Defizite in Staat und Verwaltung: Beiträge auf der 10. Speyerer Demokratietagung vom 25. und 26. Oktober 2007 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428532629, 9783428132621

Die 10. Speyerer Demokratietagung stellte ein kleines Jubiläum dar. Deshalb wurde, getreu dem Speyerer Ansatz, praxisnah

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Defizite in Staat und Verwaltung: Beiträge auf der 10. Speyerer Demokratietagung vom 25. und 26. Oktober 2007 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428532629, 9783428132621

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 203

Defizite in Staat und Verwaltung Beiträge auf der 10. Speyerer Demokratietagung vom 25. und 26. Oktober 2007 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Defizite in Staat und Verwaltung

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 203

Defizite in Staat und Verwaltung Beiträge auf der 10. Speyerer Demokratietagung vom 25. und 26. Oktober 2007 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-13262-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die 10. Speyerer Demokratietagung stellte ein kleines Jubiläum dar. Es wurde deshalb auf die Themen der vergangenen fünfzehn Jahre zurückgeblickt, in denen sich jeweils ganz bestimmte Probleme widerspiegeln. Dabei wurde die Entwicklung der Probleme und des Problembewusstseins einschließlich ihrer öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion in dieser Zeit verfolgt. Die Mängel und Defizite, tatsächliche und eingebildete, dürften wesentliche Ursachen für die anscheinend zunehmende Politik(er)verdrossenheit sein. Als Indikatoren werden – neben Meinungsumfragen – gemeinhin die abnehmende Wahlbeteiligung und der Rückgang der Mitglieder von Parteien und Verbänden angesehen. Herrn Andrei Király, der mich bei der Vor- und Nacharbeit zu diesem Tagungsband unterstützt hat, sage ich auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank. Speyer, im April 2010

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Defizite in Staat und Verwaltung – Rückblick auf die letzten 15 Jahre Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans Herbert von Arnim Von Thomas Duve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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The Organization of Anticorruption – Top-Down or Bottom-Up? By Johann Graf Lambsdorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Johann Graf Lambsdorff Von Regina von Görtz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Whistleblower: Helden des Alltags? Von Antje Bultmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Antje Bultmann Von Andrei Király . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Machtwahn: Die wirkliche Korruption sieht ganz anders aus Von Albrecht Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wer enthauptet die Hydra? Von Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Paul Kirchhof Von Alfred G. Debus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier? Von Joachim Linck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Joachim Linck Von Larissa Vetters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Direkte Demokratie – Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk: Fortschritte und Rückschritte in den letzten 15 Jahren in Deutschland Von Otmar Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Otmar Jung Von Christian Bauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Defizite in Staat und Verwaltung Rückblick auf die letzten 15 Jahre Von Hans Herbert von Arnim 175 Jahre nach dem Hambacher Fest und 60 Jahre nach Gründung dieser Hochschule möchte ich zu Beginn der 10. Speyerer Demokratietagung einige provokative Thesen formulieren und dabei an die Themen früherer Demokratietagungen anknüpfen. Zugleich werde ich einen Seitenblick auf die Forderungen werfen, die die Hambacher 1832 erhoben hatten. Da ich – wie alle Referenten – nur zwanzig Minuten Zeit habe, muss das Schwergewicht auf der anschließenden Diskussion liegen. I. Die politische Klasse zwischen Gemeinwohl und Eigeninteresse Das Grundgesetz verlangt von Regierungen, Abgeordneten und anderen Repräsentanten des Volkes, dass sie zum Besten der ihnen anvertrauten Menschen handeln. Das wird im Amtseid des Bundespräsidenten und der Regierungsmitglieder auch beschworen. Wird dieses Versprechen aber eingelöst? Oder haben Berufspolitiker in der Praxis vor allem ihr eigenes Bestes im Sinn? Gewichtige Zweige der Realwissenschaften unterstellen eben dies. Ein politikwissenschaftlicher Ansatz, der seit eineinhalb Jahrzehnten immer größere Anerkennung findet, geht davon aus, Berufspolitiker bildeten – über Partei- und Föderalismus-Grenzen hinweg – eine politische Klasse, der es vor allem um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen an der Absicherung ihres Status, an Macht, Posten und Einkommen geht. Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, nicht um den Konkurrenzbereich, in dem die Akteure um den Sieg kämpfen und nur eine Seite gewinnen kann, weil sie etwa bei Wahlen die Mehrheit erlangt und die Regierung stellt. Es geht vielmehr um Interessen aller Berufspolitiker an der Sicherung und Verbesserung ihres Status. Solche gemeinsamen Interessen haben auch Angehörige anderer Berufe. Das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, dass die politische Klasse mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht sitzt und deshalb ihre Interessen – im Gegensatz zu allen anderen Berufen – unmittelbar in Verfassungen, Gesetze und Haushaltspläne einfließen lassen kann. Mit

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dem Thema „Politische Klasse und Verfassung“ befasste sich die 4. Speyerer Demokratietagung. Die staatsrechtlichen Institutionen sollen der Idee nach gemeinwohlorientierte Politik erleichtern. Zumindest sollen sie es dem Volk ermöglichen, schlechte Regierungen ohne Blutvergießen wieder loszuwerden (Karl Raimund Popper). Dazu sollten Verfassungsgeber eigentlich unter dem „Schleier des Nichtwissens“ (John Rawls) handeln, das heißt ohne Rücksicht auf eigene Interessen die Verfassung (im formellen und materiellen Sinn) zum Besten der gesamten Gemeinschaft gestalten. Die Politikwissenschaft spricht hier von (geschriebenen und ungeschriebenen) Grundregeln des Erwerbs, des Behalts und der Ausübung der Macht. Das wurde in der 2. Demokratietagung unter dem Thema „Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für ‚gute‘ und bürgernahe Politik“ behandelt. Wie aber, wenn die politische Klasse auch bei Gestaltung dieser Regeln zuerst an sich selbst denkt? Und warum sollte sie dies ausgerechnet dann nicht tun, wenn es um das in ihren Augen Wichtigste geht, die Regeln des Machterwerbs? Das klassische Beispiel solcher „Selbstbedienung“, so der Volksmund, ist die staatliche Parteienfinanzierung. Als sie 1959 in der Bundesrepublik eingeführt wurde, war das eine europäische Premiere und wäre sogar eine Weltpremiere gewesen, hätten nicht Argentinien und Puerto Rico ihre Parteien schon subventioniert. Heute leben unsere Parteien und – in stärkeren Maße noch – ihre Hilfsorganisationen (wie die Parlamentsfraktionen und die Parteistiftungen) – trotz aller vorgeschützten Klagen – finanziell im Schlaraffenland, wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon vor Jahren feststellte. Ein anderes Beispiel ist das Wahlrecht. Wahlen sollten eigentlich die zentrale Äußerungsform des Volks in der repräsentativen Demokratie sein. Aus der Sicht der politischen Klasse dient das Wahlsystem aber vor allem dazu, sich gegenüber dem Volk abzuschotten und vor Kontrolle zu bewahren. Wie rücksichtslos hier manipuliert wird, hat Merith Niehuss auf der 4. Speyerer Demokratietagung für die Zeit nach 1945 demonstriert. Heute geschieht dies zwar sublimer, aber nicht weniger wirkungsvoll. Nach dem Grundgesetz müssen die Volksvertreter vom Volk gewählt werden – frei und unmittelbar. Tatsächlich aber entscheiden die Parteien. Wen sie in sicheren Wahlkreisen oder auf sicheren Listenplätzen nominieren, der ist damit faktisch bereits „gewählt“ – lange vor der eigentlichen Volkswahl. Wer im Wahlkreis verliert, ist häufig auf der Liste abgesichert. Ein Beispiel: Bei der Bundestagswahl 2005 trat im Wahlkreis Hamm-Unna II Dieter Wiefelspütz (SPD) an, der erwartungsgemäß diesen sicheren Wahlkreis seiner Partei gewann. Im selben Wahlkreis kandidierten auch Laurenz Meyer (CDU) und Jörg van Essen (FDP). Ihre Niederlage im Wahlkreis tat ihnen aber

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nicht im Geringsten weh, weil beide sichere Listenplätze ihrer Parteien innehatten und deshalb von vornherein feststand, dass auch sie in den Bundestag einziehen würden. Der heftige Wahlkampf in Hamm-Unna II und in Hunderten anderen Wahlkreisen war nur ein inszeniertes Scheingefecht, das die Wähler darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie in Wahrheit keinen Einfluss auf die Auswahl ihrer Abgeordneten haben. Mindestens müssten die bislang starren Wahllisten flexibilisiert werden, wie dies seit der Verfassungskommission von 1976 von allen Seiten gefordert wird. Zugleich müssten Vorwahlen eingeführt werden, damit die Bürger auch in sicheren Wahlkreisen eine Wahl haben. Franz Müntefering hatte dies vor einigen Jahren vorgeschlagen, war damit aber in seiner Partei schnell gescheitert. Ein drittes Beispiel ist die spezifisch bundesdeutsche Ausprägung unseres Föderalismus. Dass die zweite Bundeskammer aus Regierungen der Gliedstaaten besteht, haben die Ministerpräsidenten seinerzeit selbst durchgesetzt. Das gibt es in keinem anderen westlichen Bundesstaat, aber es verschafft den „Landesfürsten“ eine wunderbare Bühne auf Bundesebene, und in Berlin wird nun mal die politische Musik gespielt. Zugleich sind die Kompetenzen von Bund und Ländern so vermischt, dass kein Bürger mehr durchblickt. Der so gestaltete Bundesrat und die Verhältniswahl tragen zur inzwischen fast sprichwörtlichen Handlungsschwäche der Politik bei: Der Bundeskanzler und seine Partei sind nicht nur auf den (oder die) kleineren Koalitionspartner angewiesen, sondern auch auf die Opposition, die – in den Jahrzehnten vor 2005 – meist den Bundesrat beherrschte. Das bewirkt, „dass am Ende niemand mehr weiß, wer für welche Entscheidung überhaupt verantwortlich zu machen ist.“ (Warnfried Dettling) Der Wähler kann gute Politik nicht mehr mit dem Stimmzettel belohnen und schlechte Politik nicht bestrafen, wie dies das Konzept der Demokratie verlangt. Erfolge rechnet sich jeder zu, für Misserfolge sind dagegen immer die anderen verantwortlich. Weil alle beteiligt sind, trägt in Wahrheit niemand die Verantwortung. Das ist für die politische Klasse zwar angenehm. Ihr Berufsrisiko wird stark gemindert. Deshalb hat sie die Verantwortungsscheu ja auch zum System gemacht. Umgekehrt werden aber Bürger und Wähler vollends orientierungslos und die Steuerungsfähigkeit des Systems weitgehend aufgehoben. Es herrscht ein Zustand organisierter Unverantwortlichkeit. Dies war auch das Thema der 7. Demokratietagung. Auch bei der Besetzung von Ämtern, die nicht durch Wahl, sondern durch Ernennung vergeben werden, zeigt sich der Hunger der politischen Klasse nach Macht und Posten. Die Ämter müssten eigentlich nach fachlicher und persönlicher Qualifikation besetzt werden. Das schreibt das Grundgesetz ausdrücklich vor (Art. 33 Abs. 2). Tatsächlich aber miss-

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braucht die politische Klasse die ihr anvertrauten Ämter zur eigenen Versorgung und zur Sicherung ihres Einflusses. Das geschieht zwar nicht immer und überall, aber leider immer öfter. Ja, die politische Klasse unternimmt es sogar, Kontrollinstanzen (wie die Verfassungs- und andere hohe Gerichte, Rechnungshöfe und öffentlich-rechtlichen Medien) durch Besetzung mit ihren Leuten gleichzuschalten, eine Thematik, die Rainer Wahl, Michael Kloepfer und Werner Schmidt-Hieber auf früheren Demokratietagungen behandelt haben. In den genannten vier Bereichen wird das Handeln der politischen Klasse in eigener Sache zum eigenen Vorteil besonders deutlich. Gilt dies aber nicht auch sonst, wenn der eigene Status berührt wird, also bei allen Regeln des Erwerbs und der Ausübung der Macht und damit z. B. auch bei der Gestaltung der Gemeindeverfassung, beim Zuschnitt der Länder und Gemeinden, der Größe der Volksvertretungen und der Frage der direkten Demokratie? Gehört hierher nicht z. B. auch die Aufblähung von Landtagsmandaten zu voll bezahlten und voll versorgten Fulltimejobs? Dies lohnt sich ja nicht nur finanziell für die Abgeordneten, sondern ermöglicht ihnen auch tagein tagaus vor Ort in der Partei und in der Öffentlichkeit präsent zu sein und so ihre Wiedernominierung bei der nächsten Wahl zu sichern und Herausforderern keine Chance zu lassen. Das ist das Thema von Joachim Linck. Johann Wirth, einer der Wortführer auf dem Hambacher Fest, prangerte den Egoismus der Fürsten und ihrer Kamarilla an, die sich, wie er sagte, aus bloßem Eigeninteresse der Einführung effektiver Demokratie entgegenstemmten. Doch ist die Lage bei uns in dieser Hinsicht so völlig anders? Hat sich nicht hier und heute eine politische Klasse gebildet, die grundlegende Institutionen, eben die Regeln des Machterwerbs, wenn auch meist ohne Anwendung von Gewalt, aus egoistischem Streben nach Macht, Posten und Geld verdorben hat? II. Korruption und Lobbyismus Mehrere Demokratietagungen haben sich mit Korruption und ihrer Bekämpfung befasst, und auch heute Nachmittag werden wir dazu einiges hören. Als Korruption bezeichnen wir den „Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil“. Ist es aber nicht Korruption, und zwar in ganz großem Stil, wenn die politische Klasse die ihr anvertraute Macht dazu missbraucht, die Regeln des Machterwerbs an ihren eigenen Interessen auszurichten und sie letztlich so zu verderben, dass Bürgernähe und politische Handlungsfähigkeit auf der Strecke bleiben? Bisher habe ich Fälle besprochen, wo Politiker ihr Amt zum eigenen (direkten oder indirekten) Vorteil missbrauchen. Wir sprechen von Autokor-

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ruption. Unter den Begriff „Korruption“ fällt es natürlich auch, wenn bestochene Amtsträger zugunsten anderer entscheiden. Mit dem Thema „Korruption“ haben sich mehrere Demokratietagungen befasst, und auch heute werden wir dazu noch einige Vorträge hören. In der pluralistischen Demokratie sind Einwirkungen von Unternehmensverbänden, Gewerkschaften und anderen Interessenten auf die Politik zwar bis zu einem gewissen Grad systemimmanent. Wie aber, wenn bei solchem Lobbying wirtschaftliche Macht statt des guten Arguments den Ausschlag gibt – der Nobelpreisträger für Ökonomie K. A. von Hayek nannte das „inhärente Korruption“ – und in einem Mechanismus umgekehrter Demokratie gerade die wichtigsten Belange leicht zu kurz kommen? Völlig inakzeptabel ist es jedenfalls, wenn Amtsträger mit Geld oder sonstigen Vergünstigungen geneigt gemacht werden. Dann droht aus Demokratie Plutokratie, die Herrschaft der Reichen, zu werden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass der Bundestag die Regelungen über Nebeneinkünfte seiner Mitglieder verschärft hat und diese auch vor dem Verfassungsgericht Stand hielten. Jetzt müssen die Landesparlamente nachziehen. Doch auch im Bund fehlt noch immer manches, z. B. ein wirksamer Straftatbestand gegen Abgeordnetenkorruption. III. Direkte Demokratie Schon die 1. Demokratietagung von 1997, also genau vor 10 Jahren, beschäftigte sich mit den großen Herausforderungen, vor denen unsere Demokratie steht. Demografischer Wandel und Globalisierung konfrontieren uns unerbittlich mit der Frage, wie lange wir uns die Verbiegung der Regeln des Machterwerbs mit allen ihren Folgen noch leisten können und wo die politische Kraft zu suchen ist, die eine Reform an diesem strategischen Punkt bewirken kann. Folgt man den Klassikern, so gibt es gegen Fehlentwicklungen in der Demokratie letztlich nur eine wirksame Instanz: das Volk selbst. Das Grundgesetz postuliert Volkssouveränität. Auch das war eine Forderung des Hambacher Fests und setzt voraus, dass das Volk sich seine Verfassung selbst gibt oder zumindest maßgeblich an der Verfassungsgebung mitwirkt. Ist diese Forderung bei uns aber etwa eingelöst? Auf Entstehung und Inhalt des Grundgesetzes hatten die Bürger nicht den geringsten Einfluss. Den Vätern des Grundgesetzes war es auch völlig klar, dass ihrem Kind die demokratische Legitimation fehlt. Deshalb haben sie an den Schluss ihres Werks ein demokratisches Ventil gesetzt in Form des Art. 146 GG. Da die demokratische Legitimation auch nach der deutschen Vereinigung nicht nachgeholt wurde, richtet sich unser Blick heute wieder auf diesen Artikel. Er sieht vor, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, so-

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bald „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Hans Meyer hat auf einer früheren Demokratietagung die Sprengkraft dieser Vorschrift aufgezeigt und den Bundestag aufgefordert, endlich das erforderliche Ausführungsgesetz zu erlassen, damit das schlafende Dornröschen endlich wachgeküsst werden könne – gemeint war die Ablösung des Grundgesetzes durch eine demokratisch legitimierte Verfassung. Notfalls müsse die politische Klasse dazu direktdemokratisch gezwungen werden. Damit komme ich zum Thema „Direkte Demokratie“, dem die 3. Demokratietagung gewidmet war und zu dem wir morgen ja auch zwei Vorträge hören werden. Die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid scheint der einzige Weg, der es ermöglicht, der politischen Klasse auf Bundesebene die Alleinherrschaft über die Regeln des Machterwerbs zu entziehen und diese im Sinne der Bürger umzugestalten. Direktdemokratische Entscheidungen würden – erstens – selbst beide Elemente der Demokratie – Partizipation und inhaltliche Richtigkeit der Gesetze – besser verwirklichen als Entscheidungen durch das Parlament. Wenn das Volk selbst entscheidet, ist der Grad seiner Mitwirkung offenbar größer, als wenn das Parlament entscheidet. Und auch die Richtigkeitschance ist größer, als wenn die befangene politische Klasse in eigener Sache beschließt. Zugleich wären sie – zweitens – der Hebel, mittels dessen das Wahlrecht und andere Regeln des Machterwerbs reformiert werden könnten. Sind Volksbegehren und Volksentscheid eröffnet, kann man auch von wirklicher Volkssouveränität sprechen. Denn das Nichtgebrauchmachen von der Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, könnte – bei realistischer Betrachtung – durchaus als Einverständnis mit seinem Inhalt angesehen werden. Vorderhand gibt es allerdings nur in den Ländern und Gemeinden direkte Demokratie. Eine Änderung der Regeln des Macherwerbs im Sinne der Bürger und gegen den Willen der politischen Klasse ist derzeit nur dort möglich. Entsprechende Vorschläge haben auf früheren Demokratietagungen Brun-Otto Bryde, Fried Esterbaur und Hans-Horst Giesing gemacht. Und Albert Janssen hat dies in bemerkenswerter Intensität vertieft. (Albert Janssen, Nachdenkliches zur Entwicklung des Landesparlamentarismus in Niedersachsen, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Hannover, Band 40, Baden-Baden, 2007.) Die Vorschläge laufen im Kern auf die Direktwahl des Ministerpräsidenten sowie auf die Reform der Landtagswahl und des Status von Landtagsabgeordneten hinaus. Dazu der Beitrag von Joachim Linck. Die Vorschläge werden durch eine im letzten Jahr im Verlag Duncker und Humblot erschienene Speyerer Dissertation von Jan Backmann untermauert. Ministerpräsidenten würden dann nicht in Hinterzimmern ausgekungelt wie bei der Landtagswahl 2008 in Bayern. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive würde wieder hergestellt.

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Direktgewählte Regierungschefs ließen sich auch im Bundesrat nicht so leicht parteipolitisch instrumentalisieren. In den meisten Ländern kann man mit Volksbegehren und Volksentscheid auch die Verfassung ändern, an der politischen Klasse im Parlament vorbei. Vorbild für eine solche durchgreifende Änderung der Landesverfassung ist die Durchsetzung der süddeutschen Direktwahl der Bürgermeister in ganz Deutschland vor eineinhalb Jahrzehnten, die ebenfalls durch Volksentscheide – und durch glaubwürdiges Drohen damit – gelang. Das war übrigens die einzige grundlegende Reform der Regeln des Machterwerbs in den letzten Jahrzehnten. Ähnlich wie seinerzeit die Kommunalverfassung ließe sich nun die Landesverfassung durch Volksbegehren und Volksentscheid grundlegend reformieren und so mehr Bürgernähe und mehr politische Handlungsfähigkeit erreichen. Würde eine solche „legale Revolution“ nur in einem Bundesland gelingen, könnte davon eine demokratische Aufbruchstimmung ausgehen, der sich auch andere Länder und der Bund kaum entziehen könnten. In jedem Fall ist demokratische Politik zu wichtig, als dass man sie allein Berufspolitikern überlassen sollte. IV. Schluss Die Frage, ob es gelingt, die erforderlichen Reformen unserer demokratischen Infrastruktur vorzunehmen, ist eine Verfassungsfrage par excellence. Kann die politische Klasse über ihren Schatten springen und sich sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen oder muss es erst noch sehr viel schlimmer kommen?

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans Herbert von Arnim Von Thomas Duve Der Diskussionsleiter Prof. Dr. Albert Janssen, Landtagsdirektor i.R., eröffnete die Diskussion mit einem Zitat von Prof. von Arnim aus der Festschrift für Werner Frotscher. Dort schreibe von Arnim: „Wir haben nicht nur einen Reformstau in Deutschland, sondern wir haben einen Wahrheitsstau.“ Janssen schlussfolgerte daraus, dass das, was Politik ist und was Politik sein sollte, nicht nur den Berufspolitikern überlassen werden sollte. Er hob zwei Schwerpunkte in von Arnims Vortrag hervor, an denen sich die Diskussion orientieren sollte. Der erste Schwerpunkt sei die Mängelanalyse und die damit verbundene Frage nach der politischen Kraft, die diese aufgezeigten Mängel korrigieren kann. Janssen hob dabei noch einmal die genannten Mängel hervor, wozu die existierende politische Klasse zähle, die unmittelbar die eigenen Regeln, z. B. der Parteienfinanzierung und des Wahlrechts, zu ihren Gunsten gestallten könne. Den zweiten großen Schwerpunkt sah Janssen in der Korruption, wobei er dabei auch die Begriffe der Autokorruption und der inhärenten Korruption für sehr interessant und diskussionswürdig hielt. Marianne Grimmenstein sprach sich für den Artikel 146 GG aus, bezweifelte jedoch, dass das Volk tatsächlich aus sich heraus die Kraft besitze, sich eine neue Verfassung zu geben. Sie bedauerte, dass es in Deutschland nicht genug Vorbilder gebe, an denen sich das Volk orientieren könne. Dies führe zu weniger Engagement für das Gemeinwohl. Sie halte es für notwendig, dass sich in den Köpfen der Menschen etwas ändern müsse und dass dabei auch die Wissenschaft gefragt sei, Lösungsvorschläge anzubieten. Sie sei der Meinung, dass es kein anständiges Demokratiekonzept gebe und beklagte, dass insbesondere die Geisteswissenschaften keine Alternativen und Lösungsvorschläge anbieten können. Sie frage sich, warum es solche Alternativen nicht gibt und warum nicht ein „anständiges“ Demokratiekonzept ausgearbeitet würde. Dr. Peter-Per Krebs, Sächsischer Rechnungshof, war der Ansicht, dass Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, wie z. B. die Wahl des amerikanischen Präsidenten George W. Bush oder die Abstimmung über den

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europäischen Verfassungsentwurf, keine Beispiele dafür seien, dass man mit dem Volk vernünftigere Entscheidungen bekomme. Krebs stimmte der Feststellung der genannten Defizite zu. Er bezweifelte aber, dass im Moment die Voraussetzungen dafür gegeben seien, dass man eine bessere Politik auf direktdemokratischem Wege erhalten würde. Die repräsentative Demokratie sei nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik und dem Dritten Reich ganz bewusst gewählt worden. Insofern hielt Krebs eine direkte Demokratie für bedenklich. Jürgen Creutzmann, Landtagsabgeordneter im Landtag Rheinland-Pfalz, wies beim Thema Volksentscheid darauf hin, dass in den Kommunalverfassungen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid enthalten seien. In der Praxis gäbe es aber kaum derartige Begehren. In der Kommunalverfassung des Landes Rheinland-Pfalz sei das Recht auf Fragestunden aufgenommen worden. Die Bürger hätten die Möglichkeit, in jede Kreistags- und Gemeinderatssitzung zu gehen und Fragen zu stellen. Die Bürgerstunde werde jedoch kaum nachgefragt. Bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten hielte Creutzmann die Situation für möglich, dass im Parlament eine andere politische Mehrheit herrscht und diese nicht hinter dem von den Bürgern gewählten Ministerpräsidenten steht. Er sieht dabei die Gefahr, dass die notwenige Mehrheit bei der Verabschiedung eines Gesetzes nicht erreicht werden könne und der Ministerpräsident dadurch „demontiert“ würde. Creutzmann fragte, wie dies funktionieren könne. von Arnim ging zunächst auf die Ausführungen von Grimmenstein ein. Bezüglich des Artikels 146 GG halte er ein Ausführungsgesetz für notwendig. Das angesprochene Gemeinwohl sei positiv schwer zu erfassen. Negativ bestünde es vor allen Dingen darin, dass Amtsträger nicht im eigenen Interesse tätig werden. Die Verfassung verlange, dass sie gemeinnützig, also für die Interessen des Volkes tätig sind. Diese würden das jedoch nicht immer tun, worin auch das Problem bestehe. Von Arnim stimmte Grimmenstein zu, dass die Politikwissenschaft weit zurück sei und keine Alternativen anbiete. Insbesondere wenn es um die Parteien und ihre Probleme gehe, sind die maßgeblichen Politikwissenschaftler, mit der einen oder anderen Partei so stark verbunden, dass sie deren Defizite kaum thematisieren können. Dies sei ein Problem, das die Wissenschaft beträfe. Dem Plädoyer von Grimmenstein für eine Änderung der Menschen stand von Arnim skeptisch gegenüber. Er halte dies nur sehr langfristig für möglich und konzentriere sich vielmehr auf eine Änderung der Institutionen, also der Grundregeln des Machterwerbs. Hier seien in einer Vielzahl von Publikationen konkrete Vorschläge zu einer Veränderung der Regeln des Machterwerbs gemacht worden, wodurch mehr Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe entstünden.

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Die Zweifel von Krebs bezüglich des Sinns der Direktwahl und der direkten Sachentscheidungen hielt von Arnim die guten Erfahrungen mit der direkten Wahl des Bürgermeisters in Baden-Württemberg und Bayern entgegen, wozu es auch wissenschaftliche Untersuchungen gebe. Die Direktwahl des Ministerpräsidenten sei kein so großer Unterschied. Die Verfassungen der Länder müssten dazu allerdings geändert werden. Von Arnim machte deutlich, dass er nicht für die Direktwahl des Bundeskanzlers plädiere. In diesem Fall stimme er der Skepsis von Krebs und Creutzmann zu. Bezüglich der direkten Sachentscheidungen durch Volksbegehren und Volksentscheid bezweifelte von Arnim, dass es Sinn mache, das Volk über eine Reform der Krankenversicherung oder andere komplizierte Themenbereiche abstimmen zu lassen. Wenn es aber etwa um Fragen des Wahlrechts, der Einführung der direkten Demokratie, der Korrektur der parteipolitischen Ämterpatronage oder der Parteien- und Politikfinanzierung ginge, sei die politische Klasse befangen. Nach von Arnims Vorstellung sollte an dieser Stelle der Souverän – das Volk – selber entscheiden können. Das von Creutzmann angesprochene Problem der gespaltenen Mehrheiten hielt von Arnim für unbedenklich. Wenn der direkt gewählte Ministerpräsident beispielsweise der CDU angehöre und die Mehrheit im Landtag von der SPD und den Grünen dominiert wäre, dann sei dies eine Situation, die in manchen Großstädten bereits existiere. Dort werde der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin direkt gewählt und auch dort gäbe es oft das Problem gespaltener Mehrheiten, was trotzdem funktioniere. von Arnim sieht die Erklärung dafür im Wahlrecht: Wenn man kumuliere und panaschiere und ein stärkeres Persönlichkeitswahlrecht habe, dann sei es nicht mehr so einfach, die Abgeordneten parteisoldatisch in die Parteilinie zu zwingen. Wie man es auch in der Schweiz sehe, stimmen dann die Leute im Parlament nicht mehr nur nach ihrer Parteilinie ab. Es sei dann auch für einen direkt gewählten Ministerpräsident leichter, auch bei nominell anderen Mehrheiten im Parlament, für sinnvolle Sachvorschläge die Mehrheit hinter sich zu bringen. Dies sei in Großstädten bei unterschiedlichen Mehrheiten durchaus der Fall. Von Arnim wies darauf hin, dass die Situation in den Ländern sich nicht wesentlich von der in den Großstädten unterscheide. Dr. Helmut Stegmann, Finanzministerium Sachsen-Anhalt, ging auf die Bildung der politischen Klasse ein. Er sei der Meinung, dass sich auf der kommunalen Ebene, wo die Abgeordneten nur in einem begrenzten Zeitumfang in Anspruch genommen werden, durchaus Ansätze finden ließen, mit deren Hilfe die in von Arnims Vortrag geschilderten negativen Auswirkungen vermieden werden könnten. Er sieht aber einen deutlichen Unterschied zu Berufspolitikern, also Menschen, die einen großen Teil ihrer Zeit mit der Politik verbringen. In diesem Bereich halte er es für schwierig, Per-

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sonen zu finden, die diesen negativen Auswirkungen entgegenwirkten. Stegmann wies darauf hin, dass üblicherweise jeder von uns seine Karriere über das ganze Leben hinweg plane. Von den Berufspolitikern verlange man nun jedoch, dass sie sich darauf einstellen mögen, nach einer vier- oder fünfjährigen Beschäftigung in der Politik wieder zu verschwinden. Stegmann fragte, wie man das planen könne und welche Ausgestaltung man finden könne, um auch qualitativ hochwertige Leute in die Politik zu bekommen. Diese müssten darauf vorbereitet sein, dass die Politik nach einer bestimmten Zeit wieder zu Ende sei. Claudia Iyiaagan-Bohse aus Leipzig griff das Thema Korruption auf. Sie stellte die von Arnim dargelegten Erkenntnisdefizite in Frage. Sie sei vielmehr der Überzeugung, dass es weder im Osten noch im Westen der Bundesrepublik Deutschland Erkenntnisdefizite gebe. Stattdessen sehe sie ausschließlich Handlungsdefizite. Iyiaagan-Bohse war der Meinung, dass es verlorene Zeit sei, von den Politikern auf allen Ebenen den Willen des Volkes aufnehmen und durchsetzen zu lassen. Es sei möglich, dass der einzelne Bürger viel erreichen kann, wofür er allerdings Verstärkung brauche. Für Iyiaagan-Bohse sei es wünschenswert, auch einmal den Anteil der Medien an diesem Handlungsdefizit auf der politischen und administrativen Ebene aufzuzeigen. Sie halte es für erforderlich, dass die Medien genauer hinschauen und auch einen Blick hinter die Kulisse werfen. Raimund Borrmann, Mitglied des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern, fragte, ob von Arnims Ausgangpunkt nicht die Idee einer Demokratie sei, in der sich Korruption als Missbrauch von anvertrauter Macht als ein Abweichen von dieser Idee darstelle und ob diese Konzeption nicht von einer Einheit eines Gemeinwesens ausgehe. Er hinterfragte, ob man überhaupt von dieser Einheit ausgehen könne und ob es nicht nur in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen Parallelgesellschaften gebe. Man könne dann nicht von einem System sprechen, in dem bestimmte Regeln gelten, sondern in dem es parallel unterschiedliche Systeme gibt, die sich nur scheinbar in das Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland einordnen. Man könne also nicht nur von Autokorruption und inhärenter Korruption sprechen, sondern auch von Subversion. Das bedeute, wer Teil eines bestimmten etablierten Systems sei – möglicherweise zur politischen Klasse gehöre – handele im Rahmen der politischen Klasse durchaus für dieselbe politische Klasse und zwar nach deren selbst aufgestellten Regeln. Er befinde sich dabei aber in Konkurrenz zu dem größeren Gebilde, das sich Bundesrepublik Deutschland nenne und das ausgehöhlt sei durch diesen Staat im Staate. Die Frage sei dabei, welche Perspektive hier auftauche: Kann dieser Staat im Staat durch Teilhaber der politischen Klasse selbst bedrängt werden oder taucht irgendwann eine Krisensituation auf, in der diese

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politische Klasse von anderen – ökonomisch Benachteiligten – bedrängt und bedroht wird? Norbert Hiltner, Regierungsdirektor i.R., sah statt eines Durchsetzungsproblems eher ein Angstproblem für gegeben. Die für ihn entscheidende Frage sei nicht die, die Sachlage zu erkennen, sondern wie diese verändert werden könne. Als Lösungsbeispiele nannte er die Einführung des Tatbestandes der Abgeordnetenbestechung sowie eine größere Unabhängigkeit der Beamten. Demnach reiche der Schutz der Beamten allein durch ihre Lebenszeitbestellung nicht aus. Es müsse dafür gesorgt werden, dass Beamte, wenn sie aus der Linie ausscheren, sich auch vor Gericht durchsetzen können. Man müsse dahin kommen, dass Beamte mit normalen Mitteln ihre Bedenken durchsetzen können. Die Angst vor dem Karriereknick verhindere das bisher in der Regel. Hiltner betonte, dass die hauptsächliche Frage sei, wie man an die Öffentlichkeit gehen könne, um die Missstände aufzuarbeiten. Siegfried Lessing-Wenzel, Powertank GmbH, hielt die von Stegmann angesprochene Lebensplanung für Politiker für überflüssig. Man sehe ja, wo die Politiker aufgrund ihres Trittbrettverhaltens nach ihrer politischen Laufbahn landen und verwies dabei auf Posten in der Privatwirtschaft, die durch ehemalige Politiker bekleidet werden. Friedmut Dreher, Sozialarbeiter aus Berlin und seit vielen Jahren bei „Mehr-Demokratie“ tätig, wies darauf hin, dass es möglich sei, Gesetze auch ohne die Mitwirkung von Politikern zu erarbeiten. Dreher unterstrich, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehe und fragte sich, warum das bislang nicht ernst genommen werde. Es liege seiner Meinung nach nur an den Menschen selbst, es tatsächlich tun zu wollen. Als Beispiel dafür, wie Menschen sich aktiv in die direkte Demokratie einbringen können, nannte er das Forum „Abgeordnetenwatch“. Hier könne jeder die Abgeordneten über das Internet befragen, was anschließend auch veröffentlicht werde. Das ständige Gejammer und die Negativstimmung seien nicht erforderlich. Man könne sehr konkret Umweltschutzgesetze machen und diese über die direkte Demokratie durchsetzen. Dr. Harriet Christiane Zitscher, Landesrechnungshof Mecklenburg Vorpommern, sah bei den Elementen der direkten Demokratie eine deutliche Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit. So würden die Vorschläge zur direkten Demokratie zwar sehr gut klingen. Die Praxis sehe jedoch ganz anders aus. Die Wahlbeteiligung z. B. bei der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte sowie die tatsächliche Beteiligung bei Volksbegehren sei meist sehr niedrig und mancherorts werde bereits wieder die Abschaffung dieser direktdemokratischen Elemente erwogen. Zitscher fragte sich, wie diese bestehende Diskrepanz behoben werden könne.

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Thomas Duve

Helmut Krause, Rechtsanwalt und Moderator einer privaten Verfassungswerkstatt, fragte nach der Bedeutung des Internets bei der Durchführung der von von Arnim angesprochenen „legalen Revolution“. Janssen bedankte sich für die Wortmeldungen. Er stellte fest, dass weniger auf die Mängelanalyse, dafür aber umso mehr auf die Vorschläge zur Stärkung der direkten Demokratie eingegangen worden ist. Er bat von Arnim, sich auch noch zu dem Problem der Medien zu äußern. von Arnim griff zunächst die Äußerungen einiger Diskutanten auf, die statt eines Erkenntnisdefizits ein Durchsetzungsdefizit für gegeben hielten. Ein Durchsetzungsdefizit könne auch seiner Meinung nach nicht bestritten werden. von Arnim betonte aber noch einmal, dass eben auch ein Wahrheitsstau vorliege, und zwar insofern, als man sich nicht klarmache, worauf die Verwerfungen der Grundregeln des Machterwerbs beruhen, nämlich in den Eigeninteressen der politischen Klasse. Seit Beginn der Bundesrepublik hätte diese die Regeln des Machterwerbs stetig verfälscht. Beispiele dafür seien das Wahlrecht, die Parteifinanzierung und Ämterpatronage. Die politische Klasse säße am Hebel der Macht und könne deshalb ihre Eigeninteressen einfließen lassen. Man wisse doch, dass die Neugliederung der Länder nicht zustande komme, weil sich dadurch viele Landesregierungen erübrigen würden. Auch in anderen Details spielten die Eigeninteressen der politischen Klasse immer eine Rolle. Man habe sich aber noch nicht vor Augen geführt – auch nicht in der Wissenschaft –, dass der zentrale Kern unserer Probleme die mangelnden Handlungsmöglichkeiten der Bürger sei. Die angesprochene Lebensplanung für Politiker und die Aufgabe, qualitativ hochwertige Politiker in die Ämter zu bekommen unterstütze von Arnim. Er wies allerdings darauf hin, dass dies mit den derzeitigen Verfahren nicht möglich sei. Um beispielsweise Mitglied in einem Parlament zu werden, müsse man in aller Regel eine etwa fünfzehnjährige „Ochsentour“ – zumindest in den beiden großen Parteien – durchlaufen. Erst dann hätte man die nötigen internen Verbindungen gewonnen, um ein Landtags-, Bundestags- oder Europamandat zu bekommen. Einer Untersuchung aus dem Kreis der SPD zufolge würden typischerweise die Personen Abgeordnete, die zeitreich seien, um die Ochsentour neben ihrem Beruf bewältigen zu können. Zudem müssten derartige Politiker immobil bleiben. Denn wenn sie z. B. fünf Jahre in Speyer die Ochsentour gemacht hätten und dann nach Bonn gingen, müssten sie dort wieder von vorne anfangen, auch wenn es die gleiche Partei sei. Im Moment sei es noch so, dass man unter Vorbehalt von Ausnahmen die benötigten qualitativ hochwertigen Politiker typischerweise nicht bekomme. Man müsse die völlige Herrschaft der Parteien darüber, wer in das Parlament kommt, ändern. Dazu seien Änderungen des Wahlrechts und eine Stärkung des Einflusses von Bürgern notwen-

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dig. von Arnim gehe davon aus, dass die Bürger Personen wählen würden, die auch im privaten Bereich erfolgreich seien und eben diese Ochsentour nicht gemacht hätten. Dies würde auch die Parteien zwingen, solche Kandidaten aufzustellen. Die von Borrmann angesprochene Gefahr oder Möglichkeit einer Revolution schätzte von Arnim niedrig ein. Er spreche sich eher für eine „legale Revolution“ aus, um die Herausforderungen, die auf uns und die kommenden Generationen zukämen, begegnen zu können. Zu den Herausforderungen zähle er die demographische Entwicklung, die Frage der Finanzierbarkeit der Sozialsysteme sowie die Globalisierung, die dazu führe, dass Deutschland im Wettbewerb mit der ganzen Welt stünde und unbedingt politisch handlungsfähig und bürgernah sein müsse. Die legale Revolution sollte mittels Volksbegehren und Volksentscheid versucht werden, was sogar systemkonform wäre, da sie in den Landes- und Kommunalverfassungen vorgesehen seien. Eine Einführung auf der Bundesebene stünde noch aus. Bezüglich der Rolle der Medien gehe von Arnim nicht davon aus, dass die direkte Demokratie zu einer Mediendemokratie führen würde. Er verwies dabei auf die Erfahrungen in der Schweiz, wo direkte Demokratie auf allen Ebenen existiere. Dort fragen die Bürger sehr sachhaltige Informationen nach. Schweizer Medien würden diese daher liefern und zwar in einem viel stärkeren Maße als in einer repräsentativen Demokratie. In Deutschland seien die Wahlkämpfe von Sachhaltigkeit weit entfernt und es werde kaum etwas konkret gemacht. Bei der direkten Demokratie sei dies anders. Zudem würde in Deutschland die politische Klasse einen beachtlichen Einfluss auf die Medien nehmen. Die öffentlich-rechtlichen Medien seien sehr stark von den Aufsichtsgremien dominiert, in denen die Politik säße und deren Einfluss auf die ganzen öffentlich-rechtlichen Medien ausstrahle. Viele unausgeschöpfte Potentiale sieht von Arnim in der Rolle des Internets für die direkte Demokratie und für die Aktivierung der Menschen auch gegen den Willen der Politiker. Welche Rolle das Internet spielen kann, habe man z. B. bei der Abstimmung zur EU-Verfassung in Frankreich gesehen. Alle etablierten Kräfte hatten sich für die Verfassung ausgesprochen und nur über das Internet war es gelungen, eine Gegenkraft zu entwickeln. Unabhängig davon, ob man dem zustimme oder nicht, so zeige es doch in der Sache, welche Kraft das Internet entfalten könne. Die von Zitscher angesprochene niedrige Wahlbeteiligung bei Direktwahlen oder Bürgerbegehren sah von Arnim nicht als Maßstab für die Beurteilung der direkten Demokratie. Man könne den Menschen nur die Möglichkeit einräumen, davon Gebrauch zu machen. Darüber hinaus solle man nicht vergessen, warum die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen so hoch sei. Das läge nämlich in erster Linie daran, dass sie wie ein riesiges Schau-

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spiel inszeniert werden, das im Fernsehen vorbereitet wird. Den Wählern werde dabei suggeriert, sie hätten einen Einfluss auf die Auswahl der Abgeordneten, den sie allerdings gar nicht haben. Bei Kommunalwahlen sei das anders und bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden ebenso, weil das meist gegen die politische Klasse und ihre Sprachrohre gehe. Der ganze Medienrummel existiere dabei nicht, was sich auf die Aufmerksamkeit und damit auch auf die Wahlbeteiligung auswirke.

The Organization of Anticorruption – Top-Down or Bottom-Up? By Johann Graf Lambsdorff I. Introduction Extrinsic incentives, limits on administrative discretion and threats of punishment are standard tools in anticorruption. But a good deal of levels of corruption may rather be explained by individual attitudes and group behavior. For example, Fisman and Miguel (2006) show that diplomats from countries with high perceived levels of corruption did not pay their parking tickets in New York. To the contrary, diplomats from countries such as Canada, Denmark, Finland, Japan, New Zealand, Norway, Sweden, Switzerland and UK revealed no unpaid parking violations although there was essentially zero legal enforcement. Containing corruption, it seems, is not only related to explicit top-down measures but also to bottom-up attitudes. In many practical issues of anticorruption it is apparent that top-down and bottom-up must be joined for effective reform. The government must strive for effective administration and be committed to contain corruption among the bureaucracy. At the same time, the citizenry is required to act as a watchdog, put social pressure on perpetrators, complain about malfeasance of administrators and politicians, voice its concern with respect to political priorities and blow the whistle on criminals. Grassroots initiatives by civil society are a core contribution to anticorruption. For many multilateral institutions this shift towards civil society has dramatically changed their daily operating procedures.1 Building coalitions that surpass the classical boundaries of governments has become essential in fighting corruption. The importance of bottom-up approaches is also documented at the cross-country level. Press freedom is clearly a bottom-up approach to improve accountability of the public sector and ultimately to reduce corruption. There is substantial evidence that countries with high levels of press freedom (as measured by Freedom House) have lower levels of corruption 1

For a recent debate about World Bank policy in joining top-down and bottomup initiatives see http://info.worldbank.org/etools/BSPAN/PresentationView.asp? PID=1685&EID=808.

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as measured by the Transparency International Corruption Perceptions Index, (Lambsdorff 2007: 46–47). These correlations are robust to controlling for standard influential variables, for example income per head. The causality is trickier to ascertain. Part of the correlation may come from corrupt autocratic regimes that restrict press freedom. But the correlation is strongest for democracies and less for autocratic regimes. This suggests that a good deal of the causality runs from press freedom to lower levels of corruption. Press freedom is a core bottom-up ingredient to lowering (perceived levels of) corruption. Still, there are various problems and unanswered questions about bottomup initiatives. At first there is some romanticism related to the term “civil society”, (Møller 2002). Civil society relates to voluntary organizations and institutions outside government and commerce who contribute to the functioning of society. Its representatives are sometimes attributed the legitimacy of speaking for the interests of population at large, which is certainly a highly disputed development. We may feel that we are short of altruistic actors who may deserve such a legitimacy outside elected government positions. In this regard it is interesting to note that bankers and government officials are sometimes more honest than NGO employees, at least as reported by a baker in New York who kept record on how much money was returned for the bagels and donuts he left at business offices, (Levitt 2006). I therefore claim that bottom-up embraces more than just a few altruistic actors in civil society. Section 2 of this paper shows that many in society, in government, commerce and civil society, contribute to bottom-up movements, even those who are tempted to the taking of bribes. Second, while we may swiftly agree that cooperation between government and civil society on specific projects may be an example of good practice, this little guides our thinking about the more general questions of where and how top-down and bottom-up may be in conflict with each other. Where does the one discourage the other or limit its effectiveness? Section 3 of this paper explains the conflict. Section 4 provides some specific advice on how to avoid the discouraging effect of top-down measures. II. Who Represents Bottom? “Homo homini lupus” was Thomas Hobbes’ argument for a strong state. In a top-down fashion it should overcome the downside effects of individual maximizing, including corruption. A philosophy of bottom-up, to the contrary, asks why individuals may deliberately start to engage in anticorruption. Moral sentiment must obtain its role but it is likely to represent a rather limited base for recruiting our anticorruption activists.

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Figure 1: Corrupt Reciprocity – the Payoffs to Students Numbers in parenthesis indicate payoffs in e (businessperson; public servant). The logo of Medicins sans Frontiers indicates a 8 e donation.

Individuals have many reasons to abstain from corruption, threats of punishment from superiors and courts may not be the most important. Corrupt actors are perhaps even more influenced by other factors such as the expected opportunism of their counterparts. The unreliability of corrupt counterparts may induce honesty and good governance even in the absence of good intentions. This effect is labelled the “invisible foot” in Lambsdorff (2007). Opportunism is an unfair way to cheat the briber. Whether people are actually willing to behave in such a way may be disputed. To test the extent of opportunism and how this may be increased an experimental corruption game was carried out with first year economics students at the universities of Clausthal and Passau, Germany, (Lambsdorff and Frank 2007). Students from Clausthal were assigned the role of businesspeople who requested being awarded a contract albeit offering low quality work. In a first round 180 valid questionnaires were collected from participants containing some personal information. In the second round, 176 students at the university of Passau assumed the role of public servants and chose between whistle-blowing, opportunism (rejecting to provide the favour in spite of acceptance of a payment) and reciprocity (by awarding the selected contract to the anonymous bribe payer). In the third round, students from Clausthal (businesspeople) could decide on whether or not to blow the whistle on the behaviour of their counterparts. Participants were presented figure 1 which reveals the strategies and pay-offs.

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70 60

40 30

Businesspeople in Clausthal

Frequency

50

20 10

Not Whistle

0

Blow Whistle

Blow Whistle

Opportunism Reciprocate Public Servants (Students) in Passau

Figure 2: Corrupt Reciprocity – Student’s Behavior

All participants in Clausthal and in Passau were shown figure 1 (except the signs on top of the payoffs, which will be explained later). Starting from an endowment of 25 e, the businessperson gives 20 e (as a gift or bribe) to the public servant, resulting in an initial endowment of 5 e. He or she would win a further 35 e as a profit from the contract in case of reciprocity and lose 5 e if someone blew the whistle. The public servant obtains a payoff of 20 e (gift or bribe) from the businessperson. He would have to pass on 10 e for arranging the awarding of the contract (reciprocity). Upfront whistle-blowing by the public servant induces confiscation of the gift/bribe but a bonus of 2 e. If the corrupt transaction were incomplete (either due to opportunism or whistle-blowing) no damage would be imposed on society. This was considered in the game by a 8 e donation to a charity (Medecins sans Frontiers). 49 public servants out of 176 in Passau preferred to blow the whistle upfront. As figure 2 shows, a considerable number of public servants reciprocated the bribe, although this goes along with a lower individual pay-off than opportunistic behaviour. The apparent reason is the risk of retaliatory behaviour by businesspeople in the final step. These were observed to blow the whistle in 21 cases after being confronted with an opportunistic public servant. This behaviour is a departure from income maximization. It may be motivated by the desire to take revenge for having been cheated by an

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opportunistic public servant (negative reciprocity). This prospect of retaliation also means that there is a risk for public servants to engage in opportunism. Either this risk or positive reciprocity (“be kind to those who are kind to you”), may thus motivate public servants to complete the corrupt transaction, rather than act opportunistically. The game reveals a high tendency for opportunism. The income from bribery would have to increase dramatically in order to make the initial payment of the 20 e an income maximizing act. This suggests one out of many reasons why individuals abstain from corruption, even where this behaviour promises high returns. The signs (“+” or “–”) on top of the payoffs provide directions to reform. They reveal whether an increase in the payoff would be helpful to counter corruption (“+”) or whether it would increase the chance that a payment by a businessperson is profitable (“–”). A general increase in penalties, commonly regarded to be a top-down measure, may have a limited effect because all payoffs are reduced equally. A more fine-tuned approach should aim at destabilizing a corrupt transaction. This is more of a grassroots approach to anticorruption, aimed at converting those who are tempted by bribes into comrades in anticorruption. Section 4 will provide some practical guidance for reform. There are many further reasons why individuals prefer to abstain from bribery. Those who are willing to take bribes are of limited value to their superiors and clients, (Lambsdorff 2007: 58–108). The government has no interest in auditors who cannot commit to abstain from falsifying their reports. These auditors will ultimately be jobless. Investors avoid countries whose government cannot commit to exploiting firms once these sink their costs. Such governments suffer from limited foreign direct investments. The government will not hire tax inspectors if these give in to temptations for extra income. Fearing to be fired, such tax inspectors will rather seek methods for guaranteeing their trustworthiness as a means to qualify for the desired professions. These effects, maybe much more than moral considerations, are responsible for grassroots initiatives for fighting corruption. Various business networks have in the past been established with the goal of (peer-)monitoring their members, helping each of them to commit to anticorruption. Even for intermediaries, who are sometimes the facilitators in arranging corrupt deals, a network has been established that aims at signalling honest dealings of its members (http://www.traceinternational.org). In a similar spirit, Transparency International has implemented the idea of Integrity Pacts, where the procuring government department and all bidders agree on a monitoring system and tailor-made penalties to avoid bribery in public procurement.

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Johann Graf Lambsdorff

Who represents bottom-up? We should depart from a romantic, altruistic ideal when answering this question. A commitment to honesty can be part of a maximizing strategy. Such strategies must be encouraged in order to broaden the base for anticorruption at the grassroots level. Bottom-up embraces even those who are tempted to pay and accept bribes. III. Conflicts between Top-down and Bottom-up Conflicts of top-down and bottom are standard in managerial science.2 This conflict has also been well recognized for business ethics, (Kapstein and Kaptein 1998). But this topic has only little been explored for anticorruption. Kelman (2003; 1990) analyzes the conflict between “rules” and “principles” in public management. He argues that anticorruption rules imposed by the legislator aim at limiting discretion of procurement officers but in essence produce bad outcomes. Such rules aim at improving competition and anticorruption but divert officers away from the actual goals of acquiring best-value products and services for the government. For example, guidelines often discourage the use of experience related to the past performance of contractors. Fears that performance evaluations might be subjective or driven by bribes are responsible for such rules. The top-down distrust towards procurement officers comes at a high cost because contractors have limited interest to perform well. Another problem relates to the general rule that a contract should be awarded to the lowest bidder. Procurement officers’ tasks are limited to checking whether official specifications are fulfilled. Anything below this official level (experience, reputation, red flags for misbehavior) must be disregarded. When contractors detect loopholes in the tender documents more details will be added to these specifications in subsequent tenders. This marks the starting point of a process where an increasing burden of specifications acts as a deterrent to bidders and suffocates competition. Rose-Ackermann (1999: 60–63) criticizes Kelman’s proposal for reform, fearing that risks of corruption and collusion are downplayed. The dismal experience with some procurement guidelines should serve to adjust them, but not to end anticorruption in toto. It should thus be investigated whether alternative approaches to anticorruption would prove more successful. For example, a less top-down approach in anticorruption may face fewer objections by Kelman. The adverse effects of top-down management is increasingly investigated. There is evidence from experimental investigations for labor markets, revealing that a good deal of behavior is due to intrinsic motivation, fairness 2

See Hoopes (2003) for a recent more provocative viewpoint in this respect.

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and reciprocity, (Camerer 2003: 95–100). Employers may thus offer wage premiums so as to provide incentives for good performance even if this performance cannot be observed. Employers may disregard laborers who are willing to work for low wages. What is most interesting, employers may abstain from punishing shirking and prefer to blindly trust in the good performance of their laborers. This type of trust is often positively reciprocated by increased efforts among employees. Experimental evidence also reveals that intrinsic motivation may limit corruption. In one of the first investigations, Frank and Schulze (2000) focused on individual tendencies to engage in corruption in procurement. They find that a significant number of participants did not maximize payoffs. In a later contribution, Schulze and Frank (2003) extended their analysis and observe that threats of penalties crowd out this intrinsic motivation. That is, some students that may have abstained from taking bribes were motivated by the threats of penalties to opt for a maximizing strategy with bribe-taking. These findings suggest a general trade-off between top-down and bottom-up. This type of trade-off becomes highly visible in anticorruption initiatives among the private sector. High penalties and stiff regulation (for example on the taking of gifts and expenses for dining) may provoke employees to seek for loopholes rather than follow the spirit of the new rules. Engagement of intermediaries or joint-venture agreements may allow abiding the new regulations while continuing with the payment of bribes. New rules are complied with at face value because delicate issues are kept off the books. While others do the dirty work, those who were the target of stiffer regulation will claim ignorance about bribe payments. For example, in a survey of businesspeople Control Risks Group (2006) reports that 32% of US companies believe that their competitors regularly circumvent anticorruption legislation by engaging intermediaries. A higher number than in Germany, UK, Netherlands or France. Is this a reaction to stiffer corporate anticorruption legislation in the USA? There are other downside effects of top-down approaches. Penalties on the taking of bribes imposed without mercy deter bureaucrats from taking bribes but may disallow them from acting opportunistically afterwards, (Lambsdorff and Nell 2007). For example, at a court in Bochum, Germany, an employee of the road construction authority confessed to accepting bribes for contracts relating to marking roads. Beginning in 1987, and lacking business experience, he passed on names of competing firms in a public tender. After this incident, he received an envelope filled with DM 2000 from the private firm who obtained the favor. “Suddenly I knew that I had begun to be at his mercy,” was the statement made in court and the justifi-

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Johann Graf Lambsdorff Table 1 Initial Hints on Detection of Fraud, Percent of Cases Source: PricewaterhouseCoopers (2007), own Composition of Data from Country Supplements Corporate Culture

Corporate Control

Whistle-blowing system

Internal tip-off

External tip-off

Internal audit

Russia

5

8

8

20

UK

3

14

9

19

13

21

US

20

Denmark

7

26

7

19

Singapore

8

21

14

19

Czech Rep.

