartheid, das das Leben in Amerika, ganz besonders in den Südstaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte. Es gibt keine Entscheidung des Supreme Courts im 20. Jahrhundert, die wichtiger war als diese. Zum einen ist der Fall Brown zu einem klassischen Beispiel des Nachkriegsliberalismus avanciert, der sich durch sein ungeheures Vertrauen in die Rechtsprechung auszeichnete. Das Urteil symbolisiert, wie die dem Gericht verliehene Macht zu einer aktiven Umstrukturierung der Gesellschaft im Sinne 1  Dieser Artikel wurde ursprünglich von Johanna Timm übersetzt, aber einige Änderungen am Text sind seitdem vom Autor vorgenommen worden. Alle möglichen Fehler in der Grammatik oder im Wortschatz sollten ihm zugeschrieben werden. 2  Marbury v. Madison, S. 177. 3  Brown v. Board of Education.

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freiheitlicher Prinzipien und zur Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt wurde. Um es in den Worten eines bekannten liberal-orientierten Juristen auszudrücken, zeigt der Fall Brown „all that the law might be“ – „alles, was das Recht und der Rechtstaat sein könnte“.4 Dies ist ein Gedanke, der von Vielen geteilt wird und in den vergangenen 50 Jahren hat wohl jeder amerikanische Jurist, der sich mit Verfassungsgeschichte beschäftigt, diese wichtige Entscheidung in seine Arbeiten mit einbezogen. Deshalb überrascht es also auch nicht weiter, dass Erinnerungen an den Fall Brown nicht nur von freudigen Kommentaren, sondern auch von ernsthaften, zuweilen sogar besorgten Reflektionen begleitet wurden. In diesem Artikel möchte ich mich dem Fall Brown widmen und dabei versuchen, die besondere Bedeutung dieses Falls durch die Darstellung von drei verschiedenen Versionen hervorzuheben, den Fall sozusagen aus drei verschiedenen, doch miteinander verbundenen Perspektiven beleuchten. Bei der ersten Version geht es um die juristische Lehrmeinung, bei der zweiten um das Recht und die Sozialwissenschaft und bei der dritten um den Status des Individuums während der Zeit des Nachkriegsliberalismus, wobei ich besonders das Interesse des Staates an der Aufdeckung und Berücksichtigung verborgener Regionen der menschlichen Psyche als einen Aspekt moderner Staatsführung beleuchten möchte.5 Wenn ich Ihnen die Geschichte des Falles Brown von diesen drei unterschiedlichen Perspektiven aus vorstelle, hoffe ich, ein neues Verständnis für einen ganz speziellen Teil dieser Entscheidung zu wecken, der für diesen Beschluss insgesamt repräsentativ ist: ich spreche hier von der 11. Fußnote. Ich werde dabei geschichtlich etwas weiter ausholen, um aufzuzeigen, warum eben die Entscheidung des Gerichts im Fall Brown so bedeutsam ist. Daneben verfolge ich mit meinen theoretisch und historisch orientierten Ausführungen einen weiteren Zweck, den ich kurz in abstrakter Weise erläutern möchte, um meiner nachfolgenden Analyse ein wenig Hintergrund zu geben. Anhand des Falles Brown möchte ich beispielhaft die Entwicklung einer akademischen Bewegung aufzeigen, die sich als eine Kulturgeschichte des Rechts begreift. Im Rahmen einer Kulturgeschichte des Rechts wird versucht, die vielen Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Kulturgeschichte und der Kulturtheorie auf die traditionelle Disziplin der Rechtsgeschichte anzuwenden. Ich bin der Ansicht, dass dieser sich entwickelnde Bereich von einem robusten Verständnis der Beziehung zwischen Werten und Fakten, insbesondere der Beziehung zwischen Fakten der Kultur und Rechtsnormen, fortfahren soll. Ich glaube, dass Recht buchstäblich nur als existierend sowohl in juristischen Institutionen als auch in den Facetten des kulturellen Lebens, die keine unmittelbare Beziehung zum oder Einfluß auf das Recht haben, vorstellbar ist.6 Ich behaupte das in zweierlei Sinn. Erstens ist ein bestimmter Satz von Werten innerhalb des kulturellen Lebens notwendig, damit das Recht funktionelle Stabilität besitzt und um von denen, die unter diesem Fiss, S. 395. Für weitere Diskussion: Weiner 2004, S. 274 – 301 und 2006, S. 107 – 130. 6  Weiner 2006, S. 16 – 21.

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leben, als legitim wahrgenommen zu werden. In modernen liberalen Begriffen ausgedrückt, können wir von einer Rechtstaatlichkeit sprechen, die eine kulturelle Basis oder Satz von Voraussetzungen besitzt. Zweitens, in einer verwandten aber radikaleren Weise bestehen Rechtsordnungen schlussendlich und ausschließlich in den „Bedeutungsnetzen“, aus welchen sich die menschliche Kultur zusammensetzt und in den Typen Menschen, die solche Netze erschaffen.7 Mit anderen Worten, ein Rechtssystem ist in speziellen kulturellen Gestalten, Fakten und Individuen verankert, welche diesem im Alltag Ausdruck geben. Also, das Recht als Phänomen kann nicht in begrifflicher Isolierung verstanden werden, da es verteilt in der kulturellen Welt vorliegt; die Werte juristischer Institutionen sind in nicht-juristischen kulturellen Fakten ausgedrückt und können nicht von ihnen losgelöst werden. Historiographisch gesehen, dieser Ansatz der Rechtsgeschichte bricht mit der Tradition von der soziologischen Rechtslehre ab (dazu Bart van Klink und Sanne Taekema bzgl. John Dewey und Pragmatismus).8 In Sinne dieser Tradition widmen sich Wissenschaftler den kausalen, funktionalen oder strukturellen Beziehungen zwischen Recht und anderen sozialen Systemen. Stattdessen fokussiert mein Ansatz mit interdiskursiven Fragen auf die Wege, auf denen Recht in die Gesellschaft als Ganzes, auf einer Basis von kulturellen Mustern und Logik, integriert ist.9 Praktisch gesehen ist die Arbeit eines Historikers bezüglich dieser Herangehensweise weniger eine wissenschaftliche als mehr eine humanistische, eine Sache der Interpretation, der Recherche und Wiederentdeckung vergangener Bedeutungssysteme – Bedeutungssysteme ausgedrückt in einer Kultur, in der Gesetze teilnehmen – und des „Aufbrechens der Abgeschlossenheit juristischen Diskurses.“10 Ich persönlich nähere mich der Kulturgeschichte des Rechts von einem sehr speziellen Blickwinkel aus: Ich interessiere mich für die Rolle, die der Begriff der Kultur in der Rechtsentscheidung implizit spielte, die Rolle des Begriffs Recht innerhalb des kulturellen Lebens und die Beziehung zwischen diesen beiden Phänomenen. Anders ausgedrückt, mir geht es um die Beziehung zwischen Recht und der Auffassung von Kultur, und ich werde den Fall Brown von genau dieser Warte aus beleuchten. Ich meine, dass eine Auseinandersetzung mit der Funktion des Kulturkonzepts im Falle Brown uns Wissenschaftlern die Möglichkeit gibt, ein wichtiges Merkmal des amerikanischen Liberalismus in der Periode nach dem 2. Weltkrieg zu erhellen. Man wird entdecken, inwiefern das von liberalen Grundsätzen der Nachkriegszeit getragene Projekt einer Rassenintegrierung aufgrund einer implizit bereits angestrebten psychologisch-sozialen Integration überhaupt erst möglich wurde, eines Integrationsvorgangs, bei dem sich das Individuum zunächst in die Gesellschaft einordnete und sich schließlich als Mitglied des nationalen Staats zu begreifen begann. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren im amerikanischen Recht die rassische und psychologisch-soziale Integration eng miteinander verGeertz, S. 5. Für eine Diskussion über diese Tradition innerhalb der Rechtsgeschichte: Gordon. 9  Goodrich, S. 212; Geertz, S. 145. 10  Goodrich, S. 212. 7 

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knüpft, wobei die Kulturauffassung das verbindende Glied darstellte. Die wissenschaftliche Erforschung dieses Bindeglieds bereitet nicht nur den Weg zu einem neuen Verständnis der Beziehung zwischen Recht und Kultur, sondern führt auch zu einer neuen Einschätzung der liberalen Regierungsstruktur der Nachkriegsära und vermittelt darüber hinaus neue Einsichten in die Entwicklung unserer akademischen Forschungsrichtungen im Zuge eines geschichtlichen Modernisierungsprozesses. In dieser Hinsicht vertrete ich den Standpunkt, dass eine Bewertung der Entscheidung im Fall Brown aus der Perspektive einer theoretisch begründeten Geschichte zur Entwicklung einer historisch verankerten Theorie beitragen kann. Mit diesen drei theoretischen Überlegungen im Hinterkopf möchte ich mich nun den drei Versionen des Falls Brown zuwenden: der ersten Version, in der es um die juristische Lehrmeinung geht, der zweiten Version, in der Recht und Sozialwissenschaften im Vordergrund stehen und schließlich der dritten Version, die sich der Geschichte des Rechts und des Individuums im politischen Liberalismus der Nachkriegszeit widmet.

