Integration durch Verschiedenheit: Lokale und globale Formen interkultureller Kommunikation [1. Aufl.] 9783839400524

Die Aufsatzsammlung gibt einen Einblick in die theoretische Konzeption eines der zentralen Probleme der Soziologie und d

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Integration durch Verschiedenheit: Lokale und globale Formen interkultureller Kommunikation [1. Aufl.]
 9783839400524

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Globalisierung, Transnationalität und Identitätspolitik
Beobachtungen zum Verhältnis von Islam und Globalisierung – Eine Feldforschung in Ägypten revisited
Lokalität im Libanon im Spannungsfeld zwischen konfessioneller Koexistenz, transnationaler Migration und kriegsbedingter Vertreibung
Transnationale soziale Räume und multidimensionale Referenzsysteme westafrikanischer MigrantInnen in der Pariser Region
Formen der Transvergesellschaftung als gegenläufige Prozesse zur Nationenbildung in Zentralasien
Gender, Geschlechterpolitik und Feminität der Ungleichheit
Identität durch Differenz: Ambivalenzen der gesellschaftlichen Integration der Ex-Sklaven Mauretaniens
Muslimische Frauenorganisationen und Geschlechterpolitiken im Nordsudan
›Desexualisierung‹ als Grenzziehung: Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch
Herrschaftsstrukturierte Verständigung, interkulturelle Beziehungen und symbolische Gewalt
Distanzen und Hierarchien. Kampf um ethnische Symbole in Nepals Öffentlichkeiten
»Wertschätzung und Ächtung«: Kommunikative Konstruktion von Moral in Identitätsdiskursen Südthailands
»Les fils (divers) de Tanguiéta«. Politische Geschichte und Identitätsprozesse in einer afrikanischen Kleinstadt
Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe in der Elfenbeinküste und Burkina Faso
Yem, Janjero oder Oromo? Die Konstruktion ethnischer Identität im sozialen Wandel
Autorinnen und Autoren

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Alexander Horstmann Günther Schlee (Hg.) Integration durch Verschiedenheit

01.03.01 --- Projekt: transcript.horstmann.schlee / Dokument: FAX ID 0120281067299440|(S.

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Alexander Horstmann Günther Schlee (Hg.)

Integration durch Verschiedenheit Lokale und globale Formen interkultureller Kommunikation

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) T00_03 innentitel.p 281067299496

Dieser Band wurde mit einem Zuschuss durch das Max-PlanckInstitut für ethnologische Forschung, Halle / Saale, gedruckt.

Umschlagfotografien: Anlässlich des hinduistischen Durga¯-Pu¯ja-Festivals tauschen Mitglieder verschiedener Kasten und Ethnien die tika¯ (ritueller Stirnpunkt) aus. Zentral-Nepal, 1986. © Pfaff-Czarnecka

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Intergration durch Verschiedenheit : lokale und globale Formen interkultureller Kommunikation / Alexander Horstmann ; Günther Schlee (Hg.). – Bielefeld : transcript Verl., 2001 ISBN 3-933127-52-1 © 2001 transcript Verlag, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfotografien: Joanna Pfaff-Czarnecka Druck: Digital PS Druck GmbH, Frensdorf ISBN 3-933127-52-1

01.03.01 --- Projekt: transcript.horstmann.schlee / Dokument: FAX ID 0120281067299440|(S.

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Inhalt Vorwort Alexander Horstmann

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Einleitung Günther Schlee

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Globalisierung, Transnationalität und Identitätspolitik Beobachtungen zum Verhältnis von Islam und Globalisierung – Eine Feldforschung in Ägypten revisited Karin Werner

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Lokalität im Libanon im Spannungsfeld zwischen konfessioneller Koexistenz, transnationaler Migration und kriegsbedingter Vertreibung Anja Peleikis Transnationale soziale Räume und multidimensionale Referenzsysteme westafrikanischer MigrantInnen in der Pariser Region Monika Salzbrunn Formen der Transvergesellschaftung als gegenläufige Prozesse zur Nationenbildung in Zentralasien Markus Kaiser

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Gender, Geschlechterpolitik und Feminität der Ungleichheit Identität durch Differenz: Ambivalenzen der gesellschaftlichen Integration der Ex-Sklaven Mauretaniens Urs Peter Ruf

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Muslimische Frauenorganisationen und Geschlechterpolitiken im Nordsudan Ruth Klein-Hessling

183

›Desexualisierung‹ als Grenzziehung: Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch Petra Dannecker

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Herrschaftsstrukturierte Verständigung, interkulturelle Beziehungen und symbolische Gewalt Distanzen und Hierarchien. Kampf um ethnische Symbole in Nepals Öffentlichkeiten Joanna Pfaff-Czarnecka »Wertschätzung und Ächtung«: Kommunikative Konstruktion von Moral in Identitätsdiskursen Südthailands Alexander Horstmann

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»Les fils (divers) de Tanguiéta«. Politische Geschichte und Identitätsprozesse in einer afrikanischen Kleinstadt Tilo Grätz

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe in der Elfenbeinküste und Burkina Faso Youssouf Diallo

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7) T00_04 inhaltsverzeichnis.p 281067299512

Yem, Janjero oder Oromo? Die Konstruktion ethnischer Identität im sozialen Wandel Wossen Marion Popp

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Autorinnen und Autoren

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01.03.01 --- Projekt: transcript.horstmann.schlee / Dokument: FAX ID 0120281067299440|(S.

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7) T00_04 inhaltsverzeichnis.p 281067299512

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Vorwort

Vorwort Die vorliegende Aufsatzsammlung gibt einen Einblick in die theoretische Konzeption eines zentralen Problems der Soziologie und Sozialanthropologie – Grenzen und Grenzziehungen – und überführt es in eine globale Perspektive. Die Herausgeber knüpfen explizit an die in Schlee / Werner (1996) entwickelte Forschungsperspektive der Inklusion und Exklusion an und erweitern diese um eine neue Problemstellung: Statt Grenzziehungen nur als Vektorsumme gegenläufiger Kräfte zu erklären, ging es darum, die Rolle interner Grenzen bei der Integration größerer Einheiten selbst zu untersuchen. Es geht um die Verhandlung und Veränderung von Identität in Kommunikations- und Herrschaftszusammenhängen. Diese Forschungsperspektive wird in der Einleitung von Günther Schlee genauer dargelegt. In diesem Programm werden interkulturelle Dialoge als Kommunikationssysteme begriffen, in denen sinnstiftende Zeichen aus lokalen und globalen Texten über Grenzen hinweg artikuliert und sichtbar gemacht werden. Es wird argumentiert, dass Verschiedenheit in pluriethnische Kommunikations- und Verständigungsverhältnisse eingebettet ist und nur vor dem Hintergrund eben dieser Interaktion Sinn macht. Davon ausgehend, dass sich Gruppen nie isoliert voneinander befinden, sondern immer in einem Verständigungsverhältnis miteinander, kann eine Forschungsperspektive auf die Kommunikation von Identität entwickelt werden. Die Spirale der Selbst- und Fremdbeschreibungen, die als fundamental für die heftig tobende Identitätspolitik angesehen wird (vgl. Schlee / Werner 1996), speist sich aus der in Kommunikationssystemen verwendeten kulturellen Symbolik. Die auf einer Akzentuierung der Außengrenze fundierten Prozesse der Lokalisierung und Ethnisierung sind immer auf einen Anderen bezogen. Die lokalen Akteure greifen auf ein bestimmtes kulturelles Repertoire zurück, das ein Produkt dieser wechselseitigen Kommunika-

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Alexander Horstmann

tions- und Verhandlungsprozesse ist. Es ist für dieselben Akteure nicht möglich, auf Zeichen außerhalb dieses Repertoires zurückzugreifen, weil diese Zeichen nicht verstanden werden bzw. zunächst durch den lokalen Filter kontextualisiert werden müssen. Integrationsprozesse liegen dann vor, wenn die an der Identitätspolitik beteiligten Akteure genau aus demselben Repertoire sozialer Praxis und kultureller Symbolik schöpfen. So ähnelt sich die in solch einem Kommunikationssystem verwendete Semantik der Konfliktparteien bis ins Detail. Diese Konfliktparteien kennen sich nur zu gut. Der Fokus auf Integrationsprozesse wirft Licht auf die Beziehungsgeflechte, Interaktionen und Machtdifferenziale unterschiedlicher Gruppen. Die These, die sich aus dieser Perspektive ergibt, lautet, dass es die Intensivierung der interethnischen Kommunikation ist, die den sozialen Wandel vorantreibt. Die Beiträge von z. B. Diallo, Graetz, Horstmann, Peleikis und Pfaff-Czarnecka haben gemeinsam, dass sie sich mit pluriethnischen Kommunikationsgeflechten befassen, in denen sich Gruppen in Beziehung zueinander setzen und definieren. An dieser Stelle gilt es, Missverständnissen vorzubeugen. Es gibt für unterschiedliche Situationen unterschiedliche Lösungen. Integrationsprozesse können Modi friedlicher Koexistenz beschleunigen oder eine Arena für soziale Kämpfe darstellen. Der Fokus auf die Rolle von Unterschieden in Integrationsprozessen selber fasst sowohl Prozesse der Nähe und Koexistenz als auch der Entmischung und Distanz. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass die lokalen Akteure in ganz bestimmte Kommunikations- und Bedeutungsverhältnisse eingebunden sind. Es gilt nun, diese Verständigungsprozesse lokaler und globaler Formen interkultureller Kommunikation in unterschiedlichen Arenen ethnographisch auszuloten. Die von Pfaff-Czarnecka aufgeworfene Fragestellung nach der Interpretation strategisch wichtiger Zeichen von Differenz und Distanz ist paradigmatisch für die gesamte Forschungsperspektive. Welche Bedeutungen sind besonders umkämpft? In welcher Situation findet ein Bedeutungs- oder Identitätswechsel statt? Hier spielen die Schnittstellen (Interfaces) in der sozialen Organisation machtstrukturierter Verständigungsverhältnisse eine wichtige Rolle. Die Beiträge von Dannecker, Pfaff-Czarnecka (s. u.) und Ruf befassen sich hiermit. Alle drei stellen dominante Herrschaftsverhältnisse in Frage. Die Beiträge behandeln die Paare Arbeiterinnen und Vorarbeiter, hohe und niedrige Kasten sowie Herr und Sklave. Petra

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Vorwort

Dannecker behandelt das Aufbrechen traditioneller Geschlechterordnungen in Bangladesch (purdah). Die Autorin zeigt am Beispiel dortiger Textilfabriken, dass die Arbeiterinnen nicht einfach nur Opfer der Sexualiserung der Arbeitsbeziehungen sind, sondern dieser Kontrolle über ihren Körper durch subtile Formen der Organisation, Solidarität und Rückeroberung von Frauenräumen entgegenwirken. Sie arbeitet heraus, dass Grenzen interaktiv und komplex sind und immer wieder neu ausgehandelt werden. Über Formen der sozialen Organisation in Netzwerken und durch diskursive Formen der Desexualisierung gelingt es den Frauen, Frauenräume zu schaffen. Urs Ruf beschreibt die Ambivalenz der Befreiung mauretanischer Sklavinnen und Sklaven. Befreite Sklaven sind weiter der Diskriminierung ausgesetzt, da sie keine Genealogie nachweisen können. Der soziale Tod der Sklaven wirkt auch in der neuen Wirklichkeit fort. Für Sklavinnen ist die Befreiung aus der Abhängigkeit und Erniedrigung zudem ungleich schwieriger als für männliche Sklaven. Diesen Umstand nennt Ruf »Feminität der Ungleichheit«. Die Autorinnen und Autoren setzen sich mit den Strategien subalterner Gruppen auseinander, die zwischen Anpassung und Widerstand wechseln. Man kann von Regimes symbolischer Gewalt sprechen, die im Zuge der Emanzipation zwar aufgebrochen werden, deren Auflösung aber mit neuen Formen der Disziplinierung verbunden ist. Die Verfasserinnen und Verfasser setzen sich also mit den neuen öffentlichen Räumen auseinander, ohne freilich die fragile Natur dieser Räume zu übersehen. Insgesamt gliedert sich der Band in drei thematische Schwerpunkte, die zugleich unterschiedliche Dimensionen des Gesamtkonzepts sowie grundlegende Typen von Grenzen und Grenzziehungen beschreiben: Die Beiträge von Karin Werner, Anja Peleikis, Monika Salzbrunn und Markus Kaiser behandeln konfliktträchtige Prozesse der Schaffung und Verfestigung transnationaler sozialer Räume im Rahmen der Globalisierungstendenzen. Die in diesem Themenblock versammelten Beiträge illustrieren, dass sich die Kommunikationssysteme und die in ihnen verwendeten Zeichen über immer weitere geographische Räume erstrecken und die in der transnationalen Politik zur Geltung kommenden ethnischen Kodes in kulturelle Globalisierungsprozesse eingewoben sind. Die Beiträge von Anja Peleikis und Markus Kaiser zeigen, dass transnationale Formen der Vergemeinschaftung eine wichtige Rolle in der Imagination von Lokalität und Translokalität spielen.

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Alexander Horstmann

Karin Werner argumentiert in ihrem Aufsatz, dass sich globale Ströme und lokale Formen des Islams wechselseitig speisen. Schlee und Werner (1996) hatten in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass der Ethnizitäts-Kode nicht zuletzt deshalb so ungemein erfolgreich ist, weil er als sinnschöpfende Form der Beschreibung und Wahrnehmung von Unterschieden in Globalisierungsströme eingewoben ist und diese zentral mitgestaltet. Indem Werner auf Prozesse der Entgrenzung, aber auch auf Prozesse der Reterritorialisierung und auf die Rolle des kulturellen Austausches eingeht, leitet sie die folgenden Beiträge ein. Diese folgen der Perspektive, Globalisierungsprozesse als Systeme der Begegnung auf lokaler und globaler Ebene empirisch zu analysieren. Die sinnstiftende Kommunikation über Differenz und Identität kommt in den Beiträgen Horstmanns und Peleikis’ zum Ausdruck. In beiden Beiträgen sind die Vorstellungen der zu verhandelnden Lebenswelten an konkrete räumliche Lokalitäten gebunden. Peleikis untersucht die Reterritorialisierung des multikonfessionellen Libanon im Kontext kriegsbedingter Vertreibung und Traumata. Am Beispiel des Dorfes Joun zeigt sie, dass die nostalgischen Erinnerungen der libanesischen Migranten an einen spezifischen Ort gekoppelt bleiben. Die kulturellen Brücken, die eine Koexistenz jenseits konfessioneller Differenzen ermöglichte, wurden durch kriegsbedingte Gewalt und Vertreibung zerstört. Das Dorf Joun erfuhr während des langen Bürgerkriegs eine radikale Transformation: Während vor dem Bürgerkrieg Schiiten, Christen und Maroniten zusammenkamen und über konfessionelle Grenzen hinweg gemeinsame lokale Aktivitäten etablierten, ist Joun durch den Bürgerkrieg zum Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen politischen und religiösen Bewegungen geworden. Im Nachkriegslibanon wurden die emotionalen Bindungen zur ruralen Heimat über weite Entfernungen durch Netzwerke aufrechterhalten. Das globalisierte Dorf Joun wird immer mehr zu einer Wunschprojektion, zu einem Wochenend- und Ferienparadies, zu einem Spielball politischer Ambitionen, zu einem Bild kultureller Authentizität und nostalgischer Erinnerung. Interessanterweise entsteht eine kommunikative und verklärende Konstruktion von Lokalität über konfessionelle Grenzen hinweg. Obwohl die Räume symbolisch besetzt werden, gleichen sich die Referenzen immer mehr an. Für alle Migranten, ob Christen oder Muslime, ist das globalisierte Dorf eine Projektion von Heimat, von der sie sich im Ausland nicht trennen

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Vorwort

mögen. Über eine eigene Homepage im Internet ist es dieser Gemeinschaft sogar möglich, im Cyberspace eine Tür nach Joun zu öffnen. Horstmann interessiert sich für die soziokulturellen Veränderungen und Prozesse der Reterritorialisierung im multikonfessionellen Südthailand. Er geht den in Kommunikationsprozessen konstruierten Grenzziehungen und Grenzverschiebungen zwischen Buddhisten und Muslimen nach. Buddhisten wie Muslime akzentuieren Muster der Lebensführung und Bilder der Authentizität. Auch in Südthailand sind diese Projektionen von Heimat immer stärker in transnationale Netzwerke und Identitätsdiskurse eingewoben. In den kulturellen Revitalisierungsbestrebungen werden Muster der Lebensführung zu Fragen der politischen Legitimität aufgewertet. Es kommt zu einer Essenzialisierung der Selbstbeschreibungen. Ähnlich wie in Joun wird die Vergangenheit nostalgisch verklärt. Der Rückgriff auf die bäuerliche Kulturgemeinschaft und die Erinnerung an das goldene Zeitalter entsprechen nicht der sozialen Wirklichkeit. Aber welche Rationalität steht hinter diesen Zeichen, die so intensiv in der Öffentlichkeit umkämpft werden? Die Maßstäbe der moralischen Beurteilung legen die Grenzen der Gesellschaft fest, indem sie Elemente der Wertschätzung und der Ächtung vermitteln. Die kulturellen Revitalisierungsbestrebungen der sozialen Bewegungen machen einen Handlungsbedarf geltend und sind die Voraussetzungen für die Konstruktion von Modellen sozialer Ordnung und alternativer Entwicklung. Insofern enthalten diese Elemente der Moralisierung auch Vorstellungen von symbolischer Autorität und Macht. Die Geschlechterpolitik als Ort von Machtbeziehungen ist das Thema des zweiten Themenblocks über die »Feminität der Ungleichheit«, wie es Urs Peter Ruf in seiner Studie über die konfliktgeladene Integration weiblicher Ex-Sklaven in die mauretanische Gesellschaft formuliert. Ruth Klein-Hessling arbeitet heraus, wie Grenzüberschreitungen neue Räume für Frauen erschließen. Der oben in anderem Zusammenhang bereits ausführlicher angesprochene Beitrag von Petra Dannecker zu Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch schließt diesen Themenblock ab. Der dritte Themenblock, der die Beiträge von Joanna Pfaff-Czarnecka, Alexander Horstmann, Tilo Grätz, Youssouf Diallo und Wossen Marion Popp versammelt, hebt die in interethnischen und interkulturellen Beziehungen verwendete reichgestaltige kulturelle Symbolik hervor.

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Alexander Horstmann

Pfaff-Czarnecka beschreibt die durch Brüche ausgelösten sozialen Spannungen zwischen Staat, ethnischen Gruppen und Kasten sowie die Verhandlungsprozesse strategisch wichtiger Zeichen und Bedeutungen in Nepal. Die Autorin legt dar, wie im Kastensystem verankerte soziale Ordnungen erschüttert und – nicht zuletzt von Wissenschaftlern – festgeschriebene Bedeutungen der Macht in der Öffentlichkeit umkämpft werden. Dieser von der Autorin so genannte »Auszug aus Südasien«1 eröffnet eine Perspektive auf das Kastenwesen als Kommunikations- und Herrschaftssystem, das aufbricht, sobald es die veränderten Machtbeziehungen zulassen (vgl. Scott 1990). PfaffCzarnecka beschreibt eindringlich, wie diese symbolischen Räume strategisch wichtiger Zeichen und Bedeutungen ausgehandelt und neu besetzt werden. Grätz spricht in seiner Analyse lokaler Politik und des lokalen Staates von einem unausgesprochenen Vertrag, der aber in Krisenzeiten jederzeit aufgekündigt werden kann. Einen ähnlichen unausgesprochenen Vertrag beschreibt Diallo in seiner Analyse der Beziehungen zwischen sesshaften Senufo-Bauern und nomadischen Fulbe-Viehzüchtern. Diallo erklärt, dass es in den meisten Fällen zu einer Interdependenz zwischen Bauern und Viehzüchtern gekommen ist, in der es eine berufliche und rituelle Aufgabenteilung gibt. Erst in jüngster Zeit haben Landkonflikte zu einer Politisierung ethnischer Identitäten geführt, in der die Fulbe stigmatisiert werden und als Nomaden gewaltsamen Übergriffen ausgeliefert sind. Die Autorinnen und Autoren haben die Thematik Integration durch Verschiedenheit aus unterschiedlicher Perspektive aufgegriffen. Dabei schälten sich unterschiedliche Grenztypen heraus, anhand deren die Verständigungsprozesse veranschaulicht werden konnten. Diese Grenztypen verdeutlichen das Thema der lokalen und globalen Formen interkultureller Kommunikation. Konfessionelle, moralische, symbolische, ethnische sowie Gender-Grenzen werden als Grenztypen interaktiver Verständigungsverhältnisse aufgebaut. Mithin wird deutlich, dass sich die Identität des Eigenen nur in Bezug auf das Fremde formiert und verändert. In diesem Sinne wirft diese Aufsatzsammlung Licht auf die Verhandlung und Veränderung subjektiver Positionen im Kontext interkultureller Kommunikations- und Herrschaftssysteme. Für die finanzielle und moralische Unterstützung der zweiten Pha-

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Vorwort

se des Graduiertenkollegs »Markt, Staat, Ethnizität« am Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie der Universität Bielefeld gebührt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Land NordrheinWestfalen großer Dank. Die meisten der Forschungen, deren Ergebnisse hier einfließen, wurden in diesem Rahmen gefördert. Dank gebührt vor allem auch denjenigen, die als Entwickler des theoretischen Gesamtkonzepts und als Gutachter der Dissertationen für diese Aufsatzsammlung Verantwortung übernommen haben: Dr. Johannes Augel, Prof. Hans-Dieter Evers, Dr. Rüdiger Korff, Prof. Gudrun Lachenmann, Prof. Günther Schlee, Dr. Heiko Schrader. Für ihre Mitarbeit beim Korrekturlesen ausgewählter Beiträge danke ich Anneliese Garrido Agurto und Heiderose Römisch an der Dokumentations- und Beratungsstelle Afrika-, Asien- und Lateinamerikaforschung an der Universität Bielefeld. Die Herausgeber sind dem transcript Verlag zu Dank verpflichtet, insbesondere Roswitha Gost und Horst Haus für ihre Mitarbeit beim Lektorieren des Sammelwerks. Ein persönliches Dankeschön gilt Karin Werner.

Bielefeld, im Januar 2001

Alexander Horstmann

Anmerkung 1 Der »Auszug aus Südasien« verweist auf Louis Dumonts Homo Hierarchicus und die darin formulierte »südasiatische Perspektive«, in der das Kastenwesen unveränderlich scheint (1970). Literatur Dumont, Louis (1970): Homo Hierarchicus: The Caste System and Its Implications, London: Weidenfeld and Nicholson. Schlee, Günther / Werner, Karin (Hg.) (1996): Inklusion und Exklusion: Die Dynamik von Grenzziehungen im Spannungsfeld von Markt, Staat und Ethnizität, Köln: Rüdiger Köppe. Scott, James C. (1990): Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts, New Haven: Yale University Press.

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Einleitung

Einleitung Günther Schlee

Die hier gesammelten Analysen zu Verschiedenheit und Integration stammen bis auf zwei, die von Pfaff-Czarnecka und Popp, aus dem Graduiertenkolleg Markt, Staat, Ethnizität – die Handhabung von Verschiedenheit: Multikulturalität, pluriethnische Systeme, Wirtschaftsräume und politische Arenen an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Die Frage nach Verschiedenheit und ihrer Rolle in sozialen Systemen steht in einer Entwicklungslinie von Fragestellungen, die hier kurz nachgezeichnet werden soll. Den hier zur Rede stehenden Forschungen vorausgegangen war eine erste Phase des Graduiertenkollegs Markt, Staat, Ethnizität mit dem Untertitel Soziale und kulturelle Dimensionen von Grenzziehungen und Marktintegration. Im Abschlussbericht dieser ersten Phase des Graduiertenkollegs (Evers 1995: 4) wird festgehalten, dass der Ausgangspunkt dieses Forschungsprogramms gewesen sei, »dass die Ziehung von Grenzen bei der Gründung und Festigung von Nationalstaaten, sowie das Fallen eben dieser Grenzen im Rahmen einer zunehmenden Marktintegration politische Prozesse von grundlegender Bedeutung für die langfristige Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nicht nur in Europa, sondern ebenso in Asien, Afrika, dem Mittleren Osten und Lateinamerika sind. Während in den meisten Staaten Afrikas noch das Problem der Ausfüllung des Staatsgebietes durch administrative und wirtschaftliche Integration im Vordergrund steht, sind die Integrationsprozesse in Asien bereits so weit fortgeschritten, dass im Zuge eines Abbaus staatlicher Einflussnahme so-

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Günther Schlee wohl interne Märkte dereguliert als auch verschiedene Volkswirtschaften zunehmend verflochten werden.«

In dieser Perspektive erscheinen Grenzziehungen und Marktintegration als einander gegenläufige Prozesse. Großräumige Integration, die natürlich ihrerseits ohne Grenzen – aber eben weiter gefasste Grenzen – nicht denkbar ist, löst kleinräumigere Grenzziehungen auf. Neben zahlreichen bereits publizierten Doktorarbeiten1 entstand aus dieser Forschungsphase ein Sammelwerk mit dem Titel Inklusion und Exklusion (Schlee / Werner [Hg.] 1996), in dem die zahlreichen Möglichkeiten diskutiert werden, menschliche Populationen, auch innerhalb scheinbarer kultureller Kontinua, in unterschiedliche Kategorien und Gruppen einzuteilen. Die entstehenden Taxa sind teils voneinander getrennt, teils stehen sie zueinander in Überlappungsbeziehungen, je nachdem wie die Kriterien, anhand derer sie definiert sind, sich kreuzen oder nicht. Im Programm der zweiten Forschungsphase des Graduiertenkollegs (Finanzierungsantrag Bielefeld, 20. Juli 1993) war dann angeregt worden, dass die anschließenden Forschungen einen zusätzlichen Aspekt von Grenzziehungen thematisierten sollten. Statt Grenzziehungen nur als Vektorsumme gegenläufiger Kräfte, aus dem Gleichgewicht von Integrations- und Spaltungstendenzen, das Einheiten von bestimmter Größenordnung entstehen lässt, zu erklären, sollte zusätzlich untersucht werden, welche Rolle internen Grenzen bei der Integration größerer Einheiten selber zukommt. Es sollte also die Rolle von Grenzen in Integrationsprozessen selber untersucht werden, oder, wie es damals hieß, »auf die kürzeste mögliche Formel gebracht: Integration durch (mittels) Grenzen«. In der Sozialanthropologie ist diese Perspektive nicht ganz neu. In Abgrenzung von einer Forschungstradition, die mehrheitlich von der Ethnie als Untersuchungseinheit der Ethnologie, wie das Fach ja auf dem Kontinent heißt, ausging und die dazu tendierte, die einzelne Kultur oder die einzelne Gesellschaft als in sich abgeschlossenen Kosmos zu untersuchen, hat z. B. bereits 1954 Sir Edmund Leach in Political Systems of Highland Burma eine ganz andere Sichtweise ethnischer Unterschiede dargelegt. Er hat die kulturell und sprachlich deutlich voneinander verschiedenen Talschaften der Bergwelt Burmas als eine

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Einleitung

»große soziale Struktur« begriffen, in der die Unterschiedlichkeit der Teile Konstruktionsprinzip des Ganzen war: »… the maintenance and insistance upon cultural difference can itself become a ritual action expressive of social relations... In this context cultural attributes such as language, dress and ritual procedure are merely symbolic labels denoting the different sectors of a single extensive structural system« (S. 17).

Von Leachs Diktion losgelöst, kann man das auch so ausfolgern: Die verschiedenen Kulturen Hochland-Burmas differenzieren sich voneinander durch eine reichgestaltige kulturelle Symbolik. Die Symbole, die die einen einsetzen, werden von den anderen verstanden und sei es in eingeschränktem Bedeutungsumfang. So kann es z. B. sein, dass Trachtenelemente, die innerhalb einer Kultur reichhaltige Information über Alter und Status der Trägerin oder des Trägers vermitteln, von außen nur als ethnischer Identifikator und soziale Grenzmarkierung wahrgenommen werden. Es gibt also eine Verstehensebene, auf der die einzelnen Kulturen in einer gemeinsamen Meta-Kultur miteinander korrespondieren. Spricht man, wie in der englischen Fachtradition, statt von Kulturen von Gesellschaften, mag man hier Einzelgesellschaften und eine Meta-Gesellschaft unterscheiden; bedient man sich der Terminologie der Ethnizitätsdebatte, so kann man von einer ethnischen und einer metaethnischen systemischen Ebene sprechen. Auch das indische Kastensystem ist ja dafür bekannt, dass es seine Genese dem Umstand verdankt, dass ursprünglich horizontal nebeneinander bestehende Ethnien vertikal in eine religiös untermauerte Hierarchie von Kasten integriert worden sind. Im vorliegenden Band stellt Pfaff-Czarnecka dar, wie das hinduistische Kastensystem in Nepal als durchgehende vertikale Ordnung funktionierte, die auch nichthinduistische Gruppen in den mittleren Rängen umfasste. Das indische Kastensystem mag westlichen Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit nicht entsprechen und im Widerspruch zu universal gedachten Menschenrechten stehen. Dass es aber über lange Perioden seiner Geschichte ein Instrument relativ friedlicher Integration war und nicht etwa durch permanente offene Gewaltanwendung aufrecht erhalten werden musste, ist demgegenüber auch zu konstatieren. An Leachs Beschreibung der ethnischen Vielfalt und des interethni-

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Günther Schlee

schen Kommunikationssystems durch sichtbare Unterscheidungsmerkmale im Hochland von Burma erinnert, was Pfaff-Czarnecka über Nepal berichtet. Nepalis sind in der Lektüre solcher Zeichen geübt. Neben Trachtenelementen und Schmuckstücken, die auf Familienstand, ethnische oder Kastenzugehörigkeit hinweisen, zeigen auch die Tiere im Gehöft, was ihre Halter essen dürfen und demzufolge deren Kastenzugehörigkeit. Einander sozial einordnen zu können und über eine gemeinsame Metakultur aus Symbolen der Über- und Unterordnung sowie Emblemen der Abgrenzung zu verfügen, ist eine sehr eingeschränkte Form der Gemeinsamkeit. Es muss nicht mehr Gemeinsamkeit sein als die, die zwischen alten Feinden, aufeinander eingespielten Gegnern im Krieg auch herrscht. Auch diese verfügen über ein gemeinsames Repertoire an Drohungen, über Taktiken und Strategien, die vom Gegner erlernt sind, über Formen der Propaganda und eine Ikonographie der Gewalt, die sich oft bis ins Detail gleichen – bis auf das Vorzeichen, das umgekehrt ist: A richtet sich gegen B und B gegen A. Einander zu verstehen heißt also nicht immer, einander zu mögen. In Nepal ist nicht Freundschaft oder Feindschaft, sondern Distanz auffälligstes Merkmal der Koexistenz verschiedener Gruppen. Die hierarchische Ordnung, in der Meidungen nicht nur Rang und rituellen Status symbolisierten, sondern auch Distanz schufen und Reibung vermieden, wird heute von Gruppen niederen Ranges in Frage gestellt, die die auf sie bezogenen Symbole als stärker herabsetzend charakterisieren, als sie dies früher taten: ein Opferstatus wird geschaffen und zur ethnischen Mobilisierung verwendet.2 Solange allerdings die Distanz und die Akzentuierung der Verschiedenheit gewahrt bleiben, können Kastensysteme offenbar über lange Zeit stabil bleiben. Was jedoch in großen Teilen der wissenschaftlichen und noch mehr der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit die Anschauung von Ethnizität prägt, ist nicht etwa Ethnizität als mögliches Integrationsinstrument, sondern Ethnizität als Konfliktursache. Jeder Medienkonsument erfährt ständig, dass der ethnische Faktor Ursache politischer Fragmentierung sei, sei es der der Sowjetunion oder der Jugoslawiens, wo wir es ja mit einer Fortsetzung derjenigen Prozesse zu tun zu haben scheinen, die zur Auflösung der Vorläuferstaaten, nämlich des habsburgischen und des osmanischen Reiches geführt haben. Die Überzeugungen, die dieser Sicht von Ethnizität als Ursache von

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Einleitung

Spaltungen oder Desintegration zu Grunde liegen, lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen: – Die Volkstumsunterschiede, die Ethnizitäten also, sind ursächlich für ethnische Konflikte. – Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Volkstümer reflektiert uralte, ererbte, tief verwurzelte Gegensätze. – Ethnizität ist universal, d. h., jeder Mensch gehört zu irgendeinem Volk. – Ethnizität ist askriptiv, d. h., man kann an seiner Volkszugehörigkeit im Regelfall nichts ändern. – Das Volk ist eine Abstammungsgemeinschaft. – Ethnien sind territorial. Sie streben nach einem einheitlichen Gebiet und letztlich nach nationaler Souveränität. In dieser Reihenfolge werde ich diese sechs verbreiteten Überzeugungen in Frage stellen, und zwar sowohl anhand der in diesem Band versammelten Beiträge als auch anhand anderer jüngerer Forschungsergebnisse. Im Kontrast zu ihnen sollen dann im Anschluss die mannigfachen Weisen diskutiert werden, in denen Integration durch ethnische und anderweitige Differenzierung erfolgen kann. Zur ersten These, dass Ethnizitäten ursächlich für ethnische Konflikte seien: Für eine solche These spräche, wenn die Größe der Unterschiede zwischen den Konfliktparteien sich in der Intensität ihrer Konflikte widerspiegeln würde. Die Beobachtung lehrt jedoch, dass die Größe solcher Unterschiede nicht das geringste mit dem Vorhandensein von Konflikten oder deren Intensität zu tun hat. Das Paradebeispiel für die Ursächlichkeit des ethnischen Faktors für einen Konflikt ist Ex-Jugoslawien. Seit dem Mittelalter bestehende Gegensätze, so glaubt man, seien hier erneut aufgebrochen. Tatsächlich berufen sich die Serben ja auch auf die Schlacht auf dem Amselfeld und identifizieren die Muslime mit ihren damaligen Gegnern. Uralte ethnische Gegensätze, nur zeitweilig unterdrückt durch ein kommunistisches Regime, würden hier erneut aufeinanderprallen. Wenn aber Ethnizität eine Form sozialer Identität ist, dann wird sie durch Selbstdefinition und Fremddefinition bestimmt. D. h., man kann keine Volkszugehörigkeit haben, die weder einem selbst noch anderen bekannt ist. Ethnizität ist an das Bewusstsein gekoppelt, das man von ihr

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hat. Kindern jugoslawischer Immigranten in Deutschland zumindest konnte dieses Bewusstsein Ende der 1980er Jahre gänzlich abhanden gekommen sein. Es konnte vorkommen, dass Halbwüchsige nicht wussten, welcher Volksgruppe sie denn angehörten und was der Name der Sprache sei, die sie zu Hause sprechen. In solchen Fällen mussten sie erst ihre Eltern fragen. Inzwischen wissen wohl alle Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, ob in Deutschland oder anderswo, was ihre Volkszugehörigkeit ist. Zumindest in solchen Fällen ist doch klar, dass die neue Konjunktur der Ethnizität ein Ergebnis, nicht die Ursache, der ethnischen Konflikte ist. Durch ihre Gliederung in Teilrepubliken, die nach der jeweils vorherrschenden Ethnie benannt waren, haben Jugoslawien und die Sowjetunion selber dazu beigetragen, Volkstum im Bewusstsein ihrer Bürger als Identifikation zu erhalten. Sollte Ethnizität tatsächlich der Faktor sein, der diese Gebilde gesprengt hat, dann haben die Zentralmächte selber dazu beigetragen. Bei Volkszählungen wurde regelmäßig gefragt, von welcher Volksgruppe man sei, und man musste sich in unklaren Fällen entscheiden. Trotzdem lehnten ungefähr 5 % der Befragten ab, sich mit der einen oder anderen Nationalität zu identifizieren und gaben an, sie seien »Jugoslawen«. Wo sind diese 5 % geblieben? Mitte der 1970er Jahre schrieb ein amerikanischer Ethnologe ein Buch über die bosnischen Muslime mit dem Titel European Moslems (Lockwood 1975). Einer seiner Befunde war, dass im städtischen Kontext ethnische und religiöse Identifikationen verblassten. Seine Prognose war, dass sich die Ethnizitäten Jugoslawiens auflösen würden und am Ende ein jugoslawisches Staatsvolk stehen würde, dessen frühere ethnische Unterteilungen historische Reminiszenzen oder allenfalls von folkloristischem Interesse sein würden. Damit lag er ganz auf der Linie der vorherrschenden Modernisierungstheorien, die alle davon ausgingen, dass mit dem Vordringen der Moderne Ethnizität allenfalls im ländlichen Raum noch eine Weile überleben würde. Offensichtlich – und das belegt diese Quelle, auch wenn die in ihr enthaltenen Prognosen nicht stimmen – spielte in den 1970er Jahren Ethnizität eine geringere und im Vergleich zu früheren Gegebenheiten schwindende Rolle. Der politische Wille entsprach dem. Die überwiegende Mehrheit der Bosnier – im Sinne aller Bewohner Bosniens, nicht der einen oder anderen Volksgruppe – war bis in die 1990er Jahre hinein entschlossen, die Bedeutung des ethnischen Faktors gering zu

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halten. Angesichts der Entwicklung in Slowenien und Kroatien wollte sie den pluralistischen Charakter ihrer Republik als »Jugoslawien im Kleinen« erhalten. Zigtausende demonstrierten in den Straßen von Sarajevo, um sich für den Erhalt ihres multikulturellen Gemeinwesens einzusetzen. Diese Demonstrationen wurden durch wenige Heckenschützen aufgelöst, und die daraus resultierende Gewaltspirale ist sattsam bekannt. Erst sie führte dazu, dass jeder Einzelne zu ethnischer Identifikation gezwungen war. »Jugoslawe« sein zu wollen, schützte nicht davor, als »Kroate«, »Serbe« oder »Muslim« oder in einer späteren Phase als »KosovoAlbaner« umgebracht oder vertrieben zu werden; und um sich dagegen zu schützen, musste man sich mit denen zusammenschließen, die einem nach dem ethnischen Prinzip als seinesgleichen angeboten wurden, eine Entwicklung, die Dizdarevic (1993) als Geiselhaft der Milizen bezeichnet hat. Die Betrachtung der wirklichen oder angeblichen kulturellen Unterschiede zwischen den Volksgruppen Bosniens ergibt, dass der Sprachunterschied zwischen ihnen verschwindend gering ist. Sie alle sprechen das Serbo-Kroatische mit ganz geringfügigen Variationen. Man erkennt die Herkunft einer Person aus kroatischen oder serbischen Kerngebieten of nur an wenigen typischen Wörtern. Slovenisch dagegen ist eine vom Serbo-Kroatischen deutlich abgehobene andere slawische Sprache. Wenn man im Vergleich dazu das Gewaltniveau betrachtet, das in dem einen und anderen Fall die Trennung begleitete, so fällt auf, dass die sprachlich deutlich abgegrenzten Slovenen sich relativ friedlich vom Bundesstaat Jugoslawien trennen konnten, während es zwischen den sprachlich kaum unterscheidbaren Serben, Kroaten und Muslimen Bosniens zu Grausamkeiten kam, die in Mitteleuropa nicht mehr für möglich gehalten wurden. Die Dialektunterschiede innerhalb des Serbo-Kroatischen sind weit geringer als die zwischen den verschiedenen deutschen Dialekten, die ihre Sprecher bekanntlich ja nicht daran hindern, friedlich in einem Bundesstaat zusammenzuleben. Fälle, in denen ein niedriges Unterschiedsniveau mit einer hohen Konfliktintensität zusammenfällt, finden sich oft. Man ist fast versucht, eine negative Korrelation zwischen Kultur- und Sprachunterschied einerseits und Gewaltniveau andererseits zu postulieren. Das einzige Unterscheidungselement zwischen Serben, Kroaten

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und Muslimen, das auch politisch eine Rolle zu spielen scheint, ist der Faktor Religion. Bei den Muslimen ist ja die konfessionelle Bezeichnung gleichzeitig zu einem Ethnonym, d. h. einem Äquivalent zu den ethnischen Bezeichnungen »Serben« und »Kroaten« auf der anderen Seite geworden. Das bedeutet, dass die Jugoslawen nach mehreren Jahrzehnten unter einem agnostischen oder irreligiösen Regime ihre jeweilige Glaubenspraxis wahrscheinlich weit gehend vergessen hatten und man sich in den heutigen Auseinandersetzungen auf die Religion der Großeltern beruft, nicht etwa auf eine eigene praktizierte Religion. Dies wird z. B. dadurch belegt, dass, so sehr sich auch die gesamte muslimische Welt mit den bosnischen Muslimen solidarisierte, bosnische Flüchtlinge in Malaysia auf Grund ihrer Unkenntnis der Religionspraxis Befremden ausgelöst haben. Auch im Fall Somalias fallen eine extrem große Fraktionierung und ein sehr hohes Gewaltniveau mit geringen oder praktisch abwesenden Kulturunterschieden zusammen. Bei Somalia handelt es sich um einen Staat mit einer kulturell, sprachlich und religiös einheitlichen Bevölkerung,3 der oft als einziger »National«-Staat Afrikas bezeichnet wurde. Aus Presse und Fernsehen ist bekannt, dass die Fraktionierung hier auf dem Subklan-Niveau stattfindet. D. h. konkret, dass die Kontrahenten Abstammungslinien eines Klans angehören, die erst seit wenigen Generationen auseinander laufen und deren Begründer namentlich bekannt sind. Sprachliche oder sonstige kulturelle Unterschiede oder religiöse Schismen sind hier weder zu vermuten noch in der Realität gegeben (Schlee 1996). Kulturelle Homogenität ist also noch lange kein Garant für friedliches Zusammenleben. Für Nordirland hat die Bielefelder Forscherin Mary Kenney nachgewiesen, dass die verfeindeten Gruppen einen bis ins Detail hinein parallelen Symbolismus haben, dass die Marschkapellen und Umzüge, die Ikonographie der Gewalt an den Hauswänden auf beiden Seiten jeweils genaue Entsprechungen haben. Es ist ein Konflikt, der innerhalb eines kulturellen Zeichensystems ausgetragen wurde. Man versteht sich nur allzu gut (Kenney, im Erscheinen). Jetzt zur zweiten These, die besagt, in ethnischen Konflikten prallten uralte, tief verwurzelte Gegensätze aufeinander und diese seien zwischenzeitlich nur verdeckt gewesen, z. B. durch die kommunistische Herrschaft oder den Kolonialismus. Dem ist entgegenzuhalten, dass Ethnizität ständig neu definiert wird, nicht nur, was ihre kulturel-

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len Inhalte anbelangt, sondern auch, was das Personenkollektiv anbelangt, das eine jeweilige Ethnizität umschreibt (Barth 1969). Die Grenze zwischen »uns«, dem »Wir« und den »Anderen« wird ständig neu verhandelt. Was das Alter von Konfliktkonstellationen anbelangt, so finden wir empirisch eine sehr hohe Variation vor. Von den Armeniern und Azeris, um erneut ein Beispiel herauszugreifen, das in den letzten zehn Jahren Schlagzeilen gemacht hat, wird ja zumindest behauptet, dass sie sich schon vor 1000 Jahren in genau der gleichen Konstellation bekämpften. Es gibt also solche uralten Konflikte, möglicherweise natürlich mit wechselnden Begründungen, wechselnden Frontverläufen und in unterschiedlicher historischer Gestalt, aber doch wiedererkennbar. Auf der anderen Seite steht das Beispiel der so genannten »Kalenjin«, das Andreas van Nahl (1999: 306f.) behandelt. Die Kalenjin sind eine Volksgruppe in Kenia. Die heutigen alten Leute unter den Kalenjin wussten in ihrer Jugend aber nicht, dass sie Kalenjin waren. Dass diese Kalenjin nicht weiter zurück verfolgt werden können als in die Kolonialzeit und dass es ursprünglich nur den Gebildeteren unter ihnen bekannt war, wie europäische Linguisten hier die Dialektgrenzen zogen und größeren sprachlichen Zusammenhalt definierten, ändert nichts daran, dass es sich bei den Kalenjin heute um eine hoch politisierte Ethnie handelt. Es handelt sich um die Ethnie des Präsidenten Daniel arap Moi, der es verstanden hat, viele Angehörige dieser Gruppe in hohen Positionen unterzubringen und dadurch andere Volksgruppen in Kenia gründlich von der Regierung zu entfremden. An kenianischen Regierungsfahrzeugen fängt das Nummernschild immer mit ›GK‹ an, was eigentlich Government of Kenya heißt. Im Volksmund sagt man aber schon längst Government of Kalenjin. Aggressiv artikulierte Ethnizitäten können also sehr alt sein oder sehr jung, wobei das Alter mit der Intensität der ethnischen Mobilisierung nichts zu tun hat. Häufig handelt es sich natürlich bei dem scheinbar hohen Alter ethnischer Differenzen und der Ethnonationalismen um Rück-Projektionen in die Vergangenheit. Jeder Nationalismus tendiert dazu, sich auf uralte Gegensätze und Unterschiede zu berufen (Elwert 1989: 441). Es ist geradezu ein Merkmal von Nationalismen, dass sie sich immer als alt-ehrwürdig gebärden und immer historischen Wurzeln nachspüren, die sie oft erst durch diese Aktion des Nachspürens in die Vergangenheit hineintreiben, wie ja auch ein Baum