16

18

7

18

South Africa

16

22

11

20

9

18

12

15

15

19

12

Norway Thailand Turkey

5

21

21

16

France

8

36

7

14

38

26

14

30

15

11

11

4

26

30

9

Germany Slovenia Switzerland

cation for why he afterwards became entrapped in this corrupt relationship.3 Quite often, the penalty imposed for a first small gift, taken by mistake, marks the starting point of a corrupt career rather than serving as a watershed against malfeasance. This downside effect does not only relate to individuals but also to group behavior and collective reputation. Groups have more intricate ways to react to incentives. They may react to penalties either by subordination or by 3 See Westdeutsche Allgemeine Zeitung/Cityweb, 10 February 1998: “Mit jedem Gefallen tiefer in den Sumpf”.

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collective resistance. Penalties require legitimacy in order to be accepted and supported by networks. Penalties on corruption are in desperate need of this support, because hints by insiders close to an illegal deal are needed to start with an investigation. These hints require a corporate culture of anticorruption, an atmosphere where individuals are supported by the peers in cooperating with investigators. In 2007 PricewaterhouseCoopers carried out a Global Economic Crime Survey based on telephone interviews with 5428 CEOs, CFOs and other leading managers. Respondents were asked about the initial means of detection of fraud. Quite striking is the importance of internal and external tipoffs.4 It is striking to see that in the USA alongside with the UK and Russia initial detection comes seldom from tip-offs. The Sarbanes-Oxley Act in the USA explicitly requires the organizing of corporate whistleblowing systems, but a more participatory attitude where employees openly contribute to anticorruption seems to be stronger (at least when looking at relative numbers) in Switzerland, Germany and France. The culture of labor participation in Continental Europe may have contributed to the higher willingness to openly complain about malfeasance of superiors and thus to more tip-offs. In the USA the most important method for detection is internal audit, contributing 21% of all detections. This is the highest figure for all countries surveyed, suggesting a rather top-down approach to corporate anticorruption in the US. IV. Reconciling Top-down with Bottom-up We are short of a theory that reveals how to best balance top-down and bottom-up. There is currently also no model that links environmental constraints to the choice of an anticorruption philosophy. But we can ask ourselves whether a top-down approach can avoid some of the aforementioned repercussions. 1. Leniency Some anticorruption activists employ the term “zero tolerance” to signal their uncompromising attitude towards corrupt actors. This is a morally 4

Anecdotal evidence assigns even higher importance to such tip-offs. Tip-offs are provided for one case and internal audits detect other related cases, for example, with the same actors or similar loopholes. It is also likely that internal auditors paint a picture that is too flattering about themselves and thus boost their reputation within the company.

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loaded term, and it can backfire badly because sometimes insiders are trapped by minor malfeasance and unable to report to prosecuting authorities who have committed to zero tolerance. It is not immoral to give some leniency in exchange for catching the big fish. Nell (2007) investigates the criminal codes of 56 countries and detects 26 countries with leniency provisions for “active bribery”, that is the payment of bribes, but only 3 with provisions for “passive bribery”, the taking of bribes. This is quite unfortunate, because public servants may utterly need a method for turning themselves in to prosecutors with limited harm for their own living. This effect can be well illustrated in figure 1. Public servants should be given incentives to blow the whistle after having obtained the bribe (1st row from the top. A “+” is on top of the second payoff). Leniency provisions may be helpful in bottom-up approaches to anticorruption by encouraging whistle-blowing. However, there are some intricacies that must be carefully recognized. Lambsdorff and Nell (2007) model optimal penalties in a corrupt transaction similar to the one in figure 1. They investigate the effect of leniency as an instrument for containing corruption. If leniency is given to businesspeople that were cheated by public servants, the instrument will backfire, (2nd row from the top. A “–” is on top of the first payoff). It provides businesspeople with a credible threat to blow the whistle, which then forces the public servant to deliver on his or her promises. The corrupt agreement would be supported by this threat and bottom-up endeavors would be countered. Thus, leniency should be granted only to those businesspeople who did obtain the requested corrupt service. Likewise, public servants who were cheated and not given a bribe should not qualify for leniency. This should only be granted to public servants who were successful in obtaining a bribe. Interestingly, some legal provisions are likely to stabilize corrupt transactions rather than to encourage them. Former Article 215 (2) of the Turkish Penal Code granted leniency only if the public official had not yet reciprocated on the bribe, (Tellenbach 1997: 642). Remarkably, according to Article 215 (2), the bribe-giver was even entitled to reclaim the bribe in case of self-reporting. A culture of anticorruption that tries to increase the risks of bribery is seriously undermined by such legislation. 2. Debarment It is broadly accepted that not individuals but whole companies should be punished for malfeasance so as to provide incentives for improving corporate culture. Where this is lacking, firms may pay lip service to anticorruption but informally inform their employees that getting contracts is all

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that counts. But it remains uncertain how companies should be punished. Debarment (and the shorter-term suspension) of companies is often recommended in this respect. After this system was implemented by the US department of defense in 1983 many other countries and private companies followed this precedent. But there are many problems with this tool. If a criminal conviction in court is required, debarment is imposed after many years of legal dispute. It may then hit a totally altered company, operating under a different leadership and shareholder structure. The burden of proof is also rather high, suggesting that many cases would be decided in favor of the briber where reasonable doubts remain. This process can be speeded up only at the risk of losing a clear legal basis for debarment, implementing it potentially without waterproof evidence. A second issue is whether procurement agencies have discretion in deciding whether or not to allow bids by debarred firms. If they do, more practical considerations can be recognized such as whether a supplier is indispensable, has contributed to uncovering a case of corruption or has implemented effective reforms after detection. But a discriminatory application of this tool can easily undermine its legitimacy. For example, Karpoff et al. (1999) carry out statistical analysis of the stock market valuation of US defense procurement contractors that have been suspended between 1983 and 1995. After two days the stock market valuation on average dropped by 4.5 percent after the announcement of a suspension. But the effect is less pronounced for the government’s most important contractors. Those ranked as important (from a list of 100 most important in all sectors) experience only a drop of 1.4 percent, whereas other companies suffer from a 14.1 percent decrease of their stock market valuation. This finding is most likely related to the higher influence exerted by the first group of companies. The authors conclude that influential contractors are the winners from these suspensions, because they pay small fines but fully profit from the better reputation of their industry. The authors even find that influential contractors did not experience a decrease in overall government contracts following a suspension. They report anecdotal evidence that contracts were postponed until the end of the suspension period, that they obtained contracts as subcontractors or that they profited from bureaucratic discretion. There are further problems with debarment. The penalty that results from debarment often does not well relate to the seriousness of the criminal act. A small grease payment may ruin a firm that depends on government contracts while a substantial kickback remains without consequence for a firm that did not intend to compete for future government contracts.

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Overall, the impact of debarment on a corporate anticorruption culture remains uncertain. It may in fact even become negative when companies are not rewarded for their anticorruption efforts. Companies that proactively report on the malfeasance of their staff may still suffer from debarment. This may keep them from handing over such cases to prosecutors and procurement agencies. They may even suffer from extortion by insiders (even among the procurement agency) who threaten to blow the whistle. This effect can be well illustrated in figure 1. Firms should be given incentives to blow the whistle after having finalized a corrupt deal (4th row from the top. A “+” is on top of the first payoff). Instead of receiving 0 a positive payoff would deter bribery. This is difficult to implement in systems of debarment. 3. Nullity of Corrupt Contracts and those Induced by Corruption Courts commonly do not enforce corrupt agreements. Those who operate outside the law cannot claim the law’s protection. The nullity of the corrupt contract entails a further legal consequence: bribes cannot be claimed back. This invokes a severe risk to bribe payers, evidenced in many cases of failed corrupt transactions, (Lambsdorff 2002). This legal judgment is important for anticorruption. But it should be further investigated to what extent courts worldwide adhere to this principle and civil laws are in line with it. Some anticorruption activists go further with their request for nullity. Consider a contract for government construction that is induced by a bribe to a procurement official. Pope (2000) argues that governments should have the right to declare such contracts void. Similar provisions can now be found in various government procurement guidelines and those of private firms. In practice such rights are unimportant as mostly the procurement authorities avoid the extra effort of starting upfront with a new tender and settling the complicated mutual claims if a contract was declared void. But there is also a dismal effect on bottom-up endeavors to anticorruption. Construction firms that detect bribes paid by their employees would be inhibited in cooperating with prosecutors and the government. Whistleblowers in these companies would risk their jobs and prefer to stay silent instead. Furthermore, only companies that were successful in bribing are sanctioned by this type of penalty. As revealed in figure 1, bribe-paying firms that retaliate after having been cheated (2nd row from the top) are not sanctioned. Retaliation becomes less costly, which is likely to stabilize a corrupt transaction.

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Finally, there might even be cynical repercussions. If the government is uncertain about the profitability of a contract it may delegate negotiation to its most corrupt bureaucrats. The bribes taken by them would provide the government with the option to cancel a contract at a later stage. By threatening cancellation the government could blackmail the companies. As before with debarment, only the influential firms could withstand this type of extortion and be the winners in such an ugly game. The government instead loses incentives to avoid the bribe-taking among its bureaucracy. 4. Contract Penalties In addition to debarment and nullity some procurement guidelines entail provisions on contract penalties. These must be paid by the contractor if bribes are detected. The resolution of conflict would be done by civil courts with a less stringent burden of proof. The risk of wrong judgments is thus more fairly shared among the contracting parties. There are clear advantages as compared to nullity and debarment, because penalties once imposed can at a later stage be revoked without substantial disadvantages to the contractor. Penalties can thus be imposed quickly because reversal of such an initial decision comes at mild costs. Three pending questions remain. First, the basis for the size of penalties is sometimes linked to the contract value. For example, the procurement guidelines by the Deutsche Bahn AG entail penalties of 2%, 5% or 7% of the gross contract value, depending on the seniority of the briber in the contracting firm. But in practice they are seldom imposed. There tend to be general problems associated with such penalties. The first problem is that the gross contract value is a bad basis for determining the penalty. Clearly, it cannot serve as a benchmark for other sectors, where contract values, net revenues, profits and subsequently the temptation to pay bribes are differently related to gross revenues. This would imply that the deterrent effect of such a penalty differs among sectors. This is already a problem for the Deutsche Bahn, where service, construction or labor contracts differ in their necessity to deter corruption. Also, bribes differ with respect to their impact. A small gift to a secretary may be key to obtaining a contract, but it should be distinguished from a large kickback. A better base for penalties would be the size of the bribe (or favor). In order to achieve sufficient deterrence 50 times the size of a bribe may be an acceptable contract penalty. Who should obtain the penalty? This is the second core issue that has led to dispute. If the penalties accrue to the procurement authority (and the government or firm behind it) there is an adverse incentive: the procurement authority would profit from its own organizational failure. It may al-

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low its employees to take bribes so as to request the penalty thereafter. A better solution would be to assign the penalty to a charity, maybe after costs for detection are subtracted. Another solution would be to assign rights to restitution to the unsuccessful bidders, which can be claimed from the collected punishment. Rewards to whistleblowers may also be paid from the sum collected. A third question is how to deal with companies that proactively report the bribery of their own staff. Leniency should be given in this case, maybe reducing the penalty to 10 times the bribe. This design reveals a clear advantage of contract penalties over different penalty schemes. The reduction in the penalty can be made transparent and announced upfront, assigning clearer legal rights to a firm that comes forward with evidence. To the contrary, debarment systems may also attempt to treat cooperating firms more leniently but risk a less transparent decision that favors the influential firms. Despite these advantages in practice contract penalties are only seldom applied. I am unaware of the reasons for this failure. It may not provide advantages to influential firms, suggesting that there are political-economic reasons to its little practical relevance. Contract penalties are considered by Transparency International in its integrity pacts and clearly deserve more application and research. 5. Whistle-blowing Systems and Anticorruption Culture Whistle-blowing systems are a first step towards bottom-up, alas, a rather limited one. Passengers in a subway would not consider themselves to participate in driving just by being requested to pull the brake in case of emergency. It requires much more to truly start a bottom-up approach towards anticorruption. Whistle-blowers need more than just a hotline to turn in anonymous hints. More elaborated internet-based systems have been developed that allow prosecutors or compliance officers to interrogate while retaining the anonymity of whistleblowers. Another approach is by having ombudsmen outside the company that serve as a contact to discuss issues of corruption with whistleblowers while being legally bound to keep the identity of their informants confidential. This more personal approach may be better suited for some whistleblowers, but it may also be difficult to implement by a multinational company with employees scattered around the globe. A bottom-up approach is less oriented towards clear rules but towards clarifying principles. A company may set up clear rules on how to avoid corruption. But innovative employees may seek ways to work around them.

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An employee may detect conflicts of interest that are in accordance with official regulation but not with broader principles of anticorruption. Acting as a whistleblower in this case is highly uncomfortable, because official rules tell another story. Anticorruption should provide a forum for discussion to such employees. The bottom-up development of codes of conduct and their constant readjustment are needed for this purpose. But in reality we observe that codes of conduct are sometimes written by external experts, imported from benchmark companies and simply distributed to firms’ staff. Even when employees are requested to confirm and approve these codes of conduct this does not help in making them part of corporate or public culture. Training in the detection of red flags is needed rather than ex-cathedra indoctrination on corporate ethics. Helpdesks should be available for those seeking immediate advice. Such helpdesks (either by telephone or via internet) allow employees to voice their questions, concerns or fears without making them known to peers, subordinates and superiors. Compliance offices must become responsive to the views contributed from employees themselves. Without this bottom-up support, the rules invented by compliance offices will be futile or even counterproductive.

V. Policy Implications and Conclusion A comprehensive anticorruption strategy must embrace both top-down and bottom-up elements. This paper analyzed their interaction. It argues that debarment and the nullity of a contract induced by bribery fail in this regard. Leniency given to bribers who successfully obtained a favor or to public servants who successfully obtained a bribe can well serve to encourage bottom-up actions against corruption. Contract penalties can also work well, in particular when joined with rewards given to whistleblowers and leniency in case of self-reporting. Siemens lately imposed strict regulation on gift-giving and dining. Similar regulations are often defended on the premise that one must safeguard against the initial temptations. But there are various problems to such a strategy. Due to such regulation some employees are captured in a circle of silence after an initial minor error. For them, the initial perpetration becomes the starting point of a corrupt career. They find it difficult to reject the truly corrupt demands when they observe that they have something to hide or might be blackmailed for their initial error. Others simply dislike the moral rigor and feel less inclined to contribute to the development of a corporate culture of anticorruption. Groups may revolt against the exces-

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sively authoritarian tone and encourage disobedience. Blowing the whistle on perpetrators of the new regulation obtains little support among peers. The overall measure is likely to do more harm than good. A clearer recognition of how to reconcile top-down measures with bottom-up initiatives is thus vital for reform. References Camerer, C. (2003): Behavioral Game Theory: Experiments on Strategic Interaction. Princeton, NJ: Princeton University Press. Control Risks Group (2006): International Business Attitudes to Corruption – Survey 2006, Control Risks Group. Retrieved online (Nov. 8 2007) from http:// www.crg.com/PDF/corruption_survey_2006_V3.pdf Fisman, R./Miguel, E. (2006): Cultures of Corruption: Evidence from Diplomatic Parking Tickets. NBER Working Paper 12312. Frank, B./Schulze, G. (2000): “Does Economics make Citizens Corrupt?” Journal of Economic Behavior and Organization, 43 (1): 101–13. Hoopes, J. (2003): False Prophets: The Gurus Who Created Modern Management and Why Their Ideas Are Bad for Business Today. Perseus Publishing. Kapstein, S. P./Kaptein, M. (1998): Ethics Management – Auditing and Developing the Ethical Content of Organizations, Springer. Karpoff, M./Lee, D. S./Vendrzyk, V. P. (1999): “Defense procurement fraud, penalties and contractor influence”, Vol. 107 (4), Journal of Political Economy 809– 842. Kelman, St. (1990): Procurement and Public Management: The Fear of Discretion and the Quality of Public Performance. Washington: The AEI Press. – (2003): “Remaking Federal Procurement”, The John F. Kennedy School of Government Series Visions on Governance in the 21st century, Working Paper No. 3. Lambsdorff, J. Graf (2002): “Making Corrupt Deals: Contracting in the Shadow of the Law”, Journal of Economic Behavior and Organization, Vol. 48 (3), pp. 221–241. – (2007): “The New Institutional Economics of Corruption and Reform: Theory, Policy, and Evidence”, Cambridge University Press. Lambsdorff, J. Graf/Frank, B. (2007) “Corrupt Reciprocity”, Discussion Paper of the Economics Faculty of Passau University, No. 51-07, August. Lambsdorff, J. Graf/Nell, M. (2007): “Fighting Corruption with Asymmetric Penalties and Leniency.” CeGe-Discussion Paper No. 59, February, University of Göttingen. Levitt, S. D. (2006): “White-Collar Crime Writ Small: A Case Study of Bagels, Donuts, and the Honor System.” American Economic Review, Vol. 96 (2), 290–294.

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Johann Graf Lambsdorff Von Regina von Görtz Die Diskussionsleiterin Prof. Dr. Viktoria Enzenhofer, Fachhochschule Eberswalde, eröffnete die Diskussion mit der Frage, inwieweit die Simulation mittels des gespielten „corruption games“, auf dessen Ergebnisse sich Graf Lambsdorffs Argumentation stütze, das Verhalten der Akteure unter realen Bedingungen widerspiegele. Enzenhofer vermutete, dass der Spielcharakter eines solchen Spiels zu anderen Reaktionen als im „richtigen“ Leben führe. Insbesondere bezweifelte sie die Reproduzierbarkeit der geschlechtsspezifischen Unterschiede. Prof. Dr. Johann Graf Lambsdorff erwiderte darauf, dass empirische Studien gezeigt hätten, dass die Ergebnisse solcher Spiele typischerweise verlässlich seien. Sicherlich seien in der Wirklichkeit die Geldbeträge höher, um die gespielt werde, aber auch hier hätten Studien gezeigt, dass die Höhe der möglichen Gewinne keinen signifikanten Einfluss auf den Ausgang des Spiels hätte. Er wies zudem darauf hin, dass es sich bei dem gespielten Spiel um ein einmaliges Ereignis, also ein so genanntes „one shot game“ handele. Er räumte ein, dass dies tatsächlich nur in einigen Fällen der alltäglichen Korruptionspraxis entspreche, wie z. B. bei den korrupten Arrangements beim An- und Verkauf von Waffen. Solche Transaktionen würden typischerweise einmalig getätigt, anschließend gingen die Parteien wieder auseinander. In anderen Bereichen würden solche „Spiele“ aber häufig über Jahre hinweg „gespielt“; d.h. Korruptionsbeziehungen würden über Jahre hinweg aufgebaut und gepflegt. Die Partner würden sich kennen und arbeiteten Hand in Hand. Prof. Dr. Jürgen H. Wolff, Ruhr-Universität Bochum, wandte ein, dass es zwar richtig sei, dass nicht die absolute Höhe der ausgezahlten Beträge entscheidend für das Verhalten der beteiligten Spieler sei, wohl aber die Differenz der Beträge zueinander. Wolff erkundigte sich, ob solche Auszahlungen von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) übernommen würden und ob sie im Antragsverfahren genehmigungsfähig seien. Er schloss mit der Frage nach „unsichtbarer“ Korruption in Entwicklungsländern. Hier gebe es Fälle, in denen die Weltbank Gelder für den Aufbau von Infrastruktur be-

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reitstelle und sowohl das Ausschreibungsverfahren als auch die Durchführung der Projekte überprüfe. Trotzdem landeten am Ende häufig Gelder auf privaten Nummernkonten in der Schweiz, die von korrupten Akteuren illegal abgezweigt worden seien. Hier würde äußerlich nach fairen Regeln gespielt, dessen ungeachtet schafften es aber einige sich am Ende ganz persönlich zu bereichern. Wolff wandte ein, dass die von Graf Lambsdorff vorgeschlagenen Interventionsmaßnahmen und Reformansätze diese Art der Korruption nicht einzudämmen vermöchten. Siegfried Lessing-Wenzel, Powertank GmbH, fragte wie die Anreize für ehrliche Unternehmer gestärkt werden könnten. Er erlebe es in seinem unternehmerischen Alltag immer wieder, dass er Aufträge nicht bekomme, weil er die Zahlung von Schmiergeldern ablehne. Unternehmen dagegen, die sich auf die Schmiergeldforderungen korrupter Beamter einließen, würden regelmäßig mit Aufträgen für diese Praxis belohnt. Dr. Harriet Christiane Zitscher, Landesrechnungshof Mecklenburg-Vorpommern, sprach die sinnvollen Höhe von Vertragsstrafen an. Graf Lambsdorff habe vom 50fachen der Bestechungssumme gesprochen. Zitscher bezweifelte, dass sich diese Summe immer so genau beziffern lasse, insbesondere dort, wo Korruptionsbeziehungen über Jahre hinweg unterhalten würden. Auf die Frage von Wolff erwiderte Graf Lambsdorff, dass die Auszahlung von Geldern in Simulationsspielen kein Problem sei. Zum Teil würde dies auch von der DFG als Teil der Forschungsarbeit anerkannt und entsprechend übernommen. Ansonsten sei er aber auch bereit die Preisgelder aus seinem eigenen Etat zu zahlen. Zur Frage nach Höhe und Differenz der ausgezahlten Gelder berichtete er über eine Vergleichsstudie zwischen Studienteilnehmern in den USA und in Indonesien. Beide Gruppen hätten um die gleichen Dollarbeträge gespielt, die aber in Indonesien ein Vielfaches der Kaufkraft hätten. Die Ergebnisse zwischen beiden Spieler- und Ländergruppen hätten sich jedoch nicht signifikant unterschieden. Beobachtbar sei hingegen gewesen, dass Spieler mit dem Ansteigen der Beträge immer rationaler spielten, d.h. sie verhielten sich immer opportunistischer. Allerdings sei dieses Ergebnis nicht signifikant, würde aber im Übrigen die Argumentation Graf Lambsdorffs für eine Änderung der Anreizstrukturen nur unterstützen. Auf die Frage nach veruntreuten Geldern im Bereich der Entwicklungshilfe berichtete Graf Lambsdorff, dass es hier bereits große Fortschritte gebe. Die Weltbank bleibe mittlerweile so lange wie möglich involviert und versuche den Geldfluss weitestgehend zu kontrollieren. Natürlich gebe es aber auch hier noch Fehler im System.

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Zur Frage von Lessing-Wenzel bezüglich eines Anreizsystems für ehrliche Unternehmer verwies Graf Lambsdorff darauf, dass es für Unternehmer tatsächlich aufreibend sein könne, sich der Korruptionslogik zu entziehen. Der Ausweg aus diesem Dilemma sei schwierig. Allerdings seien auch die Risiken und Gefahren einer korrupten Unternehmenspraxis in den letzten Jahren stark angestiegen. Zum einen aufgrund der verschärften Gesetzeslage, zum anderen aber auch weil die Zahlung von Schmiergeldern häufig dazu führe, dass Unternehmensmitarbeiter solche Privilegien auch für sich privat in Anspruch nehmen wollten. Die Hemmschwellen von Mitarbeitern zu Vorteilsnahme etc. würden signifikant gesenkt. Außerdem sei auch bei Bestechung längst nicht garantiert, dass man den Auftrag am Ende bekomme. Insofern zahle es sich für Unternehmen langfristig aus, ehrlich zu bleiben. Zur Frage von Zitscher über die Berechnung von geflossenen Bestechungsgeldern und die entsprechenden Vertragsstrafen verwies Graf Lambsdorff auf die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die entsprechende Werkzeuge entwickelt hätten, um Schmiergeldzahlungen in den Büchern und Bilanzen zu entdecken. In ihrem abschließenden Diskussionsbeitrag fragte Marie-Luise SchwarzSchilling nach der Rolle von Strafen für diejenigen, die bestochen würden und Schmiergelder annähmen. Sie fragte, wie die Anreizsysteme hier so verändert werden könnten, dass Beamte immun gegen Bestechung würden. Graf Lambsdorff verwies darauf, dass bestechliche Beamte unbedingt bestraft gehörten. Aber oberstes Ziel müsse es sein, nicht den einzelnen Beamten zu strafen, sondern Schaden von der Gesamtgesellschaft abzuwenden, der vornehmlich dadurch entstehe, dass Beamte Verträge beispielsweise nicht an den besten Bieter vergäben. Zum Abschluss der Diskussion erkundigte Diskussionsleiterin Enzenhofer sich, ob der Referent mit dem ehemaligen Bundesminister für Wirtschaft Otto Graf Lambsdorff verwandt sei. Dies bejahte Graf Lambsdorff.

Whistleblower: Helden des Alltags? Von Antje Bultmann I. Riskante Nachrichten Sie haben sicher gehört von David Kelly, dem Experten für biologische Waffen, der von der UNO im Irak als Inspektor eingesetzt worden war und dem BBC gegenüber geäußert hatte, dass der Irak über keine Massenvernichtungswaffen verfügt. Er beging Selbstmord, nachdem von allen Seiten ein derartiger Druck auf ihn ausgeübt wurde, dass er keinen anderen Ausweg sah. Sie haben vielleicht von Mordechai Vanunu gehört, der vor 20 Jahren ausplauderte, dass Israel über Atomwaffen verfügt. Er wurde in Rom gekidnappt und 18 Jahre hinter Gitter verbannt, davon 12 in Einzelhaft. Sie haben vielleicht auch von der deutschen Veterinärin Margrit Herbst gehört, die als eine der ersten auf die Gefahren von BSE aufmerksam machte, worauf sie von ihrem Arbeitgeber versetzt und später entlassen wurde. Weltweit bekannt wurde auch der Fall des „kleinen“ Zeitsoldaten Joseph Darby, durch den die Folterungen in Guantanamo publik wurden. Er musste später vor dem Hass seiner Landsleute fliehen. Vor einiger Zeit konnte man auf der ersten Seite der New York Times von Jim Hansen, dem Direktor des NASA Goddard Institute for Space Science, lesen, wie die Bush-Administration ihn daran zu hindern versuchte, vor dem Klimawandel zu warnen und öffentlich zu äußern, dass sich unsere Erde dem „Point of no return“ annähert. Darby, Vanunu, Kelly, Hansen und Herbst sind Whistleblower, mutige Menschen, die „die Warnpfeife geblasen haben“, um die Allgemeinheit vor größerem Schaden zu bewahren. Es gibt Tausende kleiner Whistleblower, die nicht in die Medien kommen, wie z. B. ein Arbeiter, der Kollegen gegenüber äußert, dass es tödlich sei, Asbest mit dem Besen zusammenzufegen, und der daraufhin entlassen wird; oder ein Arzt, der bekannt macht, dass in einem Unternehmen die Arbeitsplätze verseucht sind, der Todesfälle meldet und Renten für Geschädigte anmahnt, und dem man alle Patientenakten beschlagnahmt und ihn obendrein des Betrugs bezichtigt. Unangenehme Nachrichten werden gern ignoriert, totgeschwiegen. Wo das nicht möglich ist, wird der Unglücksbote kaltgestellt.

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Auch in der Wissenschaft gibt es zahlreiche Beispiele. Ich möchte hier nur den 53jährigen Guillermo Eguiazu von der Universität Rosario, Argentinien, nennen. Das argentinische Bildungsministerium zählt ihn zu den qualifiziertesten Wissenschaftlern Argentiniens. Das nützt ihm allerdings nichts. Er hat sich vor allem mit dem karzinogenen Pilzgift Aflatoxin befasst, wollte es aber nicht bei wissenschaftlichen Analysen bewenden lassen, sondern Verantwortung für seine Forschung übernehmen. Er engagierte sich für die Aufklärung der Bevölkerung und setzte sich sogar für ein „Gesetz zur Reduzierung von Schimmelbildung“ in einer verbesserten Lagerhaltung, z. B. von Getreide, Nüssen, Milchprodukten etc. ein. Die Universitätsleitung meinte jedoch – mit Blick auf bestimmte Konzerne –, dass es nicht sein Job sei, die soziale Frage zu stellen und erst recht nicht, sich in politisch-wirtschaftliche Entscheidungen einzumischen. Eguiazus Institut wurde von Unbekannten verwüstet. Die Universitätsverwaltung verfrachtete daraufhin sein Labor in eine alte Hühnerschlachterei. Der Professor wurde weiter gemobbt. Er durfte fortan zwar sein Institut selber putzen, aber nicht mehr lehren. Ein Protest der Studenten konnte daran nichts ändern. Sein Gehalt wurde gekürzt, das des Assistenten gestrichen. 2002 wurde die gesamte Laboreinrichtung auf einem Lastwagen abtransportiert. „Wir bereuen nicht, aber es tut weh!“, schrieb mir Eguiazu vor kurzem in einer Mail. Er arbeitet heute zuhause an einer neuen wissenschaftlichen Methode, der Technopathogenese, kurz TPG. Die TPG untersucht im Hinblick auf Gesundheitsgefährdungen alle Entwicklungsschritte einer Technik – von den ersten wissenschaftlichen Ideen, Theorien und Methoden eines Forschungsvorhabens bis zu ihrer Anwendung und Verwirklichung in Produkten oder Verfahren. Die TPG soll unter fachlichen, ethischen und sozialen Gesichtspunkten gezielte Manipulationen und auch versehentliche Fehler in Forschungsvorhaben und Produktentwicklung überprüfen, die dem Verbraucher schaden können. Auch in Europas Forschungsabteilungen gibt es viele Whistleblower. Wobei es hier nicht ganz so offen und brutal zugeht. Viele Wissenschaftler haben keine Forschungsgelder mehr erhalten, wenn sie Ergebnisse fanden, die den Gewinninteressen der Industrie entgegenstanden. Rainer Frentzel-Beyme ist auch ein Whistleblower. Er arbeitete die letzten zehn Jahre seiner Laufbahn seines Arbeitslebens an der Universität Bremen an zwei Abteilungen für Epidemiologie der Umwelt, sozusagen am Krankenbett der Risikogesellschaft. Er gehörte zu den im Ausland ausgebildeten und informiertesten deutschen Umweltepidemiologen. Gleich am Anfang seiner Karriere am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg machte er sich unbeliebt, weil er als freier Mitarbeiter gemeinsam mit

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Werksärzten das berufliche Krebsrisiko und Berufskrankheiten von Beschäftigten des Chemieunternehmens BASF untersuchte, und es wagte unerwünschte Befunde zu veröffentlichen. Um eine Verbreitung der Forschungsrichtung über Berufsrisiken mit epidemiologischen Methoden möglichst einzuschränken, wurde seine Habilitation von einem Gutachter negativ beurteilt und abgelehnt. Es stellte sich hinterher heraus, dass FrentzelBeyme eine Studie kritisiert hatte, die dieser Gutachter gemeinsam mit Werksärzten der Bayer-AG durchführen wollte. Bei einem zweiten Anlauf nach vier Jahren, wurde die Habilitationsschrift von der Fakultät erneut abgelehnt. Anerkannt wurde sie erst, nachdem der Justitiar der Universität Heidelberg feststellte, dass jedwede Begründung unhaltbar sei und so erhielt Frentzel-Beyme schließlich doch noch eine Professur. Auch weiterhin ließ er sich seine sorgfältig geplanten Studien in heiklen Bereichen nicht verbieten. Er koordinierte vor allem überregionale Krebsursachenforschung, gab den Krebsatlas heraus und leitete für Deutschland die Teilstudien internationaler multizentrischer Studien zusammen mit dem Internationalen Krebsforschungszentrum der WHO. Unter anderem fand er heraus, dass besonders Laboranten, aber auch Akademiker in bestimmten Abteilungen der Chemieproduktion eine beträchtlich verkürzte Lebenserwartung und typische – mit der Berufsbelastung verbundene – Todesursachen aufwiesen, d.h. vor dem vierzigsten Lebensjahr starben. Nach Durchführung zahlreicher einschlägiger und international veröffentlichter Studienergebnisse wurde 2004 seine Abteilung geschlossen, und der Professor vorzeitig in Pension geschickt. Für seine kritischen Studien könne man keine Drittmittel einwerben, hieß es. II. Eine Kluft zwischen Geschädigten und abhängigen Experten Die Öffentlichkeit spaltet sich in zwei Lager. Auf der einen Seite stehen die Betroffenen und Ärzte, Rechtsanwälte, unabhängige Wissenschaftler etc., die zwar äußerst sachkundig sein können, jedoch oft wenig Einfluss haben. Auf der anderen Seite stehen abhängige und gekaufte Experten, Menschen, die ein bestimmtes Interesse daran haben, dass Informationen über folgenreiche brisante Gefährdungen und Restrisiken unterdrückt werden, weil sie daran unmittelbar oder mittelbar verdienen oder andere Vorteile davon haben. Es gibt auch „Überzeugungstäter“ und andere Mitläufer, die sich nicht informiert haben, aber in den entscheidenden Gremien sitzen und in den Medien zitiert werden, weil eine einflussreiche Lobby den Mainstream bestimmt. So mancher kritische Wissenschaftler musste seine Karriere schon in jüngeren Jahren an den Nagel hängen. Die Strategien der Gegner sind vielseitig. Manchmal werden übelste Behauptungen ins Internet gestellt, zugesagte

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Vorträge einfach abgesagt oder verfälscht zitiert, sie werden von Konferenzen ausgeschlossen, ihre Dias vor einem Vortrag durcheinandergebracht, heimlich Briefe an maßgebliche Stellen geschickt, in denen vor dem Überbringer der brisanten Nachricht gewarnt wird etc. etc. Umgekehrt fragen Behörden oder Gerichte, wenn sie Ergebnisse von Experten als Grundlage für Ihre Entscheidungen nehmen – anders als in den USA – in der Regel nicht nach, von wem diese bezahlt werden, für wen sie Gutachten schreiben etc. zum Nachteil der Geschädigten. In den Universitäten besteht das große Dilemma in der Finanzierung durch Drittmittel, wodurch Wissenschaftler unter Druck geraten und sich gezwungen sehen, ihre Forschung zu schönen und zu fälschen, um den Wünschen ihrer Auftraggeber nachzukommen. Es wird inzwischen von den Wissenschaftlern selbst und weiten Teilen der Bevölkerung schlicht ignoriert, dass Forschung nur dann Wissenschaft ist, wenn sie versucht, die „Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“ zu ergründen. Weshalb geht hier kein Aufschrei durch alle Universitäten? III. Wer ist ein Whistleblower? Nach dieser Dusche von Beispielen vielleicht doch so etwas wie eine verallgemeinernde, definierende Beschreibung: Whistleblower übernehmen eine wichtige Aufgabe in unserer Gesellschaft. Sie haben die Funktion, früh und rechtzeitig vor Gefahren zu warnen. Das erfordert manchmal fast übermenschlich großen Mut und Zivilcourage – in einer Zeit, in der die Weltbevölkerung explodiert, wird Zivilcourage überlebensnotwendig, in einer Welt, in der immer mehr Natur und Lebensgrundlagen oft ohne Rücksicht willkürlich zerstört werden (z. B. durch Patente auf Grundnahrungsmittel), wo Risikotechnologien kumulieren und die Verwüstung zunimmt. Wenn wir heute nicht aufpassen, wird es in nicht all zu ferner Zeit furchtbare Verteilungskämpfe um sauberes Wasser, fruchtbaren Boden und andere Ressourcen geben. Ein Whistleblower ist ein geistiger Dissident, ein „Ethical Resistor“. Vier Kriterien sollten erfüllt sein: Er oder sie deckt Korruption, Bestechung und Filz auf, Verstöße gegen internationale Abkommen, Missbrauch von staatlichen Geldern, Verseuchung von Boden, Wasser oder Luft oder Vergeudung von Ressourcen. Er hat die Zivilcourage, Missstände anzuprangern, die die Umwelt oder den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft bedrohen. Er oder sie handelt selbstlos aus Gewissensgründen, aus Sorge um das Wohlergehen der Mitmenschen. Er oder sie schlägt Alarm. Er wendet sich – soweit möglich – an die ‚Täter‘ und/oder Verantwortlichen. Wenn seine Warnungen unterdrückt werden, geht er an die Öffentlichkeit. Er oder sie geht

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ein hohes Wagnis ein, setzt seine berufliche Karriere oder gar seine Existenz aufs Spiel. Viele Whistleblower werden mundtot gemacht. Sie verlieren ihre Arbeitsplätze, werden in psychiatrische Kliniken eingeliefert, verschwinden im Gefängnis oder schlimmer. Wer das auf sich nimmt, muss ein Held sein. Oder? Dennoch: Whistleblower haben gemeinhin noch immer einen schlechten Ruf. Wer ihnen hilft, solange die heiklen Fragen noch ungeklärt sind, setzt sich zwischen alle Stühle. Wer will schon etwas mit offensichtlichen Versagern zu tun haben? Und noch etwas, das leicht unterschätzt wird: Es kostet viel Zeit, sich in die Sachverhalte einzuarbeiten und den verzweifelten Menschen zu helfen, die doch eigentlich dachten, sie hätten etwas Gutes für die Menschen getan. Whistleblower werden von Menschen, die die Wahrheit scheuen, aus eigennützigen Motiven mit gängigen Kampfvokabeln als Verräter, Nestbeschmutzer oder Staatsfeinde verleumdet. Das klingt wie eine dahin gesagte Beschimpfung, ist aber in der Regel klar kalkuliert: Denn einen Whistleblower, den man mit Worten und Kampagnen mürbe machen kann, wird man billig los. Man darf davon ausgehen, dass es psychologisch geschulte Experten gibt, für die „besten“ Wege, einen Menschen fertig zu machen. Dennoch oder gerade deshalb halten wir fest: Besonders dringend ist Whistleblowing, wenn es um Überleben, Gesundheit oder größere Delikte im Umweltbereich geht. Whistleblowing spielt weiter eine Rolle, wenn die Menschenrechte verletzt werden oder das soziale Gefüge bedroht ist. An dritter Stelle steht das Aufdecken von finanzieller Korruption bei Firmen, Schmiergeldzahlungen, Unregelmäßigkeiten in Bilanzen etc. Whistleblower sind keine Verräter, sie sind loyal. Sie setzen sich nicht nur für Gerechtigkeit ein, sondern identifizieren sich in besonderem Maße mit ihrer Arbeit. Wenn es in einer Institution, einem Unternehmen etc. zum Skandal kommt, kann das Unternehmen sein Ansehen verlieren oder Pleite gehen. Wir hören viel von Whistleblowern, die finanzielle Korruption aufdecken. Hier ist die Beweisführung häufig einfacher als im Bereich Gesundheit und Umwelt. Kritische Felder sind u. a.: Nahrungsmitteltechnik, Mobilfunk, Gentechnik oder Nanotechnologie, Entsorgung von giftigen Abfällen. Im heute noch üblichen naturwissenschaftlichen Verfahren Beweise dafür zu erbringen, dass bestimmte Technologien unter Umständen bedrohliche Gesundheitsgefährdungen hervorrufen können, ist äußerst schwierig. Entweder muss hier „substantielle Evidenz“ ausreichen – ein Gedanke, der sich immer mehr durchsetzt –, oder die Beweislast muss umgekehrt werden. Das wären Schritte in die richtige Richtung. Im Übrigen: Beweise ermüden die Wahrheit – sagte ein französischer Philosoph. In Japan gibt es vorläufig – bis eine bessere Lösung gefunden ist – einen Fonds, in den jeder Unterneh-

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mer, der mit Schadstoffen irgendeiner Art zu tun hat, Beiträge zahlen muss, um für spätere eventuelle Schäden aufzukommen. IV. Whistleblower brauchen Unterstützung Viele Organisationen, die sich um sie kümmern oder einen Preis vergeben, warten allerdings, bis die Kartoffeln aus dem Feuer geholt sind, der Sturm der Entrüstung verebbt ist, wenn die Whistleblower sich bereits wieder etabliert haben, bis sie in etliche Talkshows eingeladen wurden und ihre einstmals unbequeme Botschaft mindestens von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert wurde. Solche Whistleblower sind zu Vorbildern geworden. Wir brauchen natürlich Vorbilder. Aber wir sollten die nicht vergessen, die noch mitten in oft existentiellen Problemen stecken und meist völlig isoliert sind. Gerade dann brauchen sie am dringendsten Beistand. Man muss sich nicht nur mit dem Whistleblower selbst und den Umständen befassen, sondern ebenso in die umstrittene Sache (z. B. in die Diskussion um eine Risikotechnologie), um die es geht, sehr sorgfältig einarbeiten, wissenschaftliche und juristische Aspekte eingeschlossen. V. Was ein Whistleblower wissen sollte Besonders hervorzuheben ist die Forschung des US-amerikanischen Psychotherapeuten Dr. Donald Soeken. Er hat sich auf Hilfe für Whistleblower spezialisiert und ist oft in den Medien vertreten. Er hat ein Zehn-PunkteProgramm ausgearbeitet, das für Whistleblower ein wichtiger Leitfaden ist. Wenn der Whistleblower wirkungsvoll Alarm schlagen möchte, sagt Soeken, sollte er sehr gut vorbereitet sein und bedenken, dass er: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

mit Familie und Freunden sprechen muss, genau überlegen muss, wem er die Nachricht anvertrauen möchte, unbedingt ein Tagebuch führen muss, sich Organisationen sucht, die ihn unterstützen und evtl. als Zeugen auftreten können, wie ein Schachspieler eine Strategie ausarbeiten muss und seinen Gegner nicht unterschätzen darf, sondern diesen auch achten sollte, dass es bei Kontroversen immer Leckstellen geben kann, dass er von Kollegen beobachtet wird, wenn er anonym bleiben will, einen Rechtsanwalt zu Rate zieht, sich auf Fakten bezieht und weniger auf die Personen, keine Angst vor einem Rückzieher haben sollte.

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Soeken wertete Fälle aus, die er in seiner psychotherapeutischen Praxis betreut hat. „Sie müssen sich auf harte Zeiten gefasst machen, wenn Sie Ihr Geheimnis offenbaren“, sagt er jedem Whistleblower. Hierauf versucht er, die Hilfesuchenden vorzubereiten, wie man mit Verleumdungen umgehen kann. Er weist darauf hin, dass die Angelegenheit viel Geld kosten kann und dass der Whistleblower viel Geduld und Zeit aufbringen muss, und er gibt Hinweise auf mögliche rechtliche Konsequenzen. Für sein Engagement erhielten er und seine Kollegen viele Dankesbezeugungen, aber auch Drohungen. VI. Ein positives Beispiel Manchen Whistleblowern gelingt es, ohne große Probleme wieder zurecht zu kommen, so z. B. dem ehemaligen Umweltminister von Brasilien, José Lutzenberger, der seines Amtes enthoben wurde. Er hatte am Rande eines Kongresses der Weltbank in den USA die brasilianische Umweltorganisation IBAMA als 100%ige Tochter der Holzindustrie bezeichnet. Das kostete ihn das Amt. Lutzenberger engagierte sich danach mehr in seiner Ökofarm und international gegen die Verseuchung der Erde und die Ausbeutung der Ressourcen. Aufgrund seiner persönlichen Ausstrahlung und seiner Vorträge, die oft sogar seine Gegner faszinierten, gewann er Anhänger auf der ganzen Welt. Im Nachhinein kam er übrigens zu der Überzeugung, dass er als Außenstehender viel mehr bewegen konnte als in seinem Ministeramt. In der letzten Zeit gibt es immer mehr Organisationen, die Preise für Zivilcourage vergeben, wie z. B. die Solbach-Freise-Stiftung, das Internationale Netzwerk für Ingenieure und Wissenschaftler für globale Verantwortung, die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges e.V. Das Problembewusstsein in der Bevölkerung wächst. Es gehört viel dazu, seine Angst nicht nur für den Augenblick zu überwinden, in dem Widerstand geleistet wird, sondern auch dann, wenn alles öffentlich wird. Ein Whistleblower muss mit seiner Angst umgehen können, wenn die Ehe plötzlich infrage steht, Freunde sich zurückziehen, Arbeitskollegen wegschauen, Zeitungsberichte falsch sind. Das erfordert ein sehr starkes Selbstvertrauen. Wir wollen keine Heiligsprechungen, die würden nur schaden: Whistleblower haben in vieler Hinsicht Charakterfehler – wie wir alle. Wobei es zu bedenken gilt, dass extremer Stress – von der Sorte, wie er etwa durch gezielte Verleumdung aufgebaut wird – latente Charakterfehler (wie bei den meisten Menschen) in ihrer Außenwirkung vergrößern kann. Und dass ein Whistleblower, der massiv verfolgt wird, auch hier und da eine Verfolgung argwöhnt, die in einem speziellen Einzelfall nicht vorhanden ist, kann nur der als „Verfolgungswahn“ abtun, der sich über die Dimensionen der Auseinandersetzung nicht im Klaren ist.

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Aber sie sind dennoch Alltagshelden. Sie sind „das wache Gewissen einer Gesellschaft“, sagt Friedrich Schorlemmer, sie sind notwendig für eine funktionierende Demokratie. Sie sind die heimlichen Helden und sollten aus dem Schatten der Gesellschaft heraustreten. VII. Für eine Kultur der Zivilcourage Whistleblower müssen durch ein Gesetz geschützt werden, auch dann, wenn sie sich geirrt haben sollten, vorausgesetzt, sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. In Amerika und England, wo es solche Schutzgesetze gibt, hat sich das Ansehen dieser mutigen Leute entscheidend verbessert. Die Gesetze haben außerdem den Effekt, dass potentielle Täter mehr Angst haben, geistige oder finanzielle Korruption zu begehen. Es ist notwendig, den gesellschaftlichen Dialog über Whistleblowing zu unterstützen und eine Kultur der Zivilcourage anzuregen, um eine Basis für SchutzGesetze in ganz Europa zu schaffen. Die ermutigende Nachricht zum Schluss: Whistleblower würden – so eine US-amerikanische Studie von Don Soeken – zu 90 Prozent in der gleichen Situation wieder genauso handeln.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Antje Bultmann Von Andrei Király Der Diskussionsleiter Dr. Wolfgang Hetzer, Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), eröffnete die Diskussion mit einem Dank an die Referentin. Dr. Klaus Peter Krause, Journalist aus Friedberg, fragte nach Rechtschutzmöglichkeiten für Whistleblower angesichts der Tatsache, dass diese leicht in langwierige Prozesse hineingezogen werden könnten, die unter Umständen den finanziellen Ruin bedeuteten. Darüber hinaus erkundigte er sich nach der Verfügbarkeit von Statistiken, die zeigten, wie oft Whistleblower mit ihren Anliegen erfolgreich seien. Raimund Borrmann, Mitglied des Landtags Mecklenburg-Vorpommern, merkte an, dass „Whistleblower“ ein neues Wort für allseits bekannte Begriffe sei – Kassandrarufer, Revolutionär, Querdenker – und damit lediglich eine Modeerscheinung für ein uraltes Phänomen: Menschen mit Weitblick, die sich für ihre Meinungen aktiv einsetzen. Daran knüpfte er die Frage, ob es staatlich anerkannte Zivilcourage geben könne. Er selbst hätte negative Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Anton Kilger, Assessor aus München, nahm Bezug auf die eigene berufliche Erfahrung als Referent für Arbeitsrecht. Demnach würden sich Betriebs- und Personalräte auf ihre Verschwiegenheitspflicht berufen, um Kungeleien zu verdecken, die zulasten der Beschäftigten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern stattfänden. Auch in der Politik würden Angelegenheiten unter den Teppich gekehrt. Daher stelle sich für ihn die Frage, wie in derartigen Fällen verhindert werden könne, das Gebot der Verschwiegenheit zu missbrauchen. Angesichts des Schutzbedarfes für Whistleblower regte er zudem an, über die Einrichtung eines Hilfsfonds für diesen Personenkreis nachzudenken. Dieser solle helfen, die finanziellen Risiken von Gerichtsprozessen zu verkraften. Als weitere Maßnahme sei die Umkehr der Beweislast in Whistleblower-Fällen denkbar. Dies sei angesichts der Übermacht von Organisationen gegenüber Individuen durchaus zu vertreten.

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Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, gab zu bedenken, dass auch die umgekehrte Frage gestellt werden müsse, und zwar die nach Schutzmöglichkeiten von zu Unrecht Beschuldigten. Ungerechtfertigte Anzeigen seien durchaus möglich, selbst wenn die Whistleblower im besten subjektiven Wissen handelten. Als mögliche Lösung schlug er die Einrichtung von speziellen organisationsinternen Anlaufstellen für Whistleblower in Behörden und Unternehmen vor. Diese würden beiden Belangen, also sowohl dem Schutz von Whistleblowern als auch dem Schutz der fälschlicherweise Beschuldigten, Rechnung tragen. Eine derartige Stelle könne den Whistleblowern Vertraulichkeit zusichern und sie dadurch vor Repressalien schützen. Denkbar sei etwa die Mitwirkung eines dazu beauftragten Rechtsanwalts, der beruflich zu Geheimhaltung verpflichtet sei. Andererseits wären diskrete Recherchen innerhalb der Organisation möglich, um ungerechtfertigte Anschuldigungen zurückzuhalten, bevor sie intern und in der Öffentlichkeit Aufsehen erregten. Der Diskussionsleiter übergab das Wort an die Referentin mit dem Hinweis für das Publikum, dass Bultmann keine Juristin sei, und daher nicht alle rechtlichen Fragen beantworten könne. Bultmann nahm von Arnims Vorschlag zum Anlass, die ihrer Meinung nach enorme Bedeutung der Anonymität für den Schutz von Whistleblowern zu unterstreichen. Erste Versuche mit Vertrauensstellen würden bereits stattfinden, so etwa bei der Deutschen Bahn oder im Rahmen des von der Firma Business Keeper entworfenen Hinweisgeberportals im Internet. Derartige Ansätze sollten möglichst bald ausgeweitet werden. Der Fall des britischen Wissenschaftlers David Kelly sei ein schlimmes Negativbeispiel: Ihm war ursprünglich Anonymität versprochen worden, wurde aber später mit tragischen Konsequenzen enttarnt Bezüglich des rechtlichen Schutzes von Whistleblowern stellte sie fest, dass mancher Fall derart komplex sei, dass sie den potenziellen Whistleblowern davon abrate, Hinweise zu erstatten. Die Risiken seien manchmal einfach zu hoch: Auch nach langjährigen und kostspieligen Gerichtsprozessen hätte das Anliegen keinen Erfolg. Grundlegend sei auf jeden Fall, dass ein guter Anwalt zu Rate gezogen werde. Die Vermittlung spezialisierter Anwälte sei übrigens auch ein Schwerpunkt des Whistleblower-Netzwerkes. Zu diesem Zwecke seien allerdings mehr Anwälte notwendig, die bereit seien, auch ehrenamtlich Whistleblower-Fälle zu übernehmen. Die Not dieser Menschen sei nämlich manchmal unvorstellbar. Kilgers Idee eines Hilfsfonds für Whistleblower griff Bultmann deshalb positiv auf. Engagierte Menschen könnten freiwillig zu dessen Einrichtung beitragen. Der Begriff des Whistleblowers hätte seinen Ursprung wahrscheinlich in der Trillerpfeife der englischen Polizisten. Das Thema Whistleblowing

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werde übrigens immer bekannter, noch vor zehn Jahren hätte in Deutschland kaum jemand davon gesprochen. Die Übernahme dieses Begriffs sei insofern auch erfreulich, als er im Gegensatz zu älteren Begriffen wie Denunziant positiv besetzt sei. Claudia Iyiaagan-Bohse, berichtete aus ihrer eigenen Erfahrung als Betroffene in einem Whistleblower-Fall. Sie sei ab 1992 Mitglied einer Personalkommission in Sachsen gewesen, die Lehrerinnen und Lehrer der ehemaligen DDR auf ihre politische Vergangenheit zu überprüfen hatte. Sie sei in ihrer Position unmittelbar an den Entscheidungen beteiligt gewesen, ob die untersuchten Lehrer im Schuldienst bleiben konnten oder gekündigt wurden. Die Schulverwaltung des Freistaats Sachsen habe sich aber diesen Überprüfungen zu entziehen versucht und sei auch juristisch vorgegangen. Aus politischem Protest sei Iyiaagan-Bohse in den Strafvollzug gegangen. Am Ende eines langen Weges habe sie 2005 vor dem Oberlandesgericht Recht bekommen, auch dank eines hervorragenden Anwalts. Die wichtigste Hilfe sei von einigen Journalisten gekommen, bei denen sie sich ausdrücklich bedankte. Für ihren Kampf habe sich der Schritt, ins Gefängnis zu gehen, gelohnt. Prof. Dr. Jürgen H. Wolff, Ruhr-Universität Bochum, wies auf das seiner Meinung nach problematische Demokratiebild hin, welches Bultmanns Vortrag impliziere. Es sehe nach einer Dichotomie aus: Die mutigen Helden des Alltags, Ritter in weißer Weste, gegen übermächtige Gegner, allen voran böse Firmenvorstände, Regierungen, usw. Dissens sei aber in Demokratien nicht nur legitim, sondern erforderlich. Bei fast allen gesellschaftlich relevanten Problemen bestünden legitime sachliche Meinungsverschiedenheiten. Man könne sich streiten, ohne dass dadurch die eine Meinung richtig und die andere falsch sei. Hinzu käme, dass innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche aber jeweils vollkommen legitime Interessen bestünden, die in Demokratien offen aufeinander träfen. Bultmann bestand auf der Charakterisierung von Whistleblowern als Helden des Alltags. Zivilcourage und der Einsatz für die Allgemeinheit müssten honoriert werden. Whistleblower seien aber auch ganz normale Menschen und würden auch Fehler machen. Bultmann hätte eine gewisse „Dickköpfigkeit“ bei vielen Whistleblowern erkannt. Aber möglicherweise sei dies eine notwendige Eigenschaft, um den Weg eines Whistleblowers zu wählen. Insgesamt finde sie es wichtig, die Thematik positiv darzustellen. Anknüpfend an Wolff stellte Bultmann die aus ihrer Sicht besondere gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler dar. Sie seien aber leider häufig an Korruption beteiligt, etwa durch unlautere Drittmittelfinanzierungen. Das Problem bestünde in der Beeinflussung der Forschungsergebnisse im Sinne der Geldgeber. Derartige Praktiken fänden ihrer Meinung nach oft

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statt und widersprächen dem Sinn der Wissenschaft. In diesem Zusammenhang sollten auch Wissenschaftler, die als Gerichtsgutachter tätig seien, verpflichtet werden, relevante Nebentätigkeiten und problematische Geldquellen anzugeben, damit ihre Befangenheit ausgeschlossen werden könne.