II.  Brown v. Board of Education in den Augen der Rechtswissenschaften Bei der ersten Version des Falles Brown steht die juristische Lehrmeinung im Vordergrund, insbesondere die 14. Änderung der amerikanischen Verfassung. Es handelt sich dabei um eine von drei Änderungen, die unmittelbar nach dem im Jahre 1865 beendeten Bürgerkrieg ratifiziert wurde. Mit der 13. Verfassungsänderung war – als direktes Ergebnis des Bürgerkrieges – die Sklaverei abgeschafft worden. Mit der 15. Verfassungsänderung erhielten farbige Amerikaner das Wahlrecht. Und die 14. Verfassungsänderung, um die vermutlich mehr Prozesse geführt wurden als um irgendeinen anderen Abschnitt der Verfassung, machte Farbige zu Bürgern der Vereinigten Staaten; sie garantierte, dass „kein Staat irgendeinem Menschen die Gleichheit vor dem Gesetz versagen“ dürfe. Diese Änderung war Teil eines breitangelegten und unter dem Namen „Rekonstruktion“ bekannten Programms, mit dem den gerade befreiten Farbigen der Umgang mit ihrem neuerlangten sozialen und wirtschaftlichen Status erleichtert und neue Entwicklungsmöglichkeiten gegeben werden sollten.11 Zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg war von dem Willen, der die „Rekonstruktionsphase“ inspiriert und vorangetrieben hatte, nicht mehr viel zu spüren und weiße Mehrheiten begannen, sich die politische Macht im Süden der Vereinigten Staaten zurückzuerobern. Sobald sie das erreicht hatten, wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, die als „black codes“, als „Codes für Farbige“, bezeichnet wurden und mit denen die Weißen sich ihre soziale und wirtschaftliche Kontrolle über das Leben der Farbigen wieder zurückeroberten und diese in untergeordnete Positionen zurückdrängten. Diese Periode ist als die Jim Crow Ära bekannt. Eines 11 

Foner.

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der wichtigsten Merkmale war die geografische, physische Trennung der Rassen, die sich nicht nur auf Wohngebiete beschränkte, sondern sich auf alle anderen Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens erstreckte. Während der Jim Crow Ära mussten Eisenbahnen und Schiffe beispielsweise separate Kabinen für Farbige bereitstellen und in Bussen mussten Farbige auf den hinteren Plätze sitzen. Ende des 19. Jahrhunderts sanktionierte das Oberste Gericht in dem Fall Plessy gegen Ferguson (1896) diese Rassentrennung ausdrücklich als verfassungsgemäß; es ging in diesem Fall um die Bereitstellung separater Eisenbahnabteile im Staat Louisiana.12 Homer Plessy war ein hellhäutiger, offiziell jedoch als Farbiger eingestufter Mann, der eine Fahrkarte für ein für Weiße reserviertes Abteil gekauft hatte und aus diesem hinausgeworfen wurde, als der Schaffner erfuhr, dass er eigentlich ein Farbiger war. Plessy klagte unter Berufung auf die Gleichberechtigungsklausel der 14. Verfassungsänderung; das Gericht vertrat jedoch die Ansicht, dass separate Abteile keine Verletzung der Gleichberechtigungsklausel konstituierten. Es wurde argumentiert, dass die Tatsache der Rassentrennung an sich keine Ungleichheit darstelle, solange es sich bei den jeweiligen Einrichtungen um gleichwertige Einrichtungen handelte (was, nebenbei gesagt, niemals der Fall war, doch juristischer Realismus stand damals noch nicht auf der Agenda). Diese Auffassung wurde unter der Bezeichnung „getrennt, aber gleich“ („separate but equal“) bekannt und stellt ein Prinzip dar, das als ein Paradebeispiel des Selbstwiderspruchs in unserem Verfassungsgesetz gilt und das die von Jim Crow implementierten Regeln in allen Südstaaten offiziell sanktionierte.13 Farbige und ihre weißen Verbündeten widersetzten sich selbstverständlich den Gesetzen dieser Jim Crow Ära und organisierten im Laufe des 20. Jahrhunderts ihren Widerstand. Eine der wichtigsten Gruppen war dabei die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People).14 In den 30er Jahren konnte die NAACP zwar einige Erfolge erringen, doch die bemerkenswertesten Fortschritte und ihren eigentlichen Sieg erkämpfte sie sich während und nach Ende des 2. Weltkriegs. Endlich war die Zeit gekommen, wirklich Druck zu machen – und Erfolg damit zu haben. Man befand sich in der Ära des Kalten Krieges und Jim Crow spielte in die Hände der Sowjetpropaganda.15 Die Auseinandersetzung mit den Nazis und deren Rassentheorie war noch frisch in aller Gedächtnis und den Krieg in Europa begleitete man in den Vereinigten Staaten mit einer intensiven ideologischen Kampagne. Außerdem stellte die Jim Crow Doktrin auf dem Weg zur Abschaffung der Armut und der wirtschaftlichen Unterentwicklung des Südens einen unübersehbaren, unbedingt zu beseitigenden Faktor dar. Die NAACP begann ihre Taktik zunächst damit, „Gleichberechtigungsprozesse“ anzustrengen. In diesen Prozessen wurde verlangt, dass die Gesetzgeber Plessy v. Ferguson. Z. B. die Behauptung, dass das Prinzip „innerlich inkonsequent“ ist: Karst, S. 1649. 14  Kluger. 15  Dudziak. 12  13 

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der Südstaaten und Kommunalregierungen die Ideale des von der Plessy Doktrin vertretenen Grundsatzes des „getrennt, aber gleich“ endlich beherzigten und auch implementierten, und zwar durch eine wirkliche Gleichmachung der für Farbige und Weiße vorhandenen Einrichtungen. In Anbetracht der großen symbolischen Bedeutung, die insbesondere die schulische Ausbildung im Kontext von Staatsbürgerschaftsvorstellungen und demokratischer Chancengleichheit hat, konzentrierte sich die NAACP in diesen Gleichberechtigungsprozessen besonders auf die Rassentrennung im Bereich von Schule und Ausbildung. Wenn beispielsweise eine den Weißen vorbehaltene Schule über Toiletten im Gebäude, Zentralheizung und einen Raum für jede Schulklasse verfügte, die Schule für Farbige jedoch ein Plumpsklo, einen mit Holz beheizten Ofen und nur ein einziges Klassenzimmer besaß, wurde in einem solchen Gleichberechtigungsprozess gefordert, dass Räumlichkeiten der Farbigen-Schule denen der Weißen-Schule anzupassen seien, so dass beide über gleichwertige Einrichtungen verfügten. Der Gedanke, der dahinter steckte, war, die Jim Crow Doktrin für den amerikanischen Süden schlicht zu teuer zu machen und sie so zunächst praktisch, dann auch theoretisch abzuschaffen. Im Verlauf vieler solcher Prozesse wurden bei der Entscheidung, ob die Einrichtungen zweier Schulen in der Tat „gleichwertig“ waren oder nicht, bestimmte „nicht fassbare“ Faktoren in Betracht gezogen, die über die Gebäude, Lehrbücher usw. hinausgingen. Man berücksichtigte zum Beispiel den „Ruf“ einer Schule und deren allgemeines Ansehen. Das Gericht erklärte, solche Qualitäten seien „nicht objektiv messbar“, aber nichtsdestotrotz von grundlegender Wichtigkeit.16 Bei Anwendung dieser neuen Rechtskriterien wurde es immer schwieriger, farbigen Schulen nachzuweisen, dass sie im Vergleich mit weißen Schulen über gleichwertige Einrichtungen verfügten und deshalb verfassungsgerecht seien. Die NAACP hatte es jedoch auf den juristischen Hauptpreis abgesehen: eine Erklärung, dass nach Rassen getrennte Einrichtungen der 14. Verfassungsänderung zufolge niemals anerkannt und genehmigt werden dürften. Es ging der NAACP darum, die Klausel „getrennt, aber gleich“ direkt in Frage zu stellen – und die Jim Crow Doktrin sollte nicht nur als zu kostspielig, sondern als ungesetzlich entlarvt werden. Im Falle Brown gelang dies, und zwar unter der Leitung des Thurgood Marshall, der später das erste farbige Mitglied des Obersten Gerichtshofes wurde. In diesem Fall wurden fünf einzelne „Gleichberechtigungsprozesse“, bei denen es um Hauptund weiterführende Schulen in verschiedenen Orten des amerikanischen Südens (eine davon befand sich allerdings im Norden) ging, zusammengefaßt. Die meisten, aber nicht alle dieser Schulen boten aufgrund der Rasse der Schüler eine qualitativ geringere Ausbildung an. Einige der Schulen für Farbige und Weiße waren gleichwertig. In seiner Entscheidung im Fall Brown kam das Gericht übereinstimmend zu dem Schluss, dass schon allein die Tatsache einer rassischen Trennung, die Tatsache, dass die Jim Crow Doktrin überhaupt existierte, einen „nicht fassbaren“ Faktor darstelle, der zur Ungleichheit weißer und farbiger Schulen führe. Das Gericht hob besonders hervor, dass schon der Besuch einer von Jim Crow verordneten Schu16 

Brown, S. 493; Sweat v. Painter, S. 634.