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seine Wurzeln ins Erdreich hineintreibt und nicht etwa aus den Wurzeln herauskommt. So ist es auch mit den historischen Wurzeln. Man treibt sie zurück in die Zeit. Das Alter von Ethnonationalismen mag also strittig sein, hat aber in jedem Falle nichts, zumal nichts Ursächliches, mit der Intensität ethnischer Konflikte zu tun. Die dritte These, die zur Diskussion steht, ist die von der Universalität von Ethnizität, d. h. die Behauptung, jeder Mensch gehöre zu irgendeinem Volk. Im Gegensatz hierzu ist Ethnizität keinesfalls ein natürliches oder universales Gliederungsprinzip der Menschheit. Im vorkolonialen Afrika kann man vielfach beobachten, dass eine gegebene Gruppe, die sich auch einen Namen zulegte, das Dorf ein Stückchen weiter östlich und ein Stückchen weiter westlich noch als zur selben Gruppe zugehörig empfand, zwei oder drei Dörfer entfernt die Bewohner aber als fremd empfand. Wenn man jetzt den Bezugspunkt wechselt und von einem der Nachbardörfer ausgeht, so kann man feststellen, dass auch dessen Bevölkerung sich im Zentrum einer Verbreitung ähnlicher Merkmale ansässig ansieht, d. h., wir haben es nicht mit einer ethnischen Gruppe mit einer festen Außengrenze zu tun, sondern mit einem Kontinuum, in dem sich die Grenze zwischen »Wir« und den »Anderen« mit dem Betrachterstandpunkt verschiebt (Elwert 1989: 445). Ethnizität ist hier oft erst in der Folge kolonialer Verwaltung entstanden, als man nämlich Distrikte nach den vermeintlich sie bewohnenden Stämmen einteilte. Sie ist auch im Zusammenhang mit der modernen Wissenschaft und der Schulbildung zu sehen. Woher, wenn nicht letztlich aus der ethnographischen Literatur, soll denn z. B. ein Eskimo aus Grönland wissen, wo genau die Grenzen der Verbreitung der Eskimo als Ganzes liegen? Von Alaska oder der Nordostspitze Sibiriens hätte er ohne Schulbildung sicher noch nie etwas gehört. So werden denn gelegentlich wissenschaftliche Anschauungen, korrekte ebenso wie inkorrekte, über Ähnlichkeiten und Unterschiede in die lokalen politischen Diskurse zurückimportiert und beeinflussen die heutigen Grenzen des Wir-Gefühls. Insbesondere Namen von Sprachfamilien machen hier oft ganz eigenartige Karrieren durch. Die vierte These lautet, Ethnizität sei askriptiv. Sie sei eine Zuschreibung, und zwar eine unabänderliche Zuschreibung aus der Perspektive des Individuums. Man kann an seiner Volkszugehörigkeit im Regelfall nichts ändern. Im ariden Norden Kenias, der von verschiedenen hirtennomadischen Gruppen genutzt wird, die unterschiedliche

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kuschitische Sprachen sprechen, fällt dagegen auf, dass es häufig zwischen den Ethnien geregelte Formen des Übergangs gibt, die zumindest den kompetenteren Trägern der lokalen Kulturen offen stehen, also denjenigen, die diese Beziehungen und Übergangsmöglichkeiten kennen und manipulativ zu nutzen wissen. Auf Grund von historischen Gegebenheiten, deren Diskussion an dieser Stelle zu weit führen würde, sind verschiedene Klane auf unterschiedliche Ethnien verteilt, so dass verschiedene sprachliche und kulturelle Einheiten, ethnische Einheiten also, aus Untereinheiten bestehen, die sie miteinander teilen. In Notzeiten z. B., oder wenn er durch kriegerische Ereignisse sein Vieh verloren hat, kann also ein Angehöriger eines bestimmten Klans in einer bestimmten Ethnie an seine Klanbrüder in einem Nachbarvolk einen Hilfeappell richten oder er kann sich als Immigrant oder Flüchtling bei ihnen einfinden und dort Weide- und Wasserrechte reklamieren. Verbleiben er und seine Familie dort, so wird sich letztlich auch die ethnische Zugehörigkeit dem neuen Umfeld anpassen, d. h., über die Klanbrücke hat man seine Ethnizität gewandelt, auch wenn dies einige Generationen dauern mag. Wie in Nordkenia mag es auch anderswo geradezu institutionalisierte Brücken geben, auf denen man sich von einer Volkszugehörigkeit in eine andere bewegt, ohne dass sich das kulturelle Gepräge der beteiligten Ethnien deswegen nennenswert ändern muss. Nur ihre Mitgliedschaft tut dies. Die Menschen begeben sich von einer kulturellen Hülse in eine andere. Die Völker bleiben erhalten, nur tauschen sie eben einen Teil der Menschen aus, aus denen sie bestehen. Am Unterlauf des Omo in Südäthiopien z. B. hat Turton (1994) ebenfalls konstatiert, dass sich politisch-territoriale Gruppen wie die Mursi und Surma aus Klans zusammensetzen, die ihnen gemeinsam sind und die älter als sie zu sein scheinen. Bei den Madi und Acholi Nordugandas (Allen 1994) ist das Faktum, dass diese – in der Kolonialzeit verfestigten – »Stämme« über gemeinsame Untergruppen verfügen, noch bemerkenswerter, da die Sprachen der Madi und Acholi unterschiedlichen Sprachfamilien angehören. In allen diesen Fällen schließt das Vorkommen gemeinsamer Klane bewaffnete Konflikte zwischen diesen Gruppen nicht aus. These fünf lautet, das Volk sei eine Abstammungsgemeinschaft. Nach dem eben gesagten muss man das stark relativieren. Aber auch ohne solche institutionellen Brücken des Übergangs ist der Zusam-

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menhang zwischen ethnischen Grenzen und denen von Abstammungsgemeinschaften oft sehr lose. Vielfach ist der Kreis derer, mit denen man Zwischenheiraten unterhält, kleiner als die Ethnie, kann aber andererseits auch Bestandteile anderer Ethnien umfassen. In manchem ist die Ethnogenese beim Menschen mit der Speziation, d. h. der Entstehung neuer Arten, bei den Tieren vergleichbar. Häufig unterscheiden sich Tierpopulationen, die im Begriff sind, sich zu eigenen Unterarten und letztlich Arten zu entwickeln, die deutlichsten Unterschiede an der Grenze zueinander.4 Während bei anderen Tieren aber die Merkmale, mit denen sie sich von einander unterscheiden, oft an ihre Körper gebunden und genetisch determiniert sind, gibt es beim Menschen – stärker wohl als bei irgendeiner anderen Art – ähnliche Prozesse im Bereich des erlernten Verhaltens. Die Ethnogenese ist ein solcher Prozess, den wir als Pseudo-Speziation bezeichnen können, d. h. als einen der Speziation ähnlichen Prozess, der jedoch nicht an Abstammungsgemeinschaften gebunden ist. Die sechste These lautet, Ethnien seien territorial. Sie strebten nach einem einheitlichen Gebiet und letztlich nach nationaler Souveränität. Dem ist entgegenzuhalten, dass viele Ethnien berufliche Spezialisierung als eines ihrer Merkmale haben und ohne das Zusammenleben mit anderen Ethnien sich gar nicht erst in dieser Form hätten entwickeln können. Der Territorialstaat, insbesondere der so genannte Nationalstaat, stellt eine moderne Sonderentwicklung dar, die aus Westeuropa stammt. Sie ist nicht Ausdruck einer universalen Entwicklungstendenz. Vielerorts wird er den ganz anderen Identifikationen der Menschen nur als äußere Form übergestülpt. Die erfolgreichste und zumeist auch brutalste Form der politischen Umsetzung der eben behandelten sechs problematischen Annahmen ist die Errichtung von Nationalstaaten, die im Idealfall ethnisch homogen sind oder in denen das namensgebende Staatsvolk zumindest eine große Mehrheit hat. Von den inzwischen über 180 »National«Staaten der Erde entspricht diesem Bild jedoch nur eine kleine Minderheit (Ra’anan 1989). In den allermeisten Fällen stellt sich das Problem, unterhalb des organisatorischen Niveaus der »Nation« mit Verschiedenheit umgehen zu müssen. Oft geschieht dies in der Form territorialer oder anderer Gruppen-Sonderrechte, über ethnische Spezialisierung in Erwerbsnischen (wobei Konkurrenz vermieden, aber Diskriminierung eingeführt wird), Minderheitenschutz usw. Die aufge-

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zählten Formen des Umgangs mit Verschiedenheit teilen das Merkmal, dass Individuen durch sie vom politischen Gesamtsystem nicht nach eigenem Verdienst Rechte zugestanden und Pflichten zugesprochen bekommen, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer der dieses System konstituierenden Gruppen. Der Einzelne wird immer wieder auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe zurückverwiesen, und sei es durch die wohlmeinendsten Maßnahmen des Minderheitenschutzes und die administrative Förderung eines multikulturellen Gruppenmosaiks. Freiheiten und Rechte werden hier Kollektiven, nicht dem Einzelnen, zugesprochen. Konfliktvermeidung oder zumindest -regulierung durch ökonomische Nischenbildung und die Differenzierung von Rechten finden sich auch in den hier vorgelegten Einzelstudien. Für die mauretanische Gesellschaft nach dem Ende der Sklaverei zeigt der Beitrag von Urs Peter Ruf auf, dass die sie durchziehende Leitdifferenz zwischen Freien und Freigelassenen keinesfalls isolierfähige Segmente begründet, sondern nach wie vor interdependente Teile der Gesellschaft konstituiert. Freigelassene orientieren sich am Modell der Freien, dem möglichst gleichzukommen sie anstreben; Freie beziehen ihren hervorgehobenen Status daraus, dass den Freigelassenen dieses Gleichkommen nie ganz gelingt. Sie messen sich an derselben kulturellen Werteskala oder, um eine sportliche Metapher zu bemühen: sie laufen in demselben Rennen, aber mit unterschiedlichem Handicap. Mag innerhalb der maurischen Gesellschaft der Unterschied zwischen ursprünglich Freien und Freigelassenen auch als der zwischen »Weiß« und »Schwarz« umschrieben werden, so sind doch beide, »Schwarze« wie »Weiße«, Bestandteil der maurischen Kultur, deren Hauptmerkmal der Hassaniyya-Dialekt des Arabischen ist. Erst auf der nächst höheren taxonomischen Ebene und in loserer systemischer Verknüpfung miteinander finden sich Mauren und Nicht-Mauren, darunter die »anderen« Schwarzen, die Westafrikaner aus den Ursprungsgesellschaften der maurischen Ex-Sklaven, in die zurückzukehren den maurischen Freigelassenen auf Grund des Verlustes ihrer Genealogien und ihrer Vergangenheit für immer verwehrt ist. Ein Testfall für die Konsequenzen der Rückkehr von Ex-Sklav(inn)en in ihre schwarzafrikanischen Ursprungsländer sind Frauen von den senegalesischen Tirailleurs, die in der Kolonialzeit in Mauretanien stationiert waren, und die dann ihren Männern in den Senegal

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folgten. Dort wandelte sich dann ihr Status wieder zurück und ähnelte dem, dem sie gerade entronnen waren. Ihren Männern nämlich war die Institution der Sklaverei keineswegs fremd und sie behandelten diejenigen ihrer Frauen, die von Sklavenursprung waren, als Frauen zweiter Klasse (Ruf 1999: 197 nach McDougall). »Back to the roots« ist also kein Ausweg aus der Sklaverei, denn es gibt kein Land Westafrikas, in dem der Status, ehemaliger Sklave zu sein, nicht hartnäckig haftet. Wirklich frei wären sie nur in den Gruppen, denen sie nach der jeweiligen Deszendenzrechnung zugehörig sind; die patrilineare Deszendenz ist jedoch an die Institution der Ehe gebunden, die Sklaven verwehrt ist. Allenfalls dort, wo matrilineare Deszendenzrechnung vorherrscht, ist vorstellbar, dass Nachkommen von Sklavinnen in weiblicher Linie in ihren Ursprungsgesellschaften wieder volle Aufnahme finden, wie dies z. B. bei den Ashanti der Fall ist (Fortes 1969: 147). Aber auch dies wäre an den Fortbestand genealogischen Wissens geknüpft. So bleibt den Freigelassenen, sowohl den individuell Freigelassenen als auch den bloß durch das staatliche Gesetz Befreiten, also keine andere Option als auf einer maurischen Werteskala mit den anderen Mauren in Statuskonkurrenz zu treten, was öfter auf ein Leugnen und Uminterpretieren ihrer Vergangenheit als auf ein stolzes Beharren auf ihr und deren Höherbewertung hinausläuft. Ruf beschreibt die Lage der Ex-Sklaven einschließlich dieser Dilemmata mit spürbarer Parteinahme und ohne ein eigenes egalitäres Ethos zu verleugnen, sei dieses nun »westlicher« Herkunft oder nicht. Einem Kulturrelativistismus im Sinne einer relativistischen Ethik (dagegen auch Jarvie 1984) wird nirgendwo das Wort geredet. Parallelen hierzu gibt es im Schrifttum über das indische Kastensystem (s. u.), bei dem sich auch einige Anthropologen die Freiheit genommen haben, es nicht für gut zu befinden (Sharma 1994). »Differenz« und »Identität« sind aufeinander bezogene Begriffe. Unter »Identität« verstehen wir nichts weiter als die Abwesenheit von Differenz, d. h. Dasselbe-Sein in einer bestimmten Merkmalsdimension oder nach einem Komplex von Merkmalen. Die »tieferen«, psychologisch und extistenzialistisch besetzten Konnotationen dieses Begriffes überlassen wir gerne den Gurus und modernen Medizinmännern, die sich bereits in hinreichend großer Anzahl um diese Aspekte kümmern.

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Der Beitrag von Horstmann über Süd-Thailand zeigt das gelegentlich etwas paradoxe Ineinandergreifen von Identität und Differenz, die zwar Gegensätze sind, von denen aber jede auf ihre Weise dieselbe Wirkung gesellschaftlicher Integration haben kann. Differenz als Faktor gesellschaftlicher Integration spielt hier über eine ethnische Arbeitsteilung (Berufsspezialisierung) eine Rolle. Chinesische Händler, malaiische Fischer und Thai-Bürokraten ergänzen sich in ihren Tätigkeiten und wissen, was sie voneinander zu erwarten haben. Auf der anderen Seite wird durch das Entstehen einer MittelklasseKultur mit westlichen Elementen eine Merkmalsdimension geschaffen, an der entlang Teile der verschiedenen ethnischen Kulturen in Teilen der sie tragenden Bevölkerungsgruppen gleich werden, sich also zwischen den differenten Teilen einer metaethnischen Gesellschaft Brücken von Identität bilden. Während andernorts Ethnizität in die Privatsphäre verdrängt ist oder aber als gesellschaftliche Tatsache in Erscheinung tritt, die der Staat entweder offiziell nicht wahrnimmt oder durch Assimilation zu überwinden denkt, gibt es auch Staaten, die sich als Föderationen von ethnischen Gruppen verstehen, in denen man letztlich also nur als Angehöriger einer der konstitutiven Ethnien vollwertiger Staatsbürger sein kann, und dies eigentlich auch nur im jeweils eigenen Gebiet. Ein solche »Ethnokratie« ist das postsozialistische Äthiopien. Im vorliegenden Band beschreibt Wossen Marion Popp einige interessante Paradoxien, die sich aus widersprüchlichen Kriterien ethnischer Identifikation in einem solchen System ergeben können. Ein weiteres Beispiel der Integration durch Verschiedenheit ist das bereits eingangs erwähnte Kastensystem. Jensen (1999: 66) nimmt bei seinen Betrachtungen über Probleme und Möglichkeiten bei der Bildung Kulturen übergreifender Begriffe »Kaste« als Beispiel für einen Begriff, dessen Verwendung in vergleichenden Studien of versucht worden und immer wieder gescheitert sei. Die »sozialen Kontexte z. B. in afrikanischen Gesellschaften [sind ...] doch so anders und geben wenig Anlass zu vergleichenden Untersuchungen zur hinduistischen Gesellschaft, so dass [...] eine über die Verhältnisse der letzteren hinausgehende Fassung des Kastenbegriffs nicht zweckmäßig ist.«

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Obwohl der Terminus aus dem Portugiesischen stammt, also einmal eine Übertragung auf eine andere Kultur durchmachte, hat die Begriffsgeschichte dann doch eine Verengung auf indische Gegebenheiten durchgemacht, auf die der Begriff heute in enger Fassung seine ausschließliche Anwendung findet. Einige fassen den Begriff sogar so eng, dass er nicht einmal mehr auf Indien passt. »Y a-t-il des castes aux Indes?« ist der Titel eines alten Artikels von Meillassoux (1977: 277311). Jensen nennt die Elemente Endogamie und berufliche Spezialisierung als diejenigen Komponenten, die bei dem Versuch der Übertragung des Begriffes auf außerindische Kulturen als zentral herausgegriffen worden seien. Aus welcher Perspektive ein System endogam ist, in dem Frauen nach »oben« heiraten dürfen (weibliche Hypergamie), mag der Diskussion bedürfen. Weiter muss man nicht an Dumont (Homo hierarchicus) denken, um bei den von Jensen herausgegriffenen Merkmalen das Fehlen der vertikalen Gliederung zu bemerken. Offensichtlich hinkt der Vergleich zwischen dem indischen und außerindischen »Kastensystemen« vor allem deswegen, weil anderswo die hierarchischen Beziehungen zwischen den »Kasten« nicht von allen Beteiligten in gleicher Weise akzeptiert werden, so wie dies in Indien der Fall ist oder für Indien vielfach unterstellt wurde. Gelegentlich finden sich aber Hinweise darauf, dass es ein Kastensystem mit einer für Indien postulierten Merkmalskombination (Trennung von priesterlicher und Herrschafts-Funktion, Verbindung von ritueller Reinheit und Status) außerhalb Indiens gibt, so auf Bali, das wohl mit Grund als »hinduistisch« gilt, obwohl die indischen Einflüsse 1500 und mehr Jahre zurückliegen. Allerdings muss Howe (1987: 141), nachdem er diese Entsprechungen herausgearbeitet hat, konstatieren, das ihm die Basis dieses Vergleiches wegzubrechen droht. Für Indien selber wird nämlich bestritten, dass die Kategorien so sauber getrennt sind, wie von Dumont beansprucht, und dass sie sich auf einer einzigen vertikalen Skala unterbringen lassen. Priester, König und Asket sind möglicherweise voneinander getrennte Ideale, die parallele Hierarchien begründen, auf denen man nach ganz unterschiedlichen Beurteilungskriterien eingestuft wird, nämlich nach den Standards der Priesterlichkeit, der Königlichkeit und der Askese. Quingley (1997: 115) würde es vorziehen, von linearen, leiter-ähnlichen Hierarchiemodellen gänzlich Abstand zu nehmen. Diese verdecken die Tatsache, dass Brahmanen und Unberührbare mehr miteinan-

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der gemein haben können als mit anderen Kasten und daher keine Gegenpole zueinander bilden. Es gebe zahlreiche ethnographische Beobachtungen, die gegen ein solches lineares Modell ins Feld geführt worden seien. »To resolve these disputes arbitrarity [...] by squeezing castes into an artificial vertical line where each caste is higher or lower than every other is simply to violate ethnographic reality.«

Selber zieht er ein Modell vor, das aus konzentrischen Kreisen besteht und in dem die Nähe zum König oder zur lokal dominierenden Kaste die Höhe des Status begründet. Statusunterschiede also auch hier, aber nicht auf einer einzigen Skala, denn dem Zentrum kann man sich ja von verschiedenen Seiten nähern, indem man verschiedene Funktionen am Hofe (oder was immer im Einzelfall der rituelle Fokus sein mag) ausübt (Quingley 1997: 116). Solche kreisförmigen Modelle werden auch für Bali in Erwägung gezogen, wo ebenfalls »Zentrum vs. Peripherie« in »hoch vs. tief« seine Statusentsprechung findet (Parkin 1987: 59 unter Hinweis auf Hobart 1978). In der einen oder anderen Form aber muss von eine Höher stehenden und Tiefer stehenden akzeptierte Statusdifferenz zu konstatieren sein, ansonsten ist schwerlich von »Kasten« zu sprechen, auch wenn andere Definitionskriterien erfüllt sind. Den Gegensatz zu einem Kastensystem, in dem Ethnizität und Stratifizierung untrennbar miteinander verquickt sind, bilden pluriethnische Systeme wie das im Norden der Elfenbeinküste, das hier von Youssouf Diallo vorgestellt wird (vgl. auch Diallo / Schlee [Hg.] 2000). Ein solches System mag, von außen betrachtet, als egalitär bezeichnet werden. Die Akteurinnen und Akteure selber mögen durchaus hierarchische Vorstellungen mit ihrer Gesellschaft verknüpfen, häufig wahrscheinlich solche, in denen die jeweils eigene Ethnie die höchste Position auf der Werteskala einnimmt. Auf keinen Fall aber kann von einer einheitlichen, von allen akzeptierten Hierarchie die Rede sein. Auch hier finden wir ethnische Arbeitsteilung: Die Senufo sind Bauern, die Fulbe Viehzüchter oder abhängige Hirten, die Malinke Händler. Damit hängen differenzierte Rechte und Kompetenzen zusammen: die Senufo sind Herren der Erde und verleihen das Recht, auf dieser zu siedeln, die Fulbe sind Spezialisten für Rinderhaltung und

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werden auch konsultiert, wenn die Senufo Probleme mit ihren wenigen eigenen Rindern haben, sofern diese nicht ohnehin Fulbe-Viehhaltern anvertraut sind oder von Fulbe-Lohnhirten gehütet werden. Soweit ist dieses Verhältnis also komplementär und man würde daher davon ausgehen, dass es friedlich sein müsse. Beeinträchtigt wird es jedoch durch Flurschäden und Fraß an der auf den Feldern gelagerten Ernte, den die Fulbe-Rinder verursachen. Die Jägervereinigungen der Senufo setzen hier drastische Vergeltung durch. Die Fulbe würden in diesen Auseinandersetzungen sicher noch viel schwächer dastehen, hätten sie nicht staatliche Kräfte auf ihrer Seite. Die städtischen Eliten im Süden des Landes haben ein Interesse an gesicherter Versorgung mit Rindfleisch und sorgen mit ihrem politischen Einfluss für ein Fortbestehen der Fulbe-Präsenz im Lande. In Ghana ist es bei ähnlichen Interessengegensätzen zwischen Bauern und Städtern dagegen durchaus schon zu Vertreibungen der Fulbe zurück nach Burkina Faso gekommen (Tonah 1993: 127ff.). So spielen in die Untersuchung interethnischer Systeme immer auch der Staat oder dessen Untergliederungen hinein, und zwar nicht nur als externer Faktor sondern auch als einer, der in sich selber wiederum ethnisch bestimmte Kräfte aufgenommen hat oder gar Instrument ethnisch definierter Interessengruppen geworden ist. Spielen sich in der Untersuchung von Youssouf Diallo Migrationen und das In-Kontakt-Treten mit anderen Ethnien im Dreieck Elfenbeinküste – Burkina Faso – Mali ab, so haben wir es beim Gegenstand der Studie von Anja Peleikis mit ganz anderen Dimensionen zu tun. Ihre Arbeit Lokalität im Libanon im Spannungsfeld zwischen konfessioneller Koexistenz, transnationaler Migration und kriegsbedingter Vertreibung befasst sich mit einer transnationalen metaethnischen Konfiguration, die sich von der Levante nach Westafrika erstreckt. Dabei ist Großräumigkeit keinesfalls mit Kosmopolitismus gleichzusetzen. Mag man sich als libanesischer Migrant auch in verschiedenen Kontinenten erfolgreich orientieren, bleiben dabei doch die im Herkunftsort gepflegten minimalen Differenzen erhalten. Und diese minimalen Differenzen tendieren dazu, die meiste Aufmerksamkeit und den meisten Artikulationsaufwand auf sich zu ziehen. Sie bilden die nächstliegenden Kontraste, ausgestaltet, wie so oft, am stärksten in Kleidung und Habitus der weiblichen Mitglieder der sich voneinander abgrenzenden Gruppen (vgl. Werner 1997). Diese Differenzen bleiben nicht nur er-

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halten; sie verbreiten sich mit der Ausweitung der Migrationen und der Kommunikationsräume über den Globus. Es ist das Dorf, das sich globalisiert. Und wie alle Dörfer ist – entgegen der romantisierenden Sicht vieler Städter – auch das von Peleikis untersuchte südlibanesische Dorf Zranie weniger eine Gemeinschaft als eine Arena. Neben der Abgrenzung von den Wirtsgesellschaften, die, wie für alle Händler-Minoritäten, eine prekäre Balance erfordert, da sie unterhalb der Schwelle der Feindseligkeit gehalten werden muss (vgl. Evers / Schrader 1994; Evers / Schlee 1996), spielen hier also auf ein interkontinentales Niveau gehobene politisch-religiöse Identitäten aus einem dörflichen und klein-regionalen Interaktionskontext eine Rolle. Ein weiteres westafrikanisches Beispiel ist die Kleinstadt Tanguiéta im Norden Benins, die Gegenstand der Untersuchung von Tilo Grätz im vorliegenden Band ist. Geographisch liegt der Norden Benins in der Sudanzone und damit in einem ausgeprägten ethnischen und linguistischen Fraktionierungsgürtel. Grätz beschreibt Heterogenität und Gemeinsamkeit auf mehreren Ebenen. Innerhalb von sozioökonomischen Großkategorien (Bauernethnien, Händlerethnien, Staatsangestellte) beschreibt er eine Fülle von sprachlichen Unterschieden und heterogenen Ursprüngen. Neben diesen internen Unterschieden gibt es verbindende Elemente wie den Diskurs der Autochthonie bei den Bauern und koloniale Stereotypisierungen, die sie zusammenfassen und die »Kultur des Zongo« (der Händlerniederlassung) sowie zwei Verkehrssprachen (Hausa und Dendi) bei den Händlern. Untereinander stehen diese Großkategorien durch ihre unterschiedlichen ökonomischen Spezialisierungen in einem komplementären Verhältnis. Diese Identifikationen und die Formen ihres Wandels untersucht Grätz im Handlungsfeld lokaler, regionaler und nationaler Politik. Ausgehend von Westafrika, in diesem Falle von Senegal, verfolgt Monika Salzbrunn eine andere Wanderungsbewegung, nämlich die entlang der Netzwerke der sufischen Tijaniyya- und Mudiriyya-Bruderschaften nach Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland und in andere Industrieländer. Handelsströme, insbesondere solche, die dem »informellen Sektor« zuzurechnen sind, folgen diesen Netzwerken ebenfalls. Chinesische Produkte mit gefälschten Marken gelangen so durch Senegalesen z. B. nach Spanien. Religiöse Bruderschaften überqueren in ihrem Wachstum mit Leichtigkeit ethnische und nationale Grenzen. An dem Vergleichsfall

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der Naqshbandiyya und ihrer Beziehungen zur Tabligh-al-Jama’aat zeichnet Salzbrunn Beziehungen nach, die sich von Usbekistan über Zypern und Saudi-Arabien nach Neuseeland erstrecken, wo die Islamisierung der Maori voranschreitet: Eine Vorstellung, die Romantiker vom Anfang des Jahrhunderts, die »Eingeborenenkulturen« gegen Fremdeinflüsse abschirmen und »rein« erhalten wollten, das Grauen lehren würde (Salzbrunn 2000). Auch die Grenzen der islamischen Umma werden von Ablegern von Sufi-Gemeinden überquert. Europäische oder neuseeländische Stadtbürger können in Sufi-Zirkeln ihre Esoterik pflegen, ohne erst Muslime werden zu müssen. Andere Gemeinden erfordern das Bekenntnis zum Islam und setzen auch islamische Bekleidungs-Kodes für Frauen durch. Ganz beschränkt auf innerislamische Diskurse und regional auf Migranten und Re-Migranten zwischen dem Sudan und Saudi-Arabien eingegrenzt ist die Untersuchung von Ruth Klein-Hessling Muslimische Frauenorganisationen und Geschlechterpolitiken im Nordsudan. Aber auch hier offenbart sich eine erstaunliche Vielfalt und eine komplexe symbolische Politik, in der wiederum Frauen eine besondere Rolle spielen als Symbolträgerinnen, also Vehikel, aber auch als Akteurinnen und moralische Instanzen. Eine jüngere Parallelstudie zu der bereits erwähnten Arbeit von Karin Werner über islamische Lebensentwürfe und Selbststilisierungen unter Studentinnen in Kairo ist die von Salma Nageeb (2000). Thema der Arbeit ist, wie diese Frauen im Zuge der staatlich vorangetriebenen Rigidisierung islamischer Lebenspraxis ihren Raum – im doppelten Sinne von Bewegungsraum und Handlungsspielraum – verteidigen oder ausweiten. Die Strategien reichen von instrumentalistischer Anpassung, z. B. Erwerb der Reputation als gute Muslima zur Steigerung des eigenen Wertes auf dem Heiratsmarkt, bis hin zum aktiven Vorantreiben der Rigidisierung des Islams bei einer Gesprächspartnerin, der der Islamismus der Regierung nicht weit genug geht. Auf der einen Seite finden wir den Einfallsreichtum, mit dem eine junge Frau Gelegenheiten herstellt, bei denen sie Männer der gewünschten Kategorie (wohlhabend und »gelb« = hellhäutig) trifft, und ihren sofortigen Rückzug in die Pose der Scheu und Wohlanständigkeit, wenn sich ein solcher Kontakt ergibt. Der Mann ist das Ziel, die Befolgung islamischer Gebote der Weg. In einem anderen Fall ist der Weg zum Mann

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und der Weg zu Gott derselbe. Zusammen mit ihrem tansanischen Verlobten möchte eine junge Islamistin in anderen afrikanischen Ländern für den Islam missionieren. Das Problem, bei eingeengtem Handlungsspielraum und Bewegungsraum einen Partner zu finden, stellt sich für sie nicht mehr, da sie schon einen Partner hat. Die dargestellten Frauen gehen mit dem sich rigidisierenden und politisierenden sudanesischen Islam also auf ganz verschiedene Weisen um. Manche instrumentaliseren staatliche und religiöse Regelungen und Rhetoriken für ihre eigenen Zielsetzungen, manche biegen mit sanfter Hartnäckigkeit an den ihnen gesteckten Grenzen. Ähnlich sieht dies Karin Werner, die im vorliegenden Band von Frauen spricht, »die eben nicht trotz ihrer, sondern durch ihre Affiliation zu den […] neuen rationalistischen Strömungen Zugang zu solchen Räumen gewinnen«. Akzeptiert man nur eine letztliche Wertorientierung, die islamisch ist, und beschreibt man die Rationalisierung dessen, was man tut, im Hinblick auf diese Orientierung, wird ein gewisses Maß an Unterschiedlichkeit tolerabel. Der Islam akzeptiert neben sich kein nicht-islamisches gesellschaftliches Programm. Wird im Westen vereinfachend von der Einführung der Shari’a in einem islamischen Land gesprochen, so ist damit eine bestimmte enge, literalistische Interpretation des islamischen Rechtes gemeint, die direkt, d. h. ohne historische Relativierungen, an wirkliche oder vermeintliche Praktiken des siebten Jahrhunderts anknüpfen will. Außer Acht gelassen wird dabei die Tatsache, dass auch Recht, das aus anderen Quellen schöpft, z. B. aus parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, in islamischen Ländern keine Legitimität erhält, wenn es sich im Widerspruch zur Shari’a definiert. Es muss in der Lage sein, sich auf den Geist der Shari’a zu berufen, vielleicht im Sinne einer zeitgemäßen Interpretation derselben. Für diejenigen, die in der Lage sind, Anknüpfungspunkte in der islamischen Lehre zu finden, öffnet sich jedoch auch im Islam, komplex wie er ist, ein weites Feld von Lebens- und Gesellschaftsentwürfen. Dort wo diese Pluralität zu blutigen Auseinandersetzungen führt,5 liegt dies weniger am Islam als an dem Mangel an zivileren Formen der Austragung von Konflikten in den betreffenden Gesellschaften. Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Alltagsbeispiel, dass Frauen sich nach islamistischem Kleidungskode züchtig bedecken, dadurch ihre Bewegungs- und Handlungsspielräume vergrößern, und

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dem, was über den Islam als Legitimitätsbasis ohne Alternativprogramm und die sich innerhalb des Islams auffaltende Pluralität gesagt worden ist. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass hier eine Einschränkung befreit. Das Bekenntnis zur Zugehörigkeit öffnet Spielräume. In Umkehrung des Titels dieses Bandes, Integration durch Verschiedenheit, könnte man sagen, dass hier ein gewisses Maß an Verschiedenheit durch Integration, durch die Berufung auf eine umfassende Klammer, ermöglicht wird. Vielfach werden diese sich öffnenden Spielräume durch andere Tendenzen überlagert. Seit den 1970er Jahren scheinen von widerstreitenden Interpretationen des Islams die jeweils rigideren, engeren, in ihrer Praxis aufwändigeren gegen die liberaleren zu gewinnen. Diese Tendenz der Rigidisierung des Islams wird von Sozialwissenschaftlern (wohl in unbewusster Übernahme islamistischer Ideologie) oft fälschlich als Islamisierung bezeichnet, gerade so, als wären die Gesellschaften, in denen dieser Prozess stattfindet, nicht schon seit Jahrhunderten islamisch. Die in diesem Zeitraum herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen innerhalb einer Religion, die sich auf einen gnädigen und erbarmenden Gott beruft, sich immer die jeweils strengeren und dogmatischeren Varianten zu behaupten scheinen, harren einer abschließenden Klärung. Sicher hat Exklusion etwas damit zu tun. Je enger man islamische Legitimität definiert, desto mehr Menschen kann man unter Berufung auf den Islam von politischer Machtausübung ausschließen. In Werners Beitrag geht es jedoch nicht um Exklusion, sondern um globale Ausweitung und das Koexistieren von Verschiedenem. Der Islam weist nationale Varianten auf, »in denen die Überlagerung von nationalistischer und religiöser Loyalität stets aufs Neue vollzogen wird«.6 Durch Migration und mediale Vernetzung entsteht ein globaler islamischer Raum, in dem vielerlei solcher Varianten gleichzeitig allgegenwärtig sind, und offenbar nicht nur in Form eines losen Durcheinanders. Es ist auch erkennbar, dass dieser globale islamische Raum »ein entlang nationaler und ethnischer Grenzen segmentierter und hierarchisierter« ist. Migrantenstudien – wie hier die von Salzbrunn – nehmen immer wieder Bezug auf den »informellen Sektor« der Wirtschaft, in dem Migranten eine besondere Rolle spielen. Dieser informelle Sektor ist auch Gegenstand der Untersuchung von Markus Kaiser über Usbekis-

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tan. Auch hier treffen wir wieder Migranten, die den »chinesischen« und den »koreanischen« Markt in Taschkent bevölkern. Es mögen daher einige Bemerkungen angebracht sein, was der »informelle Sektor« mit dem Phänomen der Migration zu tun hat. Häufig steht der informelle Sektor mit ethnischen Netzwerken und Nischen in Verbindung, die in dem Maße an Bedeutung zu gewinnen scheinen, wie der Staat als Ordnungsfaktor und das rein ökonomischen Gesetzen gehorchende Marktgeschehen an Bedeutung verlieren. Ethnische Nischenbildung im Wirtschaftsgeschehen, z. B. in Form ethnisch segmentierter Arbeitsmärkte, ist gelegentlich aus kulturellen Mustern erklärt worden, die von der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems mitgebracht worden seien. Hiergegen wendet sich Portes (1994). Ausschlag gebend für die Entstehung dieser Formen sei die kapitalistische Dynamik in den entwickelten Ökonomien, also den Zielländern der Migrationen. Im Globalisierungsprozess sind Branchen entwickelter Ökonomien – sein wichtigstes Beispiel ist die Textilproduktion – gezwungen, auf den Konkurrenzdruck aus Billiglohn-Ländern zu reagieren, indem sie sich selber informalisieren. »Informell« ist nach Portes eine wirtschaftliche Aktivität, deren Endprodukt legal ist, die jedoch in der Produktion oder im Erwerb der Ware Komponenten aufweist, die zum Zwecke der Kostenreduzierung durch Umgehen von Gesetzen oder Bestimmungen zu Stande gekommen sind. Nach den Kriterien erlaubt / unerlaubt angewandt auf Produktion / Produkt lässt sich der informelle Wirtschaftstyp einerseits vom formellen, andererseits vom kriminellen Wirtschaftstyp unterscheiden. Tabelle 1: Wirtschaftstypen Produktion / Handel

Legende: Quelle:

Endprodukt

Wirtschaftstyp

+

+

formell



+

informell

+/–



kriminell

+ = erlaubt / – = unerlaubt Portes 1994

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Durch Informalisierung entstehen in amerikanischen Metropolen Enklaven der Dritten Welt: Gebiete, die sowohl nach der Art der in ihnen vorherrschenden Wirtschaftsweisen als auch in ihrer ethnischen Zusammensetzung Ländern der Dritten Welt ähneln, weil sie sowohl von unternehmerischer Seite als auch der der Arbeitskräfte durch zugewanderte »Nicht-Weiße« geprägt sind. Der naheliegende Schluss, dass diese Wirtschaftsformen von den MigrantInnen, die sie ausüben, importiert worden sind, ist jedoch nicht zwingend. Nach Portes entspringt die Informalisierung der Textilindustrie einer kapitalistischen Entwicklungsdynamik, die mit Migranten und deren Kulturen nichts zu tun hat. Kubanerinnen und Chinesinnen waren nur zufällig gerade verfügbar, als sich die neue Erwerbsnische öffnete, und akzeptierten die prekären Arbeitsverhältnisse als Näherinnen in Heimarbeit oder in den massenhaft entstehenden Sweatshops, die die regulären (Steuern, Zölle, Gebühren, Tariflöhne zahlenden) Fabriken ersetzten. Es ist plausibel, diese Perspektive auch auf andere Fälle anzuwenden, z. B. auf Somali-Frauen, die in Londoner chemischen Reinigungen die Wäsche sortieren, nicht nur nach den kulturellen Dispositionen und Präferenzen dieser Frauen zu fragen, sondern auch nach der Art der Arbeitsverhältnisse. Steht die Branche unter Informalisierungsdruck? Was macht diese Arbeitsplätze möglicherweise für einheimische Frauen (und Männer sowieso) unattraktiv und dadurch für Migrantinnen verfügbar? Die Art von Arbeitsverhältnissen in der Dritten Welt, mit denen in einer Abwärtsschraube von Löhnen und Arbeitsbedingungen die informellen Sektoren in den Metropolen der Ersten Welt wetteifern, werden in Petra Danneckers Beitrag über Textilarbeiterinnen in Bangladesch behandelt. Sie befasst sich mit dem formellen Sektor, mit Frauen, die in regulären Fabriken arbeiten und nach bengalischen Maßstäben nicht einmal besonders arm sind. Deren Entscheidungen über Arbeitsverhältnisse werden nicht nur von finanziellen Erwägungen und den Arbeitsbedingungen gesteuert. Mangelnder Respekt und die Verletzungen der Regeln islamischer Geschlechtersegregation sind Grund genug, ein Arbeitsverhältnis zu kündigen und ein anderes einzugehen, das nicht besser dotiert ist. Handlungsspielräume offenzuhalten, außerhäuslicher Arbeit nachgehen zu können ohne kulturelle Normen zu verletzen, erfordert die Desexualisierung der zwischengeschlechtlichen Beziehungen am Arbeitsplatz. Von fiktiven Geschwisterbezie-

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hungen in der Form der Anrede bis zu sporadischen Ansätzen zu kollektivem Widerstand reichen die weiblichen Strategien, die dominierendem und sexualisierendem männlichem Sprachgebrauch und männlichem Verhalten entgegengesetzt werden. Wie die Warenströme und der Preisdruck auf die Ware Arbeitskraft, laufen auch ökonomische Netzwerke und ethnische sowie religiöse Loyalitäten quer zu nationalen Grenzen. Entlang der alten Seidenstraße, quer durch den turksprachigen Raum und darüber hinaus, spannen sich die von Markus Kaiser untersuchten Handelsnetzwerke. Central Asia meets the Middle East ist der Titel eines von David Menashri herausgegebenen Buches, das sich ebenfalls mit dieser Region befasst. Er unterscheidet – nach Bennigsen und Broxup – die drei Niveaus der Identifikation zentralasiatischer Muslime: »Subnational, that is by clan or tribe; supranational, whether religious (Islamic) or ethnic (Turkic); and national. They tend to discount national consciousness as a ›Soviet creation forced upon the population‹ in order to divide the Muslim territories and ensure Russian control. By contrast, they claim, the sub-national and supra-national are ›deeply rooted in the culture‹ of the region. In spite of all Soviet efforts, they are cutting across the Soviet imposed national divisions« (Menashri 1998: 5).

Trotz weit gespannter und großräumiger Identifikationen mit der islamischen Welt und mit den Sprechern anderer Turksprachen als des Usbekischen, leben die Bewohner von Taschkent also nicht in einer rein türkisch-islamischen Lebenswelt, sondern haben ethnisch Andere kleinräumig integriert. Wenn nicht Russen, so doch das Russische prägt den neuen Jargon des Kleinhandels und der Koreanische Markt wird tatsächlich von Koreanern bevölkert, wenn dort auch neben Waren aus Südkorea solche aus Europa und Japan vertrieben werden (Kaiser). Religiöse und sprachliche Identifikationen verlaufen quer zu nationalen Grenzen und sind ein Faktor bei der Herausbildung transnationaler Räume. Nicht nur religiöse Lehrer türkischer Sprache aus Deutschland sind in Zentralasien zu finden (Kaiser), auch türkischdeutsche Firmen sind dort als Anbieter und Investoren tätig und indirekt, oft wohl auch unwissentlich, profitieren auch andere deutsche Firmen und der Arbeitsmarkt in Deutschland von den transnationalen

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Aktivitäten dieses ethnisch geprägten Sektors. Ein deutsch-türkischer transnationaler Raum weitet sich nach Zentralasien aus (Faist [Hg.] 2000). Den russischen Werbeschriftzügen und Hinweistafeln in Istanbul, wo das Russische als lingua franca auch im Kontakt mit Sprechern anderer Turksprachen genutzt wird (Kaiser), stehen also türkeitürkische und deutsch-türkische Einflüsse in Zentralasien gegenüber. Handel scheint, wie wir nicht erst seit den Arbeiten von H. D. Evers über das Trader’s Dilemma wissen, ethnische Differenzen geradezu zu erhalten und zu betonen, statt sie zu verwischen. So finden wir denn neben Identitäten und postulierten Verwandtschaften im Bereich fernster Außenbeziehungen gleichzeitig kleinräumige Differenz im Inneren. Und dies gilt nicht nur für zentralasiatische Metropolen. Vielleicht sind wir hier scheinbaren Paradoxien auf der Spur, die in Wirklichkeit Grundprinzipien sozialer Organisation sind. Anmerkungen 1 2

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Firat 1997, Poeschke 1996, Ruf 1999, Schmidt 1995, Werner 1997. Dass gelegentlich Praktiken der Vergangenheit heute von den Betroffenen als stärker diskriminierend beschrieben werden, als sie es seinerzeit waren, dass also zum Zwecke der ethnischen Mobilisierung Gruppen ihren Status als niedriger darstellen, als er war, ist auch durch Beobachtungen über Boran und Gabbra in Äthiopien belegt (Schlee 1994b: 131f., Schlee / Shongolo 1995: 15). Dies gilt für die Konfliktparteien. Im Süden gibt es auch bäuerliche Bevölkerungen und bantusprachige Gruppen, die z. T. aus diesem Bild herausfallen. Diese gehörten jedoch nicht zu den Konflikt treibenden Kräften. Beispiele hierfür und auch Gegenbeispiele finden sich in Schlee 1995: 197, Fußnoten 9 und 10. Zu Algerien vgl. Birgit M. Kaiser (im Erscheinen). Gerät eine dieser beiden Loyalitätsformen auf Kosten der anderen gänzlich in den Vordergrund, wird also z. B. aus einer religiösen Bewegung eine nationale oder aus einer ethnischen eine religiöse, spricht Elwert von »switching« (Elwert, im Erscheinen).