Dinnerspeech

Der Machtwahn: Die wirkliche Korruption sieht ganz anders aus Von Albrecht Müller I. Einleitung Das von mir zu erörternde Thema ist nicht gerade so appetitlich, dass man gemeinhin auf die Idee käme, es zum Gegenstand eines Dinnerspeeches zu machen. Aber diese Tagungsreihe und das 10. Jubiläum selbst sind etwas Außergewöhnliches. Außerdem werden vermutlich viele von Ihnen in ihrem Alltag davon betroffen sein, warum dann nicht bei einem Abendessen im Schatten des prächtigen Speyerer Doms. Wir könnten zur Beruhigung den wissenschaftlichen Leiter Ihrer Tagung, Herrn Professor von Arnim, noch mit dem Recht des Abtes eines wissenschaftlich arbeitenden Klosters auf dem Berg Athos ausstatten. Dort war ich einmal als Student zu Gast bei einem Abendessen. Einer der Klosterbrüder, neben dem sitzenden Abt am Pult stehend, hielt auch eine Art Dinnerspeech. Ich wunderte mich, warum die Mönche alle so unfassbar schnell aßen, bis ich einen lauten Schlag hörte und, als ich aufblickte, sah, dass der Abt mit seinem Messer in den Tisch gehauen hatte. Das war das Signal für das Ende des Vortrags und des Essens. II. Politische Korruption: Die wahre Dimension Auf der Mitgliederversammlung der Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland e. V. wurde am vergangenen Wochenende die Frankfurter Rechtsanwältin Sylvia Schenk zur neuen Vorsitzenden gewählt. Sie wurde daraufhin von SPIEGEL ONLINE gefragt: „Was wird die größte Herausforderung im Kampf gegen Korruption?“ Frau Schenk antwortete: „Das Problem ist in der Wirtschaft am größten: Da fehlt oft noch das Bewusstsein.“ Da muss ich widersprechen. Das Problem ist in der Politik um vieles größer, weil die dort inzwischen geläufig gewordene politische Korruption eine

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ganz andere Dimension hat. Es ist inzwischen nämlich üblich geworden, an der Zerstörung wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen zu verdienen. Und – so mein Eindruck – langsam fallen alle Barrieren. Wir sind heute Zeuge eines Wettlaufs um die Prämien und um den Judaslohn, die beim Fleddern öffentlichen Eigentums und öffentlicher Institutionen ausgezahlt werden. Wenn Siemens einen arabischen Prinzen besticht, um ein Kraftwerk zu verkaufen, dann regen sich hierzulande Politik und Medien auf. Wenn aber die Versicherungswirtschaft und der Rest der Finanzindustrie das Vertrauen in die gesetzliche Rente ruinieren und zu diesem Zweck Wissenschaftler, Medien und Politiker aushalten, wenn diese großen Interessen die Regierung sogar dazu bringen, auf Steuerzahlers Kosten Propaganda für Privatvorsorge zu machen und die Steuerzahler Milliarden für die Subvention privatwirtschaftlicher Produkte wie Riester-Rente, Rürup-Rente und Betriebsrenten zahlen zu lassen, dann wird diese politische Korruption als besonders erfolgreich beklatscht. Sie ist aber zerstörerisch, sie befördert sehr viele Menschen in die Altersarmut. Und die Subvention der privaten Interessen kostet uns sehr viel Geld. Davon später mehr. Man regt sich über den Baukonzern auf, der einige Beamten besticht, um an Aufträge zu kommen. Wenn aber ein Bundeskanzler, nämlich Helmut Kohl, wenn sein Post- und Telekommunikationsminister Christian SchwarzSchilling, sein Finanzminister Theo Waigel, der nächste Post- und Telekommunikationsminister Bötsch und noch andere hochmögende Politiker gemeinsam die Kommerzialisierung der elektronischen Medien betreiben und so ein bewährtes System ruinieren und wenn dann Focus und Spiegel melden, die Personen selbigen Kreises hätten Jahre später von einem der beiden Profiteure – das sind nachweisbar Bertelsmann und Kirch –, sie hätten von Leo Kirch mehrmals sechsstellige Summen für Beratung bekommen, dann folgt ein kurzer Medienreflex und es beklagt sich gerade noch Kurt Beck, niemand zahle „800.000 Mark oder 300.000 Mark“, „dazwischen lagen ja wohl die Verträge, für nichts.“ Da müsse es „Interessen gegeben haben, die verflochten worden sind“. – Ein großes Thema und Anlass für Recherchen unserer Journalisten und Politologen wird dieser zerstörerische Vorgang politischer Korruption nicht. Ich weise auf dieses Beispiel nicht nur deshalb hin, weil die Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes – deren Leiter ich damals war – 1978 den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt überzeugt hatte, kein öffentliches Geld für die Vermehrung der Programme und ihre Kommerzialisierung auszugeben. Helmut Schmidt hielt diese Linie bis zu seinem Abschied durch. Ich weise darauf hin, weil die zerstörerischen Folgen der Wende hin zur Kommerzialisierung auch damals schon, also im Vorfeld von1984, als

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die Kommerzialisierung begann, erkennbar und in vielen Details beschrieben worden waren. Was in den heute mit Recht Aufmerksamkeit findenden Studien des Ulmer Hirnforschers Manfred Spitzer oder des Hannoveraner Juristen und Sozialforschers Christian Pfeiffer über Verblödung, Gewaltbereitschaft und Verwahrlosung als Folgen der Kommerzialisierung steht, das konnte man großenteils auch damals wissen. Man hätte, wäre man nicht politisch korrupt gewesen, großen Schaden von unserm Volk fernhalten können. Die Beratungsverträge mit Leo Kirch, der vor der Kommerzialisierung Filmhändler war und sein Medienimperium im Wesentlichen der Entscheidung und der tätigen Mithilfe der Regierung Kohl verdankt, liefen von 1999 bis 2002 – vier Jahre lang pro Person sechsstellige Summen in der von Beck genannten Größenordnung. Das ist nicht ohne. Die Süddeutsche Zeitung hat den Fall in ihre Bildreihe „Politiker a. D. in ihren neuen Jobs“ aufgenommen. Bei Helmut Kohl kamen später noch eine Spende Kirchs von 1 Million und ein besonderes Sendeformat in Kirch’s SAT 1 hinzu: „Zur Sache Kanzler“ mit dem Kohl-Freund Mertes von SAT 1. Eine solche Sonderleistung eines Senders gab es weder zu Kanzler Brandts oder Schmidts noch zu Gerhard Schröders und Angela Merkels Zeiten. Übrigens hatte die Regierung Kohl nicht nur die rechtlichen Grundlagen zur Kommerzialisierung geschaffen, sie hatte auch viel öffentliches Geld, Milliarden, für die technische Basis, für Verkabelung und Fernseh-Satelliten, ausgegeben und zusätzlich auch noch für Propaganda. Nahezu jedes Postauto fuhr damals mit einem Kabelbaum und dem Versprechen herum, die Vermehrung und Kommerzialisierung der Programme bringe mehr Vielfalt. Hier wurden Milliarden öffentlichen Geldes zur Befriedigung privater Interessen eingesetzt. Helmut Kohl hat auch persönlich seinem Freund Kirch geholfen – so intervenierte er nach einem Bericht von Panorama in Brüssel, als der damalige Wettbewerbskommissar van Miert versuchte, eine Zusammenarbeit von Leo Kirchs Medien-Reich mit Telekom und Premiere zu blockieren. Der geschilderte Fall Kohl/Kirch ist typisch für eine gängige Praxis: Politische Leistung heute, Entgelt später. Im geschilderten Fall lag eine lange Frist zwischen politischer Entscheidung und Entlohnung. Bei Gerhard Schröder und einigen anderen mit ihm verbundenen Politikern ging das schneller: Wir kennen den Fall des Wohlwollens und der Bürgschaft der Bundesregierung für eine Ostsee-Pipeline und Gerhard Schröders Anheuern als Aufsichtsratsvorsitzender der ausführenden Gesellschaft, die zu über 50% im Eigentum von Gazprom ist. Und wir hören, dass es selbstverständlich keinen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen gibt. Übrigens: wofür Helmut Kohl 13 Jahre brauchte, bewältigte Gerhard Schröder in etwas mehr als drei Monaten.

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Wir werden auch ermahnt zu glauben, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen der gegen die Entscheidung des Bundeskartellamtes ausgesprochenen Ministererlaubnis für die Übernahme der Ruhrgas durch E.on in der Amtszeit des Wirtschaftsministers Werner Müller und seines Staatssekretärs Alfred Tacke und deren Wechsel auf den Posten des Vorstandschefs des Kohle- und Chemiekonzerns Ruhrkohle AG beziehungsweise der RAGTochter Steag. Dass beide Unternehmen vom Begünstigten der Ministererlaubnis, von E.on, kontrolliert werden, sei reiner Zufall. Es hat sich auch nur so zufällig ergeben, dass jener Politiker, der während seiner Amtszeit so vehement für einen Niedriglohnsektor stritt, Wolfgang Clement, jetzt für den großen, international tätigen Leiharbeitsunternehmer Adecco und zusätzlich für das Dienstleistungsunternehmen Dussmann tätig ist. Aber das sind vermutlich Peanuts im Vergleich zur Tätigkeit Clements und einer Reihe anderer ehemaliger Politiker und Manager für die Finanzindustrie. Vermutlich ist die Finanzindustrie, also Banken und insbesondere Investmentbanken, Versicherungen, Finanzdienstleister und Börsen, jener Wirtschaftszweig, der von der Politik in besonderer Weise gehätschelt wird. III. Machenschaften der Finanzindustrie Unter Ihnen, verehrtes Publikum, sind vermutlich nicht besonders viele Unternehmer. Dennoch möchte ich die Frage stellen, die ich Unternehmern immer stelle, wenn ich ihnen begegne: Erreichen Sie eine Kapitalrendite von 25%? Auf mein heutiges Publikum übertragen: Halten Sie es für realistisch, dass ein wertschöpfendes Unternehmen einigermaßen kontinuierlich eine Kapitalrendite von 25% erwirtschaften kann? Mir ist noch kein Unternehmer begegnet, der dies für sich bestätigte. Aber ich lese in Erklärungen des größten Managers der größten deutschen Bank, dies sei möglich, 25%, sogar 40%. Und ich höre und lese mit Staunen, dass in London und New York an Investmentbanker Hunderte von Millionen an Gehältern und Prämien ausbezahlt werden. Mit rechten Dingen kann das nach gesundem Kaufmanns- und Menschenverstand nicht zugehen. Mit Wertschöpfung kann man solche Renditen allenfalls in Ausnahmen eines vorübergehenden Monopols auf dem Markt erreichen. Wie schaffen das Teile unserer Finanzindustrie trotzdem? Wie kommt man schnell zu viel Geld? Das ist ganz einfach, ich sehe ein paar abgestufte Varianten, vier davon will ich Ihnen nennen: 1. Man „beteiligt“ sich an öffentlichem Vermögen. Das „beteiligt“ steht natürlich in „Gänsefüßchen“. Gemeint ist: man fleddert, man raubt, man erwirbt weit unter Preis bisher öffentliches Eigentum.

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2. Man verdient prächtig an der Transaktion öffentlichen Eigentums in private Hände. Beide Varianten sprechen aus der Sicht der Profiteure für Privatisierung – zum einen zum Erwerb großen Vermögens zu einem günstigen Preis, zum anderen zum Abgreifen hoher Provisionen und Honorare beim Privatisierungsvorgang. 3. Man verdient prächtig beim Verkauf und Kauf von privaten Unternehmen und Unternehmensteilen und ihrer Ausbeutung. 4. Man erfindet neue Produkte für den Kapitalmarkt, die die Ausbeutung anderer Marktteilnehmer erleichtern. Zu allen vier Varianten braucht die Finanzindustrie dienstbereite Politiker. Ich beginne mit kurzen Anmerkungen zu der letzten Variante: Ich nenne es Betrug, wenn faule oder auch nur problematische Hypothekenkredite in neuen Finanzprodukten so gebündelt werden, dass sie als Wertpapiere weiterverkauft werden können, und ich nenne es Hehlerei, wenn andere solche Papiere kaufen, von denen sie wissen müssen, dass sie nicht koscher sind. Die betroffenen Banken, unter anderem die deutsche Industriekreditbank IKB und die SachsenLB mussten das wissen, als sie solche Papiere aus den USA übernahmen. Im konkreten Fall hat dann mittelbar der Staat sogar noch dabei mitgeholfen, diese Banken aufzufangen. Er konnte aus gesamtwirtschaftlicher Räson nicht anders. Die Politik hat bisher aber auch nichts Einschneidendes getan, um das Unwesen mit so genannten innovativen Finanzprodukten einzuschränken. Im Gegenteil: der Bundesfinanzminister hat in der letzten Zeit zum Beispiel den Verkauf von Krediten auch in Deutschland erleichtert. Davon berichtet Professor Schmelz in einer Stellungnahme für den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages vom 19. September. Und dies geschieht, obwohl auch in Deutschland der Verkauf von Hypothekenkrediten Usus zu werden droht – mit Konsequenzen für die betroffenen, in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Familien bis hin zur Zwangsversteigerung. Die dritte Variante des schnellen Wegs zum großen Geld nennt man seit Gerhard Schröder die Auflösung der Deutschland AG. Ein herausragender politischer Schritt zum Betrieb dieser Auflösung und zugleich zur Förderung der Finanzindustrie war die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Entscheidung der Regierung Schröder, die Gewinne, die beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen entstehen, zum 1.1.2002 steuerfrei zu stellen. Davon haben neben den Heuschrecken, also jenen, die solche Unternehmen oder Teile davon aufkaufen, vor allem die großen Kapitalgesellschaften der Finanz- und Versicherungsbranche und einige andere Unternehmen mit vielen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften verdient. Diese Unternehmen, wie zum Beispiel die Allianz AG, konnten ihre Aktienpakete, die sie an deutschen Unternehmen besaßen, verkaufen, ohne die

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dabei realisierten und bisher versteckten Gewinne versteuern zu müssen. – Konkretes Beispiel: Die Allianz AG verkaufte – wie Capital am 17.11.2006 berichtete – im Jahr 2003 ihren 40-prozentigen Beiersdorf-Anteil für 4,4 Milliarden Euro an Tchibo und die Stadt Hamburg, ohne Steuern auf den realisierten Gewinn zu zahlen. Wie hoch dieser lag, wissen wir nicht. Vermutlich belief sich das Steuergeschenk auf über eine Milliarde Euro. Das wäre allein bei diesem einen Vorgang ungefähr so viel, wie die Verlängerung des ALG 1 kosten würde, die zurzeit in der öffentlichen Debatte ist. Gerhard Schröder hat nicht nur für dieses und ähnliche Steuergeschenke gesorgt, er hat auch mit öffentlichen Äußerungen die so genannte Auflösung der Deutschland AG als etwas Richtiges propagiert und damit der Finanzindustrie neue Felder lukrativer Betätigung geschaffen. Ich habe nie verstanden, welches öffentliche Interesse wir daran haben sollten, dass ein Aktienpaket von einem Investor in die Hände eines anderen gerät. Was haben wir volkswirtschaftlich davon? Was haben wir volkswirtschaftlich davon, dass Finanzminister Steinbrück börsengehandelte Real Estate Investment Trusts (REITs) fördern und den Anteil an Projekten von ÖffentlichPrivater Partnerschaft (ÖPP) von vier auf 15% erhöhen will? Die Begründung dieser Maßnahmen zur Ausweitung der Geschäftsfelder der Finanzindustrie wird mit dem Hinweis auf andere Länder und durch permanente Wiederholung geliefert. Das ist üblich und es ist alles. Der Hinweis auf andere Länder und ihre Gewohnheiten und die dauernde Wiederholung dieses Hinweises ersetzt die sachliche Begründung. Man nennt das Benchmarking. Das besondere Engagement der Regierung Schröder und seiner Nachfolger für die Auflösung der Deutschland AG wird etwas verständlicher, wenn man untersucht, welch’ buntes Häuflein von Politikern und Managern inzwischen für meist ausländische Investmentfirmen und Hedgefonds tätig ist: Ron Sommer für Blackstone, Otmar Issing, ehedem Chefvolkswirt der EZB, und Klaus Luft von Nixdorf für Goldman Sachs, Kanzleramtsminister a. D. Hans Martin Bury und Jürgen Schrempp für Lehman Brothers, Wolfgang Clement für die Citigroup, Friedrich Merz als Anwalt für den Hedgefonds TCI und viele mehr. Sie alle verdienen an der Zerstörung von Strukturen, mit denen wir so schlecht nicht gefahren sind. Sicher war die Verflechtung von Vorständen und Aufsichtsräten und damit der Ausfall von Kontrolle problematisch. Aber die neuen Netzwerke sind nicht minder problematisch. Ich komme zurück auf die beiden andern Varianten der schnellen Wege zum großen Geld: zum Fleddern öffentlichen Vermögens und zum großen Verdienst an der Transaktion von öffentlichen Einrichtungen zu privaten.

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In Zeiten der Regierung Kohl wurden Anfang der neunziger Jahre nach Vorarbeit durch die letzte DDR-Regierung und die Volkskammer die ostdeutschen Banken an westdeutsche Banken verkauft. Weit unter Wert und verbunden mit dem besonderen Trick, Zuschüsse des DDR-Staates an ostdeutsche Betriebe in Forderungen umzuwandeln, mit harten Konsequenzen für die Überlebensfähigkeit dieser Betriebe. Der Schaden ist also mindestens doppelt bei uns angekommen: Öffentliches Vermögen wurde weit unter Wert verscherbelt. So kaufte zum Beispiel die Genossenschaftsbank West die Genossenschaftsbank Ost für 120 Millionen Mark und erwarb Altschuldenforderungen von 15,5 Milliarden Mark. Mit dieser Verschleuderung stiegen die damals ohnehin rasant steigenden Staatsschulden mehr als nötig. Zum zweiten hat der Vorgang den Betrieben der ehemaligen DDR das Leben und Überleben noch schwerer gemacht. Eine öffentliche Debatte um diese öffentliche Verschleuderung gibt es kaum. Das ist typisch. Wenn Sie sich genauer dafür interessieren, lesen Sie den Bericht des Chefredakteurs des Berliner Tagesspiegels Maroldt vom 1.7.2005 nach. Nun können Sie mit Recht beklagen, dass ich Ihnen nicht sagen kann, wer die Profiteure dieses Vorgangs in der Politik sind. Das wissen wir bei vielen Fällen, die von der Treuhand abgewickelt worden sind, in der Tat nicht. Ich bin dennoch überzeugt davon, dass hier nicht nur Arglosigkeit und Dummheit im Spiel waren. IV. Korruptionsfalle Privatisierung Ähnliches würde ich von der beabsichtigten Teilprivatisierung der Bahn sagen. Wir wissen anders als bei der Kommerzialisierung des Fernsehens nicht genau, wer auf Seiten der Politik Profiteur der Privatisierung und des beabsichtigten Börsengangs sein wird oder dies schon ist. Wir wissen, welche ehemaligen Politiker für Herrn Mehdorns Bahn Lobby-Arbeit betreiben oder betrieben haben, eine große Reihe. Das ZDF hat vor kurzem davon berichtet. Aber wer das große Geld beim Börsengang und durch den Erwerb eines wertvollen Unternehmens unter Preis verdienen wird, wissen wir noch nicht. Wir haben Hinweise, das ist es. Weil der Fall so aktuell ist und weil es vermutlich eine der größten Verschleuderungen öffentlichen Vermögens werden wird, möchte ich kurz darauf eingehen. Am 13.9. dieses Jahres konnten wir im Deutschen Bundestag Zeuge eines beachtlichen, fast schon erheiternden Vorgangs werden: Da sprach der CDU-Abgeordnete Norbert Königshofen aus Essen zum eingebrachten Entwurf für die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn. Er beklagte, dass beim Verkauf der Hälfte der Bahn schätzungsweise nur 6 bis 8 Milliarden Euro erlöst werden, obwohl das Unternehmen zwischen 100 und 200 Milliarden

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wert sei und zusätzlich der Bund laut Gesetzentwurf zur Teilprivatisierung verpflichtet würde, in den nächsten 18 Jahren weitere 72 Milliarden zu investieren; der Abgeordnete hinterfragte kritisch die geläufige Begründung für den Börsengang – die Ausstattung der Bahn als Globalplayer, und dann sagte er: „Man fragt sich, warum wir das tun. Sie müssen sich nicht genieren, wenn Sie sich diese Frage stellen. Denn fast alle – auch die Journalisten beziehungsweise die Fachleute – fragen sich, warum wir das tun.“ Ich fand es toll, wie ein Abgeordneter der Regierungsfraktionen den Wahnsinn dieser Privatisierung so bloß und blank offen legte. Respekt! Ich vermisste nur einen Zusatz: Der Abgeordnete Königshofen hätte, verbunden mit einem Blick auf Plenum, Regierungsbank und Lobby auf den oberen Rängen des Reichstags, fragen müssen: „Wer, meine Damen und Herren, verdient an diesem Wahnsinn? Wer wird vom Verschleudern unter Wert profitieren, wer bekommt die Beute und wer ist schon in Diensten der neuen Eigentümer?“ Und der respektable Abgeordnete hätte nachfassen müssen: „Wer verdient am Prozess der Privatisierung? Wer bekommt die rund 300 Millionen e, die beim Börsengang an Provisionen und Honoraren verdient werden?“ Der Abgeordnete hätte in diesen Zusammenhang sogar schon triftige Vermutungen anstellen können. Wenn in diesem Fall nämlich, wie häufig üblich, das zuvor gutachtende Investmentunternehmen zum Zuge kommt, dann ist das Morgan Stanley. Und ein Blick auf die Website dieses Unternehmens hätte dann noch darüber aufgeklärt, dass dort für Investmentbanking wie insbesondere für die öffentliche Hand und die Transport- und Verkehrsindustrie der 38-jährige Dr. Dirk Notheis zuständig ist, früher einmal Vorsitzender der Jungen Union von Baden-Württemberg und bei der letzten Bundestagswahl 2005 von außen eingesprungener Wahlkampfhelfer Angela Merkels an der Seite von Generalsekretär Kauder. Das naheliegende Interesse des ehemaligen Politikers Notheis erklärt natürlich nicht, warum der SPD-Verkehrsminister und Teile der SPD-Fraktion so bar jeglichen vernünftigen Grundes den Börsengang verfolgen. Weil es im Koalitionsvertrag steht, wird häufig behauptet. Das ist jedoch eine sehr komische Einlassung, wenn man weiß, dass bis zur letzten Runde der Koalitionsgespräche im Jahr 2005 beim Thema Bahn im Entwurf stand, dass auch das Ob eines Börsengangs geprüft werden soll. Dann ist das Ob gestrichen worden. Auf Anlass von Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder, behaupten Kenner. Nicht ohne Zustimmung von Angela Merkel, das ist sicher. Im engen Sinne rational erklären kann ich allenfalls noch das Verhalten von Herrn Mehdorn. Dieser wollte sich schon bei seinem letzten Arbeitgeber, der Heidelberger Druckmaschinen AG, das Denkmal eines Globalplayers setzen. In Heidelberg und Wiesloch, dort drüben überm Rhein in

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der Nachbarschaft von Speyer, ist man heilfroh, die Gefahren dieses Mehdorn-Experimentes hinter sich zu haben. Wie die Dinge heute stehen, besteht immer noch die Gefahr, dass sich die entscheidenden Personen an der Spitze mit ihrer irrationalen oder finanziell begründeten Strategie durchsetzen und die Bahn verscherbelt wird. Langfristig dann mit allen verkehrspolitischen Konsequenzen. Was dann kommen wird, könnte man heute in Großbritannien mit seiner bedrückenden Erfahrung mit der Privatisierung der dortigen Eisenbahn studieren, so wie wir vor fast 30 Jahren studiert und begründet haben, warum wir die Kommerzialisierung des Fernsehens und die quasi unendliche Vermehrung der Programme nicht wollen sollten. Ein großes neues Geschäftsfeld zum Verdienst an der Transaktion bieten auch die vielen Privatisierungen anderer öffentlicher Einrichtungen, vor allem auch von Landeseinrichtungen und kommunalen Betrieben: Kliniken, Stadtwerken, Schulen, Wasserwerken und so weiter. Nachdem schon im Mutterland der Privatisierungen, in Großbritannien, nach der Erfahrung mit Thatcher viel Kritik an der vollen Privatisierung laut wurde, haben sich einige der Befürworter auf die Privatisierung in der Form so genannter ÖPPbeziehungsweise PPP-Projekte spezialisiert. Diese Form der Privatisierung in öffentlich-privater Partnerschaft wurde in Deutschland kurz vor den Wahlen 2005 noch schnell durch ein ÖPP-Beschleunigungsgesetz erleichtert. Dieses Gesetz wurde auf merkwürdige Weise erarbeitet. Schon im Prozess des Entwerfens dieses Gesetzes wurden durch eine SPD-Arbeitsgruppe die Interessenten, nämlich die Vertreter großer amerikanischer Anwaltskanzleien, beteiligt. Sie haben dabei Regelungen vorgeschlagen, die sie als Berater von PPP-Projekten schon für die Akquisition gebrauchen können. Das Gesetz wurde in einer Art Schweinsgalopp durch den Bundestag und Bundesrat geleitet. Heute werden nun von aktiven Politikern und mithilfe von ausgeschiedenen Politikern reihenweise öffentliche Einrichtungen und Unternehmen ganz oder teilweise aus der Hand gegeben, die in mühsamer Arbeit von den politischen Großeltern der heute Tätigen und von den Steuerzahlern aufgebaut worden sind. Hier ist ein wirkliches Zerstörungswerk zugange. Und die Projekte rechnen sich ökonomisch in der Regel nicht. Dieser Umstand wird genauso regelmäßig dadurch verschleiert, dass die Verträge mit den privaten Partnern zur Geheimsache erklärt werden. Am Zerstörungswerk beteiligen sich Politiker verschiedener Couleur. Beispielhaft ist die RSBK, die Rudolf Scharping Beratung Kommunikation GmbH. Bei ihr sind PPP-Projekte ein Hauptgeschäftsfeld. Scharping ist ein kluger Mann und hat sich deshalb mit einem parteiübergreifenden Kreis

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von Beratern und Mitwirkenden umgeben: mit Rainer Brüderle von der FDP, mit dem CSU-OB a. D. Deimer aus Landshut und den Sozialdemokraten Rolf Böhme, OB a. D. aus Freiburg, und Lehmann-Grube, OB a. D. aus Leipzig. Das ist vermutlich eine höchst effiziente Truppe, wenn es darum geht, Oberbürgermeister, Fraktionen und Parteien vom Sinn der Privatisierung zu überzeugen. Es bleibt als Entlastung für Rudolf Scharping und seine Partner noch anzumerken, dass sie nun beileibe nicht die einzigen sind, die PPP als Geschäftsfeld entdeckt haben. Es gibt eine größere Zahl von mit Politikern bestückten Gruppen und Firmen, die den Verantwortlichen in Bund, Ländern und vor allem Kommunen nahebringen, ihr Haushalt würde entlastet, wenn sie öffentliches Eigentum teilweise privatisieren. Dass dies in der Regel nur kurzfristig gilt, stört die Fledderei nicht. Zum Abschluss dieser Bemerkungen über Privatisierung noch eine Anmerkung, um Missverständnisse zu vermeiden: Man kann sachlich abwägen, ob die Privatisierung einer öffentlichen Einrichtung sinnvoll ist oder nicht. Das kann so oder so sein. Viele dieser Vorgänge kann man aber eben nicht verstehen, wenn man diese sachliche Frage stellt. Man kann die Vorgänge nur noch dann verstehen, wenn man fragt, wer am Vorgang selbst verdient. Vermutlich werden die meisten Privatisierungen nur betrieben, weil einzelne Personen, Unternehmen und Gruppen an der Transaktion, also am Privatisierungsvorgang, verdienen wollen oder billig zu bisher öffentlichem Eigentum kommen. In diesen Kreisen tummeln sich erstaunlich viele ehemalige Politiker, Manager und Publizisten. V. Interessengeleitete Politik: Die Umstrukturierung der Altersvorsorge Ich komme zurück auf den aus meiner Sicht gravierendsten Vorgang politischer Korruption der letzten Jahre: die Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente zu Gunsten des Ausbaus der Privatvorsorge. Es ist ein Musterbeispiel dafür, wie mit viel Geld und einer unglaublich gut angelegten Strategie eine bewährte Einrichtung, das Umlageverfahren und die gesetzliche Rente, desavouiert werden kann; es ist auch ein Beispiel dafür, dass und wie ein komplettes Brainwashing bei Volk und Eliten stattfinden kann. Wenn ich mich recht erinnere, dann waren die Fachleute des zuständigen Ministeriums vor der Einführung der Riester-Rente gegen dieses neue Projekt. Aber Sachverstand hatte in den Jahren 1999 bis 2002 keine Chance gegen die Milliarden an Umsatz- und Gewinnzuwachs auf Seiten der privaten Interessen. Es ging und es geht um sehr viel Geld: Auf der Basis der

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Zahlen des Jahres 2002, als die Riester-Rente eingeführt wurde, konnten sich die Versicherungswirtschaft und die damit zusammenhängenden Banken und Finanzdienstleister ausrechnen: Wenn es ihnen gelingt, nur 10% der bis dahin geleisteten Beiträge zur gesetzlichen Rente auf die Mühlen der Versicherungswirtschaft umzulenken, dann erreichen sie einen Umsatzzuwachs von ungefähr 25%. Das sind 16 Milliarden e zusätzliche Prämieneinnahmen pro Jahr. Darin stecken hohe Provisionen und Gewinne. Der operative Gewinn der Allianz AG beispielsweise ist seit Beginn der Privatvorsorge beachtlich gestiegen und wird in diesem Jahr auf etwas über 11 Milliarden ansteigen. Jedenfalls kann sich die interessierte Finanzindustrie offensichtlich ein Feuerwerk an Lobbyarbeit und Propaganda leisten. Wir sind seit Jahren Zeugen dieses Vorganges. Schon im Bundestagswahlkampf 1998 waren unsere Zeitungen voll von ganzseitigen grün-schwarzen Anzeigen der Versicherungswirtschaft. Seitdem geht es ununterbrochen weiter. Hunderte Millionen flossen und fließen in Anzeigen, in Hörfunk und Fernsehspots. Das macht die Medien geschmeidig und erklärt ihre nahezu vollständige Gleichschaltung bei der Unterstützung der Privatvorsorge. Dies wiederum erleichtert es den Politikern und den Wissenschaftlern, ihrerseits in diesen Chor einzustimmen. Die Politik ist nicht nur Ziel und passives Objekt der Lobbyarbeit. Sie ist aktiv beteiligt, einerseits hilft sie bei der Propaganda mit, andererseits trafen und treffen Politiker eine Reihe von politischen Entscheidungen, die das Vertrauen in die gesetzliche Rente haben dahinschmelzen lassen und die damit die Propaganda stützen. Ich nenne einige Beispiele: die Anlastung versicherungsfremder Leistungen, den Trick, den Beitragssatzes unter 20% festzuhalten, die Entgeltumwandlung zulasten der Sozialkassen, der Nachhaltigkeits- und Demographiefaktor, der Beschluss zur Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Heute, wenn fünfzigjährige in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, so etwas zu beschließen, macht nur Sinn, wenn man in Rechnung stellt, dass damit den 40jährigen und Jüngeren signalisiert werden soll, dass sie auf zweimal 3,6%, also 7,2% Rente verzichten müssen, wenn sie abgearbeitet mit 65 in Rente gehen wollen. Diesen Beschluss jetzt zu fassen, ist genauso ein Beitrag zur Förderung des Konkurrenzproduktes Privatvorsorge wie dessen Subvention in der Riester-, Rürup- und Betriebsrente mit Milliarden der Steuerzahler. Kennen Sie die Zahlen? Wissen Sie, wie hoch die Subvention ist und was man von Seiten der Bundesregierung für die nächsten Jahre an finanziellen Lasten durch Förderung der Riester-Rente und Steuerausfälle der Riester-Rente, der Rürup-Rente und der Betriebsrenten erwartet? Sie werden es nicht herausbekommen.

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Angeblich kann man insbesondere die Steuerausfälle schlecht schätzen. Ich kann mich da nur wundern. Ich war einmal Mitarbeiter einer Steuerreformkommission und habe bewundernd miterlebt, wie der Beamte des Bundesfinanzministeriums, er hieß Wagner, meist innerhalb weniger Stunden, allenfalls Tagen, Schätzungen für Steuerausfälle vorzulegen vermochte. Heute wird der Mantel des Schweigens über diese de facto-Subvention gebreitet. Aber vielleicht fragen Sie Herrn Professor Kirchhof, der morgen früh als erster zu Ihnen sprechen wird. Vielleicht weiß er mehr. Gelesen habe ich allerdings überraschenderweise auch bei ihm nichts über diese ungeheuerliche Subvention zu Gunsten eines Projektes, auf dessen Fahne steht: „Mehr Eigenverantwortung“. Die Politik fertigt und festigt nicht nur die Basis der Propaganda durch Minderung der Leistungsfähigkeit und damit Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Sie unterstützt sogar die Propaganda für Privatvorsorge massiv. Schauen Sie auf die Webseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Dort finden Sie ein Feuerwerk an Propaganda für Privatvorsorge. Sogar die Deutsche Rentenversicherung und die Volkshochschulen werden eingespannt. Unser aller Sozial- und Arbeitsminister hat sogar schon die Idee ventiliert, die unter der Flagge Eigenverantwortung segelnde Riester-Rente zur Pflicht zu machen. Auch die Postbank mahnt diese praktische staatliche Hilfe für den Vertrieb ihrer Finanzprodukte schon an. Das wäre sozusagen das Non plus Ultra für die Finanzindustrie: Ihre Vertriebsarbeit würde nicht nur hoch subventioniert, sie müssten sich dann nicht mehr selbst um Kunden kümmern. Famos. Die Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente wäre nicht so gut gelaufen, wenn nicht eine Reihe von Wissenschaftlern dafür Hilfestellung geleistet hätten: die Professoren Rürup, Raffelhüschen, Sinn, Miegel und Börsch-Supan arbeiten als Vortragsreisende, Gutachter und Berater für die Finanzindustrie. Raffelhüschen und Rürup hatten sogar das Kunststück fertig gebracht, in der nach Rürup benannten Kommission das ins Gesetzgebungsverfahren einzubringen, was sie später in Vortragsreisen erläutern. Übrigens: Raffelhüschen hatte am 31. Januar 2006 schon 40 Vorträge für MLP, den Heidelberger Finanzdienstleister mit Schwerpunkt Akademiker, gehalten. In der SuperIllu Nr. 33/2007 erschien ein für unser Thema aufschlussreiches Dokument. Es ist eine Doppelseite mit einer als Bericht aufgemachten Werbung für die Privatvorsorge. In der Mitte sehen wir auf einem Foto, wie sich Walter Riester und Bert Rürup kräftig lachend die Hand reichen. Carsten Maschmeyer, Freund von Bundeskanzler außer Dienst Gerhard Schröder und Chef des Finanzdienstleisters AWD, legt gönnerhaft lächelnd seine Hand drauf. Links unten erfahren wir, dass dies eine gemeinsame Aktion

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von SuperIllu, FocusMoney und AWD ist. Und an den Seiten werben die Herren Riester und Rürup jeweils für die nach ihnen benannte Rente. Und mit was werben sie in der Schlagzeile? Nicht mit den angeblichen Vorteilen dieser Produkte. Sie weisen auf die staatliche Förderung hin. Abzocke nennt man das in anderem Zusammenhang. – Der Chef von AWD, Carsten Maschmeyer, hat übrigens gut lachen. Nach seiner Meinung steht die Finanzdienstleistungsbranche nach der Verlagerung von der staatlichen zur privaten Altersvorsorge „vor dem größten Boom, den sie je erlebt hat“. „Sie ist ein Wachstumsmarkt über Jahrzehnte.“ „Es ist . . . so, als wenn wir auf einer Ölquelle sitzen. . . . Sie ist angebohrt, sie ist riesig groß und sie wird sprudeln.“ (NETZEITUNG vom 8.6.2005) Die Folgen dieser Umtriebe sind erkennbar für jene, die das erkennen wollen: 1. Hier wird das Vertrauen in eine gesellschaftliche Errungenschaft, in das Umlageverfahren und die gesetzliche Rente, nachhaltig erschüttert und gleichzeitig seine Leistungsfähigkeit auf ein Niveau abgesenkt, das vielen Menschen im Alter nicht genügend bringt. 2. Viele Menschen werden keine Privatvorsorge abschließen, viele auch nicht abschließen können. 3. Die Privatvorsorge wird im Schnitt ausgesprochen dürftige Renditen für die Versicherten erwirtschaften und im Übrigen auch unsicher sein. Die mangelnde Rendite ist auch ein Ergebnis der hohen Kosten, die ja immer vom angesparten Betrag abgehen. Für den Privatvorsorger „arbeitet“ deshalb immer nur der um die Kosten reduzierte angesparte Betrag. Interessant in diesem Kontext war eine Sendung bei plus minus „Private Altersvorsorge – Magere Renditen, enttäuschte Anleger“. Es ist verdienstvoll und wichtig, dass die ARD ihre Zuschauer auf diese Tatsachen hinweist, um sie so vor falschen Entscheidungen zu bewahren. 4. Die Privatvorsorge wird, falls es ein wirkliches demographisches Problem geben sollte, mit diesem um keinen Deut besser fertig als das Umlageverfahren. Dass in der Öffentlichkeit ein anderer Eindruck erweckt wird, ist das Ergebnis nachlässigen Denkens und unglaublicher Verdrehungen von Seiten der in die Interessen eingebundenen Wissenschaft. Einige dieser Wissenschaftler wie zum Beispiel die Professoren BörschSupan und Rürup mühen sich redlich ab, das so genannte MackenrothTheorem zu widerlegen. Dieses besagt, einfach ausgedrückt: Ganz egal, welches Finanzierungssystem – ob das Umlageverfahren oder das Kapitaldeckungsverfahren – man anwendet, immer muss die Generation im arbeitsfähigen Alter die nicht arbeitende Jugend und die Rentner aushalten und versorgen.

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5. Volkswirtschaftlich betrachtet tauschen wir ein mit einigen bürokratischen Schwächen gesegnetes, aber insgesamt effizient arbeitendes System gegen ein teures ein. Die gesetzliche Rente arbeitet mit Kosten von ungefähr 1,5% der Beiträge. Bei der Riester-Rente werden dafür mindestens 10% der Prämien verbraucht, bei anderen Privatvorsorgesystemen bis zu 40%. Die höheren Kosten erkennen Sie schon daran, dass im Zuge der Privatisierung der Altersvorsorge eine ganze Heerschar von Finanzdienstleistern und Agenturen, von Banken und Versicherungsunternehmen auf uns losgelassen wird. Das ist volkswirtschaftlich betrachtet eine unnötige Vergeudung von Ressourcen, eine Verschwendung realer Ressourcen. Unsere Politiker sind zu der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente nicht getrieben worden, auch nicht zu milliardenschweren Subventionen der Privatvorsorge, auch nicht zum Glauben an das angeblich demographische Problem. Sie haben diesen Unsinn freiwillig mitgemacht. Sie haben sich von einer Welle erfassen lassen. Oder sie haben schlicht gemerkt, dass man damit Einfluss gewinnen und Geld verdienen kann: Walter Riester hat in dem abgerechneten und vom Bundestag veröffentlichen Zeitraum mindestens 181.000 e durch Vorträge bei der Versicherungswirtschaft, Sparkassen, Banken und anderen gutgemacht. Er ist 22 mal für mindestens 7.000 e aufgetreten. Würden Sie Walter Riester für einen Vortrag 7000 oder sogar 10.000 e zahlen? Nur für den Vortrag und für nichts sonst? Anders als bei der Zerstörung unseres dualen Systems aus öffentlichrechtlichem Rundfunk und privat organisierter Presse kennen wir hier beim Kampf gegen die gesetzliche Rente – noch nicht, so denke ich – die wirklich großen Zahlungen. Wir wissen, dass die Versicherungswirtschaft ordentliche Spenden an die beteiligten Parteien abführt. Wir wissen, dass der erwähnte Finanzdienstleister Maschmeyer in Niedersachsen kräftig mitgeholfen hat, dass der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen das Rennen um die SPD-Kanzlerkandidatur gewinnt, wir wissen, dass einer, der schon seit Jahrzehnten für die Ausweitung der Privatvorsorge wirbt, Otto Graf Lambsdorff, lange in Aufsichtsräten der Versicherungswirtschaft saß. Wir wissen, dass große Public-Relations-Agenturen im Dienste der Versicherungswirtschaft stehen und auf mannigfaltige Weise Politiker beeinflussen und auch dotieren können. Aber die Information über die ganz großen Zahlungen fehlt noch. Jetzt habe ich viel über politische Korruption gesprochen und noch gar nicht über einen Bereich und ein Unternehmen, das eigentlich zu den Hauptakteuren politischen Einflusses gehört. Ein paar kurze Bemerkungen: Wir sprechen über diesen Akteur in der Regel nicht im Zusammenhang mit politischer Korruption, weil er als Wohltäter und Berater des Wegs kommt.

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Die Kenner wissen, wovon ich spreche: von der Bertelsmann Stiftung und den mit ihr verbundenen Unternehmen. Bertelsmann hat Interessen – ideologische und materielle – und setzt seine geballte finanzielle, personelle und mediale Macht ein, um diese Interessen durchzusetzen. Häufig als Berater, häufig als Wohltäter, dennoch zielgerichtet. Das auffälligste Beispiel einer direkten Verknüpfung mit den Interessen des Unternehmens ist das Eintreten von Bertelsmann für die Privatisierung bisher öffentlicher Bereiche bis hin zur Verwaltung. Hier steht als Ersatz direkt die BertelsmannTochter Arvato bereit. In England ist die Übernahme öffentlicher Verwaltung durch die Bertelsmann-Tochter schon in Betrieb, in Deutschland wird Würzburg zu einer Art Leuchtturmprojekt ausgebaut. Eine etwas weniger augenfällige Interessenverknüpfung finden wir bei der Tätigkeit des Bertelsmann-Ablegers CHE, des Centrums für Hochschulentwicklung. Das CHE hat maßlos großen Einfluss auf die Hochschulentwicklung und auf die Hochschulgesetzgebung. Einige Politiker betrachten dies wohl als Wohltat. Der große Einfluss auf unzähligen Feldern der Politik einschließlich der Agenda 2010 zum Beispiel widerspricht aber allen demokratischen Spielregeln. Der Einfluss dieses Unternehmens ist ja auch nicht wegen der hohen Qualität seiner Beratung so groß, sondern wegen seiner medialen Macht. Bertelsmann kann seine Freundinnen und Freunde nicht nur mit freundlicher und großzügiger Beratung, sondern mit medialer Unterstützung entlohnen. VI. Schlussbemerkung Die Entwicklung wäre nicht so gekommen, hätte die Lobby und die mit ihr zusammenarbeitende Politik nicht entdeckt, wie wichtig die Meinungsmache zur Durchsetzung ihrer Interessen in der Politik ist. Die Korruption wird sozusagen geschützt durch eine Meinungsmache, mit der der Eindruck erweckt wird, die im Sinne großer Interessen getroffenen Entscheidungen wie etwa jene zur Riester-Rente und zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen sei im Sinne des Ganzen, sie sei sachlich berechtigt, ja sogar zwingend. Die großen Interessen haben erkannt, dass man zur Durchsetzung eine möglichst wirksame und zugleich leise Agitation betreiben muss. Das erklärt den Boom der Public-Relations-Agenturen, das erklärt die Verflechtung von Politik und ehemaliger Politik mit solchen Public-Relations-Agenturen, das erklärt auch den großen Einfluss solcher Unternehmen wie der Bertelsmannstiftung. Sie alle haben erkannt, dass man politische Entscheidungen beeinflussen kann, wenn man die veröffentlichte Meinung bestimmt. Auch im Falle der

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Privatisierung der Bahn rechnen die Entscheidenden damit, dass man mit der notwendigen Propaganda auch die Mehrheitsmeinung noch umdrehen kann, wie es übrigens bei der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente komplett gelungen ist. Wenn Sie dieser Analyse folgen, dann werden sie auch verstehen, warum ich darauf setze, dass die Gegenbewegung im Versuch bestehen kann, eine Gegenöffentlichkeit gegen die herrschende Meinung aufzubauen. Und das bedeutet bei unserem Thema zunächst einmal, dass man Öffentlichkeit herstellt über die Wucht der politischen Korruption, die heute die Entwicklung wichtiger gesellschaftlicher Sektoren prägt. Zerstörerisch prägt. Wer politische und wirtschaftliche Korruption offen legt, baut auf. Dazu wollte ich Sie ermuntern.

Wer enthauptet die Hydra? Von Paul Kirchhof I. Einleitung Die Hydra ist von Argolis nach Deutschland vorgedrungen, droht als alles verschlingendes Ungeheuer Gesellschaft, Staat, Wirtschaft zu zerstören. Doch während ihrer Wanderschaft vom Alten Griechenland in unsere Gegenwart hat sie sich bemäntelt, stellt sich als Wohltäter dar, verspricht mehr Gesetze, mehr staatliche Organisationshilfen, mehr Geldzuwendungen. Das Gesetz ermöglicht Freiheit: Wir schließen einen Vertrag, weil das Bürgerliche Gesetzbuch uns befähigt, allein durch Einvernehmen mit dem Vertragspartner eine Rechtsverbindlichkeit hervorzubringen. Wir bewegen uns auf unseren Straßen leicht und sicher, weil das Straßenverkehrsgesetz verlässliche Regeln für diese Bewegungen vorsieht. Wenn diese Gesetze aber immer mehr werden, die Selbstverständlichkeiten des ordentlichen Kaufmanns, des Handelsbrauchs, der öffentlichen Ordnung und der Observanz nicht mehr gelten, erreicht uns eine Normenflut und drückt uns nieder. Seit 1949 setzt der Gesetzgeber neue Gesetze in Kraft und die Industrie baut neue Autos. Die Kraftfahrzeuge aber werden nach zehn Jahren entsorgt; die Gesetze von 1949 stehen noch heute sperrig auf den Autobahnen des Rechts. Staatliche Organe und Behörden sind Bedingung von Frieden und Kultur; deswegen sind wir für die Polizei, die Schulen und Universitäten dankbar. Doch wenn uns immer mehr Regulierungs- und Antidiskriminierungsbehörden umzingeln und entmutigen, droht auch hier aus dem Segen ein Fluch zu werden. Die Hydra verspricht auch höhere Staatsleistungen, veranlasst damit aber höhere Steuern oder gar Schulden, weil der Staat als Wohltäter nur geben kann, was er vorher als steuerlicher Übeltäter genommen hat. Hier wird besonders deutlich ersichtlich, dass die Hydra einen Vorteil verspricht, aber damit einen Schaden für die Rechtsgemeinschaft ankündigt. Sie bietet Förderung, Hilfe, Strukturpflege, errichtet aber mit den Angeboten von Subventionen und Steuerverschonungen einen modernen Gesslerhut, vor dem sich der Bürger so tief verbeugt, dass er seine eigenen ökonomischen Inte-

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ressen nicht mehr zu erkennen vermag. Er investiert um der Steuerersparnis willen in Filme, Windräder, Schiffe, in Schrottimmobilien, stellt danach ernüchtert fest, dass die Steuerersparnis die von ihr veranlasste ökonomische Torheit keinesfalls rechtfertigt. Michelangelo wurde einmal gefragt, wie es ihm gelungen sei, diesen wunderbaren David in Florenz aus einem Marmorblock entstehen zu lassen. Michelangelo hat geantwortet: „Ich habe nur mit feinem künstlerischem Meißel das Zuviel an Marmor weggenommen.“ Eine ähnliche Empfehlung richten wir an den deutschen Gesetzgeber: Nehme er mit feinem demokratischem Meißel das Zuviel an Gesetzen weg, um dadurch die rechtsstaatliche Skulptur von mehr Recht entstehen zu lassen. Wenn wir deshalb fragen, wer diese Hydra enthauptet, werden wir nicht auf einen Herkules stoßen, der mit einem Handstreich alle unsere Probleme löst. Vielmehr fordert der Kampf gegen die Hydra den beschwerlichen und langen Weg, auf dem der einzelne Mensch sich seiner eigenen Kraft besinnt (zu II.), der Gesetzgeber wieder Vertrauen in die Freiheitsfähigkeit der Bürger zurückgewinnt (zu III.), der Wähler – das Staatsvolk- unsere Demokratie wieder wehrhaft macht (zu IV.) und die Verbände in ihrer Gemeinwohlverantwortung wieder ein einfaches, gleiches Steuer- und Finanzrecht zulassen (zu V.). II. Erwartungen an die Freiheitskraft des einzelnen Bürgers Der Kampf gegen die Hydra beginnt mit der Vergewisserung über die Erwartungen, die wir an den Staat richten. Erhoffen wir uns vom Staat gutes Recht oder gutes Geld? Die klassische Aufgabe des Verfassungsstaates ist es, eine Rechtsordnung bereitzustellen, die Frieden sichert, individuelle Freiheit entfaltet, die Entwicklung des Staatsvolkes vorsorgend begleitet. Wer hingegen immer mehr gutes Geld vom Staat verlangt, kämpft letztlich für höhere Steuern, schwächt damit individuelle Freiheit und allgemeine Prosperität. Wenn die Staatsverschuldung auf 1,5 Billionen Euro angeschwollen ist, sind die staatlichen Finanzierungsaufgaben zu verringern, Finanzierungslasten – Leistungsversprechen – des Staates zurückzunehmen. Wenn das klassische Ideal der modernen Demokratie – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sich in die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Sicherheit wandelt, kann diesem Anspruch nur ein Staate genügen, bei dem sich das Soziale vor allem in der freien Gesellschaft ereignet: Es ist sozial, wenn die Eltern ihre Kinder gut erziehen, der Arbeitnehmer durch Arbeit seinen Lohn selbst verdient und damit seine Familie ernährt, der Sportverein die Kinder kör-

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perlich ertüchtigt und zur Fairness erzieht, der Mäzen eine gemeinnützige Stiftung gründet. Auch das privatnützige Eigentum ist gefährdet, wenn die Eigentümerfreiheit nicht mehr als Verantwortungseigentum wahrgenommen wird, bei dem der Eigentümer mit seinem Namen und seinem Vermögen für die Qualität seiner Leistung einsteht, der Eigentümer sein eigenes vielmehr in einen Fonds einbringt, in dem der Fondsmanager das Geld in Sekundenschnelle um den Erdball schickt, damit es sich dort platziere, wo die größte Rendite zu erwarten ist. Ob mit dieser Kapitalmacht Weizen oder Waffen produziert wird, bleibt unerheblich; entscheidend ist die Rendite. Dadurch wird Eigentümermacht von Eigentümerverantwortung getrennt, das Verfassungssystem eines privatnützigen Eigentums dadurch ausgehöhlt. Auch die sich immer mehr verbreitende menschenlose Fabrik stellt uns vor neue Aufgaben: Wenn immer mehr Güter ohne Menschenhand von Robotern und Computern produziert werden, stehen wir vor einem Umbruch, wie ihn Gerhard Hauptmann in „Die Weber“ beschrieben hat. Die Arbeitnehmer werden entlassen und müssen sich neue Aufgaben suchen. Die Geldgeber beanspruchen den gesamten Gewinn dieser Fabriken, stehen dann aber vor der Frage, ob diese Güterverteilung nicht eine in Arm und Reich elementar gespaltene Gesellschaft verursacht. Schließlich stellt sich für jeden denkenden Menschen immer mehr die Sinnfrage, die Aufgabe, sein eigenes Leben und seine Zielsetzungen zu beurteilen und zu bewerten. Wir sammeln eine Fülle von nutzbarem Erfahrungswissen, sehnen uns aber nach einem Mehr an Orientierungs- und Wertungswissen. Wir werden unser Gemeinwesen – die Kulturgemeinschaft, die Wirtschaft und den Staat – nur grundlegend erneuern, wenn sich jeder freie Bürger auf seine eigene Freiheitskraft besinnt, er in Selbstverantwortung sein Leben gestaltet und damit den wesentlichen Beitrag zum Gelingen der Rechtsgemeinschaft beiträgt. III. Das Freiheitsvertrauen des Gesetzgebers Um diese individuelle Kraft zur Selbstbestimmung zu stärken, muss der Gesetzgeber auf die Freiheit seiner Bürger vertrauen. Er setzt ökonomisch auf die Vertragsfreiheit, gibt die Zukunft des Staates in die Freiheit von Ehe und Familie, erwartet eine allgemeine Bereitschaft zur Bildung und Fortbildung, geht von der Bereitschaft vieler Menschen aus, wissenschaftlich sich für die Erkenntnis anzustrengen, künstlerisch immer wieder das Schöne in Form und Sprache ausdrücken zu können, religiös die Frage nach dem Woher und Wohin zu beantworten.