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le das Selbstwertgefühl farbiger Kinder beeinträchtige und deshalb ihre Chancen auf eine den Weißen gebotene, gleichwertige Ausbildung mindere. Ich stelle hier den wichtigsten Abschnitt der Entscheidung des Gerichtes auf Deutsch dar, aber ein kompletterer Auszug auf Englisch, einschließlich Fußnote elf, ist im Anhang eingeschlossen: „Eine einzig auf der Rasse begründete Trennung von anderen Kindern gleichen Alters und gleicher Qualifikation resultiert in einem Gefühl der Minderwertigkeit in Bezug auf ihren sozialen Status innerhalb der Gemeinschaft, das auf ihr gesamtes Empfinden und Denken einen möglicherweise unauslöschlichen Eindruck machen wird … Die Trennung weißer und farbiger Kinder in öffentlichen Schulen wirkt sich nachteilig auf die farbigen Kinder aus. Diese Wirkung ist umso dramatischer, wenn sie durch das Gesetz sanktioniert wird, denn die Politik der Rassentrennung wird üblicherweise als ein Anhaltspunkt für die Minderwertigkeit der Farbigen ausgelegt. Das Gefühl, minderwertig zu sein, beeinträchtigt die Lernmotivation eines Kindes. Eine gesetzlich sanktionierte Rassentrennung tendiert aus diesem Grunde dazu, die schulische und geistige Entwicklung farbiger Kinder zu verzögern und ihnen bestimmte Vorteile vorzuenthalten, die ihnen in einem Schulsystem zuteil würden, in dem beide Rassen integriert sind. Deshalb entscheiden wir, dass auf dem Gebiet der schulischen Ausbildung die Doktrin ‚getrennt, aber gleich‘ keinen Platz hat. Separate Unterrichtseinrichtungen sind per se ein Ausdruck von Ungleichheit.“17 Plessy war damit abgehakt und gestorben. Dies war ein dramatischer Augenblick in der amerikanischen Rechtsgeschichte und in der Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der hier praktizierte Grundsatz wurde schnell auf andere Einrichtungen übertragen, womit die Jim Crow Ära endgültig begraben und die Revolution der nächsten Jahre in Gang gesetzt wurde. Diese Entscheidung nimmt nicht nur eine wichtige Stellung innerhalb der Geschichte der Rassengerechtigkeit ein, sondern hatte auch zur Folge, dass dem Obersten Gerichtshof im Zuge seiner veränderten Auslegung des 14. Zusatzartikels eine besondere Funktion innerhalb des staatlichen Entscheidungsapparates zugeteilt wurde: Das Gericht war nunmehr zu einem staatlichen Repräsentanten der Gerechtigkeit avanciert, der seine anlässlich des Marbury Falls etablierte richterliche Nachprüfungsgewalt zur Entwicklung neuer, umfassender Interpretationen der Menschenrechte nutzte (und dies ist auch einer der Gründe dafür, dass dieses Urteil noch heute Stoff für Kontroversen bietet). Für liberal gesinnte Juristen verkörperte der Brown Fall in den nächsten 50 Jahren jedoch beispielhaft „all that the law might be“, weil er nämlich eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass und wie ein engagiertes Gericht Grundsätze materieller, ja sogar sozialer Gerechtigkeit effektiv unterstützen kann.

17 

Brown, S. 494.

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III.  Brown v. Board of Education in der Perspektive einer soziologischen Jurisprudenz In der zweiten Version des Falles Brown steht die soziologische Jurisprudenz im Vordergrund; sie beleuchtet auf die Art und Weise, in der das Gericht sich von einer Doktrin des „getrennt, aber gleich“ mit der einhergehenden „Gleichberechtigung“ von Einrichtungen zu einem Standpunkt bewegte, von dem aus die Trennung an sich als Ausdruck inhärenter Ungleichheit deklariert werden konnte. Der Brown Prozess war nicht nur in der Geschichte des 14. Zusatzartikels ein wichtiger Augenblick, sondern hatte auch für die Beziehung zwischen dem Recht und den Sozialwissenschaften weitreichende Konsequenzen. In diesem Zusammenhang sollte auch angesprochen werden, wie es der NAACP unter Zuhilfenahme sozialwissenschaftlicher Forschungserkenntnisse und Gutachterstellungnahmen nachzuweisen gelang, dass die minderjährigen Kläger in diesen Prozessen tatsächlich einen „Schaden erlitten“ hatten, der durchaus einem Vergleich mit in Deliktverfahren behandelten Vergehen standhält. Zu diesem Zweck beauftragte die NAACP einige Sozialwissenschaftler, deren Aufgabe es war, die Kinder in den jeweils relevanten Schulbezirken zu befragen und luden Wissenschaftler als Gutachter vor Gericht. Nehmen wir zum Beispiel die Aussage von Herrn David Krech, Professor für Psychologie an der Universität von Kalifornien-Berkley: „Herr Krech, wenn wir von der Tatsache ausgehen, dass Farbigen der Besuch einer speziell für ihre Rasse bestimmten öffentlichen Schule gesetzlich vorgeschrieben ist, haben Sie sich eine Meinung darüber bilden können, was für eine Auswirkung dies auf das farbige Kind hat?“ „Das konnte ich in der Tat, und ich möchte hinzufügen, dass es eine sehr begründete Meinung ist.“ „Können Sie uns bitte diese Auffassung schildern und erklären, aufgrund welcher Erkenntnisse Sie zu dieser Auffassung gekommen sind?“ „Ich bin zu der Auffassung gekommen, dass die gesetzlich verankerte Trennung farbiger und weißer Kinder während ihrer schulischen Ausbildung wahrscheinlich der allerwichtigste negative Einflussfaktor ist, der im Hinblick auf seine emotionalen, gesundheitlichen und ökonomischen Konsequenzen einen verheerenden Schaden im Leben eines farbigen Kindes anrichtet. … Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass eine gesetzlich verankerte Rassentrennung als der wichtigste Faktor betrachtet werden muss, der rassisch bedingte Vorurteile und rassisch bedingte Trennung fördert, bekräftigt und verstärkt.“18 (Krech geht dann weiter auf die seiner Überzeugung zugrundeliegenden Erkenntnisse ein und erwähnt die Tests, die er in diesem Zusammenhang durchgeführt hatte, und so weiter). Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass die NAACP diese Fakten nicht während des Prozesses vortrug, sondern vor dem Obersten Gerichtshof präsentierte – der sich normalerweise nicht mit Entscheidungen in speziellen Rechtsfällen befasst, sondern mit juristischen Fragen – und bei dieser Gelegenheit einen sozialwissenschaftlichen Schriftsatz vorlegte, in dem die sozialwissenschaftlichen Nach18 

Whitman, S.  62 – 64.

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weise für die vertretene Position dargelegt wurden.19 Das Gericht zitierte Auszüge aus diesem Schriftsatz im wichtigsten Teil der Urteilsbegründung und diese Auszüge und Zitate gaben Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen. Das Präsentieren sozialwissenschaftlichen Beweismaterials ist ein Phänomen, das aufschlussreiche, interessante Einblicke in unsere Vergangenheit gestattet. In mancher Hinsicht lassen sich Überkreuzungen mit der Geschichte amerikanischer ökonomischer Vorschriften feststellen. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war der Oberste Gerichtshof an der Aufrechterhaltung einer Wirtschaftsordnung interessiert, die den Idealen der „Libertarians“ verpflichtet war und brachte demzufolge einzel- und bundesstaatliche Anstrengungen zur Regulierung von Handel und Wirtschaft zu Fall. Man befand sich in einer Periode des „substantive due process“ (U.S.-Verfassungsgrundsatz der materiellen Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns, der den Schutz vor willkürlichen und unangemessenen staatlichen Eingriffen in Leben, persönliche Freiheit oder Privateigentum garantiert), auch als Lochner Ära bekannt, so benannt nach dem Fall Lochner gegen New York.20 In diesem Verfahren erklärte das Gericht ein Gesetz, das die Höchstarbeitszeit für Bäcker auf 10 Stunden pro Tag festlegte, für verfassungswidrig. Dieser Rechtsauffassung lag die Vorstellung zugrunde, jeder Mensch verfüge über ganz bestimmte natürliche Rechte, die der Staat, ungeachtet der hierfür angeführten Gründe, nicht verletzen dürfe; zu diesen Rechten gehörte auch das Recht, Verträge abschließen zu dürfen. Diese Ansicht wurde letztendlich von einer als soziologische Jurisprudenz bezeichneten Bewegung abgelöst. Vertreter dieser Theorie stellten die bisherigen Ansichten der Gerichte zu wirtschaftlichen und institutionellen Themenkreisen in mehrfacher Hinsicht in Frage.21 Diese Richtung nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang; man betrachtete das Recht nicht als ein abstraktes, autonomes Normensystem, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck, als eine Werkzeug, das der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gewidmet war, das dann mittels bestimmter Grundsätze von Recht und Ordnung implementiert werden konnte. Verfechter dieser Sichtweise vertraten den Standpunkt, das amerikanische Recht solle vollkommen überarbeitet werden und sich in erster Linie auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Urteile sollten sich nicht auf abstrakte Vorstellungen von einem Naturrecht, wie beispielsweise das Recht der Vertragsfreiheit, berufen, sondern auf einer allgemeinen Unterordnung unter den Willen der Legislative basieren und soziologische Erkenntnisse in den Urteilsfindungsprozess einbeziehen und berücksichtigen. Zu einer Wende in dieser Bewegung kam es im Jahre 1908 mit dem Fall Muller gegen Oregon, der in mancher Hinsicht spätere Entwicklungen ankündigte.22 Es 19 

Appendix to Appellant’s Briefs: The Effects of Segregation and the Consequences of Desegregation, in: Clark, S. 166 – 184. Über die Position von Clarks Arbeit in der Geschichte der Sozialpolitik hinsichtlich der Afroamerikaner: Scott. 20  Lochner v. New York. 21  Gordon. 22  Muller v. Oregon.