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Globalisierung, Transnationalität und Identitätspolitik

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) T01_00 zwischentitel.1.p 281067299552

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Zum Verhältnis von Islam und Globalisierung

Beobachtungen zum Verhältnis von Islam und Globalisierung – Eine Feldforschung in Ägypten revisited1 Karin Werner

Im vorliegenden Beitrag werden die gegenwärtig beobachtbaren Entwicklungsdynamiken und -schübe des Islams als Teil von weitreichenden Globalisierungsprozessen untersucht. Hierbei geht es weniger darum, gänzlich neuartige Prozesse aufzuzeigen, es ist uns wohl bewusst, dass Globalisierung im Selbstverständnis der missionarischen Weltreligionen bereits seit ihrem Entstehen ein zentrales Thema darstellt. Vielmehr setzt sich der Beitrag zum Ziel, eine aus der jüngeren Globalisierungsdiskussion entwickelte analytische Perspektive auf einige rezente Entwicklungen im Verhältnis von Islam und Globalisierung zu projizieren und zu sehen, welche soziale Topographie dieser Blick freilegt. Diese Perspektive verortet die aktuell beobachtbaren Globalisierungsprozesse an vielen Punkten und Positionen in einem sozialen Bezugsrahmen, dessen vieldimensionale Architektur sich durch traditionelle Globalisierungskonzepte und die ihnen zu Grunde liegenden einwertigen Determinierungslogiken nur unzureichend fassen lässt.2 Die im Folgenden präsentierten empirischen Beispiele legen die Metapher einer vielschichtigen Landschaft aus verschiedensten Relationen mit jeweils spezifischen in sie eingebauten sozialen Asymmetrien nahe. Den Gegenstand der Betrachtung bildet also eine Vielzahl von mehr oder weniger verbundenen sozialen Räumen, die sich unter den aktuell beobachtbaren Prozessen von Globalisierung konstituieren. Dass an diesen Prozessen Frauen in vielerlei Hinsicht beteiligt

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sind, ist eines der Merkmale des mit dem Begriff Globalisierung bezeichneten Bündels von Prozessen. Wie anschließend verdeutlicht wird, eröffnen sich Frauen in unterschiedlichen sozialen Räumen sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Zum Verhältnis von Islam und Globalisierung: Plädoyer für eine empirisch orientierte Konzeption von Globalisierung Bei der Entschlüsselung des Verhältnisses von Islam und Globalisierung schließen wir die Auffassung aus, dass es sich bei der beobachtbaren zunehmenden Entgrenzung und Transformation des Islams lediglich um eine Folge von Globalisierung handele. Bei einer solchen Setzung wäre der Islam das Äußere und damit auch das Determinierte der Globalisierung, die dann, wie häufig in öffentlichen Diskursen, diffus und unerklärt bliebe. Eine andere, hier nicht übernommene Auffassung ist die, dass es sich bei der Globalisierung des Islams um eine in Schüben vonstatten gehende zeiträumliche Expansion einer durch diesen Prozess unveränderten universalistischen Religion – im klassischen Sinne einer »Weltreligion« – handele. Vielmehr ist es eines der Hauptanliegen des vorliegenden Beitrages, das Terrain strikt diffusionistischer Erklärungsmuster zu verlassen und stattdessen die im Zuge zeiträumlicher Dehnung und Verdichtung von nicht primär territorial begrenzten sozialen Feldern mit entstehenden ungeplanten, von vielen Seiten aus in Gang gesetzten Transformationen religiöser Alltagspraxis ins Zentrum des Interesses zu rücken und damit sozialen Kontingenzen Rechnung zu tragen. Diese Perspektive eines in solche Entwicklungen verstrickten Islams sensibilisiert sich für das Geschehen in neu konstituierten bzw. veränderten Arenen sozialer Praxis. Hierdurch wird der Blick dafür frei, wie unter diesen Bedingungen soziale Differenzen erodieren und verteidigt oder verschoben werden. Um das Verhältnis von Islam und Globalisierung in dieser Weise zu thematisieren, benötigt man Ansätze zur Untersuchung von Globalisierungsprozessen, die sensibel für alltägliche soziale Prozesse sind. Eine damit verbundene Forderung ist die Entwicklung von theoretischen Konzepten, deren Begriffe von Globalisierung nicht modernistisch und eurozentrisch orientiert sind, da sie hierdurch Gefahr laufen,

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Globalisierung und Modernisierung gleichzusetzen und daneben keinen Raum mehr zu lassen für Entwicklungen, die sich dieser Schematik entziehen. Das Erkennbare der Globalisierung bleibt in diesem Fall das Moderne (vgl. Giddens 1990; Beck 1997). Sich dieser dominanten Tendenz zu entziehen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar und ist unserer Meinung nach bislang vor allem da ertragreich gewesen, wo man nicht beansprucht hat, eine umfassende Theorie der Weltgesellschaft oder der Globalisierung zu formulieren, sondern sich für deren vielgestaltige Formen und Varianten sensibilisiert, sie eingehend empirisch untersucht und auf der Grundlage dieser Befunde theoretische Aussagen begrenzter Reichweite erzeugt. Solche empirisch orientierten Zugänge zur Globalisierung des sozialen Alltags sind mittlerweile recht fruchtbar, und der vorliegende Beitrag möchte hieran anschließen. Damit ist bereits der hier gewählte Zugang zum Verhältnis von Globalisierung und Islam eingegrenzt: Im Zentrum unserer Konzeption steht die Globalisierung des Alltags und das durch Globalisierungsprozesse in Wandel geratene, sich aber keineswegs auflösende Lokale. Unser Interesse gilt also der Globalisierung als Prozess der Formung von sozialen Prozessen, Strukturen, Medien und Artefakten, die sozial zugleich lokal und trans- bzw. überlokal verankert sein können. Es ist bereits mehrfach thematisiert worden, dass Globalisierungsprozesse nicht nur in Wirtschaft, Politik und Kultur, sondern auch im Bereich der Religion stattfinden (vgl. Robertson 1990; Cipriani 1994). In Zeiten fortschreitender Globalisierung nicht nur von Gesellschaft, sondern auch von Gemeinschaft (vgl. Beyer 1994) gewinnt das Konzept von der »imagined community« (Anderson 1985) zunehmend an Bedeutung, da in dieses Konzept von Gemeinschaft die nun im Weltmaßstab ausgeschöpften Möglichkeiten raumzeitlicher Dehnung von Wir-Gruppen (Elwert 1989) bereits eingebaut sind (vgl. Eade 1997). Wie Roland Robertson darstellt, werden unter Globalisierungsbedingungen Vergemeinschaftungsprozesse auf verschiedenen Ebenen miteinander verbunden: Globale Gemeinschaftsvorstellungen, wie sie etwa mit dem Begriff ›Menschheit‹ (humanity) verbunden werden, und lokale (regionaler, nationaler, ethnischer Reichweite) Vergemeinschaftungsprozesse erfolgen aufeinander Bezug nehmend. Um die innerhalb und zwischen verschiedenen Ebenen stattfindenden Prozesse

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zu erklären, entwickelt Robertson das Konzept des nach keiner Seite hin auflösbaren ›globalen Feldes‹ als global-lokales Perpetuum mobile (Robertson 1994). Für das Verhältnis von Globalisierung und Islam bedeutet die hier verfolgte Fokussierung auf das Entstehen neuer zugleich global wie lokal verankerter sozialer Strukturen, wie sie etwa von Netzwerken und multimedial unterstützten translokalen und transnationalen sozialen Räumen gebildet werden (Pries 1996; Faist 1995, 2000; Peleikis 2001), dass sich in diesem, von keinem archimedischen Punkt aus zu überblickenden und steuerbaren Prozess eine Koevolution unterschiedlicher sozio-religiöser Formen vollzieht. Wie auf den nachfolgenden Seiten eingehend behandelt wird, ist der globale Islam Vehikel und Motor für Homogenisierung und Heterogenisierung sowie für Universalisierung und Partikularisierung zugleich. Einordnung des Islams in die globale Topographie: Der globale islamische Raum Um die hier angesprochenen Prozesse zu ordnen und die in ihnen wirksamen Mechanismen zu verstehen, ohne hierbei modernistischreduktionistisch zu argumentieren, d. h. eine übergreifende, den Verlauf steuernde moderne Master-Logik zu Grunde zu legen, ist es sinnvoll, ähnlich wie Arjun Appadurai dies mit Hilfe des Begriffs der scapes3 getan hat (Appadurai 1990, 1996), verschiedene Räume in der globalen Landschaft zu unterscheiden. Wir verfolgen hier die Idee, zusätzlich zu den von Appadurai benannten scapes einen Bereich abzugrenzen, den wir in Analogie zu seiner Terminologie als sozialen Raum der Religionen (religioscape) bezeichnen wollen. Der Fokus liegt im Folgenden auf einem Raum sozialer Beziehungen und Strukturen, den wir hier den globalen Raum des Islams (Islamscape) nennen werden. Die von Appadurai analysierten scapes sind zugleich soziale Strukturen und imaginäre Horizonte. Als solche sind sie mit einem gewissen Grad an Autonomie im Verhältnis zu anderen sozialen Sphären ausgestattet, mit denen sie jedoch vielfältig verflochten sind.4 Sie werden von Appadurai als begrenzte, in sich differenzierte Sphären konzipiert, in denen eine spezifische »politische Ökonomie symbolischer Zeichen« stattfindet; sie können quer zu anderen bestehenden sozial-

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imaginären Einheiten wie Nationen etc. gelagert sein. Es ist das Kennzeichen dieser sozio-kulturellen Landschaften, dass sie nicht durch territoriale Schranken begrenzt werden, sondern durch die operative Reichweite der in ihnen zirkulierenden Handlungsketten und Kommunikationsströme sowie durch die in ihnen erzeugten Imaginationen. In Bezug auf den globalen Raum des Islams (Islamscape) wären etwa folgende Elemente zu nennen: die alltäglichen praktischen Verrichtungen von Muslimen und die hieran beteiligten kommunikativen Akte und Handlungen sowie die in diesem Zusammenhang hergestellten sozialen Kontexte, die den Besuch der lokalen Moschee und den Konsum von religiösen Fernsehprogrammen und Schriften ebenso umfassen wie den Gebrauch des Internets, die Pilgerfahrt nach Mekka, die Migration von Studenten zu islamischen Universitäten und den Verkehr islamischer Gelehrter zwischen verschiedenen Lokalitäten. Wie diese Beispiele veranschaulichen, wird diese Sphäre durch soziale Prozesse und Strukturen auf der Mikro-, Meso- und der Makroebene konstituiert: durch die Ausbildung spezifischer religiöser Lebensstile, die Ausformung bestimmter Laien- und Expertenrollen und die Ausbildung spezifischer sozialer Organisationen. In dieser Perspektive ist die spektakuläre und mächtige raumzeit-übergreifende Fatwa des Ayatollah Khomenei gegen den Schriftsteller Salman Rushdi ebenso ein Element des globalen islamischen Raums wie die unzähligen unspektakulären, in Globalisierungsprozesse involvierten alltäglichen religiösen Handlungen anderer Muslime. Der Islam wird hier also nicht religionswissenschaftlich, sondern soziologisch als alltägliches soziales Leben betrachtet. Die Fokussierung auf den globalen islamischen Raum soll LeserInnen dafür sensibilisieren, dass sich dieser Alltag nicht nur innerhalb lokaler sozialer Bezüge abspielt, sondern zunehmend in raumzeitlich gedehnte soziale Zusammenhänge eingebettet wird. Es handelt sich bei ihnen also nicht um ›totale‹ soziale Welten oder ›Zivilisationen‹. Im Folgenden sollen ausschnittartig einige für die Entstehung des globalen Raums des Islams in seiner heutigen Form wichtige Entwicklungsdynamiken skizziert und einige der zentralen sozialen Komponenten behandelt werden. Hierbei wird sich die Analyse zwischen der gesellschaftlichen Makro- und der Mikroebene hin- und herbewegen.

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Veränderungen seit den 1970er Jahren: Neue räumliche und soziale Mobilitäten führen zu veränderten Grenzziehungen Die Entwicklung des globalen islamischen Raums in seiner heutigen Form ist mit wichtigen Entwicklungen in anderen scapes bzw. Räumen verbunden. Ein, aber nicht der einzige wichtige Faktor war und ist die veränderte globale Positionierung der arabischen Golfländer, die seit den 1970er Jahren einen enormen Anstieg ihrer wirtschaftlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl verzeichnen und seitdem eine weit ausstrahlende Islamisierungspolitik verfolgen. Ein weiterer damit verbundener Faktor ist die in großem Ausmaße stattfindende Arbeitsmigration in die Golfländer aus vielen Ländern Nordafrikas und Asiens. Diese hat in den vergangenen Jahrzehnten Millionen von Menschen in Bewegung gesetzt und gehalten. Die in der Folge entstehende neue regionale Ordnung (New Arab Social Order [NASO], Ibrahim 1982), in der die arabischen Golfländer eine führende Position einnehmen, ist ein Eckpfeiler in der Architektur des globalen islamischen Raums in seiner heutigen Form.5 Neue islamische Lebensstile entwickelten sich signifikanterweise in Situationen, in denen soziale Gruppen ›in Bewegung gebracht wurden‹, wenn sowohl räumliche als auch soziale Mobilität und die hiermit verbundenen Diskontinuitäten ins Spiel kamen und von den beteiligten Akteuren bewältigt werden mussten. Der mehrfache Kontextwechsel der Arbeitsmigranten schuf die Bedingungen für die Herausbildung von Lebensstilen und Ideen, die kontextübergreifend sozial anschlussfähig wurden. Durch diese vielfältigen Bewegungen wurden aus verschiedenen Perspektiven Anschlüsse an den selbstbewussten Islam der Golfstaaten vollzogen und seine ›Übersetzung‹ in die verschiedensten sozialen Kontexte realisiert (z. T. handelte es sich dabei eher um ein Implantieren). Das Ergebnis dieser auf keine einheitliche Formel zu bringenden und sozial nicht unbedingt reibungslos vonstatten gehenden Relationierung ist ein Spektrum verschiedener islamischer Lebensstile. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie Kodes lokaler Relevanz und Reichweite mit denen eines überlokalen, sich im globalen Kontext verortenden Islams zueinander ins Verhältnis setzen, indem sie sie etwa miteinander hybridisieren, sie kontrastieren oder sie hierarchisieren. Anschauliche Beispiele für verschiedene Modi der Zuschreibung zu

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globalen und lokalen Kontexten und den damit einhergehenden imaginären Topographien bilden Kleiderkodes von Frauen, die in Ägypten seit den 1970er Jahren zu beobachten sind. Diese Kodes sind zum einen durch die Migration hunderttausender Ägypter in die arabischen Golfstaaten und zum anderen durch die nicht unabhängig davon zu betrachtende Islamisierungspolitik der Regierung entstanden.6 Hybridisierende Kombinationen von Turnschuhen, Jeans und Kopftuch (hijab) erweisen sowohl in vielen lokalen Milieus ausgeprägten Vorstellungen von ›schicklich‹ und ›statthaft‹ als auch globalen Vorstellungen von ›hip‹ die Reverenz, sie verorten sich darüber hinaus auch im Raum der sozialen Klassen der ägyptischen Gesellschaft, wo dieses Ensemble bzw. diese Kombination von Kodes einem spezifischen Segment der gebildeten Mittelklasse zugeschrieben wird. Demgegenüber laufen andere Stilisierungen wie die dem saudi-arabischen Vorbild nachempfundene Vollverschleierung mit Gesichtsschleier (niqab) den lokalen Erwartungen bewusst zuwider. Dieser Stil schreibt sich einem überlegenen Islam der Golfländer zu und bietet nicht nur den lokalen und nationalen, sondern auch den westlichen Vorstellungen von Weiblichkeit die Stirn. Andererseits sind auch in dieser vom lokalen Umfeld sich distanzierenden Stilisierung ansatzweise Lokalisierungstendenzen erkennbar, doch sind sie relativ schwach ausgeprägt. Sie manifestieren sich etwa in einer spezifischen lokalen Farbordnung, die Rang und Alter markiert: Jüngere und weniger fortgeschrittene Frauen tragen helle Kleider, und ältere bzw. fortgeschrittenere Frauen tragen schwarz. Sie verhüllen zudem noch ihre Augen mit einem Gazestreifen. Eine dritte stilistische Spielart, nämlich große Kopftücher in gedeckten Farben (khimar) in Kombination mit langen, weiten Kleidern, ist als Zuschreibung zu einem bestimmten Segment der ägyptischen islamischen Orthodoxie zu verstehen, das in seinen Schriften diese Form des öffentlichen Auftretens von Frauen explizit befürwortet; sie ist lokal jedoch auch nur begrenzt anschlussfähig. Diese Beispiele veranschaulichen unterschiedliche Muster der Zuschreibung zu lokalen und translokalen Kontexten. Das hier dargestellte Spektrum reicht von Positionen, die lokale Bezüge mit nationalen und globalen harmonisieren wollen, bis hin zu Positionen, die sich gegen lokale Bezüge hochgradig immunisieren. Wie Beobachtungen zeigen, verhandeln die unterschiedlichen Positionen miteinander um Legitimität und sozialen Status. Hierbei orientieren sich die einen ver-

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stärkt an lokalen Traditionen, die anderen an einem auf die Nation bezogenen Islam und wieder andere an einem Islam, dessen Purifizierungskodes Elemente eines räumlich entgrenzten saudi-arabisch geprägten Islams darstellen. In der hier verfolgten Perspektive entsteht der globale islamische Raum exakt durch und zwischen diesen Positionen und den in ihnen zum Ausdruck kommenden Topographien. Wie weiter unten noch ausführlich dargestellt wird, ist der globale islamische Raum eine aus verschiedenen Perspektiven heraus entwickelte Vielzahl von mehr oder weniger eng miteinander verbundenen sozialen Gebilden. Eine andere für die Konstitution des globalen islamischen Raums in seiner heutigen Form relevante Entwicklung ist die seit den 1970er Jahren verstärkt zu verzeichnende Integration vieler islamischer Länder in den kapitalistischen Weltmarkt, die einerseits einen Rückzug des Staates als Wohlfahrtsstaat und Arbeitgeber und andererseits die Verarmung vieler Angestellter des öffentlichen Sektors (unter ihnen viele Akademiker) nach sich zog. Da zeitgleich in großem Stil die Arbeitsmigration in die arabischen Golfstaaten einsetzte und sich hierdurch neue Mittelklassen etablierten, öffnete sich die soziale Schere innerhalb weniger Jahre beträchtlich. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, dass sich sowohl die sozialen ›Gewinner‹ als auch die ›Verlierer‹ islamische Semantiken zu eigen machten, um ihren veränderten sozialen Status zum Ausdruck zu bringen. Wie eine ganze Reihe von Studien belegen, war eine dynamische soziale Arena, in der diese Semantik entwickelt wurde, der Universitätscampus. Während bereits früher soziale Statuskonkurrenzen in mehr oder weniger manifester Form auf dem Campus ausgetragen wurden, ist an den Universitäten vieler islamischer Länder seit den 1970er Jahren eine Ideologisierung beobachtbar, in der neue, die Grenzen von Politik, Kultur und Religion außer Kraft setzende Positionen durch eine islamische Semantik formuliert werden.7 Dass die neuen islamischen Strömungen neben westlichen kulturellen Orientierungen zunehmend auch die nationale islamische Orthodoxie unter Beschuss nahmen und in diesem Prozess also eine doppelte Frontstellung bezogen, lässt sich anhand des ägyptischen Beispiels gut veranschaulichen: Während die Sadat-Regierung zu Anfang der 1970er Jahre die Gründung islamischer Studentengruppen auf dem Campus massiv unterstützte, um durch diese ein Gegengewicht zu den

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nasseristischen Gruppen zu bilden, zeigte sich bald, dass diese international weit vernetzten und mit saudi-arabischen Mitteln unterstützten Gruppen nicht nur gegen die sozialistischen Positionen der Nasseristen Stellung bezogen, sondern in gleichem Zuge auch das nationale islamische Establishment einer harschen Kritik unterzogen. Seit dieser Zeit versucht die ägyptische Regierung mit verschiedensten Maßnahmen, das neu entstandene islamische Segment zu kontrollieren und zu vereinnahmen – doch bis heute mit relativ wenig Erfolg. Fallstudien, die verschiedene SozialwissenschaftlerInnen in den 1980er und 1990er Jahren an verschiedenen Universitäten in Kairo durchgeführt haben, beschreiben den Campus übereinstimmend als eine Arena ideologischer Auseinandersetzungen, in der die neuen islamischen Strömungen gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse opponieren und ›im Zeichen des Islams‹ Alternativen zu ihnen entwickeln (El-Guindi 1981; Kepel 1991; Ibrahim 1985; Werner 1997). Entlang dieser Grenzen vollzieht sich die Amalgamierung von neuen islamischen Kodes, die kulturelle Eigenständigkeit beanspruchen. Die hierbei dominierende Rhetorik ist die einer kulturellen Emanzipation vom Westen, dem man die Verantwortung für die unbefriedigenden wirtschaftlichen und politischen Zustände in vielen islamischen Ländern zuschreibt. Taktisches Manövrieren an der Grenze: Neue rationalistische islamische Orientierungen figurieren sich als Gegenuniversalismen Durch welche taktischen Bewegungen (im Sinne Michel de Certeaus 1984) diese Position der Eigenständigkeit reflexiv konstituiert wird, also welcher Art die Prozesse sind, die entlang dieser Fronten ablaufen, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Ein von Angehörigen neuer islamischer Orientierungen viel behandeltes Artefakt ist der Minirock. Über das Kleidungsstück gibt es zahlreiche schriftliche Kommentare, die häufig von Frauen für Frauen verfasst werden, und eine noch recht junge orale Tradition. In dieser Perspektive wird der kurze Rock von der westlichen Hemisphäre der imaginierten globalen Topographie in die islamische Hemisphäre überführt und dabei mit neuen Rahmungen versehen. Wenn man so will, wird er neu ›verskriptet‹. Dies geschieht, indem man den Rock seiner übrigen, etwa praktischen Aspekte ›ent-

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kleidet‹, ihn als Erotisierungs-Tool von Frauen und damit als technisches Artefakt rationalisiert und ihn als solches gezielt in den eigenen Lebensstil integriert. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Frauen dazu angehalten werden, den Minirock nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tragen, wo ihr mächtiger Sexappeal soziale Unordnung bewirken könnte. Stattdessen werden sie dazu aufgefordert, den Rock zu Hause verstärkt anzuziehen, um ihre Ehemänner sexuell zu stimulieren. Wie dieses Beispiel veranschaulicht, werden Kodes kultureller Eigenständigkeit und Selbstbezüglichkeit durch das reflexive Rotieren um die Diskurse, Praktiken und Artefakte sowohl des lokalen als auch des globalen sozialen Umfeldes gewonnen und in Verknüpfung mit anderen Wissenselementen (etwa schriftlich fixierten religiösen Diskursen) zu allgemeinen Positionen ›hochgerechnet‹, d. h. zu Universalismen verarbeitet, die wir hier aufgrund ihrer expliziten Opposition zu westlichen Universalismen als ›Gegen-Universalismen‹ bezeichnen wollen.8 Dies bedeutet: Diese Universalisierung verläuft (ebenso wie andere auch) nicht ›ungestört‹, vielmehr ist sie das Ergebnis von harter Arbeit an der Grenze zu Anderen und damit das Ergebnis von Positioniertheit:9 Die betreffenden Akteure leben und agieren denn auch eher auf der Grenze und haben durch ständige Übersetzungsleistungen Differenzen ›hautnah‹ auszuhalten, als dass sie in diesem Prozess der Abgrenzung eine Position der Unabhängigkeit einnehmen würden. Es ist dieser unruhige Prozess des ständigen Abtastens und Neuverlegens der Grenze(n), der Reflexion und der Neubestimmung der eigenen Position, in dem neue rationalistische islamische Formen entstehen und sich ausdehnen. In diesen sind jeweils eigene Modi der Zuordnung sowohl zu globalen als auch zu lokalen Kontexten ausgeprägt.10 Dass diese Form der Kultivierung islamischer Formen mit einem avantgardistischen Selbstverständnis einer kulturellen Elite korrespondiert, veranschaulicht etwa das Beispiel ägyptischer Musliminnen, die ihren Alltag durch Bezugnahme auf einen rationalistischen Islam in vielerlei Hinsicht methodisieren. So ist Akteuren in diesen Positionen zu Eigen, dass sie lokal konsentiertes Wissen, Normen und Übereinkünfte, etwa über Geschlechter-, Alters- und Klassendifferenzen, umwerten und, durch Wissensbestände des rationalistischen Islams legitimiert, neue Alltagspraktiken entwickeln, in denen der Bestand an sozialen Differenzen einer Revision unterzogen und neu gewendet wird.

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Die Bewegung der Distinktion und der Verweigerung von Gültigkeit mündet andererseits in die Verdichtung eigener Institutionen, deren Spektrum von Körperpraktiken, Habitusformen und Lebensstilen bis hin zur Formung von Gruppenstrukturen, Netzwerken, politischen Parteien und weltumspannenden Wirtschaftsunternehmen reicht. Für das einzelne Individuum verläuft die Hinwendung zu dieser, in der globalen Topographie mittlerweile breit gestreuten gegenuniversalistischen Position typischerweise in Form einer Konversion, die die methodisch kontrollierte Abkehr und Distanzvergrößerung zum bisherigen sozialen Umfeld und die Affiliation zu neuen sozialen Zusammenhängen nach sich zieht. In Bezug auf das Individuum ist in diesem Prozess die Technisierung religiöser Praktiken zu beobachten, deren präzise Mikropolitiken Körper und Geist mit einbeziehen.11 Wie diese nicht nur im ägyptischen Kontext beobachtbaren Praktiken illustrieren, belädt sich dieser rationale Lebensstil mit dem Anspruch, ›die bessere Alternative‹ zu sein, eine schwere Last, die vom Individuum getragen werden muss. Es sind in ihm Konturen eines perfektionistischen ›Hyperislams‹ erkennbar, der seine Leistungsfähigkeit im globalen Maßstab unter Beweis zu stellen hat. Der rationale Islam als Medium der Inklusion in die Weltgesellschaft Als ein Ergebnis der weitgehenden Abkoppelung vom lokalen Kontext und der Hinwendung zu einer räumlich entgrenzten (nicht nur imaginierten, sondern ganz praktisch hochmobilen) community zeichnen sich die vielerorts entstehenden rationalistischen islamischen Lebensstile (vgl. Horstmann 1999 für Südthailand; Abaza 1999 für Malaysia; Göle 1995 für die Türkei; Allès 1999 für China; Nökel 2001 für Deutschland; Klein-Hessling 2001 für den Sudan und Werner 1997, 1999 für Ägypten) dadurch aus, dass sie den beteiligten Individuen einen raumzeit-flexiblen Lebensstil (incl. Deroutinierung und Anpassung an neue Kontexte) ermöglichen. Die Handhabung dieser Konzepte charakterisiert ein Individuum, das ›fit‹ für globale Mobilität geworden ist. In diesem Zusammenhang soll betont werden, dass dies auch auf Frauen zutrifft, die sich spezifischen Regimes der raumzeitlichen Kontrolle unterwerfen bzw. sich diese aneignen, um auf diesen

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Plattformen kompetent bzw. als Expertinnen mitspielen zu können. Zu diesen Praktiken gehört neben dem Beherrschen von perfekten Umgangsformen und einer entsprechenden körperlichen Haltung auch das Beherrschen von Fremdsprachen, der Umgang mit modernen Techniken, das versierte Hin- und Herwechseln zwischen lokalen und globalen Räumen wie großstädtischen Avenuen, Hotels und Flughäfen u. ä. Wie sicher sich junge Mitglieder islamischer Gruppen in diesen Kontexten bewegen, wurde während einer Feldforschung in Kairo zu Beginn der 1990er Jahre deutlich: Die untersuchten jungen Frauen bewegten sich selbstbewusst und sicher durch die städtische Landschaft und ihre verschiedenen Mikro-Räume und aktualisierten in diesen Räumen Wissen, das sie aus der vorausgehenden Lektüre islamischer Schriften gewonnen hatten. In diesen Handreichungen wird der Zugang zu verschiedenen Räumen thematisiert und normativ verregelt. Diese Diskurse und das in ihnen vermittelte praktisch-technische Know-how werden im Alltag Teil der habituellen Ausstattung junger Frauen, die eben nicht trotz ihrer, sondern durch ihre Affiliation zu den hier behandelten neuen rationalistischen islamischen Strömungen Zugang zu solchen Räumen gewinnen.12 Wenn man so will, kann man diese Orientierung als neo-islamisches Weltbürgertum bezeichnen, dessen expressives habituelles »staging« (Salvatore 1998) in öffentlichen Räumen eine imaginäre globale Topographie aktualisiert, in der eine Symmetrierung der westlichen und islamischen Hemisphäre stattfindet. Der globale islamische Raum und Macht In den bisherigen Ausführungen ist die Rolle von Machtbeziehungen für die Konstitution und Abgrenzung des globalen islamischen Raums nicht als solche thematisiert worden, doch weisen eine Reihe der oben geschilderten ›Praktiken an der Grenze‹ auf Sets von Asymmetrien hin, die sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene vorhanden sind und die in die Konstitution neuer global sich verortender islamischer Orientierungen eingehen. Doch soll hier der Eindruck vermieden werden, es handele sich bei den beschriebenen islamischen Formen ausschließlich um reaktive, defensive Ausprägungen einer vom Westen dominierten globalen Kultur. Es geht hier also nicht darum, den globalen islamischen Raum als einen darzustellen, in dem

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lediglich Resonanzen westlicher Kultur zu vernehmen sind. Um die im globalen islamischen Raum an vielen Stellen auf unterschiedliche Weise geäußerten Alteritätsmomente adäquat einzuordnen, empfiehlt es sich, den analytischen Blick so einzustellen, dass er die Kommunikationen und Handlungen dies- und jenseits der kulturellen Grenzen als bi- oder pluridirektionale wahrnimmt, um hierdurch ›den perzeptiven Westen‹ sowohl in seiner Homo- als auch in seiner Heterogenität mit zu registrieren und sich damit in die Lage zu versetzen, die über sich selbst hinausreichenden Effekte der höchst produktiven ›Arbeit an der Grenze‹ von verschiedenen Perspektiven aus zu berücksichtigen. Die Ausbreitung bestimmter Institutionen innerhalb des globalen islamischen Raums, wie Habitusformen, Geschlechter- und Gruppenstrukturen und andere sind nicht allein aus der kulturellen Opposition ›zum Westen‹ erklärbar, sondern auch aus komplexen Dynamiken innerhalb des globalen islamischen Raums. Um diese Entwicklungen adäquat in den Blick zu bekommen, muss man seine Perspektive für die spezifische Situation von Frauen, Angehörigen bestimmter sozialer Klassen und Bildungssegmente, lokaler Bedingungen usw. sensibilisieren. Hierdurch wird es auch möglich, Netzwerke und Allianzen zwischen verschiedenen Positionen nachzuzeichnen und Verbindungen zwischen verschiedenen Regionen und sozialen Segmenten des Islamscapes aufzuzeigen. Als ein Beispiel für diese Perspektive könnte man sich eine Forschung vorstellen, die die globale Diffusion des islamisch konnotierten Kopftuches in den vergangenen zwei Jahrzehnten nachzeichnet. Aus diesem Blickwinkel wird man die im Alltag stattfindende Vermittlungsanstrengung, die internen Spannungen und Nuancierungen erkennen, die der rationalistische Islam als ein sich in Bewegung befindliches global-lokales Wissenssystem aufweist. Auch wird man erkennen, welche sozialen Segmente über die Ressourcen verfügen, um sich selbst in die Situation zu bringen, sich dieser Orientierung zuzuschreiben. Kurz: Der rationale Islam wird als ein Netzwerk von Relationen sichtbar werden, das über eine Vielzahl von Grenzen hinweg geknüpft und aufrecht erhalten wird.

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Die Globalisierung lokal identifizierter islamischer Orientierungen Nach dieser Skizzierung des rationalistischen Islams als universalisierende Komponente des globalen Islams könnte man zu dem Schluss gelangen, dass die modernisierungstheoretischen Globalisierungstheorien mit ihrer Gleichsetzung von Globalisierung und Modernisierung nun doch recht behielten, und sicherlich sollte man die modernisierende Wirkung der oben skizzierten reflexiven kulturellen Prozesse, wie sie im Zusammenhang mit räumlicher und sozialer Mobilität entstehen, zur Kenntnis nehmen. Wenn man dieses Vorhaben verfolgt, wird man den Begriff Moderne möglicherweise kulturalisierend in den Plural setzen, wie dies etwa Roland Robertson (1995) und Jan Nederveen Pieterse (1995) getan haben, um die aus unterschiedlichen interkulturellen Prozessen heraus in Gang gesetzten Modernisierungsschübe fassen zu können. Doch wäre es falsch, ausschließlich auf die vielerorts präsente rationalistische islamische Strömung zu fokussieren. Neben diesen lokal tendenziell entkoppelten Stilen existiert im globalen islamischen Feld eine Vielzahl anderer islamischer Formen, die zunehmend auf eine globale Ebene gehoben werden, ohne dabei ihre lokale Verankerung zu verlieren. Anders als bei den oben dargestellten rationalistischen Strömungen, die lokale Zuschreibungen durch Universalisierungsprozesse zumindest partiell außer Kraft setzen, ist bei den im Folgenden betrachteten islamischen Orientierungen zu beobachten, dass sie gerade durch die Betonung ihrer lokalen Bezüge und ihr Festhalten an ihnen in Globalisierungsprozesse eintreten. Im Unterschied zu den rationalistischen Strömungen, die sich durch ihre Entkopplung vom lokalen Kontext Zugang zur globalen Plattform verschaffen und sich an einer Symmetrierung ihres Verhältnisses zur westlichen Kultur und an dieser komparativ-kompetitiven Frontlinie abarbeiten, sich neu erfinden und sich dabei gleichzeitig über lokale und nationale Grenzen hinweg etwa über Bildungskriterien gefiltert ausdehnen, zeigen die identitären und politischen Frontlinien der partikularen Formen des Islams einen anderen Verlauf: In diesen Fällen ist gerade die lokale Verankerung und Abgrenzung in unterschiedlichen Ausprägungen der Schlüssel bzw. das ›Eintrittsformat‹ ins Globale. Während der imaginierte Raum des rationalistischen Islams jenseits der Demarkationslinie zum Westen vom Anspruch her ein gleichmäßiger und expansiver ist (wenngleich

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auch hier die islamischen Kernländer faktisch nach wie vor eine Vorbildfunktion ausüben), ist der imaginierte Raum der lokal verankerten Orientierungen ein Raum mit einer klaren Zentrum-Peripherie- bzw. sternförmigen Struktur und daran angeschlossenen Ursprungsmythen bzw. geschichtlichen Erzählungen und Traditionen. Die Koexistenz dieser beiden unterschiedlich gelagerten Orientierungen wird auch in einer Studie von Monika Salzbrunn (1999) behandelt, in der sie muslimische Migrantinnen in Frankreich untersucht. Konkret beschreibt sie die Orientierungen von Musliminnen verschiedener Herkunftsländer (Senegal und Algerien). Salzbrunn zeichnet nach, dass viele junge algerischstämmige Musliminnen sich einem rationalistischen, universalistischen Islam zuwenden, der ihnen zugleich Distanz zu ihrer Familie und zu gesellschaftlichen Stigmatisierungen eröffnet, während sich die senegalesischen Frauen weiterhin an ihren lokalen religiösen Traditionen orientieren, die sie jedoch den neuen lokalen Bedingungen anpassen. Die wohl wichtigsten Vertreter eines sich globalisierenden lokal identifizierten Islams bilden die nationalen islamischen Traditionen und Strömungen, die angesichts eines unter Globalisierungsbedingungen verstärkt zu verzeichnenden »defensiven Nationalismus« (Hall 1991) an Bedeutung gewinnen und in denen die Überlagerung von nationalistischer und religiöser Loyalität stets aufs Neue vollzogen wird. In immer wieder changierenden Akzentsetzungen instrumentalisieren Staatsoberhäupter verschiedenster politischer Couleur den Islam und hybridisieren, in der Regel unterstützt von der nationalen islamischen Orthodoxie, neue Bedeutungsfolien und adressatenspezifische Interpretationsangebote. Dass diese nationalen Auslegungen des Islams und die damit verbundenen Formen staatsbürgerlicher Identität und Loyalität einen wichtigen Beitrag zur Formung des globalen islamischen Raums leisten, der eben auch (aber nicht nur) ein entlang nationaler und ethnischer Grenzen segmentierter und hierarchisierter ist, daran kann aktuell kein Zweifel bestehen. Interessanterweise leistet gerade die zunehmende Migration zur Aufrechterhaltung und Vertiefung dieser Struktur einen besonders großen Beitrag. Über eigene Medienplattformen, religiöse Institutionen und Experten dehnt sich die Reichweite der nationalen Formen des Islams über die territorialen Grenzen der betreffenden Länder hinaus aus, trägt zur Konstitution von ›imagined homes‹ in der Fremde bei und verschafft sich durch die verschobene

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Perspektive der Diaspora einen erweiterten Resonanzboden. Dass zumindest einige dieser Prozesse auch von ethnischen Gruppen vorangetrieben werden, die über keinen eigenen Nationalstaat verfügen, belegt das Beispiel kurdischer Migranten in Deutschland und besonders in Berlin, wo zahlreiche alevitische Gemeinden existieren (vgl. Jonker 1999). In rezente Globalisierungsprozesse involviert ist auch eine Vielzahl von mit bestimmten Orten und Regionen verbundenen, aber nicht unbedingt mit ethnischen Zuschreibungen belegten islamischen Orientierungen. Durch die zunehmende Verdichtung von dauerhaften translokalen Beziehungen, wie sie etwa zwischen Migranten und Daheimgebliebenen unterhalten werden, erfahren auch diese Strömungen eine Dynamisierung. Hier sind z. B. bestimmte Sufi-Orden zu nennen, die sich unter jeweils unterschiedlichen lokalen Bedingungen weiter ausdifferenzieren (vgl. Jonker 1999 in Bezug auf Sufi-Orden in Berlin) oder aber weitgehend konservieren. Die Globalisierung des Islams betrifft also nicht nur modernistisch-rationalistische Lebensstile und Perspektiven, sondern auch bäuerliche religiöse Traditionen, die durch ihre Globalisierung – und dies kann konkret bedeuten: die Ergänzung bisheriger Positionen und Lagen um eine Vielzahl von unterschiedlich lokalisierten Diaspora-Situationen, die Integration in Mediennetzwerke u. ä. – in ein Spannungsverhältnis zwischen Konservierung und Transformation gestellt werden (vgl. Peleikis 2001). Dass das Verhältnis zwischen universalistisch-rationalistischen Strömungen und lokal identifizierten islamischen Traditionen keineswegs immer die Form einer harmonischen Koexistenz annimmt, wurde bereits mehrfach festgestellt. Einen umfassenden Beitrag dazu hat Elisabeth Allès (1999) geliefert. In der Studie stellt sie dar, dass der Islam in China, nachdem er bis vor kurzem von Außeneinflüssen weitgehend abgeschnitten und, zumindest partiell, ›eingefroren‹ war, nun zunehmend in den globalen islamischen Raum integriert wird. Wie sie in ihrer Studie darstellt, entwickeln sich in China gegenwärtig miteinander konkurrierende islamische Institutionen: Mit der Errichtung neuer, von den arabischen Golfländern unterstützter Schulen und Kindergärten korrespondiert die Einführung einer neuen Geschlechterordnung in den religiösen Institutionen. Wie Allès darlegt, wird die traditionelle institutionelle Separierung und Symmetrierung der Geschlechter von dieser Entwicklung ernsthaft bedroht (vgl. Allès 1999).

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Wenn wir nun diesen Faden in unserer Vorstellung weiterspinnen, könnte es aber durchaus sein, dass die traditionellen Formen in der Diaspora fortbestehen, in dieser Situierung also gewissermaßen ›konserviert‹ werden. Der globale islamische Raum, d. h., der Raum sozialer Beziehungen, der sich durch die Verstrickungen des Islams in Globalisierungs- und Lokalisierungsprozesse konstituiert, ist also keinesfalls ein homogener. Er ist in seiner inneren Vielfalt durch ein perzeptives Gegeneinander, etwa durch Schließungen entlang nationaler, ethnischer oder Klassengrenzen gekennzeichnet sowie andererseits durch »crosscutting ties« (Schlee 1994). Beobachtbare Elemente seiner ›Architektur‹ sind einerseits ein sich gegen Lokalisierungsprozesse tendenziell immunisierender rationalistischer Islam, dessen reflexive Bezugnahme auf die universalistischen Zumutungen westlicher Kultur rapide Modernisierungsschübe und homogenisierende Effekte hervorbringt, und andererseits die Proliferation verschiedener nationaler bzw. lokaler islamischer Spielarten, die ihren partikularen Charakter besonders betonen und die sich als solche im globalen sozialen Raum entfalten und hierdurch zur Konstitution eines vielschichtigen und -gesichtigen Islamscapes beitragen. Das Lokale als Ebene der Aushandlung zwischen den verschiedenen islamischen Orientierungen Wie bereits der kurze Verweis auf die Studie von Allès zum Islam in China gezeigt hat, ist eine wichtige Ebene der Aushandlung die der lokalen Kopräsenz verschiedener, im globalen islamischen Feld sich unterschiedlich verortender und beschreibender islamischer Strömungen und der hiermit einhergehenden Konfigurationen, in denen verschiedene imaginäre Topographien und Lebensordnungen sich zueinander in Beziehung setzen. Dass und wie auf der lokalen Ebene das Globale nicht »außer Kraft gesetzt« wird, sondern eine zusätzliche Perspektive (dies impliziert eine Perspektive von »außen«) und Bezugsebene (als Perspektive von »innen«) einbringt, zeigt Ruth Klein-Hesslings Untersuchung (2001) der Koexistenz verschiedener islamischer Strömungen in einem sudanesischen Dorf. In ihrer Studie arbeitet sie die in der Alltagsinteraktion von Frauen stets aufs neue hergestellten Verbindungen zum globalen Raum (Saudi-Arabien und verschiedene europä-

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ische Länder) und die hiermit korrespondierenden unterschiedlichen Sichtweisen des lokalen Kontexts sowie die hierin sich artikulierenden sozialen und kulturellen Konkurrenzen heraus. In Klein-Hesslings Analyse werden die vielen, keineswegs unidirektionalen Verbindungen zwischen dem Globalen und dem Lokalen dargestellt: Wie sie zeigt, erfolgt die Situierung sozialer Akteure im Lokalen durch Bezüge zum globalen islamischen Raum und umgekehrt. Eine ähnliche Vorstellung verfolgt wohl auch der US-amerikanische Religionssoziologe Roland Robertson (1995), wenn er »globality« und »locality« als Referenzen fasst, die durch einen stets beide Bezugshorizonte hervorbringenden Globalisierungsprozess erzeugt werden. Die von Robertson in diesem Zusammenhang dargestellte Dynamik der Universalisierung des Partikularen und die von der bisherigen Forschung eher vernachlässigten »Rückseite« der Partikularisierung des Universalen beschreiben einen Globalisierungsprozess, in dem die Grenzen zwischen Lokalem und Globalem keineswegs erodieren, sondern in dem globale und lokale Bezüge von sozialen Akteuren in stets neuen Figurationen mit- und gegeneinander in Beziehung gesetzt werden. Die nach keiner Seite hin auflösbare Relation von Globalem und Lokalem ist wohl auch ursächlich dafür, dass keine einheitlichen Trends in Bezug auf die Entwicklung individueller Handlungsspielräume im globalen islamischen Raum auszumachen sind. Die globallokalen Relationen können zur Ausbildung von Makro- und MikroStrukturen führen, in denen Handlungschancen von einzelnen Individuen extrem beschnitten werden (wie z. B. rezent in Afghanistan der Fall). Die durch die Dynamik von Globalisierung und Lokalisierung ausgelösten Rebalancierungen und Umordnungen können Einzelnen aber auch neue Handlungsmöglichkeiten und Spielfelder eröffnen. Im globalen islamischen Raum existieren also verschiedenste lokale ›Binnenklimata‹ und Schließungen, deren Form sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen bisher thematisierten Faktoren ergibt. Abschließend soll noch angemerkt werden, dass die bislang diskutierten Dynamiken Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen ›islamischem Zentrum‹ und ›islamischer Peripherie‹ haben, und es ist fraglich, inwiefern die gebräuchliche Unterscheidung von islamischem Zentrum bzw. Kernländern und Peripherie unter den genannten Bedingungen weiterhin sinnvoll ist. Eine eindimensionale, das Zentrum

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privilegierende Sicht ist in dieser Perspektive der vielseitig erfolgenden Kommunikation nicht mehr angemessen. So ist zunehmend beobachtbar, dass Diasporasituationen und die hier entwickelten Perspektiven ins ›Zentrum‹ zurückkommuniziert werden und dort starke Resonanzen entfalten. Das klassische Arrangement von ›Hier‹ und ›Dort‹ muss also im Anschluss an die vorgestellte Perspektive einem neuen Konzept weichen, das das Spiel zwischen den Standpunkten, die hin- und herfließenden Kommunikationsströme und die Bedeutung dieser Prozesse für das stets von neuem sich auseinander entwickelnde Verhältnis zwischen Globalem und Lokalem stärker berücksichtigt. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs »Markt, Staat, Ethnizität – die Handhabung von Verschiedenheit: Multikulturalität, pluriethnische Systeme, Wirtschaftsräume und politische Arenen«, in dem die Autorin ein Postdoc-Stipendium hatte. 2 Hiermit sind sowohl liberale modernisierungstheoretische Ansätze gemeint als auch marxistische Ausprägungen bis hin zur »Weltsystemtheorie« von Immanuel Wallerstein, die in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt wurde. 3 Appadurai (1990) unterscheidet fünf Landschaften: ethnoscapes, technoscapes, finanscapes, mediascapes, ideoscapes. 4 Diese Konzeption weist trotz vieler Unterschiede einige Parallelen zum Konzept der Weltgesellschaft von Niklas Luhmann (1997) auf, in der die Religion als ein (welt-)gesellschaftliches Subsystem gefasst wird. 5 Die hier vorgenommene Fokussierung soll andere wichtige Prozesse wie die iranische Revolution 1978 / 79, den Bedeutungsgewinn des Islams in Südostasien in den 1980er und 1990er Jahren, die Folgen der Transformation der ehemaligen sozialistischen Länder auf den Islam sowie die vielerorts zu beobachtende politische Ideologisierung des Islams im Kontext von Ethnien / Nationen nicht ausblenden. Es geht an dieser Stelle nicht um eine exakte historische Rekonstruktion, die erheblich ausführlicher ausfallen würde, sondern um eine sehr ausschnitthafte Darstellung einiger

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wichtiger Teilprozesse, die für die Konstitution des globalen islamischen Raums in seiner heutigen Form eine zentrale Rolle spielen. Die den dargestellten ägyptischen Beispielen zu Grunde liegende Feldforschung wurde zwischen 1992 und 1993 in Kairo durchgeführt. Umfangreiche Auswertungen dieser Forschung finden sich in Werner 1997. Im frankophonen Sprachraum wird dieser Islam denn auch mit dem Begriff Intégrisme belegt. Die Idee der Symmetrierung durch islamische »Gegenuniversalismen« wird von Sigrid Nökel (2001) entwickelt. Um hier Missverständnissen vorzubeugen: Der Prozess der Grenzziehung von anderer Seite mag unter Umständen ähnlich unruhig verlaufen. Hinweise darauf bietet etwa die beinahe obsessive Thematisierung des Islams in den Massenmedien der USA. Aufgrund der unterschiedlichen Positionen der sich voneinander abgrenzenden Akteure jedoch soll hier keine simple ›Spiegeltheorie‹ ins Feld geführt werden. Hier sehe ich Analogien zu der von Jeffrey Alexander untersuchten Entstehung der Civil Society als exklusives Projekt, in der sich bestimmte soziale Gruppen gegen andere privilegierten (Alexander 1992). Ich habe dies an anderer Stelle in Bezug auf die Medientechniken von ägyptischen Islamistinnen dargestellt (Werner 1998). Ähnlich sicher bewegten sich hier ansonsten nur weibliche Angehörige der oberen Mittelklasse, die den Umgang mit solchen Räumen von klein auf erlernen.