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Doch in der gegenwärtigen Gesetzgebung schwindet das Freiheitsvertrauen. Der Gesetzgeber hat – unter dem Einfluss einer europäischen Richtlinie – ein Gleichbehandlungsgesetz beschlossen, das nicht mehr darauf baut, dass der ordentliche Kaufmann selbstverständlich nicht diskriminiert, vielmehr in einem Antidiskriminierungskatalog insbesondere den unterschiedlichen Vertragschluss nach Alter, Herkunft und Geschlecht untersagt. Das Verfassungsrecht und der Anstand der Rechtsbeteiligten garantieren nicht mehr Fairness und Gleichbehandlung; vielmehr überwacht eine eigene Antidiskriminierungsbehörde und ein Verband das Wirtschaftsgeschehen und prüft Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgesetz. Wenn heute ein Fußballnationaltrainer öffentlich ausschriebe, er suche gegen Entgelt für seine Nationalmannschaft Spieler, die jung zu sein hätten, deutsch und männlich, wären diese drei Diskriminierungskriterien verletzt. Und die traditionelle Besonderheit dieses Berufs, die Männer- und Frauenmannschaften zu unterscheiden, dürfte die Ausschreibung kaum rechtfertigen, weil mit dieser Tradition gerade gebrochen werden soll und etwa im Tennis ein gemischtes Doppel durchaus möglich ist. Dennoch wird das Recht uns das Vergnügen am Fußball in bisheriger Form nicht nehmen, wohl aber beantworten müssen, ob ein Gesetzestext mehr verlangen darf, als die Vielfalt praktischen Lebens und verlässlicher Verhaltensweisen tatsächlich eröffnet. Ich habe jüngst von einer Wohnungsbaugenossenschaft gehört, in der sich die Mitglieder zur gemeinsamen Nutzung kostengünstiger Wohnungen zusammenschließen, sich dabei aber zur eigenhändigen Pflege der Gemeinschaftseinrichtungen einschließlich eines Gartens und zur Hinterlegung von 10.000 e verpflichten. Diese Hinterlegungspflicht ist nun von der zuständigen Gemeinde beanstandet worden, weil sie bestimmte Personen von diesen Wohngemeinschaften fernhielt. Diese Wirkung tritt nun tatsächlich ein, ist auch gewollt. Damit stellt sich die Frage, ob die Vertragsfreiheit solche freiwillig vereinbarten und finanzierten Wohngemeinschaften erlaubt oder das Gleichbehandlungsgesetz dieses Stück Wohnkultur zerstört. Es geht um das Grundprinzip der Vertragsfreiheit, die Wurzel unserer allgemeinen Prosperität. Diese Freiheit ist in ähnlicher Weise gefährdet, wenn der Steuergesetzgeber den Bezieher von Einkommen nicht mehr zutraut, dass er selber wisse wie er sein selbstverdientes Einkommen zu verwenden habe. Wenn die „Schrottimmobilie“ – ein Begriff des BGH – den Steuerpflichtigen veranlasst, um der Steuerersparniswillen in unvermietbare, deswegen unverkäufliche Grundstücke zu investieren, so leitet der gesetzliche Anreiz Kapital fehl, führt zur Kapitalvernichtung. Und wenn die gegenwärtige Familienpolitik das Erziehungsgeld nicht in guten Scheinen, sondern nur in Gutscheinen auszuzahlen gedenkt, misstraut

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der Gesetzgeber in seinen für die Normalität bestimmten Normen der Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder. Wenn in dieser familienrechtlichen Beziehung der Gedanke der verantwortlichen Freiheit nicht mehr greift, ist letztlich das gesamte Freiheitsprinzip widerlegt. Mein Großvater, ein Schreinermeister und Holzschnitzer, hat uns gelehrt, wir dürften beim vorweihnachtlichen Schmücken die Äste nur insoweit mit Kugeln und Kerzen belasten, dass der Zweig nicht niedergedrückt wird, er vielmehr auch nach dem Schmuck weiterhin in der Lage sei, zum Licht aufzustreben. Wir haben diese Einweisung getreulich befolgt. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass diese Regel eine schöne Definition der Freiheit enthält: Wie immer das Gesetz den Menschen veredeln will, es darf ihn nie so beschweren, dass er niedergedrückt wird und nicht mehr zum Licht aufstreben kann. Wenn es uns gelänge, diese Botschaft dem deutschen Gesetzgeber zu vermitteln, hätten wir die Hydra an der Wurzel getroffen. IV. Die Kraft zur wehrhaften Demokratie „Keine Verfassung garantiert sich selbst“ sagt Joseph Eichendorff, der zur Demokratie entschlossenen Gesellschaft auf dem Hambacher Fest 1832. Eine freiheitliche Demokratie wird nur gelingen, wenn die beteiligten Bürger die Kraft und die Fähigkeit zur Freiheit mitbringen, dadurch die wirtschaftliche Prosperität fördern, eine Hauskultur und Familien zur Entfaltung bringen, den wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt pflegen. In einer Demokratie verhält sich das Staatsvolk zum Staat wie die Hand zum Handschuh. Dieser liegt leblos danieder bis die Hand hineinfährt und durch ihre Bewegung Beweglichkeit vermittelt. Die Kunst der Staatsverfassung ist es nun, den Handschuh so dicht zu stricken, dass er gegen Nässe, Kälte, Verletzungen schützt, aber nicht zu eng zu fassen, dass er die Hand unbeweglich machen würde. Max Frisch sagt in seinem „Stiller“, die Demokratie brauche das Wagnis, müsse an jedem Kompromiss leiden. Wer nicht das Große wage, leide an geistiger Impotenz. Auch das heutige Staatsvolk ist bereit und in der Lage für das Wagnis der Freiheit, die Bereitschaft zur Toleranz, die Sicherheit im rechtlich Eigenen. Insoweit ist Toleranz der geistige Kraftakt, zwischen der unaufgebbaren, in einer wehrhaften Demokratie zu verteidigenden Rechtskultur und der Offenheit für das Andere, das Fremde, das noch Unerprobte zu unterscheiden. Unser Grundgesetz garantiert jedermann die gleiche Würde, weil er Mensch ist; andere Ordnungen erlauben, den politischen Gegner als Schädling zu definieren, den es zu vernichten gilt. Zwischen diesen beiden Auffassungen gibt es keinen Kompromiss, nur die klare Entscheidung, für welches Rechtsprinzip die Demokratie streitet. Unsere Ver-

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fassung kennt die Gleichberechtigung, andere Staaten verpflichten die Frau, dem Mann ein Leben lang zu dienen. Unsere Demokratie regelt die Macht auf Zeit, andere Rechtsordnungen erwarten, dass die Untertanen ihrem Führer ein Leben lang huldigen. Unsere Verfassung garantiert Religionsfreiheit, anderes Recht stellt den Religionswechsel unter Todesstrafe. Das Grundgesetz garantiert das privatnützige Eigentum; andere Verfassungen behalten unter dem Stichwort des Volkseigentums dem Einzelnen das Eigene zu privatem Nutzen vor. Bei diesen und anderen Grundsatzgewährleistungen des Verfassungsstaates erwartet die Demokratie die Urteilskraft und Handlungssicherheit ihrer Bürger, für die eigene Rechtskultur entschieden einzutreten, in der Sicherheit des eigenen Rechts dann aber offen zu sein für die andere Lebenskultur des Nachbarn, das ungewohnte Denken, die unvertrauten Handlungsmaßstäbe. In diesem freiheitlichen Selbst- und Rechtsbewusstsein wird der demokratische Bürger dann durch Wahlen auf die Entwicklung des Gemeinwesens Einfluss nehmen. Seine Wahlfreiheit im politischen Wettbewerb der Kandidaten und Parteien zielt auf ein Ergebnis, in dem der Wähler „unmittelbar“ durch sein Kreuzchen in der Wahlkabine – unvermittelt durch weitere Entscheidungen – über das Ergebnis der Wahl entscheidet. Wie der wirtschaftliche oder sportliche Wettbewerb Sieger und Besiegte kennt, so entscheidet auch die Wahl über denjenigen, der die Wahl gewonnen und diejenigen, die sie verloren haben. Die politische Realität ist allerdings eine andere: Am Wahlabend erklärt der Sprecher der Partei mit den meisten Stimmen sich zum Sieger, kündet dann Koalitionsverhandlungen – nach allen Seiten offen – und erklärt nach 14 Tagen dem Wahlvolk, zu welcher Parlamentsmehrheit und Regierung seine Vertragsverhandlungen geführt haben. Würde ein solches Verfahren im sportlichen Wettbewerb angewandt, hätte dafür niemand Verständnis. Stellen wir uns eine Ruderregatta – Zweier noch ohne Steuermann – vor, zu der sechs konkurrierende Boote am Start antreten. In jedem Boot sitzt vorne ein Dicker, hinten ein Dünner. Das Boot Nr. 1 ist schwarz-gelb angestrichen, das Boot Nr. 2 rot-grün, weitere vier Boote beteiligen sich am Rennen. Am Ende gewinnt das Boot Nr. 1 mit knapper Not vor dem Boot Nr. 2. Doch die Rennleitung erklärt die beiden Dicken im Boot 1 und im Boote 2 zum Sieger. Das Sportpublikum weißt diese Entscheidung erstaunt, ja empört zurück, das Wahlpublikum hat sich an dieses Verfahren gewöhnt. Deswegen müssen wir dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl wieder zur Wirkung verhelfen, dem Wahlvorgang die klare politische Alternative sichern. Wenn die politischen Parteien vor der Wahl verbindlich erklären

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würden, mit wem sie nach der Wahl zu koalieren gedenken, hätte der Wähler eine klare programmatische und personelle Alternative. Die Partei A erklärt, sie hoffe allein die Mehrheit zu erzielen, werde aber, wenn dieses Ziel nicht erreichbar, das Koalitionsangebot der Partei B annehmen. C und D erklären, sie wollen gemeinsam die Mehrheit erringen. E sagt öffentlich, er werde keinen Partner finden, deswegen auf eine kraftvolle Opposition hinwirken. Wenn nun am Wahlsonntag A und B mit 44% gewonnen haben, C und D mit 43% folgen, sind A und B die Sieger der Wahl. Sie erhalten 50% der Sitze im deutschen Bundestag plus fünf, können also für eine Legislaturperiode kraftvoll regieren. Danach beginnt der neue Wettbewerb. So ist die Unmittelbarkeit der Wahl gewährleistet. Die Gleichheit der Wahl dürfte kaum mehr beeinträchtigt sein als gegenwärtig durch die 5%-Klausel. Auch hier gilt es, nunmehr für das Prinzip der Demokratie, der Hydra die Idee der Freiheit entgegenzustellen. Freiheit in einer Demokratie meint das Selbstbewusstsein im verlässlichen Recht unserer Hochkultur, aber auch die Entscheidungskompetenz gegenüber klaren demokratischen Alternativen. Wenn diese Voraussetzungen gewährleistet sind, wird die Hydra mit ihren verfassungspolitischen Verführungen, ihren parteilichen Arrangements und ihrer Geringschätzung des Wählers aus Deutschland vertrieben werden. V. Die Allgemeinheit des Steuer- und Subventionsrechts Wenn freie Bürger sich organisieren, gewinnen sie an Macht und Einfluss. Die Demokratie braucht die Untergliederung der Menschen in Parteien und Verbände, Familien und Kirchen, Wissenschafts- und Künstlervereinigungen. Doch wenn eine Partei oder ein Verband den Gesetzgeber veranlasst, seiner Klientel Privilegien und Vorzugsleistungen zuzusprechen, ist das Grundprinzip der Demokratie – das allgemeine und gleiche Gesetz – im Kern gefährdet. Das Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht kennt gegenwärtig 519 Privilegien- und Ausnahmetatbestände, das Subventionsrecht erreicht ein Gesamtvolumen, das größer ist als das Gesamtaufkommen aus der Lohnsteuer. Der Kampf um den Einfluss auf den Staat ist vor allem ein Kampf um den Zugriff auf die Staatskasse. Nestroy hat die berühmte Frage gestellt: „Die Phönizier haben das Geld erfunden, aber warum so wenig?“ Die Rarität des Gutes – des Rechts und des Geldes – ist die Bedingung seines Wertes. Und jeder Mensch empfindet, er habe zu wenig Geld. Geld in eigener Hand nennen wir Kapital, Geld in fremder Hand Kapitalismus. Hier setzt die Hydra mit ihrem Versprechen des anstrengungslosen Erwerbs, der Zuwendung aus der Staatskasse an.

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Die jüngst verabschiedete Unternehmensteuerreform bestätigt diese Entwicklung. Die Kapitalgesellschaft kann ihren Gewinn nach Besteuerung mit 15% thesaurieren, die Personengesellschaft hat dafür 42% zu bezahlen, der Vermieter 45% und der Bezieher von Einkünften aus privatem Kapitalvermögen 25%. So werden demnächst eine GmbH und eine KG am selben Markt mit dem selben Produkt konkurrieren, die GmbH aber ein mit 15% vorbelastetes Betriebsvermögen einsetzen können, während die KG ein mit 42% belastetes Betriebsvermögen einsetzen kann. Der Steuersatz für Kapitalgesellschaften von 15% wird damit gerechtfertigt, man müsse das Kapital an der Flucht ins Ausland hindern. Dieser Gedanke ist verfehlt. Im Gegenteil: Der Gesetzgeber muss die Arbeit, die guten Köpfe, an der Flucht ins Ausland hindern. Wir müssen dem jungen Carl Benz, Gottlieb Daimler, Werner von Siemens, Robert Bosch und Carl Johann Freudenberg wieder Entfaltungsmöglichkeiten in Deutschland bieten. Haben sie ihre Erfindung gemacht, wird das Kapital herbeiströmen, weil es hier Gewinn zu verdienen gibt. Der Steuergesetzgeber muss wieder Distanz zu den ihn bedrängenden Verbänden gewinnen und damit die Gleichheit vor dem Steuergesetz gewährleisten. Vor zwei Jahren schien es rechtspolitisch kaum möglich, die Bemessungsgrundlage des Einkommens so zu gestalten, dass die Steuerlast für alle Bezieher von Einkommen fast unausweichlich, ohne Ausnahme und deswegen gleichheitsgerecht gestaltet, dafür aber die Freibeträge auf 10.000 Euro erhöht und der Spitzensteuersatz auf 25% festgesetzt wird. Was damals eine ferne Gerechtigkeitshoffnung erschien, hat der Gesetzgeber nunmehr eingeführt: Ab 1.1.2009 wird in Deutschland eine Einheitssteuer (flat tax) von 25% bei grob vereinfachter Bemessungsgrundlage – einer Kostenpauschale von 801 Euro pro Person – gelten. Dies ist ein Durchbruch zu einem gleichen, einfachen, allgemeinverständlichen und deshalb gerechten Steuerrecht. Allerdings hat diese Abgeltungssteuer von 25% einen wesentlichen Fehler. Sie gilt nur für Einkünfte aus Kapitalvermögen. Wenn wir dann aber fragen, ob Einkünfte aus Kapitalvermögen mit 25%, Einkünfte aus Arbeit hingegen mit 45% in der Spitze belastet werden sollen, zeigt sich die Gleichheitswidrigkeit dieser Regelung. Deswegen wird politische Vernunft aber auch das Verfassungsrecht erzwingen, dass diese flat tax von 25% bald für alle Einkunftsarten gilt. Dann bleibt für Privilegien und Bevorzugungen einzelner Einkünfte oder Einkunftsarten kaum noch Raum, will der Staat nicht auf wesentliche Steuererträge verzichten. Wir haben deshalb keinen Grund zu rechtspolitischem Kleinmut. Wenn uns vor 17 Jahren die historische Einmaligkeit einer Wiedervereinigung zweier sich eher feindlich gesinnter Staaten gelungen ist, wenn nunmehr wider Erwarten ein erster beachtlicher Schritt zu einer Einfachsteuer mit

Wer enthauptet die Hydra?

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einem Regelsteuersatz von 25% vollzogen wird, bestätigt sich die Erneuerungskraft unseres Verfassungsstaates. Wir haben die Hydra der Übernormierung, des Vertrauensverlustes, der Entscheidungsschwäche, des verfälschten Wahlwettbewerbs, der Steuerprivilegien und Vorzugsleistungen bereits umzingelt, erste Schwerthiebe zu ihrer Vertreibung erfolgreich gesetzt. Der Kampf ist eröffnet und das Ziel eines unbefangenen, maßvollen und wertungssicheren Verfassungsstaates greifbar vor Augen.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Paul Kirchhof Von Alfred G. Debus Der Diskussionsleiter Dr. Helmut Stegmann, Ministerialdirigent im Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt, dankte dem Referenten für seinen Vortrag mit den sehr plastischen Beispielen und eröffnete die etwa halbstündige Aussprache. Jürgen Creutzmann, Mitglied des Rheinland-Pfälzischen Landtages, bat Kirchhof um eine Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Klage, die sich gegen die unterschiedliche Besteuerung von Kapitaleinkünften nach der sog. Flat-Tax einerseits und von Arbeitseinkommen mit Progressionsstufen andererseits richte. Kirchhof lehnte zwar eine Prognose ab, aber er betonte das extreme Steuerlastgefälle: Auf Basis des Prinzips der synthetischen Einkommensbesteuerung, wonach jeder eingenommene Euro auf die gleiche Leistungsfähigkeit schließen lasse, fand er keinen Rechtfertigungsgrund für die unterschiedliche Besteuerung mit 25 Prozent bei Kapitaleinkünften und mit bis zu 45 Prozent bei Arbeitseinkommen. Der vom Gesetzgeber vorgebrachte Grund, Verhinderung der Kapitalflucht, überzeuge nicht; vielmehr müssten „fliehende Köpfe“ verhindert werden. Im Hinblick auf die außerdem bereits erfolgte Umsatzsteuererhöhung mahnte er, den „innere Frieden zwischen Kapital und Arbeit“ als Standtortfaktor Deutschlands nicht zu gefährden. Dazu forderte eine allgemeine Besteuerung des realen Einkommens mit 25 Prozent. Helmut P. Krause, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Gründer des Querdenker-Forums, fragte, wie sich die von Kirchhof vorgeschlagene „Enthauptung der Hydra“ organisatorisch bewältigen lasse. Zur Erneuerung des Staates sind nach Kirchhof die gegenwärtigen Strukturen zu nutzen. Die zwei zentralen Erneuerungsinstrumente der Verfassung seien die individuelle Freiheit und der Parlamentarismus. Der Optimismus einer Demokratie sei die Vorstellung, dass wir ein neues Parlament wählen, damit es das besser machen möge, als das vorherige Parlament. Für diese Erneuerung seien die Bürger aufzuklären, wie er das während seines Ausflugs in die Politik getan habe.

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Alfred G. Debus

Antje Bultmann, Wissenschaftsjournalistin aus Wolfratshausen, stellte die Frage, ob in den Gremien vorher darüber diskutiert werde, was Gerechtigkeit sei. „Ich meine ja“ antwortete Kirchhof. Unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur damals unterschiedlichen Höhe des Existenzminimums im Sozial- und Steuerrecht betonte er, dass man die Gerechtigkeit nicht in einzelne Lebensbereiche parzellieren dürfe. Es gebe keine besondere soziale Gerechtigkeit, liberale Gerechtigkeit des Unternehmers oder demokratische Gerechtigkeit in Form des Mehrheitsprinzips, sondern nur eine Gerechtigkeit, deren wichtigsten Wertungen im Grundgesetz positiviert seien. Auf diese Elementarwerte sei die gesamte Rechtsordnung immer wieder zurückzuführen. Davon ausgehend könne Toleranz definiert werden, als ein intellektueller Kraftakt zur Unterscheidung zwischen dem Unaufgebbaren einer wehrhaften Demokratie und dem Nachgeben gegenüber einem Andersdenkenden. Insofern sei eine Gerechtigkeitsdiskussion auch verstärkt in der Öffentlichkeit und in den Schulen zu führen. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, dankte Kirchhof für den überzeugenden Vortrag und griff dessen Gedanken zum Wahlsystem auf. Probleme sah von Arnim in der mangelhaften Unmittelbarkeit des aktuellen Wahlsystems, insbesondere weil die Parteien die Kandidaten in sicheren Wahlkreisen oder auf sicheren Listenplätzen aufstellen würden. Für eine direkte Wahl gebe es in der Bevölkerung eine riesige Mehrheit, jedoch könne sich diese Mehrheit gegen die Eigeninteressen derer, die im Parlament sitzen und das Wahlgesetz ändern müssten, kaum durchsetzen. Mittels Volksbegehren auf der Landesebene könnten die „Regeln des Machterwerbs“ mit Signalwirkung für andere Bundesländer und die Bundesebene geändert werden. Er fragte, ob dies eine faktische Durchsetzungsmöglichkeit für ein neues Wahlsystem gegen die Eigeninteressen der aktuellen Machtinhaber sei. Kirchhof betonte die zentrale Bedeutung der Wahl, weil es – im Gegensatz zum Straßenverkehr – keinen Qualifikationsnachweis für die Lenkung des „Staatsschiffes“ gebe. Daher sei der einzige Legitimationsakt die Wahl. Auf Bundesebene könnte das Wahlsystem durch Bundesgesetz geändert werden. Probleme bei Plebisziten sah Kirchhof in der Reduzierung der Abstimmungsfrage auf ein „Ja oder Nein“ und der mangelnden Grundrechtsbindung des Staatsvolkes, welcher nur die Staatsorgane unterlägen. So würde beispielsweise eine Volksbefragung entgegen Art. 102 GG mit überwältigender Mehrheit die Hinrichtung eines Kindermörders befürworten. Daher neigte er zu plebiszitären Gesetzesinitiativen hinsichtlich des Wahlsystems aber gegen plebiszitäre Gesetzesentscheide, weil ein Bedürfnis nach konkreter Diskussion der Einzelregelung des Wahlsystems bestehe.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Paul Kirchhof

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Dagegen drückte Friedmut Dreher, Mehr Demokratie e. V., Unverständnis hinsichtlich der Argumentation von Kirchhof aus: Auf der einen Seite würde er dem Bürger eine Freiheit und Mündigkeit zu billigen und auf der anderen Seite dürfe der Bürger beispielsweise nicht bei der Steuergesetzgebung entscheiden. Er fragte, warum das mit den Begriffen „Wahlen und Abstimmungen“ in Art. 20 GG festgelegte Abstimmungsrecht des Bürgers nicht umgesetzt werde. Weiter fragte er, weshalb Kirchhof meine, dass der Bürger unmündig sei. Daraufhin betonte Kirchhof, dass er nicht meine, der Bürger sei unmündig. Der Bürger müsse informiert werden, und dann sollten wir seine Entscheidungen erwarten. Aber Art. 20 GG sei hinsichtlich „Wahlen und Abstimmungen“ nur ein Programmsatz, in welchen Fällen Wahlen oder Abstimmungen stattfinden, sei in der Verfassung im Einzelnen geregelt. In Art. 38 GG sei die Wahl geregelt, und Abstimmungen auf Bundesebene seien nur in Bezug auf die Neugliederung des Bundes (Art. 29 GG) vorgesehen, was man natürlich ändern könne. Neben den Problemen der mangelnden Grundrechtsbindung des Staatsvolkes und der Unmöglichkeit der Vereinfachung der Abstimmungsfrage warf Kirchhof die Frage auf, ob bei Abstimmungen das Staatsvolk oder die Medien, welche die Fragestellung vermitteln, ermächtigt würden. Hinsichtlich der bereits entschiedenen Unternehmenssteuerreform verneinte er beispielsweise eine ausreichende Information der Bürger. Diese Information sei von sehr mächtigen Strömungen in Deutschland auch nicht gewollt. Daher stelle sich die Frage, ob diese Informationsstränge, wenn das Staatsvolk entscheiden dürfe, verbessert oder verschlechtert würden. Er forderte eine nüchterne Sachinformation über die 519 Steuerprivilegien. Diese Fehlentwicklung des Steuersystems sei 1946 bis 1951 von den Alliierten durch die Regelsteuersätze von 95 Prozent aufgezwungen worden, um durch die Durchlöcherung der Bemessungsgrundlage die wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Seit 1951 hätten wir die Freiheit, uns vom Fehlkonzept der überhöhten Steuersätze und löchrigen Bemessungsgrundlage zu lösen. Nach einer Information über diese Ausgangssituation wäre die Bevölkerung für die Abschaffung dieses Systems und für ein einfaches Steuersystem ausgehend vom realen Verdienst. Dadurch würde die Besteuerung transparent und leistungsgerecht erfolgen, wodurch der Bezug zur Leistung verbessert würde. Allerdings befürchtet er, dass eine ausreichende Information des Staatsvolks in unserer Demokratie nicht möglich sei. Dies sei eines der zentralen Probleme bei der Diskussion über mehr Plebiszite in unserer Republik. Siegfried Lessing-Wetzel, Powertank GmbH, griff das Problem der Lenkung der Köpfe und des Kapitals wieder auf. Er habe schon Steuerbescheide hinsichtlich noch nicht erwirtschafteter Erträge bekommen; er

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Alfred G. Debus

wolle dieses Geld lieber investieren. Außerdem suche er Köpfe, aber in den letzten 10 Jahren seien 1,7 Millionen ausgewandert. Er benötige Kapital zur Finanzierung der Köpfe, aber Köpfe bekämen in Deutschland kein Kapital, um Patente auch ausnutzen zu können. Er fragte, wie diese Probleme zu bewältigen seien. Geistiges Eigentum als Voraussetzung für die Kapitalbeschaffung sei nach Kirchhof deutlicher zu sichern. Abzulehnen seien aber Lenkungsmaßnahmen zugunsten der Köpfe und zulasten des Kapitals. Lenkungsmaßnahmen seien insbesondere bei einer progressiven Besteuerung abzulehnen. Warum solle Einer, der 100.000 Euro in Umweltschutz investiere, diese von seiner Bemessungsgrundlage abziehen dürfen und somit 45 Prozent Steuersubventionen bekommen, wohingegen der Arme keine Steuersubventionen erhalte. Dies sei im Grunde ein Skandal. Und dann gebe der Bund diese Subventionen zulasten der Gemeinde weiter. Erforderlich sei eine Verantwortlichkeit des Budgetgebers für die Steuern und die Möglichkeit die Höhe der Subventionen abschätzen zu können. Bei Steuersubventionen sei aber eine Schätzung aufgrund der Progression nicht möglich, wohingegen bei Leistungssubventionen die Höhe im Haushalt veranschlagt werde. Kernproblem sei das Steuerrecht als der „moderne Gesslerhut“, vor dem sich der Unternehmer verbiege und so tief verneige, um Steuern zu sparen, dass er seine eigenen ökonomischen Interessen nicht mehr wahre. Außerdem wies er auf den ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika Reagan hin, der durch eine Steuerreform den Staatshaushalt saniert und das Wirtschaftswachstum angekurbelt habe. Noch besser sei dies durch einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Neuseeland gelungen. Nach Veröffentlichung dieser Fakten sei der Weg zum richtigen Steuerrecht unausweichlich. Wenn ab 1.1.2009 ein Geschäftsführer einer GmbH oder AG beschließe, Aktien anderer Firmen zu kaufen, müsse bei Verkauf der Aktien die Firma auch die Abgeltungssteuer bezahlen, fragte Max Peuker aus Burgwedel. Dabei ist nach Kirchhof zwischen Privat- und Betriebsvermögen zu differenzieren. Im Betriebsvermögen sei die betriebliche Einkunft nach den allgemeinen Regeln zu versteuern. Bei Privatvermögen gelte die neue Abgeltungssteuer. Betrachte man den Fall, einer GmbH mit zwei Brüdern mit Einkünften von einer Millionen Euro, bei welcher der Eine als Geschäftsführer arbeite und der Andere das Kapital gebe, so müsse der Eine 45 Prozent der Andere 25 Prozent Steuern zahlen. Dadurch werde ganz deutlich, dass das rechtspolitische Gefälle nicht stimme. Anderes Beispiel sei die Konkurrenz zwischen GmbH und KG mit entsprechend unterschiedlicher steuerlicher Vorbelastung. Diese „Wettbewerbsverzerrung durch Steuerrecht“ sei nicht hinnehmbar. Dadurch werde eine Bewegung der Steuer-

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rechtspolitik eingeleitet. Diese Abgeltungssteuer sei auch noch in Verbindung mit Teileinkünfteverfahren zu betrachten, wodurch die Unterschiede verstärkt werden. Die ganze Regelung sei zwar – schlicht gesagt – absurd, aber diese Absurdität sei nach Kirchhof als Chance zur Veränderung zu nutzen.

Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier? Von Joachim Linck Die diesjährige Speyerer Demokratietagung fragt nach Defiziten in Staat und Verwaltung. Ich habe die Aufgabe erhalten, diese Frage für die Landesparlamente unter dem speziellen Aspekt zu untersuchen, ob man in den Landesparlamenten wieder zum ehrenamtlichen Abgeordneten zurückkehren sollte. Diese Frage impliziert bereits die – im Übrigen durchaus zutreffende – Feststellung, dass in den Landesparlamenten eine Entwicklung stattgefunden hat, die weg vom ehemals ehrenamtlichen hin zum Berufsabgeordneten geführt hat. Das ist in der Tat ein Defizit. I. Entstehung des Berufsabgeordneten Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist das erste grundlegende Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975. Ausgehend vom Fall eines saarländischen Abgeordneten wurde ohne jede Not das verfassungsrechtliche Leitbild des Berufsabgeordneten, und zwar für alle (!) deutschen Parlamente, entwickelt und den Politikern gleichsam auf dem goldenen Tablett zur gefälligen rechtspolitischen Bedienung serviert: Der Abgeordnete sei zu einem Beruf geworden, der den ganzen Einsatz der Arbeitskraft fordere, was mit einem vollen staatlichen Einkommen honoriert werden müsste. Alle Landesparlamente – mit gewissen Ausnahmen in den Stadtstaaten, insbesondere in Hamburg – griffen diese Steilvorlage bereitwillig auf, denn sie war den Abgeordneten überwiegend aus persönlichen Interessen hochwillkommen. Das Abgeordnetenrecht konstituierte sehr bald den Berufsabgeordneten mit aktuellen Grunddiäten von durchschnittlich 4.417,66 EUR in den neuen und 5.635,89 EUR in den alten Flächenländern (ohne NRW auf Grund seiner andersartigen Diätenstruktur) sowie vielfältigen weiteren Leistungen (Aufwandsentschädigungen, Altersversorgung, Übergangsgeld etc.). Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 2007 zu den Nebeneinkünften von MdB wird diese Linie fortgesetzt. Die für die Entscheidung ausschlaggebenden vier Richter gehen – heute mehr denn je – vom staatlich besoldeten Berufsabgeordneten aus, der nunmehr sogar zum

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„verfassungsrechtlichen (!) Leitbild“ erhoben wird, das vom einfachen Gesetzgeber „nachzuzeichnen“ sei. Auch die Abgeordneten selbst sehen sich laut der „Zweiten Deutschen Abgeordnetenbefragung“ Jenaer Sozialwissenschaftler, die im Juli 2007 abgeschlossen worden ist, zu ca. 75% als Berufspolitiker und dies mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von ca. 57 Stunden in Sitzungswochen und 47 Stunden in der sitzungsfreien Zeit. Max Weber hat Berufspolitiker in seinem berühmten Vortrag aus dem Jahr 1919 über „Politik und Beruf“ als Politiker definiert, die „für und von der Politik leben“. Beide Voraussetzungen liegen bei der ganz überwiegenden Zahl der Landtagsabgeordneten vor. II. Negative Auswirkungen eines unsäglichen Leitbilds Warum ist diese Entwicklung der Abgeordneten zu Berufspolitikern aus meiner Sicht für unsere repräsentative parlamentarische Demokratie so abträglich? Der wesentlichste Grund liegt darin, dass die repräsentative parlamentarische Demokratie maßgeblich vom Vertrauen des Volkes in seine Abgeordneten lebt. Und dieses Vertrauen besteht nicht gegenüber Berufsabgeordneten. Lassen Sie mich diese Ausgangsthese näher begründen: Der Bürger muss darauf vertrauen können, dass seine Abgeordneten das ihnen durch das Volk anvertraute Amt für und im Interesse des Volkes treuhänderisch, ausschließlich gemeinwohlorientiert, also uneigennützig und eben nicht eigennützig wahrnehmen und schon gar nicht als materielle Pfründe zur Selbstbedienung oder zur immateriellen Selbstbefriedigung nutzen. Vertrauen ist eine in diesem Sinne dem Recht vorgelagerte Bedingung, ohne deren Existenz das gesamte normative demokratische Repräsentationssystem die ihm zugedachte Funktion nicht erfüllen kann. Nur wenn dieses Vertrauen vorhanden ist, wird die von den Parlamenten durch deren Abgeordnete ausgeübte Staatsgewalt von den Bürgern freiwillig akzeptiert. Und diese freiwillige Akzeptanz von Staatsgewalt ist das wesentliche Ziel von Demokratie. Doch wie steht es heute in der politischen Wirklichkeit um das allseits als zwingend anerkannte Vertrauen der Bürger in seine demokratischen Repräsentanten? Soweit es die repräsentativen Institutionen betrifft, sehen die Umfragewerte noch relativ gut aus. Wird aber nach dem Vertrauen der Bürger in ihre Akteure, hier speziell der Abgeordneten, gefragt, liefern die Umfragen ein geradezu verheerendes Bild – und dies mit zunehmender, geradezu dramatischer Tendenz.

Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier?

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Hier einige Kostproben: So ermittelte das Allensbach-Institut, dass das Ansehen von Bundestagsabgeordneten, das Mitte der 70er Jahre noch von über 50–60% der Befragten positiv bewertet wurde, im Jahr 2001 auf 28% gefallen war. (Neuere Zahlen konnte mir das Meinungsforschungsinstitut auf Anfrage leider nicht zur Verfügung stellen. Es verwies mich aber auf seine „Berufsprestige-Skala 2005“, wonach Politiker mit Fernsehmoderatoren und Gewerkschaftsführern ganz am Ende der Skala stehen). Infratest dimap stellte im Januar 2005 die Frage nach dem Vertrauen der Bürger in Bundestagsabgeordnete mit folgendem Ergebnis: sehr großes Vertrauen

0%

großes Vertrauen

17%

wenig Vertrauen

66%

gar kein Vertrauen

14%.

Gar kein oder nur wenig Vertrauen hatten danach also 80% der befragten Bürger. Die jüngste mir vorliegende Umfrage von dimap/Pro Dialog vom Dezember 2006 ermittelte, wie Bürger die Motivation von Politikern einschätzen. Der „Erhalt der Macht und der Privilegien“ rangierte mit 44% bzw. 24% an erster und zweiter Stelle. „Verantwortungsgefühl“ und „Moralisches Gewissen“ rangierten mit 5% bzw. 3% weit abgeschlagen auf den letzten Plätzen. Auch wer die Ergebnisse derartiger Umfragen mit einiger Skepsis bewerten mag, der kommt dennoch wohl kaum an der Erkenntnis vorbei, dass die Zahlen für unsere parlamentarische Demokratie eine bedrohliche Tendenz aufzeigen. Diese bedrückende Diagnose wird auch von maßgeblichen Politik- und Rechtswissenschaftlern weitgehend geteilt.

III. Gründe des geringen Vertrauens der Bürger in ihre Abgeordneten Ich möchte mich im Folgenden auf ein Grundübel konzentrieren, welches das Vertrauen des Volkes in seine Abgeordneten maßgeblich negativ beeinflusst oder sogar zerstört: die Entwicklung der Abgeordneten zu reinen Berufspolitikern. Meine These lautet: Die Einführung des Berufsabgeordneten mindert das Vertrauen der Bürger in ihre Abgeordneten, weil Berufsabgeordnete ihr Handeln zu stark eigennützig und nicht ausschließlich gemeinwohlorientiert ausrichten. Diese These möchte ich wie folgt belegen: Abgeordnete „kleben“ aus eigennützigen Gründen an ihrem Mandat. Sie betreiben ihre regelmäßige

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Joachim Linck

Wiederwahl, um nicht durch den Verlust des Mandats in ein wirtschaftliches, finanzielles und ein gesellschaftliches Loch zu fallen; außerdem würde auch ihr Selbstwertgefühl schweren Schaden nehmen. Dementsprechend ist ihr politisches Handeln stärker eigennützig als gemeinwohlorientiert ausgerichtet. Dafür sprechen folgende Gründe: 1. Die weitaus überwiegende Zahl der Abgeordneten verfügt über ein höheres Einkommen als in ihrem früheren Beruf. In Thüringen ist das bei 70% der Abgeordneten der Fall. 2. Die meisten Abgeordneten streben eine erneute Kandidatur an und sind dabei in hohem Maße erfolgreich. In Thüringen sind das über 90%, von denen auch 82% wiedergewählt wurden. 3. Die finanziellen und gesellschaftlichen Folgen eines Mandatsverlustes sind erheblich. Zu der Situation von nicht wiedergewählten Bundestagsabgeordneten liegt eine gerade erschienene Untersuchung von Maria Kreiner vor, der allerdings eine relativ schmale Datenbasis zugrunde liegt. Sie kommt dabei u. a. zu dem Ergebnis, dass mit dem Mandatsverlust „viele in ein großes Loch fallen“, es schwer haben, beruflich wieder Fuß zu fassen, auf Bewerbungen nur Absagen erhalten und in Extremfällen für 11,50 EUR putzen gehen müssen. Abgeordnete „kleben“ aber nicht nur aus existenzieller Notwendigkeit am Mandat. Weitere Gründe sind die Gewöhnung an die relativ hohe infrastrukturelle Ausstattung des Mandats sowie der im Laufe der Mandatsausübung gewachsene Glaube an die eigene persönliche Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit im politischen Betrieb. Politik ist für viele (nach Jürgen Leinemann) sogar eine Droge geworden, von der sie nicht mehr loskommen. Es ist also durchaus nachvollziehbar, warum ein auf Zeit gewählter demokratischer Amtsträger aus ganz eigennützigen oder sogar aus existentiellen Gründen um sein Mandat kämpft. Und dieser Kampf hat weitere nachteilige Wirkungen. Insoweit gebiert ein Übel das andere. Ich will einige nennen: 1. Den Verlust an Unabhängigkeit gegenüber der eigenen Partei und Fraktion. 2. Den Verlust an Bodenhaftung mit der Folge einer begrenzten Wahrnehmung von konkreten praktischen Alltagsproblemen. 3. Ein Multifunktionärstum, oft verbunden mit einer Ämterpatronage, um möglichst als „Platzhirsch“ große Seilschaften zur Verbesserung der Wiederwahlchancen aufzubauen mit der Folge eines Verlustes an Effektivität bei der Wahrnehmung der vielfältigen Funktionen aufgrund von Überlastung. Von dem Übel einer parteipolitischen Ämterpatronage ganz zu schweigen.

Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier?

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4. Die Höhe der Diäten ist ein besonderer Anreiz für das Mittelmaß in der Politik. 5. Potentielle Konkurrenten werden „gedeckelt“ oder „rausgebissen“ (das gilt auch für hoffnungsvolle Nachwuchskräfte) mit der Folge von „Versteinerungen“ und mangelhafter Offenheit und Innovation in der Politik. 6. Parlamentarische Initiativen werden ohne Gemeinwohlbezug eingebracht, die primär der eigenen Selbstdarstellung und dem Kampf um die eigene Wiederwahl dienen. Sie verursachen z. T. einen nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand bei der Exekutive und verbrennen damit unnötig Steuergelder. 7. Die politische Auseinandersetzung pervertiert zum Kampf um die persönliche Existenz. Der politische Gegner wird zum Feind. Die politische Kultur bleibt auf der Strecke. Es entsteht eine Art Bunkermentalität. Der Bürger wendet sich mit Grausen. Hartgesottene Zeitgenossen schalten lieber den Fernseher ein und sehen sich Boxkämpfe an, da geht es ähnlich, aber wenigstens ehrlicher zu. Man muss einfach der Realität ins Auge sehen: Die Mehrzahl der Menschen ist von Natur aus stärker eigen- als fremdnützig geprägt. An die Stelle von Politik aus Berufung tritt somit die Verfolgung eigennütziger materieller und immaterieller persönlicher Interessen. Natürlich gibt es auch beeindruckende Ausnahmen – aber die sind dünn gesät.

IV. Was lässt sich dagegen tun? Unter realistischer Einschätzung und einem gesunden Misstrauen gegenüber dieser ausgeprägt egozentrischen Natur des Menschen gilt es, die Gefahren, die davon ausgehen, durch rechtliche und institutionelle Regelungen zu begrenzen. Das ist seit Jahrhunderten der Sinn von Recht und im staatlichen Bereich von Verfassungen. Im vorliegenden Fall heißt das konkret: Der Trend zum Berufsabgeordneten muss durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen gestoppt und umgekehrt werden, um – je nach Größe der Repräsentationsebene – wieder zurück zum Teilzeit- oder sogar zum ehrenamtlichen Abgeordneten zu kommen. Folglich muss man einerseits die Anreize für eine Karriere als Berufsabgeordneter beseitigen oder zumindest minimieren und andererseits die Anreize verstärken, welche die Kluft zwischen den Bürgern und seinen demokratischen Repräsentanten zu verringern vermögen. Dabei ist zwischen den verschiedenen lokalen Ebenen demokratischer Repräsentation zu differenzieren: der Bundes-, der Landes- und der Kommunalebene.

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Meine Lösung für die hier allein interessierende Ebene der Landesparlamente ist radikal und einfach: Für Landtagsabgeordnete werden die Grunddiäten und die sonstigen finanziellen Leistungen massiv gekürzt. Demselben Ziel würde daneben eine grundsätzliche zeitliche Begrenzung der Mandatsdauer dienen. Damit würde man aus heutiger Sicht einen neuen Typus von Abgeordneten schaffen, zugleich aber auch die Renaissance eines traditionellen Abgeordnetenbildes einleiten: nämlich den Abgeordneten, der neben seinem parlamentarischen Mandat einem bürgerlichen Beruf nachgehen müsste. Politikern, deren Berufsziel es ist, „für und von der Politik zu leben“, wäre der Nährboden entzogen. Teilzeit- oder ehrenamtliche Abgeordnete würden natürlich nicht zwangsläufig vom eigennützigen Berufsabgeordneten zum ausschließlich gemeinwohlorientierten Abgeordneten mutieren. Selbstverständlich unterliegen auch letztere noch den beschriebenen Gefahren, denen speziell Berufsabgeordnete ausgesetzt sind. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass diese Gefahren objektiv eindeutig geringer sind und auch vom Bürger – da bin ich mir ganz sicher – geringer eingeschätzt werden. Folglich würde das Vertrauen der Bürger in ihre demokratischen Repräsentanten wieder wachsen und damit die Grundvoraussetzung für eine repräsentative Demokratie wieder hergestellt werden. Mir ist bewusst, dass mein Vorschlag nach der Einführung von Teilzeitoder sogar ehrenamtlichen Abgeordneten auf Landesebene auf heftige Kritik stoßen wird. Sie lautet: Damit könnten die Parlamente ihre Aufgaben nicht mehr qualifiziert erfüllen. Sie würden insbesondere im Verhältnis zur Exekutive massiv geschwächt. An dieser Kritik ist – auf der Basis der gegenwärtigen Parlamentspraxis – durchaus etwas dran. Daher muss die Abschaffung des Berufsabgeordneten mit einer grundlegenden Parlamentsreform verbunden werden. Vorab gilt es aber, mit einer Mär aufzuräumen, die – verständlicherweise – von gut dotierten Berufsabgeordneten vertreten wird, um sich selbst und vor ihren Wählern als Berufsabgeordnete zu legitimieren: Landtagsabgeordnete seien mit Parlamentsaufgaben völlig aus- oder sogar überlastet. Das Gegenteil ist richtig: • Die Landtage haben eine Fülle gesetzlicher Aufgaben an die EU und den Bund verloren. Daran hat die Föderalismusreform – trotz gegenteiliger Bekundungen – der selbst ernannten „Jahrhundertreformer“ nur wenig geändert. Für den langjährigen Direktor des Niedersächsischen Landtags Prof. Janssen, den ich als alten Kollegen ganz herzlich im Kreis der Zuhörer begrüße, ähneln Landtage immer mehr kommunalen Vertretungskörperschaften.

Zurück zum ehrenamtlichen Landesparlamentarier?

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• Beim Haushalt liegt der Gestaltungsspielraum der Landtage zwischen 5–7% der Gesamtsumme. • Die parlamentarische Kontrolle erschöpft sich sehr oft in einer kleinlichen Verwaltungskontrolle. Alle politisch wesentlichen Missstände wurden durch die Presse aufgedeckt und in den Parlamenten nur noch nachvollzogen. Der Aufgabenbereich der Landtage ist somit schon heute nicht mehr groß. Er könnte aber ohne Verlust für unser parlamentarisches Regierungssystem durch folgende Reformen weiter begrenzt werden: • Die Landtage müssten sich auf die landesspezifischen Themen konzentrieren und die reine Kommunal- und Bundespolitik (bis hin zu kompetenzrechtlich geradezu aberwitzigen Resolutionen, z. B. zum Krieg im Irak) von der Tagesordnung verbannen. Diese Anträge machen in den Plenarsitzungen im Durchschnitt ca. 30% und in den Ausschüssen weit über 50% der Parlamentsarbeit aus. • Außerdem muss sich der Staat nicht in alle möglichen gesellschaftspolitischen Bereiche hineindrängen, sondern das in Sonntagsreden so viel beschworene Subsidiaritätsprinzip auch im konkreten politischen Handeln respektieren. Damit würde auch die hektische Produktion immer neuer parlamentarischer Initiativen gebremst, deren Gemeinwohlausrichtung vielfach nicht erkennbar ist. Es wäre somit durchaus möglich, die danach den Landtagen verbleibenden Aufgaben in einem „Feierabendparlament“ mit Teilzeit- oder sogar ehrenamtlichen Abgeordneten qualifiziert zu erledigen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass sich genügend Bürger finden würden, die auf Landesebene eine parlamentarische Tätigkeit neben ihrem Beruf übernehmen würden. Insbesondere dann, wenn sie aufgrund der soeben vorgeschlagenen Reformen von einer zeitlich und sachlich konzentrierten Arbeit in den Parlamenten ausgehen könnten. Die Voraussetzungen für einen Ausstieg aus dem Berufsabgeordneten auf Landesebene und den Einstieg in ein „Feierabendparlament“ mit Teilzeitoder ehrenamtlichen Abgeordneten ließen sich also ohne Qualitätsverlust für unser parlamentarisches Regierungssystem schaffen. Ausnahmen sollte man nur für besondere Funktionsträger, wie für Fraktionsvorsitzende oder Parlamentarische Geschäftsführer, vorsehen. Diese Reform bedürfte jedoch einer gesetzlichen Grundlage. Doch die kann nur durch die derzeit im Amt befindlichen Abgeordneten beschlossen werden. Und da klemmt die Säge. Wer will schon an den gewachsenen Besitzständen, in denen man es sich recht gut eingerichtet hat, etwas ändern? Daher müsste wohl der Souverän, also der Bürger selbst diese Reform über

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Volksbegehren und Volksentscheid verwirklichen. Vielleicht reicht allerdings auch schon die Drohung mit derartigen Plebisziten. Wenn es mir mit meinem heutigen Vortrag gelungen sein sollte, für die Abkehr vom Berufsabgeordneten und die Rückkehr zum Feierabendparlament auf Landesebene gewisse Anstöße gegeben zu haben, wäre das für mich eine große Genugtuung.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Joachim Linck Von Larissa Vetters Dr. Detlef Voigt, Direktor des Landtags Brandenburg, bedankte sich für den Vortrag, der sicherlich nicht nur ihn zur Diskussion reizen würde, und bedauerte, sich selbst als Diskussionsleiter eine gewisse Zurückhaltung auferlegen zu müssen. Dr. Ute Scheuch, Köln, drückte ihre volle Zustimmung für Lincks Vortrag aus, allerdings teilte sie nicht seinen Optimismus bezüglich möglicher Veränderungen und belegte dies mit Beispielen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag. Auch Dr. Wolfgang Hetzer, Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), stimmte Lincks Ausführungen überwiegend zu, bezweifelte aber ob der vorgebrachte Lösungsvorschlag – den ehrenamtlichen Landesparlamentarier wieder einzuführen – geeignet und praktikabel sei. Als Beispiele, die gegen eine solche Lösung sprächen, ließe sich zum ersten das Investment-Modernisierungsgesetz nennen. Hier habe die Sachkenntnis des Parlaments nicht ausgereicht, das Gesetz zu entwerfen und zu verabschieden, so dass letztendlich die Profiteure dieser Gesetzgebung gebeten wurden, Formulierungshilfe zu leisten. Kirchhoff habe mit Recht den Ausdruck verwendet „denn sie wissen nicht was sie tun“ und dies gelte in vielen Fällen für Parlamentarier. Wenn die Motivation, Politiker zu werden, darin bestehe sich ein Einkommen in Form von Diäten zu sichern, dann sei das von Linck angesprochene Misstrauen allerdings gerechtfertigt. Als zweites Beispiel führte Hetzer die Berichterstattung über eine angebliche Beratertätigkeit Schilys für den Siemens Konzern an. In einem Artikel der Süddeutschen würde Schily mit der Aussage zitiert, er verstünde seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter nicht als Beruf und seine Arbeit als Anwalt entsprechend nicht als Nebentätigkeit, weshalb er sich auch an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden sehe und über seine Beratertätigkeit keine Auskunft geben könne. Aus diesem Beispiel könne man ersehen, was passiere, wenn Ehrenamtlichkeit, Professionalität und Einflussmöglichkeiten in ein besonderes Verhältnis zueinander gerieten. So könnte auch bei einer rein ehrenamtlichen Tätigkeit als Parlamentarier ein genügend hoher Anreiz be-

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stehen, Parlamentarier zu werden, weil unabhängig von der Höhe der Diäten der „spin off“ allein darin bestehe Abgeordneter zu sein und von dieser Position profitieren zu können. Deshalb bezweifle er die Sachgerechtigkeit des Vorschlags von Linck. Der Diskussionsleiter bat um Beschränkung der Diskussion auf Landesparlamentarier und gab das Wort an Armin Tebben, Landtagsdirektor Mecklenburg-Vorpommern. Dieser wies darauf hin, dass die durchschnittliche Verweildauer eines Landtagsabgeordneten zehn Jahre beträgt, man also zwar von einer Vollalimentation, nicht aber von Berufspolitikern sprechen könne. Zu dem Beitrag von Scheuch wolle er anmerken, dass es auch in Mecklenburg-Vorpommern ein Übergangsgeld gäbe, allerdings unter Anrechnung aller Einkünfte, so dass nicht zwangsläufig eine Doppel-Alimentation entstünde. Auch objektiv betrachtet, glaube er, dass ein Einkommen von 4400,– Euro brutto eines Landtagsparlamentariers für die meisten Teilnehmer dieser Konferenz keinen wirklichen finanziellen Anreiz darstelle, Abgeordneter zu werden. Seiner Meinung nach habe deshalb auch weniger die objektive Höhe der Einkommen zu dem Vertrauensverlust beigetragen, sondern vielmehr die fehlende Sensibilität der Abgeordneten, die Diätenerhöhung zu einem Zeitpunkt durchsetzten, in denen allgemeine Leistungen gekürzt werden. Zudem habe Vertrauen sicherlich auch nicht nur mit der Beurteilung von Entschädigung, sondern auch mit der Beurteilung von Leistung und Gegenleistung zu tun. Aus diesem Grund könne es auch lohnend sein, sich in der Diskussion um Vertrauensverlust mehr auf die Frage zu konzentrieren, wie man zu einer besseren Politik komme und dies könne dann auch zu einer entspannteren Diskussion der Diätenfrage führen. In seiner Erwiderung bestätigte Linck, dass sein Optimismus möglicherweise überhöht sei, da man von den Abgeordneten selbst wohl keine Reform erwarten könne, deshalb habe er auch unter Anknüpfung an andere Beiträge dieser Tagung darauf verwiesen, dass man immer dann, wenn die Abgeordneten in einer Frage persönlich besonders berührt sind – es also um eigene Interessen der Abgeordneten geht –, man dort stärker plebiszitäre Elemente einbringen müsste und verwies insbesondere auf die Thesen von Arnims. Zu den Ausführungen von Hetzer bezog Linck die Stellung, hier müsse sich die Diskussion tatsächlich darauf konzentrieren, ob man auf der Ebene der Landtage zu ehrenamtlichen oder zumindest Teilzeitabgeordneten zurückfinden könne. Auf der Ebene des Bundes sei in der Tat eine andere Sachkenntnis notwendig, auf der Landesebene dagegen habe sich der Gesetzgebungsprozess stark verändert, die Normsetzungskompetenz sei sehr weitgehend sowohl auf die EU-Ebene als auch zum Bund hin abgewandert, für die auf Landesebene verbleibende Materie sei es auch als ehrenamtlicher oder Teilzeitparlamentarier möglich sich die notwendige Sachkennt-

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nis anzueignen. Zu dem Fall Schily wolle er allerdings noch anmerken, dass er der Meinung sei, auch auf Bundesebene solle man alles tun, um einen zivilen Beruf neben dem Abgeordnetenmandat zu ermöglichen und gerade nicht rechtliche oder tatsächliche Hürden aufbauen, die dies verböten. Das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Nebeneinkünften der Abgeordneten habe in seinen Augen die verheerende Tendenz, die Stellung des Berufsabgeordneten noch zu stärken. Auch die Möglichkeit der Parlamentarier als Einflussagenten mit niedrigen Diäten, letztlich aber doch mit Aussichten auf materielle Leistungen nach und außerhalb der politischen Tätigkeiten, zu wirken, schätze er für Landesparlamente nicht annähernd so hoch ein wie für die Bundesebene. Das engagierte Plädoyer seines ehemaligen Kollegen Tebben für den Berufsabgeordneten sei ihm natürlich bekannt, er glaube aber in seinem Vortrag nachgewiesen zu haben, dass die Landesparlamente eben nicht eine solche Fülle an Aufgaben zu bewältigen hätten, dass eine Vollzeittätigkeit notwendig sei. Auch bitte er darum nicht zu vergessen, dass sich für eine gleichzeitige Parlamentsreform ausgesprochen habe, die die Abgeordneten entlasten würde. Nach der Bitte von Seiten des Diskussionsleiters, sich kurz zu fassen, ergriff Dr. Helmut Stegmann, Ministerialdirigent Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt, das Wort und bekannte, er sei ebenfalls weniger optimistisch als Linck, da er nicht sehe, dass sich die Landesparlamente auf rein landesspezifische Fragestellungen beschränken lassen würden, wo doch heute die Musik wo ganz anders spiele. Da würde man sich nicht freiwillig zum Kommunalparlament herunterstufen lassen. Stegmann fragte weiterhin, wie Linck dem ohnehin schon großen Kompetenzabstand zwischen der Exekutive und der Legislative entgegenwirken wolle, wenn der Zeitaufwand, den ein Abgeordneter für Sachfragen aufbringen könne, noch verringert werden solle. Als eine sehr spezifische Frage interessiere ihn auch, wie mit den vielen Abgeordneten verfahren werden sollte, die im zivilen Leben einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst nachgegangen wären, da seines Wissens nach heute das Abgeordnetendasein nicht mit der Ausübung im öffentlichen Dienst vereinbar sei. Raimund Borrmann, Mitglied des Landestages Mecklenburg-Vorpommern, wies darauf hin, dass seine nationaldemokratische Fraktion zu Beginn der Legislaturperiode einen Antrag gestellt hätte, die Diäten zu senken, der aber abgelehnt worden wäre. Stattdessen seien die Diäten erhöht und an die Richtervergütung gekoppelt worden. Damit hätte man sich der weiteren Verantwortung und Kontrolle entzogen. Gleichzeitig hätte man die geheime Abstimmung in dem Parlament abgeschafft, die Geschäftsordnung stark eingeschränkt und hat die Rechte der Opposition eingeschränkt. Für ihn sei

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Larissa Vetters

das, was Linck vertrete, deshalb eher ein utopischer Sozialismus, man müsse doch bedenken, dass die politische Klasse am Machterhalt interessiert sei und sich nicht selbst strangulieren würde. Das sei in etwa so, als wenn man im Ancien regime vom Adel erwartet hätte, dass er freiwillig auf seine Privilegien verzichte, aber ohne Revolution sei das nicht möglich gewesen. Dr. Albert Jansen, Landtagsdirektor i.R., führte zunächst aus, dass das Diätenurteil und die folgende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Landtagsabgeordneten in dem Moment zum Berufsparlamentarier erklärte, als deutlich wurde das die Kompetenzen der Landtage abnehmen. Und dies sei unter Ausklammerung eines Begriffes geschehen, der zwingend sei in Art. 48 Abs. 2, nämlich dem der Entschädigung. Dies sei ein klassischer Fall des Parkinsonschen Gesetzes, den es festzuhalten gelte. Zweitens wolle er davor warnen, sowohl bei der Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Elemente als auch bei der Frage nach dem Vertrauensverlust die Bundes- mit der Länderebene zu vermischen. Es sei notwendig, sich auf die Frage zu konzentrieren ob die Landesabgeordneten Berufsparlamentarier sein müssen und dabei seien die Fakten zu berücksichtigen. Ein erstes Faktum sei der generelle Kompetenzverlust der Landesparlamente, der die Frage herausfordere, ob sich nicht dadurch der Status des Abgeordneten geändert habe. Es sei an der Zeit, dass dies bemerkt werde und wie in dem Märchen von des Kaisers neue Kleider jemand nun feststelle, dass der Kaiser gar keine Kleider trage. Dr. Ulrich Brinkmann, Bundeszentrale für politische Bildung, führte an, dass es ihm weniger um die Frage ginge ob ein Landtagsmandat ein fulltime job sei, sondern um die Begründung für eine ehrenamtliche Ausübung. Zum Vergleich zog er das Feierabendparlament in Hamburg sowie Untersuchungen zu Teilzeitparlamenten in amerikanischen Bundesstaaten heran. In beiden Fällen sei kein Unterschied im Vertrauen der Bürger in das Parlament im Vergleich zu Vollzeitparlamenten zu erkennen. Was den Grad der Korruption betreffe, sehe es bei den amerikanischen Teilzeitparlamenten sogar schlechter aus als bei Vollzeitparlamenten. Und seines Wissens sei auch Hamburg, was Bodenhaftung, Hintertreiben von Nachwuchsförderung, Seilschaften und Ämterpatronage anginge, in den letzten zwanzig Jahren bekannt geworden. Zur Beantwortung der von Stegmann gestellten Fragen verwies Linck auf seine Ausführungen innerhalb des Vortrages und fügte an, dass seiner Meinung nach die Inkompatibilitätsregeln für Abgeordnete, die im öffentlichen Dienst tätig waren, zu strikt seien. Zu Borrmann merkte Linck an, dass er ebenfalls kaum glaube, dass die Abgeordneten selbst eine derartige Reform initiieren würden, deshalb habe er aber gegen Ende seines Vortrages auf eine Lösung dieses Problems durch Einführung plebiszitärer Verfahren hin-

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gewiesen. Bei Jansen bedankte sich Linck, da er ausdrücklich seine Einschätzung teile, die Landtagsabgeordneten seien zu dem Zeitpunkt zu Berufsparlamentariern erklärt worden, zu dem deutlich wurde, dass sie an Kompetenzen verlören. Die kritischen Anmerkungen zu seinen Thesen führte er zum Großteil darauf zurück, dass man eben die Unterscheidung in Bundes- und Landesebene nicht genug berücksichtigt habe. Zum Abschluss der Diskussion bedauerte Linck, sich mit Brinkmanns Anmerkungen nur schwer auseinandersetzen zu können, da ihm die angesprochenen amerikanischen Studien nicht bekannt seien. Entgegen der von Brinkmann vertretenen These, dass es keinen Unterschied mache, ob es sich um Vollzeit-, Teilzeit-, oder ehrenamtliche Abgeordnete handele, sei er aber der festen Überzeugung, dass man mit der Einführung des Teilzeitmandates ein anderes Reservoir an Persönlichkeiten aus dem Volk gewinnen könne, die sich bereiterklären würden ein Mandat zu übernehmen. So könne die Qualität der Abgeordneten gesteigert werden.