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ging um die Höchstarbeitszeit für Frauen in Wäschereien. Der spätere Richter Louis Brandeis vertrat den Standpunkt des Gesetzes und reichte einen in dieser Form unerwarteten Schriftsatz zur Begründung ein: Er enthielt nämlich 2 Seiten juristischer Argumentation und 110 Seiten sozialwissenschaftlichen Beweismaterials, das aus ärztlichen Gutachten, psychologischen Abhandlungen und ähnlichen Arbeiten bestand und darlegte, warum das Gesetz über die Höchstarbeitszeit als „vertretbare und angebrachte“ Maßnahme der staatlichen Polizeigewalt zur Regelung der Gesundheit, des sozialen Wohlergehens und der Moral anzusehen war. Diese Beweisführung konnte sich durchsetzen und der „Brandeis Brief“ (oder Brandeis Schriftsatz) entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Merkmal in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, ganz besonders, als das Gericht die Prinzipien des natürlichen Rechts, auf der die früher verteidigten, den Idealen der Libertarians verpflichteten Auffassungen beruhten, endgültig zu den Akten legte (diese wurden insbesondere nach 1937 aufgegeben).23 In der abschließenden Beweisführung vor dem Obersten Gericht verfasste die NAACP einen „Brandeis Schriftsatz“ zugunsten der farbigen Schulkinder. Es muss dabei hervorgehoben werden, dass die Zeit für eine solche Strategie wirklich reif war. In den Nachwehen des 2. Weltkriegs genossen die Sozialwissenschaften in den Vereinigten Staaten ein bisher unerreichtes Prestige und Sozialwissenschaftlern wurde eine wichtige Rolle bei der Aufstellung der Grundprinzipien von Recht und Ordnung eingeräumt. Die sozialwissenschaftlichen und juristischen Experten der NAACP entwarfen einen Schriftsatz, der sich bei der Argumentation, „Trennung widerspreche Gleichheit“ auf die damals wichtigsten Vertreter dieser Wissenschaftsrichtungen berief. Das Gericht ließ sich überzeugen und zitierte diese Arbeit in der 11. Fußnote – die dadurch zur berühmtesten Fußnote der amerikanischen Verfassungsgeschichte avancierte: „n11 K. B. Clark, Effect of Prejudice and Discrimination on Personality Development (Midcentury White House Conference on Children and Youth, 1950); Witmer and Kotinsky, Personality in the Making (1952), c. VI; Deutscher and Chein, The Psychological Effects of Enforced Segregation: A Survey of Social Science Opinion, 26 J. Psychol. 259 (1948); Chein, What are the Psychological Effects of Segregation Under Conditions of Equal Facilities?, 3 Int. J. Opinion and Attitude Res. 229 (1949); Brameld, Educational Costs, in Discrimination and National Welfare (MacIver, ed., 1949), 44 – 48; Frazier, The Negro in the United States (1949), 674 – 681. And see generally Myrdal, An American Dilemma (1944).“ Dieses Zitat folgt auf die Passage, die ich Ihnen bereits vorhin dargestellt habe: „Eine gesetzlich sanktionierte Rassentrennung tendiert aus diesem Grunde dazu, die schulische und geistige Entwicklung farbiger Kinder zu verzögern und ihnen bestimmte Vorteile vorzuenthalten, die ihnen in einem Schulsystem zuteil würden, in dem beide Rassen integriert sind. Ungeachtet der zur Zeit des Plessy gegen Ferguson Falls zur Verfügung stehenden psychologischen Erkenntnisse wird dieses Ergebnis von modernen Wissenschaftlern überzeugend unterstützt.“ An dieser 23 

Über den „Brandeis Brief“: Strum, S.  59 – 64.

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Stelle zitiert das Gericht die Untersuchungen. „Wir sind deshalb zu dem Schluss gekommen, dass im Bereich der öffentlichen Ausbildung die Doktrin eines ,getrennt, aber gleich‘ keinen Platz hat.“ In der Fußnote werden mehrere wichtige zeitgenössische anti-rassistisch und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen zitiert, denen zufolge rassische Unterschiede als das Ergebnis von Umwelteinflüssen, nicht aber als naturgegeben aufzufassen sind, und die der von der Jim Crow Doktrin verfochtenen Argumentation diametral entgegengesetzt waren. Durch die hierdurch inspirierte Neuauslegung der 14. Verfassungsänderung zeigte der Fall Brown nicht nur „alles, was das Gesetz sein könnte“, sondern sorgte auch dafür, dass diese Auffassung vom Gericht nachdrücklich unterstützt wurde. Darüber hinaus bescherte das Urteil im Fall Brown auch den liberal orientierten Sozialwissenschaften einen denkwürdigen Tag: Es zeigte, was die Sozialwissenschaften „alles sein können“ und vor allem, alles was die Sozialwissenschaften durch Kooperation mit der Jurisprudenz erreichen können, wenn es um die Entwicklung progressiver, wissenschaftlich fundierter Richtlinien geht. Der Fall Brown ist als ein Höhepunkt der Verbindung von Jurisprudenz und Sozialwissenschaft in der amerikanischen Urteilsfindung zu werten, nicht zuletzt, weil er von soziologisch orientierten Juristen wie Lois Brandeis vorgedacht und angeregt worden war.

IV.  Die kulturwissenschaftliche Perspektive auf Brown v. Board of Education Lassen Sie mich nun zur dritten Version kommen, der dritten Perspektive, von der man den Fall Brown beleuchten kann. In den drei Jahrzehnten, die dem 2. Weltkrieg folgten, wurde das öffentliche amerikanische Leben in tiefgreifender Weise von einigen prägenden Idealen beeinflusst, die wir heute unter dem Schlagwort moderner Liberalismus zusammenfassen und die wir gemeinhin als Bestandteil einer Bewegung begreifen, die die historische Modernisierung der Vereinigten Staaten zur Folge hatte.24 Die meisten mit dieser politischen Orientierung assoziierten Werte können als die Verpflichtung zu drei miteinander verwandten Formen staatlicher Integration definiert werden: wirtschaftliche Integration, die von der modernisierenden Kraft eines regulativen Kapitalismus angekurbelt und durch wissenschaftliche Berater begleitet wird; Integration auf Regierungs- und Verwaltungsebene, die sich innerhalb des Machtbereichs der Bundesregierung formiert; und rassische Integration, die von der kosmopolitischen Vorstellung der Toleranz motiviert (und im Fall Brown exemplifiziert) wird. Liberal orientierte Politiker der Nachkriegszeit fühlten sich jedoch einem Ideal verbunden, dass von Juristen bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist und das ihren anderen, auf Integration abzielenden Werten eigentlich zugrunde liegt: die Verpflichtung sich selbst, die eigene Person, auf der Ebene sozialer Theorien, politischer Grundsätze, therapeutischer 24  Für den Hintergrund zum liberalen demokratischen Gedanken in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit: Purcell Jr.