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Lokalität im Libanon

Lokalität im Libanon im Spannungsfeld zwischen konfessioneller Koexistenz, transnationaler Migration und kriegsbedingter Vertreibung Anja Peleikis1

Im Kontext der Diskussion um Globalisierung in den Sozialwissenschaften erhält auch die Betrachtung lokaler Räume eine neue Bedeutung. Während bei dem Begriff der Lokalität generell von der Vorstellung eines sozialen Raumes bzw. einer lokalen Gemeinschaft ausgegangen wurde, die sich über direkte face-to-face-Beziehungen, über physische Nähe und eine Form von Alltäglichkeit im Hier und Jetzt definiert, wird diese Gleichstellung heute immer mehr in Frage gestellt. Lokalität im Sinne physischer Nähe ist nicht mehr das einzige Modell, auf dessen Basis Gemeinschaft gedacht wird. Eine Reihe von empirischen Fallstudien haben gezeigt, dass sich soziale Gemeinschaften auch über lokale, regionale und nationale Grenzen hinweg durch die Reduzierung geographischer Distanzen infolge neuer globaler Informations- und Transporttechnologien konstituieren (Glick Schiller et al. 1992; Peleikis 1999a / b; Pries 1999). Immer seltener wird Lokalität dabei als statische Einheit mit klar definierten Außengrenzen oder als ›Container‹ vorgestellt, in dem sich lokales Leben manifestiert, sondern vielmehr als Gegenstand sozialer Praxis und Konstruktion untersucht. Richtungsweisend für eine Reihe von Arbeiten wurden die Aufsätze von Arjun Appadurai (1995, 1996). Indem Appadurai den Fokus auf die Akteure und ihre spezifischen »Produktionsweisen von Lokali-

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tät« (modes of production of locality) legt, betont er, dass es gerade in Zeiten der Globalisierung immer stärker zum Entstehen konfliktiver Aushandlungsprozesse über Vorstellungen von Lokalität kommt. Immer stärker wird Lokalität zu einem »Kampf um Subjektivität«, d. h., es wird um die Handlungsfähigkeit und lokale Identität von sozialen Subjekten konkurriert (Appadurai 1995: 213). Appadurai verweist darauf, dass Lokalität immer Kontext schaffend (context-generative) wie auch kontextgesteuert (context-driven) ist (1995: 211). Kontext schaffende Lokalitätsvorstellungen entstehen durch die lokalen Akteure selbst, die in Ritualen, Übergangsriten, durch Feste und gemeinsame Arbeit ihr Verständnis einer lokalen Identität ›von unten‹ schaffen. Gleichzeitig sind lokale Akteure immer stärker auch durch die Kräfte ›von oben‹, z. B. durch mächtige Akteure des Nationalstaates, kontextgesteuert. Es hat sich inzwischen jedoch gezeigt, dass eine dichotomisierende Gegenüberstellung von Lokalitätskonstruktionen ›von unten‹ und ›von oben‹ als ausgesprochen ambivalent zu sehen ist. In vielen Fällen der Lokalitätskonstruktionen, die ›von unten‹ ausgehen, kann beobachtet werden, wie lokale Akteure globale Konzepte und Ideen (seien sie religiöser, nationaler, wissenschaftlicher oder entwicklungspolitischer Natur) aufgreifen, um sie zu integrieren, zu lokalisieren und sie zu Bestandteilen essenzialistischer Definitionen lokaler Kultur und lokaler Identität zu machen.2 Die hohe translokale Mobilität und die daraus resultierenden Mehrfachidentitäten der Mitglieder einer lokalen Gemeinschaft machen es aus ihrer Sicht oft überhaupt erst erforderlich, das Lokale explizit zu definieren (vgl. Kößler et al. 1999: 1-11). Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich im Folgenden zeigen, wie in einem multi-konfessionellen Dorf im Libanon unterschiedliche lokale und konfessionelle Akteure um ihre jeweiligen Vorstellungen von Lokalität konkurrieren und dabei teilweise globale Ideen aufgreifen, um sich gegenüber anderen lokalen Akteuren zu positionieren. Dabei möchte ich insbesondere auf den Wandel dieser Aushandlungsprozesse vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkrieges, der kriegsbedingten Vertreibungen und Migrationen eingehen.

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Lokalität im Libanon

Koexistenz und Territorialisierung konfessioneller Identitäten 15 Jahre lang, zwischen 1975 und 1990, tobte der libanesische Bürgerkrieg. 150.000 Menschen wurden getötet, 200.000 verwundet und mehr als 17.000 blieben, zumeist als Opfer von Entführungen, verschwunden.3 Es wird geschätzt, dass bis zu einer Million Menschen das Land zwischen 1975 und 1990 verließen und etwa 800.000 Menschen Flüchtlinge im eigenen Land wurden (Perthes 1994: 48). Aus Angst vor Verfolgungen und konfessionellen Säuberungen verließen sie ihre Dörfer und Städte und zogen in Gegenden, in denen die eigene Konfession in der Mehrheit war oder wo sie sich zumindest vorerst in Sicherheit fühlten. Der Bürgerkrieg wirbelte die bisherigen konfessionellen und lokalen Strukturen, die an spezifische Orte im Libanon gebunden waren, durcheinander. Perthes konstatiert beispielsweise, dass durch die hohe Mobilität von Menschen unterschiedlicher Konfessionen eine »neue ethnographische Landkarte« entstand (Perthes 1994: 48). In ähnlicher Weise bemerkt Khalaf, dass es im libanesischen Bürgerkrieg zu einer »Territorialisierung der Identitäten« gekommen ist (Khalaf 1993: 103). Konfessionelle Identitäten wurden immer mehr an eine bestimmte territoriale Lokalität gebunden. Während vor dem Bürgerkrieg ca. 45 % aller libanesischen Dörfer und Städte eine Bevölkerung mit mehr als einer konfessionellen Zugehörigkeit besaßen, hat sich diese Prozentzahl durch den Krieg drastisch verringert (Khalaf 1993: 103). Christen, die in mehrheitlich muslimischen Regionen lebten, flüchteten in das ›Gebiet der Christen‹ (das zentrale Libanongebirge und Ost-Beirut), und Muslime in christlichen Regionen flohen in Gebiete, in denen mehrheitlich Muslime lebten. So wurde ein Prozess unter dem Verweis auf die tatsächliche oder fiktive Geschichte vorangetrieben, in dem bestimmte Regionen zu abgegrenzten, voneinander isolierten und nach Konfessionen getrennten Lokalitäten wurden. Ganze Regionen wurden somit konfessionell (neu) bestimmt und in Bezeichnungen wie z. B. ›Drusenkanton‹ (das Schuf-Gebirge) oder Maronistan (das zentrale Libanongebirge) neu festgeschrieben (Rosiny 1996: 75). Zuvor lebten in diesen Regionen auch andere konfessionelle Gruppen, die jedoch durch Kriege oder durch die Angst davor vertrieben wurden. Dieser Prozess der ›Territorialisierung der konfessionellen Identitäten‹ hat dazu beigetragen, dass Menschen anderer Konfessionen, vor-

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mals Nachbarn in Dörfern und Stadtteilen, als Feinde ausgegrenzt, entmenschlicht und entindividualisiert wurden und nur noch als Mitglieder einer kollektiven, feindlichen Gemeinschaft wahrgenommen wurden. Dadurch konnten Hemmungen gegenüber der Anwendung von Gewalt minimalisiert und abgebaut werden (Kassab 1991: 129). Auch in dem Dorf Joun, das ich im Folgenden als Fallbeispiel darstellen möchte, gab es kriegsbedingte Vertreibungen, die das multikonfessionelle lokale Miteinander aufgebrochen, für viele Jahre unterbrochen und grundsätzlich verändert haben. Lokalität und multi-konfessionelle Interaktion Das Dorf Joun liegt im äußersten Süden der Präfektur (muhafasat) Mount Lebanon, im Distrikt (casa) Schuf in der Region Iqlim el Kharroub. Die Bevölkerung des Dorfes setzt sich in der Mehrzahl aus Schiiten, Griechisch-Katholiken und Maroniten zusammen. Schon von weitem fällt auf, dass das Dorf auf unterschiedlichen Hügeln gebaut ist. Der Blick aus der Ferne fällt dabei zuerst auf drei Gotteshäuser, eine Moschee, eine griechisch-katholische und eine maronitische Kirche, die deutlich sichtbar signalisieren, welche konfessionelle Gruppe welchen Hügel dominiert. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass auch in dem heute von Schiiten dominierten Viertel Griechisch-Katholiken leben. Sie haben ihre Häuser manchmal mit einem Kreuz gekennzeichnet, und an christlichen Feiertagen flackern hier Kerzen auf den Häusern. Dies ist das älteste Viertel im Dorf, in dem früher Christen und Muslime zusammengelebt haben. Andere griechisch-katholische Familien haben sich dann auf einen zweiten Hügel niedergelassen und dort im 18. Jahrhundert eine Kirche gebaut. Wichtig ist, dass beide Dorfviertel, das alte, früher gemischte Dorfzentrum (hara tahta) – heute hauptsächlich von Schiiten bewohnt – und das Viertel (hara fawwqa), das von Griechisch-Katholiken dominiert wird, räumlich sehr eng beieinander liegen. Die Bevölkerung betont oft, dass Schiiten und Griechisch-Katholiken sehr gut miteinander auskommen, Nachbarn im physischen und methaporischen Sinne sind. Die Maroniten im Gegensatz wohnen auf einem Hügel, der räumlich vom Rest des Dorfes weiter entfernt liegt, dem Schiitenviertel direkt gegenüber, jedoch durch ein mit Olivenbäumen bewachsenes Tal getrennt. Die BewohnerInnen machen ihre unterschiedlichen konfessionellen

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Identitäten nach außen teilweise sichtbar, z. B. dadurch, dass sie ihre Häuser mit Kreuzen markieren, Schreine mit christlichen Heiligenfiguren an Häusern und Straßen anbringen oder auch die Namen von Hizb Allah oder Amal 4, Gott oder Mohammed an Wände und Türen schreiben. Heute leben zur überwiegenden Mehrheit Schiiten in diesem Dorf. Sie machen 90 % der ca. 2.000 in Joun ansässigen Menschen aus. Im Bevölkerungsregister von Joun ist jedoch eine ganz andere Bevölkerungsverteilung zu finden. Offiziell registriert sind hier 60 % Christen (20 % Maroniten und 40 % Griechisch-Katholiken) und 40 % Schiiten, insgesamt ca. 9.000 Menschen.5 Das Dorfregister umfasst alle Menschen, die dort – entsprechend einer patrilinearen Deszendenz – registriert sind, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wohnort, der möglicherweise inzwischen nach Beirut oder ins Ausland verlegt wurde bzw. schon immer weit weg von Joun lag. Auch Kinder aus den nachkommenden Generationen, die in Beirut oder im Ausland geboren wurden, werden in dem Herkunftsdorf ihrer Väter registriert und zählen damit offiziell und in der Vorstellung der ›vor Ort Lebenden‹ zur Dorfbevölkerung. Alle Angelegenheiten, die den Personenstand betreffen, Geburten, Heiraten, Todesfälle und Erbangelegenheiten, müssen mit Dokumenten aus diesem Dorf belegt werden. Auch die Wahlregister orientieren sich an diesem Personenstandsregister, sodass Menschen, die in Beirut leben und ihre Stimme abgeben wollen – ganz im biblischen Sinne »und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt« – zur Wahl an den Ort fahren, an dem sie registriert sind. Die Beziehung der außerhalb des Dorfes lebenden Bevölkerung zu ihrem Herkunftsort ist jedoch nicht nur institutionalisiert und vom Staat verordnet, sondern ein Großteil der libanesischen Bevölkerung besitzt eine lokale Identität, die sich auf den Ort bezieht, mit dem sie durch die patrilineare Abstammung verbunden ist. So identifizieren sich beispielsweise LibanesInnen, die aus dem Südlibanon kommen und dort durch die israelische Besatzung vertrieben wurden und seit Jahren bzw. Jahrzehnten in den Südbeiruter Vorstädten leben, nur bedingt mit diesem neuen Wohnort. Bei der Frage, woher sie kommen, wird immer das Ursprungsdorf im Südlibanon genannt. Dies gilt auch für Jugendliche, die ihre Dörfer nie gesehen haben und diese nur aus den Schilderungen ihrer Eltern kennen. Als Ende Mai 2000 die Israelis entsprechend der UN Resolution 425 nach 22 Jahren Besatzung den Südlibanon verließen, machten sich noch am

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selben Tag jung und alt auf – die, die ihr Dorf noch in der Erinnerung trugen und die, die es nie gesehen hatten – um gemeinsam die Rückkehr in ihre Dörfer zu feiern. Aber nicht nur die LibanesInnen, die die traumatische Erfahrung der Vertreibung durch die Israelis erlebt haben und in der Folge in slumähnlichen Umgebungen leben mussten, haben den engen Bezug zu ihren Heimatdörfern behalten. Auch MigrantInnen, die nach Nord- und Südamerika, Europa, Australien und Afrika migriert sind, Christen und Muslime aller sozialer Schichten, beziehen sich oft weiter auf ›ihr Dorf‹ und halten enge Beziehungen aufrecht. Durch das Ende des Bürgerkrieges und die dadurch neu gewonnenen Optionen (wie z. B. Remigration, ökonomische Investitionsmöglichkeiten, politisches Engagement) haben viele AuslandslibanesInnen den Kontakt und den Austausch mit ihren Familien in den Herkunftsdörfern revitalisiert. Davon ausgehend kann konstatiert werden, dass viele libanesische Dörfer nicht mehr nur in ihren territorial geographischen Grenzen festgemacht werden können, sondern räumlich unbegrenzt DorfbewohnerInnen auf der ganzen Welt verbinden und für diese identitätsbestimmend sind. Joun ist ein solches »globalisiertes, bzw. translokales Dorf« (vgl. Peleikis 1999 a / b), das mit seinen sozialen, politischen und ökonomischen Beziehungen nicht mehr nur in einem festen Territorium verankert ist, sondern sich auf der Basis translokaler Beziehungen über Grenzen hinweg konstituiert. Aus meinen bisherigen Aussagen wird deutlich, dass Lokalität aus meiner Sicht nicht als statisch oder einfach gegeben betrachtet werden kann, sondern durch die Praxis sozialer Akteure immer wieder neu geschaffen wird. In diesem Sinne argumentiere ich, dass Lokalität im multi-konfessionellen Joun auch vor dem Bürgerkrieg nicht einfach auf Grund der Tatsache, dass Christen und Muslime an einem Ort lebten, gegeben war. Im Gegenteil, soziale Beziehungen über die konfessionellen Grenzen hinweg, die zu einer gemeinsamen lokalen Identität führten, mussten im Alltag immer wieder neu bestätigt, geschaffen und reproduziert werden. Vertrauen dem konfessionell ›Anderen‹ gegenüber war nicht einfach gegeben, sondern wurde immer wieder neu hergestellt. Gegenseitige nachbarschaftliche Besuche und gemeinsame Aktivitäten stärkten die Identifikation mit Joun. Alte DorfbewohnerInnen erinnern sich z. B. an den ›Tag des Johannisbrotbaumes‹ als eine gemeinsame konfessionsübergreifende Aktivität. Nur an diesem offiziell festgelegten Termin war es erlaubt, die Johannisbrotbäume,

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die auf dem Land der Gemeinde wuchsen, zu ernten. Die ganze Dorfbevölkerung strömte zum Pflücken der Früchte aus, und abends wurde gemeinsam gefeiert. Darüber hinaus zeigte die gegenseitige Anwesenheit bei religiösen Ritualen und Festen des jeweiligen ›Anderen‹ Respekt gegenüber der anderen Konfession. Wenn die Christen am 15. August Mariä Himmelfahrt feierten, dann zollten auch die Schiiten mit ihrer Anwesenheit in der Kirche ihren Respekt. In der Prozession, die aus diesem Anlass von der maronitischen Kirche zur griechisch-katholischen Kirche führte, reihten sich auch Schiiten ein, die Kerzen trugen und mit ihren christlichen Nachbarn gemeinsam von einer Kirche zur anderen zogen. Wenn die Schiiten ‘Ashura 6 begangen, dann zollten auch die Christen ihren Respekt vor der religiösen Tradition des ›Anderen‹, indem sie zu den an 10 Tagen stattfindenden Trauerritualen (maglis ta’ziya), ›Tröstungssitzung‹ in die Husainiya 7 gingen. Zu den Hochzeiten wurde meistens das ganze Dorf eingeladen. Dann begleiteten christliche und muslimische NachbarInnen die Braut in das Haus des Bräutigams, und alle gemeinsam tanzten anschließend bei der Feier Arm in Arm den traditionellen dabka-Tanz. Bei einer christlichen Hochzeit fand zuvor die Trauung in der Kirche statt, bei der auch die muslimischen DorfbewohnerInnen anwesend waren. Genauso reihten sich bei Beerdigungen Muslime wie Christen in den Beerdigungszug des Verstorbenen der anderen Konfession ein. Diese Beispiele machen deutlich, dass der jeweils ›konfessionell Andere‹ eine bestimmte Rolle während der eigenen religiösen Rituale und Feste zugeschrieben bekommt. Dadurch wird der ›Andere‹ in das Ritual einbezogen; es wird in Kommunikation und Beziehung getreten, und auf diesem Wege werden soziale Kontakte bestärkt und vertieft. Für Aida Kanafani-Zahar, die in einem anderen multi-konfessionellen libanesischen Dorf gearbeitet hat, steht diese Beziehung stiftende und -verstärkende Bedeutung im Zentrum ihres Verständnisses von Koexistenz. Diese definiert sie in ihren Arbeiten als die Etablierung von Beziehungen über die konfessionellen Grenzen hinweg und nicht als eine politische Situation, in der die unterschiedlichen Konfessionen in einem Machtgleichgewicht stehen (Kanafani-Zahar 1999: 125). Der folgende Auszug aus einem Interview mit einem alten Maroniten in Joun veranschaulicht noch einmal, welch signifikante Bedeutung

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die Kommunikation über die konfessionellen Grenzen hinweg für die Konstruktion einer gemeinsamen lokalen Identität hatte. Als ich den 75-jährigen Mann fragte, wie sein Leben im Dorf früher war, begann er zu erzählen: »Mein Vater, ein Maronit, hieß Michael und er hatte einen schiitischen Freund, der Mohammed hieß. Der eine wohnte auf dem Hügel der Maroniten und der andere wohnte auf dem gegenüberliegenden Hügel der Schiiten. Ihre beiden Häuser lagen direkt gegenüber, getrennt waren sie nur durch Olivenhaine. Eines Tages arbeiteten die beiden Männer in der Nähe ihrer Häuser. Mein Vater Michael rief von einem Hügel zum anderen: ›Ya Mohammed, ya Mohammed (hey Mohammed, hey Mohammed).‹ Mohammed hörte nicht, dass er gerufen wurde, und arbeitete weiter. Nur seine Frau vernahm den Ruf und schrie ihm zu: ›Jemand ruft Dich aus hara, dem Dorfviertel der Maroniten.‹ Als er dann zurückrief: ›Ja was ist denn los?‹, erhielt er nur die Antwort: ›Sid niyyak! (Halt die Klappe!).‹ Später rief Mohammed über den Hügel: ›Ya Michael, ya Michael! (hey Michael, hey Michael!).‹ Mein Vater hörte es nicht, er war beim Arbeiten. Wieder war es die Frau, die das Rufen hörte und ihrem Mann sagte: ›Hey Michael, es ruft Dich jemand aus dem Dorfteil der Schiiten.‹ Michael nahm sein Tuch vom Kopf, hörte mit der Arbeit auf und fragte: ›Wer ruft mich aus dem Dorf?‹ ›Es ist Mohammed‹, sagte seine Frau. Er rief zurück: ›Schu, Mohammed? (Was ist los?)‹ Aber er erhielt nur die Antwort: ›Sid niyyak!‹ (Halt die Klappe!).«

Diese beiden Männer, ein Schiit und ein Maronit, riefen sich gegenseitig und störten so den anderen bei der Arbeit. Sie riefen sich, aber hatten sich nichts Besonderes zu sagen. Im Gegenteil, wenn der eine reagierte, dann wurde er nur angeschrien und bekam die Antwort: »Halt die Klappe.« Damit machten sie auf sich aufmerksam und provozierten sich gegenseitig. Indem sie jedoch den anderen provozierten, traten sie in Beziehung miteinander, in eine scherzhafte Beziehung. Diese Art der Kommunikation verstärkte die sozialen Beziehungen zwischen den beiden Männern, ihren unterschiedlichen Familien und Konfessionen. Mohammed und Michael lebten auf unterschiedlichen Hügeln des Dorfes. Sie sahen sich nicht oft, aber durch das gegenseitige Rufen bestärkten sie ihre soziale Beziehung. Dieses Beispiel zeigt also auch, dass es die physische Trennung zwischen Christen und Muslimen zum

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Teil gab. Ihre Alltagskommunikation, die in diesem Beispiel nichts weiteres als ein Schimpfen und Provozieren war, konnte die physischen Grenzen jedoch überwinden. »Halt die Klappe« könnte auch folgendermaßen verstanden werden: »Ich bin da und weiß, dass Du auch da bist. Ich kann Dich nicht sehen, aber ich vertraue auf Deine Präsenz. Ich gebe ein sprachliches Signal, ich rufe Dich beim Namen und zeige so, dass ich an Dich denke, auch wenn eine physische Trennung existiert. Ich rufe Dich und zeige, dass der Kontakt zwischen uns existiert. Ich rufe Dich und mache deutlich, dass Du, der Andere, da bist.«

Dieses Beispiel war in ein lokales Leben eingebettet, in dem der Alltag des Großteils der Bevölkerung vom landwirtschaftlichen Zyklus geprägt war. Dieser drehte sich insbesondere um den Anbau und die Ernte des Weizens, der Oliven, von Obst, Gemüse und Tabak. Der Tabakanbau erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen und war eine wichtige Geldquelle für die Landbevölkerung bis in die 1950er Jahre hinein (Younes 1975: 77). Nachbarn und Verwandte halfen sich gegenseitig, wenn z. B. die eine Familie die Olivenernte schon beendet hatte und die andere noch nicht. Diese gegenseitige Hilfe ging auch über die konfessionellen Grenzen hinweg und fand vor allem zwischen Nachbarn statt. Der Alltag der Frauen war darüber hinaus vom Kochen, der Verarbeitung der Produkte, Brotbacken und dem beschwerlichen Wasser holen geprägt. Oft mussten die Frauen kilometerweit bis zur nächsten Quelle laufen. Meistens wurde die Wäsche auch direkt an der Quelle gewaschen und dort zum Trocknen aufgehängt, sodass die Frauen den ganzen Tag an der Quelle verbrachten. Bei diesen Treffen, in diesem ›halb-öffentlichen‹ Raum, konnten die Frauen – Christinnen und Musliminnen – die neuesten Nachrichten, Klatsch und Tratsch austauschen. Lokale Gemeinsamkeit wurde hier über die konfessionellen Grenzen hinweg über die gemeinsame geschlechtsspezifische Arbeit geschaffen. Darüber hinaus trafen sich die Frauen auch beim Backen einer bestimmten Brotsorte (khubz mushtah) in den Bäckereien. Während das dünne Brot (khubz marquq) zu Hause von den Frauen selbst gebacken wurde, bereiteten sie für das mushtah Brot nur den Teig vor und gingen dann in die Bäckereien, wo es gebacken wurde. Hier trafen sie dann weitere Frauen, die ebenfalls auf ihr Brot warteten. Die Bäckereien

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waren nicht nach Konfessionen getrennt, sondern die Frauen gaben an, dass sie in die Bäckerei gingen, in der sie am wenigsten warten mussten. Oft gingen die Frauen zusammen mit ihren Nachbarinnen – gleich welcher Konfession – und verbrachten die Wartezeit mit Gesprächen. Auch an anderen Beispielen lässt sich zeigen, dass Nachbarschaft eine wichtige Rolle für die Konstruktion lokaler Identität spielte. Zum Beispiel begleiteten Nachbarn, gleich welcher Konfession, die Braut von dem Haus ihrer Eltern in das Haus des Bräutigams. Nachbarn halfen sich gegenseitig bei landwirtschaftlichen Aktivitäten, beim Häuserbau und nahmen an den religiösen Ritualen der ›Anderen‹ teil. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass – ganz im Sinne des Buchtitels »Integration durch Verschiedenheit« – in multi-konfessionellen Dörfern im Vorkriegslibanon lokale Integration oftmals gerade durch religiöse Verschiedenheit geschaffen wurde. Lokalität in Zeiten von Migration und Bürgerkrieg Schon zu Beginn des Jahrhunderts gab es die ersten Migranten aus Joun, die in Nord- und Südamerika ihr Glück suchten, teilweise dort blieben oder auch zurückkehrten. Ab den 1950er Jahren prägte die Land-Stadt-Migration das lokale nachbarschaftliche Miteinander in Joun.8 Immer mehr Joun-Bewohner, erst Christen, aber auch zunehmend Shiiten, zog es nach Beirut, wo sie neue Arbeitsmöglichkeiten und Weiterbildung insbesondere im Dienstleistungssektor und als Angestellte und Beamte des Staates fanden. Der Kontakt zum Dorf wurde weiter aufrechterhalten und an den Wochenenden wie auch zu Beerdigungen, Hochzeiten und religiösen Festen traf sich das ganze Dorf wieder in Joun. Die Nähe zu Beirut (55 km) begünstigte das Weiterbestehen der engen Beziehung zwischen den Joun-BewohnerInnen in Beirut und denen in Joun. Darüber hinaus wohnten die Joun-BewohnerInnen teilweise in denselben Stadtteilen in Beirut, sodass nachbarschaftliche Beziehungen auch dort fortgesetzt werden konnten und lokale Identität auch jenseits der territorialen Grenzen von Joun geschaffen werden konnte. Erst im Bürgerkrieg änderte sich die lokale konfessionsübergreifende Interaktion grundsätzlich. Schließlich setzte der Krieg den nachbarschaftlichen, alltäglichen Beziehungen, die für die Produktion von lokaler Identität und Koexistenz notwendig waren, ein vorläufiges

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Ende. Zu Beginn des Bürgerkrieges lebten Christen und Muslime vorerst weiterhin gemeinsam im Dorf. Oftmals flüchteten Menschen aus beiden Gruppen aus umkämpften Beiruter Stadtteilen ins Dorf, in dem es zuerst ruhig blieb und keine konfessionsgeprägten Kämpfe zwischen Dorfbewohnern gab. Staatliche Strukturen zerbrachen, an ihre Stelle trat in Joun zwischen den Jahren 1976 und 1982 die Volkskommission (lajna sha‘biyya), ein Komitee, das sich sowohl aus christlichen als auch muslimischen BewohnerInnen aus dem linken, pro-palästinensischen politischen Spektrum zusammensetzte. Sie kümmerte sich um die Bereitstellung von Nahrung, Wasser und Strom und um die Sicherheit der Bevölkerung. Mit der Invasion Israels in den Libanon 1982 wurde diese Einrichtung aufgelöst, und ein Großteil der in diesen pro-palästinensischen Gruppen aktiven Bevölkerung floh zwischen 1982 und 1985. Viele DorfbewohnerInnen nennen das Jahr 1982 und die Invasion Israels als den Zeitpunkt, an dem das lokale Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen endgültig auseinander brach. Ein 75-jähriger Schiit formulierte es folgendermaßen: »Nach Ausbruch des Bürgerkrieges lebten wir weiter friedlich miteinander. In diesen ersten Jahren nach 1976 war es sogar so, dass Muslime und Christen sich gegenseitig Blut spendeten, wenn einer verletzt wurde. Als die Israelis einmarschierten, änderte sich alles. Am ersten Tag, als die Israelis kamen, haben sie die Luftwaffe eingesetzt. Am zweiten Tag haben sie ihre Armeen einmarschieren lassen. Nachts sind die israelischen Panzer in Deir Mkhallis9 eingefahren. Sofort haben sie sich niedergelassen und haben die Jungen aus Joun genommen. Diese haben die Uniformen der Forces Libanaises angezogen, sich unters Volk hier gemischt und Stress gemacht.«

Viele DorfbewohnerInnen beschreiben diese drei Jahre zwischen 1982 und 1985 als den Zeitraum, in dem die Bevölkerung von Joun gespalten wurde und die lokale Einheit zerbrach. Die christliche Miliz der Forces Libanaises wurde direkt von den Israelis unterstützt. Christliche Männer aus Joun wurden angeworben, die sich als Mitglieder der Forces Libanaises dann gegen ihre schiitischen DorfbewohnerInnen stellten. In den Worten des oben genannten Mannes:

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Mit dem Rückzug der Israelis 1985 aus dem Libanon und dem Vorrücken der schiitischen Amal-Miliz von der Küste und der Drusenmiliz PSP (Progressive Socialist Party) aus dem Libanongebirge gerieten die christlichen Milizen immer mehr unter Druck und wurden schließlich vertrieben. Was die einen glücklich »tahrir Joun« (Die Befreiung Jouns) nannten, wurde für die anderen zur bitteren Fluchterfahrung. Aus Angst vor der PSP, die im sogenannten Shufkrieg bereits 1983 Verbände der Forces Libanaises besiegt hatte und 1985 in weitere Kämpfe involviert war, flohen am 28. April 1985 Jouns Christen Hals über Kopf, unvorbereitet und in den meisten Fällen ohne Hab und Gut. Viele gingen davon aus, dass sie in kürzester Zeit wieder im Dorf sein würden. Dies erwies sich jedoch als ein Irrtum, und jahrelang war die Rückkehr unmöglich. Eine 70-jährige Griechisch-Katholikin beschreibt ihre Flucht aus Joun: »Es wurde gesagt, dass wir das Dorf verlassen sollten. Dies sagten auch die Priester aus dem Kloster. Wir fuhren über Jezzine nach Marjaayoun und blieben 40 Tage dort. Die Küstenstraße nach Beirut war zu gefährlich und gesperrt. Israelische Busse brachten uns dann von Marjaayoun nach Haifa. Von dort fuhren wir mit dem Schiff nach Jouniye. Unsere Verwandten waren am Hafen und erwarteten uns. Später lebten wir in Ashrafiye in Ost-Beirut. Wir hatten Glück, dass wir bei Verwandten unterkommen konnten. Andere schliefen in Schulen, in Klöstern, in Hotels, wo die Flüchtlinge unterkamen.«

Oft halfen die bereits in Beirut lebenden Christen aus Joun den Flüchtlingen, die in die christlich dominierten Regionen nach OstBeirut und ins zentrale Libanongebirge geflohen waren. So berichtete

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der damalige Bürgermeister von Joun, der in Beirut lebte, dass sie sich um Kleidung, Möbel und Wohnungen für die Flüchtlinge bemühten, die Kinder in Schulen einschrieben, Medikamente für die Kranken und Gräber für die Verstorbenen besorgten. In den folgenden Jahren etablierten sich die christlichen BewohnerInnen aus Joun in ihren neuen Wohnorten und hatten außerordentlich wenig bzw. gar keinen Kontakt zu der schiitischen Bevölkerung, die in Joun blieb bzw. dorthin nach dem Abzug der Forces Libanaises zurückkehrte oder auch in West-Beirut lebte. Zu der Zeit war es einfacher für die Christen oder Muslime aus Joun, ihre in alle Welt migrierten Verwandten in Europa, USA oder Australien zu kontaktieren, als mit ihren ehemaligen Nachbarn ein paar Kilometer weiter in Ost- oder West-Beirut, im Libanongebirge oder in Joun in Kontakt zu treten (vgl. Khalaf 1993: 143). Tatsächlich entwickelten sich während dieser Zeit ganz unterschiedliche, konfessionsabhängige lokale Identitäten. Für die christlichen Flüchtlinge in Beirut wurde ihr Dorf immer mehr zu einer unerreichbaren, teilweise auch idealisierten Heimat. In ihren Diskussionen und Diskursen über Joun schufen sie sich ihre ganz spezifische Lokalität, die geprägt war von ihrer konfessionellen Identität und Fluchterfahrung und ihrem alltäglichen Leben in der neuen Umgebung. Ihre Erfahrungen und ihr Bezug zu Joun unterschied sich jetzt drastisch von den Erfahrungen der schiitischen Bevölkerung, die weiterhin im Dorf lebte und deren lokale Identität über den Alltag vor Ort geschaffen wurde. Die vielen kleinen und großen Gelegenheiten des Zusammenkommens von Nachbarn, Freunden und Bekannten über die konfessionellen Grenzen hinweg, die immer wieder neu die gemeinsame lokale Identität, den Bezug auf ›ihr Dorf‹ schuf, gab es nicht mehr. Das Dorf stand zwischen 1985 und 1990 unter der offiziellen Kontrolle der Drusenmiliz PSP, die durch eine Zivilverwaltung (idara maidaniyya) im Dorf präsent war. Die Bevölkerung musste an sie Steuern für ihre Häuser und ihr Land bezahlen, die über einen Vertreter aus dem Dorf eingesammelt wurden. Darüber hinaus war dieser von der Zivilverwaltung dazu beauftragt, die verlassenen Häuser der Christen den DorfbewohnerInnen, die keine eigenen Häuser hatten, oder Flüchtlingen, die nach Joun gekommen waren, zur Verfügung zu stellen. Genauso wurde das Land der Christen zur Bewirtschaftung

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verteilt. Für diese – größtenteils nach dem Einmarsch der Drusen geplünderten – Häuser der Christen und ihr Land mussten dann ebenfalls Steuern an die PSP gezahlt werden. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass in den Jahren 1982 bis 1990 Griechisch-Katholiken und Maroniten einerseits und Schiiten andererseits jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit den leidvollen Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Verlust und fortbestehender Angst und Misstrauen dem ›konfessionell Anderen‹ gegenüber konfrontiert wurden. Während zwischen 1982 und 1985 ein Großteil der schiitischen Bevölkerung unter der Gewalt und Unberechenbarkeit der christlichen Milizen leiden musste und daraufhin flüchtete, war die Zeit zwischen 1985 und 1990 für die Christen von Flucht, der Ungewissheit und einem Leben als Flüchtlinge gekennzeichnet. Diese unterschiedlichen Erfahrungen – wenn auch gleichermaßen bitter und leidvoll für alle Seiten – führten dazu, dass die JounBewohnerInnen auch ganz unterschiedliche Lokalitätsvorstellungen über Joun entwickelten. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Entwicklungen der Nachkriegszeit. Konkurrierende Lokalitätsvorstellungen in der Nachkriegszeit Nach dem Ende des Bürgerkrieges (1990) stand das Land vor einer Reihe von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit hohem Konfliktpotenzial. Die Flüchtlingsproblematik, die Rückführung der Menschen in ihre Dörfer und Städte, wurde zu einem der wichtigsten Themen im Wiederaufbauprozess. Das libanesische Flüchtlingsministerium schätzte die Zahl derer, die während des Krieges aus politischen oder konfessionellen Gründen oder durch die Kriegsereignisse selbst innerhalb des Landes zu Flüchtlingen wurden auf etwa 800.000 (zit. in Perthes 1994: 49). Im Sommer 1992 wurde ein auf fünf Jahre konzipiertes Repatriierungsprogramm für ›displaced persons‹ aufgestellt. Diesem Vorhaben standen jedoch praktisch sowohl ökonomische, psychologische als auch politische Hindernisse im Weg (Perthes 1994: 50). Für den Fall Joun kann gesagt werden, dass große Teile der christlichen Bevölkerung, die 1985 geflohen war, nicht ihren ständigen Wohnsitz wieder im Dorf aufbauen wollten. Viele lebten schon vor dem Bürgerkrieg in der Stadt und hatten lediglich ihren Wochenend-

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und Sommersitz im Dorf. Andere hatten in der Stadt Arbeit gefunden, die Kinder gingen dort in die Schule und ihr gesamtes soziales Umfeld konzentrierte sich auf die Stadt. Nichtsdestotrotz wollten die meisten der Christen ihr im Vertrag von Ta‘if 10 bestätigtes Recht, in ihre Wohnorte und zu ihrem Besitz zurückzukehren, wahrnehmen. Die meisten trauten sich zwischen 1990 und 1992 wieder ins Dorf. Eine Christin erzählt: »Wir kamen 1991 zum ersten Mal wieder ins Dorf. Es war sehr ruhig in den Straßen. Wir sind so durchs Dorf gelaufen und unsere Tochter, die stand vor dem elterlichen Haus und sagte: ›Ich will da reingehen!‹ Ich antwortete: ›Da sind andere Leute drin. Das geht nicht!‹ Wir hatten auch ein bisschen Angst, weil uns das Dorf auch so leer erschien. Niemand kam und begrüßte uns. Dann kam ein Mann aus dem Haus und hat uns gesehen. Meine Tochter wollte unbedingt hinein und das hat er wohl gespürt. Er hat uns dann herein gebeten. Wir sind ins Haus gegangen, das mit ganz wenig Möbeln möbliert war. Ein Möbelstück habe ich noch erkannt. Aber sonst war nichts mehr da. Und ziemlich verwahrlost war alles. Sie waren ganz höflich aber eigenartig, wenn Sie in ihr eigenes Haus gehen und mit fremden Leuten reden, die praktisch das Haus besetzen. Dann wollten sie uns Kaffee anbieten und dann habe ich gesagt: ›Nein Danke‹, das konnte ich dann doch nicht aushalten. Und dann sind wir gegangen.«

In der Folgezeit erhielten die BewohnerInnen, die in den besetzten Häusern wohnten, einmalige Geldzahlungen aus dem Ministerium für Vertriebene, sodass sie sich eine andere Unterkunft suchen konnten. Ein Großteil der Vertreibungen erhielt ebenfalls Zahlungen, die es ihnen zumindest zum Teil ermöglichten, ihre Häuser zu renovieren und instand zu setzen. Über die Zahlungen aus dem Ministerium herrscht viel Missmut unter den BewohnerInnen. Viele fühlen sich ungerecht behandelt und beklagen eine ungerechte Verteilung der Mittel und die Unmöglichkeit, mit dem erhaltenen Geld ihre Häuser wieder aufzubauen und zu renovieren. Bis zum Jahr 2000 haben sich nur wenige christliche Familien wieder vollständig in Joun niedergelassen. Es sind vor allem einige ältere Leute, die ihren Lebensabend in ihrem Heimatort verbringen wollen, und ökonomisch schwache Bauernfamilien, die sich ein größeres Einkommen in ihrem Herkunftsdorf erhoffen. Für viele andere Christen

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ist Joun (wieder) zu einem Ferien-, Sommer- und Wochenendsitz geworden. Diese oft nur kurze Aufenthaltsdauer im Dorf führt dazu, dass Menschen beider Seiten kaum die Möglichkeit haben, sich wieder (neu) kennenzulernen. Jugendliche Christen, die in Beirut aufgewachsen sind und jetzt nach Joun kommen, kennen die gleichaltrigen Schiiten nicht. Diese kurzen Wochenendaufenthalte der Christen prägen auch ihre Bilder von Joun, das als Erholungsort, Freizeitstätte und Ort der Erinnerung gesehen wird. Dieser Teil der Joun-Bevölkerung ist es auch, der die Pläne des griechisch-katholischen Bürgermeisters und des Gemeinderates weitestgehend unterstützt. Dieser wurde 1998 zum ersten Mal nach 35 Jahren gewählt. Die meisten der 15 Ratsmitglieder in Joun sind ausgebildete Ärzte, Anwälte und Ingenieure, die meistens in Beirut leben, dort teilweise schon aufgewachsen sind. Viele von ihnen haben langjährige Migrationserfahrungen im europäischen, US-amerikanischen oder russischen Kontext gesammelt und sind oft erst seit kurzem wieder im Libanon. Ihre Migrationserfahrungen spiegeln sich dabei deutlich in ihrer lokalen Politik. Joun ist der Ort, an dem sie versuchten, ihre global angeeigneten Bilder von einer ›modernen Gemeinde‹ lokal umzusetzen. Geplant ist der Bau eines großen Fußballstadions zusammen mit Volleyball- und Basketballplätzen, die für die Jugend von Joun, insbesondere für die in Beirut lebenden Jugendlichen eine Freizeitattraktivität und Anreiz sein können, nach Joun zu fahren. Neben dem Sport steht auch das Bemühen um die Umwelt auf dem Gemeindeprogramm. Bäume wurden entlang der Hauptstraße gepflanzt, und überall stehen Mülltonnen, sodass Joun dem Bild eines sauberen, gepflegten Dorfes entspricht. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit des Gemeinderates liegt auf der Erhaltung und Restaurierung historischer Stätten. Dazu zählen das Haus einer englischen Orientreisenden, Lady Hester Stanhope, die im 19. Jahrhundert in Joun lebte und starb, wie auch die alte Quelle ‘Ain Hairoun, der ein neues Äußeres gegeben wurde. Diese Gemeindeprojekte zielen darauf ab, Bewohner von Joun in Beirut und in der Welt wie auch hochrangige Libanesen und Ausländer anzusprechen und zu einem Besuch in Joun zu bewegen. Immer stärker erscheint Joun in ihren Vorstellungen als ein Ferienressort, ein Ort der Schönheit, mit historischen Stätten und einer großen kulturellen Geschichte. Darüber kann man sich neuerdings auch im Internet

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informieren. »Joun a village from Lebanon«11 geht online (http:// joun.leb.net) und informiert über seinen Gemeinderat und dessen Projekte. Besonderes Interesse hat der Gemeinderat auch an Städtepartnerschaften, die bereits mit Orten in Belgien und Frankreich aufgebaut wurden. Erste Delegationen von dort erreichten Joun, und einige Gemeinderatsmitglieder reisten nach Frankreich. Zielstrebig und ehrgeizig verfolgen so der Bürgermeister und sein Vize, ein GriechischKatholik und ein Schiit, Arzt und Jurist, ihr Projekt, Joun ihren Bildern entsprechend zu einer ›modernen Gemeinde‹ in Zeiten der Globalisierung umzugestalten. Nicht zuletzt spiegeln sich darin auch ihre ganz persönlichen Überzeugungen, Lebensentwürfe und multiplen Identitäten. Als 45-jähriger erfolgreicher Arzt hat der Bürgermeister sowohl die libanesische als auch die französische Staatsbürgerschaft. Darüber hinaus ist er der Vertreter der französischen Sozialisten im Libanon. Situationsabhängig, schnell und problemlos kann er vom Französischen ins Englische und wieder ins Arabische wechseln und dabei genauso situationsabhängig einerseits glaubhaft über seine westlich geprägten Demokratievorstellungen sprechen und sich andererseits in der Praxis des lokalen Patron-Klienten-Systems positionieren. In dieser Art und Weise des Lebensstils ähnelt er seinem jungen schiitischen Vize-Bürgermeister, der ebenfalls in Beirut aufgewachsen ist, im Ausland studierte und jetzt in Beirut lebt. Beide haben den Bürgerkrieg nicht miterlebt, kennen die lokalen Geschehnisse nicht aus der eigenen Erfahrung und Praxis. Ihre Migrationserfahrung prägt ihre lokale Politik, die sich nicht primär an den Bedürfnissen der Bevölkerung vor Ort orientiert, sondern an den Lebensstilen, und -gewohnheiten der Joun-BewohnerInnen in Beirut, welche zum großen Teil Christen sind. Die Menschen, die ihren Alltag in Joun verbringen und dort ihr Auskommen finden müssen, haben teilweise ganz andere Entwicklungsvorstellungen in Bezug auf ihr Dorf. Zum Teil beklagen sie sich, dass es keine Projekte gibt, in denen die ökonomische Entwicklung des Dorfes im Zentrum steht. Andere Stimmen klagen, dass der Gemeinderat nichts für die Verbesserung der lokalen Bildungsstruktur oder auch für die Versöhnungsarbeit auf lokaler Ebene tut. »Sie haben keine Zeit, keine Erfahrung und sind doch nur am Wochenende hier«, so formulieren eine Reihe im Dorf ansässiger DorfbewohnerInnen ihre Sicht auf die lokalen Politiker. Somit zeigt sich