Direkte Demokratie Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk: Fortschritte und Rückschritte in den letzten 15 Jahren in Deutschland Von Otmar Jung Einleitung Vor zehn Jahren habe ich hier über den „Siegeszug“ direktdemokratischer Institutionen gesprochen1. Mein heutiges Thema unterscheidet sich davon in zwei markanten Punkten. Erstens deutete damals nur ein Fragezeichen eine gewisse Skepsis an bzw. mahnte zur Vorsicht, während heute ausdrücklich von „Fortschritten“ und „Rückschritten“ die Rede ist. Zweitens hat Prof. v. Arnim jetzt dazu einen Obertitel gegeben: „Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk“. Dieser Interpretationsansatz ist natürlich zu reflektieren.

1 Vgl. Otmar Jung: Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre, in: Hans Herbert v. Arnim (Hrsg.): Demokratie vor neuen Herausforderungen. Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1999 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 130), S. 103–137.

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A. Fortschritte und Rückschritte in den letzten 15 Jahren in Deutschland I. Realgeschichte: politische Auseinandersetzungen um direkte Demokratie 1. Fortschritte a) Landesebene aa) Normative Situation: Flächendeckung – Übergang zur Revisionsphase Der bedeutendste Fortschritt im hier zu betrachtenden Zeitraum ist die flächendeckende Einführung der Volksgesetzgebung und der gleichzeitige Übergang in eine Revisionsphase. 1992 traten die ersten drei ostdeutschen Landesverfassungen in Kraft (in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg), 1993 folgten die beiden restlichen (von Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen), und alle fünf Verfassungen enthielten Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, z. T. auch referendielle Formen. Zur gleichen Zeit führten die letzten jener alten Bundesländer die Volksgesetzgebung ein, die Anfang der 1950er Jahre – vermittelt durch das rigide repräsentative Grundgesetz und verursacht letztlich durch den Kalten Krieg2 – von der Aufnahme direktdemokratischer Elemente abgesehen hatten, nämlich Niedersachsen (1993) und Hamburg (1996) (Schleswig-Holstein hatte dies bereits 1990 korrigiert), ebenso Berlin (1995), das in einer Sonderentwicklung die Volksgesetzgebung 1974 abgeschafft hatte. Mit der Reform der Hamburgischen Verfassung war somit für die ergänzende Direktdemokratie die Flächendeckung erreicht. Die jahrzehntelange Zweiteilung des deutschen Landesverfassungsrechts in dieser Hinsicht war überwunden. Bereits 1994 hatte Bremen die Revisionsphase eröffnet. Nun ging es darum, vor allem manche nur ideologisch zu erklärende Normen aus der Nachkriegszeit zu handhabbaren Regelwerken umzubauen (so außer in der Hansestadt in Rheinland-Pfalz 2000 und Nordrhein-Westfalen 2002). Aber auch einige neue Verfassungen wurden durchgreifend reformiert (Hamburg 2001, Thüringen 2003, Berlin 2006), während bei anderen nur Justierungen stattfanden (in Sachsen-Anhalt 20053 und Mecklenburg-Vorpommern 2

Vgl. Otmar Jung: Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994.

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20064)5. Exemplifiziert sei dies am Beispiel der 20-Prozent-Hürde, die vor 1989 in sechs der acht Bundesländer galt, die damals direkte Demokratie kannten6. Inzwischen wurde diese Hürde in vier Ländern drastisch gesenkt, im Saarland bestand insoweit 2007 schon Konsens zwischen allen Parteien des Landtags7, und so steht bald nur noch Hessen wie ein erratischer Block in der Verfassungslandschaft. Ferner sei die Entwicklung im NiedrighürdenBereich vorgestellt. Die Hürden beim Volksbegehren und die Quoren beim Volksentscheid waren selbstverständlich nicht die einzigen verfassungsrechtlichen „Stellschrauben“. Aus der Vielzahl weiterer Reformmöglichkeiten sei nur noch erwähnt, dass in Berlin 2006 das Finanztabu zurückgeschnitten wurde: Bislang war der „Landeshaushalt“ tabuisiert8, nunmehr ist es nur noch das „Landeshaushaltsgesetz“9. Im Saarland ging bei dem Reformversuch 2007/08 die Auseinandersetzung insbesondere über das bisherige totale Finanztabu für „finanzwirksame Gesetze“10. Diese Revisionsphase hat nicht nur das Verfahren der Volksgesetzgebung deutlich erleichtert. Sie zeugt auch davon, dass hier ein neues Denken Ein3 Die Zahl der nötigen Unterschriften für eine Volksinitiative wurde von 35 Tsd. auf 30 Tsd. (Art. 80 Abs. 2 Satz 1 Verf. n. F.) und für ein Volksbegehren von 250 Tsd. auf 11 Prozent (Art. 81 Abs. 1 Satz 4 Verf. n. F.), d. h. auf etwa 230 Tsd., ermäßigt, vgl. § 1 Nr. 7 f. Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes SachsenAnhalt v. 27.1.2005, GVBl. S. 44. 4 Die erforderliche Unterstützung für ein Volksbegehren wurde von 140 Tsd. auf 120 Tsd. Unterschriften gesenkt (Art. 60 Abs. 1 Satz 3 Verf. n. F.), vgl. Art. 1 Nr. 8 Zweites Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern v. 14.7.2006, GVBl. S. 572. 5 Die beiden „Mini-Reformen“ in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bekommen freilich einen seltsamen Beigeschmack, wenn man dagegen hält, dass bei beiden Verfassungsänderungen zugleich die Legislaturperiode jeweils von vier auf fünf Jahre verlängert wurde. Unter dem Gesichtspunkt der Rückbindung der repräsentativen Demokratie an die sie legitimierenden Bürger muten jene kleinen Konzessionen an die Direktdemokratie dann wie ein Linsengericht an. 6 Nämlich in Hessen (Art. 124 Abs. 1 Satz 1), Rheinland-Pfalz (Art. 109 Abs. 3 Satz 1 a. F.), Bremen (Art. 70 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c a. F.), Nordrhein-Westfalen (Art. 68 Abs. 1 Satz 7 a. F.) und im Saarland (Art. 99 Abs. 2 Satz 3); Berlin hatte sie bis zur Abschaffung der Volksgesetzgebung 1974 ebenfalls gehabt (Art. 49 Abs. 1 Satz 1 a. F.). Andere Werte gab es nur in Bayern (Art. 74 Abs. 1: 10 Prozent) und Baden-Württemberg (Art. 59 Abs. 2 Satz 2: ein Sechstel = 16,7 Prozent). 7 Vgl. Otmar Jung: Die Reform der direkten Demokratie im Saarland, in: LKRZ 2 (2008), S. 41–46, 91–96 (43). – Daß der Reformversuch an der Saar 2008 vorerst fehlschlug, mindert die Bedeutung jenes Konsenses nicht. 8 Art. 62 Abs. 5. 9 Art. 62 Abs. 2. 10 Art. 99 Abs. 1 Satz 3.

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zug gehalten hat. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass es nicht genügt, Volksbegehren und Volksentscheid in die Verfassung aufzunehmen, wenn dann jahrzehntelang nichts geschieht. Institutionen müssen auch adäquat sein11. Man muss die Instrumente der direkten Demokratie real nutzen können, sie dürfen nicht nur symbolische Politik bedeuten. Tabelle 1 Die Entwicklung der 20-Prozent-Hürde beim Volksbegehren Land

Jahr der Aufstellung

Jahr der Reform

neue Hürde

Hessen

1946



Rheinland-Pfalz

1947

200012

300 Tsd. = ca. 10%

Bremen

1947

199413

10%14

Nordrhein-Westfalen

1950

200215

8%

Berlin

1950

199516 /200617

10%/7%18

Saarland

1979

?

?

11 Vgl. Hans Herbert v. Arnim (Hrsg.): Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik? Vorträge auf dem 2. Speyerer Demokratie-Forum vom 14. bis 16. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1999 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 133). 12 Vierunddreißigstes Landesgesetz zur Änderung der Verfassung für RheinlandPfalz v. 8.3.2000, GVBl. S. 65. 13 Gesetz zur Änderung der Landesverfassung v. 1.11.1994, GBl. S. 289. 14 In Bremen gilt allerdings eine gespaltene Hürde beim Volksbegehren, je nachdem, ob es um einfache oder verfassungsändernde Vorlagen geht. 15 Gesetz zur Änderung der Landesverfassung v. 5.3.2002, GVBl. S. 108. 16 Verfassung vom Berlin v. 23.11.1995, GVBl. S. 779; die 1974 abgeschaffte Volksgesetzgebung wurde damit wieder eingeführt mit einer Volksbegehrenshürde von 10 Prozent. 17 Achtes Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin v. 25.5.2006, GVBl. S. 446. 18 Seit der Reform 2006 gilt auch in Berlin eine gespaltene Hürde beim Volksbegehren für einfache bzw. verfassungsändernde Vorlagen.

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Tabelle 2 Die Entwicklung im „Niedrig-Hürden-Bereich“ beim Volksbegehren Land

Jahr der Aufstellung

alte Hürde

Jahr der Reform

neue Hürde

NordrheinWestfalen

1950

20%19

200220

8%21

SchleswigHolstein

1989

5%22

Brandenburg

1992

80 Tsd. = ca. 4,1%23

Thüringen

1993

14%24

200325

8%26

Berlin

1995

10%27

200628

7%29

Hamburg

1996

10%30

200131

5%32

19

Art. 68 Abs. 1 Satz 7 a. F. Gesetz zur Änderung der Landesverfassung v. 5.3.2002, GVBl. S. 108. 21 Art. 68 Abs. 1 Satz 7. 22 Art. 42 Abs. 1 Satz 3 a. F. 23 Art. 77 Abs. 3 Satz 1. 24 Art. 82 Abs. 3 a. F. 25 Zweites Gesetz zur Änderung der Verfassung v. 24.11.2003, GVBl. S. 493. 26 Art. 82 Abs. 5 Satz 2. Es gilt eine gespaltene Volksbegehrenshürde, je nachdem, ob Amtseintragung oder freie Sammlung (10 Prozent) gewählt wird. – Zugleich wurde das Zustimmungsquorum beim Volksentscheid über verfassungsändernde Vorlagen von 50 auf 40 Prozent gesenkt (Art. 83 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 n. F.). 27 Art. 62 Abs. 4 a. F. 28 Achtes Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin v. 25.5.2006, GVBl. S. 446. 29 Art. 63 Abs. 1 Satz 2. Es gilt eine gespaltene Hürde bei Volksbegehren für einfache bzw. verfassungsändernde Vorlagen (20 Prozent). 30 Art. 50 Abs. 2 Satz 2 a. F. 31 Achtes Gesetz zur Änderung der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg v. 16.5.2001, HmbGVBl. I S. 105. 32 Art. 50 Abs. 2 Satz 3. – Zugleich wurde das Zustimmungsquorum beim Volksentscheid über einfache Gesetze von 25 auf 20 Prozent gesenkt (Art. 50 Abs. 3 Satz 4). 20

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bb) Praxis: Die direktdemokratischen Instrumente werden rege genutzt Mehr Demokratie e.V. verbreitet hier beeindruckende Zahlen: In den 57 Jahren von 1949 bis Ende 2006 seien 223 „direktdemokratische Initiativen“ gestartet worden, davon 185 Anträge auf Volksbegehren bzw. Volksinitiativen und 38 Volkspetitionen, die nur anregenden Charakter haben und kein Volksbegehren nach sich ziehen33. 53 Volksbegehren wurden durchgeführt, die zu 13 Volksentscheiden führen34. Diese Zahlen stammen aus einer Volksbegehrens-Datenbank, die als Gemeinschaftsprojekt von Mehr Demokratie und der „Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie“ an der Universität Marburg35 aufgebaut wurde und fortgeführt wird. Mit der Arbeit dieser Datenbank hat sich die bislang beklagte Dokumentationssituation36 dramatisch verändert. Einerseits ist sie zweifellos bedeutend besser geworden, andererseits hat jene Marburger Einrichtung inzwischen eine monopolähnliche Stellung37, und der Umgang mit ihren Daten in der Literatur ist nicht immer glücklich. Der Grund liegt auf der Hand: Während die Zulassung eines Volksbegehrens und das Ergebnis seiner Durchführung – ganz zu schweigen von einem Volksentscheid – amtlich dokumentierte Vorgänge sind, die relativ leicht und verlässlich erfasst werden können, betritt man mit der Erweiterung auf Fälle, in denen zumindest mit 33 Vgl. Frank Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 von Mehr Demokratie e.V. [31.3.2007], http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdfarchiv/bund/vb-bericht 2006.pdf (Zugriff 4.10.2007), S. 2, ebenso S. 6; auf S. 7 in Tabelle 2a eine statistische Aufteilung auf die einzelnen Bundesländer. 34 Vgl. a. a. O., S. 7 f. 35 Die „Forschungsstelle“ wird von Prof. Theo Schiller geleitet und von Volker Mittendorf betreut. 36 Vgl. Otmar Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven, in: Theo Schiller/Volker Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 22–63 (39). 37 Selbständige, allerdings anders (enger) aufgebaute Aufstellungen bringt Otmar Jung: Daten zu Volksentscheiden in Deutschland auf Landesebene (1946–1992), in: ZParl 24 (1993), S. 5–13; ders.: Grundsatzfragen der direkten Demokratie, in: Andreas Kost (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 312–366 (355–358). Unabhängig ist auch die Aufstellung von Bärbel Martina Weixner: Direkte Demokratie in den Bundesländern. Verfassungsrechtlicher und empirischer Befund aus politikwissenschaftlicher Sicht, Opladen 2002 (Forschung Politikwissenschaft Bd. 162), S. 209 ff. Siehe zuletzt die Übersicht über die seit 1991 durchgeführten direktdemokratischen Verfahren bei Johannes Rux: Direkte Demokratie in Deutschland. Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit der unmittelbaren Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Ländern, Baden-Baden 2008, S. 931–938.

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der Sammlung von Unterschriften für den Zulassungsantrag begonnen wurde38, schon unsicheren Boden. Wenn eine Aufstellung dann auch „Volksbegehren“ einschließt, die lediglich konzipiert und angekündigt wurden, ohne dass die Initiatoren auch nur mit der Unterschriftensammlung für den Zulassungsantrag begannen39, wird es schwankend. Zur Beurteilung ist freilich zweierlei zu bedenken: Zum einen sollte man auf den „kleinen Trick“ verzichten, harte und weiche Daten zu aggregieren, um auf möglichst hohe Summen zu kommen. Was Wirtschaftspolitiker (Arbeitsplätze „geschaffen oder gesichert“) und Umweltschützer (Arten „ausgerottet oder gefährdet“) praktizieren, hieße im Bereich der Direktdemokratie, von „durchgeführten oder angekündigten Volksbegehren“ zu sprechen. Zum anderen aber spiegelt die Ungenauigkeit der Zählung in der Anfangsphase auch die Vielfalt der politischen Effekte der direkten Demokratie wider. Es gibt eben, wie noch auszuführen ist, Fälle, wo allein die Ankündigung eines Volksbegehrens „durchschlagenden“ politischen Erfolg hatte, ohne dass auch nur eine einzige Unterschrift gesammelt worden wäre. Insofern ist eine weite Definition bzw. Zählweise nicht illegitim. Indes genügen an dieser Stelle zwei unbestreitbare Erkenntnisse: Die direktdemokratischen Instrumente wurden schon bemerkenswert oft genutzt, und ihre Nutzung nimmt immer mehr zu. Der Volksbegehrensbericht 2006 von Mehr Demokratie stellt mit Recht heraus, dass erst seit 1992 – also in dem hier interessierenden Zeitraum – überhaupt „eine nennenswerte Praxis“ von Volksbegehren, Volksinitiativen und Volkspetitionen existiert40. cc) Die direktdemokratischen Instrumente haben oft Erfolg Bei der Erfolgsfrage gilt es zu differenzieren. Gewiss gehen im Allgemeinen der Fortschritt des Verfahrens und die Erfolgsaussichten für das vertretene Anliegen parallel, weil auf dem Wege von der Volksinitiative über das Volksbegehren bis zum Volksentscheid der Druck auf das repräsentativ-demokratische System und damit die Wahrscheinlichkeit, dass dieses nachgibt, steigen. Aber dieser Zusammenhang ist nicht zwingend. Es gibt Fälle, wo jenes System bis zum Schluss standhielt, der Volksentscheid (unecht) scheiterte und kein politischer Erfolg irgendwelcher Art zu sehen ist (so z. B. bei dem Volksgesetzgebungsverfahren zur Kinderbetreuung in Sachsen-Anhalt 2003-0541). Umgekehrt setzten sich Volksbegehren inhalt38 Vgl. Frank Rehmet: Direkte Demokratie in den deutschen Bundesländern, in: Schiller/Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 36), S. 102–114 (107 f.). 39 Vgl. Weixner (Fn. 37), S. 279–285. 40 Vgl. Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 6 mit eindrücklicher graphischer Darstellung in Abbildung 2.

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lich voll durch, die erst angekündigt waren (so gegen das geplante Landestransplantationsgesetz in Rheinland-Pfalz 1994 oder gegen die angedachte Einschränkung der Lernmittelfreiheit in Bayern 200442) oder die zwar schon zugelassen waren, für welche die Initiatoren aber noch keine einzige Stimme gesammelt hatten (so zur Einführung des Konnexitätsprinzips in Bayern 2002). Die in Deutschland zu Recht institutionalisierte Interaktion von direkter Demokratie und repräsentativ-demokratischem System führt also zu ganz unterschiedlichen Konstellationen mit je verschiedenen Chancen bzw. Ergebnissen43. (1) Vorwirkungsfälle Man kann die erfolgreichen Fälle nach dem Verfahrensstadium gruppieren, in dem jeweils der „Durchbruch“ gelang oder der (Teil-)Erfolg erzielt wurde. Angefangen sei mit den Fällen des Erfolges noch während des laufenden Verfahrens. So bemerkenswert diese Fälle sind, dass die direktdemokratischen Instrumente sozusagen auf Anhieb Erfolg hatten, weil die Parlamente von ihren politisch verfehlten Vorhaben abließen oder das vorgetragene Anliegen aufgriffen bzw. gar den volksbegehrten Gesetzentwurf übernahmen, so wenig sind sie – eigentlich seltsamerweise – ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Derartige direktdemokratische Vorstöße, die qua „Vorwirkung“ sachlich den schnellsten und größten Erfolg hatten, tauchen auch in den üblichen Statistiken und Darstellungen nicht auf, die auf Volksentscheide fixiert sind und damit nur jene Projekte erfassen, die gegen zähen Widerstand bis zum Verfahrensende „durchgezogen“ werden mussten. Wer sich aber auf die formellen Verfahrensetappen Volksbegehren und Volksentscheid konzentriert, gewinnt eher Aufschluss über die Härte des Konflikts mit Regierung und Parlament als Erkenntnisse darüber, inwieweit 41 Vgl. zu diesem Projekt „Für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt“ Rux (Fn. 37), S. 624 ff.; Frank Rehmet: Volksbegehrensbericht 2005 von Mehr Demokratie e.V. [15.3.2006], http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/md/ pdf/volksentscheid/volksbegehrensberichte/vb-bericht2005.pdf (Zugriff 6.10.2007), S. 12 f., 30. 42 Vgl. Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 340. 43 Die formale Erfolgsquote aller bis 2006 abgeschlossener Verfahren schlüsselt Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 11 auf, insbesondere in Tabelle 4. – Zur Interpretation vgl. Theo Schiller: Direkte Demokratie auf Bundesländer- und Kommunalebene, in: Markus Freitag/Uwe Wagschal (Hrsg.): Direkte Demokratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im internationalen Vergleich, Berlin 2007 (Policy-Forschung und Vergleichende Regierungslehre Bd. 3), S. 115–150 (127, 140); Raphael Magin/Christina Eder: Direkte Demokratie in den Bundesländern: Grundlagen, Institutionen, Anwendungen, in: a. a. O., S. 151–187 (176). Alle drei Autoren kommen zu einer Erfolgsquote von 50 Prozent.

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das direktdemokratisch verfolgte Anliegen sich durchsetzen konnte. Hier kurz die wichtigsten Fälle: • 1993 reichte in Nordrhein-Westfalen schon die massive Unterstützung des Zulassungsantrags für ein Volksbegehren zur Einführung der Direktwahl der Bürgermeister aus, um die Regierungspartei SPD zu einem radikalen Kurswechsel zu bewegen; nun führte sie die begehrte Reform selbst durch44. Diesen Erfolg der nordrhein-westfälischen CDU wiederholten ihre Parteifreunde mit den gleichen Instrumenten und dem gleichen Erfolg in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und im Saarland45. • In Niedersachsen sammelte im selben Jahr eine Volksinitiative, die Vertreter der beiden großen christlichen Konfessionen und der jüdischen Kultusgemeinde ins Leben gerufen hatten, Unterschriften für eine Ergänzung der neuen Verfassung durch eine Präambel mit Gottesbezug46. Schließlich setzte der Landtag dieses Anliegen um47. • 1994 genügte in Rheinland-Pfalz bereits die Ankündigung eines Volksbegehrens durch die oppositionelle CDU-Fraktion, die damit ein – nur in diesem Lande mögliches – fakultatives Gesetzesreferendum einleiten wollte, damit Regierung und Koalition von ihrem offenkundig missratenen Vorhaben eines Landes-Transplantationsgesetzes abließen48. • 1999 sammelte die Wählergemeinschaft „Arbeit für Bremen“ Unterschriften für ein Volksbegehren zur Verkleinerung des Landesparlaments von 100 auf 75 Abgeordnete49. Noch während der Eintragungszeit griff die 44 Vgl. Otmar Jung: Wenn der Souverän sich räuspert . . . Vorwirkungen direktdemokratischer Korrekturmöglichkeiten, dargestellt an Beispielen aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, in: JzStVWiss 8 (1995), S. 107–176 (110–121, 161–165). 45 Vgl. Hans Herbert v. Arnim: Die politische Durchsetzung der Kommunalverfassungsreform der neunziger Jahre, in: DÖV 55 (2002), 585–592 (590); wiederabgedruckt in: KWI[Kommunalwissenschaftliches Institut der Universität Potsdam]Info Heft 7/2006, S. 5–15 (9). Lars Holtkamp: Reform der Kommunalverfassungen in den alten Bundesländern – eine Ursachenanalyse, in: Jörg Bogumil/Hubert Heinelt (Hrsg.): Bürgermeister in Deutschland. Politikwissenschaftliche Studien zu direkt gewählten Bürgermeistern, Wiesbaden 2005 (Stadtforschung aktuell Bd. 102), S. 13–32 (27 f.). 46 Vgl. Jung: Wenn der Souverän sich räuspert . . . (Fn. 44), S. 122–136, 165–169. 47 Gesetz zur Änderung der Niedersächsischen Verfassung v. 6.6.1994, GVBl. S. 229. 48 Vgl. Jung: Wenn der Souverän sich räuspert . . . (Fn. 44), S. 136–158, 169–175; ferner ders.: Bürgerbeteiligung – ohne Risiken und Nebenwirkungen? Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, Mainz 2002, S. 7 f., mit rückblickenden politischen Einsichten der Geschlagenen von damals. 49 Vgl. Bek. des Landeswahlleiters v. 17.5.1999 der Zulassung eines Volksbegehrens zur Änderung des Bremischen Wahlgesetzes, BremABl. S. 407.

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bei den Bürgerschaftswahlen wiedergewählte große Koalition aus SPD und CDU das Thema auf und vereinbarte, in dieser Legislaturperiode die bisherige Zahl der Abgeordneten um ein Fünftel (auf dann 80 Parlamentarier) zu reduzieren50. Daraufhin stellten die Initiatoren beim Stande von 19 Tsd. Unterschriften51 das Volksbegehren zufrieden ein – und sie sollten sich nicht täuschen. Binnen zwei Jahren lösten Regierung und Parlament dieses Versprechen ein52. • 2002 beantragten die „Freien Wähler Bayern“ ein Volksbegehren, um das Konnexitätsprinzip in der bayerischen Verfassung zu verankern. Ihr Volksbegehren „Wer bestellt, muss auch bezahlen“ wurde zugelassen53, aber inzwischen hatte die Bayerische Staatsregierung längst ihre bisherige Politik um 180 Grad gewendet und ihrerseits den Entwurf für eine entsprechende Verfassungsänderung angekündigt54. Nach der parlamentarischen Annahme des Änderungsgesetzes wurde das Volksbegehren dann einvernehmlich für erledigt erklärt. Beim Referendum 2003 billigte das Volk die Vorlage mit großer Mehrheit55. 50 Vereinbarung zur Zusammenarbeit in einer Regierungskoalition für die 15. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft 1999–2003 (28.6.1999), http://www.bremen. de/info/skp/koav_bremen.htm (Zugriff 24 3.2000). 51 Nötig gewesen wären rund 50 Tsd. Unterschriften. 52 Vgl. Gesetz zur Änderung des Bremischen Wahlgesetzes (Verringerung der Zahl der Bürgerschaftsmitglieder) v. 22.5.2001, BremGBl. S. 195: Reduzierung der Zahl der Mitglieder der Bürgerschaft von der 16. Wahlperiode an auf 83. 53 Vgl. Bek. des BayStMdI v. 24.3.2003 der Zulassung eines Volksbegehrens über den Entwurf des Gesetzes „Wer bestellt, muss auch bezahlen. Für eine gerechte Finanzausstattung der bayerischen Gemeinden, kreisfreien Städte, Landkreise und Bezirke“, BayStAnz. Nr. 13 v. 28.3.2003, S. 1. 54 Vgl. Mehr Demokratie e.V.: Volksbegehrens-Bericht 2002. Themen, Trends und Erfolge von Bürger- und Volksbegehren in Deutschland [Februar 2003], http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/md/pdf/volksentscheid/volksbegehrensbe richte/vb-bericht2002.pdf (Zugriff 6.10.2007), S. 3, 7. – Die CSU-Landtagsfraktion hatte sich „lange Zeit“ gegen die Aufnahme des Konnexitätsprinzips in die Verfassung „gesträubt“; durch den Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens wurde dann der „Sinneswandel zügig befördert“ (vgl. Michael Deubert: „Wer anschafft, soll auch bezahlen“ – Zur Einfügung des Konnexitätsprinzips in Art. 83 Abs. 3 BV –, in: BayVBl. 135 (2004), S. 136 ff. (136 f.). Dieser „kurzfristige Wandel“ kam zumindest für die oppositionelle SPD „überraschend“ (vgl. Klaus Hahnzog: Lebendige Bayerische Verfassung – Weiterentwicklung und Revitalisierung – in: BayVBl. 138 (2007), S. 321–325 (322). 55 Vgl. Frank Rehmet: Mehr Demokratie e.V. – Volksbegehren-Bericht 2003. Themen, Trends und Erfolge von Bürger- und Volksbegehren in Deutschland, http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/md/pdf/volksentscheid/volksbegehrensbe richte/vb-bericht2003.pdf (Zugriff 6.10.2007), S. 8; Deubert: „Wer anschafft, soll auch bezahlen“ (Fn. 54), S. 136 ff.; Otmar Jung: Regieren mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum: Wirkung, Konterstrategie, Nutzungsversuche und Umgangsweise, in: ZParl 36 (2005), S. 161–187 (180).

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• 2006 hatten die Initiatoren des Volksbegehrens „Mehr Demokratie beim Wählen – Mehr Einfluss für Bürgerinnen und Bürger“ in Bremen solchen Erfolg56, dass die Bürgerschaft den begehrten Gesetzentwurf übernahm57. • 2007 geschah das gleiche in Hamburg bei einem im Volksbegehren eindrucksvoll unterstützten Gesetzentwurf zur Verbesserung (eigentlich: zur Rückgängigmachung von Verschlechterungen) des Ausführungsgesetzes zur Volksgesetzgebung58; auch hier übernahm die Bürgerschaft den volksbegehrten Entwurf59. 56 Vgl. Bek. des Landeswahlleiters v. 4.7.2006 der Zulassung eines Volksbegehrens „Mehr Demokratie beim Wählen – Mehr Einfluss für Bürgerinnen und Bürger“, ABl. S. 469. Erforderlich waren 48.175 gültige Eintragungen; tatsächlich aber waren 65.197 gültige Unterschriften für das Volksbegehren geleistet worden (vgl. junge Welt v. 6.12.2006), d. h. statt der benötigten 10 Prozent hatten 13,5 Prozent der Stimmberechtigten das Anliegen unterstützt. – Vgl. zum Ganzen Katrin Tober: Erstes erfolgreiches Volksbegehren im Land Bremen – Ab 2011 wird anders gewählt, in: Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 13 f., ferner a. a. O., S. 22; Rux (Fn. 37), S. 752 f. 57 Vgl. Gesetz über Mehr Demokratie beim Wählen – Mehr Einfluss für Bürgerinnen und Bürger v. 19.12.2006, GBl. S. 539. 58 Vgl. Bek. des Landesabstimmungsleiters v. 2.1.2007 der Volksbegehren . . . 2. „Rettet den Volksentscheid – Mehr Demokratie“, Amtl. Anz. S. 1. Erforderlich waren 60.747 gültige Unterschriften, tatsächlich wurden 100.062 geleistet (vgl. Feststellung des Senats über das Zustandekommen zweier Volksbegehren, in: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Drs. 18/5959 v. 13.3.2007). Statt der benötigten 5 Prozent hatten sich also 8,2 Prozent der Stimmberechtigten eingetragen. – Vgl. zum Ganzen Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 22 f.; Rux (Fn. 37), S. 840–844. 59 Siebtes Gesetz zur Änderung des Volksabstimmungsgesetzes v. 12.6.2007, HmbGVBl. S. 174. – Auch das 2003 zustande gekommene Volksbegehren „Für eine kinder- und familiengerechte Kita-Reform“ wurde von Senat und Bürgerschaft inhaltlich übernommen. Rechnet man den älteren Fall des Volksbegehrens gegen die so genannte kooperative Schule in Nordrhein-Westfalen 1978 dazu, dem der Landtag entsprach (vgl. Gunther Jürgens: Direkte Demokratie in den Bundesländern, Gemeinsamkeiten – Unterschiede – Erfahrungen, Vorbildfunktion für den Bund? Stuttgart u. a. 1993 (Marburger Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 7), S. 194 f.), kann man insgesamt vier Fälle addieren, in denen Parlamente Volksbegehren vor einem Volksentscheid übernahmen (vgl. Schiller: Direkte Demokratie auf Bundesländer- und Kommunalebene (Fn. 43), S. 127, 139). Da Senat und Bürgerschaft nach einem erfolgreichen Volksbegehren „Unser Wasser Hamburg“ 2004 auch dem Anliegen dieser „anderen Vorlage“ gegen die Privatisierung der Wasserwerke entsprachen, ergeben sich sogar fünf Fälle. – Freilich sollte man strukturell die Fälle, in denen durch die Übernahme sozusagen ein volksformuliertes Gesetz parlamentarisch sanktioniert und verkündet wurde (so in reiner Form in Bremen 2006 und Hamburg 2007), von jenen unterscheiden, in denen die Volksgesetzgebung eigentlich wie ein Referendum eingesetzt wurde, um eine parlamentarisch beschlossene, missliebige Reform zum Scheitern zu bringen bzw. zurückzunehmen (so in Reinform in Nordrhein-Westfalen 1978 und Hamburg 2004).

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Man könnte weitere Fälle aufführen: 1997/98 wurden in Niedersachsen über 100 Tsd. Unterschriften für ein Volksbegehren „Gentechnikfrei aus Niedersachsen“ gesammelt. Als der Bund Mitte des Jahres eine „Kennzeichnung ohne Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellter Lebensmittel“ vorschrieb, hielten es die Initiatoren nicht mehr für nötig, einen Antrag auf Zulassung bei der Landesregierung zu stellen, weil ihre wichtigsten Forderungen bereits erfüllt seien60. Seit Ende 2001 betrieb die kleine Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) in Bayern ein Bioethik-Begehren. Als sie 2003 die Zulassung eines Volksbegehrens „Menschenwürde ja, Menschenklonen niemals!“ erreichte61, brachte das den Landtag immerhin dazu, sich eine von vier Forderungen der ödp zu eigen zu machen, nämlich dass die Bayerische Verfassung die staatliche Gewalt künftig nicht mehr auf die Achtung der Würde der (entwickelten?) „menschlichen Persönlichkeit“ – was in den Debatten um die neuen biotechnischen Möglichkeiten missverständlich geworden war –, sondern auf die Achtung und den Schutz der „Würde des Menschen“ verpflichten sollte, was den Embryo einschlösse62. Diese „Minimalverbesserung“ wurde beim Verfassungsreferendum desselben Jahres angenommen63. Wiederum in Niedersachsen sammelte 2005 ein Bündnis aus Behinderten- und Sozialverbänden, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen Unterschriften für ein Volksbegehren „. . . gemeinsam weitersehen“, mit dem das bisherige einkommens-, vermögens- und altersunabhängige Landesblindengeld wiedereingeführt werden sollte, das eine insensible Sparpolitik gekürzt hatte. Als die Initiatoren 200 Tsd. Unterschriften gesammelt hatten – weit mehr als die für einen Zulassungsantrag erforderlichen 25 Tsd. – und damit sogar die 600 Tsd. Unterschriften erreichbar schienen, die für ein Zustandekommen des Volksbegehrens benötigt würden64, schaltete die Landesregie60 Vgl. Otmar Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 22–63 (37). 61 Vgl. Bek. des BayStMdI v. 26.2.2003 der Zulassung eines Volksbegehrens über den Entwurf des Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern [Kurzbezeichnung „Menschenwürde ja, Menschenklonen niemals!“], BayStAnz. Nr. 10 v. 17.3.2003, S. 1. 62 Vgl. Mehr Demokratie e.V.: Volksbegehrens-Bericht 2002 (Fn. 54), S. 7. – Das gleichwohl durchgeführte Volksbegehren fand nicht genügend Unterstützung. 63 Vgl. Rehmet: Mehr Demokratie e.V. – Volksbegehren-Bericht 2003 (Fn. 55), S. 8; Jung: Regieren (Fn. 55), S. 180 f. 64 Allerdings gab es da noch Rechtsprobleme, vgl. Stefan Muhle/Christoph Lontzek: Die Zulässigkeit finanzwirksamer Volksbegehren in Niedersachsen – am Beispiel des Volksbegehrens zum Landesblindengeld, in: NordÖR 10 (2007), S. 227–231.

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rung um und begann, anstatt über die Zulässigkeit zu entscheiden, Verhandlungen mit den Vertretern des Volksbegehrens. Am Ende fand man einen Kompromiss: Seit Anfang 2007 zahlt das Land wiederum ein altersunabhängiges, allerdings gekürztes Landesblindengeld, und das Bündnis stellte seine Unterschriftensammlung ein65. Danach zeigte Ministerpräsident Christian Wulff sogar Courtoisie, als er dem Landesblindenverband für „sachlichen und konstruktiven Dialog“ dankte. Die gefundene Regelung verzahne „das Sanierungsziel für den Landeshaushalt mit den Wünschen des Verbandes“66. Der Blindenverband Niedersachsen wurde für seine einschlägige Kampagne sogar mit einem (Medien-)Preis ausgezeichnet67. In Brandenburg fanden innerhalb von nur zehn Jahren (1991–2001) 20 Volksinitiativen statt, auf die Regierung und Parlament so responsiv reagierten, dass die Einschätzung realistisch erscheint, dass „jede Volksinitiative in gewisser Weise einen Erfolg bedeutet und sich eine Volksinitiative eigentlich immer lohnt“68. Allerdings ist für die letztgenannten Fälle kritisch festzuhalten, dass der jeweilige „Erfolg“, so wenig zu bezweifeln im Grundsatz, doch im Einzelnen recht schwierig zu bestimmen ist. Die Situation erscheint oft unklar, und es bedürfte – jenseits der natürlich interessegeleiteten Einschätzungen der Beteiligten – schon detaillierter Studien, um über die tatsächlichen Vorgänge und Ergebnisse verlässliche Aussagen machen zu können69. Die direktdemokratischen Projekte müssen gar nicht notwendig im zivilgesellschaftlichen Bereich entwickelt worden sein. In Nordrhein-Westfalen war 2004 eine vom Parlament selbst seit Jahren betriebene Diätenreform, die einen Systemwechsel von dem bisherigen, intransparenten Privilegien65 Vgl. Niedersachsen zahlt wieder Blindengeld, in: Tsp. Nr. 19 200 v. 24./25.5. 2006. – Vgl. zum Ganzen Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 24. 66 Vgl. Niedersachsen zahlt bald wieder Blindengeld, http://www.handelsblatt. com/pshb/fn/relhbi/sfn/cn_artikel_drucken/strucid/200013/pa. . . (Zugriff 25.5.2006). 67 Vgl. Politikpreis für Blindenverband Niedersachsen, http://www.kobinet-nach richten.org/cipp/kobinet/custom/pub/content,lang,1/oid,13740/ticket,g_a_s_t/print,1 (Zugriff 27.12.2006). Zuerkannt wurde die bundesweite Auszeichnung „PolitikAward“ des Fachmagazins Politik & Kommunikation. 68 Vgl. Otmar Jung: Die Gesetzgebung wird durch Volksentscheid und durch den Landtag ausgeübt – Parlamentarismus und direkte Demokratie auf gleicher Augenhöhe? In: Reformbedarf einer modernen Verfassung. Kolloquium der Fraktion der PDS zum 10. Jahrestag der Verfassung Brandenburgs, hrsg. von Lothar Bisky/Heinz Vietze, Potsdam 2002, S. 74–97 (85). Die Volksinitiativen sind aufgelistet auf S. 89 f. – Inzwischen ist die 24. Volksinitiative („Sozialticket Brandenburg“) zustande gekommen, vgl. Mehr Demokratie e.V., Landesverband Berlin/Brandenburg, Presseinformation Nr. 14/07 v. 2.10.2007. 69 Vgl. auch die methodischen Erwägungen zur Erfolgsproblematik bei Rehmet: Volksbegehrensbericht 2006 (Fn. 33), S. 11 f.

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wesen zu einer ordentlichen Bezahlung bei steuerlicher Gleichstellung mit den Normalbürgern bringen sollte, ins Stocken geraten. Daraufhin startete der Bund der Steuerzahler NRW im Januar 2005 eine Volksinitiative für diese Reform und überreichte knapp acht Wochen später dem Landtagspräsidenten 75 Tsd. Unterschriften, genug, um das Parlament zu einer Befassung mit dieser Initiative zu verpflichten. Es war unter anderem dieser Druck, der die Fraktionen des Landtags dazu brachte, das Reformwerk wieder anzupacken und noch vor dem Ablauf der Legislaturperiode zu verabschieden70. (2) Die eigentlichen Volksgesetze Die zweite Gruppe bilden die authentischen Volksgesetze, die also gegen den hartnäckigen Widerstand der Parlamente per Volksentscheid durchgesetzt wurden. Es sind bislang sechs an der Zahl. Das erste Volksgesetz führte 1995 in Bayern Bürgerbegehren und Bürgerentscheid ein71. Drei weitere folgten 1998: In Bayern wurde die Zweite Kammer – der Senat – abgeschafft72, in den Hamburger Bezirken wurden Bürgerbegehren und Bürgerentscheid eingeführt73, und in Schleswig-Holstein verwarf das Volk die so genannte Rechtschreibreform74. 2002 wurde in Sachsen ein Gesetz zur Erhaltung der kommunal verankerten Sparkassen75 und 2004 in Hamburg ein neues Wahlrecht mit mehr Bürgerrechten vom Volk verabschiedet76. Allen Volksgesetzen lagen jeweils Causes célèbres zugrunde, die zumeist gut untersucht sind77. Dass zwei dieser sechs Volksgesetze von den jeweiligen Par70

Vgl. Gerlindt Schaidt: Einstimmigkeit bei den Diäten, in: Das Parlament Nr. 8 v. 21.2.2005; Privilegien der Abgeordneten abgeschafft! http://www.steuerzahlernrw.de/index.asp?id=805&action=print (Zugriff 22.11.2007); Thorsten Sterk: Diäten und Demokratie, http://nrw.mehr-demokratie.de/1298.html?&tx_ttnews[tt_news]= 1333&tx_ttnews[backPid]=924&cHash=3f38bb0bba (Zugriff 22.11.2007); skeptisch Rux (Fn. 37), S. 886 f. 71 Vgl. Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids v. 27.10.1995, BayGVBl. S. 730. 72 Vgl. Gesetz zur Abschaffung des Bayerischen Senates v. 20.2.1998, BayGVBl. S. 42. 73 Vgl. Gesetz zur Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid v. 6.10.1998, HmbGVBl. S. 207. 74 Vgl. Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes v. 10.12.1998, SchlHGVOBl. S. 366. 75 Vgl. Gesetz zur Erhaltung der kommunal verankerten Sparkassen im Freistaat Sachsen v. 6.2.2002, SächsGVBl. S. 70. 76 Vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahl zur hamburgischen Bürgerschaft, des Gesetzes über die Wahl zu den Bezirksversammlungen, des Bezirksverwaltungsgesetzes und des Hamburgischen Meldegesetzes v. 5.7.2004, HmbGVBl. I S. 313.

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lamenten inzwischen wieder kassiert bzw. in den entscheidenden Punkten geändert wurden, gehört zu den auffälligsten der unten zu behandelnden Rückschritte. (3) Nachwirkungsfälle Die dritte Gruppe stellen jene Fälle dar, in denen ein Volksgesetzgebungsprojekt auf irgendeiner Stufe des Verfahrens scheiterte und gleichwohl der aufgebaute politische Druck so stark war, dass – Zeichen von Responsivität – das repräsentativ-demokratische System das Anliegen aufgriff und in einer Reform im Sinne der Initiatoren, wenn auch natürlich nicht zu deren völliger Zufriedenheit, umsetzte (Nachwirkung). So ist die Reform der Volksgesetzgebung in Hamburg 2001 nicht zu verstehen ohne den Druck des einschlägigen Volksentscheids von 1998, der zwar mit einer Zustimmung von „nur“ 45,50 Prozent der Stimmberechtigten das erforderliche 50-Prozent-Quorum verfehlte, aber die große Unterstützung unter den Bürgerinnen und Bürgern für eine solche Reform überhaupt ebenso deutlich machte wie die klare Präferenz für den weitergehenden Gesetzentwurf von Mehr Demokratie gegenüber der konkurrierenden Kompromissvorlage der Bürgerschaftsmehrheit (für die nur 35,48 Prozent der Stimmberechtigten votierten)78. 77 Vgl. Otmar Jung: Der Volksentscheid über die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids in Bayern am 1. Oktober 1995, in: JzStVWiss 9 (1996), S. 191–272. – Zur Abschaffung des Senats siehe die Literaturhinweise bei Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 38, 48; Rux (Fn. 37), S. 360 f. – Michael Efler: Der Kampf um Mehr Demokratie in Hamburg, in: Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen. Volksbegehren und Volksentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge, München 1999, S. 205–222; auch in: Hans Peter Bull (Hrsg.): Fünf Jahre direkte Bürgerbeteiligung in Hamburg – unter Berücksichtigung von Berlin und Bremen, Hamburg 2001, S. 77–87. – Brigitte Kliegis/Ulrich G. Kliegis: Der Volksentscheid über die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 1998, in: Heußner/Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen, 1999, S. 287–306; Rux (Fn. 37), S. 487 ff. – Zu Sachsen siehe Mehr Demokratie e.V.: Volksbegehrens-Bericht 2001. Bilanz und Perspektiven der direkten Demokratie in Deutschland [15. Januar 2002], http://www.mehr-demo kratie.de/fileadmin/md/pdf/volksentscheid/volksbegehrensberichte/vb-bericht2001.pdf (Zugriff 6.10.2007), S. 2, 6, 16 f.; Mehr Demokratie e.V.: Volksbegehrens-Bericht 2002 (Fn. 54), S. 4 f., und die Literaturhinweise bei Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 39; Rux (Fn. 37), S. 585 ff. – Für die Wahlrechtsreform in Hamburg vgl. Manfred Brandt/Angelika Gardiner/Alexander Slonka/Paul Tiefenbach: Bessere Wahlrechte durch direkte Demokratie? In: Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge, München 2. völlig überarbeitete Aufl. 2009, S. 345–365 (346–354).

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Ähnlich verliefen die Dinge in Thüringen, wo es zwar nicht zum Volksentscheid kam, weil der Verfassungsgerichtshof das bereits zustande gekommene Volksbegehren „Mehr Demokratie in Thüringen“ nachträglich für unzulässig erklärte; aber der enorme Zuspruch von 363.123 Bürgerinnen und Bürgern gleich 18,3 Prozent der Stimmberechtigten im Jahre 200079 wurde von Regierung und Parlament ebenfalls positiv verarbeitet. Auch hier stand am Ende der parlamentarischen Reform – dreieinhalb Jahre nach dem Volksbegehren – natürlich nicht das seinerzeit von den Initiatoren begehrte Volksgesetz, aber eine deutlich verbesserte Regelung, mit der das Parlament große Schritte in die von der Bevölkerung so deutlich gewünschte Richtung tat (etwa eine Senkung der Hürde beim Volksbegehren von 14 auf 8 bzw. 10 Prozent)80. In Nordrhein-Westfalen hatten die Initiatoren des Volksbegehrens „Mehr Demokratie in Nordrhein-Westfalen. Faire Volksentscheide in die Verfassung!“ nach der Nichtzulassung ihres Projekts bereits eine Reihe von Gutachten eingeholt, um sich für den Prozess vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster zu rüsten. Dann änderte sich die politische Situation im Lande: Die bei der Landtagswahl bestätigte Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen nahm im Juni 2000 ein entsprechendes Vorhaben („Mehr direkte Demokratie – Hürden für Volksbegehren deutlich senken“) in ihre Koalitionsvereinbarung auf. Die Initiatoren nahmen also ihre Beschwerde zurück81. Die oben erwähnte Reform von 2002 brachte die Sache der direkten Demokratie in Nordrhein-Westfalen dann deutlich voran82. Wieder anders verlief der politische Prozess in Berlin. Die dortige Reform der direkten Demokratie 2006 ist nicht ohne das Urteil des Verfas78 Efler: Der Kampf um Mehr Demokratie in Hamburg, in: Bull (Hrsg.): Fünf Jahre direkte Bürgerbeteiligung (Fn. 77), S. 85 ff.; Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 336; Rux (Fn. 37), S. 799 f. 79 Einen noch höheren Eintragungssatz erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg auf Landesebene nur das Koop-Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen 1978 mit 29,8 Prozent der Stimmberechtigten – freilich unter verschiedenen Gesichtspunkten ein Ausnahmefall – und (um eine Dezimale) das Volksbegehren zur Änderung der Volksgesetzgebung in Hamburg 1998. 80 Diesen Fall eines „erfolgreichen Scheiterns“ analysiert Michael Edinger: Die Herausforderung der repräsentativen Demokratie in Thüringen. Hintergründe, Verlauf und Wirkungen der Kontroverse um das Volksbegehren, in: Karl Schmitt (Hrsg.): Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, Baden-Baden 2003 (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) Bd. 20), S. 121–156; skeptisch Rux (Fn. 37), S. 696 f. 81 Vgl. Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 50. 82 Vgl. Mehr Demokratie e.V.: Volksbegehrens-Bericht 2002 (Fn. 54), S. 5; Rux (Fn. 37), S. 870 ff.

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sungsgerichtshofs vom Vorjahr zu verstehen, mit dem die Unzulässigkeit des Volksbegehrens „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal“ endgültig festgestellt wurde83. Es war dies die erste Entscheidung des Gerichtshofs zu der Finanzausschlussklausel der Verfassung, die darin vorgenommene Auslegung war – knapp gesagt – konventionell, aber das Urteil schuf in bemerkenswerter Weise keinen Rechtsfrieden, sondern löste umgehend Bestrebungen zur Reform der entscheidungsmaßgeblichen Norm aus. Ebenso reagierte ein Teil der Politik, als der Saarländische Verfassungsgerichtshof 2006 zum Finanztabu der Landesverfassung entschied: Das Verbot „finanzwirksamer“ Gesetze entziehe „alle Regelungen dem Plebiszit, deren materielle Umsetzung finanzielle Folgen hat. Ob solche Folgen vorliegen, hängt nicht von ihrer absoluten oder relativen Höhe ab und ist unabhängig von ihrer Relevanz für den Haushaltsausgleich“. Das Verbot umfasse alle Gesetze, „deren materielle Umsetzung den Haushalt, wie minimal auch immer, be- oder entlasten kann“84. Dieses methodisch korrekt begründete, aber politisch als hart empfundene Urteil wurde zum Katalysator der ein Jahr später in Gang gekommenen parlamentarischen Initiativen aller Oppositionsparteien zur Reform der direkten Demokratie im Saarland85. Der Wille, dass das Finanztabu in der vom Verfassungsgerichtshof gerade gegebenen Auslegung künftig nicht mehr die direkte Demokratie im Land lahmlegen solle, war evident86. (4) Was ist mit den anderen Fällen? Direktdemokratische Instrumente hatten also in allen Stadien des Verfahrens und insgesamt bemerkenswert oft Erfolg bzw. erzielten Teilerfolge. Gleichwohl steht außer Frage, dass sehr viele Vorhaben auch keinen Erfolg hatten, zumeist jene, die schon in den Anfängen steckenblieben. Aber auch diese Fälle lohnen ein genaueres Zusehen. Als Beispiel sei das Volksbegehren in Rheinland-Pfalz 1998 zur „Wiedereinführung des Buß- und Bettages als gesetzlicher Feiertag“ vorgeführt, das im Windschatten der entsprechenden großen Kampagne in Schleswig-Holstein 1995 bis 199787 näher unter83 BerlVerfGH, Urteil v. 22.11.2005, LVerfGE 16, 41–80. – Vgl. auch Rehmet: Volksbegehrensbericht 2005 (Fn. 41), S. 24 f. 84 SaarlVerfGH, Urt. v. 23.1.2006, http://www.verfassungsgerichtshof-saar land.de/verfghsaar/dboutput.php?id=134 (Zugriff 20.7.2007). 85 Vgl. Rehmet: Volksbegehrensbericht 2005 (Fn. 41), S. 16, 29. 86 Vgl. Jung: Die Reform der direkten Demokratie im Saarland (Fn. 7), S. 94. 87 Vgl. Andreas Schimmer: „Ihre Stimme für den Bußtag, weil Feiertage unbezahlbar sind“ – Der Kampf der Nordelbischen Kirche für die Erhaltung des Bußund Bettages, in: Heußner/Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen (Fn. 77), S. 269–286.