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Praktiken und des Verfassungsgesetzes in die Gesellschaft einzubringen. Der Fall Brown illustriert dieses Projekt und kann in dieser Hinsicht als ein signifikanter Augenblick in der Geschichte des Nachkriegsamerikas gedeutet werden, ganz besonders im Hinblick auf das zunehmende Interesse, das der Staat an der Förderung und Unterstützung des Einzelmenschen zu nehmen begann. Dieser Augenblick erschließt sich zum Teil auch, wenn man Fußnote 11 und die dort zitierten wissenschaftlichen Arbeiten genauer unter die Lupe nimmt. Viele in Deutschland haben vielleicht Gunnar Myrdals Buch An American Dilemma gelesen, eine großartige sozialwissenschaftliche Abhandlung über die amerikanische Rassenfrage, in der behauptet wird, dass im „amerikanischen Glaubensbekenntnis“ ein fundamentaler Konflikt zwischen Gleichheit und Rassismus zu beobachten sei.25 Der gemeinsame Tenor der übrigen in der Fußnote zitierten Untersuchungen besteht nicht nur in deren anti-rassistischer Tendenz und in dem Ansatz, dass rassische Unterschiede als ein Produkt der soziokulturellen Umwelt zu verstehen seien, sondern auch darin, dass die meisten dieser Arbeiten einer speziellen ethnologischen Schule der damaligen Zeit verpflichtet waren, die unter dem Namen „culture and personality school“ (Kultur- und Persönlichkeitsschule) bekannt wurde.26 Nach dem Ende des 2. Weltkriegs erlebten viele sozialwissenschaftliche Forschungsrichtungen einen bemerkenswerten Aufschwung, doch es war die oben erwähnte Denkrichtung, die dafür sorgte, dass das Projekt der psychosozialen Integration mit thematischer Konsequenz von den liberalen Politikern aufgegriffen wurde. Prominente Vertreter der Kultur- und Persönlichkeitsschule waren Margaret Mead und Ruth Benedict, die beide Ethnologie bei dem aus Deutschland emigrierten Professor Franz Boas an der Columbia Universität in New York studiert hatten. Ruth Benedict hatte ein Buch mit dem Titel Patterns of Culture verfasst, in dem sie die Auffassung von Kultur als ein geschlossenes, holistisches System vertritt. Margaret Mead war durch ihre Veröffentlichung Coming of Age in Samoa bekannt geworden, in der sie sich speziell mit der Sexualität heranwachsender Mädchen beschäftigt und untersucht, welchen Einfluss die Kultur, in der diese Mädchen jeweils aufwuchsen, auf ihr Selbstverständnis ausübt.27 Die Kultur- und Persönlichkeitsschule ging von Boas’ These aus, rassische Unterschiede seien eher als Resultat kultureller, nicht aber biologischer Umstände zu verstehen und konzentrierte sich speziell auf eine Analyse des Verhältnisses zwischen dem Individuum und seinem kulturellen Umfeld. Vertreter der Boas-Schule versuchten, ein vollständiges Bild einer Gesellschaft durch eine umfassende Katalogisierung seiner Einzelelemente zu entwerfen. Das grundsätzliche Problem, dem sich diese Forscher immer wieder gegenüber sahen, bestand darin, die vielen einzelnen Elemente einer Kultur zu einem kohärenten, funktionalen Ganzen zu integrieren, eine kulturelle Integration zu erreichen. Unter anderem unter dem Einfluss der Gestalt-Theorie Myrdal. eine Zusammenfassung der Ansichten der culture and personality school: Bock, S.  60 – 61. 27  Benedict; Mead. 25 

26  Für

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und auch der Theorie von George Herbert Mead vertrat die Kultur- und Persönlichkeitsschule die Ansicht, dieser Integrationsprozess könne am effektivsten von der Persönlichkeit des Individuums angeregt werden, das von Natur aus darauf bedacht sei, seine privatpersönlichen Erfahrungen symbolisch zu überhöhen. Die Kultur- und Persönlichkeitsschule behauptete, dass sich bestimmte „kulturelle Muster“ bildeten, wenn das Individuum sich seine Welt zu einem sinnerfüllten Ganzen formte und, dass es dann diese symbolischen Muster von sich selbst auf andere Menschen übertrage. Für den Liberalismus ist hierbei der Gedanke des Individuums als Spiegel seiner Umwelt von zentraler Bedeutung; das Individuum wurde als psychologisch-kausaler Mikrokosmos des es umgebenden sozialen Umfelds verstanden, wobei dieses soziale Umfeld auch den Teil mitbeinhaltete, den das Recht konstituierte. Ich will mich jetzt ein wenig näher mit der ersten Untersuchung befassen, die das Gericht in Fußnote 11 zitiert hat – einer Untersuchung, durch die das Urteil eine symbolische Erhöhung erfuhr und in der Populärkultur überhaupt bekannt wurde. Ich beziehe mich auf die Untersuchung von Kenneth Clark mit dem Titel „Effect of Prejudice and Discrimination on Personality Development“ (Die Wirkung von Vorurteil und Diskriminierung auf die Persönlichkeitsentwicklung), die man im Volksmund als die „Puppen-Studie“ bezeichnete, da es hierbei unter anderem um psychologische Tests mit farbigen und weißen Puppen ging. Man braucht sich nicht lange mit der Biographie von Clark aufzuhalten; ich will lediglich erwähnen, dass er seine akademische Ausbildung im Jahre 1931 an der Howard Universität abschloss, einer Universität, die traditionell von Farbigen besucht wurde und er dann beschloss, „auf dem Gebiet von Otto Klineberg zu arbeiten“ (Klineberg war ein berühmter Schüler von Franz Boas und gehörte der Kultur- und Persönlichkeitsschule an).28 Im Jahre 1938 begann er seine weiterführenden Studien als Student an der Columbia Universität, wobei er sich intensiv mit den Arbeiten und dem Ansatz von Ruth Benedict und Margaret Mead auseinandersetzte. Clarks wissenschaftliche Forschungen kulminierten in der in Fußnote 11 zitierten Untersuchung. Besonders aufschlussreich ist der Kontext, in dem diese Arbeit erstmalig vorgestellt wurde: auf der Midcentury White House Konferenz über Kinder und Jugendliche. Bei dieser Veranstaltung handelte es sich um die fünfte in einer Reihe von Veranstaltungen, die sich mit in Armut lebenden Kindern beschäftigte und im Jahre 1909 von Theodore Roosevelt ins Leben gerufen worden war. Ursprünglich ging es um Kinder, die in Armut lebten, doch im Jahre 1940 verlagerte die FDR das Interesse auf „Kinder in einer Demokratie“ („wir sind hier mit dem Ziel zusammengekommen“, verkündete der Vorsitzende in seiner Eröffnungsrede, „um die Beziehung zwischen einer erfolgreichen, funktionierenden Demokratie und den Kindern, die einen integralen Bestandteil dieser Demokratie bilden, genauer zu betrachten. Wir sehen die Kinder in Bezug auf unsere Demokratie nicht mehr als etwas Separates oder als eine Gruppe, die getrennt davon existiert.“)29 Der Wartime 28  29 

Keppel, S. 103. Roosevelt, S. 2.

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Commission on Children (Kriegskommission für das Wohl der Kinder) oblag die Konferenzplanung während des 2. Weltkrieges; es ging darum, Wege zu finden, um jungen Menschen in einer Zeit globaler Konflikte zu helfen. Nach dem Krieg änderte die Gruppe ihren Namen, bezeichnete sich fortan als „National Commission on Children and Youth“ (Staatliche Kommission für Kinder und Jugendliche) und schlug eine weitere White House Konferenz vor, während der Status der Jugendlichen in der Nachkriegszeit behandelt werden sollte. Präsident Truman war damit einverstanden und die Konferenz wurde für Ende 1950 geplant. Das Veranstalterkomitee beschloss, dass es diesmal kein normales Treffen werden sollte, sondern „eine wirkliche Midcentury Conference“, eine Konferenz, die die Mitte des Jahrhunderts markierte, bei der es um die amerikanische Jugend gehen sollte und bei der „die wichtigsten Erkenntnisse der letzten 50 Jahre“ auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften berücksichtigt werden sollten, insbesondere „Entwicklungen auf dem Gebiet des menschlichen Verhaltens, der zwischenmenschlichen Beziehungen, und der Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt.“30 Die Wahl des Konferenzthemas ist sehr aufschlussreich. Fast 6.000 Konferenzteilnehmer versammelten sich in der National Guard Armory in Washington, D.C. zwischen dem 3. und 7. Dezember 1950. Im Vordergrund dieser Konferenz standen nicht etwa Auseinandersetzungen über Demokratie oder Armut, sondern die „Zufriedenheit des Einzelnen und verantwortungsvolles Staatsbürgertum“, ein Thema, das im Laufe der Konferenz vereinfacht wurde und nun schlicht „die gesunde Persönlichkeit“ hieß.31 Mit der Wahl eines Konferenzthemas, das sich der „gesunden Persönlichkeit“ widmete, versuchten die Veranstalter, das Hauptaugenmerk auf einen Bereich zu lenken, den man mit unserem heutigen Vokabular als „Soziale Anpassung“ bezeichnen würde und gleichzeitig hervorzuheben, dass die Zufriedenheit des Einzelnen in den Bereich staatbürgerlicher Verantwortlichkeit fällt. Das Thema und der Tenor der Konferenz insgesamt legten modernes „social engineering“ (soziale Technik) im Sinne von Gunnar Myrdal nahe und offiziell bezog man sich auf dieser Konferenz auf eine auf den Erkenntnissen von Erik Erikson beruhende Persönlichkeitsauffassung. Erikson vertrat den Standpunkt einer stufenförmigen Entwicklung der Persönlichkeit, im Rahmen derer eine Abfolge von psychologischen Entwicklungsaufgaben zu beobachten sei, die jeweils altersspezifisch aktuell werden und nacheinander gelöst werden müssen, um eine ausgewogene, „integrierte“ Persönlichkeit zu entwickeln.32 Zweifellos unter dem Einfluss von Margaret Mead, der er freundschaftlich verbunden war, entwarf er ein Konzept, nach dem die sich entwickelnde Persönlichkeit die sozialen und organisatorischen Konflikte ihrer Umwelt nicht nur spiegelt, sondern auch bekräftigt. „Was wir in dieser krisengeplagten Zeit brauchen“, schrieben die Veranstalter in ihrer Stellungnahme zu den Ergebnissen der Konferenz (wobei sich krisengeplagt Richards, S. 16. Witmer/Kotinsky, S. xvi – xviii. Das Gericht im Fall Brown zitierte Kapitel sechs des Volumens, das auf Clarks Forschung basiert, als zweiten Hinweis seiner elften Fußnote. 32  Erikson. 30  31 