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ein klarer Gegensatz zwischen den Menschen, die vor Ort leben, und denen, für die Joun zu einem Wochenend- und Freizeitvergnügen geworden ist. Da diese unterschiedlichen Lebenswelten zum großen Teil auch konfessionell geprägt sind, werden die Gegensätze zwischen Christen und Muslimen derzeitig eher zementiert, als dass ein neues lokales Miteinander, eine neue lokale Identität geschaffen wird. Vielmehr etablieren sich mehrere (trans-)lokale, z. T. konfessionell geprägte Identitäten, die in Konkurrenz zueinander stehen und um die Zukunft ihres Dorfes konkurrieren. Was fehlt sind neue lokale und soziale Räume, in denen Joun-BewohnerInnen, welcher Konfession auch immer und wo auch immer sie leben, zusammenkommen und über gemeinsame Aktivitäten eine neue lokale Praxis entwickeln. Es ist jedoch zu beobachten, dass die einzelnen Gruppen sich lediglich in ihren konfessionsgeprägten Räumen bewegen und diese damit reproduzieren und Grenzen manifestieren. Hier wird auf die eigene leidvolle Geschichte geblickt, ohne das Leiden des ›Anderen‹ einbeziehen zu müssen. Hass und Misstrauen können sich so eher verstärken, als das versöhnliche Gedanken sich ausbreiten könnten. »Versöhnung braucht Erinnerung«, mahnt der Romanautor und Journalist Elias Khoury, und zwar gemeinsame Erinnerung, Reflexion und Auseinandersetzung über die konfessionellen Grenzen hinweg. Doch erinnert wird in Joun nur in den eigenen Reihen. Auf gemeinsamer, grenzüberschreitender Ebene wird die rezente Vergangenheit tabuisiert und verdrängt. Vielleicht ist diese Vergangenheit auch noch zu nah und zu schmerzhaft, als dass Versöhnung darüber in dieser Generation überhaupt möglich wäre. Manchmal bricht die Erinnerung in Joun hervor, dann kommen die Bürgerkriegserinnerungen plötzlich wieder sehr nah, und die Grenzen zwischen den Konfessionsgemeinschaften werden erneut deutlich markiert. Als im Mai 2000 ein Mann griechisch-katholischer Konfession aus Joun in Beirut starb, ein aktiver Anhänger der Forces Libanaises, der in den Jahren 1982-1985 für viel Leid unter den Schiiten gesorgt hatte, wurde sein Leichnam aus Beirut nach Joun zur Beerdigung gebracht. Familienmitglieder, die z. T. schon immer Nachbarn und Freunde von schiitischen Bewohnern waren, bzw. in den letzten 10 Jahren geworden sind, erwarteten, dass auch ihre schiitischen Nachbarn zu den Beerdigungsritualen erscheinen würden, als Zeichen ihrer aktuellen Freundschaft und Verbundenheit. Doch die schiitischen BewohnerInnen konnten und wollten nicht vergessen, was

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dieser Mann angerichtet hatte, und blieben der Beerdigung fern. Eine Frau formuliert ihre Gründe dafür folgendermaßen: »Dieser Mann hat dafür gesorgt, dass mein Mann am Tag, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, abgeholt und zum Kloster, zu dem Lager der Forces Libanaises, gebracht wurde. Er hat ihn in seine frische Operationswunde gestoßen, und er wurde gefoltert. Davon hat sich mein Mann nie erholt. Das kann ich nicht vergessen. Wenn wir nicht zu der Beerdigung gegangen sind, dann ist es das einzige, was wir machen konnten. Gott wird ihn bestrafen.«

Dieser Zwischenfall sorgte für erneuten Streit und Unverständnis zwischen den Familien und Konfessionen und macht deutlich, wie bestimmend die unmittelbare Bürgerkriegszeit für das Handeln und Fühlen vieler ist. Nur thematisiert wird dies in der Öffentlichkeit überwiegend nicht. In dem Gemeinderat, der als grenzüberschreitender konfessioneller Raum betrachtet werden kann (alle drei Konfessionen sind hier vertreten) und somit als Motor der konfessionsübergreifenden Interaktion angesehen werden könnte, wird die Bürgerkriegszeit kaum thematisiert. In den Reihen der Gemeinderatsmitglieder wird die Bürgerkriegszeit lediglich als »dunkle, chaotische Zeit« beschrieben, mit der sie – die, die meiste Zeit im Ausland gelebt haben – nichts zu tun haben wollen. Im Gegensatz dazu wird auf die weit entfernte ›große‹ Vergangenheit von Joun rekurriert, um die Zukunft des Dorfes im Zeitalter von globaler Vernetzung auszumalen. Damit positionieren sich die Gemeinderatsmitglieder jenseits der Erfahrungen eines Großteiles der Bevölkerung und tragen letztendlich dazu bei, dass konfessionelle Grenzen eher reproduziert werden, als dass ihr durch ein Leben in der westlichen Welt geprägter Diskurs über Demokratisierung tatsächlich eine neue lokale, konfessionsüberschreitende Verankerung finden kann. Anmerkungen 1 Die Autorin hat 1998 am Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit über die südlibanesische Migration nach West-

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Afrika promoviert. Seit 1998 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient, Berlin. Dieser Aufsatz basiert auf den Ergebnissen eines von der DFG geförderten zweijährigen Forschungsprojektes (1998-1999) »Lokalität, Konfessionalität und Geschlecht: Zum Wandel lokaler Identitäten am Fallbeispiel multi-konfessioneller Dörfer im Libanon«. Die empirischen Daten wurden zusammen mit Salma Kojok, CERMOC (Beirut), erhoben. Ihr danke ich recht herzlich für viele spannende Beobachtungen, Diskussionen und Austausch. Vgl. z. B. die Arbeiten von de Jong (1999) und Luig (1999), die zeigen, wie globale Konzepte aufgegriffen und lokalisiert werden. Polizeiangaben, zit. in Perthes 1994: 34. Amal bedeutet auf Arabisch »Hoffnung«. Gleichzeitig ist es ein Akronym für afwag al-muqawamal al-lubnaniya (»Bataillone des Libanesischen Widerstands«); Hizb Allah ist die »Partei Gottes«. Amal und Hizb Allah sind vornehmlich schiitisch geprägte politisch-religiöse Bewegungen. Inzwischen sind sie auch zu politischen Parteien im Libanon geworden. Die Angaben wurden uns von dem Gemeinderatvorsitzenden (raiz il-baladyier) von Joun gegeben. Zehn Tage, vom 1.-10. des islamischen Monats muharram, dauern die ‘Ashura-Feierlichkeiten, während derer des Märtyrertodes des Iman Husain gedacht wird. In dem nach Iman Husain benannten religiösen Versammlungsraum Husainiya finden ‘Ashura-Rituale und Beerdigungszeremonien statt. Die internationale Migration verstärkte sich seit den 1960er Jahren wieder, als eine Reihe von Joun-Bewohnern zum Studium nach Europa oder in die USA gingen. Dieser Trend erhielt eine noch größere Relevanz während des Bürgerkrieges. Deir Mkhallis ist ein griechisch-katholisches Kloster in unmittelbarer Nähe von Joun. Historisch und in der Gegenwart hat das Kloster und seine Priester einen wichtigen Einfluss auf das Dorf. Die Israelis stationierten sich in der unmittelbaren Nähe des Klosters, wo sich ein Ausbildungslager der christlichen Miliz Forces Libanaises befand. Das in der saudi-arabischen Stadt Ta‘if geschlossene Abkommen

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(1989) legte die politischen Grundlagen für das Ende des Bürgerkrieges und den Neuaufbaues des Landes. 11 So der Titel der ersten Seite auf der Homepage. Literatur Appadurai, Arjun (1995): »The Production of Locality«. In: Richard Fardon (Hg.), Counterworks. Managing the Diversity of Knowledge, London: Routledge, S. 204-225. Appadurai, Arjun (1996): »Sovereingty without Territoriality: Notes for a Postnational Geography«. In: Patricia Yaeger (Hg.), The Geography of Identity, Ann Arbor: The University of Michigan Press, S. 40-58. Glick Schiller, Nina / Basch, Linda / Blanc-Szanton, Christina (1992): Towards a Transnational Perspective on Migration: Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsider, New York: New York Academy of Sciences. Jong, Ferdinand de (1999): »The production of translocality: initiation in the sacred grove in southern Senegal«. In: Richard Fardon / Wim van Binsbergen / Rijk van Dijk (Hg.), Modernity on a Shoestring. Dimensions of Globalization, Consumption and Development in Africa and Beyond, Leiden and London: Eidos, S. 315-340. Kanafani-Zahar (1999): Le mouton et le mûrier. Rituel du sacrifice dans la montagne libanaise, Paris: Presses Universitaires de France. Kassab, Suzanne (1991): »Die multiplen Realitäten der Beirutis. Ein phänomenologischer Beitrag zum libanesischen Bürgerkrieg«. In: Thomas Scheffler (Hg.), Ethnizität und Gewalt, Hamburg: Deutsches Orient-Institut, S. 109-133. Khalaf, Samir (1993): Beirut Reclaimed. Reflections on Urban Design and the Restoration of Civility, Beirut: Dar An-Nahar. Kößler, Reinhart / Neubert, Dieter / Oppen, Achim von (Hg.) (1999): Gemeinschaften in einer entgrenzten Welt, Zentrum Moderner Orient, Studien 12, Berlin: Das Arabische Buch. Luig, Ute (1999): »Constructing Local Worlds. Spirit Possession in the Gwembe Valley, Zambia«. In: Heike Behrend / Ute Luig (Hg.), Spirit Possession. Modernity and Power in Africa, Oxford: James Currey, S. 124-141.

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Peleikis, Anja (1999a): »›Ich bin kein Symbol, eine Frau bin ich!‹ Weibliche Identifikationsmuster im ›Globalisierten Dorf‹. Südlibanon und Elfenbeinküste«. In: Ruth Klein-Hessling / Sigrid Nökel / Karin Werner (Hg.), Der neue Islam der Frauen. Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne – Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa, Bielefeld: transcript, S. 208-228. Peleikis, Anja (1999b): »Die abwesende Anwesenheit der südlibanesischen Migranten in West-Afrika«. Beiruter Blätter 6-7, S. 102-109. Perthes, Volker (1994): Der Libanon nach dem Bürgerkrieg. Von Ta‘if zum gesellschaftlichen Konsens?, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Pries, Ludger (Hg.) (1999): Migration and Transnational Social Spaces, Aldershot, Brookfield, Singapore, Sydney: Ashgate. Rosiny, Stephan (1996): Islamismus bei den Schiiten im Libanon. Religion im Übergang von der Tradition zur Moderne, Berlin: Das Arabische Buch. Younes, Riad (1975): Politik und Proporzsystem in einer südlibanesischen Dorfgemeinschaft. Eine empirisch sozio-politische Untersuchung, München: Weltforum Verlag.

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Referenzsysteme westafrikanischer MigrantInnen

Transnationale soziale Räume und multidimensionale Referenzsysteme westafrikanischer MigrantInnen in der Pariser Region Monika Salzbrunn

Die westafrikanischen MigrantInnen in und um Paris sind multidimensionalen Referenzsystemen verhaftet, deren Bedeutung je nach Kontext variiert. Die vielfältigen Abgrenzungsregister werden selbst definiert, kreativ gestaltet und können inklusiven oder exklusiven Charakter haben. Allerdings gibt es auch Wechselwirkungen mit den von »außen« wahrgenommenen Zuschreibungen, z. B. explizite und implizite Diskriminierungen durch Repräsentanten des französischen Staates. Diese können entweder zu einer stärkeren Affirmation bzw. Konstruktion des eigenen Andersseins führen oder eine verstärkte Integration nach sich ziehen. Letzteres trifft z. B. auf die medial positiv bewertete pluriethnische Zusammensetzung der französischen Fußballnationalmannschaft zu, die die multiplen Ursprünge einer dynamischen französischen Nation widerspiegelt. In den meisten Fällen werden sowohl im Diskurs als auch in Bezug auf äußerlich sichtbare Kodierungen mehrere Referenzsysteme vermischt bzw. neue pluridimensionale, hybride Referenzsysteme geschaffen, die sich in transnationalen sozialen Räumen verorten. Des Weiteren sind Rückwirkungen der MigrantInnen auf die französischen Referenzsysteme am Beispiel medialer Diskurse (z. B. in einem positiven Zeitungsartikel im kostenlosen Metrojournal über den Pariser Stadtteil »La Goutte d’Or«, in

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dem vorwiegend MigrantInnen aus Afrika südlich der Sahara leben) oder sozialer Praktiken (Ethnomusik, Kleidung) zu beobachten. Die Palette der identitären Unterscheidungsmerkmale reicht dabei von dichotomen Modellen (schwarze gegenüber weißer Hautfarbe als Symbol für bestimmtes zugeschriebenes Sozialverhalten) bis zu sehr detaillierten geographisch definierten Grenzziehungen in Bezug auf das Herkunftsdorf (materielles und ideelles Engagement in Vereinen, die auf einer gemeinsamen präzisen lokalen Herkunft basieren). Globale (z. B. weltumspannende Netzwerke der muridischen Kleinhändler) und lokale Bezugsmuster (in Verbindung mit konkreten Räumen) schließen sich dabei keineswegs gegenseitig aus, sondern koexistieren und ergeben neue identitäre Konstrukte. Demgegenüber steht das (seltenere) Phänomen der Assimilation, das dazu führen kann, dass äußere, schwer verdeckbare Unterscheidungsmerkmale wie die Hautfarbe kaschiert (z. B. wird die schwarze Haut durch depigmentierende Kremes aufgehellt, krause Haare werden künstlich geglättet etc.) oder durch überbetontes Normverhalten (Überfeinerung der Sprache etc.) sublimiert werden. Zu den vielfältigen Abgrenzungsregistern, die je nach Situation bewusst oder unbewusst gezogen werden, gehören: – die Hautfarbe (schwarz wird als valorisierendes Merkmal bestimmter sozialer Vertrauenskodes diskursiv instrumentalisiert), – gelegentlich die Nation (Senegal, Mauretanien, Mali, Frankreich etc.), – die Region innerhalb eines Landes (Casamance, Erdnussbecken etc.) oder eine die Nationengrenzen transzendierende Gegend, die aus einem vorkolonialen Referenzsystem resultiert (z. B. die Region um den Fluss Senegal, die sich über Mali, Mauretanien und Senegal erstreckt), – das Dorf (insbesondere Soninke neigen dazu, die Dorfstruktur in der Migration zu reproduzieren und lokalspezifische Migrantenvereine mit dem Ziel der materiellen Unterstützung des Heimatdorfes zu gründen), – die Ethnie (als verinnerlichte Selbstzuschreibung, die nach Amselle und M’Bokolo z. T. auf die Arbeiten französischer Kolonialgouverneure zurückgeht),

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– die Kaste (spielt insbesondere bei Heiratsarrangements eine wichtige Rolle), – die Religion (z. B. die umma als größtmögliche Referenzgruppe für Muslime; ansonsten sind viele Moscheen in Paris de facto nach Gläubigen nord- oder westafrikanischer Herkunft segregiert, die größte Moschee wird z. B. hauptsächlich von algerischen und einigen antillischen Gläubigen besucht), – die Bruderschaft (Tijâniyya, Murîdiyya etc.), – der Marabut (als gemeinsame spirituelle Autorität und / oder als gemeinsamer ehemaliger Tutor in der Kindheit), – das Geschlecht (Vereinsgründungen westafrikanischer Frauen und Reproduktion von Sparklubs zur Bildung von Investitionskapital) und – die politische Orientierung (Netzwerke oppositioneller senegalesischer und mauretanischer Intellektueller). Alle diese Grenzziehungsprozesse sind kombinier- und differenzierbar. Sie werden bewusst oder unbewusst vollzogen und miteinander verflochten. Geographische Grenzziehungen Während die 1970er Jahre noch durch ein häufiges Kommen und Gehen der westafrikanischen Arbeitsmigranten geprägt waren, verlagert sich der geographische Bezugsraum auf Grund der restriktiven Einwanderungs(begrenzungs)politik zunehmend auf die französische Umgebung. Als imaginärer Raum und als Identifikationsmerkmal bleibt die Herkunftsnation jedoch erhalten. Wer nicht die französische Nationalität besitzt, wird mindestens während der Wahlen im Heimatland mit der konkreten Ausprägung seiner Zugehörigkeit zu einer nationalen Einheit konfrontiert, selbst wenn dieser Zuschreibung in der Alltagswelt eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Diese Identifikation mit der Herkunftsnation wird auch von den Wahlkämpfern permanent hergestellt, indem die Verantwortung für die Verhältnisse im Heimatland in das Zentrum der Reden gerückt wird. So richtete sich einer der chancenreichsten Oppositionskandidaten zur senegalesischen Präsidentschaftswahl während seiner Wahlkundgebungen in Wohn-

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heimen westafrikanischer Arbeiter (Sonacotras) in Paris und Umgebung an sein Publikum mit Sätzen wie »Ihr seid die Stütze Senegals« und »Während der Staat seine Pflichten vernachlässigt, ernährt ihr das Land«. Die Frage der Anhängerschaft zur bislang regierenden Sozialistischen Partei PS oder zu einer der Oppositionsparteien kann innerhalb der in Frankreich lebenden SenegalesInnen zu deutlichen Abgrenzungsprozessen führen. Der inzwischen zum Präsidenten gewählte ehemalige Oppositionsführer Wade wurde bei seiner Ankunft in den Wohnheimen lautstark und anhaltend mit dem Schlachtruf »Sopi« (was auf Wolof etwa »Veränderung« bedeutet) begrüßt. Seine Anhänger demonstrierten gemeinsam mit anderen Oppositionellen bei Besuchen des amtierenden senegalesischen Staatspräsidenten Diouf und grenzten sich dadurch gegen regierungstreue MigrantInnen ab. Die Bedeutung transnationaler Kommunikationssysteme für die Präsidentschaftswahlen in Senegal Welch hohe Bedeutung die in Frankreich lebenden MigrantInnen für den Wahlkampf haben, zeigt die Entscheidung des erfolgreichen Präsidentschaftskandidaten Wade, sich ein Jahr lang in Versailles niederzulassen. Während der entscheidenden Wahlkampfphase wurde ihm dies als Geste der Solidarität mit den Migranten (und nicht etwa als Zeichen der Vernachlässigung wichtiger Probleme in Senegal) angerechnet: »Er hat mit uns gelebt, er ist zu uns in die Foyers gekommen und hat uns nach unseren Alltagsproblemen gefragt. Er hat sogar eine ganze Videokassette den Immigranten gewidmet« (Wahlkampfredner bei der Abschlusskundgebung zur Stichwahl in Paris, 17.3.2000).

Diese Videokassette wurde von der PS im Wahlkampf in verschiedenen französischen Städten verkauft, um Geld für die Kampagne zu sammeln. »Die Kampagne ist offiziell beendet, aber das Telefonieren in die Heimat ist nicht verboten. Ruft eure Eltern, eure Verwandten an und überzeugt sie, für die Opposition zu stimmen.«

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In der Tat ist die Wahlpropaganda in den ländlichen Gebieten besonders wichtig, da die PS dort bisher nicht verdrängt werden konnte, während die Opposition bereits bei den Parlamentswahlen 1998 die wichtigsten Großstädte einnehmen konnte. Die kapitale Rolle der Migranten im senegalesischen Wahlkampf kann mit deren engen Beziehungen zur in der Heimat verbliebenen Familie erklärt werden. Indem Wade von Versailles aus seine Kampagne plante und erfolgreich durchführte, hat er nicht nur die in Frankreich lebenden Senegalesen erreicht, sondern indirekt den weitaus entscheidenderen Teil der ländlichen Bevölkerung, deren Stimmen ihm schließlich zum Sieg verholfen haben. Ein Telefonanruf aus Frankreich (oder Washington oder Neapel) bzw. ein Besuch durch Vertraute oder Verwandte ist wesentlich effektiver als eine direkte Kampagne in den zahlreichen, im übrigen auch verkehrstechnisch schwer zugänglichen Dörfern. Es wäre auch logistisch nicht möglich gewesen, innerhalb der nur zehntägigen zweiten Wahlkampfphase eine so effektive Kampagne vor Ort durchzuführen und so große Teile der Bevölkerung zu erreichen. Im Wahlkampf wie auch auf der wirtschaftlichen Ebene zeigen sich die Konsequenzen erfolgreicher Strategien, von außen, d. h. vom Ausland aus einen noch wirksameren Einfluss auf die Geschehnisse im Inland auszuüben. Die transnationalen Kommunikationssysteme haben so das Wahlgeschehen entscheidend bestimmt. In Frankreich erzielte das Oppositionsbündnis doppelt so viele Stimmen wie die Regierungspartei PS; das Gesamtergebnis fiel dagegen sehr viel knapper aus (58,5 % für Wade). Innerhalb der Diskussion der senegalesischen MigrantInnen trugen die Internetseiten des Verbundes »Sudonline« mit der regierungskritischen Tageszeitung »Sud Quotidien« ebenfalls zur Meinungsbildung bei. Da die Mehrzahl der SenegalesInnen keinen direkten Zugang zum Internet hat, zirkulierten im Pariser Milieu regelmäßig Fotokopien der Seiten oder auch Faxe mit Originalabdrucken der Zeitungsseiten. Nach Angaben eines Pariser Informanten war die erhöhte Sensibilisierung der senegalesischen Erstwähler in den Großstädten ein wichtiger Faktor für den Wahlsieg der Opposition: »Noch vor ein paar Jahren kamen mir die Tränen, wenn ich gehört habe, wie unwichtig den Jugendlichen politische Diskussionen waren. Jetzt aber konnte man den Unterschied spüren. Viele junge Leute mit geringer Bildung haben

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Monika Salzbrunn gesagt, dass sie die Nase gestrichen voll haben von der Situation im Senegal. Sie haben alle ihre Wahlkarte abgeholt und begriffen, wie wichtig die Beteiligung ist« (B. K. in Paris, 21.3.2000).

Da die Regierung sich des Stadt-Land-Gefälles in der Stimmenverteilung bewusst war, d. h. die genauen Analysen über die Gewinne der Opposition in den Städten und die trotz leichter Verluste relativ stabile Situation für die regierende PS in den ländlichen Gegenden strategisch in die Planung des Wahlkalenders einbezog, wurde der Termin für den zweiten Wahlgang auf den zweiten Tag des Aïd-Festes (Opferung eines Schafes) gelegt. Bei diesem in Senegal sehr populären Fest kehren die in der Stadt lebenden Familienmitglieder in ihre zum Teil sehr weit entfernten Heimatgegenden zurück. Da sie jedoch im Wahllokal der Stadt gemeldet sind, mussten sie gleich nach der Feier den beschwerlichen langen Rückweg antreten. Die Regierung hatte darauf spekuliert, dass die potenziell oppositionelle städtische Bevölkerung zum großen Teil auf ihre Stimmabgabe verzichtet, um bis zum Schluss der Feierlichkeiten im Dorf zu bleiben. Dies war jedoch ein großer Irrtum. Informanten berichten, dass die städtischen Wähler sehr gut organisiert in der Frühe den Heimweg angetreten haben, um zur Wahl zu gehen. Es wird berichtet, dass die Autofahrer nur Mitfahrer mit Wahlkarten einsteigen ließen, um sicher zu sein, dass keine Stimme verloren gehe. Diese Fehleinschätzung führte also zu einem doppelten Misserfolg der Regierung: Das städtische Wählerpotenzial der Opposition blieb wegen der organisierten Rückreisen bzw. des Verzichts auf die Teilnahme an den Feierlichkeiten im Dorf unberührt. Die ländliche Bevölkerung, die traditionell der PS zuneigte (u. a. wegen alter Autoritätsstrukturen, die bislang zum Einhalten von Wahlempfehlungen seitens der Marabuts für die PS geführt hatten), wurde durch die Besuche der oppositionellen Familienmitglieder deren direktem Einfluss ausgesetzt und entspechend zu Gunsten der Opposition sensibilisiert. Auch innerhalb der ländlichen Bevölkerung ist folglich ein langsames Aufbrechen der alten Identifikationsmuster zu beobachten. Während zahlreiche Marabuts in den 1980er Jahren als Gegenleistung für finanzielle Hilfen oder für die Zuteilung von Bodenrechten seitens der PS-geprägten Verwaltung noch deutliche Wahlempfehlungen für die PS ausgesprochen hatten, nimmt dieses Phänomen seit den Wahlen von 1988 kontinuierlich ab. Bei der Beziehung zwischen Marabut und

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Schüler handelt es sich also immer weniger um eine völlige Selbstaufgabe in jeder Beziehung, sondern diese verändert sich zu einer etwas weniger asymmetrischen Relation, die die politische Willensbildung immer weniger tangiert. Obwohl die Anzeichen für politische Veränderungen im Senegal bereits vor dem ersten Wahlgang deutlich spürbar waren, befürchteten BeobachterInnen massive Täuschungsversuche der Regierung. Diese waren bereits durch den Druck gefälschter Wahlkarten, den Regierungsmitglieder in Israel in Auftrag gegeben hatten, angekündigt worden. Außerdem war das Personal in den Wahlbüros, in denen die PS den ersten Wahlgang verloren hatte, ausgetauscht worden. Die starke Präsenz von WahlbeobachterInnen und JournalistInnen, die mit Hilfe von Mobiltelefonen die Ergebnisse der Auszählungen vom Wahlbüro direkt an ihre Redaktionen weitergeben konnten, hat weiteren Täuschungsmanövern jedoch weit gehend einen Riegel vorgeschoben, so dass das relativ deutliche Ergebnis von 54,8 % für Wade erreicht wurde. In Frankreich hat Wade 3.672 Stimmen bekommen gegenüber 1.744 Stimmen für den scheidenden Präsidenten Abdou Diouf. Diese massive Zustimmung kann zum Teil durch die Abkehr der französischen Anhänger von den Direktiven des Oppositionskandidaten Djibo Kâ erklärt werden, der beim zweiten Wahlgang plötzlich als »Zünglein an der Waage« fungierte. Der ehemalige PS-Minister Djibo Kâ hatte sich anfangs dem Oppositionsbündnis angeschlossen, dann in letzter Minute jedoch zur Wahl für den Sozialisten Diouf aufgerufen. Seine Anhänger in Frankreich haben sich jedoch diesem Umschwung nicht angeschlossen und unter starkem Applaus der Pariser Opposition ihre ursprüngliche Position beibehalten. Während der Abschlusskundgebung in Paris am 17. März wurde wiederholt die mutige Haltung der Anhänger Djibo Kâs »für unser Land« unterstrichen. Auch dies ist ein Beispiel für eine Veränderung der politischen Kultur und eine erfolgreiche Demokratisierung, die maßgeblich von den Verbindungen zu Migrationsnetzwerken unterstützt wird. Freie Radiosender, die auch in ländlichen Regionen Senegals empfangbar sind, sowie Musiker, die für die Opposition komponiert haben, haben ebenfalls zum Meinungspluralismus beigetragen. Trotz kritischer Infragestellungen des Begriffs »Ethnizität« unter anderem durch Amselle und M’Bokolo (1985) erweist sich die Ethnie als relevante Kategorie bei Selbst- und Fremdbeschreibungsprozessen

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(Schlee / Werner 1996). Bei gegenseitigen Vorstellungen unbekannter Personen beispielsweise kommt es vor, dass vom Familiennamen direkt auf die Ethnie geschlossen wird. Einige Vereinigungen westafrikanischer MigrantInnen basieren auch auf der gemeinsamen Ethnie bzw. Sprache: »Association pour la Promotion du Soninke«. Gerade bei den Soninke wird der Bezug auf ein vermeintlich homogenes Gebilde als Ethnie erst durch das Sesshaftwerden in einem unbekannten Territorium produziert, das permanent Alteritäten konstruiert und in der von außen wahrgenommenen Ablehnung der Differenz ein Bewusstsein für Gemeinsamkeiten weckt (Amselle 1996: 168). Auch in Erklärungsmustern für bestimmtes Verhalten wird die Ethnie gelegentlich herangezogen. So antwortet die senegalesische Feministin Marie-Angélique Savané in einem Interview in einem international vertriebenen frankophonen Hochglanzmagazin (Diva, No. 4, Dezember / Januar 1999 / 2000: 36) auf die Frage, was das Geheimnis ihres Erfolges sei: »Ich bin eine Diola-Frau. Im Senegal ist die Diola-Frau für ihre Dynamik und ihren Arbeitseifer bekannt. Wir kommen aus der Casamance, einer Gegend, wo die Frau hart arbeitet. Dies fördert bei den Frauen dort einen Willen zur Unabhängigkeit und auch eine rebellische Seite. Meine Persönlichkeit rührt daher.«

Gleichzeitig benutzt Savané die Kategorie der »Afrikaner«, als sie über ihre 16 Jahre dauernde Tätigkeit bei den Vereinten Nationen spricht, und fordert, dass sich die Afrikaner selbst um Afrika kümmern sollen, da es schwierig sei, für einen fremden Kulturkreis Kompetenzen zu erwerben. Im Editorial derselben Zeitschrift wird schwarz nicht mehr als Stigma, sondern als valorisierendes Identifikationsmerkmal benutzt: »Ob Afrikanerinnen, Bewohnerinnen der Antillen, Amerikanerinnen oder aus der Diaspora, die schwarzen Frauen symbolisieren eine (revolutionäre) Entwicklung und haben es verdient, einen ewigen Platz im kollektiven Gedächtnis zu erhalten.«

Aus dieser Perspektive werden 64 schwarze Frauen des Jahrhunderts

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aus der ganzen Welt mit ihren wissenschaftlichen, politischen oder künstlerischen Verdiensten porträtiert. In wenigen Fällen kommt es auch zu einer Sublimierung äußerer Unterscheidungsmerkmale z. B. durch betonte Anlehnung an aktuelle französische Modetrends, Gebrauch von Depigmentierungskremes oder die französische Wirtschaft wird überbewertet bei gleichzeitiger Verachtung für die materiellen Probleme der Herkunftsregion. Eine Aufwertung der Selbstzuschreibung als Schwarze ist häufig im alltäglichen oder auch formellen, institutionalisierten Diskurs zu beobachten. So werden auch in Reden von Verantwortlichen westafrikanischer Frauenorganisationen in der Umgebung von Paris einleitende Floskeln wie »Wir als schwarze Frauen …« benutzt. Damit wird ein globales Referenzsystem auf die lokale Situation und das Erreichen eines bestimmten Zieles bezogen. Auch mit Verweisen auf die historische Schuld Frankreichs am Sklavenhandel und die daraus resultierende Verantwortung für die auf französischem Boden lebenden MigrantInnen werden politische Forderungen etwa nach Regulierung der Verwaltungssituation legitimiert. Hier wird der äußere Abgrenzungsprozess instrumentalisiert und auf ein klares Ziel hin ausgerichtet. Bei Forderungen nach einer Professionalisierung von Vermittlerinnen, die aus Solidaritätsbeziehungen innerhalb des Migrantenmilieus hervorgegangen sind und nun nach erfolgreichem Kampf um Bezahlung durch die Kommunen eine geschützte Ausbildung mit Diplom verlangen, werden die Kategorien »Afrika« oder »schwarze Frauen« in diesem Sinne eingesetzt. Andere Abgrenzungskategorien haben ihre Bedeutung vor allem innerhalb eines transnationalen Systems und spielen im Kontakt zur französischen Administration kaum eine Rolle. Dazu gehört der geographisch eng gefasste Bezug auf das gemeinsame Herkunftsdorf, der besonders verbreitet ist bei MalierInnen, SenegalesInnen und MauretanierInnen, die aus der Region um den Fluss Senegal stammen. Besonders die Soninke neigen nach Timera (1996) zu einer Reproduktion sozialer Strukturen des Herkunftsdorfes in der Migrationsumgebung. Nach Kane (1999: 7) gibt es in Dakar, Ouagadougou, Libreville, Paris sowie in Italien und in den USA Vereine zur Entwicklung des Dorfes Thilogne im Tal des Senegal. Diese Vereine stehen in Verbindung mit dem Verein in Thilogne selbst und dienen dessen finanzieller

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Unterstützung. Ein weiteres Charakteristikum ist die gegenseitige Unterstützung der Vereinsmitglieder und die Integration neuer Ankömmlinge in der Migrationsumgebung. Die Kontakte im neuen Umfeld gehen einher mit familiären Bindungen oder Organisationen, die auf der gemeinsamen Kastenzugehörigkeit basieren. Diese Kastenorganisationen (Torobbe, Sebbe, Maccube, Burnaabe etc.) sind nach Kane in Paris zahlreicher als in Dakar. Ein Migrant kann so auf mehrere Bezugsgruppen zurückgreifen, die auf unterschiedlichen Kriterien gründen. Jene Solidaritätsnetzwerke werden nach Timera (1997: 101) durch die von der französischen Verwaltung konstruierte Kategorie der »Papierlosen« bzw. illegalen Einwanderer jedoch zunehmend auf die Probe gestellt. Seit 1974 hat Frankreich offiziell die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte eingestellt. Mit dieser politischen Wende ging auch ein drastischer Rückgang in der Erteilung von Arbeitsvisa einher, die schließlich nur noch im Ausnahmefall ausgestellt wurden. Demzufolge blieben als Einreisemöglichkeit das Touristenvisum, eine Aufenthaltsberechtigung als StudentIn, als EhepartnerIn oder minderjähriges Kind im Rahmen der Familienzusammenführung, ein Antrag auf Asyl sowie eine berufliche Einladung als KünstlerIn oder WissenschaftlerIn. Wer nach legaler Einreise und Ablauf des Visums bleiben möchte mit dem Ziel, eine legale Arbeitserlaubnis zu erhalten, durchläuft eine Phase, in der er sowohl von den französischen Verwaltungsinstanzen als auch von Mitgliedern der Bezugsgruppe als illegal stigmatisiert wird. Im Zuge des immer härter werdenden Kampfes um Ressourcen wie Arbeit, Wohnraum etc. und der Verschlechterung des politischen und sozialen Klimas steigt der Druck auf MigrantInnen ohne gültige Papiere. Damit wächst auch die Selbstzuschreibung als »Sans Papier«. Als 1995 erneut terroristische Anschläge auf öffentlichen Plätzen stattfanden, wurde die Präsenz der Exekutive drastisch verstärkt. Nicht nur Polizisten und Spezialtruppen (CRS) bestimmten das Straßenbild, sondern auch Militärs mit Maschinengewehren. Dazu kamen häufigere Kontrollen in der Metro und zusätzlich eingesetztes privates Sicherheitspersonal in Geschäften. In diesem angespannten Klima mit omnipräsenten Kontrollinstanzen wurde für »Papierlose« jeder Gang durch die Stadt, insbesondere in Paris und Lyon, zum gefährlichen Spießrutenlaufen. Denn die Möglichkeit einer willkürlichen Ausweis-

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kontrolle war extrem hoch. Auch heute noch, nach der Reduzierung des innenpolitischen Sicherheitsplanes »Vigypirate«, ist in der Metro oder am Bahnhof eine nach Hautfarbe diskriminierende Kontrollpraxis zu beobachten. Bei der Ankunft des europäischen Schnellzuges Thalys am Pariser Nordbahnhof beispielsweise werden ganz gezielt dunkelhäutige Passagiere vom Zoll abgefangen und kontrolliert. Damit wird von staatlichen Autoritätsträgern ständig eine Ausschlussbotschaft übermittelt. Auch innerhalb der Bezugsgruppe von Migranten aus derselben Gegend zeigt die Trennung in »legale« und »illegale« Einwanderer eine gewisse Relevanz. Auf Grund der Angst vor Stigmatisierung wegen des sozialen Misserfolgs kann niemand die eigene prekäre Situation vor den anderen offenlegen. Der Gegensatz zwischen der sozialen und beruflichen Integration auf der einen Seite, die ein scheinbar normales Dasein ermöglicht, und dem unklaren Aufenthaltsstatus andererseits, ist sowohl psychisch als auch alltagspraktisch äußerst schwer zu handhaben. Die sozial verordnete Verdrängung bzw. Unsichtbarmachung der administrativen Illegalität kann eine Distanz gegenüber denjenigen aufbauen, die ihre Aufenthaltssituation regeln konnten. Im besten Fall wird aus diesem mit Scham besetzten niedrigen sozialen Status ein affirmatives Kriterium zur Identifikation mit der Nationen übergreifenden »Sans-Papier«-Bewegung, die sich ansatzweise mit Elementen der europäischen Zivilgesellschaft (Unterstützergruppen, Antirassismusinitiativen, Vereinigungen für Menschenrechte etc.) vermischt. Nach Timera (1997: 105) ist diese Art der Reaktion auf die diskriminierende französische Innenpolitik auch ein Ausdruck der Grenze kommunitärer Solidaritätsnetze (Dorfvereinigungen, Migrantenwohnheime etc.). Die Initiative geht insbesondere von Frauen aus, die zunächst als Ehefrauen und Mütter im Rahmen der Familienzusammenführung wahrgenommen worden waren und nun Vereinsstrukturen aufbauen. Religion als Bezugsrahmen Nach unseren Beobachtungen ist die Identifikation mit der islamischen Religion ein wichtiger Faktor zur Abgrenzung gegenüber der als fremd wahrgenommenen Umwelt. Das religiöse Referenzsystem der

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WestafrikanerInnen ist jedoch flexibel und undogmatisch und beinhaltet höchst selten dichotome Bewertungen wie »unislamisch« oder »unrein«. S. B., eine senegalesische Doktorandin, ist erst seit vier Monaten in Frankreich. Der diesjährige Fastenmonat sei »der traurigste Ramadan [ihres] Lebens« gewesen. Außer unter den Nachbarn in einem Vorort von Paris habe man nirgendwo etwas von den Feiern gespürt. Schon bei ihrer Ankunft in Frankreich habe ihr die Sichtbarkeit von Moscheen und der allgegenwärtige Gebetsrhythmus gefehlt. Es sei ihr sehr wichtig, die fünf täglichen Gebete zu verrichten, aber der hektische Pariser Rhythmus erschwere dies, sodass sie die fehlenden Gebete abends nachhole. Auf Grund ihrer Herkunft bezeichnet sie sich als Anhängerin der Tijâniyya-Bruderschaft, sieht jedoch in Paris keinen Anlass, einen Marabut aufzusuchen, da sie keinen Vermittler zwischen sich und Allah brauche. Außerdem bezeichnet sie die hier ansässigen Marabuts, die mit kleinen Werbekärtchen die Lösung aller privaten und beruflichen Probleme versprechen, als Gauner. Wahre Marabuts bräuchten keine Werbung, da sich deren spirituelle Kraft von selbst verbreite. Das Wichtigste für sie sei der eigene Glaube, das Schwierigste im Moment das Einhalten des Gebetsrhythmus, der im Gegensatz zur Situation auf dem Universitätscampus in Dakar hier jeglicher äußerer Zeichen entbehre. Für S. B. ist das Festhalten am islamischen Glauben und das strenge Einhalten der dazugehörigen Praktiken ein wichtiger Angelpunkt, um in der fremden Umgebung Sicherheit zu sich selbst zu finden. Ihren Kleidungsstil hat sie dem französischen angepasst. Junge Frauen ihrer Generation treten auch höchst selten verschleiert im öffentlichen Raum auf. Auch in der Handhabung moderner Technologien wie Internet oder Mobiltelefon unterscheidet S. B. sich nicht von ihren KommilitonInnen. Seit sie Kontakt zu SenegalesInnen außerhalb ihrer Verwandtschaft gefunden hat, geht es ihr deutlich besser. Die Zugehörigkeit ihrer neuen Bekannten zu einer bestimmten Bruderschaft ist kein Gesprächsthema und spielt für sie keine Rolle. Unter der jugendlichen Bevölkerung ist insgesamt eine Abnahme der Bedeutung der Zugehörigkeit zur konkreten Bruderschaft zu beobachten. Unter den befragten SenegalesInnen in Paris und auch unter den InformantInnen in Senegal selbst berichten einige Gläubige von

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Übertritten zwischen den Bruderschaften. So beschreibt A. sich als Muridin, da sie den derzeitigen Khalifen glaubwürdiger fände: »Er sagt, dass er sich nur für das Göttliche, das Jenseitige interessiert und dass er für die Politik nicht zuständig sei. Außerdem lebt er sehr bescheiden. Von den Tidjanen, zu denen ich vorher wegen meiner Erziehung gehörte, sind viele mit der PS verbandelt und haben Sonderrechte. Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun.«

Nach den Regeln der Sufi-Bruderschaften ist eigentlich eine Initiationsphase vorgesehen, nach deren Abschluss sich der Schüler bzw. die Schülerin dem Marabut zu lebenslanger gehorsamer Gefolgschaft verpflichtet. Aus den Selbstbeschreibungen wäre allerdings zu schließen, dass die Bezeichnung etwa als »Muride« fast zu einem Modephänomen geworden ist. Dennoch gibt es weiterhin SchülerInnen, die sich dem Treueschwur unterziehen und diesen lebenslang einhalten. Allerdings ist, wie oben beschrieben, eine stetige Trennung zwischen dieser persönlichen Beziehung zum Marabut und dem Reifeprozess einer selbstständigen politischen Meinung zu beobachten. Multidimensionale Referenzsysteme im Foyer In einem für Gastarbeiter gebauten Wohnheim im 19. Stadtbezirk von Paris leben malische, senegalesische und mauretanische MuslimInnen. Die Wände der 10 m2 großen Zweibettzimmer zeugen von multidimensionalen Referenzsystemen, die sich gegenseitig keineswegs ausschließen: Zeitungsausschnitte von Steffi Graf und Lady Diana finden sich neben dem Foto des mauretanischen Marabuts und Bildern der Moschee im Heimatdorf, die von den Beiträgen der Migranten finanziert wurde. Der Bezug zum Heimatdorf materialisiert sich in regelmäßigen finanziellen Beiträgen, die von den Migranten an die dort verbliebenen Familienmitglieder geschickt werden. Diese Solidarität wird vorwiegend religiös begründet. Christliche Kirchengemeinden, deren Mitglieder fast ausschließlich aus Afrika südlich der Sahara stammen, zeichnen sich durch ständige Bezugnahme auf die weltumspannende Kirche aus, die über die nationalen Ursprünge der Mitglieder gestellt wird. Das Kirchengebäude als

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Treffpunkt findet seine Ergänzung in der privaten Wohnung eines Gemeindemitglieds, in der im kleineren Kreis das gemeinsame sonntägliche Essen nach der Messe stattfindet und BesucherInnen empfangen werden. Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen Die durch die MigrantInnen von der diffusen Diskurseinheit »Frankreich« wahrgenommenen Fremdbilder sind widersprüchlich und heterogen und haben ebensolche Reaktionen zur Folge. MigrantInnen mit alltäglichen Diskriminierungserfahrungen verorten sich gleichzeitig gegen den französischen Staat und identifizieren sich mit dem Territorium, d. h. eignen sich den konkreten Raum (beispielsweise den hauptsächlich von MigrantInnen aus Afrika südlich der Sahara bevölkerten nördlichen Stadtteil Barbès) an. Gleichzeitig kann man Widerspiegelungen der neuen französischen multikulturellen Identitäten z. B. durch valorisierende Artikel über dieses Viertel (hier mit dem wohlklingenden Namen »La Goutte d’Or« bzw. »Goldener Tropfen« in Anspielung auf die ehemals dort stehenden Weinberge überschrieben) in der offiziellen kostenlosen Metrozeitung der Pariser Nahverkehrsbetriebe finden. Gerade in Barbès lassen sich Zeichen für die Ausbildung transnationaler sozialer Räume im Sinne von Pries (1996: 472) beobachten: »Vielmehr bilden sich neue soziale Wirklichkeiten (Handlungsnormen, Kulturmilieus, Lokalökonomien, soziale Netze etc.) heraus, die die bisherigen sozialen Verflechtungszusammenhänge sowohl der Auswanderungsregion wie auch der Ankunftsregion qualitativ transformieren und sich als neue Sozialräume zwischen und oberhalb dieser aufspannen.«

In Lebensmittelgeschäften von Barbès kann man Sauermilch kaufen, die aus der lokalen Produktion in der Pariser Umgebung stammt. Dort haben WestafrikanerInnen verlassene Bauernhöfe wieder in Stand gesetzt, um Schafe zu züchten und Gemüse anzubauen. Die dort erzeugten Produkte werden von den MigrantInnen mit Elementen der herkömmlichen Vertriebswege kombiniert. Berührungen gibt es auch mit EuropäerInnen, die die Geschäfte in Barbès aufsuchen und dort Kleidung, Nahrungsmittel etc. kaufen.