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sucht wurde88. Nach juristischen Kriterien und nach den Maßstäben der Machtpolitik ist dieser Fall kurz abgemacht: Das zugelassene Volksbegehren erzielte 6,17 Prozent gültige Eintragungen89 und kam damit – damals galt in Rheinland-Pfalz noch die 20-Prozent-Hürde – nicht zustande. Die angestrebte Wiedereinführung des Buß- und Bettages als gesetzlicher Feiertag blieb unerreichbar. Aber das ist nur die Output-Seite. Betrachtet man den Input, könnte man den Vorgang – etwas salopp – als ein „Massen-Praxisseminar in direkter Demokratie“ charakterisieren. • Den politisch Interessierten in ganz Rheinland-Pfalz wurde vermittelt: Es gibt ein solches Verfahren, um sich gegen Zumutungen des repräsentativdemokratischen Systems zu wehren. Die seit 1947 in der Verfassung enthaltene Volksgesetzgebung, die 51 Jahre lang toter Buchstabe gewesen war, erschien plötzlich als ein potentielles politisches Machtinstrument. • Eine kleine christliche Gruppe aus dem Westerwald probierte die ersten Schritte aus und hatte mit der Zulassung ihres Volksbegehrens alsbald ein Erfolgserlebnis: „Es geht.“ • Gleichzeitig machten die Initiatoren und ihre Helfer eine Kampagnen-Erfahrung: Wie man sie „aufziehen“ muss, wie man medial vorzugehen hat, welche finanziellen und sonstigen Mittel benötigt werden usw. • Das in nur 14 Tagen erzielte Ergebnis war bemerkenswert gut: Mit 6,17 Prozent der Stimmberechtigten trug sich fast der gleiche Prozentsatz ein wie zwei Jahre zuvor in Schleswig-Holstein (6,48 Prozent), und das unter wesentlich schwierigeren Bedingungen: In Schleswig-Holstein hatte die Eintragungszeit sechs Monate betragen, die Konfessionsstruktur des Landes war für dieses stark konfessionell geprägte Anliegen günstiger und mit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche hatte ein Akteur mit ganz anderen Ressourcen die Kampagne getragen. • Während in Schleswig-Holstein die genannte Eintragungszahl beim Volksbegehren wegen der dort geltenden 5-Prozent-Hürde genügt und das Anliegen bis zum Volksentscheid vom 30. November 1997 gebracht hatte (bei dem es freilich „unecht“ scheiterte, weil das 25prozentige Zustimmungsquorum nicht erreicht wurde), reichte fast die gleiche Mobilisierung in Rheinland-Pfalz nicht aus: Die 20-Prozent-Hürde beim Volksbegehren erwies sich als nahezu unüberwindliche Mauer. Die Initiatoren 88

Vgl. a. a. O., S. 286; Jung: Bürgerbeteiligung (Fn. 48), S. 9 ff. Vgl. Bek. des Landeswahlausschusses v. 9.12.1998: Ergebnis des Volksbegehrens „Wiedereinführung des Buß- und Bettages als gesetzlicher Feiertag“, in: StAnz. für Rheinland-Pfalz S. 2028, faksimiliert bei Jung: Bürgerbeteiligung (Fn. 48), S. 10. 89

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und ihre Helfer empfanden freilich mit Recht, dass sie eigentlich nicht an mangelnder politischer Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger gescheitert waren, sondern dass ein unfaires Verfahren mit überzogenen Anforderungen ihnen keine wirkliche Chance gegeben hatte. • Die meisten dieser politischen Einsichten gewannen aber nicht nur die Initiatoren und ihre Helfer, sondern auch die immerhin – in absoluter Zahl – 184.298 Bürgerinnen und Bürger, die sich für das Volksbegehren eingetragen hatten und darüber hinaus auch zahlreiche andere Menschen in Rheinland-Pfalz, welche die Kampagne in dieser oder jener Weise miterlebten, ohne sich zur Eintragung zu entschließen – eine freilich naturgemäß nicht bestimmbare Zahl. dd) Referenden Direkte Demokratie ist mehr als Volksgesetzgebung. Im Berichtszeitraum fanden auch insgesamt 16 Referenden statt: vier zur Verabschiedung neuer Verfassungen (Brandenburg 1992, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen 1994 sowie Berlin 1995), zwei über eine Länderfusion (Berlin und Brandenburg 1996) und zehn obligatorische Verfassungs(änderungs-)referenden (Bremen 1994, Hessen 1995 und 200290, Bayern 1998 und 200391 sowie Berlin 2006). Hier seien nur zwei Referenden näher beleuchtet: Beim Volksentscheid über die Verfassung des Freistaates Thüringen 1994 lauteten 70,1 Prozent der abgegebenen gütigen Stimmen auf „Ja“, was mehr als der Hälfte der Stimmberechtigten (50,46 Prozent) entsprach. Diese Legitimationsquote war eine Sensation; die thüringische Verfassung ist die einzige deutsche Landesverfassung, der dies bisher gelang. Kräftig Hilfestellung gaben dabei der „Huckepack“-Effekt der gleichzeitig stattfindenden Landtags- und Bundestagswahlen sowie der Umstand, dass die Verfassung im Parlament mit relativ breiter Mehrheit angenommen worden war92. – So schön dieser Erfolg verfassungspolitisch war, wirft er doch gleichzeitig ein helles Licht auf das 50prozentige Zustimmungsquorum zum Abschluss der verfassungsändernden Volksgesetzgebung: Angesichts der selbstverständlichen Abwehrpropaganda der Regierung und zumindest eines Teils des Parlaments und womöglich, wenn die Regierung das Timing geschickt handhabt, zu einem isolierten Termin ist diese Quorenhürde nicht zu überwinden93. Der unten 90

Hierbei fanden drei getrennte Abstimmungen statt. 1998 und 2003 fanden je zwei getrennte Abstimmungen statt. – Auf diese Referenden ist noch unten unter „Rückschritten“ einzugehen. 92 Vgl. Otmar Jung: Abschluss und Bilanz der jüngsten plebiszitären Entwicklung in Deutschland auf Landesebene, in: JöR 48 (2000), S. 39–85 (56 ff.). 91

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näher behandelte Fall des jüngsten Volksentscheids in Hamburg am 14. Oktober 2007 ist ein schlagendes Beispiel. Der andere Fall: 1995 verwarf das Volk in Hessen – erstmals in der Geschichte der direkten Demokratie in Deutschland – beim Referendum den Parlamentsvorschlag, hier: das Wählbarkeitsalter zu senken. In den vorangegangenen Volksabstimmungen in Hessen hatten die Bürger die Entscheidungen der Volksvertretung „abgesegnet“, ebenso in Bayern. Diese Erfahrungen hatten Autoren schon dazu geführt, dem obligatorischen Verfassungsreferendum mehr Bestätigungs- als „echten Entscheidungscharakter“ zuzusprechen. Nun zeigten sich ganz neue Konfliktlinien: Trotz Einstimmigkeit der Parteien im Landtag wandte sich jetzt die Basis gegen diese Reform. Dass eine von der gesamten Volksvertretung gebilligte Vorlage von den Vertretenen fast mit Zweidrittel-Mehrheit abgelehnt wurde, mag als Protest-Votum erscheinen, man sollte darin aber auch ein Stück „Emanzipation der Stimmbürger“ erkennen94. b) Kommunalebene aa) Normative Situation: Flächendeckung – Übergang zur Revisionsphase Hier verlief die Entwicklung grundsätzlich entsprechend. Über drei Jahrzehnte fand das baden-württembergische Beispiel keine Nachahmung. Dann löste abermals – wie bei der Volksgesetzgebung – Schleswig-Holstein 1990 geradezu einen partizipatorischen Schub aus. 1992 zogen Hessen, 1993 Rheinland-Pfalz und 1994 Nordrhein-Westfalen sowie Bremen nach. 1993/94 nahmen auch die fünf ostdeutschen Länder Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in ihre neuen Kommunalverfassungen auf. 1995 setzte in Bayern der Souverän selbst per Volksgesetzgebung den kommunalen Bürgerentscheid durch. Nachdem auch Niedersachsen und zuletzt 1997 das Saarland aufgeschlossen hatten, hatte sich auch auf Kommunalebene die direkte Demokratie – innerhalb von nur sieben Jahren – flächendeckend etabliert95. Die Stadtstaaten Hamburg (1998)96 und Berlin (2005)97 – Einheitsgemeinden mit Bezirken – bildeten die Nachzügler. 93 Vgl. Otmar Jung: Das Quorenproblem beim Volksentscheid. Legitimität und Effizienz beim Abschluss des Verfahrens der Volksgesetzgebung, in: ZPol 9 (1999), S. 863–898 (891 ff.). 94 Vgl. Jung: Regieren (Fn. 55) S. 178. 95 Vgl. Jung: Siegeszug (Fn. 1), S. 107 f. 96 Gesetz zur Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid v. 6.10.1998, HmbGVBl. S. 207.

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Auch auf dieser Ebene hat inzwischen die Revisionsphase begonnen, in der nach – Baden-Württemberg à part – vier bis zwölf Jahren praktischer Erfahrungen die Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid reformiert bzw. justiert werden sollen. So wurde das Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid von 30 auf 25 Prozent herabgesetzt in Sachsen-Anhalt 199798 und 2005 in Baden-Württemberg99; desgleichen von 25 auf 20 Prozent 2000 in Nordrhein-Westfalen100 und 2002 in Schleswig-Holstein101 und von 25 auf immerhin 20 bis 25 Prozent im selben Jahr in Thüringen102. Eine weitere Reform steht seit 2007 in Sachsen an. Selbstverständlich ist das Zustimmungsquorum beim Bürgerentscheid nur ein Indikator. Verbesserungen des Verfahrens sind an einer ganzen Reihe von „Stellschrauben“ möglich und wurden auch beschlossen bzw. werden debattiert: eine Hürdensenkung beim Bürgerbegehren, die Befreiung von „Reglementierungen“ wie dem Kostendeckungsvorschlag, der Befristung kassatorischer Bürgerbegehren und der Wiederholungssperre, die Verbesserung der Bindungswirkung und die Verankerung des Prinzips der Chancengleichheit, um nur die wichtigsten zu nennen103. Die Reform der kommunalen Direktdemokratie in Bayern 1999 hatte eine andere Genese: Hier ging es nicht darum, die 1995 durch ein Volksgesetz eingeführten Regeln politisch zu reformieren oder zu justieren, sondern der Landtag vollzog lediglich die verfassungsgerichtliche Korrektur (1997) jenes Regelwerks nach104. 97

Fünftes Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin v. 28.6.2005, GVBl. S. 346. 98 Vgl. Art. 1 Nr. 11 d) Kommunalrechtsänderungsgesetz v. 31.7.1997, GVBl. S. 721 (§ 26 Abs. 4 Satz 1 GO n. F.). 99 Vgl. Art. 1 Nr. 4 c) Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften v. 28.7.2005, GBl. S. 578 (§ 21 Abs. 6 Satz 1 GO n. F.). 100 Vgl. Art. 1 Nr. 2 c) Gesetz zur weiteren Stärkung der Bürgerbeteiligung in den Kommunen v. 28.3.2000, GVBl. S. 245 (§ 26 Abs. 7 GO n. F.). 101 Vgl. Art. 1 Nr. 10 e) Gesetz zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung v. 25.6.2002, SchlHGVOBl. S. 126 (§ 16g Abs. 7 Satz 1 GO n. F.). 102 Vgl. Art. 1 Nr. 9 Gesetz zur Änderung der Thüringer Kommunalordnung und anderer Gesetze v. 18.12.2002, GVBl. S. 467 (§ 17 Abs. 7 Satz 4 ThürKO). 103 Vgl. Otmar Jung: Welche Änderungen empfehlen sich beim Verfahren für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Freistaat Sachsen? Kritische Bemerkungen zu den Reformvorschlägen zweier Oppositionsfraktionen, in: SächsVBl. 15 (2007), S. 173–182; speziell Christian Wefelmeier: Der Kostendeckungsvorschlag – eine (zu) hohe Hürde für das Bürgerbegehren, in: Gilbert H. Gornig/Urs Kramer/Uwe Volksmann (Hrsg.): Staat – Wirtschaft – Gemeinde. Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag, Berlin 2007 (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 1069), S. 705–728.

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bb) Praxis: Die direktdemokratischen Instrumente werden rege genutzt Auch auf der Kommunalebene gibt es beeindruckende Zahlen. Der in Kooperation mit der „Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie“ erstellte „Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007“ von Mehr Demokratie e.V. zählt 3.721 Bürgerbegehren, die im Zeitraum von 1956 bis 2007 eingeleitet wurden; diese führten zu 1.518 Bürgerentscheiden105. Dieses Bild ändert sich freilich, wenn man die Verteilung der Verfahren auf die Bundesländer betrachtet: Zwei von fünf Bürgerbegehren wurden in Bayern eingeleitet (39,56 Prozent); die Einführung des Bürgerentscheids 1995 durch Volksgesetz hat offenbar die politische Kultur der Kommunen des Freistaats verändert. Lediglich Nordrhein-Westfalen (12,71 Prozent) und Baden-Württemberg (10,27 Prozent) weisen noch einen zweistelligen Anteil auf, nur Hessen und Schleswig-Holstein kommen auf einen Anteil über 5 Prozent; die anderen elf Bundesländer liegen darunter106. Die Intensität der Nutzung der direktdemokratischen Instrumente auf Kommunalebene ist also extrem unterschiedlich. Das Anschwellen im Lauf der letzten 15 Jahre (genau: seit 1990) ist – alle Bundesländern zusammengerechnet – auch hier massiv; allerdings verläuft die Bewegung nicht linear, sondern beschreibt eine Kurve: Nach einem rasanten Anstieg (87 Fälle 1994, 220 Fälle 1995, 470 Fälle 1996) schwingt die Linie wieder ab (226 Fälle 2000), steigt erneut an (319 Fälle 2005) und neigt sich abermals (266 Fälle 2007)107. Ferner sind die Fälle in 104

Gesetz zur Änderung der Gemeindeordnung und der Landkreisordnung v. 26.3.1999, GVBl. S. 86. – Vgl. Christian Pestalozza: Aus dem Bayerischen Verfassungsleben 1989 bis 2002, in: JöR 51 (2003), S. 121–192 (123 ff.). 105 Vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 von Mehr Demokratie e.V. [Frank Rehmet/Volker Mittendorf], erstellt in Kooperation mit der Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie, Universität Marburg, Berlin Marburg 2008, S. 12, 26. – Die Zahl der Bürgerbegehren ist insofern eine Mindestzahl, als der Bericht noch 155 Verfahren unbekannter Einleitungsart erwähnt. Das gleiche gilt für die Zahl der Bürgerentscheide, da der Bericht auch 74 Abstimmungen unbekannten Verfahrenstyps nennt. 106 Vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 12 und eigene Berechnung. 107 Vgl. http://cgi-host.uni-marburg.de/~mittendv/fsportal/modules.php?op=mod load&name=BBDB&file=index (Zugriff 9.10.2007) („Einleitungsjahre und Erfolgsmuster“). Für 2007 nach http://www.mehr-demokratie.de/bb-datenbank.html?& tx_mddbbbview_pi1[jahr]=2007&tx_mddbbbview_pi1[single]=&tx_mddbbbview_pi1 [start]=256 (Zugriff 1.4.2008). Der Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 19, 35 unterscheidet hier nicht zwischen Bürgerbegehren und so genannten Ratsreferenden. – Häfners Formulierung, seit 1989 habe sich eine erstaunlich rege Praxis entwickelt und Jahr für Jahr fänden, „alles zusammengenommen,

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jenem Bürgerbegehrens-Bericht aufgeschlüsselt nach der Themenstruktur der Begehren und der Einleitungshäufigkeit nach Gemeindegrößenklassen. Für das Hauptland der kommunalen Direktdemokratie – Bayern – liegen noch viel detailliertere Aufstellungen und Analysen vor, zuletzt der von Mehr Demokratie herausgegebene „Zehn-Jahresbericht bayerischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide“ (2005). Auch dort lässt sich die beschriebene Kurve beobachten108. In den ersten zehn Jahren verzeichnete man im Freistaat 1.160 Bürgerbegehren und 624 Bürgerentscheide109. Bis Ende 2007 waren es 1.472 Bürgerbegehren und 968 Bürgerentscheide110. cc) Die direktdemokratischen Instrumente haben oft Erfolg Nach den addierten Länderzahlen hatten die Verfahren folgenden Ausgang: In jeweils einem knappen Viertel der Fälle endete das Verfahren alsbald wegen Unzulässigkeit (1.039 Fälle) oder aber setzten sich Initiatoren beim Bürgerentscheid mit ihrem Anliegen durch (1.134 Fälle von 4.203 insgesamt). In der anderen Hälfte der Fälle wurden die Begehren nicht eingereicht (327), das Anliegen des Bürgerbegehrens wurde vom Rat übernommen (514), man fand einen Kompromiss (110), oder aber das Anliegen wurde beim Bürgerentscheid an den Urnen mehrheitlich abgelehnt (686) bzw. scheiterte „unecht“, weil das Quorum verfehlt wurde (293)111. Wenn man die Ausgänge der Übernahme des Anliegens eines Bürgerbegehrens durch den Rat und der Durchsetzung des „von unten“ vorgeschlagenen Projekts beim Bürgerentscheid als Erfolgsvarianten addiert (1.684 Fälle), so ergibt sich, dass in 39,2 Prozent – also in zwei von fünf Fällen – das Anliegen des Bürgerbegehrens in der einen oder anderen Weise einen vollen Erca. 200 Bürgerbegehren in Deutschland statt“ (vgl. Gerald Häfner: Erfahrungen, Stand und Perspektiven der direkten Demokratie in Deutschland und Österreich, in: Jos Verhulst/Arjen Nijeboer: Direkte Demokratie. Fakten, Argumente, Erfahrungen. Mit einem Beitrag von Gerald Häfner, Brüssel 2007, S. 94–115 (111)), ist nicht falsch, aber erfasst die Dynamik der Entwicklung nur unzureichend. In den 19 Jahren von 1989 bis 2007 ergibt sich in der Tat ein Durchschnitt von 215 Bürgerbegehren pro Jahr, aber im 15-Jahres-Zeitraum 1993–2007 steigt dieser schon auf 264 an und in den letzten 13 Jahren von 1995 bis 2007 sogar auf 292 Bürgerbegehren pro Jahr, ebenda (eigene Berechnung). 108 Vgl. Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.): Zehn-Jahresbericht bayerischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, München 2005, S. 8 (Abbildung 2). 109 Vgl. Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.): Zehn-Jahresbericht (Fn. 108), S. 7. 110 Vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 12, Bürgerentscheide einschließlich der „von oben“ angeordneten Gemeindereferenden. 111 Vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 22, Bürgerentscheide einschließlich der „von oben“ angeordneten Gemeindereferenden.. – Hinzu kommen 384 offene bzw. unbekannte Ausgänge.

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folg hatte112 – noch ohne Teilerfolge durch Kompromisslösungen. In den einzelnen Ländern weichen die Ergebnisse z. T. erheblich ab. So liegt die Quote unzulässiger Bürgerbegehren etwa in Nordrhein-Westfalen bei 35,1 Prozent113, und in Niedersachsen sind sogar 44,1 Prozent aller Bürgerbegehren unzulässig114. Betrachtet man nur die letzte Verfahrensetappe des Bürgerentscheids, so stehen den 727 Fällen, in denen sich die Initiatoren durchsetzten, 497 Fälle gegenüber, in denen eine Mehrheit ihr Anliegen ablehnte; zusätzlich scheiterten sie in 257 Fällen „unecht“. Aber immerhin gewannen die Initiatoren in 52 Prozent der Abstimmungen. In Bayern liegt die Erfolgsquote der Initiatoren beim Bürgerentscheid im Zehn-Jahres-Zeitraum 1995–2005 deutlich niedriger. Dort wurde bei der Abstimmung die Position der Gemeinderatsmehrheit in 45 Prozent der Fälle abgelehnt, hingegen in 49 Prozent der Fälle bestätigt115. Der Erfolg der direktdemokratischen Instrumente ist aber nicht nur quantitativ-statistisch nachweisbar, er lässt sich auch qualitativ-politisch zeigen. Ein schönes Beispiel dafür war die Tagung, welche die CSU-nahe HannsSeidel-Stiftung und Mehr Demokratie gemeinsam am 5. Oktober 2005 zum Thema „10 Jahre Bürgerentscheide in Bayern“ veranstalteten116. Zehn Jahre und vier Tage nach jenem denkwürdigen Volksentscheid, der das erste Volksgesetz in Bayern – und in Deutschland überhaupt – beschloss, hielt nun der – auch damals schon amtierende – Bayerische Staatsminister des Innern, Günther Beckstein eine Rede, in der er u. a. ausführte: „Die 10 Jahre Bürgerentscheid haben jedenfalls nicht bedeutet, dass es irgendwo zu Stillstand und besonderen Schwierigkeiten gekommen ist. Die Befürchtungen, die an vielen Orten geäußert wurden, haben sich jedenfalls nicht 112

Vgl. a. a. O., S. 22 f. – Oscar W. Gabriel/Melanie Walter-Rogg: Bürgerbegehren und Bürgerentscheide – Folgen für den kommunalpolitischen Entscheidungsprozess, in: DfK 45 (2006), II, S. 39–56 (45), nennen dies mit Recht „eine relativ hohe Erfolgsquote“. – Die Fallzahlen sind bei der kommunalen Direktdemokratie groß genug, um mit Prozentzahlen zu arbeiten. 113 166 unzulässige Bürgerbegehren von 473 Fällen insgesamt, vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 24. 114 75 unzulässige Bürgerbegehren von 170 Fällen insgesamt, vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 24. – Der Zehn-Jahres-Bericht „Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Niedersachsen“ (Stand: 11.3.2007), http://www. bremen-nds.mehr-demokratie.de/fileadmin/md-bremen/HB-NDS/pdf/10_Jahre_BENDS.pdf (Zugriff 10.10.2007), errechnete eine Unzulässigkeitsquote von 42,5 Prozent (62 Bürgerbegehren von 146 Fällen insgesamt). 115 Vgl. Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 26; Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.): Zehn-Jahresbericht (Fn. 108), S. 12. 116 Vgl. den Bericht von Susanne Wenisch: 10 Jahre . . . Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bayern, in: mehr demokratie. ZfDD 17 (2006), H. 1 [Nr. 69], S. 33.

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bewahrheitet. Die anfängliche Skepsis des politischen Spektrums ist verflogen. Die Mehrheit der Kommunalpolitiker in unserem Land ist zu einer positiven und unterstützenden Haltung gelangt. . . . Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben dazu beigetragen, die Bürgergesellschaft zu stärken, eine neue politische Kultur in den Gemeinden aufzubauen und zahlreiche Chancen auch für die Politiker und Mandatsträger zu eröffnen. Das befürchtete Chaos ist nicht eingetreten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben vielmehr zu einer näher am Bürger orientierten Kommunalpolitik geführt. Die Mandatsträger müssen umstrittene Projekte vor der Öffentlichkeit nachhaltiger vertreten. Die dadurch entstehende Notwendigkeit, klare Positionen zu beziehen und für die eigenen Ideen verstärkt zu werben, fördert die Demokratie.“ Beckstein schloss: „Und darum lassen Sie mich abschließend ein ganz herzliches Dankeschön an ‚Mehr Demokratie‘ sagen, die uns im Jahre 1995 ‚zu unserem Glück gezwungen‘ hat. Im Nachhinein ist es eine Regelung, die ich im Positiven als Erweiterung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger und damit als eine Verbesserung der kommunalen Selbstverwaltung ansehe. Auch für die Bereitschaft für einen offenen und fairen Dialog ein herzliches Wort des Dankes! Wir sind auch in der Zukunft zu diesem Dialog bereit!“117 Diese Worte des späteren Bayerischen Ministerpräsidenten stimmen jeden, der sich noch an die damaligen Auseinandersetzungen erinnert, hoffnungsvoll. Ähnlich erfuhr der Landesverband Mehr Demokratie in Baden-Württemberg zu seinem 10jährigen Bestehen Anerkennung durch Innenminister Heribert Rech (CDU) als Festredner: Kommunen und Land hätten „mit Bürgerbegehren und Volksbegehren, mit Bürgerentscheiden und Volksentscheiden insgesamt gute Erfahrungen gemacht. Diese Formen der direkten Demokratie haben nicht etwa dem Populismus Tür und Tor geöffnet, sondern sind Zeichen von solidem demokratischen Engagement. . . . Der Verein Mehr Demokratie sei ein wichtiger Impulsgeber für mehr Bürgerbeteiligung und habe seit seiner Gründung die politische Grundsatzdebatte positiv belebt und den unterschiedlichsten Anliegen immer wieder ideenreich und sachkundig eine mächtige Stimme verliehen.“ Er „danke dem Verein für die faire und konstruktive Zusammenarbeit der Vergangenheit und für den wichtigen Beitrag zur Stärkung der direktdemokratischen Gestaltungsmöglichkeiten in unseren Gemeinde[n]“118. 117 Abgedruckt in: mehr demokratie. ZfDD 17 (2006), H. 1 [Nr. 69], S. 9–15 (Zitate S. 9, 14, 15). 118 http://www.innenministerium.baden-wuerttemberg.de/de/Meldungen/177757. html?referer=83357&template=min_meldung_html&_min=_im (Zugriff 28.11.2007); vgl. Pressemitteilung „10 Jahre Landesverband Mehr Demokratie in Baden-Württemberg“, http://www.mitentscheiden.de/2114.html?&tx_ttnews[tt_news]=1347&tx_ ttnews[backPid]=2165&cHash=0caa92b378 (Zugriff 28.11.2007).

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dd) Gemeindereferenden Auf der Kommunalebene spielen die „von oben“ ausgelösten Abstimmungen eine bedeutende Rolle. In Sachsen-Anhalt und in Sachsen sind etwa die Hälfte der Abstimmungen solche Gemeindereferenden119, in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg wurden sogar weit mehr Referenden als Bürgerentscheide nach Bürgerbegehren durchgeführt, wobei in diesen vier Ländern allerdings das Thema „Gebietsreform“ für eine gewisse Verzerrung sorgte120. Ein Fünftel der Fälle – so in Schleswig-Holstein – bis ein Drittel – so in Baden-Württemberg – sind wohl „normalere“ Werte121. In Bayern fanden in den ersten zehn Jahren 624 Bürgerentscheide nach Bürgerbegehren statt und zusätzlich 211 Gemeindereferenden122, d.s. ein Viertel der Abstimmungen überhaupt. c) Bundesebene: Das rot-grüne Projekt 1998–2005 aa) 14. Legislaturperiode 1998–2002 (1) Sachverhalt Die beeindruckenden Fortschritte auf Landes- und Kommunalebene schienen ihre Krönung zu erreichen, als SPD und Bündnis 90/Grüne in ihren Koalitionsvertrag vom Herbst 1998 das Vorhaben aufnahmen, „auch auf 119

Diese Gemeindereferenden werden oft unglücklich „Ratsbegehren“ genannt (vgl. Jung: Welche Änderungen empfehlen sich (Fn. 103), S. 179 (Fn. 57); Schiller hat, wenngleich aus anderen Überlegungen, diese Bezeichnung inzwischen aufgegeben (Direkte Demokratie auf Bundesländer- und Kommunalebene (Fn. 43), S. 120 (Fn. 2). Sein neuer Terminus „Ratsreferendum“ kann freilich ebenfalls nicht befriedigen. Dieser Begriff ist einerseits pleonastisch – dass die Vorlage „von oben“, von einem Repräsentativorgan, stammt, steckt schon im Begriff des Referendums –, andererseits missverständlich. Das Bestimmungswort bezeichnet üblicherweise den Gegenstand des Referendums und nicht das formulierende Organ. Beim Verfassungsreferendum wird über die Verfassung, beim Finanzreferendum über eine Finanzvorlage und beim Staatsvertragsreferendum über einen Staatsvertrag abgestimmt. Hier ist aber der Gemeinderat keineswegs Gegenstand der Abstimmung. Zwar wird – zugegebenermaßen – beim Gemeindereferendum auch nicht über die Gemeinde abgestimmt. Aber das Verständnis „Referendum in der Gemeinde“ ist gut möglich (wie Volksabstimmung nicht Abstimmung über das Volk, sondern durch das Volk meint). – Gegenüber solchen Erwägungen nach der deutschen Sprache greift m. E. das Argument, die Bezeichnung „Ratsreferendum“ sei „für eine international vergleichende Verwendung am besten geeignet“ (ebenda), nicht durch. 120 Vgl. Schiller: Direkte Demokratie auf Bundesländer- und Kommunalebene (Fn. 43), S. 128 f., 131; Bürgerbegehrens-Bericht Deutschland 2007 (Fn. 105), S. 14. 121 Vgl. a. a. O., S. 128. 122 Vgl. Mehr Demokratie e.V. (Hrsg.): Zehn-Jahresbericht (Fn. 108), S. 7.

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Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes ein[zu]führen“. Da auch diese Cause célèbre schon gut untersucht ist123, genügt es hier, anhand neuer Quellen124 und literarischer Stellungnahmen einzelne Aspekte zu vertiefen. Zum Aufschub des Projekts gleich nach dem Start hat der Zeitzeuge Gerald Häfner125 den starken Widerstand „einiger sehr einflussreicher Verhandlungsteilnehmer“ bei den Grünen betont126. Die in diesem Zusammenhang überlieferte Äußerung des Spitzenmannes Joschka Fischer: „Das ist doch eine typische Oppositions-Forderung!“ würde sich einfügen in die generelle Beobachtung, die Franz Walter zur Mentalität von Aufsteigern gemacht hat127. Freilich war jener Aufschub kein spezifischer Tort an der direkten Demokratie, vielmehr stand der gesamte Themenbereich der Innenund Rechtspolitik bei Regierungsantritt im Jahr 1998 „nicht im Zentrum 123 Vgl. Otmar Jung: Volksentscheid ins Grundgesetz? Die politische Auseinandersetzung um ein rot-grünes Reformprojekt 1998–2002, in: ZfP 49 (2002), S. 267–289; Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006 (Juristische Zeitgeschichte Abt. I Bd. 20), S. 287–296; Rux (Fn. 37), S. 220–225. 124 Bemerkenswerterweise hat jedoch keiner der beiden Namensgeber dieser Regierung in seinen Erinnerungen den Vorgang der Erwähnung wert befunden, vgl. Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2. Aufl. 2006; Joschka Fischer: Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik – vom Kosovo bis zum 11. September, Köln 2007. 125 Zu Häfner vgl. Wiegand: Direktdemokratische Elemente (Fn. 123), S. 290 f. Fn. 154. 126 Vgl. Häfner: Erfahrungen (Fn. 107), S. 104. – Häfner war, obschon 1998 nicht mehr in den Bundestag gewählt, als demokratie- und rechtspolitischer Sprecher der Grünen an den Koalitionsverhandlungen und später dem Versuch der Umsetzung der einschlägigen Vereinbarung beteiligt. An diesen und anderen Hintergrundinformationen von ihm zu zweifeln besteht quellenkritisch kein Anlass. Soweit Wertungen von seiner Seite problematisierungsbedürftig sind bzw. nicht geteilt werden können, wird darauf jeweils hingewiesen. 127 „Die früheren Habenichts hatten es geschafft. Rot-Grün bildete ein neues Establishment der deutschen Republik. In diesem Prozess geschah das, was man in der Geschichte schon tausendfach hatte erleben können. Die Oppositionellen von ehedem wurden alsbald zu beinharten Verfechtern der lange attackierten Ordnung und herrschenden Philosophie. Unter den Bedingungen dieser Ordnung waren sie schließlich nach oben gerückt, hatten sie ihren Aufstieg realisiert. So konvertierten die früheren Verkünder einer neuen, ganz anderen gesellschaftlichen Zukunft zu Apologeten des Jetzt . . . Die Angekommenen trennten sich von ihren überkommenen schwärmerischen Ideen, entledigten sich der kühnen Bilder aus dem Arsenal der alten Utopien; man kann sagen: sie wurden projekt- und zukunftslos.“ Franz Walter: Freudlose Zeiten. Ein Rückblick auf rot-grüne Alternativlosigkeiten, in: Joachim Bischoff/Wolfram Burkhardt/Uli Cremer/Axel Gerntke/Rolf Gössner/Joachim Rock/Johannes Steffen/Franz Walter: Schwarzbuch Rot-Grün. Von der sozial-ökologischen Erneuerung zur Agenda 2010, Hamburg 2005, S. 26–36 (31).

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der politischen Programmatik“ der rot-grünen Koalition. Die neue Regierung sah „ihren Aufgabenschwerpunkt vielmehr in Reformen im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik“128. Gleichwohl wirkt die Information peinlich, dem Abgeordneten Cem Özdemir, dem innenpolitischen Sprecher der Grünen, der das Vorhaben „mitbetreut“ hatte, sei „von oben signalisiert“ worden, „es bliebe bei der Ankündigung. Umgesetzt werde nichts. Das sei der Wille ‚von ganz oben‘. Und darauf habe man sich intern längst verständigt.“129 Als im April 2001 Häfner Özdemir ablöste, wurde ihm alsbald derselbe Sachstand eröffnet „in der Form einer abschließenden, auch für mich verbindlichen Entscheidung und verbunden mit der Anweisung, nur ja nichts Gegenteiliges zu unternehmen“130. Als er gleichwohl Beratungsgespräche über einen entsprechenden Gesetzentwurf einberief, wurden diese vom Vorstand der SPD-Fraktion „gesprengt und alle Teilnehmer darauf hingewiesen, dass, wer sich an dieser Arbeit beteilige, gegen eine klare Entscheidung der Koalitionsspitze verstoße“131. Häfner ließ sich nicht entmutigen. Bei der Schlussabstimmung votierten 348 Abgeordnete für und 199 gegen den Gesetzentwurf (zwei enthielten sich)132; freilich wurde die verfassungsändernde Zweidrittel-Mehrheit deutlich verfehlt: Bei 666 Abgeordneten wären dafür 444 Ja-Stimmen nötig gewesen133. (2) Interpretation Dieser Vorgang ist höchst kontrovers bewertet worden134, und in der Tat erscheint die Aufgabe einer Beurteilung sehr komplex. Auf der einen Seite muss man Rot-Grün kritisieren, das offenbar unwillig oder unfähig war, für sein offiziell proklamiertes Koalitionsvorhaben die erforderliche qualifizierte Parlamentsmehrheit zu organisieren. Dass der Gesetzentwurf gleichwohl überhaupt zur Abstimmung gestellt wurde, um ihn von einer ein128 Vgl. Andreas Busch: Extensive Politik in den Klippen der Semisouveränität: Die Innen- und Rechtspolitik der rot-grünen Koalition, in: Christoph Egle/Tobias Ostheim/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt: Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003, S. 305–327 (305). 129 Vgl. Häfner: Erfahrungen (Fn. 107), S. 104. 130 Ebenda. 131 Ebenda. 132 BT 7.6.2002, S. 24032 C–24034 D. 133 Ich korrigiere hier meine Berechnung in Jung: Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 283, bei der ich nicht berücksichtigt habe, dass drei bis dahin erledigte Überhangmandate nicht nachbesetzt worden waren, vgl. http://www.bun destag.de/info/wahlen/154/1541_14.html (Zugriff 23.1.2003). 134 Vgl. Ralph Kampwirth: Der ernüchterte Souverän. Bilanz und Perspektiven der direkten Demokratie in den 16 Bundesländern und auf Kommunalebene, in: ZParl 34 (2003), S. 657–671 (668–671).

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fachen Mehrheit „annehmen“ zu lassen, kann nur negativ als „symbolische Politik“ charakterisiert werden. Rot-Grün hat „erfolgreich ein Stück politisches Theater gespielt“135. Die Koalition nahm ihr eigenes Projekt nicht ernst; eine solche Politik war unseriös136. Auf der anderen Seite steht die Einschätzung des Matadors Häfner, demzufolge das Abstimmungsergebnis „ein immenser – vor allem wenn man die Widrigkeiten im Vorfeld bedenkt – Erfolg“ gewesen sei137. Dies trifft gewiss für Häfner persönlich zu, der mit diesem Gesetzesprojekt aller Voraussicht nach seine parlamentarische Karriere beenden würde. Aber war der Vorgang denn nun ein „Fortschritt“ oder ein „Rückschritt“ für die Sache der direkten Demokratie? Stimmte Häfners Urteil, jene Abstimmung sei „ein Riesenschritt auf dem Weg zur Einführung des Volksentscheids in das Grundgesetz“138? Zwei Argumente gilt es hier zu prüfen. Erstens: Auch wenn die verfassungsrechtlich erforderliche Zweidrittel-Mehrheit nicht erreicht wurde, sei es doch, gemessen an früheren Abstimmungen zu diesem Thema im Bun135

Jung: Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 288. Hingegen überzeugt Deckers Argumentation nicht, den stärksten Beleg dafür, dass Rot-Grün dieses Vorhaben nicht ernst genommen hätte, liefere „der Entwurf selbst, dem es an der notwendigen Seriosität mangelte“. Im Weiteren führt er vor allem die deutliche Erleichterung des Verfahrens im Vergleich zu den Landesverfassungen als Begründung an (vgl. Frank Decker: Die Systemverträglichkeit der direkten Demokratie. Dargestellt an der Diskussion um die Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz, in: ZPol 15 (2005), S. 1103–1147 (1126 f.); ebenso ders.: Direktdemokratische Beteiligung auf Bundesebene: Die Diskussion um die Einführung von Plebisziten in das Grundgesetz, in: Beate Hoecker (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung, Opladen 2006, S. 133–155 (141 f.)). Das Urteil „unseriös“ ist aber nicht inhaltlich – vom Entwurf her – ableitbar. Strikt objektiv formuliert seine Kritik hingegen Guido Koch, man könne „aus strukturellen Gründen der im Juni 2002 erfolgten Ablehnung des undifferenzierten, weil umfassenden Gesetzentwurfs zur Einführung plebiszitärer Elemente ins Grundgesetz nur zustimmen“ (Rezension von Sabine Jung: Die Logik direkter Demokratie, in: ZPol 12 (2002), S. 1649 f. (1650)). – Siehe dagegen die eingehende verfassungsrechtliche Prüfung jenes Entwurfs bei Wiegand: Direktdemokratische Elemente (Fn. 123), S. 518–534 – Überzeugend erscheint das Urteil, zu dem Degenhart nach eingehender Prüfung kam: „Alles in allem durfte dem Gesetzentwurf ein praktikabler und verfassungskonformer Ausgleich zwischen dem Anliegen effektiver direkter Demokratie und Erfordernissen demokratischer Legitimation im Gesetzgebungsverfahren und insbesondere auch erhöhter Bestandskraft der Verfassung attestiert werden.“ Christoph Degenhart: Direkte Demokratie auf Bundesebene nach dem Grundgesetz – Anmerkungen zu einem Gesetzentwurf –, in: Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, hrsg. v. Klaus Stern/ Klaus Grupp, Heidelberg 2005, S. 87–99 (94). 137 Vgl. Häfner: Erfahrungen (Fn. 107), S. 104. 138 Pressemitteilung Nr. 309 der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN v. 7.6.2002. 136

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destag, ein bemerkenswerter Erfolg, dass immerhin eine klare einfache Mehrheit für die direktdemokratische Ergänzung des Grundgesetzes zustande gekommen sei. In der Tat lässt sich an der arithmetischen – wenngleich nicht politischen, „belastbaren“ – Mehrheit für dieses Projekt kaum zweifeln, wenn auch die Einzelzahlen gewiss „getürkt“ waren. Weil die Abgeordneten – außer den Freidemokraten – im wesentlichen den parteipolitischen Grenzen folgten, stimmten Koalitionsabgeordnete mit Ja im Vertrauen darauf, dass es zu einer Zweidrittel-Mehrheit nicht reichen würde, während umgekehrt Oppositionsabgeordnete diszipliniert mit Nein wider ihre eigene Überzeugung votierten. Freilich wirkten diese beiden (üblichen) parteipolitischen Verzerrungen gegenläufig und hoben sich damit zumindest teilweise auf. Ein hypothetisches „echtes“ Ergebnis hätte also anders ausgesehen als 348 Ja zu 199 Nein, aber man braucht kaum zu befürchten, dass es zu einer „eigentlichen“ Mehrheit für Ablehnung „gekippt“ wäre. Der Signal-Wert einer einfachen Mehrheit der Zustimmung ist also zu bejahen. Zweitens soll nicht unterschätzt werden, dass, während früher solche Vorschläge im Bundestag gleich zu Anfang rundweg abgelehnt wurden, 2002 ein förmliches Gesetzgebungsverfahren durchgeführt wurde mit allen diesem Procedere eigenen Qualitäten und Chancen. Letztere wurden zwar kaum genutzt in den beiden Plenarberatungen, die, weit entfernt davon, „eine große Stunde dieses Parlamentes“ zu sein139, insgesamt als „eine Debatte in unseliger deutscher politischer Tradition“ erschienen140. Aber da war ja z. B. noch die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses am 19. April 2002, zu der Staatsrechtler, Politikwissenschaftler und Praktiker eingeladen worden waren, darunter zwei aus der Schweiz. Die vorgelegten schriftlichen Stellungnahmen und die protokollierten mündlichen Ausführungen141 zeugen doch von einem erheblichen Niveau, ebenso wie die anschließenden Publikationen142 bzw. literarischen Kontroversen143. Weitab von Häfners – verständlichem – Überschwang wird man den Vorgang insgesamt denn doch auf der Habenseite der Auseinandersetzung um direkte Demokratie in Deutschland verbuchen können144. 139

So Abg. Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), BT 21.3.2002, S. 22498 D. Vgl. Jung: Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 286 ff. 141 Eine Zusammenfassung der Anhörung bei Wiegand: Direktdemokratische Elemente (Fn. 123), S. 294 Fn. 162. 142 Vgl. Daniel Thürer: Direkte Demokratie für Deutschland? Zu einem Projekt der Einfügung direkt-demokratischer Rechte ins Grundgesetz, in: SJZ 98 (2002), 593–605; Degenhart (Fn. 136). 143 Vgl. Otmar Jung: Direkte Demokratie und Föderalismus. Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Volksgesetzgebung im Bund, in: Stefan Brink/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.): Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, S. 353–366 [Auseinandersetzung vor allem mit Peter M. Huber]. 140

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bb) 15. Legislaturperiode 2002–2005 Laut der Koalitionsvereinbarung für die 15. Legislaturperiode wollte Rot-Grün sein „Ziel, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen, auf der Basis des Gesetzentwurfes der 14. Legislatur[periode] weiter verfolgen“145. Freilich dominierten wiederum die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Außenpolitik in der zweiten Regierung Schröder146. Das Vorhaben einer Ergänzung des Grundgesetzes durch Elemente direkter Demokratie – dieses „Überbleibsel aus der ersten rot-grünen Amtsperiode“147 – zeitigte „keine gesetzgeberischen Folgen“; ein zweiter Gesetzgebungs-Versuch „wurde trotz Ankündigung nicht unternommen“148. Bemerkenswerterweise versucht Busch diesen eigentlich erstaunlichen Vorgang ausschließlich strukturell zu erklären. Die Gründe hätten – für die Themen aus der Innen- und Rechtspolitik ganz allgemein – gelegen „in einer Schwerpunktverlagerung vom Ausbau der Bürgerrechte auf die Themen Terrorismus und Innere Sicherheit“149 und speziell beim Thema Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid „spielte wahrscheinlich die hartnäckig ablehnende Haltung der Unionsparteien zur Einführung plebiszitärer Elemente“ eine wichtige Rolle150, die mit ihrer Sperrminorität151 weiterhin jede einschlägige Verfassungsänderung blockieren konnte. Das ist alles gewiss nicht falsch, und doch fehlt der gerade hier nicht zu unterschätzende 144 Vgl. die differenzierte Einschätzung, die Mehr Demokratie inzwischen verbreitet: „Dies war ein wichtiger Etappensieg.“ http://www.mehr-demokratie.de/ volksabstimmung.html (Zugriff 29.10.2007). 145 Vgl. „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie“ (Koalitionsvereinbarung v. 16.10.2002) [Kap. VIII Punkt 11], http://text.spd.de/ servlet/PB/show/1023294/Koalitionsvertrag.pdf (Zugriff 27.9.2007), und dazu Wiegand: Direktdemokratische Elemente (Fn. 123), S. 296–317. 146 Vgl. Andreas Busch: Von der Reformpolitik zur Restriktionspolitik? Die Innen- und Rechtspolitik der zweiten Regierung Schröder, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Ende des rot-grünen Projekts: Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002–2005, Wiesbaden 2007, S. 408–430 (408). – Darauf wies übrigens schon die Systematik der Koalitionsvereinbarung hin: Der Passus zu Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid findet sich im Kapitel VIII („Sicherheit, Toleranz und Demokratie“) von X Kapiteln insgesamt als Punkt 11 („Demokratische Beteiligungsrechte und Datenschutz“) von insgesamt 17. 147 A. a. O., S. 410. 148 A. a. O., S. 426. 149 A. a. O., S. 409. 150 A. a. O., S. 426. 151 Vgl. Andreas Busch: Verfassungspolitik: Stabilität und permanentes Austarieren, in: Manfred G. Schmidt/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949, Wiesbaden 2006, S. 33–56 (50, vgl. S. 46).

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personale Faktor. Wie der Eintritt Häfners in den Bundestag 2001 und die Übernahme des Themas von Özdemir der Sache enormen Auftrieb gegeben hatte, so ist offenkundig, dass das Ausscheiden Häfners zum Ende des Legislaturperiode 2002 und die Übernahme des Themas durch den migrationspolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion, Josef Philip Winkler, der den Bereich Demokratiepolitik nur mitbetreute, die „Power“ aus dem Vorhaben nahm. Damit soll Winkler nicht das redliche Bemühen abgesprochen werden, aber er brachte für diese Sache weder das Engagement noch das Charisma Häfners mit. Mit dem Ende von Rot-Grün war das einschlägige Projekt seinerseits so gut wie am Ende. Die Große Koalition nahm in ihren Koalitionsvertrag 2005 nur noch einen Prüfauftrag zur „Einführung von Elementen der direkten Demokratie“ (sc. auf Bundesebene) auf152. Dass es den Bündnisgrünen aus der Opposition heraus mit ihrem neuen Gesetzentwurf153 – und sei es im Verein mit entsprechenden Bestrebungen der anderen Oppositionsfraktionen FDP154 und DIE LINKE155 – besser gelingen wird, die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf der Bundesebene voranzutreiben als zu ihren Regierungszeiten als Koalitionspartner, muss bezweifelt werden. 152

Vgl. „Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 11.11.2005, http://www.bundesregierung.de/nsc_true/Content/DE/__Anlagen/koalitionsvertrag,templateId=raw,property= publicationFile.pdf/koalitionsvertrag (Zugriff 27.9.2007). – Auf fällt wieder die abwegige Systematik. Der einschlägige Passus: „Die Demokratie ist 60 Jahre nach Kriegsende in Deutschland gefestigt. Gleichwohl bedarf es in jeder Generation der politischen Bildung und der staatlichen Unterstützung für eine aktive Beteiligung der Menschen am gesellschaftlichen und staatlichen Leben. Wir werden deshalb die politische Bildung stärken. Die Einführung von Elementen der direkten Demokratie werden wir prüfen.“ – findet sich im VI. Handlungsfeld („Familienfreundliche Gesellschaft“ (sic!)) von insgesamt X Handlungsfeldern, und zwar als letzter Punkt 8 („Bürgergesellschaft stärken“). – Gefragt nach der Umsetzung des Prüfauftrags, zog sich die Bundesregierung regelmäßig darauf zurück, dieser richte sich „zunächst an die Koalitionsfraktionen“ (vgl. BT-Drucks. 16/2468 v. 29.8.2006 [zu Frage 42]; 16/6537 v. 28.9.2007). 153 Gesetzentwurf der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian Ströbele [. . .] und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid), BT-Drucks. 16/680 v. 15.2.2006. 154 Gesetzentwurf der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz [. . .] und der Fraktion der FDP: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz, BT-Drucks. 16/474 v. 25.1.2006. 155 Gesetzentwurf der Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi [. . .] und der Fraktion DIE LINKE: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz, BT-Drucks. 16/1411 v. 9.5.2006. – Tatsächlich wurden alle drei Gesetzentwürfe gegen Ende der Legislaturperiode abgelehnt, vgl. BT 23.4.2009, S. 23584 CD.

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2. Rückschritte a) Etliche Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte Zwischen 1997 und 2001 erging eine Serie von Entscheidungen – für Bayern (1997, 1999, 2000), Bremen (2000), Schleswig-Holstein (2000) und Thüringen (2001) –, die nicht einfach nur direktdemokratische Vorhaben für unzulässig erklärten, was, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, schließlich Aufgabe der Verfassungsrichter ist. Vielmehr sind diese Entscheidungen durch zwei Züge charakterisiert: Erstens wurden die entsprechenden Anträge nicht bloß mit Rechtsgründen abgelehnt – was ja für ein kontradiktorisches Gerichtsverfahren normal ist –, sondern die Beschwerdeführer wurden oft formal oder inhaltlich „abgefertigt“. Zweitens setzten sich die Gerichte in auffallender Weise über professionelle Standards hinweg, ob da nun methodische Grundregeln verletzt wurden oder ob sich der BayVerfGH nicht scheute, statt einer behutsamen Korrektur seiner Rechtsprechung eine Kehrtwende um 180 Grad vorzunehmen156. Vor allem die Verletzungen methodischer Grundsätze hat eine intensive literarische Beschäftigung mit dieser Judikatur provoziert157, welche die Kritik noch vertiefte und oft scharf auf den Punkt brachte, zuletzt insbesondere Wittreck in einer glänzenden Studie: Der BremStGH158 habe „in geradezu klassischer Manier gegen das methodische Verbot des Schlusses von einem Sein auf ein Sollen verstoßen“159, das BVerfG160 sich einen „grundlegenden normlogischen Lapsus“ geleistet161 und das BbgVerfG162 „fundamental ge156 Vgl. Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 48 m. w. N. 157 Ältere Kritik ist referiert bei Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 47–52; ders.: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 337 ff. Siehe ferner Julia Platter: Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung zum Haushaltsvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, in: ZParl 35 (2004), S. 496–512; Jürgen Krafczyk: Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung. Perspektiven für eine nähere Bestimmung der Zulässigkeit direktdemokratischer Entscheidungen mit Auswirkungen auf den Haushalt de lege lata und de lege ferenda, Berlin 2005 (Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 980); Torsten Rosenke: Die Finanzbeschränkungen bei der Volksgesetzgebung in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung des Artikels 68 Absatz 1 Satz 4 der nordrhein-westfälischen Verfassung, Baden-Baden 2005 (Nomos Universitätsschriften Recht Bd. 456). 158 BremStGH, Urt. v. 14.2.2000, LVerfGE 11, 179–137 („Mehr Demokratie in Bremen“). 159 Fabian Wittreck: Direkte Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine kritische Übersicht zur deutschen Verfassungsrechtsprechung in Fragen der unmittelbaren Demokratie von 2000 bis 2002, in: JöR 53 (2005), S. 111–185 (135). 160 BVerfG – als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG) –, Beschl. v. 3.7.2000, BVerfGE 102, 176–192 („Schule in Freiheit“).

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gen methodische Regeln“ verstoßen163. Zu der Kehrtwende des BayVerfGH 1999 um 180 Grad164 half offenbar nur Ironie, wenn von einer „als Auslegung ausgeflaggten richterlichen Rechtsschöpfung“ gesprochen wurde165. Bei einer anderen Entscheidung dieses Gerichtshofs166 wurden „juristische Kunstfehler“ angeprangert167, „ein klassischer Zirkelschluss“168 und dass das Gericht „die Grenze zur Beliebigkeit überschritten“ habe169. Dem einschlägigen Urteil des ThürVerfGH170 wurde bescheinigt, dass es „die methodischen Unzulänglichkeiten der bisher erörterten Judikatur gleich mehrfach auf die Spitze“ getrieben habe171. Seine Rechtsprechung zum Erfordernis allgemeiner Belange für ein Volksbegehren finde „im geltenden Staatsrecht keine Stütze“172, und wenn der Gerichtshof die „Ewigkeitsgarantie“ bestimmter Verfassungsgrundsätze gegen das gesetzgebende Volk in Stellung bringe und sich hierbei auf das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität stütze, dann geschehe dies „auf fast zynisch zu nennende Art und Weise“173. Hinzu kommt als weiterer Kritikansatz der erstaunliche Umgang der Verfassungsgerichte mit der Empirie. Teils befleißigten sie sich einer dilettantischen „Juristensoziologie“174, teils schotteten sie sich einfach gegen die Realität ab. So beschwor der BayVerfGH regelmäßig die Gefahr eines Miss161 Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 117 Fn. 25. – Vgl. Rux (Fn. 37), S. 492: „mit einer dogmatisch kaum haltbaren Begründung“. 162 BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001, LVerfGE 12, 119–154 („Kindertagesstättengesetz“). 163 Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 126. 164 BayVerfGH, Entsch. v. 17.9.1999, BayVerfGHE 52, 104–142 („Abschaffung des Bayerischen Senates“). 165 Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 140 Fn. 139. Rux (Fn. 37), S. 329, erschien die These, dass hier in der Bayerischen Verfassung eine unbeabsichtigte Regelungslücke vorliegen solle, „nachgerade absurd“. 166 BayVerfGH, Entsch. v. 31.3.2000, BayVerfGHE 53, 42–80 („Stärkung der Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger“). 167 Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 143. 168 A. a. O., S. 144. 169 A. a. O., S. 150. 170 ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.2001, LVerfGE 12, 405–463 („Mehr Demokratie in Thüringen“). 171 Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 151. 172 Siegfried Jutzi: Volksgesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung. Zu verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich bestimmten Grenzen der Volksgesetzgebung, in: ZG 18 (2003), S. 273–292 (277). 173 A. a. O., S. 291. 174 Vgl. Otmar Jung: Direkte Demokratie nach Schweizer Art in Deutschland verfassungswidrig? Zu einer Grundgesetzauslegung des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen [Anmerkung zum Urteil vom 14.2.2000 – St 1/98], in: KritV 84 (2001), S. 24–54 (27).