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auf die Zeit des Kalten Krieges bezieht), „sind junge Menschen, die sowohl zufrieden sind, als auch bereit sind, soziale Verantwortung zu übernehmen, damit sie, unter anderem, eine soziale Ordnung schaffen können, in der die Chancen, ein zufriedenes und glückliches Leben zu führen, sehr viel größer sind. … Denn mit unserer Konferenz haben wir zeigen wollen, dass wir bei einem bewussten Umgang und einer Berücksichtigung alle Faktoren, die wir als instrumental zur Verschlechterung oder Verbesserung der gesunden Persönlichkeitsentwicklung bisher haben identifizieren können, eine Generation gesunder, verantwortungsbewusster Menschen erziehen können, die den vielfältigen Anforderungen des modernen Lebens besser gewachsen sein werden.“ Und ergänzend wird festgestellt, dass „abgesehen von den individuellen, humanitären Aspekten“ dieser Angelegenheit unsere Gesellschaft „mehr denn je auf effektive Arbeiter, klare Denker, loyale Bürger angewiesen ist, die innerlich gefestigt genug sind, ihre Lebensauffassung und Lebensart zu schützen.“33 Die Konferenzteilnehmer widmeten sich diesem umfassenden Thema in über dreißig einzelnen Sitzungen. Im Rahmen der Konferenzveranstaltung über Jugendliche und Rassendiskriminierung wurde Kenneth Clark gebeten, einen ausführlichen Bericht zum Thema „Die Wirkung von Vorurteil und Diskriminierung auf die Persönlichkeitsentwicklung“ zu verfassen. In diesem Bericht stützte sich Clark intensiv auf seine innovativen Untersuchungen über Kinder und Vorurteile, die er im Jahre 1939 gemeinsam mit seiner Frau Mamie Phipps Clark begonnen hatte. Mit dieser Arbeit sollte nachgewiesen werden, welche Auswirkung Rassismus auf das Selbstverständnis farbiger Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren hat. Clark bediente sich dabei einer Methode, die innerhalb der Kultur- und Persönlichkeitsschule von zentraler Bedeutung war: des projektiven Tests, einer Untersuchung, bei dem eine Testperson einem uneindeutigen Stimulus ausgesetzt wird und bei dem die aufgezeichneten Reaktionen definitionsgemäß subjektiv sind. Vertretern der Kultur- und Persönlichkeitsschule bieten solche subjektiven Reaktionen Einblick in die symbolischen „Muster“, die die jeweilige Testperson von seiner Kultur assimiliert hat.34 Im Rahmen seiner Analyse gab Clark Kindern afroamerikanischer Abstammung zwei Puppen zum Spielen, von denen eine braun, die andere weiß war. Clark interviewte die Kinder, indem er ihnen eine Reihe von Fragen stellte. Zunächst bat er die Kinder, ihm die „gute“ Puppe zu zeigen (die meisten wählten die weiße Puppe). Dann bat er sie, ihm die Puppe zu zeigen, die „böse“ aussah (die meisten Kinder wählten die braune Puppe). Als nächstes sollten die Kinder ihm die Puppe zeigen, die „wie ein weißes Kind aussieht“ (alle Kinder identifizierten dabei die richtige Puppe), dann die Puppe, die „wie ein farbiges Kind aussieht“, und schließlich die Puppe zeigen, „die wie Du selber aussieht“. Bei der letzten Frage wurden die Kinder unsicher und reagierten in unterschiedlichem Maße mit negativem Verhalten, einige wirkten regelrecht bestürzt. Aus diesen Untersuchungen zog Clark 33 

34 

Witmer/Kotinsky, S. xviii, xvi. Bock.

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eine wichtige Schlussfolgerung, die mittlerweile zum allgemeinen Wissensschatz jedes Amerikaners gehört und die er den Teilnehmern an der Midcentury Conference mit unmissverständlicher Klarheit unterbreitete: dass Rassentrennung zu einer Verminderung des Selbstwertgefühls bei Farbigen führt. Im Rahmen seiner Gutachteraussage bei einem der Brown Prozesse, für die er ähnliche, ortsspezifische Tests durchgeführt hatte, erklärte Clark: „Ich vertrete die Auffassung, dass eine fundamentale Konsequenz der Rassentrennung die grundsätzliche Verwirrung des Individuums ist … ihr Selbstverständnis widerspricht dem Bild, das sie von sich selbst haben.“35 Nach Clark wird eine Spaltung innerhalb des Rechts (der inhärente Widerspruch, der im Plessy Verfahren zur Sprache kam) als Verletzung des Ich wahrgenommen und empfunden; die Kinder, die Clark testete, waren nicht in der Lage, sich selbst wiederzuerkennen. Ihr Versuchsspiel hatte gezeigt, dass sie quasi in einem Zustand des Selbstwiderspruchs lebten. Und auf eben diesen Selbstwiderspruch, dieses niedrige Selbstwertgefühl, dieses verletzte „Denken und Empfinden“, nahm das Gericht in seiner Urteilsbegründung Bezug; diese Faktoren waren es auch, die in den Brown Prozessen das „nicht fassbare“ Element darstellten und die die nach Rassen getrennten Schulen von vorneherein ungleich machten. Gerade diese Ungerechtigkeit versuchte das Gericht mit seiner Erklärung, mit Plessy sei es nun vorbei, zu beheben und mit massiven Maßnahmen, die aufgrund dieser Entscheidung von bundesstaatlicher Seite innerhalb des Schulsystems ausgeübt wurden, zu untermauern (nach der Brown Entscheidung waren Bundesgerichte ermächtigt, Entscheidungen über alle Bemühungen zur Abschaffung der Rassentrennung im ganzen Land zu treffen). In dieser Hinsicht kann man sich den Worten eines Wissenschaftlers durchaus anschließen, der behauptet, dass mit der Entscheidung im Fall Brown eine Auffassung von einem freiheitlichen Regierungssystem demonstriert wurde, die, in der Analyse Michel Foucaults, zugleich individualisierend und totalisierend war.36 Es ist eine Auffassung, die der privatpersönlichen Sphäre des Individuums Sorge und Aufmerksamkeit widmet, um eben dieses Individuum in das größere System staatlicher Kontrolle integrieren zu können.

V.  Zur Bedeutung der Einheit dieser Perspektiven für das Recht Amerikanische Wissenschaftler beginnen nun zu verstehen, inwiefern dieser Aspekt des Falles Brown nicht nur für die gesamte Bürgerrechtsbewegung kennzeichnend, sondern auch prägend für die freiheitlich orientierte Rechtsauffassung und das politische Leben nach dem 2. Weltkrieg war. Man hat realisiert, dass der Fall Brown nicht nur aufgrund seiner besonderen Signifikanz in der Geschichte der 14. Verfassungsänderung und innerhalb der Entwicklung der Rechts- und Sozialwissenschaften Aufmerksamkeit verdient, sondern auch innerhalb der Geschichte liberal orientierter Regierungsstrukturen eine große Rolle spielt. In diesem Sinne 35 

36 

Whitman, S. 50. Foucault.

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zeigt das Urteil im Fall Brown nicht „alles, was das Gesetz, aber wohl alles, was der Staat sein könnte.“ Der amerikanische Nachkriegsliberalismus zeichnete sich nämlich durch Integrationsbewegungen auf mehreren Ebenen aus: rassische Integration, Integration auf bundesstaatlicher Ebene, wirtschaftliche Integration, kulturelle Integration und selbstverständlich die Integration auf sozio-psychologischer Ebene mit der einhergehenden Rationalisierung der privatpersönlichen Bereiche des Individuums, die gewissermaßen die Grundlage aller anderen Integrationsbestrebungen bildet und bei der der Fall Brown eine überaus wichtige Funktion einnimmt. Dies ist ein Ergebnis – oder, um im psychologischen Umfeld zu bleiben, die Errungenschaft einer weitgehend psychologisch orientierten Kulturauffassung – das bei den offiziellen Erinnerungen anlässlich des Jahrestags nicht unbedingt an erster Stelle erwähnt war, dessen Bedeutung von Historikern aber zunehmend gewürdigt wird. Und aus dieser Erkenntnis lassen sich meiner Überzeugung nach nicht nur Lektionen für die amerikanische Geschichte, sondern für den Bereich der Kulturtheorie allgemein lernen. Die drei Versionen des Falls Brown v. Board of Education und die Geschichte der 11. Fußnote konfrontieren uns mit der Entwicklungsgeschichte der modernen Kulturtheorie und zeigen auf, wie eben diese Entwicklung durch die Verknüpfung zweier integraler Manifeste innerhalb des Rechtssystems den Prozess der historischen Modernisierung fördern konnte. Die Geschichte des Falles Brown kann uns als Wissenschaftler demnach bewegen, über die historische Funktion der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung zu reflektieren, mit der gerade wir alle uns tagtäglich beschäftigen und auseinandersetzen.