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Diskursänderungen auf politischer Ebene Die faktische Sichtbarkeit muslimischer MigrantInnen und die steigende Affirmation von Differenz kann im Zusammenhang mit politischen Diskursänderungen gesehen werden. Der französische Staatspräsident Chirac hat am 13. Januar 2000 vier Vertreter der islamischen Religion in Frankreich zu einem offiziellen Empfang geladen. Für Soheib Bencheikh, Großmufti von Marseille, ist dies ein historisches Datum, da der Islam seiner Meinung nach von nun an zur republikanischen Landschaft Frankreichs gehört. Chirac hat mit dieser symbolischen Geste einer empirisch längst nicht mehr ignorierbaren Realität öffentliche Sichtbarkeit verschafft. Mit dieser offiziellen Wertschätzung wird die in der Praxis längst vollzogene Visualisierung des Islams in der öffentlichen Arena auch von staatlicher Seite konsolidiert. Allerdings findet diese Begegnung auch im Zuge der Bemühungen um eine stärkere Kontrolle islamischer Organisationen statt, wie die Versuche des Innenministers Chévènement zeigen, eine repräsentative Instanz des französischen Islams zu gründen. Schon 1990 wurde vom damaligen Innenminister Pierre Joxe ein Rat zur Reflexion über den Islam in Frankreich gegründet (CORIF). Amselle (1996: 164) sieht in diesen Versuchen, eine Art künstliche islamische Kirche zu gründen (wie auch schon in den Bemühungen Napoleons um eine zentrale jüdische Instanz), einen Versuch zur inneren Kolonisierung. Wie weit diese Ansätze zur Konstruktion einer repräsentativen Instanz des Islams von einer tatsächlichen Akzeptanz der Sichtbarkeit religiöser Zeichen im öffentlichen Raum entfernt sind, zeigt ein Interview (Islam de France, 6 / 1999: 7-14) mit Didier Motchane, einem Juristen, der seit 1997 für den Innenminister als Berater in Fragen des Islams in Frankreich tätig ist. Zwar beschreibt er zunächst die Diskriminierungen, unter denen Muslime in Frankreich zu leiden haben, führt diese jedoch vorwiegend auf soziale Hintergründe zurück. Als wichtiger kultureller Faktor sollen der französischen Bevölkerung Kenntnisse über den Islam nahe gebracht werden. Dennoch bezeichnet Motchane den Laizismus als »Produkt der Ausübung der ›natürlichen Vernunft‹ im Bereich der Überzeugungen«. Diese impliziere eine Trennung von öffentlicher und privater Sphäre. Des Weiteren hält er jegliche Form des »Kommunitarismus« für inkompatibel mit dem re-

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publikanischen Geist. Aus diesen Äußerungen ist zu schließen, dass die Existenz des Islams auf französischem Boden zwar inzwischen als Tatsache angenommen wird, dass dessen öffentliche Manifestierungen jedoch ignoriert bzw. als bedrohlich betrachtet werden. Ähnliche Diskursänderungen im konservativen politischen Lager zeigten sich bereits nach der Fußballweltmeisterschaft 1998. Der ehemalige Innenminister Charles Pasqua, der zu seiner Amtszeit noch eine deutliche Verschärfung der Ausländergesetze durchgesetzt hatte, die die nicht-französischen Eltern in Frankreich geborener Kinder in eine äußerst prekäre, da nicht legalisierbare Position gebracht hatte, lobte nach dem Sieg der französischen Nationalmannschaft die erfolgreiche Zusammenarbeit der Fußballer, deren Eltern zu einem guten Drittel Immigranten sind. Diese Zusammenarbeit solle ein positives Beispiel sein für die nun mögliche »Großzügigkeit« Frankreichs gegenüber Immigranten. Schon bei den Feiern zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution 1989 wurde die Marseillaise von mit blauen, weißen und roten Gewändern bekleideten, Djembe spielenden AfrikanerInnen intoniert. Hierbei ist allerdings fraglich, ob es sich nicht eher um eine folkloristische Exotisierung als um ein Symbol für erfolgreiche Integration handelt. Von den einzelnen Akteuren wird diese hier symbolhaft inszenierte Zugehörigkeit zur Republik jedoch nicht unbedingt auch im Alltagsleben empfunden. Insbesondere während des islamischen Fastenmonats Ramadan verlangt die Beachtung der religiösen Vorschriften eine außerordentliche Selbstdisziplin, da die in islamischen Gesellschaften allgegenwärtige soziale Kontrolle entfällt. Das deutliche Aufzeigen von Differenz wird auch weiterhin auf der Ebene des politischen Diskurses als republikfeindlich angesehen, wenn auch die Existenz von Anderssein und Vielfalt inzwischen akzeptiert wird. Im Selbstverständnis der westafrikanischen MigrantInnen bleiben somit die von der Umwelt gesendeten Zeichen für Verschiedenheit bestehen und führen auf unterschiedlichen Ebenen zur verstärkten Affirmation von Differenz.

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Literatur Amselle, Jean-Loup (1996): Vers un multiculturalisme français. L’empire de la coutume, Paris: Aubier. Amselle, Jean-Loup / M’Bokolo, Elikia (sous la dir. de) (nouv. éd. 1999 / 1985): Au coeur de l’ethnie. Ethnie, tribalisme et État en Afrique, Paris: La Découverte / Poche. Andezian, Sossie (1983): »Pratiques féminines de l’Islam en France«. Archives de Sciences Sociales des Religions 55 / 1 (janvier / mars), S. 53-66. Casanova, José (1994): Public Religions in the Modern World, Chicago: The University of Chicago Press. Cesari, Jocelyne (1997): Etre musulman en France aujourd’hui. Préface par Bruno Etienne, Paris: Hachette. Cesari, Jocelyne (1998): »Les musulmans en Europe: nouveau pluralisme religieux et démocratie«. Unveröffentlichter Vortrag zur Tagung »Laïcités, religions et démocratie: perspectives comparatistes« der Groupe de Sociologie des Religions et de la Laïcité, CNRSEPHE, IRESCO Paris, 7. / 8. 12. Cesari, Jocelyne / Botiveau, Bernard (1997): Géopolitique des Islams, Paris: Economica. Elsenhans, Hartmut (1999): »Culture de l’Europe: l’apport des modèles allemande et français«. Hermès 23-24, S. 109-113. Gaspard, Françoise / Khosrokhavar, Farhad (1995): Le foulard et la République, Paris: La Découverte. Islam de France. Revue d’information et de réflexion musulmane 6 / 1999. Kane, Abdoulaye, (1999): »Les mutuelles communautaires villageoises: des arrangements financiers transnationaux au service des localités«, Conference on Migrant Families and Human Capital Formation in Europe. Africa-Studiecentrum, Leiden University. Khosrokhavar, Farhad (1997): »L’islam au féminin«. In: Ders., L’islam des jeunes, Paris: Flammarion, S. 117-142. Nicollet, Albert (1998): »Femmes d’Afrique Noire sur les chemins de l’Europe«. Cahiers de Sociologie Economique et Culturelle. Ethnopsychologie 29, S. 81-99.

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Pries, Ludger (1996): »Transnationale Soziale Räume. Theoretischempirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen MexicoUSA«. Zeitschrift für Soziologie 25, S. 456-472. Quiminal, Catherine (1998): »Comment peut-on être Africaines en France?«. Journal des Anthropologues 72-73, S. 49-61. Saint-Blancat, Chantal (1997): L’islam de la diaspora, Paris: Bayard. Salzbrunn, Monika (1999): »Zwischen kreativen Eigenwelten und republikanischem Druck. Musliminnen nord- und westafrikanischer Herkunft in Frankreich«. In: Ruth Klein-Hessling / Sigrid Nökel / Karin Werner (Hg.), Der neue Islam der Frauen. Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne, Bielefeld: transcript, S. 62-80. Schlee, Günther / Werner, Karin (Hg.) (1996): Inklusion und Exklusion. Die Dynamik von Grenzziehungen im Spannungsfeld von Markt, Staat und Ethnizität, Köln: Rüdiger Köppe. Timera, Mahamet (1996): Les Soninké en France. D’une histoire à l’autre, Paris: Karthala. Timera, Mahamet (1997): »Sans-Papiers africains face aux ›communautés‹ d’origine«. In: Didier Fassin / Alain Morice / Catherine Quiminal (Sous la dir. de), Les lois de l’inhospitalité. Les politiques d’immigration à l’épreuve des sans-papiers, Paris: La Découverte. Werner, Karin (1997): Between Westernization and the Veil: Contemporary Lifestyles of Women in Cairo, Bielefeld: transcript.

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Transvergesellschaftung und Nationenbildung in Zentralasien

Formen der Transvergesellschaftung als gegenläufige Prozesse zur Nationenbildung in Zentralasien Markus Kaiser1

Zentral- und Kleinasien waren Kreuzungspunkte antiker Handelswege und Ursprungs-, aber auch Zielgebiete verschiedener Eroberungswellen und Einflusssphären mit ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Konsequenzen. Es sind Regionen, in denen eine Vielzahl von Gruppenidentitäten nebeneinander existieren. Heterogene Bevölkerungsstruktur und segmentäre Sozialorganisation haben zu einer parallelen Existenz diverser Identitätsebenen geführt. Die zusammenhängende Landfläche Eurasiens erlaubte von jeher eine höhere Mobilität und lässt Migration als eine Dimension von Integration vermuten (Evers / Kaiser 2000). Globalität oder multilokale Verortung und Lokalität werden in der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur nicht mehr ausschließlich oder nur vorrangig als Gegensatz verstanden, sondern als wechselseitig vermittelte Instanzen, die nur in Bezug aufeinander verständlich werden (Nederveen Pieterse 1994). Lokalität erscheint in dieser Sicht nicht mehr als statisch oder einfach gegeben. Vielmehr wird sie nun ihrerseits als Gegenstand sozialer Praxis und Konstruktion untersucht. Appadurai (1995, 1996) sieht hier zudem die Grundlage für einen Auflösungsprozess eines territorial gebundenen Verständnisses von Gesellschaft: Die Enträumlichung des Sozialen stellt nicht nur die Ortsgebundenheit, sondern oft sogar die Ortsbezogenheit der Produktion von kollektiven Identitäten zunehmend in Frage. Denn die von Appadurai und Nederveen Pieterse beschriebene

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Markus Kaiser

Imagination möglicher Leben ist zunehmend eine Melange von Identifikationsangeboten, die zur eigenen Identitätskonstruktion herausgegriffen und neu kombiniert werden. Islam und Turan sind in Zentralasien grenzüberschreitende, übergeordnete Identitätsmarker und Elemente eurasischer Integration (Evers / Kaiser 2000), deren integrative Bedeutung im Kontext der Nationenbildung aufgezeigt werden soll. Islam und Turan werden aktiviert zur Konstruktion und Imagination sowohl nationaler als auch grenzüberschreitender Identitätskonzepte. »Barqarorlik eng katta boyligimiz« (Stabilität ist unser größter Reichtum)2 Mit dem Zerfall und der Auflösung der Sowjetunion erschienen neue Nationalstaaten auf der Bühne des internationalen Staatensystems. Usbekistan wurde 1991 in den Grenzen der alten Sowjetrepublik für unabhängig erklärt, womit die Grenzziehung basierend auf ethnischer Verschiedenheit zwischen den Unionsrepubliken der Sowjetunion in nationale Grenzen zwischen neuen unabhängigen Staaten weiter fest zementiert wurde. Seitdem wird versucht, in Abgrenzung zu dem lange ›verordneten‹ Internationalismus und der Zugehörigkeit zu dem Verbund der UdSSR eine eigene nationale, usbekische Symbolik und Identität zu (re-)aktivieren. Die regionale Geschichte wird in diesem Prozess uminterpretiert und umgeschrieben, um nationale Interessen zu legitimieren und Identitätsbildungsprozesse zu fördern. So wird Amir Timur3 heute als usbekischer Nationalheld verehrt (Hegarthy 1995). Auch mit Hilfe der Nationalisierung von Sprache, Kultur und Religion wird von den Eliten der Staaten Zentralasiens versucht, einen eigenständigen, ›kleineren‹ nationalen Vergesellschaftungsraum4 zu etablieren. Das Usbekische wurde zur Nationalsprache erklärt und gewinnt gegenüber dem Russischen immer mehr an Bedeutung. Es ist darüber hinaus geplant, die kyrillische Schreibweise aufzugeben und statt ihrer die lateinische Schrift einzuführen. Neue Schulbücher werden bereits in Seminaren für Lehrer erprobt. Der Islam als Religion der großen Mehrheit der Bevölkerung wird inzwischen in Abkehr von der ehemals von Moskau forcierten ›Atheismus-Kampagne‹ gesellschaftlich anerkannt. Nach der Unabhängigkeit wurden z. B. zahlreiche Moscheen und islamische Schulen (Medressen) (wieder-)eröffnet und religiöse

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Transvergesellschaftung und Nationenbildung in Zentralasien

Bräuche, die in der Sowjetzeit als ›Relikte des Feudalismus‹ bekämpft worden waren, als Bestandteile der nationalen Kultur und Tradition akzeptiert (Geiß 1996: 176). Die jetzige usbekische Regierung unter ihrem Präsidenten Islam Karimov ist bestrebt, Islam und türkische Identifikationsmuster zur (fortgesetzten) Usbekisierung zu nutzen (vgl. Halbach 1991, 1993). So erlernten er und seine Familie die usbekische Sprache, die der sowjetisierte Alt-Kader – so die Presse – zuvor nicht gebraucht hatte, pilgerte selbst nach Mekka und hielt den Koran beim Eid auf die Verfassung in der Hand (Richter / Baumann / Liebner 1999: 298). Den ›eigenen Weg‹ begründet Karimov mit der Unabhängigkeit Usbekistans und stellte fest, dass »jedes Land, das seine Unabhängigkeit errang, seinen eigenen Entwicklungsweg suchte und sich sein Entwicklungsmodell einer neuen Gesellschaft schuf« (Karimov 1992: 9). Die Basis sieht er in der »national-historischen Lebensweise der Bevölkerung, ihrer Denkweise, den Volkstraditionen und -sitten« (Karimov 1992: 11). Erfolgreich ist er, insofern eine Abgrenzung zu Moskau, zu Russland und der sowjetischen Vergangenheit gelungen ist und Usbekistan, das bevölkerungsreichste Land der Region, eine regionale Vormachtstellung reklamieren konnte. Die neuen nationalen Grenzen in Zentralasien basieren auf den Grenzziehungen und Unterscheidungsmustern zwischen den Titularnationen der Sowjetrepubliken und stellen allenfalls eine postsowjetische Kontinuität dar, die eigentlich nicht erlaubt, von einem historischen usbekischen Nationalismus zu sprechen.5 Außer den sowjetischen Quellen konstatieren die meisten Arbeiten nur sehr schwache bzw. überhaupt keine ethnischen Distinktionsmuster vor der Oktoberrevolution. Nach Critchlow war die »national delimination of 1924 […] in many ways a giant ethnic oversimplification. Many members of the emergent nationalities had only a tenous to their national classification. In the case of the ›Uzbeks‹, many were more apt to think of themselves primarily in other terms, as members of tribes […], or as inhabitants of localities« (Critchlow 1991: 11).

Die Beliebigkeit dieser ethnisch-nationalen Grenzziehungen wird anhand der Tatsache deutlich, dass

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Markus Kaiser »language, religion, culture and lifestyles had so much in common that it was difficult to distinguish between different peoples. And ›national identity‹ certainly did not exist. The loyalty was to the tribe, clan and extended family, not the state« (Onaran 1994: 493).

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die Menschen in Zentralasien eher mit lokalen, kommunalen und stammesmäßigen Kollektiven, Sprachgruppen und / oder der Glaubensgemeinschaft des Islams – auch über die neuen staatlichen Grenzen hinweg – als mit einer Nationalität identifizier(t)en. Trotzdem basiert die Stabilität – laut usbekischen Plakatwänden der größte Reichtum des Landes – auf postsowjetischer Kontinuität in der Grenzziehung entlang ethno-nationaler Verschiedenheit. Die Nationenbildung in Usbekistan ist – und auch das ist eine postsowjetische Kontinuität – ein Projekt der staatlichen Elite nach dem Muster »der Staat schafft sich seine Nation«. Neben der Nationalisierung von Geschichte, Sprache und Kultur werden unter anderem nationale Symbole, Bildungssysteme und Medienlandschaften entworfen. Translokale Vergesellschaftungsformen6 Seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten werden – wie dargestellt wurde – von den politischen Zentren ausgehend nationale Politikmuster etabliert, die paradoxerweise an den Grenzziehungen zwischen ethno-nationaler Verschiedenheit vehement festhalten. Diese treffen auf grenzüberschreitende translokale Strukturformen – wie z. B. Infrastruktur und Wirtschaftsbeziehungen – und translokale Mikrostrukturen von Lebensprojekten von Migranten, Pilgern, Händlern und vielen anderen mehr. Auch die Nationalisierung von Sprache, Kultur und Religion zur Integration nach innen stößt dort an ihre Grenzen, wo durch die Identifikationsmuster über die neuen nationalen Grenzen hinaus bestehende Verbindungen aufrecht erhalten bzw. intensiviert und auch neue etabliert werden (Hannerz 1996). Hier werden augenscheinlich vorsowjetische Identifikationsmuster wieder aufgenommen.7 Translokalität wird hier als ein innovatives Milieu verstanden, in dem neue Formen sozialen Lebens sowie neue politische Artikulationsmöglichkeiten geschaffen werden, die sich auf die (Re-)Konstruktion des Natio-

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Transvergesellschaftung und Nationenbildung in Zentralasien

nalstaates beziehen. Die neuen nationalen Bestrebungen müssen mit den grenzüberschreitenden translokalen Vergesellschaftungsmustern zumindest koexistieren, wenn nicht sogar konkurrieren. Ein Spannungsverhältnis besteht darin, dass einerseits der nationalen Abgrenzung gesellschaftliche Realitäten entgegenstehen und andererseits die Ausgestaltung des Nationalstaates immer wieder von erfolgreich transnational (translokal strukturierten und in Bezug auf den Nationalstaat aktiven) agierenden Gruppen beeinflusst oder in Frage gestellt wird. Die translokalen Verflechtungen mit der Türkei und den anderen Gebieten mit turksprachiger Bevölkerung sowie die translokalen muslimischen Vernetzungen stellen hierbei die wesentlichen Herausforderungen an die neuen unabhängigen Nationalstaaten in Zentralasien dar.8 Transturanische Verbindungen oder Panturkismus Die türkische Perspektive: Politiker, Parteien und Medien Die gesellschaftlichen Visionen einer usbekisch-türkischen Translokalität haben einerseits durch die Nichtaufnahme der Türkei in die Europäische Union und andererseits durch die möglich gewordene Ostorientierung der Türkei an Bedeutung gewonnen. Die Türkei nimmt als Vermittler zwischen Ost und West eine Neuorientierung ihrer Außenpolitik vor. Damit versucht sie, ihre außenpolitische Isolation aufzuheben. Mit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten erwachte der Panturkismus in der Türkei und den anderen Turkstaaten und -gebieten zu neuem Leben, allerdings von unterschiedlichen Interessengruppen propagiert. Huntington konstatiert: »Having rejected Mecca, and then being rejected by Brussels, where does Turkey look? Tashkent may be the answer« (Huntington 1993: 42).

Türkische Politiker wie der damalige Präsident Özal, sein Nachfolger Demirel oder der rechtsextreme Turkes Arslan, der Demirel bei seiner Zentralasienreise 1992 begleitete, beschworen nach der Unabhängigkeit der vormaligen Sowjetrepubliken die Einheit der Turkvölker, ihre kulturelle Nähe und eine daraus quasi-natürlich folgende Formierung zu einem einheitlichen Machtblock südlich von Russland. Nach Landau (1988) betreibt die Türkei einen »Kultur-Panturkismus« und nicht

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einen »politischen Panturkismus«, d. h., ihre Bestrebungen zielen auf eine kulturelle Integration ohne Ambitionen auf eine andere staatliche Ordnung der Region. Einerseits instrumentalisiert die türkische Regierung die usbekischtürkische Translokalität, bestehend aus gesellschaftlichen Mikrostrukturen einer Vielzahl von Menschen mit transturanischen politischen Bestrebungen, andererseits wird von vielen Pendlern zwischen Bosporus und Amur Darja die Türkei als Modell idealisiert. In Gesprächen wurden neben dem Säkularismus die wirtschaftlichen Freiräume, die Medien- und Parteienvielfalt genannt. Politische Visionen einer Translokalität scheinen insbesondere dann eine besondere Herausforderung für den Nationalstaat darzustellen, wenn ihr außerhalb seines Territoriums staatliche oder zivilgesellschaftliche Unterstützung zuteil wird.9 Die gemeinsame Erfahrung in einer anderen Gesellschaft mit einem anderen politischen System verbindet Usbeken, Kasachen, Tadschiken unterschiedlichster Berufszugehörigkeit u. a. in ihrer politischen Vision für ihr zentralasiatisches Heimatland. Die Beziehungen zwischen der Türkei und den zentralasiatischen Turkvölkern blicken zudem auf eine lange Geschichte zurück, was sich insbesondere an panturkistischen Ideologien und Bewegungen zeigt. Diese Verbindungen wurden zur Zeit der Sowjetunion unterbunden (Landau 1995a / b) und waren auch in der kemalistischen Türkei unpopulär (Dirgen 1994). Mit der Unabhängigkeit der Turkrepubliken änderte sich die innenpolitische Situation in der Türkei. Die panturkistische Bewegung schaffte bereits 1991 durch die politische Vision eines Panturkismus mit 19 Abgeordneten der Milliyetci Calisma Partisill (Nationale Arbeitspartei) den Einzug ins Parlament. Jedoch hat sie bis jetzt die Außentürken-Politik10 der türkischen Regierungen im Wesentlichen unterstützt, und ihr offizielles politisches Programm unterscheidet sich auch nicht grundsätzlich von der Regierungspolitik. Allerdings nehmen andere informelle panturkistische Gruppen eine radikalere Position ein. Sie beschuldigen die Regierung, Angst vor »Panturkismusvorwürfen« zu haben und an einem »EGSyndrom« zu leiden, d. h. sich gegenüber Europa gemäßigt zeigen zu wollen, und schlagen vor, dieses Syndrom endlich zu überwinden. Die panturkistische Bewegung in der Türkei formiert sich gegenwärtig neu. Die Milliyetci Calisma Partisill formuliert, dass man sich des Panturkismus nicht schämen darf und definiert ihn nicht mehr als

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Transvergesellschaftung und Nationenbildung in Zentralasien »die Einheit aller Turkvölker unter einer Flagge […], sondern als eine Einheit der unabhängigen Turkstaaten […] die allerdings auf stabilen ökonomischen Grundlagen beruhen und rationale Ziele haben soll« (Dirgen 1994: 69).

Beim Verfolgen der Diskussionen im Internet entsteht der Eindruck, dass manche Kreise die alten panturkistischen Ziele aufgeben oder sie ganz neu definieren, während andere nach wie vor an den alten Zielen festhalten und fordern, dass sich Süd- und Nordaserbaidschan wiedervereinigen, Kasachstan seine nuklearen Waffen behalten und NordZypern von den anderen Turkrepubliken anerkannt werden soll. Es scheint, dass die panturkistische Bewegung nicht nur in einen islamischen und einen nationalistischen, sondern auch in einen pragmatischen und einen traditionellen Flügel geteilt ist. Die Pragmatiker nähern sich an den Regierungskurs an und unterstützen einen wirtschaftlichen Panturkismus. Jedoch handelt es sich hier weitgehend um im nationalen Kontext entwickelte Politikmuster mit lediglich transnationaler (auf andere Nationalstaaten bezogene) Ausrichtung, die wiederum an politischen Machtverschiebungen innerhalb der nationalen Grenzen der Türkei orientiert sind. Die zentralasiatische Perspektive: Migranten, Händler und Produkte Es stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Formationen Träger einer Transvergesellschaftung sind bzw. sein könnten oder welche translokalen Lebensprojekte eine Integration durch Verschiedenheit aufgrund der Interaktionsprozesse an den Endpunkten der eigenen Beziehungsnetzwerke leisten. »Transvergesellschaftung« bezeichnet hier Vergesellschaftungsprozesse, die über die nationalen Grenzen der neu unabhängigen Staaten Zentralasiens hinaus verändert fortbestehen oder sich neu etablieren. Seit der Unabhängigkeit Usbekistans ist verstärkt die Herausbildung translokaler türkisch-nationalistischer Verbindungen zu beobachten, die in den türkischen Raum hineinreichen (Dirgen 1994; Winrow 1995a / b). Es entstehen vielfältige grenzüberschreitende Berufskarrieren, Familien- und Lebensprojekte, die aus der Akteursperspektive als turanisch translokale Mikrostrukturen bezeichnet werden können. Am augenscheinlichsten ist die Präsenz türkei-türkischer Firmen in Zentralasien. So wurde die beliebte Freizeitattraktion Aqua Park in Taschkent ebenso wie dortige Hotels und Restaurants von einem tür-

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kischen Konsortium errichtet. Im Zentrum von Taschkent verkaufen usbekisch-türkische joint-venture-Supermärkte türkische Waren, und ein mir-burger zieht Jugendliche seit 1996 mit seinen türkisch gewürzten Hamburgern an. Discotheken spielen türkische Musik, deren Texte mitgesungen und verstanden werden. Diese Unternehmungen bilden häufig, wie die Betreiber des Aqua Parks, ihr Personal in der Türkei aus. Ferner gibt es ein umfangreiches Programm für den Austausch von türkischen und zentralasiatischen Studenten. Die positive Sanktionierung dieser Entwicklung durch beide Staaten zeigt sich in der Gewährung gegenseitiger Visumsfreiheit für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten. Gerade Kleinhändler gaben an, hiervon zu profitieren, wobei restriktivere Grenzregime in Europa und anderen asiatischen Staaten den Handel erschweren. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Russland zum 1. Januar 2000 die Visumspflicht und den Nachweis von Einladungen für Bürger der zentralasiatischen Staaten eingeführt hat. Dies kommt einer offiziellen Negation der Kontinuität des postsowjetischen Vergesellschaftungsraumes gleich, da dies auch für den Besuch von Verwandten von ethnisch russischen Zentralasiaten gilt. Meine Untersuchungen zeigten, dass 83 % der von außerhalb der GUS stammenden Importwaren in Usbekistan, mit denen die grenzüberschreitend tätigen Kleinhändler handelten, aus Asien kamen (Kaiser 1998a: 83). Kleinhändler in Usbekistan verkaufen eine breite Palette von Waren aus der Türkei. In Istanbul und anderen türkischen Städten, insbesondere an der Schwarzmeerküste, haben sich daher Händlercommunities aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion etabliert. Die türkischen Hotelbesitzer, Produzenten und Zwischenhändler haben sich auf ihre neue Kundschaft und ihre Sprache, das Russische, eingestellt. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, im Hafen von Istanbul oder den Basaren auf kyrillische Schriftzeichen zu stoßen oder Konversation in russischer Sprache zu hören. Auch Speisekarten, Einkaufsführer oder Werbung jeglicher Art in russischer Sprache sind keine Seltenheit mehr. Trotz der Identifikation mit den Sprechern anderer Turksprachen und türkisch-islamischer Lebenswelt wurden ethnisch Andere integriert und Russisch ist die lingua franca des Kleinhandels. So kam es genauso zur Inklusion ukrainischer und russischer Händler in die Geschäftsbeziehungen in Istanbul und der Schwarz-

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meerregion wie zur Inklusion von Koreanern auf den Märkten in Taschkent und Almaty. Eine Infrastruktur, bestehend aus Hotels, Geschäftspartnern und Reisebüros, hat sich in Istanbul und anderen Orten etabliert. An diesen Orten findet ein Austausch von Handelsinformationen statt. Die usbekische Logistik- und Speditionsfirma Uzbek-Cargo, die von Istanbul aus für viele Händler deren Waren nach Taschkent befördert, ist auch ein Teil dieser Infrastruktur. Die usbekischen Händler sind hier ein Teil der postsowjetischen Warenökonomie. Die zentralasiatischen Grenzen nach China, Russland und dem Nahen Osten sind ein wichtiges Element der dortigen Handelsentwicklung. Gleiches gilt für die ausgedehnten informellen Netzwerke und klanähnlichen Organisationen, die neue Mikrostrukturen im Kontext der derzeitigen postkommunistischen Bedingungen entwickelt haben (Evers / Kaiser 2000; Kaiser 1998a). Die Zunahme grenzüberschreitender Tagesreisen zu Handelszwecken ist durch die Grenzöffnungen, Neuregulierungen des Grenzverkehrs und die ungleichen lokalen Angebots- und Nachfragesituationen zu erklären. Es ist dadurch ein Marktsystem zusammenhängender Marktplätze mit lokaler, regionaler oder transnationaler Bedeutung entstanden. Die neuen Marktbeziehungen integrieren sich in ganz bestimmte soziale und kulturelle Milieus, die einerseits aus alten Sowjetzeiten stammen und sich andererseits in einem dynamischen Transformationsprozess befinden (Kaiser 1998a). Die bestehenden Parallelen zwischen den derzeitigen Handelsmustern quer durch den turksprachigen Raum und den früheren der »Großen Seidenstraße« bestärken die Idee einer Wiederbelebung Letzterer. Bereits zu Zeiten der Seidenstraße haben Unbequemlichkeit, Banditentum, zeitliche Verzögerungen und Risiken in der Fremde es eher unwahrscheinlich gemacht, den transkontinentalen Handel in einem Handelsweg oder über eine einzige Netzwerkverbindung durchzuführen. Vielmehr wurden die Waren von Karawansarei zu Karawansarei, die den Händlern Schutz boten, gebracht und wieder gehandelt. Die Waren wechselten daher häufig ihren Besitzer und bewegten sich über eine Vielzahl von Zwischenhändlern vorwärts. Hierbei ergab es sich, dass die Waren über ethnische Grenzen hinweg befördert wurden. Handel hatte daher seit jeher eine integrative Funktion, und

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Marktplätze waren und sind Orte, an denen Verschiedenheit Handel eher fördert und Handel ethnische Differenzen aufrecht erhält (Evers / Schrader 1994). Waren Karawanen zur Zeit der Seidenstraße häufig Ziel von Überfällen, so wird heutzutage berichtet, dass Banditen selbst auf den Autobahnstrecken zwischen der Türkei und Usbekistan agieren und die Waren geschützt werden müssen. Der iranische Zoll, so berichteten die Händler, würde von fünf Lastwagen einen beschlagnahmen, was auch als eine Art Wegezoll betrachtet werden könne. Die Waren bewegen sich heute wie damals in einer stop-and-go-Weise und werden von einem Markt zum anderen verschoben. Ähnlich wie in den alten Tagen kann man das Auftauchen von Handelsstationen und Grenzmärkten an jeder bedeutenderen Straßenkreuzung der Überlandstraßen und an den nationalen Grenzen beobachten. In den Grenzstädten entstehen besondere Containermärkte. In Chardjou, einer Stadt in Turkmenistan an der Grenze zu Usbekistan, wurde beispielsweise ein solcher Containerbasar errichtet, als die usbekische Regierung nur noch die Einfuhr kleiner Warenmengen erlaubte. Größere Handelsgeschäfte werden an den großen Dreh- und Angelpunkten der GUS-Staaten getätigt, die entweder einen internationalen Flughafen oder Schifffahrtshafen beheimaten. In Usbekistan ist es der Ippodrom-Markt in Taschkent, in der Ukraine sind es der Hafenund der Veteranenmarkt in Odessa, da die Stadt an der Schwarzmeerküste liegt. Die transturanische Perspektive: Kultur, Medien, Sprache und Symbole Die Händler aus den Transformationsländern transportieren mit den materiellen Gütern auch »attitudes of consumerism«, womit auch der türkische Lebensstil nach Zentralasien gelangt. Gerade die Musliminnen Zentralasiens lesen mit Interesse muslimische Modezeitschriften und richten ihre Lebensführung danach aus, auch weil afghanische oder iranische Lebensmuster und -stile nicht gefallen. Mittels moderner Kommunikationsmedien eignen sich diese Gruppen einen modernen türkischen Raum an. Einen wichtigen Motor der kulturellen Integration stellen die türkischen Fernsehsendungen dar, die seit Mai 1992 in den Turkrepubliken ausgestrahlt werden. Die Programme des Fernsehsenders TRT-IMT AVRASYA (Eurasien) stammen zumeist aus der Türkei, wobei auch einige wenige in Zentralasien

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produzierte Programme gesendet werden. Der türkische Sender TRTIMT ist stolz darauf, dass nun das staatliche türkische Fernsehen mit seinen Sendungen von Europa bis China und von Afrika bis Sibirien empfangen werden kann und somit fast so weit reicht wie CNN. Auch die türkische Presse ist bereits in den Turkrepubliken aktiv. Die nationalistisch-islamische Zeitung Zaman und die staatsnahe Hürriyet werden bereits in einigen Staaten Zentralasiens gedruckt und vertrieben. Diese Medienlandschaft dient ebenfalls dazu, einen türkischen Kulturraum zu schaffen und zu integrieren. Häufig wird im medialen Diskurs auf das Asiatisch-Sein in Zentralasien in Abgrenzung zu den europäischen Transformationsländern verwiesen, wobei das türkei-türkische Identitätsmuster für asiatische Werte steht. Das Kollektiv stehe im asiatisch-türkischen Denken traditionell vor dem Individuum, lauten populäre Argumentationen. Das asiatische Entwicklungsmodell, bei dem die Einführung der Marktwirtschaft bei nachfolgender Demokratisierung erfolgt, wird so auch gegenüber osteuropäischen Modellen einer gleichzeitigen Demokratisierung bevorzugt. In Bezug auf die voranschreitende türkisch-islamische Integration sind auch die türkisch-islamischen chat-rooms des Internets zu nennen, die als sprachliche Vorreiter bereits vor dem Schulunterricht ein latinisiertes Russisch, Türkisch oder Usbekisch in ihren chats verwenden und somit entstehen lassen. Eine aktive Sprachpolitik zur Schaffung eines türkischen Raumes ist ein weiterer wesentlicher Faktor. In Istanbul wurde 1991 auf einem »Symposium der zeitgenössischen türkischen Alphabete« von Vertretern der türkischen Nationen (meist Sprachwissenschaftler) ein gemeinsames Türkisch-Alphabet mit 34 Buchstaben in lateinischer Schrift erarbeitet. Dieses Alphabet wurde später in einer Versammlung beim türkischen Kultusministerium in Ankara mit über 400 Gästen aus verschiedenen Turknationen angenommen und auf dem »Kongress der Welttürken« in Antalya im März 1993 ebenfalls bestätigt. Dieser Kongress trat unter Gaspiralis11 Motto »Einheit in der Sprache, im Gedanken und in der Arbeit« zusammen. Es wurde ein ›Hoher Rat der türkischen Republiken‹ mit Beteiligung der Staatspräsidenten, Ministerpräsidenten und der Außenminister der unabhängigen türkischen Republiken eingerichtet. Ferner wurde eine parlamentarische Arbeitsgruppe unter den türkischen Staaten für die Lösung der sozialen, kul-

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turellen und wirtschaftlichen Fragen initiiert. All diese diplomatische Bemühungen stellen ebenfalls eine Ebene der Integration einer Region dar. Unter Benutzung der festgelegten Buchstaben dürfen sich die türkischen Nationen ihre nationalen Alphabete zusammenstellen (Ercilasun 1993: 186f., zit. nach Yildirim 2000: 43). Es wurde zusätzlich vereinbart, dass alle Buchstaben in den Schulen gelehrt werden sollen, auch dann, wenn ein Land nicht alle Buchstaben in sein Alphabet aufnimmt (Korkmaz 1998: 13, zit. nach Yildirim 2000: 43). Yildirim konstatiert weiter, dass »auf diese Weise mehr oder weniger eine Verpflichtung zum Erlernen des gesamten türkischen Alphabetes stattfindet« (Yildirim 2000: 43). Die usbekische Regierung hat, sich einen minimalen Spielraum nationaler Sprachpolitik wahrend, ein Alphabet mit lateinischen Buchstaben erstellt, welches mit keinem anderen Alphabet der türkischen Staatenwelt völlig übereinstimmt.12 Interessanterweise hat als Erster der usbekische Fernsehsender Yoshlar Kanali, der jugendliche Zuschauer als Zielgruppe hat, seine Ausstrahlungen auf das latinisierte Usbekisch umgestellt. Die anderen Fernsehkanäle benutzen bei weitem nicht derart ausgeprägt das lateinische Alphabet. Es bleibt aber abzuwarten, ob diese jetzt geschaffenen minimalen sprachlichen Unterschiede erhalten bleiben, zumal auch die türkei-türkischen EurasiaProgramme nicht in die lokalen Turksprachen übersetzt werden. Eine weitere soziale, kulturelle und ökonomische Integration des turksprachigen Raumes könnte noch aufrecht erhaltene sprachliche Unterschiede in der Sprachpraxis (und nicht nur beim chatten) weiter nivellieren. Die Aneignung des gemeinsamen türkischen Raumes artikuliert sich auch bereits auf der Ebene von Symbolen. So werden Straßen in Usbekistan nach türkischen Heldenfiguren benannt, die nicht als zur usbekischen Geschichte gehörend reklamiert werden. So wurden einige Straßen beispielsweise auch nach Kemal Atatürk benannt, wodurch zumindest eine gewisse Akzeptanz gegenüber einer politischen Figur signalisiert wird, die für die Türkei von enorm großer politischer Bedeutung ist. Im Gegenzug werden Straßennamen in der Türkei vermehrt nach bedeutenden Persönlichkeiten und Orten in Usbekistan und anderen Turknationen benannt. In einem der gehobenen Wohn-

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viertel der Stadt Ankara (Bahcelievler) ist eine Straße beispielsweise nach der Hauptstadt Usbekistans benannt worden (Yildirim 2000: 58). Parallel zur Etablierung eines auf medialer, wissenschaftlicher, diplomatischer und symbolischer Ebene situierten »türkischen« Raumes agieren translokal aktive zivilgesellschaftliche Gruppen zwischen der Türkei und Usbekistan, die säkular, politisch oder religiös orientiert sind.13 Sufi-Bruderschaften, die untereinander kooperieren, sind hierfür ein Beispiel. Mit ihrem Wachstum überqueren religiöse Bruderschaften mit Leichtigkeit ethnische und nationale Grenzen (Schlee 2000: 13). Monika Salzbrunn berichtet beispielsweise von den Naqshbandiyya und ihren Beziehungen zur Tabligh-al-Jama’aat, »die sich von Usbekistan über Zypern und Saudi-Arabien nach Neuseeland erstrecken« (Salzbrunn 2000). Auch usbekische Oppositionelle wie z. B. der Birlik-Führer Abdurahim Pulatov und Muhammad Salih von der Erk-Partei agieren von Istanbul, ihrem politischen Exil, aus (Hiro 1998: 19; Kangas 1995: 279).14 Beide sind prominente Beispiele translokaler Persönlichkeiten und Vertreter der politischen Opposition Usbekistans, die weltweit zu Vorträgen eingeladen werden. In ihrem Heimatland lassen sie sich durch Familienmitglieder oder politische Freunde in der öffentlich-politischen Diskussion vertreten. Neben politischen und religiösen Führern sind in Istanbul und anderen türkischen Städten Händler, Entwicklungsexperten, Regierungsberater, Repräsentanten von Firmen, Studenten etc. aus beruflichen Gründen Teil einer usbekisch-türkischen translokalen Mikrostruktur. Viele Kleinhändler gaben in Interviews in Taschkent an, dass sie ihre Waren auf organisierten shopping-tours erwerben und auch einige Tage Urlaub in der Türkei machen würden. Die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure bewirkt eine zunehmende Interdependenz in Asien. Ihre translokal agierenden Trägergruppen stehen im Zentrum der Integration Zentralasiens und des von einer rapiden Marktexpansion geprägten Nahen Ostens sowie des südostasiatischen Raumes (Evers / Kaiser 2000). Im medialen und öffentlichen Diskurs über staatliche, religiöse und gesellschaftliche Visionen und über asiatische Werte zeigt sich jedoch, dass die türkeitürkische Verbindung dominierend ist. Dies erklärt sich aus der größe-

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ren kulturellen Nähe einerseits und der weit größeren Interaktionshäufigkeit andererseits. Zu diesen Protagonisten türkisch-asiatischer Netzwerke kommen Migrantenpopulationen, die typischerweise einen wesentlichen Bestandteil einer jeden Translokalität ausmachen (Peleikis 1997, 2000). So hat die Türkei bereits in den 1950er Jahren turkestanische Flüchtlinge aufgenommen, die hauptsächlich aus Ostturkestan (dem heutigen Xinkiang) stammten. Zwischen 1950 und 1958 kamen 640 kasachische Familien bzw. 1665 Kasachen aus Xinkiang in die Türkei. Ebenso migrierten immer wieder kleine Gruppen aus den anderen Turkvölkern in die Türkei. 1950 kamen aus Pakistan und 1968 aus Afghanistan uigurische Flüchtlinge in die Türkei, die Xinkiang bereits nach der kommunistischen Machtübernahme verlassen hatten. Ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten 100 usbekische Familien aus Westeuropa in die Türkei aus und 1957 kamen 47 turkmenische Familien über Tokio in die Türkei (Dirgen 1994). Die Ansiedlung der während der Pogrome im Fergana-Tal im Dreiländereck von Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan vertriebenen Turk-Mescheten ist ein weiteres Beispiel aus den 1990er Jahren. Diese unterschiedlichen Personengruppen von Migranten, Händlern, Pilgern und anderen Pendlern stellen die Elemente einer turanischen translokalen Mikrostruktur dar. Die Etablierung politischer Visionen und gesellschaftlicher Vorstellungen in Bezug auf einen usbekischen Nationalstaat, der am turanischen Kulturgut festhält, integriert sie jenseits ihrer Verschiedenheit. Sie konkurrieren insofern nicht nur mit Vorstellungen des postsowjetischen Staates, sondern auch mit den translokal agierenden zivilgesellschaftlichen Akteuren islamischer oder postsowjetischer Prägung (vgl. u. a. Kaiser 2000). Transislam Neben diesen translokalen türkisch-usbekischen Verbindungen und der Kontinuität postsowjetischer translokaler Beziehungen (vgl. hierzu: Kaiser 2000) existieren vielfältige translokale muslimische Beziehungen. So haben Pilgerreisen der Muslime aus Zentralasien und China nach Mekka aufgrund der Grenzöffnungen zugenommen (Gladney 1992: 6; Eickelman / Piscatori 1996; Eickelman 1997). Im Islam werden wirtschaftliche Aktivitäten nicht negativ sanktioniert. Ein Kleinhändler konstatierte, dass »eine Pilgerreise nach Mekka Hand in Hand mit

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meinen Geschäften gehen kann«. Selbst usbekische Sufi-Anhänger finanzierten ihre Reise ins türkische Konya durch die Mitnahme von Waren. Auch hier fallen religiöse und wirtschaftliche Mobilität und Netzwerke zusammen. Viele der Kleinhändler nutzen die subventionierten Flugpreise der Usbekistan Airways, um den Hajj nach Mekka zu absolvieren und bei einem Zwischenstopp in Dubai Hightech-Elektronik einzukaufen. Wirtschaftliche, kulturelle und spirituelle Integration finden parallel statt und schaffen eine transislamische Vergesellschaftungsstruktur. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl transislamischer grenzüberschreitender Bewegungen, die die religiösen Dimensionen einer zentralasiatischen gesellschaftlichen Integration konstituieren. Wirtschaftliche wie auch religiöse Mobilität (z. B. Reisen nach Mekka) haben große Vorteile – sozialen und wirtschaftlichen Prestigegewinn eingeschlossen. Ein Effekt neuer religiöser Bewegungen zeigt sich in den entstehenden transnationalen islamischen Verbindungen (Beller-Hann 1998; Gladney 1992). Eickelman (1997) zeigte, dass es sich bei den islamischen Verbindungen um translokale Netzwerke handelt, die in seinem Beispiel die Türkei, die türkische Minderheit in Deutschland und deren Aktivitäten in Zentralasien umfassen. Er schreibt: »Turkish-speaking Muslim activists based in Germany, for example, have entered Uzbekistan and the other Central Asian republics as teachers of language and religion. They fund mosques, create religious study groups, and select promising Central Asian youth for further study and training in Germany« (Eickelman 1997: 33).