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brauchs der Volksgesetzgebung und dass Interessengruppen ihren Leuten „Sondervorteile durch Volksbegehren verschaffen wollen“175. Dazu behauptete er, „bei Gesetzesinitiativen mit finanziellen Auswirkungen (sei) es erfahrungsgemäß nicht schwierig, aus den Reihen der unmittelbar betroffenen Interessenten die erforderliche Anzahl von Unterschriften zu erhalten. Auf diese Weise kann verhältnismäßig leicht erreicht werden . . .“176 Doch das stimmt nicht. Jeder Blick in die Volksbegehrens-Statistik zeigt, wie schwer sich gerade große Verbände (Gewerkschaften, Kirchen) tun, ihre Leute für ein Volksbegehren zu mobilisieren177. 2000 räumte der BayVerfGH in seiner dritten einschlägigen Entscheidung sogar ein, „dass die bisherigen Erfahrungen mit Volksbegehren keine solchen Gefährdungen ergeben haben“; aber anstatt nun zurückzustecken, hieß es unverdrossen weiter, dies ändere „nichts daran, dass das Verfassungssystem durch geeignete Vorkehrungen solche Gefährdungen ausschließen muss“178. Der ThürVerfGH zitierte dies zustimmend („überzeugend“179) und tat seinerseits empirisch gut belegbare Erkenntnisse – „die behutsame Volksgesetzgebung in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika“ – ab mit der Floskel, positive Wirkungen der Volksgesetzgebung im Einzelfall beseitigten nicht die potentielle Gefahr des Missbrauchs180. Resümee zu dieser Rechtsprechung: Die von den Richtern perhorreszierte Gefahr der „Selbstbedienung“181 ist sowohl erfahrungsunabhängig als auch erfahrungsresistent182. 175

BayVerfGHE 29, 244–270 (267); 47, 276–315 (304); 53, 42–80 (68). BayVerfGH, Entsch. v. 31.3.2000, BayVerfGHE 53, 42–80 (68); ebenso E 29, 244–270 (268); 47, 276–315 (304). – Beißend dazu Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 146 Fn. 174, der VerfGH gelange damit „über die bloße Statuierung von vermeintlichem Alltagswissen nicht hinaus“. 177 Ganz abgesehen davon, dass spätestens beim Volksentscheid sich die „fiskalisch konservativen Präferenz der Bevölkerungsmehrheit“ durchsetzen werden, vgl. Adrian Vatter: Direkte Demokratie in der Schweiz: Entwicklungen, Debatten und Wirkungen, in: Freitag/Wagschal (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 43), S. 71–113 (90); Julia Moser/Herbert Obinger: Schlaraffenland auf Erden? Auswirkungen von Volksentscheiden auf die Sozialpolitik, in: a. a. O., S. 331–361 (337, 341). 178 Vgl. BayVerfGHE 53, 42–80 (68). 179 ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.2001, LVerfGE 12, 405–463 (454). 180 A. a. O., S. 447. – Vgl. dazu schneidend Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 166: „Zur Verdeutlichung: Das Gericht stellt eine Behauptung auf, räumt ein, dass es für deren Richtigkeit keinerlei Beleg vorlegen kann, trägt weiter vor, dass die bislang vorliegenden Daten die Annahme des Gegenteils nahelegen, nur um dann auf seiner Position zu beharren.“ 181 ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.2001, LVerfGE 12, 405–463 (449). 182 Anders immerhin die Verfassungsgerichte von Brandenburg und Hamburg, die argumentierten, dass jene Befürchtung „sich nicht auf konkrete Erfahrungen stützen“ könne, vgl. BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001, LVerfGE 12, 119–154 (140); ebenso HmbVerfG, Urt. v. 22.4.2005, LVerfGE 16, 207–232 (227). Auch der BerlVerfGH, Urt. v. 22.11.2005, LVerfGE 16, 41–80 (63), vermochte die Furcht vor der von den 176

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Im Ergebnis zeigte sich nichts weniger als eine Krisenphase der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch Verfassungsgerichte können sich ja nicht allein auf ihre Formalautorität zurückziehen, sondern müssen sich ihre inhaltliche Autorität immer wieder neu verdienen – durch überzeugende Entscheidungen. Genau solche stellten aber jene Urteile nicht dar, die vielmehr die Bereitschaft der Bürger zum Rechtsgehorsam nachgerade untergruben. Die Beschränkung der Kritik auf „etliche Entscheidungen“ ist wichtig. Im Bereich der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat sich nämlich auch eine positive Entwicklung vollzogen: die Ausdifferenzierung der bisher einheitlichen, nachgerade wie eine Phalanx wirkenden Judikatur in „Schulen“. Neben den „Hardlinern“ – den eben behandelten Verfassungsgerichten von Bayern, Bremen und Thüringen sowie dem Bundesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein – steht da eine „Mittelgruppe“ – die Gerichte von Brandenburg, Niedersachsen und Hamburg – sowie als progressiver Solitär der Sächsische Verfassungsgerichtshof mit seinem famosen Urteil von 2002183. Diese Ausdifferenzierung relativiert die manchmal überhöhte Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit erfreulich: Letztere ist notwendig und nützlich, aber ihre Urteile sind durchaus nicht über jede Kritik erhaben und schon gar keine „Offenbarungen“. Im gleichen Sinne wirkt die Kultur der Minderheitsvoten. Sie zeigen, dass man auch in Bayern, Brandenburg und Hamburg anders Verfassungsrecht sprechen kann. Ferner war selbst bei der harten Abfuhr, welche die direktdemokratischen Vorhaben in Bayern, Bremen, Schleswig-Holstein und Thüringen erhielten, der politische Prozess ja nicht zu Ende. So wäre es kurzsichtig, z. B. das Urteil des ThürVerfGH von 2001 nur als eine Niederlage zu sehen, weil ein Volksgesetzgebungs-Projekt gestoppt wurde. Realistischerweise muss man auch den politischen Ertrag jenes Volksbegehrens in Anschlag bringen, angefangen von der beeindruckenden wissenschaftlichen Kritik an diesem Urteil bis zu dem politischen Impetus, der dann, wie oben erwähnt, in die parlamentarische Reform des Verfahrens der Volksgesetzgebung des Freistaats 2003 mündete. Dass zu scharfe Entscheidungen eine politische Gegenbewebayerischen und thüringischen Kollegen beschworenen Gefahr, „dass Interessengruppen von ihnen vertretenen Bürgern durch Volksbegehren Sondervorteile verschafften“, nicht zu teilen und sah die Situation so ruhig wie das brandenburgische Verfassungsgericht. 183 SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002, LVerfGE 13, 315–339. Vgl. die Besprechungen von Peter Neumann: Durchbruch bei der Ausgestaltung der Volksgesetzgebung – Finanzvorbehalte nach der Verfassung des Freistaates Sachsen, in: SächsVBl. 10 (2002), S. 229–232; Otmar Jung: Direkte Demokratie – vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen eröffnet die Debatte neu, in: LKV 13 (2003), S. 308–314; ferner die Würdigungen bei Jutzi: Volksgesetzgebung (Fn. 172), S. 282–285, und Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 170–173.

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gung auslösen können, die bis zur Desavouierung der Verfassungsgerichte führt und letztlich – sozusagen als Kollateralnutzen – eine Reform voranbringt, zeigen jüngst, wie erwähnt, die Ereignisse in Berlin und im Saarland. Die Kampagnenperspektive birgt doch immer die Gefahr einer Verengung. Freilich ist auch nicht zu verkennen, dass etwa die fünf Entscheidungen, die der BayVerfGH 1999/2000 innerhalb von sieben Monaten fällte184, „Mehr Demokratie in Bayern“ die Lust auf weitere Kampagnen im Freistaat gründlich verdarb. Die Initiative für Volksbegehren ging vor allem auf die kleine ÖDP über, die 2003 bis 2005 drei Volksbegehren startete185; auch die Freien Wähler betätigten sich186. Erfolgreich freilich waren sie alle nicht. Im Freistaat sind mittlerweile sieben Volksbegehren in Folge an der 10-Prozent-Hürde gescheitert187. b) Parlamentarische Konterlegislatur Als zweiter großer Rückschritt ist der wenig respektvolle Umgang mit den Ergebnissen von Volksentscheiden festzustellen, gipfelnd in bereits zwei Fällen parlamentarischer Konterlegislatur. Nun haben wir gewiss keine politische Kultur wie in der Schweiz, wo ein Volksentscheid „sakrosankt“ ist188 und wie ein „Gottesurteil“ wirkt189; aber dass das Parlament ein vom Volk beschlossenes Gesetz soll (ohne weiteres) kassieren dürfen, leuchtet auch nicht ein und wirkt jedenfalls, wenn das rechtens sein sollte, massiv demotivierend. 184

Außer den bisher genannten sind dies die Entsch. v. 24.2.2000, BayVerfGHE 53, 23–34 („Unabhängige Richterinnen und Richter“) und v. 24.3.2000, BayVerfGHE 53, 35–42 (mit Sondervotum 39–42). 185 Vgl. Bärbel Martina Weixner: Direkte Demokratie in den Bundesländern, in: APuZG 10/2006 v. 6.3.2006, S. 18–24 (24). – Es waren dies die Volksbegehren „Menschenwürde ja, Menschenklonen niemals!“ 2003 und „Für Gesundheitsvorsorge beim Mobilfunk“ 2005; das Volksbegehren „Gerecht sparen, auch an der Spitze“ (zur Abschaffung der Abgeordneten-Privilegien) wurde nicht zugelassen, BayVerfGH, Entsch. v. 6.5.2005, BayVerfGHE 58, 113–137. 186 So im Fall „Konnexitätsprinzip“, vgl. Jung: Regieren (Fn. 55), S. 180. 187 Zu den Volksbegehren „Gentechnikfrei aus Bayern“ 1998, „Die bessere Schulreform“ 2000, „Macht braucht Kontrolle“ (zum Verfassungsgerichtshof) 2000, „Menschenwürde ja, Menschenklonen niemals!“ 2003 und „Aus Liebe zum Wald“ (zur Forstreform) 2004 siehe die Tabelle bei Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 356 f. Das nachfolgende Volksbegehren „G9“ (zum Erhalt des neunjährigen Gymnasiums) 2005 scheiterte mit 2,4 Prozent Eintragungen, das bislang letzte Volksbegehren „Für Gesundheitsvorsorge beim Mobilfunk“ 2005 mit 4,4 Prozent. 188 Vgl. Wolf Linder: Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern/Stuttgart/Wien 2. Aufl. 2005, S. 282. 189 Vgl. Silvano Möckli: Direkte Demokratie. Ein Vergleich der Einrichtungen und Verfahren in der Schweiz und Kalifornien, unter Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Dänemark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Australien, Bern Stuttgart Wien 1994 (St. Galler Studien zur Politikwissenschaft Bd. 16), S. 354.

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Bereits das erste Volksgesetz in der deutschen Geschichte überhaupt, das 1995 in Bayern Bürgerbegehren und Bürgerentscheid einführte190, wurde zumindest eigenartig behandelt. Das bayerische Innenministerium hatte vor der Zulassung des entsprechenden Volksbegehrens den Gesetzentwurf eingehend geprüft. Nach weiteren Prüfungen im Laufe der parlamentarischen Behandlung des volksbegehrten Entwurfs fertigte schließlich nach dem Volksentscheid Ministerpräsident Edmund Stoiber das beschlossene Volksgesetz aus – und man kann aufgrund der parteipolitischen Konstellation sicher davon ausgehen, dass es allen Befassten nicht unlieb gewesen wäre, wenn sich ein Grund zur Beanstandung gefunden hätte191. Aufgrund einer Popularklage betrachtete dann der BayVerfGH das inzwischen in Kraft getretene Volksgesetz noch einmal mit Argusaugen und entdeckte in der Tat einige verfassungsrechtliche „Häkchen“, bis hin dazu, dass die „Kombination“ verschiedener Regelungen zu einem „verfassungswidrigen Zustand“ führen würde192. Dies waren wohlgemerkt keine Erkenntnisse, die aufgrund der gleich lebhaft einsetzenden Praxis empirisch gewonnen worden wären, sondern es waren bloß abstrakte Überlegungen, mit denen es der Gerichtshof „besser“ zu wissen meinte als die bislang befassten Experten in Exekutive und Legislative. Zu einem richtigen Eklat kam es dann beim vierten Volksgesetz, mit dem Schleswig-Holstein aufgrund eines beeindruckend ausgefallenen Volksentscheids zu der alten Rechtschreibung zurückkehrte193. Keine neun Monate später kassierte der Schleswig-Holsteinische Landtag dieses Volksgesetz194, und dies, obwohl in einem halben Jahr Landtagswahlen anstanden, die man, wenn schon nicht aufgrund einer verfassungsrechtlichen 190 Vgl. Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids v. 27.10.1995, BayGVBl. S. 730. 191 Vgl. Otmar Jung: Kommunale Direktdemokratie mit Argusaugen gesehen. Zeithistorische, verfassungsrechtliche und rechtspolitische Bemerkungen zu der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 29.8.1997, in: BayVBl. 129 (1998), S. 225–233 (225 f.). 192 Vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 29.8.1997, BayVerfGHE 50, 181–213 („kommunaler Bürgerentscheid“). 193 Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes v. 10.12.1998, SchlHGVOBl. S. 366. – Vgl. Kliegis/Kliegis: Der Volksentscheid über die Rechtschreibreform (Fn. 77), S. 287–306. 194 Art. 2 Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes v. 21.9.1999, SchlHGVOBl. S. 263. – Vgl. Otmar Jung: „Die rebellierende Vertretung“ (H. Nawiasky). Darf das Parlament ein vom Volk beschlossenes Gesetz (ohne weiteres) kassieren? Zum Vorgehen des Schleswig-Holsteinischen Landtags im September 1999 (Fall „Rechtschreibreform“), in: Demokratie und Selbstverwaltung in Europa. Festschrift für Dian Schefold zum 65. Geburtstag, hrsg. von Andreas Bovenschulte/Henning Grub/ Franziska Alice Löhr/Matthias v. Schwanenflügel/Wiebke Wietschel, Baden-Baden 2001, S. 145–168 (146–150).

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Theorie195, so doch zumindest aus verfassungspolitischer Klugheit hätte abwarten können196. So schlimm dieser Präzedenzfall war und so verheerend er insbesondere in Schleswig-Holstein wirkte, kann man sich doch nicht mit letzter Leidenschaft darüber empören. Schließlich gehörte es zu den bizarren Konsequenzen des bundesrepublikanischen Kulturföderalismus, dass die deutsche Rechtschreibung formell Ländersache war, und da es in der Tat schlecht anging, dass in Schleswig-Holstein Deutsch anders als in den übrigen Bundesländern geschrieben würde, war eine einheitliche Lösung geboten. Freilich heißt das nicht die Kassation jenes Volksgesetzes rechtfertigen. Vielmehr konnten sich die abstimmenden Bürger Schleswig-Holsteins darauf verlassen, dass auch in diesem Falle jedem Bundesland praktisch eine Vetoposition zukam – hatten doch hochrangige Bundespolitiker vor dem Volksentscheid ausdrücklich erklärt, wenn die Bürger gegen die neue Rechtschreibung stimmen würden, sei „die Reform tot“197. Auch der nächste Missachtungsfall ist besonders gelagert. Im Februar 2004 hatten die Wahlberechtigten im Hamburg mit beeindruckender Mehrheit der Volksinitiative „Gesundheit ist keine Ware“ zugestimmt, die den Senat aufforderte, die Krankenhäuser der Hansestadt nicht zu privatisieren – was der Senat gleichwohl demnächst tat. Aber die Initiatoren hatten mit ihrer Aktion kein Volksgesetz zustande gebracht, sondern mit einer so genannten „anderen Vorlage“ nur erreicht, dass der Senat sich mit dem Krankenhäuser-Thema noch einmal befassen musste; eine weitergehende Bindung dergestalt, dass er als Frucht seiner Befassung zu einem bestimmten Ergebnis kommen müsste, bestand nicht198. Erst beim nächsten – und bislang letzten – Volksgesetz war es soweit. Im Juni 2004 hatten die Bürger Hamburgs ein neues Wahlrecht beschlossen199. 195

Vgl. a. a. O., S. 156 f. Vgl. Frank Decker: Parlamentarische Demokratie versus Volksgesetzgebung. Der Streit um ein neues Wahlrecht in Hamburg, in: ZParl 38 (2007), S. 118–133 (128). 197 Vgl. Jung: „Die rebellierende Vertretung“ (Fn. 194), S. 147 f. 198 Vgl. HmbVerfG, Urt. v. 15.12.2004, LVerfGE 15, 221 (Leitsatz 2. b.); Hans Peter Bull: Der Volksentscheid: unverbindlich und folgenlos? Anmerkungen zum Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts im LBK-Streit, in: NordÖR 8 (2005), S. 99–101; Andreas Fraude: Direkte Demokratie in Hamburg, in: Kost (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Ländern (Fn. 37), S. 113–132 (128). – Es ist daher wenig hilfreich, wenn Schiller: Direkte Demokratie auf Bundesländer- und Kommunalebene (Fn. 43), S. 127, die Fälle der Kassation und der anderweitigen Missachtung von Volksgesetzen sowie des Handelns gegen die politische Intention von „anderen Vorlagen“ unter dem Begriff des „Konterkarierens“ zusammenfasst. 199 Vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahl zur hamburgischen Bürgerschaft, des Gesetzes über die Wahl zu den Bezirksversammlungen, des Be196

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Zwei Jahre und drei Monate später änderte die Bürgerschaft jenes Volkswahlgesetz in den entscheidenden Punkten200. Diese Revision des Volksgesetzes beschloss das Landesparlament, ohne dass das neue Wahlrecht auch nur einmal angewandt worden wäre. Es gab also keinerlei Einwände etwa aus Unzuträglichkeiten der Praxis, vielmehr wollte die Mehrheit der im Februar 2004, gut drei Monate vor jenem Volksentscheid, gewählten Bürgerschaft bestimmte, vom Volk gebilligte Regelungen einfach politisch nicht. Nun gab es keine Entschuldigung, die „Schale“ – „Fass“ wäre als Bild zu groß – lief über. 2005 bis 2007 wurde ein Volksgesetzgebungsverfahren durchgeführt, um für solche Konfliktfälle künftig ein spezielles fakultatives Gesetzesreferendum einzuführen („Hamburg stärkt den Volksentscheid“)201. Beim Volksentscheid am 14. Oktober 2007 scheiterte das Vorhaben dann jedoch an dem 50prozentigen Zustimmungsquorum. Die zusätzlich verlangte Zweidrittel-Mehrheit der Abstimmenden „schafften“ die Initiatoren durchaus. Aber die Beteiligung der Stimmbürgerinnen und -bürger lag „nur“ bei 39,1 Prozent, und die – maßgebliche – Zustimmung erreichte mit 29,6 Prozent der Stimmberechtigten bei weitem nicht die erforderlichen 50 Prozent202. Die bei der Einführung der Volksgesetzgebung in Hamburg 1996 aufgerichteten Hürden für eine direktdemokratische Verfassungsänderung erwiesen sich als unüberwindlich – jedenfalls bei einem isolierten Abstimmungstermin. Diese Entwicklung der Staatspraxis – dass nunmehr schon jedes dritte der wenigen Volksgesetze aufgehoben oder im Kern revidiert wurde – wurde von der herrschenden Meinung der Staatsrechtslehre gebilligt oder zumindest hingenommen, die methodisch von der Rangfrage ausgeht und dann dürr-formal argumentiert: Volks- und Parlamentsgesetze hätten den gleichen Rang, folglich gelte der allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach das frühere Gesetz durch das spätere gebrochen wird (die Lex-posterior-Regel), und damit könnten die Parlamente, zumal in den Verfassungen nichts Gegenteiliges stehe, ein volksbeschlossenes Gesetz „jederzeit“ wieder ändern zirksverwaltungsgesetzes und des Hamburgischen Meldegesetzes v. 5.7.2004, HmbGVBl. I S. 313. 200 Vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahl zur hamburgischen Bürgerschaft, des Gesetzes über die Wahl zu den Bezirksversammlungen und des Bezirksverwaltungsgesetzes v. 19.10.2006, HmbGVBl. I S. 519 i. V. m. Art. 54 Satz 1 HmbVerf. 201 Vgl. Otmar Jung: Volksgesetze und parlamentarische Konterlegislatur, in: Klemens H. Schrenk/Markus Soldner (Hrsg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme. Festschrift für Wolfgang Ismayr, Wiesbaden 2010, S. 427–442. 202 Vgl. Bek. des Senats v. 30.10.2007, Amtl. Anz. S. 2441; Pressemitteilung des Innensenators v. 30.10.2007, http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/inneres/ aktuelles/pressemitteilungen/2007/2007–10–30-bfi-pm-volksentscheid-verknpfg.html (Zugriff 12.11.2007), und eigene Berechnung.

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oder aufheben203. Die Gegenmeinung hält das Problem nicht für eine Rangfrage, sondern stellt auf das Muster der Konfliktlösung ab: Die (mehrfache) Beteiligung des Parlaments beim in Deutschland üblichen indirekten Verfahren der Volksgesetzgebung könne nur als Bindung verstanden werden. Die Idee der jederzeitigen Aufhebbarkeit eines Volksgesetzes durch das Parlament, das doch gerade korrigiert werden sollte, sei sinnwidrig204. Jedenfalls ohne eine wesentliche Änderung der Sach- oder Rechtslage (Clausula rebus sic stantibus) habe das Parlament seine Korrektur durch ein Volksgesetz hinzunehmen und zu respektieren205. c) Aushöhlung des obligatorischen Verfassungsreferendums durch Änderungspakete206 Die Verfassungsänderungen, die in den ersten fünfzig Jahren des Verfassungslebens in Bayern und Hessen dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurden, folgten dem klassischen Muster der Einzeländerung; es handelte sich jeweils um einen punktuellen Eingriff in das Normengefüge. Da wurde beispielsweise das Wahlalter gesenkt oder der Umweltschutz als Staatsziel verankert. 1994 geschah dann in Bremen das Novum, dass in einem Artikel-Gesetz nicht weniger als 34 Einzeländerungen zusammengefasst und als Paket dem Volk zur Entscheidung vorgelegt wurden. Es handelte sich um eine Verfassungsrevision, bei welcher der gesamte Dritte Hauptteil der Verfassung („Aufbau und Aufgaben des Staates“) überarbeitet wurde. Mit ihrer einen Stimme konnten die Bürger dazu Ja oder Nein sagen. Ein Aufschnüren des Pakets war nicht möglich. Die Revision gelang, und das Beispiel machte Schule: Eigentlich wollte die CSU vor allem die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre verlängern207, aber dann entwarf die Bayerische Staatsregierung 1997 zwei Verfassungsreformgesetze mit einer Vielzahl von Änderungen, die sie – nur locker gruppiert als „Weiterentwicklung im Bereich der Grundrechte und Staatsziele“ bzw. „Reform von Landtag und Staatsregierung“ – nach Zu203 Vgl. Otmar Jung: „Die rebellierende Vertretung“ (Fn. 194), S. 151–157; ders.: Volksgesetze und parlamentarische Konterlegislatur (Fn. 201), S. 430. 204 Vgl. Otmar Jung: „Die rebellierende Vertretung“ (Fn. 194), S. 159–162; ders.: Volksgesetze und parlamentarische Konterlegislatur (Fn. 201), S. 431. 205 So auch – allerdings beschränkt auf die laufende Legislaturperiode – Momme Jacobsen: Zur Verbindlichkeit der Volksgesetzgebung, in: DÖV 60 (2007), S. 949–960 (958 ff.). 206 Vgl. zu diesem Abschnitt Jung: Regieren (Fn. 55), S. 172–176. 207 Vgl. Klaus Hahnzog: Fünf Jahre nach der größten Verfassungsänderung seit 1946, in: BayVBl. 134 (2003), S. 679–681 (679).

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stimmung des Landtags 1998 dem Volk im Referendum vorlegte. Nun wurde auch Unmut laut: Der Richter am Bundesverfassungsgericht Steiner pointierte: „Der Bürger und seine Abstimmungsfreiheit werden nicht respektiert, wenn man ihn über Tierschutz, Sportförderung, Europabekenntnis, Gleichberechtigung der Geschlechter und Benachteiligungsverbot für Behinderte in einer Abstimmungsfrage entscheiden lässt. Diese Themen mögen dem verfassungspolitischen correctness-Stand unserer Zeit entsprechen; die ‚Einheit der Materie‘ wird damit nicht begründet“208. Auch in Hessen wollte die politische Elite 2002 die Wahlperiode verlängern. Vorsichtig geworden durch ihr Scheitern beim Referendum von 1995 über die Senkung des passiven Wahlalters, kombinierten die Regierungsplaner ihr eigentliches, aber „riskantes“ Vorhaben mit mutmaßlich attraktiven Reformprojekten wie der Aufnahme des Sports als Staatsziel in die Verfassung und der Einführung des so genannten Konnexitätsprinzips in die finanziellen Beziehungen des Landes zu seinen Kommunen. Uno actu abgestimmt, sollten diese Nebenthemen als Zugpferde das gesamte Gespann ins politische Ziel bringen. Es bedurfte erheblichen Drucks, vor allem durch juristische Gegenvorstellungen während einer öffentlichen Anhörung im Landtag, um die Verantwortlichen dazu zu bewegen, dass sie ihr Paket wieder aufdröselten, so dass dann im September 2002 – zurück konnte man ja nicht mehr – drei Einzel-Volksabstimmungen gleichzeitig stattfanden. Nur noch an den verschiedenen Zustimmungsquoten – 76,2 Prozent bzw. 73,8 Prozent Ja der gültigen Stimmen für die Nebenthemen, aber lediglich 55,5 Prozent Zustimmung für die eigentlich interessierende Verlängerung der Wahlperiode – zeigte sich das unterschiedliche Risiko, das den einzelnen Reformen beim Referendum angehaftet hatte. Die beiden letzten Verfassungsänderungen in Bayern, über die im September 2003 Referenden stattfanden, übertrafen das verfassungspolitische Muster von 1998 noch, insofern nicht einmal mehr ein wolkiger Überbegriff bemüht wurde. Vielmehr folgten die offiziellen Überschriften der Änderungsvorlagen unverhohlen dem Prinzip des Potpourris: Abgestimmt werden sollte über ein „Gesetz über den Zusammentritt des Landtags nach der Wahl, über die Parlamentsinformation und zur Verankerung eines strikten Konnexitätsprinzips“ sowie über ein „Gesetz zur Weiterentwicklung der Wahlgrundsätze, der Grundrechte und der Bestimmungen über das Gemeinschaftsleben“. Systematisch gesehen, klaubte das letztgenannte Gesetz aus 208

Udo Steiner: Schweizer Verhältnisse in Bayern? – Zu Bürger- und Volksbegehren im Freistaat. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e.V. am 3. April 2000, Regensburg 2000 (Schriften der Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg e.V. H. 15), S. 16 (Hervorhebung i. O.).

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dreien der vier Hauptteile der Bayerischen Verfassung alles zusammen, was der politischen Elite gerade reformbedürftig erschien. Proteste vor den Abstimmungen – weil, wer z. B. die Ausdehnung des Jugendschutzes auf den Schutz gegen Misshandlungen bejahen wollte, zugleich die Herabsetzung des passiven Wahlalters auf 18 Jahre in Kauf nehmen musste – wurden von den großen Landtagsfraktionen abgetan: Man hätte sonst sechs Stimmzettel drucken müssen (CSU) und über die Verfassung insgesamt sei 1946 doch auch in einem einzigen Volksentscheid, und nicht durch 188 Entscheide (d. h. artikelweise), abgestimmt worden (SPD). Tatsächlich hatten die Strategen im Maximilianeum zu München wohl vor allem bei der Senkung des Wählbarkeitsalters den „Reinfall“ ihrer hessischen Kollegen beim Referendum von 1995 vor Augen und versuchten sich dagegen durch die Pakettechnik abzusichern209. Mit der Taktik, Pakete zu schnüren, übertragen die Regierungen politische Methoden, die sie aus dem parlamentarischen Betrieb gewohnt sind, in die Arena des Referendums. Dort – im Bereich der repräsentativen Demokratie – werden auf diese Weise durch Geschäft und Gegengeschäft Gruppeninteressen wenigstens teilweise befriedigt und so Mehrheiten organisiert. Hier dagegen – bei der direkten Demokratie – geht es vor allem um die Kontrolle des Handelns der Vertreter; das Referendum soll dazu dienen, die von den Staatsorganen initiierten Verfassungsänderungen mit den Präferenzen der Bürger abzugleichen, und dies wird, wie die angeführten Beispiele illustrieren, durch die Pakettaktik enorm erschwert bzw. unterlaufen. Übrig bleibt ein undifferenziertes Akklamationsverfahren. Der rechtliche Kern der Malaise besteht darin, dass das Prinzip der „Einheit der Materie“ verletzt wird, das im Bereich der direkten Demokratie aus gutem Grunde gilt – um der erwähnten Abstimmungsfreiheit willen, genau: des Rechts auf unverfälschte Willenskundgabe. Juristische Gegenwehr wider jene Pakettaktik gelang nicht. Zwar hatte der BayVerfGH noch 2000 penibel auf das Prinzip der „Einheit der Materie“ für ein Volksbegehren geachtet. Ein Gesetzentwurf mit dem Kennwort „Unabhängige Richterinnen und Richter in Bayern“, der die Organisation des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ändern und für die Anstellung und Beförderung aller Richterinnen und Richter des Freistaats einen Richterwahlausschuss einführen wollte, koppelte nach seinem Erkenntnis unzulässigerweise zwei sachlich nicht zusammenhängende Materien. Beide Regelungsgegenstände mussten getrennt 209 Unkritisch dazu Hahnzog: Lebendige Bayerische Verfassung (Fn. 54), S. 322. – Hahnzog, vor der 1998er Reform Verhandlungsführer der SPD-Landtagsfraktion (vgl. Hahnzog: Fünf Jahre nach der größten Verfassungsänderung (Fn. 207), S. 679), war offenbar zu sehr involviert in diese Reformen, die er – outputkonzentriert – nur unter den Gesichtspunkten „Weiterentwicklung“ und „Revitalisierung“ wahrnahm (vgl. ders.: Lebendige Bayerische Verfassung (Fn. 54), S. 321).

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behandelt werden, und zwar für das gesamte Verfahren des Volksbegehrens210. Im Ergebnis ordnete das Bayerische Staatsministerium des Innern für die beiden Volksbegehren, in die man das ursprüngliche Projekt aufgeteilt hatte, sogar je eigene Eintragungsfristen an211. Der Versuch im Wege der Popularklage, diese Grundsätze auch auf die beiden letzten Verfassungsänderungs-Pakete von 2003 anzuwenden, misslang freilich. Der BayVerfGH bestätigte seine bisherige Rechtsprechung212, dass das Koppelungsverbot für Verfassungsreferenden nach Art. 75 Abs. 2 BayVerf. nicht gelte213. Wenn man dem Grundgedanken der Bayerischen Verfassung folgt, dass die Stabilität der Verfassung dem Volk anvertraut ist214, und eine maßvolle Lösung sucht, ergibt sich: Es war ein verfassungspolitischer Fehler, dass man in Bayern nach den Einzeländerungen von 1970 („Wahlalter“) und 1973 („Landtagswahlrecht“) – sowie auch 1984 („Umweltschutz“) – jahrebzw. jahrzehntelang zuwartete, also den Reformbedarf sich sozusagen aufstauen ließ, um dann plötzlich innerhalb von fünf Jahren vier große Änderungspakete zu schnüren und dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Seit dem ersten Verfassungsänderungsreferendum von 1970 wurde neunmal der Landtag neugewählt. Hätte man zu jedem dieser Wahltermine (um gleich der leidigen Kostendiskussion die Spitze zu nehmen) jeweils zugleich über die bis dahin als nötig erkannten Verfassungsreformen abstimmen lassen (wie man es 2003 schließlich dann tat), hätte man, zusammen mit den beiden Extraterminen von 1984 und 1998 und unter Beibehaltung der Doppelvolksentscheide von 1998 und 2003 hypothetisch insgesamt 14 statt realiter sechs Referenden gehabt und damit die Reformfragen erheblich genauer stellen können – freilich womöglich auch einen „Reinfall“ wie Hessen 1995 bei der Senkung des passiven Wahlalters riskiert. d) Kein Referendum über die Europäische Verfassung 2005 Als das Projekt einer Verfassung für die Europäische Union Gestalt annahm – etwa in dem Jahr vor der Erklärung von Laeken –, schien es für eine Weile so, als ob ein neues Denken in der deutschen politischen Elite Eingang finden würde. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller 210

BayVerfGH, Entsch. v. 24.2.2000, BayVerfGHE 53, 23–34. Bestätigt in BayVerfGH, Entsch. v. 24.3.2000, BayVerfGHE 53, 35–42 (mit Sondervotum 39–42 (S. 42: „Willkürentscheidung“)). 212 Vgl. BayVerfGH Entsch. v. 18.10.1974, BayVerfGHE 27, 153 (161 ff.); siehe auch E 29, 244 (253); bestätigt durch E 53, 23 (32 f.). 213 BayVerfGH, Entsch. v. 17.11.2005, BayVerfGHE 58, 253–265. 214 Vgl. Otmar Jung: 50 Jahre verfassungswidrige Praxis der Volksgesetzgebung in Bayern? Zu dem Isensee-Gutachten betr. das Gesetz zur Abschaffung des Bayerischen Senates, in: BayVBl. 130 (1999), S. 417–430 (425 f.). 211

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illustrierte im November 2000 sein Plädoyer für Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene u. a. mit dem Beispiel, dass dann über „die Vertiefung und Neugestaltung der Europäischen Union“ abgestimmt werden könnte215. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber wurde grundsätzlich: „Wenn Europa einen Verfassungsvertrag erhält, dann sollte das Volk befragt werden. . . . Bei der anstehenden Entscheidung über die umfassende Neufestlegung der Befugnisse Europas und der Mitgliedstaaten bin ich für ein Referendum in Deutschland.“216 Der CSU-Europaabgeordnete und Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Ingo Friedrich, bezog die gleiche Position217. Am 8. November 2001 wiederholte Stoiber in einer europapolitischen Grundsatzrede in Berlin seine Forderung, über die Ergebnisse der laufenden Regierungskonferenz zu den Reformen in der EU 2004 eine Volksabstimmung abzuhalten. „Bei Fragen von fundamentaler Bedeutung dürfe nicht über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden werden.“218 Auch die Unions-Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) und Dieter Althaus (Thüringen) forderten, das Volk über die EU-Verfassung abstimmen zu lassen. Doch was man für eine freie demokratische Diskussion halten könnte, wurde alsbald in die Schubladen des herkömmlichen Politikbetriebs eingeordnet und damit „entschärft“: Stoiber – Exponent der immer etwas eigenbrötlerischen bayerischen CSU, Müller – der Dissident von der Beschlusslage der großen Unionsschwester. Immerhin sprachen sich am 26. November 2001 CDU/CSU gemeinsam für ein Referendum über eine europäische Verfassung aus. Gleichzeitig bekräftigte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel allerdings die Ablehnung allgemeiner bundesweiter Volksabstimmungen219. In der Folgezeit änderte sich der Diskurs und fiel auf die alte, „bewährte“ Position zurück: Ein Europareferendum mache man doch nicht, wenn man nicht „muss“, und nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 erscheine auch jetzt eine Volksabstimmung nicht unumgänglich. Dass ein Referendum, auch wenn verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten, dennoch politisch sinnvoll sein könnte – um gleichzuziehen mit den anderen Referendumsländern der Europäischen Union, um die Bür215

Vgl. Müller: „Volksentscheid über Zuwanderung“, in: Bild am Sonntag v. 5.11.2000 (ein typisch verkürzender Titel; Müller hatte diesen Gegenstand erst als zweites Beispiel genannt). 216 Interview in: DIE ZEIT Nr. 26 v. 21.6.2001. 217 Vgl. Die Welt Nr. 161 v. 13.7.2001. 218 Vgl. Tsp. Nr. 17 583 v. 9.11.2001. Siehe auch Jung: Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 278 f. 219 Vgl. Mehr Demokratie, Bundesverband, Pressemitteilung v. 27.11.2001; Union will Referendum über EU-Verfassung, in: SZ v. 27.11.2001.

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gerinnen und Bürger „mitzunehmen“ auf den Weg der Einigung Europas und um wider das unbestreitbare Demokratiedefizit der Europäischen Union ein deutliches Zeichen zu setzen –, derlei wurde gar nicht gedacht, bzw. solche Gedanken hatten bei der etablierten Politik keine Chance. Lediglich die FDP – freilich als kleine Oppositionsfraktion auch von politischer Verantwortung frei – warb für eine entsprechende Volksabstimmung in Deutschland220. Nach der französischen Ankündigung am Nationalfeiertag 2004, ein Referendum über den mittlerweile ausgearbeiteten Verfassungsvertrag abzuhalten, folgte eine aufgeregte politische Diskussion. Nach manchem Zögern und Sträuben gab die rot-grüne Koalition dem öffentlichen Druck nach und ergänzte ihren Gesetzentwurf „zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz“ aus der letzten Legislaturperiode221 um eine Klausel, die Referenden ermöglichen sollte. Sie lautete: „Der Bundestag kann auf Antrag der Bundesregierung, des Bundesrates oder aus der Mitte des Bundestages beschließen, dass über ein Gesetz, für das eine verfassungsändernde Mehrheit erforderlich ist, ein Volksentscheid stattfindet. Der Beschluss bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.“222

Zu den Quoren war folgendes vorgesehen: „Ein Gesetz ist beschlossen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat, sofern diese Mehrheit mindestens fünfzehn vom Hundert der Wahlberechtigten umfasst. Ein das Grundgesetz änderndes Gesetz ist beschlossen, wenn zwei Drittel der Abstimmenden zugestimmt haben, sofern diese Mehrheit mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten umfasst.“223 220 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung, BT Drs. 15/1112 v. 4.6.2003. Demnach sollte nach Artikel 23 Abs. 1 GG folgender neue Absatz 1a eingefügt werden: „(1a) Die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zu einem Vertrag, mit dem eine europäische Verfassung eingeführt wird, bedarf der Zustimmung durch einen Volksentscheid. Die Mehrheit bei dem Volksentscheid ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfasst. Ein Volksentscheid wird auf Beschluss des Bundestages durchgeführt. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.“ Der Entwurf wurde am 6.11.2003 abgelehnt. – Wiederholt als Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung, BT Drs. 15/2998 v. 28.4.2004. Dieser Entwurf wurde am 21.4.2005 abgelehnt. 221 BT Drs. 14/8503 v. 13.3.2002. 222 Zitiert nach FAZ Nr. 254 v. 30.10.2004, der nach ihrem Bekunden der Entwurf vorlag. 223 Ebenda.

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Nun hatten sich jene, die einmal „mehr Demokratie wagen“ wollten, also auf den Irrweg eines so genannten fakultativ-plebiszitären Staatsvertragsreferendums begeben224, und die Reaktion der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung auf den rot-grünen Vorschlag fiel skeptisch bis verheerend aus225. Da sich führende Politiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion alsbald ablehnend äußerten, sahen die Koalitionsfraktionen schließlich davon ab, ihren Entwurf förmlich im Bundestag einbringen. 2005 folgte dann die Ratifizierung der Europäischen Verfassung als parlamentarische Farce226. Die weitestgehende Zustimmung der politischen Elite wurde auf den gewohnten, vertraulichen Kanälen abgesprochen und dann in den repräsentativen Institutionen routiniert „durchgezogen“. Das Parlament als Tribüne der Nation – Fehlanzeige. Eine wirkliche politische Auseinandersetzung fehlte, obwohl viele Parlamentarier nur missmutig zustimmten. Eine kontroverse parlamentarische Debatte fand nicht statt. Nach der Fraktionsregie durfte kein Gegner des Vertragswerkes ans Rednerpult. Erst wenn man die von nicht weniger als 90 Abgeordneten einzeln oder gemeinsam formulierten Erklärungen liest, die nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben wurden, findet man die eigentliche Sachdiskussion über den Verfassungsvertrag, welche die politische Führung – sit venia verbo – einfach unterdrückt hatte. „Absegnen“ bzw. „Durchwinken“ waren denn auch die bezeichnenden Begriffe, mit denen dieses Verfahren bedacht wurde. Dabei schielte das deutsche Parlament – welche Ironie – auf das zum Referendum aufgerufene französische Volk, das man durch eine möglichst geschlossene Ja-Entscheidung beeindrucken, dem man ein „Signal“ geben wollte. Es war nicht nur einer Volksvertretung unwürdig, sich für eine außenpolitische „Geste“ der Demonstration instrumentalisieren zu lassen. Die ganze Veranstaltung dürfte auch auf die französischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die gerade vor ihrer Volksabstimmung demokratische Leidenschaft auslebten, kaum einen Effekt gehabt haben. Jedenfalls war es, wenn man schon Einfluss auf den westlichen Nachbarn nehmen wollte, für das politische Establishment in Deutschland offenbar undenkbar, dann eben die deutsche Volksabstimmung vor dem französischen Referendum abzuhalten. 224 Vgl. Otmar Jung: Staatsvertragsplebiszite in Deutschland? – Zu dem rot-grünen Vorschlag eines fakultativ-plebiszitären Referendums über bestimmte EuropaAbkommen –, in: RuP 41 (2005), S. 99–107. 225 Vgl. a. a. O., S. 105 Fn. 10. 226 Vgl. zum Folgenden Otmar Jung: Ja zum bundesweiten Volksentscheid in Deutschland, in: Gerhard Hirscher/Roman Huber (Hrsg.): Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion, München 2006 (Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 46), S. 15–23 (16 f., 20 ff.).

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II. Bewusstseinsebene: Die geistige Auseinandersetzung mit direkter Demokratie Die bisherige Darstellung war realgeschichtlich. Sie folgte einzelnen Gesetzen, konkreten direktdemokratischen Projekten und fallbezogenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, und sie war strukturiert nach den gebietskörperschaftlichen Ebenen der Länder, der Kommunen und des Bundes. Darüber hinaus gibt es aber eine allgemeinere – die geistige – Auseinandersetzung mit direkter Demokratie, die hier als „Bewusstseinsebene“ bezeichnet werden soll. 1. Die allgemeine politische Auseinandersetzung a) Direkte Demokratie ist ein „normales“ Reform-Thema geworden Das Thema direkte Demokratie ist heraus aus den „Evangelischen Akademien“. Dies möge nicht missverstanden werden. Es ist ja gerade eine Aufgabe solcher Einrichtungen, „vorauszudenken“ – heute schon einmal aufzugreifen, was vielleicht erst in der Zukunft kommt –, und man muss jenen Akademien dankbar sein, dass sie diese Aufgabe wahrgenommen haben227. Aber das Thema ist nun eben aus dem Raum des „Vordenkens“ herausgewachsen. Wer heute mehr direkte Demokratie fordert, wird nicht (mehr) als Exot oder gar Chaot angesehen und mit dem Totschlagsargument bekämpft, er wolle „eine andere Republik“. Direkte Demokratie ist ein „normales“ Reform-Thema geworden, zu dem man sich auch „normal“ – positiv oder negativ – verhalten kann. Symptomatisch dafür erscheint, dass die vier letzten Bundespräsidenten – Richard v. Weizsäcker (1984–1994)228, Roman Herzog (1994–1999)229, 227

Vor allem sei hier genannt die Evangelische Akademie Hofgeismar, vgl. Direkte Demokratie in der Weimarer Republik. Eine verfassungspolitische Vergegenwärtigung, hrsg. von Tilman Evers, Hofgeismar 1988 (Hofgeismarer Protokolle Nr. 248); Direkte Demokratie in Deutschland. Handreichungen zur Verfassungsdiskussion in Bund und Ländern. Mit Entwürfen zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene („Hofgeismarer Entwurf“), hrsg. von der Evangelischen Akademie Hofgeismar/Stiftung Mitarbeit, Bonn 1991 (BrennpunktDokumentation Nr. 12). 228 Vgl. „Ich bin für mehr plebiszitäre Elemente. (. . .) Volksbegehren und Volksbefragungen führen zu einer breiten, oft zugespitzten, aber doch auch aufklärend wirkenden Diskussion. Je informierter der Bürger ist, desto weniger wendet er sich ab.“ (1993) http://www.muenster.org/mehr-demokratie/meinung/mein01.htm (Zugriff 29.10.2007). – Ferner in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, zitiert hier nach Tsp. Nr. 14 853 v. 14.3.1994: „. . . sprach sich der Bundespräsident für mehr plebiszitäre Elemente aus. Das Parteienmonopol lasse die

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Johannes Rau (1999–2004)230 und Horst Köhler (seit 2004)231 – sich alle für eine direktdemokratische Ergänzung des Grundgesetzes ausgesprochen Distanz zwischen Bürger und Partei immer stärker wachsen. Die Franzosen und Dänen seien doch keine demokratischen ‚Amokläufer‘, weil es bei ihnen mehr Volksbeteiligungen gebe als in Deutschland . . . Das Grundgesetz sei gut, lebe aber und brauche sich ‚gegen Erfahrungen nicht abzusperren‘. Auch die Bundesländer hätten mit Volksbefragungen und Volksinitiativen gute Erfahrungen gemacht. Zu Europa, Umwelt, Gesundheit, Verkehr oder soziales Jahr etwa gebe es Fragen, die des Verständnisses und der Beteiligung der Bürger bedürften.“ 229 Vgl. die ironische Bemerkung (noch als Präsident des Bundesverfassungsgerichts): „Im übrigen weiß jeder, dass ich ein Anhänger der direkten Demokratie bin. (. . .) Es gibt viele Themen, bei denen ich den Bürgern mindestens so viel Verstand zutraue wie den Abgeordneten und den Ministerialbeamten.“ (1992), http:// www.muenster.org/mehr-demokratie/meinung/mein01.htm (Zugriff 29.10.2007). Ebenso zum Thema „Volksabstimmungen ins Grundgesetz“: Es gebe „keine Garantie dafür, dass das Volk dümmer ist als seine Ministerialräte und seine Abgeordneten“ (Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk am 13.10.1993, zitiert hier nach: Tsp. Nr. 14 706 v. 14.10.1993; auch in: Das Parlament Nr. 43 v. 22.10.1993). – Als Altbundespräsident erklärte Herzog in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“: „Die Frage sollte nicht sein, ob das Volk durch Plebiszite entscheiden kann, sondern: worüber es entscheiden soll. In gewissen Grenzen befürworte ich plebiszitäre Elemente. Ob das den Parteienstaat stärkt oder schwächt, ist eine andere Frage. Plebiszite können ein belebendes und vielleicht sogar kreativitätsförderndes Element sein. Aber sie können auch zum willkürlichen Instrument der Opposition werden.“ Tsp. Nr. 16 998 v. 19.3.2000. Ferner schlug Herzog ein Referendum über die künftige Verfassung der Europäischen Union vor (vgl. Die Welt Nr. 215–37 v. 14.9.2000). 230 Vgl. seine Rede auf dem Jahresforum des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ am 14.10.2000 in Berlin über „Die Zukunft unserer Demokratie“, http://www.bundespraesident.de/frameset/index.jsp (21.3.2001): „Ich halte es für richtig, dass inzwischen alle Parteien darüber nachdenken, wie wir unser Grundgesetz durch plebiszitäre Elemente bereichern können. . . . Gerade im Zeitalter globaler Veränderungen ist unsere repräsentative Demokratie mehr den je auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Ich wünsche mir, dass die Bürgerinnen und Bürger zusätzliche und neue Möglichkeiten bekommen, über ihre Belange zu entscheiden. Das stärkt die Demokratie. . . . Wir haben mit Bürgerbegehren und Volksbegehren, mit Bürgerentscheiden und Volksentscheiden in den Städten und Gemeinden und in vielen Ländern insgesamt gute Erfahrungen gemacht. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich stärker mit den politischen Verhältnissen identifizieren können, wenn sie bestimmte Fragen direkt mit entscheiden können. Volksbegehren und Volksentscheide können und sollen die Parlamente nicht ersetzen, sondern deren Arbeit ergänzen.“ – Am Jahresende wurde Rau im Hessischen Rundfunk noch deutlicher (es sei „nicht befriedigend für die Bürger, dass sie nur alle vier Jahre ihre Stimme abgeben können und dass sie im Übrigen keinen direkten Einfluss haben“) und brachte das psychologische Problem der politischen Klasse auf den Punkt: „Die Politik dürfe keine Angst vor dem Votum des Volkes haben. Auch die Gefahr unangenehmer Mehrheiten könne die Mündigkeit der Bürger nicht in Frage stellen. ‚Der Missbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern‘ “, zitierte Rau Thomas von Aquin (Tsp. Nr. 17 277 v. 31.12.2000/1.1.2001).

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haben232. Speziell die SPD erlebte nach der Bildung der rot-grünen Koalition, dass gerade in den ersten anderthalb Jahren, als sie so gut wie nichts zur Umsetzung der einschlägigen Koalitionsvereinbarung tat, eine ganze Reihe prominenter Sozialdemokraten – freilich jenseits des aktuellen Regierungsgeschäfts – unentwegt auf eine solche Reform hinwirkte: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse233, der frühere Bundesgeschäftsführer der Partei Peter Glotz234, der vormalige Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel235 und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach236. 231 Vgl. Köhler in einem „Focus“-Interview am 13.9.2004 zum Stichwort „Volksabstimmung“: „Ich denke, Deutschland kann sich eine Diskussion über mehr Elemente der direkten Demokratie zutrauen . . .“ Frage: Aber im Prinzip sind Sie dafür? Antwort: „Ich bin dafür, dass man das offen diskutiert. Dabei will ich allerdings sichergestellt sehen, dass das Volk auch wirklich weiß, worüber es entscheidet, bevor es an die Urnen gerufen wird. Hierüber habe ich noch nicht genug gehört.“ Horst Köhler: Reden und Interviews. Bd. 1: 23. Mai 2004–30. Juni 2005, o. O. o. J. (Berlin 2005), S. 302. – Ferner Köhlers Ansprache anlässlich des 50. Jahrestages der Volksabstimmung über das Saarstatut in Saarbrücken am 23.10.2005: „Die Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 zeigt, wie genau die Bürgerinnen und Bürger in solchen Fällen ihre Interessen und die für sie beste Lösung einschätzen können. Das Entscheidende war, dass sie überhaupt die Chance dazu bekamen. Möglicherweise gibt es noch zu wenige solcher Chancen. Unser Grundgesetz kennt Volksentscheide bisher nur in Zusammenhang mit der Neugliederung des Bundesgebiets – gewiss auch ein bedenkenswertes Thema, aber gewiss nicht das einzige, bei dem die Bürger ein direktes Mitspracherecht verdienen. Darum plädiere ich dafür, auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene über mehr Elemente direkter Demokratie nachzudenken, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet – und die dringend nötige Föderalismusreform ist eine davon.“ http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-, 11057.627128/Ansprache-von-Bundespraesident.htm?global.back=/-%2c11057%2c0/ Reden-und-Interviews.htm%3flink%3dbpr_liste%26link.sDateV%3d20.10.2005%26 link.sDateB%3d30.10.2005 (Zugriff 28.11.2007). 232 Quellenkritisch gesehen sind die hier zusammengetragenen Äußerungen natürlich nur Splitter, die keine systematische Analyse des politischen Denkens dieser Persönlichkeiten und der Verortung der direkten Demokratie darin ersetzen. 233 Thierse plädiert für mehr Bürgerbeteiligung im Bund, in: Tsp. Nr. 16 559 v. 28.12.1998; ebenso ders. bei einer Diskussionsrunde am 14.3.2000 „Der Staat – eine Beute der Parteien“, vgl. Tsp. Nr. 16 995 v. 16.3.2000 (die Demokratie sei „durch mehr plebiszitäre Elemente zu ‚verlebendigen‘ “), und bei einer Diskussion in Mainz, vgl. Volk oder Parteien – wer ist der Souverän? Podiumsdiskussion im Landtag Rheinland-Pfalz am 20. Juni 2000, Mainz 2000 (H. 12 der Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz) („Ich bin für alle drei grundlegenden Elemente auf der Bundesebene“, S. 38; „ich bin sehr dafür, dass wir das tun, weil das auch die Parteiendemokratie vitalisieren kann“, S. 60; „Vertrauen in das Volk: . . . Ich bin für mehr Bürgerbeteiligung, auch auf Bundesebene“, S. 62). 234 Vgl. Tsp. Nr. 16 702 v. 26.5.1999 („Die Angst vor dem Volk“, die sich durch das Grundgesetz ziehe, müsse überwunden werden). 235 Hans-Jochen Vogel: Vertraut dem Volk! Unsere Demokratie wird durch mehr Plebiszite stärker – nicht schwächer, in: Tsp. Nr. 17 174 v. 16.9.2000.

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b) Die Umfragen weisen in die gleiche Richtung Hier enteilt mitnichten eine Elite. Die – repräsentativen – Umfragewerte für den Wunsch nach mehr direkter Demokratie und speziell für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene sind überwältigend. Hier nur eine Auswahl: Im Juli 1993 befürworteten in einer Allensbach-Umfrage 62 Prozent der Bevölkerung insgesamt die Volksgesetzgebung, 59 Prozent in West- und 76 Prozent in Ostdeutschland. Für den Volksentscheid sprach sich auch eine Mehrheit der Anhänger aller Parteien aus (bei politischer Orientierung auf CDU/CSU 50 Prozent, auf SPD 66 Prozent, auf FDP 72 Prozent, auf Bündnis 90/Grüne 77 Prozent und auf PDS 80 Prozent). Das Inkompetenzargument („die Bürger haben doch gar nicht das Fachwissen“) akzeptierten nur 25 Prozent der Bevölkerung insgesamt237. Als im März 1994 nach einem Referendum über ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz gefragt wurde238, war die Zustimmung noch höher: 73 Prozent der Bevölkerung insgesamt, 72 Prozent in West- und 78 Prozent in Ostdeutschland239. Im Oktober 2000 erklärten sich 33 Prozent der Bevölkerung insgesamt (37 Prozent in West- und 17 Prozent in Ostdeutschland) für die rein repräsentative Demokratie, 55 Prozent hingegen (52 Prozent in West- und 68 Prozent in Ostdeutschland) sprachen sich dafür aus, „dass möglichst viele politische Entscheidungen in Volksabstimmungen getroffen werden“ sollten240. Im April 2002 sollten die Befragten zu dem Vorschlag Stellung nehmen, „die Bevölkerung in wichtigen Fragen direkt abstimmen zu lassen, das heißt, Volksabstimmungen durchzuführen“. 71 Prozent fanden, „das wäre gut für unsere Demokratie, würde sie stärken“, während nur 9 Prozent (!) der Meinung waren, das wäre „nicht gut für unsere Demokratie“241. 236 Jutta Limbach: Verfassung und politische Kultur, in: Zur Sache: Deutschland. Dresdner Reden ’99 [7. Februar 1999], hrsg. vom Staatsschauspiel Dresden, Dresden 1999, S. 9–16 (13 f.). Vgl. schon früher: Limbach für Volksabstimmungen auf Bundesebene, in: Die Welt v. 13.11.1995. 237 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 10 (1993–1997), S. 663. 238 Natürlich wurden weder der Begriff „Volksgesetzgebung“ noch der Terminus „Referendum“ den Befragten vorgelegt, aber mit dieser Begrifflichkeit lassen sich die Stellungnahmen, zwischen denen man sich entscheiden sollte, auf den Punkt bringen. 239 Vgl. a. a. O., S. 664. – Die Zustimmung war dabei in Westdeutschland von 58 Prozent (1991) über 67 Prozent (1992) auf 72 (1993) gewachsen, in Ostdeutschland von 66 Prozent (1991) über 77 Prozent (1992) auf 78 Prozent (1993). 240 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 11 (1998–2002), S. 600. 241 Vgl. a. a. O., S. 601. – 20 Prozent waren unentschieden. Es wurde nicht mehr nach West- und Ostdeutschland differenziert.