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Anhang Aus Brown v. Board of Education We come then to the question presented: Does segregation of children in public schools solely on the basis of race, even though the physical facilities and other “tangible” factors may be equal, deprive the children of the minority group of equal educational opportunities? We believe that it does. In Sweatt v. Painter, in finding that a segregated law school for Negroes could not provide them equal educational opportunities, this Court relied in large part on “those qualities which are incapable of objective measurement but which make for greatness in a law school.” In McLaurin v. Oklahoma State Regents, the Court, in requiring that a Negro admitted to a white graduate school be treated like all other students, again resorted to intangible considerations: “… his ability to study, to engage in discussions and exchange views with other students, and, in general, to learn his profession.” Such considerations apply with added force to children in grade and high schools. To separate them from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone. The effect of this separation on their educational opportunities was well stated by a finding in the Kansas case by a court which nevertheless felt compelled to rule against the Negro plaintiffs: “Segregation of white and colored children in public schools has a detrimental effect upon the colored children. The impact is greater when it has the sanction of the law; for the policy of separating the races is usually interpreted as denoting the inferiority of the negro group. A sense of inferiority affects the motivation of a child to learn. Segregation with the sanction of law, therefore, has a tendency to [retard] the educational and mental development of negro children and to deprive them of some of the benefits they would receive in a racial[ly] integrated school system.”

Whatever may have been the extent of psychological knowledge at the time of Plessy v. Ferguson, this finding is amply supported by modern authority. 11 Any language in Plessy v. Ferguson contrary to this finding is rejected. We conclude that in the field of public education the doctrine of “separate but equal” has no place. Separate educational facilities are inherently unequal. Therefore, we hold that the plaintiffs and others similarly situated for whom the actions have been brought are, by reason of the segregation complained of, deprived of the equal protection of the laws guaranteed by the Fourteenth Amendment. 37

11  K. B. Clark: Effect of Prejudice and Discrimination on Personality Development (Midcentury White House Conference on Children and Youth, 1950); Witmer and Kotinsky, Personality in the Making (1952), c. VI; Deutscher and Chein, The Psychological Effects of Enforced Segregation: A Survey of Social Science Opinion, 26 J. Psychol. 259 (1948); Chein, What are the Psychological Effects of Segregation Under Conditions of Equal Facilities?, 3 Int. J. Opinion and Attitude Res. 229 (1949); Brameld, Educational Costs, in Discrimination and National Welfare (MacIver, ed., 1949), 44 – 48; Frazier, The Negro in the United States (1949), 674 – 681. And see generally Myrdal, An American Dilemma (1944).

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Literatur Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905). Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803). Muller v. Oregon, 208 U.S. 412 (1908). Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896). Sweat v. Painter, 339 U.S. 629 (1950). Benedict, Ruth: Patterns of Culture. New York, 1934. Bock, Philip: Continuities in Psychological Anthropology. San Francisco, 1980. Clark, Kenneth: Prejudice and Your Child. Boston, 1963. Dudziak, Mary: Cold War Civil Rights. Princeton, 2002. Erikson, Erik: Childhood and Society. New York, 1950. Fiss, Owen: Troubled Beginnings of the Modern State, 1888 – 1910. Cambridge, 2006. Foner, Eric: Reconstruction. New York, 1988. Foucault, Michel: The Foucault Effect. London, 1991. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. New York, 1973. Goodrich, Peter: Legal Discourse. New York, 1987. Gordon, Robert: Introduction: J. Willard Hurst and the Common Law Tradition in American Legal Historiography. In: Law & Society Review, Fall 1975, S. 9 – 55. Karst, Kenneth: Separate But Equal Doctrine, in: L. Levy/K. L. Karst/D. J. Mahney (Hrsg.): Encyclopedia of the American Constitution. New York, 1986, Bd. 4, S. 1649 – 1650. Keppel, Ben: The Work of Democracy. Cambridge, 1995. Kluger, Richard: Simple Justice: The History of Brown v. Board of Education and Black America’s Struggle for Equality. New York, 1975. Mead, Margaret: Coming of Age in Samoa. New York, 1928. Myrdal, Gunnar: An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy. New York, 1944. Purcell, Jr., Edward: The Crisis of Democratic Theory. Lexington, 1973. Richards, Edward: Proceedings of the Midcentury White House Conference on Children and Youth. Raleigh, 1951. Roosevelt, Franklin D.: Address, in: United States Department of Labor, Conference on Children in a Democracy. Washington, 1939, S. 2 – 5. Scott, Daryl M.: Contempt and Pity. Chapel Hill, 1997. Strum, Philippa: Brandeis. Lawrence, 1993. Weiner, Marc S.: Americans without Law: The Racial Boundaries of Citizenship. New York, 2006. – Black Trials: Citizens from the Beginnings of Slavery to the End of Caste. New York, 2004.

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Whitman, Mark: Removing a Badge of Slavery: The Record of Brown v. Board of Education. Princeton/New York, 1993. Witmer, Helen/Kotinsky, Ruth: Personality in the Making: The Fact-Finding Report of the Midcentury White House Conference on Children and Youth. New York, 1952.

Autorenverzeichnis Anne van Aaken Prof. Dr. iur et lic. rer. pol. Anne van Aaken ist ordentliche Professorin für Law and Economics, Rechtstheorie, Völker- und Europarecht an der Universität St. Gallen. Sie war Gastprofessorin u.a. an der Columbia Law School und der Hebrew University sowie an weiteren Universitäten im europäischen Ausland, Asien, Afrika und Lateinamerika. Im akademischen Jahr 2010/11 forschte sie als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie ist Vize-Präsidentin der European Society of International Law und war Consultant für die Weltbank, die OECD, GIZ und die UNCTAD. João Maurício Adeodato Prof. Dr. Dr. João Maurício Adeodato. Ordentlicher Professor für Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an der Bundesuniversität Pernambuco. Freidozent der Universität São Paulo. Senior Forscher der brasilianischen Forschungsgemeinschaft CNPq. War Gastprofessor u. a. an der Universitäten Buenos Aires, Pablo de Olavide Sevilla, Mainz, Freiburg i. B., Heidelberg und Hagen. Mitglied des Exekutiven Vorstands der IVR. Publizierte zahlreicher Bücher, Kapitel und Aufsätze in Brasilien und dem Ausland (Argentinien, China, Spanien, Vereinigten Staaten, Frankreich, Niederlande, Indien, Italien und Portugal). Webseite: http://lattes.cnpq.br/8269423647045727 Carsten Bäcker Carsten Bäcker ist seit 2015 Privatdozent an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit der Lehrbefugnis für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, im WS 2015/16 Vertretung der Professur für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2010 ist er Mitglied des Vorstands der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Von 2004 bis 2013 war er Sprecher des Jungen Forum Rechtsphilosophie (JFR). Wichtigste Publikationen: Begründen und Entscheiden. Kritik und Rekonstruktion der Alexyschen Diskurstheorie des Rechts, 2. Aufl. Baden-Baden 2012; Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht an der Grenze des Grundgesetzes, Tübingen 2015. Winfried Brugger Winfried Brugger war bis zu seinem frühen Tod 2010 Professor für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre an der Universität Heidelberg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen (Promotion zum Dr. iur.), München und Berkeley (LL.M.) habilitierte er sich in Tübingen und nahm zunächst einen Ruf an die Universität Mannheim und 1992 nach Heidelberg an. Er war wiederholt Gastprofessor am Georgetown University Law Center Washington, D.C., ferner an den University of Houston, University of San Francisco und University of  San Diego Law Centers und Fellow am Max Weber Kolleg in Erfurt. Sein Werk umfasst 18 Bücher und über 250 Aufsätze zu Menschenrechten, Verfassungsvergleichung zwischen den USA und Deutschland sowie zu verschiedenen rechtsphilosophischen Themen.