Susanne Hoeber Rudolph und James Piscatori (1997) prägten für derartige Phänomene im selben Band die Begrifflichkeit von »transnationalism of Islam«. Auf die Selbstorganisation der Muslime in Sufi-Gemeinschaften eingehend stellen sie fest, dass dabei nicht nur offizielle, sondern auch inoffizielle religiöse Organisationen eine Rolle spielen. Bereits angesprochen wurden die Sufi-Verbindungen mit der Türkei. Schon lange vor der Unabhängigkeit Usbekistans waren religiöse Bruderschaften in Zentralasien innerhalb der sowjetischen Staatsgrenzen grenzüberschreitend aktiv (Bennigsen / Lemercier-Quelquejay 1986; Bennigsen / Wimbush 1986). Obwohl der sowjetische Staat ver-

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suchte, die Aktivitäten der islamischen Führer durch die Einführung eines staatlichen spirituellen Direktorats zu kontrollieren, konnten Vertreter des sogenannten »parallelen Islams«, der – so sein Name – parallel zum offiziellen, von den sowjetischen Autoritäten etablierten und tolerierten Islam und dessen Muftis existierte, auch weiterhin im Untergrund tätig sein. Von dort aus unterhielten sie translokale Verbindungen in andere zentralasiatische Sowjetrepubliken (Abduvakhitov 1993: 82ff.; Rakowska-Harmstone 1983). Diese Einbindung lokaler zentralasiatischer religiöser Institutionen in translokale muslimische Verbindungen wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung bisher kaum thematisiert. So können religiös-islamische Bewegungen wie beispielsweise die »Islamische Renaissance Partei«, die sich während der Glasnost-Zeit in unterschiedlichen zentralasiatischen Republiken formierten und über deren Grenzen hinaus aktiv waren, als moderne translokale, religiöse, zivilgesellschaftliche Gruppen bezeichnet werden (vgl. Klein-Hessling 1999; Eickelman / Piscatori 1996: 136ff.; Eickelman 1997; Gladney 1992), die ihre Vorstellungen in Bezug auf die Verfasstheit der zentralasiatischen Nationalstaaten haben. Die überwiegende Mehrzahl der zentralasiatischen Muslime bekennt sich zur Sunna und gehört wie die Türkei-Türken dem hanafitischen Ritus an,15 was zu einem regen Austausch an religiösem Personal und Material führt. So hören Muslime in Taschkent und Istanbul dieselben Audio- und Videokassetten mit Koranrezitationen. Die Islamisierung der Kirgisen, die weit später und fast ausschließlich durch Sufi-Orden erfolgte,16 ergibt entsprechend andere transislamische Vernetzungen innerhalb der Sufi-Gemeinschaft, die deshalb aber nicht weniger grenzüberschreitend erfolgen. Die islamischen translokalen Verbindungen entwickelten sich – außer von der Hauptstadt Taschkent aus – insbesondere in den usbekischen Städten Samarkand und Buchara aus dem Umfeld von Vertretern des früheren parallelen Islams. Die Öffnung der Grenzen ermöglichte die Wiederaufnahme religiöser Beziehungen über den sowjetischen Vergesellschaftungsraum hinaus. So wurde 1990 zum ersten Mal in der Geschichte sowjetischer und arabischer Beziehungen für Muslime aus Zentralasien eine Pilgerfahrt nach Mekka (Hajj) organisiert17 – dem heiligsten aller Orte für alle Muslime, folglich auch für die Muslime des ehemaligen sowjetischen Vergesellschaftungsraumes von

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Sankt Petersburg bis Wladiwostok, die sich dort treffen und einen Teil der Umma al Islam bilden. Muslime, die den Hajj absolviert haben, fungieren heutzutage in Usbekistan oft als religiöse Multiplikatoren, deren Wissen die Herausbildung neuer lokaler muslimischer Identitäten prägt. In einer Abschieds- und in einer Begrüßungszeremonie werden die Pilger von der Mahalla (in diesem Sinn ›Gemeinschaft‹) nach Mekka verabschiedet und wieder willkommen geheißen. Hier handelt es sich um die Wiederbelebung einer Tradition, die erst wieder durch die Möglichkeit des Pilgerns nach Mekka praktiziert werden kann. Diese Rituale unterstehen keiner strikten religiösen Ordnung. Der Pilger bittet vor der Pilgerreise um die Vergebung all seiner Schuld in der Mahalla. Er gibt ein Abschiedsessen, den traditionellen Plov.18 Nach seiner Rückkehr beschenkt der Pilger seine Verwandten und Bekannten, und er bringt nach Möglichkeit einige Liter von dem heiligen Zam-Zam-Wasser aus Mekka mit, von dem seine Besucher trinken dürfen (Yildirim 2000: 76). Diese Rituale sind aufgrund der neuerlichen Pilgerreisen der zentralasiatischen Muslime relativ neue Erscheinungen im gesellschaftlichen Leben der Muslime in Usbekistan. Einige Pilger laden als Multiplikatoren ihre religiösen Zirkel und zahlende Kundschaft zu Sitzungen ein, bei denen auch Heilungsriten vollzogen werden.19 Religiöse Führungspersönlichkeiten haben Verbindungen zu einer Vielzahl muslimisch geprägter Gesellschaften – so nach Zentralasien und in den Iran, in die arabischen Staaten und bis nach Malaysia. Dort widmen sie sich u. a. weiterführenden religiösen Studien (Nagata 1994: 83; Abduvakhitov 1993, 1995; Evers / Kaiser 2000). Nach ihrer Rückkehr vermitteln sie ihre Erfahrungen an die Herkunftsgemeinschaft und tragen so dazu bei, eine neue islamische Identität zu konstruieren und zu verwurzeln. Dieser ›islamische Weg‹ distanziert sich selbstbewusst von einem ›sowjetisch-russifizierten‹ Selbstverständnis und zeigt neue Perspektiven einer spirituellen Transvergesellschaftung. Als generalisierende Kategorie umschließt die muslimische Identität in Zentralasien Menschen mit vielen kulturellen Differenzen, aber einigen grundlegenden Gemeinsamkeiten. So sind »the key elements of this conception of ›Muslim‹ […] the emphasis on being non-European, indigenous, and sharing a basic history, culture and relationship with the outside world« (Schoeberlein-Engel 1994: 223).

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Sie stellt hier eine Kategorie dar, die eher den zentralasiatischen Aspekt der Identität betont als den der Umma al Islam (Weltmuslime). Gerade auch in der Betonung des Nicht-Europäisch-Seins unterscheidet sich die gesellschaftliche Vision der zentralasiatisch-türkischen Translokalität von der islamischen. So lehnen die meisten Pendler in die Türkei die Vielehe, die offiziell weder in der Türkei noch in Usbekistan möglich ist, weiter ab. Im Gegensatz dazu erlauben muslimische Pilger sich weitere Ehefrauen mit dem Verweis auf das islamische Recht. Hat ihnen ihre erste Ehefrau beispielsweise keinen Sohn geboren, so legitimiert ihr in Pilgerreisen akkumuliertes ökonomisches und kulturelles Kapital das Eingehen weiterer, inoffizieller Ehen. Mir wurde wiederholt berichtet, dass in usbekischen und kasachischen Familien Frauen leben, die von ihren Familien toleriert regelmäßigen Besuch eines bereits offiziell verheirateten Gatten erhalten. Selbstredend werden sie und die Familie von ihm materiell unterhalten oder unterstützt.20 Pilgernde Händler orientieren sich hier an den gesellschaftlichen Realitäten ihrer Handelskontakte in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen muslimisch geprägten Gesellschaften. Insgesamt erfährt die Rolle der Religion in Usbekistan und den zentralasiatischen Nachbarländern eine Neubewertung. Krämer zeigte, ausgehend von indigenen, zivilgesellschaftlichen Kultzentren (wie beispielsweise heiligen Orten oder Grabstätten), wie kognitive Raster und rituelle Praktiken einer spezifischen zentralasiatischen muslimischen Praxis entwickelt wurden, die Ausdruck translokaler Vernetzungen sind (Krämer 1999). Pilgerfahrten sind ein zentrales Beispiel dieser religiösen Praxis. Die usbekische Regierung reagiert(e) auf die Transislamisierung über die nationale Inanspruchnahme des Islam hinaus, indem sie versucht(e), viele zur Sowjetzeit im Untergrund tätige Muftis dem offiziellen islamischen Establishment näherzubringen, das sie von der Sowjetunion übernommen hat. Damit wird seitens der staatlichen Eliten angestrebt, den Einfluss auf deren religiöse Interpretation und Praxis zu festigen (Geiß 1996). Nichtsdestotrotz sieht der usbekische Staat in den translokalen muslimischen Akteuren zunehmend eine ›fundamentalistische Gefahr‹, der er durch Verbote und Verfolgungen entgegentritt (Abduvakhitov 1993: 86). Es wird neuerdings von Schließungen von Medressen und dem Verbot der Ausübung privaten Religionsunterrichts berichtet. Im normativen staatlichen Diskurs wird in den

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Medien, nicht zuletzt nach den Bombenanschlägen vom Februar 1999, von der islamischen oder separatistischen Gefahr gesprochen.21 Nach diesen Ereignissen wurde sogar die Verhängung eines allgemeinen Internet-Verbots diskutiert, um die translokale Kommunikation zu unterbinden. Die translokalen Akteure sind vernetzt, setzen moderne Kommunikationsmedien ein und werden vom Nationalstaat als Herausforderung oder gar als Bedrohung wahrgenommen, weil sie zunehmend schlechter kontrollierbar sind. Es ist davon auszugehen, dass die Akteure des türkisch-nationalistischen und des islamischen translokalen sozialen Raumes nebeneinander bzw. in Konkurrenz zueinander existieren. Die verschiedenen Translokalitäten haben neue, unterschiedliche ›translokale Öffentlichkeiten‹ herausgebildet, deren Akteure miteinander um Formen und Visionen eines usbekischen Nationalstaates wetteifern. Der Charakter dieser Visionen divergiert sehr stark. Zusammenfassung und Ausblick In dieser Welt der Mobilität wird Entfernung zu einer Kategorie für soziale Analysen. Entfernungen und Grenzen sind gleichzeitig Hindernisse und Hilfsmittel. Händler übernehmen z. B. Risiken und sind deshalb der Übervorteilung und Bedrohung durch die Menschen an einem anderen Ort ausgesetzt. Kulturelle Verschiedenheit wird jedoch mittels gemeinsamer Handelsinteressen überwunden. Nationale Grenzen und Ökonomien sind eine Ressource für den grenzüberschreitenden Handel und Reiseverkehr. Auf diese Weise führt die nationale Vielfalt zu einer verstärkten Integration. Quer durch den turksprachigen Raum und darüber hinaus nach Russland, Europa und Asien erstrecken sich Handelsnetzwerke und eine postsowjetische Warenwelt. Eine weitere Frage ist, ob sich transnationale Identitäten, bezogen auf Handel oder Familiennetzwerke innerhalb der benachbarten Länder entwickeln. Meine eigenen Untersuchungen ergaben mehrere Beispiele für eine Tendenz zu transnationalen Verbindungen und Familiennetzwerken. So haben Usbeken und Türken ihre alten Netzwerke aufleben lassen, nachdem man ihnen erlaubt hatte, wieder zu reisen. Jedoch sind die von mir untersuchten Händlernetzwerke eingebettet in weit umfassendere Transvergesellschaftungsprozesse, die, wie dargestellt wurde, spirituelle und kulturell-historische Hintergründe haben.

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Dadurch wird ein sozialer Raum konstituiert, der wiederum die Möglichkeit eröffnet, aus Geschäftsgründen länger an fremden Orten zu verweilen, wodurch sich eine weitere Verfestigung der entstehenden Translokalitäten mit ihren wirtschaftlichen Planungen und Absichten ergibt. Es kommt zu einer Reterritorialisierung von Identitäten und Formen der (Trans-)Vergesellschaftung. Innerhalb translokaler Mikrostrukturen wird die Verwendung unterschiedlicher Strategien und Handlungsmodi im eigenen und fremden Kontext erwartet. Grundsätzlich konstituieren unterschiedliche Formen des Handelns ethnische Gruppen, aber auch Translokalitäten wie die türkisch-zentralasiatische oder die transislamische unterscheiden sich in ihrer Artikulation und ihren Visionen. Jedoch bilden einerseits bestimmte soziale Kategorisierungen Schnittmengen mit anderen Kategorien dieser Art, die nach anderen Kriterien vorgenommen werden (z. B. religiöse und sprachliche Unterscheidungen, die quer zu nationalstaatlichen verlaufen22). Dies kann, wenn die Notwendigkeit der Interaktion hinzukommt, zur Heranbildung von »cross-cutting ties« führen kann, was ein gemeinsames Fortbestehen auch einander in ihren Wertsetzungen widersprechender Identifikationen begünstigt. Andererseits werden ethnisch Andere – wie beschrieben – kleinräumig integriert (Schlee 2000: 15). Die dargestellten usbekisch-türkischen und islamischen Translokalitäten, bestehend aus »Nachbarschaften von abwesend Anwesenden« (Peleikis 1999, 2000), machen deutlich, dass ökonomisch motiviertes Handeln, moderne Kommunikationstechnologien, Mobilität und andere Beziehungen von Dauer sind und somit eine gemeinsame Welt jenseits von Grenzen und Verschiedenheit, eben Translokalitäten geschaffen wird. Die Etablierung türkisch-nationalistischer und muslimischer translokaler sozialer Räume stehen im Spannungsverhältnis zur Nationalstaatenbildung im postsowjetischen Vergesellschaftungsraum. In beiden unterschiedlichen translokalen Vergesellschaftungsräumen existieren typische kollektive Akteure. Während in Zentralasien allgemein zu den physischen Nachbarn unterschiedlicher ethnischer Zuordnung geringe Kontakte bestehen und verschiedene, translokal strukturierte Lebenswelten eingenommen werden (Krämer 1999), sind die hier beschriebenen translokalen Vergesellschaftungsräume ›gesichtsunabhän-

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gige‹, nicht in direkter Interaktion gründende Beziehungen, die allerdings auf gleichen Identitätsmerkmalen basieren, also »ethno-scapes«. Diese Gesellschaftsformationen zwischen Lokalität und Globalität können als moderne translokale, spirituelle bzw. kulturelle Vergesellschaftungsmuster bezeichnet werden. Erst in jüngster Zeit finden solche Phänomene auch in der sozialwissenschaftlichen und islamwissenschaftlichen Forschung vermehrt Beachtung (vgl. z. B. Eickelman / Piscatori 1996: 136ff.; Eickelman 1997; Gladney 1992). Die sozialwissenschaftliche Literatur richtete ihren Fokus zunächst auf global und translokal vernetzte Organisationen, NGOs und soziale Bewegungen, die an mehreren Orten gleichzeitig agieren. Später untersuchte sie auch ethnische oder religiöse Organisationen, wobei deutlich wird, dass auch andere Akteure ebenfalls transnationale Organisationsmuster schaffen.23 Wichtig an diesen Beiträgen ist, dass die Diskussion um Vergesellschaftung aus ihrem engen nationalstaatlichen Kontext herausgehoben und in Bezug zu globalen, übernationalen und translokalen Vernetzungen gestellt wird. Dabei wird die Emergenz einer transnationalen bzw. globalen Gesellschaft konstatiert, in der plurale soziale Aushandlungsprozesse auf globaler bzw. translokaler Ebene ausgetragen werden. Der Beitrag teilt insofern die grundlegende Einsicht, die sich im Kontext der Diskussionen um Globalisierung in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren herauskristallisiert hat, dass die Vorstellung vom Zusammenfallen von Nationalstaat, Nationalökonomie und nationaler Gesellschaft einer Revision bedarf. Dabei wird die (im nationalstaatlichen Begriff von Gesellschaft mitgedachte) Ortsbedingung von Gemeinschaft aufgehoben und es werden soziale Lebens- und Handlungszusammenhänge, neue soziale Landschaften (Albrow 1997) entworfen, die über die nationalstaatliche Eingebundenheit hinausgehen. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche konstituieren sich in translokalen Kontexten, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten. So stellt sich die Frage, welche Rolle diese neuen sozialen Konfigurationen und Strukturierungen von Gesellschaften für Rekonstituierungsprozesse von Nationalstaaten – nicht nur im Vergesellschaftungsraum der ehemaligen Sowjetunion – spielen. Der Beitrag schlägt daher vor, die nationalstaatliche Perspektive von Gesellschaftsformation zumindest um eine translokale bzw. transnationale Komponente zu erweitern, wenn nicht gar Erstere fallen zu lassen.

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Anmerkungen 1 Der Autor hat am Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie mit einer Arbeit zum Thema »Reopening of the Silk Road. International informal sector trade in post-Soviet Uzbekistan« (Kaiser 1998a) promoviert. Die Arbeit wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Graduiertenkollegs »Markt, Staat, Ethnizität« gefördert. 2 Dieser Ausspruch war nach den Bombenanschlägen in der Hauptstadt Usbekistans im Februar 1999 immer wieder zu hören oder zu lesen. Für den Anschlag wurden vom Ausland gesteuerte Islamisten verantwortlich gemacht. 3 Amir Timur wurde im Jahre 1336 geboren und starb 1405 auf einem Feldzug gegen China. Er hat zu seinen Lebzeiten ein Großreich erobert und organisatorisch geordnet. Sein Reiterstandbild löste auf einem der zentralen Plätze Taschkents dasjenige von Karl Marx ab. Ferner wurde zu seinem 660. Geburtstag, ebenfalls in Taschkent, ein Amir-Timur-Museum in Rekordbauzeit errichtet. 4 Wohl wissend, dass sich um den Begriff der Vergesellschaftung in der soziologischen Literatur eine Vielzahl von Bedeutungen rankt, wird er hier allgemein als die prozesshafte Verfestigung sozialer Beziehungen verstanden, die sich z. B. anhand von Herrschaftsstrukturen, Austauschformen oder auch Institutionen herausarbeiten lassen (siehe Strasser 1989: 1077). 5 Neben den persönlichen Karrieren im sowjetischen System ist dies die bedeutendste Kontinuität im postsowjetisch unabhängigen Usbekistan. 6 In erster Linie orientiere ich mich an Konzepten der Translokalität, wie sie von Arjun Appadurai (1995, 1996) im Kontext der Lokalitätsforschung in der Sozialgeographie und Ethnologie entwickelt wurden. Die Debatten um Lokalität haben deutlich gemacht, dass diese im Sinne physischer Nähe nicht mehr das einzige Modell ist, auf dessen Basis Gemeinschaft gedacht werden kann. Gemeinschaften bilden sich auch über (nationalstaatliche) Grenzen hinweg und werden zu ›Translokalitäten‹. Für eine wachsende Anzahl von Menschen und Gruppen verlieren geogra-

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phische Orte auf diese Weise an Bedeutung als primäre und ausschließliche Bezugspunkte der Identität und des Alltagslebens und werden durch translokale soziale Bündnisse und Organisationsformen abgelöst. Geschichtsabhängige Beziehungen werden zur virtuellen Interaktion, auf deren Basis Gruppen ihre Integration durch ›abwesende Anwesenheit‹ herstellen. Translokalität wird in diesem Kontext als ein innovatives Milieu verstanden, in dem neue Formen sozialen Lebens und neue kulturelle Formen und Strukturen geschaffen werden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass diese Muster auch zur Zeit der Sowjetunion zumindest innerhalb der sozialistischen Staatenwelt (weiter-)existierten und somit auch nur über diese Grenzen hinaus von einer Reaktivierung gesprochen werden kann. Gladney berichtet in seinen Arbeiten und Vorträgen selbst von grenzüberschreitenden uigurischen Hochzeiten im chinesisch-kasachischen Grenzgebiet (vgl. u. a. Gladney 1992). Auf die postsowjetischen Verbindungen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion weiter bestehen, soll hier nicht eingegangen werden (vgl. hierzu Kaiser 2000). Analog ist die Reklamierung von Menschen- und Minderheitenrechten durch in Europa und den USA lebende Kurden, Libanesen, Timoresen etc. auch als an die Werte der sie umgebenden zweiten Heimat angepasste politische Artikulation zu bewerten. Zur politischen Artikulation in transnationalen bzw. -lokalen Kontexten gibt es bisher nur wenige Forschungsergebnisse. Interessanterweise verwendet Russland den Begriff »nahes Ausland« für ehemalige Sowjetrepubliken und reklamiert einen Vertretungsanspruch für die russischen Minderheiten dort (vgl. hierzu Kaiser 1998b, 2000). Gaspirali war ein Hauptideologe des Panturkismus der vorletzten Jahrhundertwende, dessen Zeitung Tercüman (Vermittler) in einem vereinfachten Türkisch publiziert wurde, das vom Bosporus bis Xinkiang verstanden wurde (Dirgen 1994: 13). Die Entscheidung fiel zu Gunsten des lateinischen Alphabetes mit 31 Buchstaben und einem Apostroph (vgl. http://www. indigo.ie/egt/standarts/uz/uzlat.htm), das allerdings am 6. Mai 1995 geringfügig verändert worden ist. Das Alphabet besteht nun aus den Buchstaben A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P,

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Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z, O’, G’ und den drei zusammengesetzten Graphemen Sh, Ch, und Ng. 13 Auf den erweitert anthropologischen Blick auf Zivilgesellschaft und Politik kann hier nicht weiter eingegangen werden. In Political Society and Civil Anthropology (Hann 1996) erweitert Hann die zivilgesellschaftliche Analyse mit einer politischen Anthropologie, die die alltägliche Praxis und die Blickrichtung der involvierten zivilgesellschaftlichen Akteure ins Zentrum der Betrachtung stellt. Forschungen und Debatten zum Thema Zivilgesellschaft sollen dabei von formalen Strukturen und Organisationen hin zum Alltagshandeln gelenkt werden (Hann 1996: 1ff.). Davon ausgehend kann ein detailliertes Bild der (trans-)lokalen Lebenswelten der Akteure gezeichnet werden, um ihre Motivationen und Ziele zu kontextualisieren. Es ergibt sich eine Überschneidung von translokalen politischen Netzwerken mit translokalen Familiennetzwerken und Lebensprojekten – mithin die Einbettung zivilgesellschaftlicher, politischer Strukturen in die Gesellschaft. 14 Birlik (Einheit) wurde 1988 von Intellektuellen gegründet. Die Partei spaltete sich 1990 in einen radikalen Flügel Birlik (Birlik hatte im Dezember 1990 nach Angaben eines Birlik-Vertreters in Taschkent 700.000 Mitglieder), der vor allem Umweltengagement, Sprachregelungen und Bürgerrechte vertritt, und einen gemäßigten Flügel mit der Bezeichnung Erk (Freiheit). In Birliks Programm steht die Rettung des Aralsees und der Aralregion an erster Stelle. Sie tritt ferner für die Abschaffung der Baumwoll-Monokultur und die Entlastung der Frau von schwerer Arbeit ein. In ihr sind die ›Demokratische Partei Usbekistans‹, die Frauenorganisation Tumaris, die »Union der freien Jugend« und die demokratische Bauernpartei zusammengefasst. Birlik ist außerdem sehr stark im usbekischen Schriftstellerverband verankert. Birlik avancierte immer mehr zu einer Oppositionskraft, die für eine Nationalisierung und Wirtschaftsliberalisierung Usbekistans eintrat (Carley 1995: 305). Präsident Karimov reagierte, indem er einerseits die Ziele dieser Gruppierungen zum Teil selbst übernahm, andererseits Birlik als Organisation verbot und so ihre Teilnahme an Wahlen verhinderte. 15 Nur die Aserbaidschaner sind neben einigen Pamir-Tadschiken

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Schiiten. Bei ihnen muss sich zeigen, ob der ethnisch-sprachliche Faktor stärker ist als der religiöse oder umgekehrt. Zur Verdeutlichung siehe Duran (1992: 376ff.). Das Vorhandensein einer straffen Klanorganisation erleichterte die sufitische Missionierung. Diese Traditionen wurden im Volksislam tradiert, und die Konspiration der religiösen Praxis führte dazu, dass sie sich weiterhin mit bestimmten Orten, Familien und Sippen verband. Die Usbeken bezeichnen die Kirgisen daher als Halbmuslime und erkennen sie nicht als echte Muslime an (Bozdag 1991: 373). In der Zeit der Sowjetunion durften nur wenige Muslime nach Mekka pilgern. Meine Gesprächspartner in Usbekistan und Tadschikistan versicherten mir, dass nur hochrangige Vertreter des tolerierten offiziellen Islams ausreisen durften. Ihre Zahl wurde mit unter hundert Personen pro Jahr beziffert. Das Verteilen des traditionellen Plov bezeichnet man als ›Osh‹. Hier wird beispielhaft die Kommodifizierung selbst religiöser Praktiken im postsowjetischen Usbekistan deutlich. Zu Sowjetzeiten hätte ich solche Gespräche wohl nicht führen können. In diesem Unterschied zeigt sich auch eine zunehmende Akzeptanz, mindestens jedoch Offenheit. In der usbekischen Presse wurde von sechs parallel durchgeführten Bombenanschlägen auf den Präsidenten und den usbekischen Staat gesprochen. Es gab eine Vielzahl von Verletzten. Die Attentäter werden einer wahhabitischen Organisation zugeordnet, die Mitglieder in ganz Usbekistan hatte. Sechs von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Vgl. Schlee 1989, der dies anhand von Klanen und Ethnien untersucht. Hier sind Organisationsstrukturen gemeint, die über nationale Grenzen hinausreichen. Beispiele hierfür sind Amnesty International, Greenpeace, Ärzte ohne Grenzen, Women under Muslim Law oder Sisters of Islam.

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Gender, Geschlechterpolitik und Feminität der Ungleichheit

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) T02_00 zwischentitel.2.p 281067299624

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) vakat 144.p 281067299632

Zur Integration der Ex-Sklaven Mauretaniens

Identität durch Differenz: Ambivalenzen der gesellschaftlichen Integration der Ex-Sklaven Mauretaniens Urs Peter Ruf

Vom Verhältnis zwischen Sklaven und Herrn geht eine besondere Faszination aus. Im Alltagsverständnis ist es zum Synonym der wohl archaischsten Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geworden. Dieser assoziative Gehalt des Begriffes Sklaverei verblasst auch angesichts der Tatsache nicht, dass diese Institution als lange überwunden gilt. Vielmehr trägt die angenommene historische Distanz zur Exotisierung von Sklaverei bei. Indem er zur ultima ratio der Inhumanität und zum Ausdruck einer totalen Institution der Ausbeutung wird, erhält der Begriff der Sklaverei einen für die sich als modern verstehende Gesellschaft wesentlichen normativen Bedeutungsinhalt: Er beschreibt ihr Gegenbild. Aus dieser Perspektive wird verständlich, warum Charakterisierungen gegenwärtiger Formen von massiver Abhängigkeit den Vergleich mit Sklaverei bemühen. So werden allzu krasse Beispiele der systematischen Verknüpfung unmenschlicher Lebensverhältnisse mit ökonomischer Ausbeutung und persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die im Zeitalter der Globalisierung keineswegs im Aussterben begriffen sind, insbesondere durch Menschenrechtsgruppen als moderne Formen der Sklaverei und als sklavereiähnliche Verhältnisse angeprangert.1 Besondere Brisanz erhalten vor diesem Hintergrund der medialen Präsenz und Rekontextualisierung

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des Begriffs der Sklaverei Meldungen, die von fortgesetzter Sklaverei in unserer Zeit berichten. Der Kauf und Verkauf von Menschen, das Leben in persönlicher Unfreiheit – so die Darstellung zahlreicher Medien und Menschenrechtsgruppen – sind in einigen Ländern ein Faktum der Gegenwart, nicht der Vergangenheit. Zwei Länder stehen im Zentrum dieser Beschuldigungen: Sudan und Mauretanien. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Fälle. Der Regierung des Sudan wird explizit der Vorwurf gemacht, die Versklavung von Bewohnern im Süden des Landes (unter ihnen besonders von Frauen und Kindern) zumindest zu dulden, wenn nicht gar als Terrorinstrument im Rahmen des – das Land spaltenden – Bürgerkrieges einzusetzen.2 Die Rollen von Opfern und Tätern erscheinen klar verteilt: Arabisch-islamische marodierende Truppen und Milizen brandschatzen und rauben nicht zuletzt Menschen im von Anhängern von Naturreligionen und Christen bewohnten Süden des Landes. Besonders dieser letzte Umstand, ein scheinbar schlagender Beleg für Huntingtons These (1993) von den blutigen Grenzen des Islams, beschert dem Sudan eine große mediale Aufmerksamkeit. In Mauretanien verlaufen die Grenzen zwischen Sklaven und Herren weniger konform mit diesem Interpretationsschema. Das Gebiet der westlichen Sahelzone ist seit Jahrhunderten nahezu vollständig islamisiert. Die quer durch das heutige Mauretanien verlaufende Grenze zwischen nördlichem, arabischem Afrika und subsaharischem, schwarzem Afrika lässt sich somit nicht als eine Grenze zwischen Islam und Nicht-Islam darstellen. Insofern handelt es sich hierbei um ein deutlich weniger griffiges Beispiel für den vermeintlich kriegerischen Charakter des Islams, scheint der Frage der Sklaverei in Mauretanien zumindest im westeuropäischen Kontext ein gegenüber dem Sudan deutlich geringeres Interesse zu widerfahren.3 Was nun aber hat es mit den Vorwürfen der fortgesetzten Sklaverei in Mauretanien auf sich? Dies in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart zu umreißen, ist ein Ziel dieser Darstellung. Parallel dazu wird analysiert, auf welche Weise die scharfen sozialen Grenzziehungen innerhalb der maurischen Gesellschaft Integration und Identitätsbildung gefördert haben.

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Geschichte und Gegenwart der Sklaverei in Mauretanien »Ein Araber muss in der Tat arm sein, um nicht mindestens einen Negersklaven zu besitzen« resümierte Saugnier (Saugnier / Brisson 1792, 1969: 99; eigene Übersetzung) die Bedeutung der Sklaverei unter den nomadischen Mauren. Er wusste wovon er sprach, war er doch nach seiner Strandung an der westsaharischen Küste 1784 selbst für etwa drei Monate zum Sklaven gemacht worden.4 Es spricht somit manches dafür, dass unter den nomadischen Bewohnern der westlichen Sahara die Sklaverei ähnlich weit verbreitet war und über Jahrhunderte praktiziert wurde, wie dies eine Reihe von Quellen für die sesshaften Bevölkerungsgruppen an beiden »Ufern« der Sahara wie auch für den subsaharischen Raum belegen.5 Zur Ergänzung ihrer Nahrung bedurften die pastoralen Nomaden landwirtschaftlicher Produkte, insbesondere Getreide. Dieses bezogen sie im Rahmen von Handel, so z. B. durch den Tausch gegen – in der Sahara durch Sklaven oder Tributarier abgebautes – fossiles Salz oder verschiedene Produkte der Viehwirtschaft. Gleichzeitig verlieh ihnen ihre hohe Mobilität eine militärische Überlegenheit gegenüber den sesshaften Bevölkerungen, weshalb sie ihre territoriale Kontrolle bis in Gebiete der agrarisch genutzten Savanne ausdehnen konnten. Reziproke Formen des Austauschs zwischen Bauern und Viehhaltern konnten so in hierarchische Beziehungen umgewandelt werden. Neben dem Eintreiben von Tributen bei Gruppen freier Sesshafter erlaubte ihre politische Dominanz den Pastoralisten, auch eigene Sklaven anzusiedeln, die, wenngleich vergleichsweise autonom wirtschaftend und lebend, verpflichtet waren, einen Teil ihrer agrarischen Produktion den Herren zu überlassen (vgl. Baier / Lovejoy 1977; McDougall 1985a: 18).6 Das Diffundieren von Sklaven aus dem – wahrscheinlich bereits vor dem 10. Jahrhundert florierenden – transsaharischen Menschenhandel in die pastoral-nomadische Gesellschaft sowie die Etablierung von durch Sklaven bewohnten, agrarisch ausgerichteten Dependancen in Gunstgebieten des eigenen Territoriums und in den nördlichen Randgebieten des Sahel können jedoch nicht allein den hohen Anteil von Sklaven in der Bevölkerung der westlichen Sahara in der Vergangenheit und teilweise bis in die Gegenwart erklären. Erste Aufschlüsse hierüber ermöglicht eine genauere Evaluierung der Demographie der

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Sklaverei und darauf aufbauend der Aufgaben und sozialen Stellungen von Sklaven in der maurischen Gesellschaft. Die Demographie der Sklaverei Während genaue Daten für die vorkoloniale Periode fehlen, deuten die überlieferten Berichte aus dieser Zeit auf das Vorhandensein einer großen Zahl von Sklavinnen und Sklaven hin. Tiefere Einblicke in die Thematik ermöglichen von der Kolonialadministration seit Beginn des 20. Jahrhunderts gesammelte Zensusdaten. Demnach betrug 1957 der Anteil der Sklaven (’abîd) und befreiten Sklaven (harâtîn) unter einer kleinen, im ariden Norden nomadisierenden und auf Kamelhaltung spezialisierten Gruppe von Ideybussât 11 % gegenüber 80 % unter einer nahezu vollständig sedentarisierten Gruppe der Awlâd Mbarek.7 Diese Daten implizieren, dass es ein nennenswertes Gefälle im demographischen Gewicht der sûdân, d. h. der Sklaven und befreiten Sklaven, unter einzelnen maurischen Stämmen gab. Zurückzuführen sind diese Differenzen vor allem auf unterschiedliche ökonomische Spezialisierungen. Während rein nomadische Pastoralisten vergleichsweise wenige Sklaven hielten, stellten Letztere in Gebieten mit vorwiegend agrarischer Nutzung sogar die Mehrheit in den jeweiligen Stammesgruppen. Idealtypische Repräsentanten beider Konstellationen sind und waren jedoch relativ selten. Die Mehrheit der Mauren war auf die Haltung von Rindern sowie von Ziegen und Schafen spezialisiert – nicht zuletzt, weil in der Nähe des Senegalflusses, aber auch auf dem Plateau des Tagant das der Schlafkrankheit ähnliche, durch Mücken übertragene tabûrit die Haltung von Kamelen verhinderte (vgl. Toupet 1958: 81). Statt erratischer Weidewanderungen über große Distanzen, wie sie für einen auf Kamelhaltung spezialisierten Nomadismus typisch sind, prägten meist deutlich kleinräumigere Raumnutzungsstrategien und feste Transhumanzrouten das Leben der großen Mehrzahl der maurischen Nomaden. Gelegentlich kehrte der Anbau von Hirse und Sorghum sogar die Prioritäten zwischen Mobilität und Sesshaftigkeit um (vgl. Bonte 1986; Ruf 1995: 128f.). In Regionen mit vergleichbaren Formen der naturräumlichen Nutzung schält sich in verschiedenen Statistiken ein relativ homogenes Bild heraus, demzufolge der Anteil der sûdân an der gesamten maurischen Bevölkerung bei etwa einem Drittel lag. In der Region des Assa-

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ba wurden z. B. 1950 32 % sûdân gezählt (vgl. Munier 1952: 40), und in der Subdivision von Moudjéria waren es laut der offiziellen Statistik aus dem Jahre 1950 im Durchschnitt aller Stämme 33 %.8 Diese Zahlen aus Regionen mit seinerzeit noch immer vorwiegend pastoralnomadischer Nutzung liegen noch deutlich unter denen der offiziellen nationalen Schätzung von 1965, die letztmalig nach Statusgruppen gegliederte Bevölkerungsdaten präsentierte. Demzufolge betrug der Anteil der Sklaven und harâtîn an der gesamten maurischen Bevölkerung seinerzeit sogar 43 % (vgl. Dokumentation der Ergebnisse der SEDES-Studie in Davis 1997: 96). Während diese Daten bereits einen guten Indikator für das zahlenmäßige Verhältnis von bidhân und sûdân, d. h. weißen Mauren und schwarzen Mauren,9 auch in früheren Zeiten bilden, sind es eine Reihe von Details, die tiefere Einblicke in die Praxis der maurischen Sklaverei eröffnen. Feine Unterschiede: Kriegersklaven und Gelehrtensklaven Ein wesentliches Kriterium der Differenzierung des Sklavenanteils in einzelnen Stammesverbänden bildet in der o. a. Statistik aus Moudjéria die Zugehörigkeit zum Stand der Krieger (hassân) oder der Gelehrten (zwâya). In der Stammesföderation der Abakak (Krieger), aus deren Mitte das Emirat von Tagant angeführt wurde, beträgt der Anteil der Sklaven nur etwa 26 %, während er bei den maraboutischen Tarkoz bei 39 % und bei einzelnen anderen maraboutischen Stämmen dieser Region sogar noch deutlich höher liegt. Diese Differenz reflektiert verschiedene politisch-ökonomische Strukturierungen der beiden Gruppen von Stämmen. In der vorkolonialen maurischen Gesellschaft übten die Krieger die territoriale und politische Kontrolle aus. Ihr militärisches Potenzial ermöglichte es ihnen, den Stämmen bzw. Gruppen von Gelehrten und Tributariern in gewissem Umfang Schutz vor Raubzügen anderer Stämme zu gewähren – eine Leistung, für die sie besondere Vorrechte oder auch Tribute einforderten. Die Gelehrten bildeten den Gegenpol zur Macht der Krieger. Sie waren zahlenmäßig deutlich stärker, kontrollierten jenseits der spirituellen Sphäre den Bodenbesitz und bildeten das Rückgrat der maurischen pastoralen und Handelsökonomie (vgl. Bonte 1988: 175). Wenngleich die Unterscheidung in Krieger und Gelehrte weniger einen kategorialen Gegensatz als verschieden stark ausgeprägte Orien-

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tierungen der Stammesgruppen darstellt (es gibt eine Reihe von Stämmen, die beiden Gruppen zugeordnet werden können, sowie Fälle von Statuswechsel), sind diese Differenzen wesentlich für ein Verständnis der Entfaltung unterschiedlicher Kontexte von Sklaverei in der maurischen Gesellschaft. Die weitaus geringere Involvierung der Krieger in produktive Aktivitäten prägte nachhaltig das Spektrum der an Sklaven zu delegierenden Tätigkeiten innerhalb dieser Gruppe. Jenseits der Aufgaben, Vieh zu hüten und zu tränken, waren Sklaven auch als Fußvolk bei Konflikten und als Vertraute ihrer Herren gefragt. Ein vergleichbarer Aufstieg in einflussreiche Positionen war für die Sklaven der Gelehrten schwieriger. Für ihre Herren stand der ökonomische Nutzen, den sie aus der unfreien Arbeitskraft ziehen konnten, deutlicher im Vordergrund. Gleichzeitig war die symbolische Distanz zwischen Gelehrten und Sklaven tiefgreifender als die zwischen Kriegern und Sklaven. Bis heute wird es von einer großen Zahl bidhân nur schwerlich akzeptiert, dass auch sûdân, d. h. Sklaven, und befreite Sklaven (harâtîn) dem Gebet vorstehen können. Bis vor wenigen Jahren wurde ihnen der Zugang zum Gebet in einer großen Moschee im Zentrum der Hauptstadt Nouakchott verwehrt. Erst starke öffentliche Proteste von sûdân brachten die Imame der Moschee schließlich zum Einlenken (Interview mit Mahmoud, hartâni in: Brhane 2000: 230). Der Aufstieg eines Sklaven zu spiritueller Größe und Führerschaft bedurfte angesichts dieser Verhältnisse eines Wunders – und diese sind legendär. Mohammed Khairat wurde von seinem Herrn bezichtigt, während des Hütens heimlich Milch gemolken und damit dem Herrn gestohlen zu haben. Gegen diese Anschuldigung wehrte sich der Sklave, indem er das Kamelfohlen mit der Aussage, es selbst habe die Milch von seiner Mutter gesäugt, dem Herrn widersprechen ließ. Während die Heiligkeit des Sklaven unter Beweis gestellt wurde, bleiben die Umstände seines Aufstiegs zum Freien in der sich um ihn rankenden Legende doch aufs Engste mit der Ideologie der Herren verknüpft. Schließlich resultieren Mohammed Khairats besondere Fähigkeiten in seiner unrechtmäßigen Versklavung, denn er war zwar der Sohn einer alten Sklavin, sein Vater aber war ein Shurfa (ein Nachkomme des Propheten), der diesen Status an seinen Sohn weitergab (vgl. Brhane 1997: 127ff.). Eine weitere Hürde für den sozialen Aufstieg der Sklaven liegt darin, dass die mystisch begründete Heiligkeit nur einen Eckpfeiler des

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Selbstverständnisses der maurischen Gelehrten (zwâya) ausmacht. Wenngleich sie von zentraler Bedeutung ist, wird die Mystik durch in langen Jahren des Studiums erworbene und zertifizierte Kenntnisse des Islams und der auf ihn aufbauenden Wissenschaften ergänzt. Sozialen Außenseitern wie Sklaven musste diese von einem relativ kleinen Kreis von zwâya kontrollierte Quelle eines komplementären symbolischen Kapitals verschlossen bleiben (vgl. El Hamel 1999: 77f., 81; Clark 1998: 105f.).10 Erst in den vergangenen Jahrzehnten gelang es einzelnen sûdân überhaupt, Zugang zur traditionellen Koranausbildung zu erhalten. Anders als in anderen islamischen Gesellschaften, z. B. in Marokko (vgl. Ennaji 1994: 52), sind für das maurische Kulturgebiet keine Fälle bekannt, in denen Sklaven zu respektierten Islamgelehrten wurden. Während Sklaven der zwâya in einigen Fällen ganze Handelsdependancen anstelle ihrer Herren leiten und sich in diesem Kontext ein gewisses Maß sozialer Achtung schaffen konnten (vgl. McDougall 1985b: 111), scheint ihr mögliches Eindringen in die zentrale identitätsstiftende Domäne der Gelehrten einem regelrechten Tabu unterlegen zu haben.11 Die aufgezeigten Unterschiede verdeutlichen, dass nicht nur die Optionen für den Aufstieg zu größerer Achtung seitens der Herren für die Sklaven von Kriegern und Gelehrten ungleich verteilt waren, sondern auch, dass das Interesse der beiden führenden gesellschaftlichen Gruppen an unfreier Arbeitskraft verschieden motiviert war. In den engen Grenzen, die der Akkumulation von Reichtum in der pastoral-nomadischen Gesellschaft gesetzt waren, war der Einsatz von Sklaven für die Gelehrten eine Möglichkeit, über eine größere Anzahl von Arbeitskräften zu verfügen, als der eigene Haushalt bot und produktive Aktivitäten in verschiedene Sektoren zu diversifizieren. Neben der Betreuung von Vieh konnten Sklaven Dattelpalmen und Gärten in den Oasen bewirtschaften, Hirse pflanzen, Gummi Arabicum sammeln und Karawanenarbeit verrichten. Damit trugen sie wesentlich zum Wohlstand ihrer Herren bei. Wenngleich die Sklaven mit ihrer Arbeit oft in erster Linie Mitglieder der Familie ihrer Herren ersetzten oder zumindest entlasteten, so deuten Beobachtungen, denen zufolge die Sklaven der Gelehrten schlechter behandelt wurden als die der Krieger, darauf hin, dass das Interesse an der Ausbeutung der unfreien Arbeitskraft bei den Gelehrten deutlicher ausgeprägt war als bei den Kriegern (vgl. Caillié 1830: 102; Ould Ahmed 1983: 29).12

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Diese verschiedenen Motivationslagen von Kriegern und Gelehrten lassen sich bis in die Gegenwart verfolgen. So ist festzustellen, dass ehemalige Sklaven der Gelehrten seltener bereits vor Generationen den Status eines harâtîn erworben haben, als dies unter den Ex-Sklaven der Krieger der Fall ist. Dementsprechend häufiger finden sich formale Befreiungen von Sklaven im Milieu der Gelehrten in jüngerer Zeit. Während ein Teil dieser Freisprechungen ohne Gegenleistungen erfolgt, gibt es weiterhin eine bedeutende Zahl von Fällen, in denen sich die Sklaven im Gegenzug für ihre Befreiung zu bestimmten Geld- oder Arbeitsleistungen verpflichten. Differenzen manifestieren sich auch in den heutigen Beziehungen zwischen Gelehrten einerseits und Kriegern andererseits zu einzelnen harâtîn und Sklaven. Während es bei den Gelehrten üblich ist, dass die Freien ihr Land zu festgelegten, pachtähnlichen Konditionen an ihre ehemaligen Sklaven oder andere Angehörige dieser Gruppe verpachten (meist gegen Zahlung der Hälfte der Ernte), gibt es im Falle einzelner großer Landbesitzer unter den Kriegern keine solchen Vereinbarungen. Vielmehr werden die Leistungen der Landnutzer an die Landbesitzer in scheinbar freiwilliger Form z. B. als Hilfsdienste bei der Einbringung der Ernte erbracht. Ohne die Position des Patrons im Machtgefälle in Frage zu stellen, erhalten die Klienten aus den Reihen der sûdân so die Möglichkeit, scheinbar wie Freie in einer komplementären Beziehung, d. h. in freier Erwägung einer adäquaten Gegenleistung, für die Attribution von Land zu agieren und damit ihre Fähigkeit zu ehrenvollem und sozial angemessenem Verhalten zu demonstrieren (vgl. Ruf 1998: 120ff., 250f.). Die Feminität der Unfreiheit Jenseits der unterschiedlichen Praktiken von Sklaverei durch Krieger und Gelehrte war es die Geschlechtszugehörigkeit, die entscheidend die Gestalt der Erfahrung von Unfreiheit in der maurischen Gesellschaft prägte. Analog zu anderen Sklaven haltenden Gesellschaften Afrikas kristallisiert sich im Rahmen der verfügbaren Quellen auch für den Fall der maurischen Gesellschaft eine Präferenz für weibliche Sklaven heraus. Sie wurden im ganzen westafrikanischen Raum wie auch nördlich der Sahara zu überwiegend deutlich höheren Preisen gehandelt und stärker nachgefragt als männliche Sklaven, welche wiede-