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Bei der McKinsey-Umfrage 2002 plädierten, mit neun Verbesserungsvorschlägen für den Deutschen Bundestag konfrontiert, 53 Prozent der Befragten dafür, dass „mehr Entscheidungen direkt von den Bürgern und nicht vom Bundestag getroffen werden“ sollten242. Bei einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Illustrierten „Stern“ Mitte Dezember 2006 endlich trat eine überwältigende Mehrheit von 80 Prozent für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auch auf Bundesebene ein. Nur 16 Prozent lehnten das ab, der Rest war unentschlossen. Die Forderung nach direkter Demokratie wurde von den Anhängern aller Parteien mit großer Mehrheit geteilt. Bei den SPD-Anhängern waren es 81 Prozent, bei denen der CDU/ CSU 75 Prozent243. Nun sollen gewiss nicht direkte Demokratie und Demoskopie verwechselt werden, aber die letztere registriert hier – und dies seit Jahren – einen starken Wunsch in der Bevölkerung, der als politisches Faktum ernst genommen werden sollte. c) Die Parteien reagieren responsiv Die Parteien haben auf diese starke Stimmung reagiert. Ihre Beschlusslage ist durchweg positiv. Es „hängt“ zur Zeit „nur“ noch an der EbenenDifferenzierung der CDU, wonach direkte Demokratie zwar auf Kommunal- und Landesebene nützlich sei, auf Bundesebene aber nicht eingeführt werden solle, und auch dabei kommt noch einmal Bewegung in die Front durch die Debatte der Parteiprominenz, wo sich zwei Ministerpräsidenten – Müller (Saarland) und Rüttgers (Nordrhein-Westfalen) –, abweichend von der Beschlusslage, für Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene engagieren. Die jüngsten Programmarbeiten bei den Unionsparteien haben insoweit einen Fortschritt gebracht, als die CSU das bisher geltende Anathema („Die CSU lehnt Plebiszite auf Bundesebene ab“) nicht mehr in ihr neues Grundsatzprogramm übernommen hat244. Der seinerzeit designierte neue bayerische Ministerpräsident Beckstein ist ohnehin ein erklärter Befürworter einer 242

Vgl. Heino Faßbender/Jürgen Kluge: Perspektive Deutschland. Was die Deutschen wirklich wollen, Berlin 2006, S. 113. 243 Vgl. Forsa-Umfrage. Die Regierung ohne Volk, Stern v. 27.12.2006, http:// www.stern.de/politik/deutschland/forsa/:Forsa-Umfrage-Die-Regierung-Volk/579367. html (Zugriff 17.10.2007). 244 Diese Verwerfungsformel von 1993 (vgl. dazu Jung, Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 272) findet sich nicht mehr in dem am 29.9.2007 beschlossenen sechsten Grundsatzprogramm, vgl. Grundsatzprogramm. Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten, http://www.csu.de/csu-portal/ csude/uploadedfiles/Dokumente/Grundsatzprogramm.pdf (Zugriff 17.10.2007).

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direktdemokratischen Ergänzung des Grundgesetzes. Ob im Gegenzug sich die Position der CDU verhärtet hat, ist nicht eindeutig zu entscheiden245.

d) Praxis-Erfahrung als politischer Faktor Im Rahmen der realgeschichtlichen Darstellung wurde oben exemplarisch analysiert, welche Lernprozesse ein Volksbegehren auslösen kann, selbst wenn die Initiatoren nicht genügend Stimmen sammeln können. Tatsächlich aber wirkt die Erfahrung der Praxis viel weiter. Nicht nur Volksbegehren oder gar Volksentscheide „zählen“; sogar Projekte, die gar nicht zum Volksbegehren zugelassen wurden, sondern an der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte scheiterten, haben oft einen erheblichen Effekt: Sie popularisieren die direkte Demokratie als eine Möglichkeit, sich zu wehren, in den politischen Routineprozess zu intervenieren, den etablierten Kräften ein „So nicht!“ entgegenzusetzen. Sehr deutlich wurde dies bei dem im Ergebnis verfassungsgerichtlich nicht zugelassenen Volksbegehren „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal!“ 2003-05. Das gleiche gilt für die Kommunalebene, wo noch der Effekt zu bedenken ist, dass ein Bürgerbegehren bzw. Bürgerentscheid in einer Gemeinde natürlich in allen Nachbargemeinden wahrgenommen und mit Interesse verfolgt wird. Die Instrumente der kommunalen Direktdemokratie werden auf diese Weise immer mehr im politischen Bewusstsein verankert. Insofern akkumuliert sich zur Zeit nicht nur zunehmend Praxis auf der Landes- und Kommunalebene, sondern diesem politischen Prozess ist gleichsam ein Multiplikationseffekt für die Bewusstseinsebene „eingebaut“246. Dass sich sogar Verfahren, die gar nicht stattgefunden haben, bewusstseinsmäßig auswirken, illustriert auch die gesamtstaatliche Ebene. Die beherrschende Perspektive der politischen Elite mag sein, dass man die Referenden in Frankreich und den Niederlanden nie hätte „riskieren“ dürfen, bei denen die EU-Verfassung „durchfiel“ und im Ergebnis als solche scheiterte. In der Bevölkerung dürften sich viele Leute eher fragen, warum eigentlich die Spanier, Franzosen und Niederländer an die Urnen gerufen wurden und über das Projekt „EU-Verfassung“ selbst entscheiden durften – vorgesehen 245 Immerhin wurde die alte Aussage des Grundsatzprogramms von 1994, Elemente unmittelbarer Demokratie könnten „das repräsentative System vor allem auf den regionalen Ebenen sinnvoll ergänzen“ (vgl. Jung, Volksentscheid ins Grundgesetz? (Fn. 123), S. 270 – Hervorhebung nicht i. O.), in das CDU-Grundsatzprogramm 2007, Punkt 283, ohne das Modaladverb übernommen, vgl. http://www.cdu. de/doc/pdfc/071203-beschluss-grundsatzprogramm.pdf (Zugriff 4.12.2007). 246 Von Prozessen „des institutionellen Lernens“ sprachen Gabriel/Walter-Rogg (Fn. 112), S. 43, 47.

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waren ursprünglich noch Referenden in Großbritannien, Irland, Luxemburg, Polen, Portugal, Schweden und Tschechien –, während in Deutschland Bundestag und Bundesrat wieder einmal über die Köpfe der Leute hinweg diese Grundsatzfrage entschieden. Angesichts dieser Frage „zerbröseln“ dann natürlich die üblichen Argumente mit Komplexität etc., denn die Folgerung, dass die Franzosen klüger wären usw., wagt ja auch von der politischen Elite niemand laut zu ziehen. e) Der verfassungspolitische Mainstream beginnt sich zu verändern Aus all dem ergibt sich ein Umschwung247, den ein Parteistratege auf den Begriff gebracht hat: Es spreche „einiges dafür, dass in der Bundesrepublik eine direktdemokratische Kultur im Entstehen begriffen ist. Der verfassungspolitische Mainstream . . . beginnt sich zu verändern.“248 In Bayern sieht der Autor bereits eine „plebiszitäre politische Kultur“249, ja er erkennt „einige Indizien dafür, dass in Deutschland allmählich Elemente einer plebiszitären Kultur entstehen“250. Und ein junger Politikwissenschaftslehrer, der sich verfassungspolitisch eher als Bremser denn als ein Vorkämpfer der direkten Demokratie zeigt251, stellte fest, „dass es in der Debatte um die direkte Demokratie heute im Grunde nur noch um das Wie gehen kann und nicht mehr um das Ob“.252

247 Daß „gewissermaßen eine ‚plebiszitäre Atmosphäre‘“ existiere, hatte der Verfasser bereits vor zehn Jahren festgestellt, vgl. Jung: Siegeszug (Fn. 1), S. 109. 248 Marian Krüger: Direkte Demokratie – Politische und soziale Erneuerungsprozesse. Fallbeispiele & internationale Erfahrungen, Berlin 2006, S. 19. – Diese Studie wurde im Auftrag des Bereichs Strategie und Politik der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei.PDS erstellt. – Das Wort von dem „neuen plebiszitären Swing“ prägte jüngst Heribert Prantl: Die Wiederentdeckung des Souveräns. Mehr Demokratie: Warum die Volksabstimmung mit dem Lissabon-Urteil neue Kraft gewinnt, in: SZ Nr. 155 v. 9.7.2009. 249 A. a. O., S. 11. 250 A. a. O., S. 22. 251 Decker möchte Deutschland genau noch einmal den schweizerischen Weg, beginnend mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum und dem fakultativen Gesetzesreferendum, gehen lassen (mit etwas verkürzten Etappen?). Siehe auch Frank Decker: Mehr direkte Demokratie? Aber dann richtig! In: Berliner Republik 9 (2007), S. 62 ff. 252 Frank Decker: Direkte Demokratie im deutschen „Parteienbundesstaat“, in: APuZG B 10/06 v. 6.3.2006, S. 3–10 (5 – Hervorhebungen i. O.).

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2. Die wissenschaftliche Beschäftigung Hier hat sich eine enorme Entwicklung vollzogen. Dazu sei an zwei ältere Weichenstellungen in der Verfassungsgeschichte erinnert: Als die Parteien des Abgeordnetenhauses von Berlin 1974 die Verfassung um die Volksgesetzgebung amputierten, behauptete der sozialdemokratische Fraktionsredner Heß, „die Entfernung der plebiszitären Komponente“ entspreche „einer allgemeinen Verfassungsentwicklung im Bundesgebiet“253. Und als die Enquete-Kommission Verfassungsreform gut zwei Jahre später ihren Schlussbericht vorlegte, führte sie u. a. aus, von Volksbegehren und Volksentscheiden sei in den einzelnen Bundesländern „so gut wie nie Gebrauch gemacht“ worden254. In der Schweiz werde die so genannte Referendumsdemokratie „in jüngerer Zeit deutlich zurückhaltend beurteilt. Es hat sich gezeigt, dass eine häufige Anrufung des Volkes schnell zur Abstimmungsmüdigkeit führen“ könne255. Derart falsche bzw. kurzsichtige Einschätzungen wären heute nach dem Aufschwung der Bearbeitung in Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und politischer Ökonomie kaum mehr möglich. Die Entwicklung der direkten Demokratie in den Bundesländern – beispielsweise – ist in dem hier vorgegebenen 15-Jahres-Zeitraum von Jürgens (1993)256 über Weixner (2002)257 bis Rux (2008)258 vorzüglich untersucht worden. Verfassungsrechtliche Analysen hoher Eindringlichkeit sind Hufschlag (1999)259, dem Sammelband von Neumann/v. Raumer (1999)260 und – zu dem Spezialthema des Finanztabus – Krafczyk (2005)261 zu verdanken. Zur Schweiz sei 253 Abg. Hans-Jürgen Heß (SPD), AH 26.9.1974, S. 2899; vgl. Otmar Jung: Weniger Demokratie wagen? – Seltsames aus der Berliner Verfassungsrevision –, in: JR 1996, S. 1–10 (5). 254 Siehe dagegen zu Bayern nur Jung: Daten zu Volksentscheiden (Fn. 37), S. 7; Christian Pestalozza: Aus dem Bayerischen Verfassungsleben 1965 bis 1988, in: JöR 37 (1988), S. 335–414 (384–388, 389–392). 255 Vgl. Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil I: Parlament und Regierung, Bonn o. J. (1976) (Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung Nr. 3/76), S. 53. 256 Jürgens: Direkte Demokratie in den Bundesländern (Fn. 59). 257 Weixner: Direkte Demokratie in den Bundesländern (Fn. 37). 258 Rux (Fn. 37). 259 Hans-Peter Hufschlag: Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz? Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und verfassungspolitische Konsequenzen direkter Demokratie im vereinten Deutschland, Baden-Baden 1999. 260 Peter Neumann/Stefan v. Raumer (Hrsg.): Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Volksgesetzgebung. Dargestellt am Beispiel der Art. 68, 69 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, Baden-Baden1999. 261 Krafczyk: Der parlamentarische Finanzvorbehalt (Fn. 157).

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auf die grundlegende Arbeit von Möckli (1994)262, den „offensiven“ Band von Kirchgässner/Feld/Savioz (1999)263 und die komparatistische Arbeit von Karr (2003)264 hingewiesen. Heußner (1994) hat die US-Bundesstaaten – das andere große Referenzfeld – vergleichend dargestellt265. Der Verfasser selbst hat zeitgeschichtliche Studien zu den Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie (1994)266 und zu den Volksabstimmungen der Nationalsozialisten (1995)267 vorgelegt. v. Arnim (2000)268, S. Jung (2001)269 und Schiller (2002)270 haben die direktdemokratischen Politikprozesse mit verschiedenen Ansätzen analysiert, Kirchgässner und Feld haben intensiv über die ökonomischen Effekte der direkten Demokratie geforscht271, und Schwieger (2005)272 sowie Wiegand (2006)273 haben jeweils einen verfassungsgeschichtlichen Überblick über die letzten 87 Jahre erarbeitet. Der von Schiller und Mittendorf herausgegebene Sammelband „Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven“ von 2002274 262

Möckli: Direkte Demokratie (Fn. 189). Gebhard Kirchgässner/Lars P. Feld/Marcel R. Savioz: Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel Genf München 1999. 264 Philipp Karr: Institutionen direkter Demokratie in den Gemeinden Deutschlands und der Schweiz. Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Baden-Baden 2003 (Rostocker Arbeiten zum Internationalen Recht Bd. 8). 265 Hermann K. Heußner: Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland. Ein Vergleich der Normen, Funktionen, Probleme und Erfahrungen, Köln Berlin Bonn München 1994 (Erlanger Juristische Abhandlungen Bd. 43). 266 Jung: Grundgesetz und Volksentscheid (Fn. 2). 267 Otmar Jung: Plebiszit und Diktatur: die Volksabstimmungen der Nationalsozialisten. Die Fälle „Austritt aus dem Völkerbund“ (1933), „Staatsoberhaupt“ (1934) und „Anschluß Österreichs“ (1938), Tübingen 1995 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts Bd. 13). 268 Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei, München 2000 [Taschenbuchausgabe 2002]; ders.: Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2001 [Taschenbuchausgabe 2004]; ders./Regina Heiny/Stefan Ittner: Politik zwischen Norm und Wirklichkeit. Systemmängel im deutschen Parteienstaat aus demokratietheoretischer Perspektive, Speyer 2006 (FÖV-Discussion Papers Nr. 35). 269 Sabine Jung: Die Logik direkter Demokratie, Wiesbaden 2001. 270 Theo Schiller: Direkte Demokratie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2002 (Campus Studium). 271 Vgl. Lars P. Feld/Gebhard Kirchgässner: Direkte Demokratie in der Schweiz: Ergebnisse neuerer empirischer Untersuchungen, in: Schiller/Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 36), S. 88–101; Gebhard Kirchgässner: Direkte Demokratie: Das Beispiel der Schweiz, in: ZfP 49 (2002), S. 306–331. 272 Christopher Schwieger: Volksgesetzgebung in Deutschland. Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland (1919–2002), Berlin 2005 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Bd. 71). 273 Wiegand: Direktdemokratische Elemente (Fn. 123). 263

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belegt, dass sich hier ein Forschungsgebiet etabliert hat mit einem Anspruch und einem Ertrag, die vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Fehlleistungen vor 30 Jahren nur staunen machen können275. Jüngst haben Freitag und Wagschal einen wichtigen Sammelband über Direkte Demokratie im internationalen Vergleich vorgelegt276. Mit dieser intensiven wissenschaftlichen Bearbeitung geht ein Umbau des Argumenten-Sets einher: Die angeblichen schlechten „Weimarer Erfahrungen“ versinken, man wendet sich unvoreingenommen zur Empirie hin, und eine qualifizierte Komparatistik kommt auf. Der „deutsche Fundamentalismus“ ist weitgehend überwunden277. Von der eben gemachten erfreulichen Feststellung gibt es aber eine Ausnahme: die neu aufgekommene Bundesratsdiskussion. Dass aus der Gestalt des deutschen Föderalismus erhebliche verfassungsrechtliche Probleme für die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene resultierten, wurde – wohlwollend formuliert – „in der Literatur lange Zeit ignoriert“278. Weniger freundlich gesagt, handelt es sich bei diesem „neuentdeckten“ Einwand bloß um „ein politisches Argument, sozusagen mangels anderer Argumente das letzte Abwehrgefecht“279. Hier sei nicht die Spezialliteratur280 referiert 274

Schiller/Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 36). Martin Sebaldt konstatierte denn auch, dass sich direkte Demokratie in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre nicht nur in der politischen Praxis, sondern „auch in der politikwissenschaftlichen Forschung eines boomartigen Aufmerksamkeitszuwachses“ erfreue, und lobte als den großen Vorzug des Bandes „seine immense Materialfülle“ (Besprechung von Schiller/Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie, in: ZfP 53 (2006), S. 485–488 (486 f.)). 276 Freitag/Wagschal (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 43). 277 Vgl. Jung: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 53–57. 278 Vgl. Decker: Direkte Demokratie im deutschen „Parteienbundesstaat“ (Fn. 252), S. 7. Von einer „früher vernachlässigten rechtlichen Vorfrage“ spricht Klaus Engelken: Rez. von Blaschke: Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, 2006, in: DVBl. 122 (2007), S. 430 f. (430). Sie werde „oft nicht gesehen, unterschätzt oder zu wenig gründlich behandelt“, so ders.: Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art. 79 Abs. 3 GG, in: DÖV 59 (2006), S. 550–556 (550). 279 Vgl. Tim Weber: Sind Volksgesetzgebung und Föderalismus vereinbar? in: ZfDD 15 (2003), H. 3 (Nr. 60), 30 ff. (32). 280 Vgl. Günther Beckstein: Volksgesetzgebung auf Bundesebene und bundesstaatliche Ordnung, in: Hans-Detlef Horn (Hrsg.): Recht im Pluralismus. Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 199–133; Jung: Direkte Demokratie und Föderalismus (Fn. 143); Denise Estel: Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, Baden-Baden 2006 (Studien zur Sachunmittelbaren Demokratie Bd. 1); Sebastian Blasche: Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Eine verfassungsdogmatische Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3, 2. Var. GG vor dem Hintergrund einer möglichen Einführung von 275

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und kritisiert. Vielmehr seien nur zwei Erwägungen sozusagen des gesunden Menschenverstandes auch unter Juristen angestellt: • Rückblickend gesehen, wären dann alle Debatten im Parlamentarischen Rat über die Aufnahme der Volksgesetzgebung ins Grundgesetz – vgl. nur Carlo Schmid: „Wir wollen kein Monopol für die repräsentative Demokratie.“281 – bis hin zu den Auseinandersetzungen am Ende, ob nun das Wort „Abstimmungen“ in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG stehen bleiben oder gestrichen werden solle282, gewissermaßen Gespensterdebatten gewesen, weil nach der Entscheidung über die Struktur der zweiten Kammer (des Bundesrates) die Tür für eine solche direktdemokratische Ergänzung der künftigen Verfassung bereits ins Schloss gefallen war – natürlich ohne dass die Akteure davon etwas ahnten. • Darf man eine Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) in Verbindung mit einer anderen Verfassungsvorschrift (Art. 50 GG), die nach dem Wortlaut jener Klausel nicht unabänderlich ist, so auslegen, dass die andere Vorschrift sozusagen zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Verfassung wird und damit auch eine Staatsfundamentalnorm – die „plebiszitäre Strukturoption“283 des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG – leer laufen lässt? Müsste man nicht vielmehr im Sinne praktischer Konkordanz einen schonenden Ausgleich zwischen den wirklich unabänderlichen Verfassungspositionen – der direktdemokratischen Ergänzung des Grundgesetzes, basierend auf Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, und der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG – suchen? Exkurs: ein angemessener Begriff Vor zehn Jahren hat der Verfasser zum „Siegeszug“ direktdemokratischer Institutionen gesprochen. Andere haben diesen Begriff – bis heute – ebenfalls gebraucht bzw. übernommen284, ja ihn sogar noch gesteigert285. Wegen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz, Baden-Baden 2006 (Studien zur Sachunmittelbaren Demokratie Bd. 2). 281 Vgl. Jung: Grundgesetz und Volksentscheid (Fn. 2), S. 296. 282 Vgl. a. a. O., S. 318 f. 283 Vgl. a. a. O., S. 319. 284 Vgl. Roland Geitmann: Der Siegeszug der kommunalen Direktdemokratie, in: Heußner/Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen (Fn. 77), S. 237–254; Decker: Die Systemverträglichkeit (Fn. 136), S. 1108. 285 So sprach Sterk von „einem beispiellosen Siegeszug“ (Thorsten Sterk: Demokratie auf dem Weg, in: Mehr Demokratie (Hrsg.): Tagung Bürgermacht vor Ort – Demokratie in den Kommunen. 2.–4. Juli 2004 Schloss Buchenau Eiterfeld/Hessen [Reader], S. 3), und Häfner rühmte „einen wahren Siegeszug“ (Häfner: Erfahrungen (Fn. 107), S. 105). Vgl. Melanie Walter-Rogg: Direkte Demokratie, in: Oscar W.

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des seinerzeit von Prof. v. Arnim hinter das Thema gesetzten Fragezeichens hat der Verfasser vor allem286 die Stimmigkeit der Metapher problematisiert: ob man nicht statt des militärische Assoziationen evozierenden „Siegeszugs“ besser, nun allerdings vielleicht ökonomistisch, von „Boom“287 oder „Aufschwung“288 sprechen sollte, bzw. ob sogar die Kritiker recht hätten, die hier eher eine Art „Epidemie“ sähen289. Das Phänomen als solches jedenfalls: die rasche Durchsetzung direktdemokratischer Instrumente nach Art einer Welle, wie sie die Politik in Deutschland öfter kennt290, erschien unbestreitbar. Nach den ersten hier skizzierten Rückschlägen kam freilich eine tiefer ansetzende Kritik: Auf Landesebene lasse sich „bereits ein deutlicher Ernüchterungseffekt feststellen. Dem Boom folgt die hausgemachte Flaute.“291 Dann hieß es, der „Siegeszug der direkten Demokratie“ habe „noch viele Fehler“292. Schließlich wurde das Oxymoron „ein schleichender Siegeszug“ geprägt, und der Autor wechselte vom militärischen in den (bahn-)technischen Bereich, um zu explizieren, „dass dieser Zug in den meisten Ländern eher einem klapprigen Waggon als einem modernen ICE gleicht. Die Hürden für Bürger- und Volksentscheide sind in der Mehrzahl der Länder zu hoch, darum steht die direkte Demokratie meist noch auf dem Abstellgleis. Doch wir finden in Deutschland glücklicherweise auch bürgerfreundliche Verfahren, die zur Lokomotive für faire Volksrechte werden können.“293 Während hier die Enttäuschung des Aktivisten unüberhörGabriel/Sabine Kropp (Hrsg.): Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, Wiesbaden 3. Aufl. 2008, S. 236–267 (257: „ein regelrechter Siegeszug“). 286 Gewiss habe ich später auch von einem „Siegeszug“ ohne Fragezeichen gesprochen, vgl. Otmar Jung: Mehr direkte Demokratie wagen, in: ders./Franz-Ludwig Knemeyer: Im Blickpunkt: Direkte Demokratie, München 2001, S. 13–72 (28); ders.: Direkte Demokratie – Forschungsstand und Perspektiven (Fn. 36), S. 22; ders.: Bürgerbeteiligung (Fn. 48), S. 12; ders.: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 313. 287 Vgl. Jung: Siegeszug (Fn. 1), S. 137; so auch Häfner: Erfahrungen (Fn. 107), S. 105. 288 Vgl. Otmar Jung: Der Aufschwung der direkten Demokratie nach 1989, in: Demokratie in Gefahr? Zum Zustand der deutschen Republik, hrsg. von Rainer Schneider-Wilkes, Münster 1997, S. 130–144; ders.: Mehr direkte Demokratie wagen (Fn. 286), S. 33. 289 Vgl. Jung: Siegeszug (Fn. 1), S. 104. 290 Vgl. a. a. O., S. 109. 291 Vgl. Kampwirth: Der ernüchterte Souverän (Fn. 134), S. 666. – Das hier die Bilder der Trunkenheit, der Ökonomie, der Küche und der Segelschifffahrt durcheinander gingen, sei nur nebenbei bemerkt. 292 Vgl. Mehr Demokratie e.V.: 1. Volksentscheid-Ranking. Die direktdemokratischen Verfahren der Länder und Gemeinden im Vergleich, 2003, http://www.mehr-de mokratie.de/fileadmin/md/pdf/bund/berichte/ranking.pdf (Zugriff 19.10.2007), S. 4.

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bar war, kam ein Politologe, der jüngst „die These vom ‚Siegeszug‘ direkter Demokratie in Deutschland anhand einer aktuellen Analyse des Verfahrens auf ihren praktischen Gehalt ‚abzuklopfen‘“ versuchte294, zu einem durchaus differenzierten Urteil295. Nun ist fairerweise zu bedenken, dass die Rückschläge erst nach jenem Vortrag vor zehn Jahren einsetzten296, und hellseherische Fähigkeiten muss man als Wissenschaftler ja nicht haben297, auch wenn gewiss mit Rückschlägen zu rechnen war. Heute freilich stellt sich die Aufgabe, jenes weiterhin unbestreitbar erscheinende Phänomen der raschen Durchsetzung298 mit den inzwischen erlittenen Rückschlägen begrifflich zusammenzubringen, wobei man tunlich von den nicht unangefochtenen bisherigen Termini loskommen sollte. Dafür sei hier „eine Erfolgsgeschichte trotz Rückschlägen“ vorgeschlagen.

B. Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk I. Ein beliebter Interpretationsrahmen – eigenes methodisches Vorgehen Die Angst der Regierenden bzw. der politischen Klasse vor dem Volk ist ein beliebter Interpretationsrahmen. Für viele Autoren ist dies eine Art Standarderklärung299, auch der Verfasser hat sie gelegentlich schon benutzt300, 293 Vgl. Ralph Kampwirth: Volksentscheide in Deutschland: Bayern Spitze, Berlin Schlußlicht, in: Brink/Wolff (Hrsg.): Gemeinwohl und Verantwortung (Fn. 143), S. 367–373 (368). 294 Matthias Ludwig: Direkte Demokratie in Deutschland – eine aktuelle Analyse. Quantitative und qualitative Befunde unter besonderer Berücksichtigung der Bundesländer Bayern und Hamburg, pol.wiss. Diplomarbeit FU Berlin 2007, S. 4. 295 Vgl. a. a. O., S. 82–87. – Die These lasse sich „vor allem auf die Etablierung direktdemokratischer Verfahren in den Landesverfassungen beziehen“ (S. 82); ansonsten könne aber von einem „Siegeszug“ nicht oder nur eingeschränkt die Rede sein. 296 Als der BayVerfGH das erste Volksgesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids mit Argusaugen prüfte (Entsch. v. 29.8.1997, BayVerfGHE 50, 181–213), war das Thema für das 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 natürlich schon formuliert und bearbeitet, und als die „Senatsentscheidung“ jenes Gerichtshofs am 17.9.1999 erging (BayVerfGHE 52, 104–142), war der Tagungsband bereits erschienen. 297 Vgl. Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 340. 298 Vgl. eine aktuelle Bemerkung aus Berlin (mit einer neuen Metapher): „In geradezu atemberaubender Geschwindigkeit haben sich in Ländern und Kommunen neue Formen der direkten Demokratie eingenistet.“ Ulrich Zawatka-Gerlach: Bürgerdemokratie. Kraft aus den Wurzeln, in: Tsp. Nr. 19 697 v. 15.10.2007. 299 Vgl. nur Diemut Majer: Die Angst der Regierenden vor dem Volk. Verfassungs- und geistesgeschichtliche Betrachtungen zu den Schwierigkeiten direktdemo-

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und ein Autor hat sogar die ganze Diskussion um eine Ergänzung des Grundgesetzes durch direktdemokratische Elemente von den ersten Nachkriegsjahren bis heute auf den Generalnenner „Angst vor dem Volk!“ gebracht301. Ironischerweise wird dieser Topos auch innerhalb der politischen Klasse eingesetzt, wenn etwa ein Bundespräsident warnte, „die Politik dürfe keine Angst vor dem Votum des Volkes haben“302, oder ein früherer Bundesgeschäftsführer der SPD forderte, „die Angst vor dem Volk“, die sich durch das Grundgesetz ziehe, müsse überwunden werden303, und natürlich im Parteienkampf, wenn die eine Partei vor einer Abstimmung der anderen vorwirft, bei ihr mache sich „die Angst vor dem Volk breit“304. Gleichwohl bedeutet es eine besondere Herausforderung, wenn Prof. v. Arnim meinem Thema der Fortschritte und Rückschritte bei der direkten Demokratie in den letzten 15 Jahren in Deutschland den Obertitel „Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk“ vorangesetzt hat. Hier ist eine systematische Prüfung, ob bzw. inwieweit dieser Ansatz trägt, geboten. Ich werde zunächst die „klassische“ Angst und als Kontrapunkt den modernen Respekt im historisch-politischen Kontext erschließen und dann die einzelnen realgeschichtlichen Ereignisse – Fortschritte und Rückschritte – auf einer Skala zwischen jenen Eckpunkten einordnen. II. Von der „klassischen“ Angst zum modernen Respekt Bei „Angst“ kann man zunächst denken an die Angst des Dompteurs vor dem Raubtier: Der Dompteur kennt den Tiger genau; er weiß, was dieser will und was er nicht leiden kann. Der Dompteur manipuliert den Tiger kratischer Bürgerbeteiligung seit 1789, in: Hans Herbert v. Arnim (Hrsg.): Direkte Demokratie. Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum vom 27. bis 29. Oktober 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2000 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 140), S. 27–50; Ralph Kampwirth: Bremen: Die Angst der Parteien vor dem „entfesselten“ Volk, in: Heußner/ Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen (Fn. 77), S. 177–188. – Auch nach manchen überzogenen Stellungnahmen der Opposition zu dem rot-grünen Gesetzentwurf 2002 machte der „Tagesspiegel“ dort „Angst vorm Volk“ aus (Nr. 17 706 v. 15.3.2002). 300 Vgl. Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 338. 301 Vgl. Stephan Büsching: Angst vor dem Volk! Die Diskussion um die Einführung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz, Frankfurt a. M. 2004; siehe dazu die Rez. des Verfassers in: PVS 46 (2005), S. 348–350. 302 Bundespräsident Rau, vgl. Tsp. Nr. 17 277 v. 31.12.2000/1.1.2001. 303 So Peter Glotz, vgl. Tsp. Nr. 16 702 v. 26.5.1999. 304 So die SPD vor dem jüngsten Volksentscheid in Hamburg an die Adresse der CDU, vgl. Die Welt v. 22.9.2007. – Vgl. in der Debatte über die Oppositionsentwürfe die Abg. Gisela Piltz (FDP) an die Adresse der CDU, BT 23.4.2009, S. 23575.

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perfekt und bringt ihn sogar dazu, Kunststücke zu machen – aber er weiß doch immer: Wenn die Manipulation versagt, wenn der Tiger einfach als Bestie ihm gegenübersteht, ist er – der Dompteur-Mensch – verloren. Für das Verhältnis von politischer Klasse und Volk mag das zutreffen in revolutionären Zeiten, wenn das Volk, das unendlich geduldige, die Verhältnisse gar nicht mehr erträgt und es dann heißt: „Die Aristokraten an die Laterne“305 – aber das war am Ende des 18. Jahrhunderts. Oder in einer gesamtnationalen (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassenden) Krise, wenn, wie Lenin sinnfällig formulierte, „die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können“306, dann stürzt die alte Macht, dann bricht ein Regime zusammen – aber das war zu Anfang des 20. Jahrhunderts. So lassen sich in Deutschland die Novemberrevolution 1918 und das Ende der DDR 1989 erklären, aber heute ist die Lage nicht so. Ich glaube nicht, dass unsere politische Klasse Angst in diesem Sinne empfindet, wenngleich auch in Demokratien Aus- und Aufbrüche möglich sind, welche die oft allzu eingefahrenen politischen Routinen mächtig durcheinanderwirbeln. Man denke an „1968“ bei uns bzw., noch deutlicher, an das, was damals in Frankreich geschah und später verhüllend „les événements du mai“ umschrieben wurde, als Staatspräsident de Gaulle immerhin den Notstand auszurufen erwog. Dagegen die Situation 2007 in Hamburg: Dort waren im März zwei parallele Volksbegehren zustande gekommen, von denen das eine („Rettet den Volksentscheid – Mehr Demokratie“) Verschlechterungen des Ausführungsgesetzes zur Volksgesetzgebung rückgängig machen wollte, während das andere („Hamburg stärkt den Volksentscheid – Mehr Demokratie“) Volkgesetze künftig sozusagen „parlamentsfest“ machen wollte. Die Unterstützung für beide Volksbegehren war praktisch gleich stark, indes reagierten Senat und Bürgerschaftsmehrheit völlig unterschiedlich. Während sie den ersten volksbegehrten Entwurf, wie erwähnt, übernahmen und als Parlamentsgesetz verabschiedeten, ließen sie es bei dem zweiten Entwurf auf einen Volksentscheid ankommen, sorgten allerdings mit geschicktem Timing dafür, dass die Abstimmung nicht zusammen mit den bevorstehenden Bürgerschaftswahlen, sondern – erstmals in Hamburg – zu einem isolierten Termin stattfand. Politisch lehnten Senat und Bürgerschaftsmehrheit beide Entwürfe ab. Die unterschiedliche Reaktion entsprang ruhigem taktischen Kalkül, dass die Initiatoren die Abstimmung an den Urnen über das erste – einfachgesetzliche – Projekt vermutlich gewonnen hätten, während sie mit ihrem 305

Aus dem Revolutionslied von 1790 „Ça ira“ („Les aristocrates à la laterne“). Vgl. W. I. Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: LW 31, S. 1–91 (71 – Hervorhebungen i. O.) [geschrieben April-Mai 1920]. 306

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zweiten – verfassungsändernden – Vorhaben angesichts der nun besonders hohen Hürden des Regelwerks jedenfalls ohne den „Huckepack“-Effekt gleichzeitig stattfindender Wahlen beim Volksentscheid scheitern dürften. Die etablierte Politik gab also an einer Stelle nach, um eine Niederlage zu vermeiden, und zeigte sich hart, wo sie glaubte, gegen die andere Seite bestehen zu können. Das gleicht doch dem Schachspieler, der eine gefährdete Figur zurückzieht, weil der Gegner sie sonst schlagen würde, aber eine andere angegriffene Figur stehen lässt, weil sie so gut gedeckt ist, dass der Gegner, wenn er sie schlüge, einen Materialverlust erleiden würde. Hat ein solcher Spieler Angst? Kaum. Er folgt vielmehr, ob er die Figur zurückzieht oder stehen lässt, einem rationalen Kalkül, das sich bezeichnenderweise von Computern errechnen lässt, die als Maschinen nun wirklich keine „Angst“ haben. Gegebenenfalls wird er Respekt vor dem Gegner – vor seiner „Spielstärke“ – empfinden und mit besonderer Umsicht die richtigen Abwehrzüge wählen; so ist wohl die Haltung der politischen Klasse Hamburgs besser umschrieben.

III. Die realgeschichtlichen Ereignisse im Einzelnen 1. Die Fortschritte Die flächendeckende normative Einführung der direkten Demokratie auf Landes- und Kommunalebene scheint zu einer Angst-Interpretation von vornherein nicht zu passen. Immerhin sei daran erinnert, dass Angst der Regierenden durchaus schon den demokratischen Fortschritt befördert hat. Die Verfassungswelle, die 1848/49 durch die deutschen Staaten ging, wäre ohne die Märzrevolution nicht zustande gekommen, und folgerichtig wurden die meisten dieser konzedierten Verfassungen denn auch in der Reaktionszeit, als die Angst der Regierenden gewichen war, ganz oder teilweise wieder kassiert. Aber so interessant dieses ältere Beispiel ist, es hilft kaum zur Erklärung des – nun verwende ich den Begriff noch einmal – „Siegeszugs“ direktdemokratischer Institutionen in den 1990er Jahren. Da mögen echtes Interesse an direkter Demokratie und Versuche, der sich ausbreitenden Politik(er)verdrossenheit zu begegnen, Zeitgeist und ein Nachziehen gegenüber anderen Bundesländern die politische Klasse motiviert haben – „Angst“ spielte dabei keine Rolle, eher im Gegenteil, möchte man sagen. Anders scheint es zu sein, wenn man die Regelungen im Einzelnen prüft, insbesondere die z. T. hohen Hürden und oft geradezu prohibitiven Quoren (als Beispiel wieder der jüngste Hamburger Fall: eine Zweidrittel-Mehrheit der Abstimmenden und zugleich die Zustimmung der Hälfte der Stimmberechtigten für ein verfassungsänderndes Volksgesetz). Dies ist offenbar so

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zu erklären, dass die politische Klasse zwar „modisch“ direktdemokratische Elemente einführen wollte, aber nicht zu einer echten Teilabgabe von Macht bereit war, sondern über jene Verfahrenskautelen dafür sorgte, dass die neue Direktdemokratie, wenn es ernst würde, auf der Ebene der symbolischen Politik verbliebe. Ursache dafür könnte Angst in der Form sein, dass man dem Volk letztlich nicht traute. Es könnte aber auch schlichter Egoismus – hier: Machtversessenheit – das Motiv sein, dass die politische Klasse ihr Machtmonopol so wenig freiwillig aufgibt wie irgendein anderer Monopolist. Wenn jedenfalls – im hamburgischen Beispielsfall – eine Regierung, die sich auf 32 Prozent der Wahlberechtigten stützt, den Abwehrkampf gegen ein Projekt, welches das überzogene Zustimmungsquorum für einen verfassungsändernden Volksentscheid von 50 auf 35 Prozent senken will, mit der Parole führt, dass dann in Hamburg künftig nicht mehr die Mehrheit entscheide, ist eine solche Regierung nicht ängstlich vor dem Volk, sondern dreist ihm gegenüber307. 2. Die Rückschritte a) Etliche Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte Dass den einschlägigen, oben behandelten Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte Angst zugrunde lag, ist von einer Reihe von Autoren behauptet worden308, und die Indizien dafür sind in der Tat stark. Wenn 307 Vgl. Gewerkschaften werfen Ole von Beust Unredlichkeit vor, in: Hamburger Abendblatt v. 29.9.2007. – Dieser Tatbestand ist weder etwas Besonderes (vgl. Eike Hennig: 34 Prozent bilden eine Regierung. Ein Rückblick auf die Hamburger Bürgerschaftswahl, in: vorgänge 36 (1997), H. 4, S. 9–13; Jung: Das Quorenproblem (Fn. 93), S. 876 f.; ders.: 50 Jahre verfassungswidrige Praxis (Fn. 214), S. 425; ders.: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 351 f.) noch zu kritisieren. Er lässt aber die Kampagne dieser Regierung zweifelhaft erscheinen – ganz abgesehen davon, dass ihre Parteifreunde in Thüringen das Zustimmungsquorum beim verfassungsändernden Volksentscheid 2003 von 50 auf 40 Prozent gesenkt haben (vgl. Art. 83 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ThürVerf.) und damit nach der jüngsten hamburgischen Lesart ebenfalls das Mehrheitsprinzip aufgegeben hätten. 308 Vgl. Peter Neumann: Die Entwicklung der Rechtsprechung zu Volksbegehren und Volksentscheid nach der Deutschen Einheit, in: Schiller/Mittendorf (Hrsg.): Direkte Demokratie (Fn. 36), S. 115–152 (148: „die subjektive Sorge oder gar Angst um das Gemeinwesen entscheidet aber erkennbar mit“); Johannes Rux: Die Haushaltsvorbehalte in Bezug auf die direktdemokratischen Verfahren in den Verfassungen der neuen Bundesländer, in: LKV 12 (2002), S. 252–257 (257: „die Angst vor der vermeintlichen Inkompetenz und Beeinflussbarkeit der Bürger“); Jung: Direkte Demokratie (Fn. 183), S. 309 (von der „angsterfüllten Aufgeregtheit des Duktus anderer Entscheidungen“), 310 („nehmen die Volksgesetzgebung vor allem in einer

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Gerichte sich zu methodischen „Kapriolen“ hinreißen lassen309 und ihre Urteile auf eine Weise begründen, die den Betrachter an Flüchten und Zuflucht-Nehmen denken lässt310, wenn sie in ihrer Rechtsprechung eine Kehrwende um 180 Grad vornehmen und wenn Richterkollegen in einer Abweichenden Meinung bescheinigt wird, sie hätten „doch ein wenig zu schwarz gesehen“311, dann ist schon ein subjektiver Ausnahmezustand in dem fraglichen Spruchkörper anzunehmen. Dass der BayVerfGH schließlich sogar eine „Art von Staatsstreich“312 durchführte – eine richterrechtliche Verfassungsänderung –, ist wider den ersten Anschein kein Ausweis von Stärke, sondern ein deutliches Zeichen für Verängstigung: Wer sich sicher fühlt, kann besonnener reagieren. b) Parlamentarische Konterlegislatur Diese Art des Rückschritts zeugt vom Gegenteil von „Angst vor dem Volk“. c) Aushöhlung des obligatorischen Verfassungsreferendums durch Änderungspakete Die Pakettechnik, die Bayern 1998 und 2003 praktizierte und die Hessen 2002 ursprünglich vorhatte, geht wohl, ungeachtet des bremischen Präzedenzfalles von 1994, auf den „Reinfall“ der hessischen Landtagsparteien beim obligatorischen Verfassungsreferendum 1995 zurück. Gleichwohl sollte man hier nicht vorschnell von „Angst“ sprechen. Die politische Klasse vexiert die einfache Tatsache, dass die Entscheidung des Volkes Bedrohungsperspektive wahr. Dies erklärt den abwehrenden Duktus ihrer Urteile“), 313 („zur Angstüberwindung“, „Angstvoll auf Abwehr bedacht“); Jutzi: Volksgesetzgebung (Fn. 172), S. 279 („Zu ängstlich beurteilt allerdings der BayVerfGH Potenz und Kompetenz der Repräsentativorgane des Staates . . .“); Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 338 („eher wohl von Angst als von Weisheit geleitet“); Weixner: Direkte Demokratie in den Bundesländern (Fn. 185), S. 24 („eine gewisse Furcht vor dem Souverän“). 309 Vgl. Jung: Grundsatzfragen (Fn. 37), S. 338. 310 Vgl. Peter M. Huber: Entwicklung des Landesverfassungsrechts in Thüringen, in: JöR 52 (2004), S. 323–345 (342: der Gerichtshof habe „sich in eine diffuse ‚Gesamtbetrachtung‘ geflüchtet (!), in der politische und rechtliche Erwägungen bzw. Maßstäbe ununterscheidbar verschwimmen“); Wittreck: Direkte Demokratie (Fn. 159), S. 133 („Auffällig ist, dass die Bremer Richter dabei Zuflucht zum Homogenitätsprinzip der Bundesverfassung nehmen (Art. 28 I GG), anstatt sich um eine Exegese der Bremer Landesverfassung zu bemühen“). 311 BayVerfGH, Entsch. v. 31.3.2000, BayVerfGHE 53, 42–80 (80). 312 So Rux (Fn. 37), S. 900.

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nicht so berechenbar ist wie die eines Parlaments313. Die üblichen Arrangements, um Mehrheiten zu organisieren und durchzusetzen, einschließlich der korrespondierenden Sanktionen, greifen nun nicht314. Mit ihrer Abneigung gegenüber unkalkulierbaren Situationen verhält sich die politische Klasse nicht anders als die Wirtschaftselite im Bereich der Ökonomie, die Führung der Truppe im Bereich des Militärs usw. Die Pakettechnik ist, so gesehen, eine Methode, die Unsicherheit über den Fortgang der Dinge zu vermindern, die Entscheidung des Volkes halbwegs kalkulierbar zu machen und die Kontrolle über den politischen Gesamtprozess trotz dieser direktdemokratischen Etappe wiederzugewinnen. Dies kann man als „normale“ Machttechnik auffassen; „Angst“ braucht dabei gar keine Rolle zu spielen. d) Kein Referendum über die Europäische Verfassung 2005 Auch hier sollte man nicht allzu schnell zur Interpretation „Angst“ greifen. Oben wurde schon die Position erwähnt, ein Europareferendum mache man doch nicht, wenn man nicht „muss“. Mangels eines institutionellen Zwangs – wie er etwa in Irland besteht – kann man die Ratifikation repräsentativ-demokratisch „über die Bühne“ gehen lassen. So erscheint es zunächst ebenfalls als bloße Machttechnik, dass die politische Klasse einen wenig berechenbaren Akteur „außen vor“ lässt, wenn sie formell ohne ihn zurecht kommt. Dies muss mit Angst durchaus nichts zu tun haben. Man könnte es auch – zugegebenermaßen outputfixiert – als schnörkelloses effektives Regieren bezeichnen. 313 Vgl. Mahrenholz’ Erklärung für die von ihm beobachtete „Angst vorm Volk“: „Da scheint mir wirklich der Faktor, dass die Parteien es nicht mehr berechnen können, was jetzt kommt, der scheint mir ausschlaggebend zu sein.“ Ernst Gottfried Mahrenholz: „Wir können die Freiheit nur bewahren, indem wir sie genauer justieren“. Verfassungsrechtler Ernst Gottfried Mahrenholz hält Diskussion über das Grundgesetz für nötig, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/969902/ drucken/ (Zugriff 24.5.2009). – Die Gründe darzulegen, würde hier zu weit führen. Stichworte sind: Parteien als Oligarchien, faktisches Monopol der Parteien für die Kandidatenaufstellung, hierarchisch strukturierte Fraktionen, Diäten und Altersversorgung der Parlamentarier in einer Höhe, die diese Tätigkeit für die meisten als hochattraktiv erscheinen lassen, Professionalisierung der Politiker in einem Ausmaß, dass immer weniger Beteiligte es „sich leisten“ können, zurück in einen bürgerlichen Beruf zu gehen (sie haben keinen mehr bzw. hatten gar nie einen). 314 Vgl. S. Jungs (Die Logik direkter Demokratie (Fn. 268)) paradox-realistische Pointen: „Ein Volk lässt sich nicht auflösen, es kann durch eine entsprechende Drohung nicht diszipliniert werden, es befindet sich schlicht nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Regierung“ (S. 128). Daher besteht „die Gefahr, dass das Volk anders entscheidet, als die Regierung dies wünscht“, ja das Volk verfügt „tatsächlich über die Möglichkeit, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern“ (S. 137). Siehe dazu die Rez. des Verfassers in: ZParl 34 (2003), S. 235 ff.

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IV. Ergebnis Nach der Einzelbetrachtung der Fort- und der Rückschritte ist von der „Angst vor dem Volk“ nicht mehr so viel übrig geblieben. Man findet sie am deutlichsten bei der Fraktion „Verfassungsjustiz“ der politischen Klasse, weniger bei der Exekutive und Legislative. Solche Angst taugt also gewiss nicht als Generalinterpretation der Entwicklung der direkten Demokratie in den letzten 15 Jahren. Dies übrigens auch deshalb nicht, weil die politische Klasse – wenn sie es denn tut – Angst nicht nur vor den abstimmenden Bürgern empfindet. Kommentatoren haben auch schon die „Angst vor den Wählern“ ausgemacht315, und das geht dann wirklich an den Kern des repräsentativ-demokratischen Systems. Wohin das führt, hat der Politologe Ivan Krastev unverblümt ausgesprochen: „Es ist gleichermaßen pervers wie wahr, dass die europäischen Eliten in unserer Epoche der Demokratie heimlich von einem System träumen, welches unverantwortliche Wähler daran hindert, den Anspruch auf eine vernunftgeleitete Politik zu untergraben . . . 2007 suchen die Eliten als Hauptakteure der europäischen Politik nach einer politisch korrekten Form eines eingeschränkten Wahlrechts.“316 Die europäischen Eliten seien antidemokratisch gesinnt – wenn das wahr ist, haben wir mehr als nur ein Problem mit der direkten Demokratie.

315 Vgl. Tissy Bruns: Und sie ärgern sich doch, in: Tsp. Nr. 19 675 v. 22.9.2007: Der Wettbewerb der Volksparteien ziele nicht mehr darauf, das Land zu irgendeinem Ufer zu führen. Er konzentriere sich darauf, wer wie viele Prozente vor dem Zwangspartner liegt, „wenn das Volk, der unberechenbare Souverän, das nächste Mal zuschlägt. Die größte Gemeinsamkeit dieser Koalition ist inzwischen die Angst vor den Wählern.“ 316 Ivan Krastev: Die Stunde des Populismus, in: Transit. Europäische Revue, H. 33 (2007), S. 158–165 (163).

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Otmar Jung Von Christian Bauer Prof. Dr. Achim Rogmann, Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, eröffnete die von ihm geleitete Diskussion mit dem Verweis darauf, dass Jung vor zehn Jahren auf dem ersten Speyer Demokratieforum einen Vortrag über den Siegeszug direktdemokratischer Institutionen gehalten habe. Deshalb sei die Veranstaltung durch Jung mit einem echten Jubiläumsvortrag bereichert worden. Vor zehn Jahren habe er darüber gesprochen, dass man Zeuge eines regelrechten Aufschwungs in Sachen direkter Demokratie sei und die folgenden Jahre als Erprobungs- und Beobachtungsphasen verstanden werden müssten, in denen direkte Demokratie praktiziert und analysiert werde. Aus dieser Spielphase sei man nun heraus, so dass Jung die Möglichkeit nutzen haben könne, eine weitere Zwischenbilanz zu ziehen, welche aber nicht unbedingt euphorisch gewesen sei. Anschließend habe er eine Brücke zur Angst der politischen Klasse vor dem Volk geschlagen. Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, ging auf den von Jung angesprochenen jüngsten Volksentscheid in Hamburg ein, welcher an den von ihm ausgeführten hohen Hürden gescheitert sei. Den Zeitungen könne man entnehmen, dass der erste Bürgermeister Ole von Beust an 200.000 Hamburger Haushalte Briefe geschickt habe, welche die Bürger dazu aufforderten, sich der Abstimmung zu enthalten, damit das Mitwirkungsquorum nicht erreicht werde, oder gegen den Entscheid zu stimmen. Wenn ein solcher Vorgang bei einer Wahl und nicht bei einem Volksentscheid geschehen wäre, dann würde es sich nach der Verfassungsrechtsprechung dabei um eindeutig unzulässige Regierungspropaganda handeln. Da es bisher keine einschlägige Rechtsprechung zu solchen Sachverhalten in Volksentscheiden gäbe, stelle sich die Frage, ob die Auslegung der Verfassungsrechtssprechung auf Volksentscheide übertragen werden könne, und ob eine solche Maßnahme, sofern sie unzulässig sei, Einfluss auf die Gültigkeit des Volksentscheids habe. Jung entgegnete, dass die hamburgische Bürgerschaft einstimmig einen Aufruf verabschiedet habe, welcher alle Abstimmungsberechtigten gebeten habe, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Was der erste Bürgermeister

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Ole von Beust in Hamburg getan habe, habe er formell als Privatmann getan. Allerdings stelle sich die Frage, ob ein regierender Bürgermeister in einem solchen Umfang als Privatmann handeln könne. Da bisher noch keine Rechtsprechung vorliege, könne man in diesem Fall keine eindeutige Aussage treffen. Als Faktum sei hierbei aber zu berücksichtigen, dass bei der Volksgesetzgebung die Regierung der politische Gegner sei. Denn das alternative Verfahren setze erst ein, wenn das Anliegen von der parlamentarischen Gesetzgebung abgelehnt worden sei. Ob ein politischer Gegner in solch einem Fall so weit gehen dürfe, wie der erste Bürgermeister in Hamburg gegangen sei, müsse durch ein entsprechendes Gerichtsurteil geklärt werden. Gerald Häfner, ehem. MdB, Bundesvorstand Mehr Demokratie e. V., wollte die Frage noch einmal aufgreifen, ob man im Bereich der Politik im Umgang mit der direkten Demokratie nicht doch einen Widerwillen und Widerstand beobachten könne, welcher sich strukturell vom Widerwillen in anderen Politikfeldern unterscheide. Grundsätzlich sei im Bundestag ein taktisches Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zu beobachten, welches nicht problematisiert werde. Hingegen werde das taktische Verhalten der Bevölkerung bei Volksentscheiden sehr wohl problematisiert, wie es im Fall der gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung geschehen wäre. Die im Vortrag angesprochene Zustimmung des Bundestages zu einem Gesetzentwurf zur Verankerung der direkten Demokratie in der Verfassung im Juli 2002 erkläre sich dadurch, dass bestimmte Abgeordnete aus ihren Erfahrungen mit Volksentscheiden gelernt hätten, da sie als ehemalige Gegner direktdemokratischer Elemente in Volksentscheiden abgestraft worden seien. Die Einführung direktdemokratischer Elemente sei deshalb ein langer Kampf gewesen, welcher gegen den parteiübergreifenden Widerstand der politischen Klasse geführt worden sei. Ursula Esau, Ökologisch-Demokratische-Partei, schloss sich Häfner an und warf die Frage auf, ob Bürger- und Volksentscheide erfolgreicher sein würden, wenn sie mit Wahlen zusammengelegt würden. Jung, betonte, dass er keinesfalls anderer Meinung sei als Häfner. Er wolle keinesfalls den Widerwillen und Unwillen der politischen Klasse in Frage stellen, aber er wolle nicht den plakativen Begriff der Angst als Generalschlüssel verwenden, um mannigfache negative Einstellungen zu beschreiben. Natürlich habe Häfner Recht, dass das Abstimmungsverhalten im Parlament nicht problematisiert würde, da dass Abstimmungsverhalten der Abgeordneten als Faktum hingenommen werde, ohne es zu hinterfragen. Er stimmte Häfner zu, wenn er darauf hinweise, dass die Fortschritte in der direkten Demokratie schwer erkämpft worden seien, da erst politischer Druck zu einem Einlenken geführt habe, wenn auch nur in der „Art des

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Schachspielers“. In Bezug auf die Frage von Esau merkte Jung an, dass die Kombination mit Wahlen aller Erfahrung nach keinen Vorteil mit sich bringe, sofern kein Quorum erforderlich sei. Im Falle eines erforderlichen Quorums laufe ein isolierter Termin natürlich auf eine „Strategie des Scheiterns“ hinaus. Der in diese Richtung gehende Beschluss des Hamburger Senats, dass Volksabstimmungen nicht zusammen mit Wahlen durchgeführt werden dürfen, sei mittlerweile durch das Hamburgische Verfassungsgericht aufgehoben worden, da es keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für eine solche Erschwerung gäbe. Rogmann, dankte Jung für seinen Beitrag und richtete als letzter externer Diskussionsleiter ein Dankeswort an den Organisator der Veranstaltung von Arnim und dankte ihm dafür, dass er seinen „Unruhestand“ dazu nutze, solche Symposien zu organisieren.

Verzeichnis der Autoren1 Arnim, Hans Herbert von, Prof. Dr., Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Bauer, Christian, Forschungsreferent, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Bultmann, Antje, Wissenschaftsjournalistin, Whistleblower-Netzwerk e. V. Debus, Alfred G., Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Duve, Thomas, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Görtz, Regina von, Forschungsreferentin, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Jung, Otmar, Privatdozent Dr., Freie Universität Berlin Király, Andrei, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Kirchhof, Paul, Prof. Dr. Dr. h.c., Bundesverfassungsrichter a. D., Universität Heidelberg Lambsdorff, Johann Graf, Prof. Dr., Universität Passau, Wissenschaftlicher Beirat von Transparency International Linck, Joachim, Prof. Dr., Direktor des Thüringer Landtags a. D. Müller, Albrecht, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages, Politikberater, Autor Vetters, Larissa, Forschungsreferentin, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer

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Stand Oktober 2007.