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Vasiliki Christou Dr. Vasiliki Christou, geb. 1979, ist berufstätig als Rechtsanwältin in Athen, bei der Rechtsfirma KLC Law Firm. Sie hat in Athen studiert und ist an der Universität Heidelberg promoviert. Ihre Doktorarbeit unter dem Titel Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion. Ein Beitrag im Lichte des deutschen, des US-amerikanischen und des griechischen Rechts ist im Jahr 2006 (Nomos Verlag) erschienen. Sie hat als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Heidelberg und der Universität Mannheim (2005 – 2006), und als Assistentin für Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät Athen (2007 – 2013) gearbeitet. Sie hat ein zweites Buch, in griechisch, im Bereich des Verwaltungsrechts (Jahr 2010), und viele Beiträge im Bereich der Rechtsphilosophie, des Verfassungsrechts, des Europarechts, und des Umwelt- und Baurechts veröffentlicht. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Giancarlo Corsi Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Modena-Reggio Emilia. Aktuelle Schwerpunkte: soziologische Theorie, öffentliche Meinung, Organisationssoziologie, Verfassung und Rechtssoziologie. Veröffentlichungen: Salute e malattia nella teoria dei sistemi (Hg.), Mailand 2015; Sociology of Constitutions: A Paradoxical Perspective, London, im erscheinen (hg. mit Alberto Febbrajo); The Concept of Autopoiesis: Its Relevance and Consequences for Sociology, Constructivist Foundations, X, 2, 2015: 194 – 196; Hypertrophie der Zukunft. Scheitern als Perspektive der Karriere, in René John, Antonia Langhof (Hg.), Scheitern – Ein Desiderat der Moderne?, Wiesbaden, 2014: 311 – 332; Die Ordnung der Zahlen und die Intrasparenz der Öffentlichkeit, in Alberto Cevolini (Hg.), Die Ordnung des Kontingenten, Wiesbaden, 2014: 63 – 82 Frank Dietrich Frank Dietrich ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Politischen Philosophie, der Rechtsphilosophie und der Medizinethik. Er ist u. a. Autor von „Sezession und Demokratie“ (Berlin/New York 2010) und „Philosophie der internationalen Politik zur Einführung“ (mit V. Zanetti, Hamburg 2014). E-Mail: Frank.Dietrich@ uni-duesseldorf.de Andreas Fischer Dr. Andreas Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Weisheit und komplexes Problemlösen; Dynamische Entscheidungsfindung. Seit 2014 leitender Herausgeber des Journal of Dynamic Decision Making. E-Mail: [email protected] Joachim Funke Prof. Dr. Joachim Funke, Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Denken und Problemlöser; Umgang mit Komplexität und Entscheidungen unter Unsicherheit; Kreativität und Intelligenz. Von 2009 – 2014 Chairman der Internationalen Expertengruppe der OECD (Paris) für den Bereich „Problem Solving“ im Rahmen von PISA 2012. E-Mail: [email protected]

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Dieter Grimm lehrt Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Yale Law School und ist Permanent Fellow (von 2001 bis 2007 Rektor) des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts. E-Mail: grimm@ wiko-berlin.de Bettina von Helversen Bettina von Helversen ist Professorin für kognitive Entscheidungspsychologie an der Universität Zürich. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich damit, welche kognitiven Strategien Menschen verwenden um Urteils und Entscheidungsaufgaben zu lösen, und inwieweit diese Strategien von Emotionen, kognitiven Fähigkeiten und der Aufgabenstruktur beeinflusst werden. Zudem interessiert sie sich dafür wie sich das Entscheidungsverhalten über die Lebensspanne verändert und durch institutionelle Kontexte geformt wird. E-Mail: Bettina. [email protected] Miodrag A. Jovanović Miodrag A. Jovanovic ist ordentlicher Professor für Rechtstheorie an der Universität Belgrad. Er ist Fellow der Alexander von Humboldt Stiftung und Präsident der serbischen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Seine Forschungsinteressen gelten der Rechtstheorie, den philosophischen Grundlagen des Völkerrechts sowie der Theorie kollektiver Rechte. E-Mail: [email protected] Matthias Jestaedt Prof. Dr. iur. Matthias Jestaedt ist Direktor der Abteilung 3 (Rechtstheorie) des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., Mitglied des Vorstands der Hans Kelsen-Stiftung, Wien, und Leiter der Hans-Kelsen-Forschungsstelle, Freiburg. Seit 2012 fungiert er als für Grundlagenfächer zuständiges Mitglied im Fachkollegium 113 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 2014 ist er ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, seit 2016 Mitglied des Vorstands der Vereinigung Deutschen Staatsrechtslehrer. Stephan Kirste Stephan Kirste ist seit 2012 Universitätsprofessor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Salzburg und seit 2010 Vorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Zuvor war er Dekan an der deutschsprachigen Andrássy Universität Budapest. 2004 Habilitation in Heidelberg mit Venia Legendi für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie, Verfassungsgeschichte der Neuzeit und Rechtssoziologie. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Menschenrechte, Recht und Zeit, Medizinethik. Wichtigste Publikationen: Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, Berlin 1998; Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010. E-Mail: [email protected] Bart van Klink Bart van Klink ist Professor Methoden des Rechts und Rechtswissenschaft am Fachbereich Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, der Freien Universität Amsterdam, die Niederlande. Zusammen mit Sanne Taekema hat er den Sammelband Law and Method herausgegeben (Mohr Siebeck: Tübingen 2011) und hat er die Zeitschrift mit den selben Namen gegründet. Er ist inter-

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essiert in Fragen der jurististischen Methodik, der interdisziplinärer Zusammenarbeit, der juristischer Argumentation und den politischen Voraussetzungen des Rechts und Rechtsstaates. E-Mail: [email protected] Webseite: https://www.rechten.vu.nl/en/about-the-faculty/faculty/faculty/legal-theory-and-legal-history/bart-van-klink.asp Joachim Lege Prof. Dr. jur. Joachim Lege ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte, Rechts- und Staatsphilosophie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Juristischen Erkenntnistheorie („Methodenlehre“), auf dem Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG und auf dem Bau- und Raumplanungsrecht. Oliver W. Lembcke Dr. Oliver W. Lembcke, Vertretungsprofessur an der Friedrich Schiller Universität Jena für den Lehrstuhl Politische System der Bundesrepublik Deutschland; seit 2012 Gastprofessor an der VU Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Politische Grundlagen des Rechts; vergleichende Verfassungsgerichtsforschung; normative Demokratietheorie und empirische Demokratieforschung. 2011-2013 Sachverständiger und Berater in Wahlrechtsfragen im Zuge der Verfassunggebung in Ägypten und Tunesien. E-Mail: [email protected]. Georg Lohmann Prof. (em.) Dr. Georg Lohmann, seit 2013 emeritierter Professor für Praktische Philosophie der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Zahlreiche Aufsätze zur Praktischen Philosophie, insbesondere zu den Menschenrechten. Zuletzt: Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Arnd Pollmann, Georg Lohmann, 2012. Klaus Mathis Prof. Dr. iur. Klaus Mathis, MA in Economics, ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Recht der nachhaltigen Wirtschaft an der Universität Luzern sowie Geschäftsleiter des Instituts für Juristische Grundlagen (lucernaiuris) und des Center for Law and Sustainability (CLS). Er ist ausserdem der Herausgeber der wissenschaftlichen Schriftenreihe „Economic Analysis of Law in European Legal Scholarship“. E-Mail: klaus.mathis@ unilu.ch Norbert Paulo Norbert Paulo wurde 2015 nach einem Doppelstudium der Philosophie und der Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg am dortigen Fachbereich für Philosophie promoviert. Forschungsaufenthalte führten ihn an die Georgetown University (USA) und an die University of Oxford (UK). Er arbeitet seit 2013 im Bereich Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Bioethik, Rechtsphilosophie, Philosophische Methoden. Wichtigste Veröffentlichung: The Confluence of Philosophy and Law in Applied Ethics (Palgrave, 2016). E-Mail: [email protected] Dietmar von der Pfordten Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten, seit 2002 o. Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Wes. Veröff.: Deskription, Evaluation, Präskription 1993; Ökologische Ethik 1996; Rechtsethik, 22011; Menschenwürde, Recht und

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Staat bei Kant, 2009; Normative Ethik 2010; Suche nach Einsicht 2010; Rechtsphilosophie. Eine Einführung 2013. Menschenwürde 2016. Marcel Senn Marcel Senn (geb. 1954) ist seit 1995 Professor für Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte und Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, deren Prodekan (2006 – 2008) und Dekan er von 2008 bis 2010 war. Ferner war er Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) von 2005 bis 2009. Veröffentlichungen siehe: http://www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/alphabetisch/senn/person/publikationen.html. E-Mail: [email protected] Sanne Taekema Sanne Taekema is Professor of Jurisprudence at the Erasmus School of Law in Rotterdam. Her research interests include the rule of law, particularly in a transnational context, general issues of legal theory, particularly the role of values in jurisprudence and legal pragmatism, law and literature, and legal methodology with a focus on interdisciplinarity. She is one of the editors-in-chief of the journal Law and Method. Together with Bart van Klink she published the volume Law and Method (Mohr Siebeck 2011) on interdisciplinarity in legal research. She is director of the ESL research programme Rethinking the Rule of Law in an Era of Globalisation, Privatisation and Multiculturalisation. Mark S. Weiner Mark S. Weiner is Professor of Law and Sidney I. Reitman Scholar at Rutgers School of Law in Newark, New Jersey. He is the author of The Rule of the Clan: What an Ancient Form of Social Organization Reveals about the Future of Individual Freedom (Farrar, Straus and Giroux, 2013), winner of the Grawemeyer Award for Ideas Improving World Order; Americans without Law: The Racial Boundaries of Citizenship (NYU, 2007), winner of the President’s Book Award of the Social Science History Association; and Black Trials: Citizenship from the Beginnings of Slavery to the End of Caste (Knopf, 2004), winner of the Silver Gavel Award of the American Bar Association. His videos about law and legal history can be found on his website, www.worldsoflaw.com. He holds an A.B. from Stanford University, a Ph.D. from Yale University, and a J.D. from Yale Law School. E-Mail: marksweiner@ worldsoflaw.com