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rum die bevorzugte Ware der transatlantischen Sklavenhändler waren. Während die komplementären Geschlechtspräferenzen der Sklavenhalter auf dem afrikanischen und dem amerikanischen Kontinent die Dynamik von Sklavenjagd und -handel in Afrika stimulierten, wirft diese gegensätzliche Orientierung der beiden Praktiken der Sklaverei Fragen nach verschiedenen Charakteren dieser Sklavereien auf. Insbesondere die Plantagenwirtschaft im Süden der USA ist zum Sinnbild einer Sklaverei geworden, in der die rationale, unmittelbare Ausbeutung menschlichen Arbeitsvermögens mit der Logik der Profitmaximierung im Kontext einer Produktion für den Weltmarkt eine unheilige Allianz einging. Getreu ihrer patriarchalischen Anschauung, der zufolge Männer in erster Linie zur harten manuellen Arbeit befähigt sind, fragten die Plantagenbesitzer der neuen Welt junge, kräftige Männer als Arbeitssklaven nach (vgl. Lovejoy 1989: 381ff.).13 Weniger schlüssig bleiben Begründungen für die Struktur der Nachfrage nach Sklavinnen und Sklaven auf dem afrikanischen Kontinent. In vielen Gesellschaften ging sie konform mit der gesellschaftlichen Ideologie, dass Frauen und nicht Männer die Hauptlast alltäglicher Arbeiten und insbesondere in der Landwirtschaft zu tragen hatten (vgl. Lachenmann 1992: 76f.). Frauen galten somit nicht per se als schwächer und zu harter Arbeit weniger geeignet als Männer, sondern konnten im Gegenteil in vielen Bereichen als erfahrenere Arbeiter gelten. Dennoch bleibt fraglich, ob, wie von Meillassoux (1986) vertreten, Sklavinnen generell eine höhere Produktivität zugeschrieben werden kann als Sklaven und die starke Nachfrage nach ihnen primär durch dieses Kriterium motiviert war, während andere Aspekte wie die Ausbeutung der Sexualität und der reproduktiven Kapazitäten der Sklavinnen demgegenüber ohne Belang blieben (vgl. Klein 1983). Darauf weist auch der unterschiedlich hohe Anteil von Frauen und Männern unter den Sklaven in verschiedenen afrikanischen Gesellschaften hin. Je stärker der Einsatz von Sklaven auf die Produktion orientiert war, desto mehr glich sich der Anteil von Frauen in der Sklavenbevölkerung dem der Männer an (vgl. Cooper 1977: 221f.; Hanson 1990: 212). Während genaue Daten sowohl zur Zahl der durch die maurischen Nomaden erworbenen Sklaven als auch zum Anteil der Geschlechter innerhalb dieser Gruppe für die vorkoloniale Zeit fehlen, liefern die nach Geschlecht und Alter gruppierten Zensusdaten aus der »Subdivision Moudjéria« von 1950 ein aufschlussreiches Bild von der Zusam-

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mensetzung der unfreien bzw. befreiten Bevölkerung: 58 % derer, die als »schwarze Mauren«, d. h. als sûdân, klassifiziert wurden, waren demnach Frauen.14 Dieses Ergebnis erstaunt umso mehr, als es die Situation knapp 50 Jahre nach Beginn der französischen Kolonisation der Region und damit einhergehend des weitgehenden Endes des Sklavenhandels beschreibt.15 Die ungleiche Verteilung der Geschlechter kann – eine biologische Reproduktion der Sklavenbevölkerung vorausgesetzt – daher nur noch zu einem geringen Teil auf die Präferenz der maurischen Herren für den Erwerb von Sklavinnen zurückgeführt werden. Vielmehr deutet dieses Ergebnis auf eine bereits manifeste Abwanderung männlicher Sklaven und harâtîn aus der ländlichen Region hin. Sie nutzten damit eine Option zur Flucht aus ihrer Abhängigkeit, die weiblichen Sklaven offenbar nur selten zur Verfügung stand.16 Dass Frauen deutlich größere Schwierigkeiten zu überwinden haben, sich aus der Sklaverei zu befreien als Männer, bestätigt sich auch in einer Analyse der Statuszugehörigkeit der Haushaltsvorstände in zehn Dörfern der Region Achram-Diouk in Zentralmauretanien: Unter denjenigen, die noch immer als Sklaven bezeichnet werden, beträgt der Anteil der Frauen 68 %, während das Geschlechterverhältnis in den anderen sozialen Gruppen, von den Folgen der vorwiegend männlichen Arbeitsmigration abgesehen, weitgehend ausgeglichen ist. Eine Ursache für die geringere Bereitschaft der Herren, Sklavinnen die Freiheit zu gewähren oder sie diese erkaufen zu lassen, liegt in der Verfassung der maurischen Sklaverei begründet. Während unter den Freien die Abstammung und damit die Statuszugehörigkeit patrilinear strukturiert ist, gilt dies nicht für Sklavinnen und Sklaven. Hier folgt der Status »dem Bauch«, d. h., das Kind einer Sklavin wird ebenfalls Sklave. Anders verhält es sich bei Beziehungen zwischen weißen Mauren und Sklavinnen. Hier übernehmen Kinder den Status ihres Vaters. Uneingeschränkt gilt dies jedoch nur für Nachkommen aus einer Ehe zwischen einem weißen Mauren und einer Sklavin. Im Falle einer Konkubinage oder einer heimlichen Beziehung erlangten die Kinder den Status des Vaters erst, wenn dieser sie als legitime Nachkommen anerkannte. Die in der maurischen Gesellschaft im Gegensatz zur Konkubinage durchaus gängige Praxis der Heirat – und damit verbunden die Befreiung – zwischen Sklavinnen und weißen Mauren bildete somit eine entscheidende Option für sozialen Aufstieg, die Sklavinnen

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zur Verfügung stand (eine Reihe berühmter Persönlichkeiten, wie etwa der letzte Emir von Tagant, waren Söhne einer Sklavin). Diese partielle Permeabilität der Grenze zwischen Freien und Unfreien stellt jedoch nicht die von ihr markierte und als fundamental verstandene Differenz in Frage. Vielmehr demonstriert die Integration von Sklavinnen in das Verwandtschaftssystem der Herren das besondere Gewicht der patrilinearen gegenüber der matrilinearen Filiation. Die Praxis der Heirat von weißen Mauren und Sklavinnen verschafft somit nicht nur den Sklavinnen eine Option sozialen Aufstiegs, sondern tangiert gleichzeitig die Machtbalance der Geschlechter innerhalb der bidhân zu Ungunsten der Frauen.17 Während das Fehlen eigener sozialer Attribute gerade die Integration der Sklavinnen in das Verwandtschaftssystem der bidhân ermöglichte, bedingt diese soziale Deprivation für männliche Sklaven den Ausschluss von jeglicher Vaterschaft im sozialen Sinn. Zwar sind Ehen unter Sklaven gemäß islamischer Rechtsprechung möglich und wurden in einigen Fällen in der maurischen Gesellschaft auch praktiziert, jedoch blieben die Festlegungen zu den Abstammungsprinzipien unter Sklaven hiervon unberührt; schließlich hätten sie die Besitzrechte der Herren an den Nachkommen der eigenen Sklavinnen angegriffen. Ähnlich verhielt es sich im Falle von harâtîn. Obgleich sie den Status eines Freien erworben hatten, konnten sie nur selten Vater analog zum Vorbild der weißen maurischen Männer werden. Dies gelang im Prinzip nur, wenn ihre Frau den gleichen Status hatte, d. h. eine hartâniyya war. Letzteres war aber auf Grund der geschilderten Präferenzen der Herren selten der Fall. Heirateten diese Männer aber eine Sklavin, so verfügten sie anders als weiße Mauren nur selten über genug Besitz, um deren Freiheit zu erkaufen, und als Folge verblieb die Frau – mitsamt ihren Kindern – Eigentum ihres Herrn oder ihrer Herrin.18 Das Festhalten am Sklavenstatus für Frauen und eine vergleichsweise großzügige Praxis der Befreiung von Männern widersprachen sich nicht, sondern ergänzten sich für die maurischen Sklavenhalter vorteilhaft. Während die Befreiung der Männer die Sklavenherren von ihrer Verpflichtung zum Unterhalt gegenüber Letzteren entledigte, sicherte die Bewahrung des Sklavenstandes für Frauen nicht nur die Rechte der Herren an deren Person und Arbeit, sondern insbesondere auch an deren Nachkommenschaft. Die Kinder der Sklavinnen waren

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schließlich nach dem Ende des Sklavenhandels zur letzten Quelle neuer Sklaven geworden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die allmähliche »hartânisierung« des Wadi Tidjikja durch vertragliche Befreiungen, die Sklaven in abhängige Pächter verwandelte, nur in Bezug auf die männliche unfreie Bevölkerung konstatiert wird (vgl. Ould Khalifa 1991: 282ff.). Anders als die männlichen Sklaven, die ihren sozialen Aufstieg durch die Vergrößerung ihrer Distanz zu den Herren erreichten, blieb Sklavinnen, die analoge Ziele verfolgten, kaum ein anderer Weg, als sich enger an die Herren zu binden. Dieses Paradoxon, das ein basales Charakteristikum der maurischen Sklaverei ist, gilt es im Folgenden zu analysieren. Die differenzielle Wirkung der Desozialisierung Sklavin und Sklave erfahren, indem ihnen die Einbindung in Verwandtschaftsbeziehungen verwehrt wird, eine tiefgreifende Desozialisierung. Nicht allein, dass sie im Zuge der Versklavung ihrer Heimat und damit ihrer Familie entrissen werden, sondern dass sie auch in der Sklaven haltenden Gesellschaft keine neuen vollwertigen Verwandtschaftsbeziehungen aufbauen können, zeichnet die Situation der maurischen Sklavinnen und Sklaven wie die ihrer Leidensgenossinnen und -genossen in anderen Gesellschaften aus.19 Diese Erfahrung sozialer Deprivation wiegt umso schwerer in Gesellschaften, in denen Verwandtschaftsbeziehungen ein wesentliches Medium der Verortung des Individuums im gesellschaftlichen und politischen Raum sind, bzw. gesellschaftliche und politische Relationen wesentlich als Artikulationen von Verwandtschaft interpretiert werden. Es ist diese Dimension, in der Sklaven in der maurischen Gesellschaft ihren »sozialen Tod« (Patterson 1982) erfuhren und dauerhaft zu »sozialen Außenseitern« (Finley 1968: 308) wurden. So tief der trennende Graben zwischen Freien und Unfreien auch gezogen wurde, konnten die verschiedenen ideologischen Konstrukte doch nie verdecken, dass Differenz und Egalität in diesem Kontext untrennbar miteinander verbunden sind. Um überhaupt Nutzen aus dem Sklaven ziehen zu können, muss der Herr auf dessen humane Eigenschaften rekurrieren. Keine Arbeit des Sklaven, ohne dass dieser Gebrauch von seiner Intelligenz macht, keine Kommunikation zwischen Sklaven und Herrn ohne die Etablierung einer gemeinsamen Sprache,

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keine Herrschaft des einen über den anderen ohne die vermittelnde Kraft einer die Ungleichheit legitimierenden Ideologie. Entsprechend zwiespältig präsentiert sich der Alltag von Sklaven und Herren. Keinesfalls räumlich getrennt durch Herrenhaus und Sklavenhütte, sondern im Zeltlager, wenn nicht gar unter demselben Zelt in unmittelbarem Kontakt und gegenseitiger Öffentlichkeit lebend, musste die Unterscheidung in Sklave und Herr fortwährend (re-)produziert werden. Spannungsfelder ergaben sich dort, wo die Produktion der symbolischen Differenz zwischen Herren und Sklaven allzu offensichtlich grundlegende Strukturen der Gesellschaft der freien Mauren konterkarierte. So kollidierte die Aufrechterhaltung einer weitgehend geschlechtssegregierten Strukturierung des Raumes mit der die Geschlechtlichkeit und damit die Soziabilität der Sklaven ignorierenden Praxis der Sklaverei. Die Perzeption des Zeltes als Domäne der freien Frauen und der Welt jenseits dieser Grenzen als Lebensraum der freien Männer während des Tages, d. h. die Konstituierung wechselseitig exklusiv maskulin und feminin geprägter Räume, reflektiert die Lokalisierung geschlechtsspezifisch verstandener Tätigkeiten in der maurischen Gesellschaft. Demzufolge übernehmen Frauen in erster Linie Tätigkeiten, die im Zelt oder zumindest in seiner Nähe zu verrichten sind. Sie verarbeiten Wolle und Milch, kochen, holen Holz und unter bestimmten Umständen auch Wasser. Männer haben sich dagegen zuerst um das Vieh, Dinge wie Handel und Kriegsführung und gegebenenfalls Feldarbeit zu kümmern. Dabei ist die Aufgabentrennung zwischen Männern und Frauen keinesfalls absolut. Tritt z. B. das Wasserholen infolge des mit dem Gang zu einer weit entfernten Wasserstelle verbundenen hohen Zeitaufwandes mit anderen wichtigeren Aufgaben der Frauen in Konkurrenz, wird es auch von Männern übernommen.20 Die Wasserstelle kann somit nicht eindeutig als Lokalität von Frauen- oder Männerarbeit definiert werden. Die Grenzen zwischen geschlechtlich geprägten Räumen sind insofern nicht starr, sondern variieren in Anpassung an spezifische Umstände. Ein Brunnen kann daher sowohl als Teil des Lagers und damit der von Frauen eingenommenen Sphäre des Inneren und der Intimität erscheinen als auch als Ort außerhalb dieser Grenzen, dessen Frequentierung in den Aufgabenbereich der Männer fällt. Umgekehrt gibt es durchaus männliche Tätigkeiten, die nicht nur im

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Lager, sondern direkt unter dem Zelt verortet sind. So umfasste die Administration der Emire neben umfassender Reisetätigkeit und gegebenenfalls kriegerischen Aktionen auch die repräsentative Präsenz in ihren eigenen Lagern. Insbesondere die Arbeit der Gelehrten erforderte den Verbleib im vor Sonne und Wind schützenden Zelt. Während die meisten Angehörigen dieser Berufsgruppe ihre intellektuelle Tätigkeit auf die frühen Morgenstunden und den Abend beschränkten und am Tage pastorale Arbeiten verrichten konnten,21 macht der Fall deutlich, dass die geschlechtliche Segregation der Arbeit und des Raumes Zelt und Zeltlager während des Tages nicht einfach in für Männer unzugängliche Orte transformierte. Vielmehr galt es, distinktive Praktiken in verschiedenen Lokalitäten auszuüben. Während Frauen sich versammelten, um in Gemeinschaft Tätigkeiten wie die Zubereitung von Hirse-Kuskus zu bewerkstelligen, konnten sich Männer im gleichen Lager in den in dieser Zeit verwaisten Zelten treffen, ohne Gefahr zu laufen, sich als Anhängsel der Frauen dem Spott auszuliefern.22 Analog verhält es sich bei der Bewirtung von Besuchern. Statt zwischen Zelten verläuft die Grenze zwischen männlichem und weiblichem Raum in diesem Fall innerhalb des Zeltes, wo die dem Licht und damit der Öffentlichkeit zugewandte Vorderseite von der stärker beschatteten und dadurch vor indiskreten Blicken geschützten Hinterseite unterschieden wird (vgl. Caratini 1989: 111ff.). Die spezifische Funktion von Sklavinnen und Sklaven in diesem Kontext bestand darin, sowohl die Herrinnen als auch die Herren von einer Vielzahl ihrer Arbeitsverpflichtungen zu befreien. Beschränkungen ergaben sich wesentlich dort, wo Aufgaben auf Grund ihrer hohen Verantwortung und schlechten Kontrollmöglichkeiten nur ungern an Sklaven delegiert wurden, beispielsweise dem Hüten von Kamelen. Aus dieser Strukturierung der Sklavenarbeit als vorwiegend fremdbestimmt und nicht eigenverantwortlich sowie der Notwendigkeit, die Intimität männlicher und weiblicher Räume zu wahren, ergaben sich weitreichende Konsequenzen. Männliche Sklaven konnten nur in bestimmten Fällen Arbeiten der freien Frauen und solche in deren unmittelbarer Nähe übernehmen. Gleichwohl sie nicht als Männer analog zu den freien Männern angesehen wurden, war es doch ihr Geschlecht, das in der sozialen Konstruktion ihres Arbeitsgebietes Berücksichtigung fand. Trotz der teilweise massiven Negierung des sozialen Geschlechts der Sklaven fand dieses im Zusammenhang mit ihrer Lokali-

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sierung im Arbeitsprozess Berücksichtigung. Die weitgehende Exklusion der männlichen Sklaven aus dem Bereich von Zelt und Lager wurde notwendig sowohl aus Sicht der freien Frauen, die sich in ihrer Gemeinschaft und ihren Aktivitäten hierdurch der Beobachtung durch Männer ausgesetzt gesehen hätten, als auch der freien Männer, denn im Unterschied zu ihnen hätten die männlichen Sklaven über ein Privileg verfügt, wenn ihnen der freie Zugang zu den weiblich geprägten Lokalitäten eingeräumt worden wäre.23 Wenngleich männliche Sklaven gelegentlich zu Arbeiten herangezogen wurden, die wie das Stampfen von Hirse eindeutig Frauentätigkeiten waren, blieb ihnen in der Regel die systematische Negierung ihres sozialen Geschlechts durch das Profil ihrer Arbeit erspart. Diese Problematik betraf Sklavinnen deutlich stärker. Hatten sie auch primär im Zeltlager und seiner Umgebung zu tun und oblagen ihnen daher primär mit dem Haushalt verknüpfte Tätigkeiten, so war es dennoch selbstverständlich, ihre Arbeitskraft auch für Aufgaben einzusetzen, die jenseits dieses Rahmens lagen. In ihren Lebensgeschichten berichten Sklavinnen wiederholt davon und betonten, dass sie gezwungen waren, alle Arten von Arbeit auszuführen, egal ob es sich um das Stillen der Kinder ihrer Herrinnen und Herren handelte oder das Hüten von Vieh. Auf Grund dieses der geschlechtsspezifischen Strukturierung der Sklavenarbeit inhärenten Konfliktes etablierte sich die Frage, welche Arbeiten eine Sklavin oder ein Sklave zu übernehmen hatte, zu einem wesentlichen Feld der Auseinandersetzung um die Gestalt des Dependenzverhältnisses. Verhandelt wurde damit der Respekt der Herren gegenüber ihren Sklaven als geschlechtliche Wesen und damit ihre Respektierung als soziale Person. Während es für männliche Sklaven relativ leicht war, Arbeitsgebiete zu okkupieren, die auch für freie Männer nicht unehrenhaft waren und sich dort durch den Erwerb von besonderen Qualifikationen, z. B. in der Bewirtschaftung von Palmenhainen oder dem Viehhüten, in höherem Maße unersetzlich zu machen, war eine vergleichbare Strategie der Professionalisierung für Sklavinnen nur schwer möglich. Dies liegt zum einen in der Struktur der Hausarbeit begründet, die eine Vielzahl von Tätigkeiten mit vergleichsweise geringer spezifischer Qualifikation umfasst. Zum anderen verrichteten die Sklavinnen einen großen Teil ihrer Arbeit unter der direkten Aufsicht der Herrinnen. Anders als die männlichen Sklaven, die sich durch

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die räumliche Entfernung ihrer Tätigkeit von den Herren deren direkter Kontrolle entziehen konnten, erreichten die Sklavinnen nur wenig Autonomie in der Konzeption und Ausführung ihrer Arbeit. Im Gegenteil, ihre Arbeit war in besonders hohem Maße entfremdet, da sie oft bis ins kleinste Detail von den Herrinnen bestimmt wurde. Das Bild von der Sklavin, die ihre Arbeit zwar widerwillig, aber der praktischen Artikulation eines eigenen Willens unfähig schließlich doch verrichtet, ist zum prägenden Stereotyp oraler Traditionen der weißen, freien Mauren über ihre Sklavinnen, nicht aber über ihre Sklaven geworden (vgl. Tauzin 1993: 71ff.). Sklavinnen, die unter diesen Bedingungen arbeiteten, reproduzierten durch den Zwang, den minutiösen Weisungen der Herrinnen zu folgen und diese weitestgehend von jeglicher körperlichen Aktivität zu entbinden, wesentlich ihre Verschiedenheit von den freien Frauen. So nah die Sklavinnen ihren Herrinnen in der Arbeit auch kommen konnten, blieb der symbolische Abstand zwischen freier und unfreier Frau durch die körperlich vollzogene Trennung der Arbeit in ihre intellektuelle und ihre praktische Komponente gewahrt, selbst wenn den Sklavinnen die Ausführung typisch männlicher Aufgaben erspart blieb. Während sich männliche Sklaven in ihrer Arbeit als den freien Männern in bestimmten Gebieten ebenbürtig darstellen und hierfür auch Anerkennung finden konnten, erlebten Sklavinnen ihre Arbeit als Manifestation ihrer Verschiedenheit und damit Unterlegenheit gegenüber den freien Frauen. Eine Anerkennung als soziale Person und damit auch ihrer Weiblichkeit konnten Sklavinnen dagegen auf einem anderen Gebiet erreichen. Der enge Kontakt zwischen Herrin und Sklavin beschränkte sich nicht nur auf die unmittelbare Reproduktion der Symbolik von Verschiedenheit. Jenseits der Kommandos und endlosen Aufgaben konnten Sklavinnen auch Intimität im Umgang mit ihren Herrinnen etablieren. Dies wird besonders dort deutlich, wo Sklavinnen sozial relevante Aufgaben ihrer Herrinnen wahrnahmen. Oft stillten Sklavinnen die Kinder ihrer Herren, wodurch in der Folge Beziehungen der Milchverwandtschaft zwischen Sklavin und freiem Kind entstanden, die in Umfang und sozialen Konsequenzen denen unter Freien entsprachen (freier Umgang mit dem anderen Geschlecht und Heiratsverbot analog zu blutsverwandten Geschwistern). Während sie in Bezug auf ihre leiblichen Kinder im Wesentlichen nur als biologische Mutter betrach-

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tet und in ihrer sozialen Funktion weitgehend durch die Herren ersetzt wurden, verbanden die Sklavinnen mit den von ihnen gestillten freien Kindern soziale Bande. Ferner etablierte die Milchverwandtschaft nicht nur Beziehungen zwischen »Milchmutter« und »Milchkind«, sondern machte die von der gleichen Brust gestillten freien und Sklavenkinder ebenfalls zu Milchbrüdern und -schwestern. Die Einbindung der Sklavinnen in soziale Beziehungen mit den Herren wurde somit auf die nächste Generation ausgedehnt, wo die gemeinsame Erfahrung der Intimität der Milchverwandtschaft mit der Wahrnehmung der gegensätzlichen Rollen von Herr und Sklave ein eigentümliches Amalgam bildete. Die Sexualität der Sklavinnen war jedoch nicht nur Mittel zur Produktion von Intimität mit der Herrin. Sie konnte auch in umgekehrter Zielrichtung in direkter Konkurrenz zu den freien Frauen im Werben um die Gunst freier Männer eingesetzt werden. Während Sklavinnen einerseits Opfer sexueller Gewalt und Ausbeutung durch freie Männer wurden, fanden sie andererseits in der maurischen Gesellschaft in einer Beziehung zu einem freien Mann und insbesondere durch eine Heirat mit ihm eine vergleichsweise sichere Option für sozialen Aufstieg. Ehen in dieser Konstellation setzten voraus, dass die Sklavin formal befreit wurde und damit einen Status erhielt, den sie auch im Falle einer späteren Scheidung nicht wieder verlieren konnte. Kinder aus diesen Ehen übernahmen allein den Status ihres Vaters und konnten diesen – trotz einer Reihe von Ambivalenzen, die aus der Herkunft der Mutter resultierten – in den meisten Fällen auch praktisch geltend machen. Gelegentlich wurden dieser Form der Abstammung sogar spezifische Qualitäten nachgesagt. Demzufolge verbanden sich in den Kindern von freien Männern und ehemaligen Sklavinnen entweder die guten Eigenschaften beider Elternteile (physische Stärke und Intellekt) oder aber die negativen Seiten. Diese grundsätzlich verschiedenen Optionen, die Sklavinnen und Sklaven in der Sklavenhaltergesellschaft zur Verfügung standen, um eine verbesserte soziale Einbindung zu erlangen, hatten zur Folge, dass sich für männliche und weibliche Sklaven unterschiedliche Strategien anboten, dieses Interesse zu verfolgen. Während Sklavinnen sich der innersten Ebene der maurischen Gesellschaft, der Kernfamilie, zuwandten, führte das Streben nach größerer Autonomie die Sklaven an die Peripherien des Einflussbereichs ihrer Herren. Die Konstituierung

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von Lebensgemeinschaften unter Sklaven wurde durch diese Konfiguration der Machtverhältnisse und die aus ihr resultierende räumliche Segregation erschwert. Die geringe Mobilität, die Sklavinnen von ihren Herrinnen und Herren zugestanden wurde, zwang die Sklaven zunächst dazu, sich bei Letzteren anzusiedeln, wollten sie ihre Beziehung leben. Gaben die pastoral-nomadischen Herren von Sklavin und Sklave ihr Leben in relativer Nachbarschaft, z. B. im selben Zeltlager, auf, bedeutete dies für das Sklavenpaar meist die Trennung. Der wesentliche Bezugspunkt sozialer Einbindung verblieb für die Sklavin wie für den Sklaven nicht der jeweilige Partner, sondern die hierarchische Bindung an die Familie der Herrin oder des Herren. Von ihnen konnte im Zweifelsfall eher ein gewisses Maß an Sicherheit und Unterstützung erwartet werden als vom ebenfalls mittellosen Partner (vgl. Oxby 1978: 193ff.).24 Die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzende Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den französischen Kolonien Westafrikas führte zu einem verstärkten Angebot von Lohnarbeit und eröffnete insbesondere den männlichen Sklaven bzw. befreiten Sklaven Optionen für die Verstärkung ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit. Dies verringerte die Abhängigkeit der sûdân von ihren ehemaligen Herren. Nachdem sie weitgehend autonom leben konnten und durch ihre Einkommen aus Migration und Lohnarbeit sowie eigener Landwirtschaft den Unterhalt ihrer Familien bestreiten konnten, akzeptierten diese Sklaven immer weniger Situationen, in denen sie sich als Anhängsel der Familie der Herren ihrer Frauen gebärden mussten. Sklavinnen wiederum, von denen nur wenige effektiv von den beschriebenen Optionen sozialer Anerkennung durch die weißen Mauren profitieren konnten, versuchten ebenfalls zunehmend, ihre Dienste für die Herrinnen und Herren einzuschränken. Dies gelang meist sukzessive und unter Vermeidung offener Konfrontation. So konnte z. B. die Anwesenheit im Haushalt der Herren auf bestimmte Jahreszeiten begrenzt werden, in denen die Herrinnen einen besonderen Bedarf an hauswirtschaftlicher Arbeitskraft hatten. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, die eigenen Töchter als Stellvertreterinnen zu den Herren zu schicken und hierdurch den Freiraum zum Verbleib bei der eigenen Familie zu gewinnen.

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Die einigende Kraft der Differenz Die aufgezeigten Strukturen und Praktiken verdeutlichen, wie die Unterscheidung in Sklavinnen, Sklaven und deren Nachkommen auf der einen Seite und frei geborene Mitglieder der maurischen Gesellschaft auf den anderen Seite produziert und aufrecht erhalten wurde. Diese Differenz ist aber keineswegs absolut, sondern eigenartig ambivalent. Die gegensätzlichen Merkmale der Sklavenarbeit verdeutlichen dieses Paradoxon. Sie beruhen gleichermaßen auf der Enthumanisierung und -sozialisierung ihrer Träger wie auf der Entäußerung von deren humanen Kapazitäten, welche die Grundlage der Arbeitstätigkeit bilden. Neben der Differenz von »Gebieten« und »Gehorchen« beinhaltet das Verhältnis von Herrn und Sklaven in diesem Fall auch ein Moment der Gleichartigkeit beider. Die Praxis der Delegation von Arbeit an den Sklaven ist an die Etablierung einer Sklaven und Herrn verbindenden kommunikativen Struktur gebunden und basiert auf gemeinsamen sozialen und humanen Kapazitäten. Die Herausbildung nicht nur einer spezifischen Arbeitsteilung zwischen Sklaven und Herren, sondern auch von für Herren und Sklaven typischen Formen der Arbeit kann in diesem Kontext als weiteres Mittel zur Betonung einer fundamentalen Differenz zwischen Sklaven und Herrn betrachtet werden. Je unterschiedlicher die Leitbilder von den Arbeitskapazitäten der Sklaven und Herren waren – indem beispielsweise die intellektuellen und kontrollierenden Fähigkeiten dem Herrn und die physischen Kapazitäten den Sklaven zugeschrieben wurden –, desto weniger offen trat das dieser Differenz zu Grunde liegende Gewaltverhältnis zu Tage.25 Eine vergleichbare Figuration bilden die sozialen Identifikationen von Sklaven und Herren. Indem die Ideologie der Herren das eigene Selbstverständnis als positives Gegenbild zum vermeintlichen Wesen der Sklaven entwickelt, werden die Entwürfe dessen, was es ausmacht, Sklave oder Herr zu sein, miteinander verschränkt. Die Verortung dieser beiden Pole in einer sozialen Hierarchie steht in Widerspruch zum eingangs konstatierten Entwurf der fundamentalen und unüberbrückbaren Differenz von Sklave und Herr. Es ist dieses spannungsgeladene Verhältnis – sowohl in der Ideologie der Sklaverei als auch in ihrer Praxis –, das Schnittstellen und Anschlussmöglichkeiten schafft, welche die postulierten Grenzen von persönlicher Freiheit und Unfreiheit übergreifende Formen der Identifikation ermöglichen. Wie sich im

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Einzelnen diese Differenz zwischen Inklusion und Exklusion von Sklaven artikuliert, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Die Dynamik der Grenzziehung »Frei / Unfrei« Der Ursprung der Sklaverei beruht auf einem Gewaltakt. Menschen werden erst durch ihre gewalttätige Versklavung zu im Sklavenhandel scheinbar legitim und analog zu anderen Waren veräußerbaren und erwerbbaren Objekten. Meillassoux (1986: 68ff.) hat darauf hingewiesen, dass zur Produktion von Sklaven wesentlich die Verfestigung der Depersonalisierung und Desozialisierung gehört, die mit dem gewaltsamen Heraustrennen der einzelnen Individuen aus ihren sozialen und familiären Beziehungen verbunden ist. Der Transport der Sklaven über oft große Entfernungen schaffte eine räumliche Distanz, die diesen Flucht und Rückkehr erschwerte. Gleichzeitig sorgte die Struktur des Handels, in die meist viele Zwischenhändler eingebunden waren, für eine effektive Tilgung des zu Beginn der Transaktionskette noch bestehenden Wissens um den lokalen Ursprung und die individuellen Merkmale der Sklaven. Dieser die initiale Versklavung verstetigende Prozess der Depersonalisierung der Sklaven, welche nicht für sich selbst Zeugnis ablegen konnten, war wesentlich, um die Sklaven zur gesichtslosen Ware zu konditionieren und damit zum leichter konsumierbaren Gut zu machen.26 Solchermaßen das Fremde verkörpernd, nimmt die Differenz zwischen Freien und Sklaven die Gestalt einer Grenze zwischen dem Innen und Außen der Gesellschaft an. Indem durch die Präsenz der Sklaven das Fremde nicht mehr allein an der äußeren Schnittstelle der Gesellschaft mit ihrer sozialen Umwelt steht, sondern in ihrem Herzen unmittelbar erfahrbar wird, entfaltet sich eine besondere Dynamik von Identifikation und Abgrenzung (James 1988: 133f.; Barth 1969). Die Beschreibung der Merkmale der Fremdheit der Sklaven befördert die Homogenisierung der eigenen Gruppe, d. h. der Gesellschaft der Herren. Erst im unmittelbaren Gegenüber von »Frei« und »Unfrei« gewinnen diese Attribute des persönlichen Status ihre volle Bedeutung. Indem die versklavende Gesellschaft sich wechselseitig ausschließende Attribute von Sklaven und Freien definiert, tritt sie in einen Prozess tiefgreifender Transformation ein. Analog der Domestizierung der Sklaven durchlaufen die Herren eine Sozialisierung in ihre

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Rolle. Die Distanz zwischen Herrn und Sklaven wird nicht allein durch die Herabwürdigung des Sklaven, sondern auch durch die Erhöhung des Herrn produziert. Der prozessuale Charakter dieser Selbstdisziplinierung, deren Ziel notwendigerweise unerreicht bleibt, eröffnet einen Raum von Merkmalen gradueller Annäherung an das soziale Ideal des Freien. Diese positive Definition der Identität der Herren erlaubt es den Sklaven, Praktiken zu entwickeln, die gezielt die Grenze von »Frei« und »Unfrei« überschreiten und außerdem unter Wahrung der gesellschaftlichen Differenz von Sklaven und Herrn die humane Identität beider zu demonstrieren. Prägnantes Beispiel einer solchen Praktik der Sklaven sind deren Gesänge, die am ehesten mit Gospels verglichen werden können. Auf Grund der Erfahrung, von den Herren weitgehend von religiösen Praktiken ausgeschlossen zu werden und die eigene Religiosität nicht anerkannt zu bekommen (gleichwohl die Unterweisung ihrer Sklaven im Glauben zu den Pflichten gehörte, die der Islam den Sklavenherren auferlegte), entwickelten die Sklaven Mauretaniens eine spezifische Musikform: den meddh. Diese von einer großen Trommel begleiteten Sprechgesänge lobten und priesen den Propheten. Die Inszenierung des meddh unterscheidet sich deutlich von der klassischen maurischen Musik. Die iggâwan (griots), die eine eigene endogame Gruppe der maurischen Gesellschaft bildeten,27 produzieren im Wesentlichen professionell eine modale, von der Harfe (ârdîn) und der Laute (tidinît) beherrschte, teilweise von Gesang und Trommel begleitete Musik. Demgegenüber besteht der vor allem von Frauen intonierte meddh ausschließlich aus dem zwischen Vorsängerin und Chor wechselnden Gesang sowie dem Rhythmus der Trommel und des Klatschens der Zuhörer. Während bei der klassischen maurischen Musik Tanz weitgehend die Ausnahme bleibt und gelegentlich im Sitzen durch das Bewegen von Armen und Beinen angedeutet wird, ist beim meddh bereits die Darbietung nicht ohne begleitenden Tanz denkbar. Dieser nimmt im Laufe der meist stundenlangen, bis weit in die Nacht und die frühen Morgenstunden andauernden Aufführungen ekstatische Züge an (vgl. Ould Mohand 1993; Guignard 1975).28 Die dargestellten wesentlichen Merkmale des meddh und der traditionellen maurischen Musik verdeutlichen deren trotz gewisser gegenseitiger Beeinflussungen bestehende Gegensätzlichkeit. Diese spiegeln vordergründig die Differenz der das Verhalten von sûdân und bidhân

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regulierenden Normen wider. Während die Musik der sûdân unmittelbar mit expressivem, in Trance und damit in den Verlust der Selbstkontrolle überleitenden Tanz verbunden ist, fordert das Ideal maurischer Sozialisation demonstrative Affektkontrolle, u. a. durch Zurückhaltung bei der Hingabe an die Musik, sei es nun in Form ihres Konsums oder ihrer Begleitung durch Tanz. Gleichzeitig duchbricht die Musik der sûdân das Schema einer stereotypen Reproduktion kultureller Differenz. Indem der meddh eine für die Gesellschaft der Herren konstitutive Thematik – die Lobpreisung des Propheten – aufgreift und sie mit importierten Traditionen von Rhythmus und Gesang kombiniert, schafft er ein spezifisches Amalgam, das der klassischen maurischen Musik in einer Hinsicht sogar überlegen ist. Orthodoxe Vertreter des in Mauretanien verbreiteten Islams malikitischer Prägung lehnen die von den iggâwan verwendeten Saiteninstrumente ab und stufen sie als harâm ein. Der meddh, der dem Reinen zuzuordnen ist, fällt hingegen nicht unter die Kategorie »Musik«. Kraft seines Inhalts und trotz seiner Eigenschaft als Unterhaltungsmittel der sûdân wird er von den orthodoxen Vertretern des Islams für besonders wertvoll erachtet. Die religiösen Praktiken der Freien und Unfreien und damit ihrer Träger unterscheiden sich zwar weiterhin, erscheinen in dieser Perspektive aber nicht mehr in einem hierarchischen, sondern einem komplementären Verhältnis zueinander. Die Hierarchie von Sklaven und ehemaligen Sklaven und Herren wird hier punktuell durch eine horizontale, Gleichwertigkeit bei Verschiedenheit suggerierende soziale Strukturierung ersetzt. Diese Umkehrung der Bewertung eines Aspekts der Sklavenkultur und Herrenkultur verdeutlicht, dass die Identifikation der sûdân mit der Gesellschaft ihrer ehemaligen Herren bzw. den Merkmalen von deren Identität durchaus wirksam werden konnte. Wie bei den Gospels der US-amerikanischen Sklaven war die Entwicklung einer eigenen Form musikalischer Unterhaltung schwer möglich, ohne Anleihen bei der Kultur der Herren zu machen. Da den Herren in der Musik der sûdân ein zentrales Element der eigenen Identifikation gegenübertrat, ließ sich diese nur schwerlich unterdrücken. Waren die sûdân ob ihrer letztendlich den Herren zuzuschreibenden Unkenntnis zentraler Pflichten eines Gläubigen auch weiterhin zu diskriminieren, unterstrich die Praxis des meddh doch ihr Bekenntnis zum Islam und damit die Aspirationen auf eine Gleichwertigkeit mit den bidhân. Die all-

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mähliche Aufweichung des unmittelbaren Gewaltverhältnisses zwischen Herren und Sklaven in den letzten Jahrzehnten führt schließlich dazu, dass die Sklaven und ehemaligen Sklaven diese Ansprüche immer effektiver in die Wirklichkeit umsetzen können und der spezifische religiöse Wert ihrer kulturellen Praktiken sogar von orthodoxen Islamgelehrten anerkannt wird. Während Vertreter der Gruppe der Herren unter den Vorzeichen eines veränderten sozio-ökonomischen Umfeldes die kulturellen Gemeinsamkeiten von Sklaven und ehemaligen Sklaven hervorheben, wurde der meddh für diejenigen, die offen gegen die anhaltende soziale und ökonomische Diskriminierung dieser Gruppe zu kämpfen begannen, zu einem Medium der Darstellung von Differenz. Zum Zweck der Agitation und der Schaffung einer kollektiven Identität der Sklaven und ehemaligen Sklaven wurde auf den meddh als Teil einer authentischen kulturellen Tradition dieser Gruppe zurückgegriffen. Während Form und Darbietung unverändert blieben, wurden die Texte durch solche ersetzt, die, indem sie in Geist und Inhalt an das kleine rote Buch Maos anschlossen, klar und deutlich darauf hinwiesen, welche Art von Bruchstelle zwischen ehemaligen Herren und Sklaven die Autoren antizipierten (vgl. Brhane 1997: 255). Inkorporation und Integration Angesichts der aufgezeigten, oft massiven Desozialisierung und Erniedrigung, die die sûdân, d. h. Sklaven und auch befreite Sklaven (harâtîn), in der maurischen Gesellschaft erfuhren und die sich bis heute in Form sozialer und ökonomischer Diskriminierung fortsetzen, stellt sich die Frage nach der Motivation für ihre starke Identifikation mit der Gesellschaft der Herren. Anders als beispielsweise von Miers / Kopytoff (1977) vertreten, belegen die Praktiken der Sklaverei in Mauretanien und die lang anhaltenden Auseinandersetzungen um ihre Beendigung, dass es keine quasi naturwüchsige Eingliederung der Sklaven in die Gesellschaft der Herren gibt. Die verschiedenen Formen der Dependenz, die sich aus Sklaverei und Verwandtschaftsverhältnissen ergeben, stellen kein Kontinuum dar. Vielmehr wurzeln die Erfolge, die Sklaven auf dem Weg einer stärkeren Einbindung in die Gemeinschaft der Freien erzielten, wesentlich auf den eigenen Fähigkeiten zur Integration. Konkret beruhten die Strategien der Sklaven

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darauf, Brücken zwischen den sozialen Welten zu schlagen, die tragfähige soziale Verbindungen zwischen Freien und Unfreien ermöglichten. Die Reaktionen der Herren und auch Herrinnen auf diese Bestrebungen waren ambivalent. Während ihr Erfolg keineswegs ausgeschlossen war, blieben größere Handlungsspielräume und respektvolle Behandlung für Sklaven oft an bestimmte, im Großen und Ganzen revidierbare Bedingungen gebunden. Starb ein Sklavenhalter, so kamen dessen Erben in den Besitz der Sklaven, konnten nach eigenem Gutdünken mit ihnen verfahren und waren nicht an Praktiken ihrer Vorgänger gebunden (ein Umstand, welcher den betroffenen Sklaven sowohl zum Guten wie zum Schlechten gereichen konnte). Die Crux, die sich den ihren Sklaven verpflichtet fühlenden Sklavenhaltern hier auftat, bestand darin, dass ein Interesse der eigenen Nachkommenschaft am Besitz von möglichst vielen Sklaven dieser Verpflichtung widersprach. Beleg für die Vitalität dieser Gegensätze ist, dass sich bis heute Konflikte an diesem Punkt entzünden. Sklaven präsentieren sich als harâtîn, indem sie sich auf mündliche Versprechen einer Befreiung berufen, die ihre Herren vor dem Tod abgegeben haben sollen, während die Nachfahren der Sklavenbesitzer derlei Bestandteile des Vermächtnisses leugnen. Einige Sklavenherren griffen zu einem juristischen Trick, um dem offensichtlichen Dilemma zu entgehen. Sie erklärten ihre Sklaven zu hubs, d. h., sie überführten ihre Sklaven in eine Art Stiftung, deren Bestandteile für die Erbengemeinschaft unteilbar und unveräußerlich waren. Sklavengemeinschaften oder -familien konnten daraufhin nicht länger gemäß der nach islamischem Recht praktizierten Erbteilung unter den einzelnen Erben aufgeteilt werden. Die Möglichkeit für Sklaven, von ihren Herren offiziell befreit zu werden und damit den Status eines harâtîn zu erlangen, kann als stärkstes Argument für die Möglichkeit realer Integration von Sklaven in die maurische Gesellschaft gelten. In der Tat empfiehlt der Koran die Befreiung von Sklaven und verknüpft diesen Akt mit Vorteilen für die Sklavenherren, die hierdurch Sündenerlass erwirken wie auch allgemein ihre Wohltätigkeit demonstrieren können (vgl. Lewis 1990: 6). Trotz dieser Anreize blieb bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Beginn der Kolonisierung Mauretaniens durch Frankreich, die Zahl der dort befreiten Sklaven minimal. Lag der Anteil der harâtîn an der

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dependenten Bevölkerung der Region des Adrar um 1910 den kolonialen Daten zufolge noch bei ca. 1-2 %, war er in den 1950er Jahren auf 50 % angestiegen (McDougall 1988: 378, Anmerkung 26). Jenseits der erst im 20. Jahrhundert drastisch verbesserten Chancen auf Befreiung – von der Männer noch immer wesentlich leichter profitieren können als Frauen – bedeutete harâtîn zu werden keineswegs, einen den frei Geborenen vergleichbaren Status zu erlangen. Obwohl die harâtîn den ehemaligen Herren analoge Rechte und Verpflichtungen hatten (Teilnahme an kollektiven Zahlungen der Stämme, Recht auf Eigentum und Familie), blieben sie weiterhin sozial deklassiert. Als ehemalige Sklaven konnten sie ihre Abstammung nicht auf Stammesmitglieder, sondern nur auf Sklaverei zurückführen. Es ist diese Ambivalenz des Status der harâtîn, die den Begriff zum Brennpunkt der Auseinandersetzungen um den Platz der ehemaligen Sklaven in der maurischen Gesellschaft hat werden lassen. So wird harâtîn heute gemeinhin als Euphemismus für alle dependenten Schichten gebraucht (gleichgültig ob diese eine formale Befreiung erlangt haben oder nicht) und so hervorgehoben, dass es sich um ehemalige Sklaven handelt. Umgekehrt gibt es aus den Reihen der harâtîn zahlreiche Diskurse, die eine unmittelbare Verknüpfung dieses Status mit vorangehender Unfreiheit leugnen und sich stattdessen auf zwar abhängige, aber freie Vorfahren berufen. Verschiedene Belege deuten darauf hin, dass derartige Behauptungen angesichts von relativ unabhängigen, ebenfalls als harâtîn bezeichneten Gruppen einen realen Kern besitzen (vgl. Ba 1932: 118f., Anmerkung 1). Es besteht damit Anlass zu vermuten, dass dem Begriff harâtîn nicht immer so eindeutig die Bedeutung »befreiter Sklave« zukam, wie dies in jüngerer Zeit propagiert wurde (vgl. Ould Hamidoun 1952: 49), sondern dass dies ein Resultat der diskursiven Formen der Selbst- und Fremdbeschreibung von Herren und Sklaven ist.29 Der zunehmenden Tendenz zu einer dichotomen Beschreibung der maurischen Gesellschaft in schwarz und weiß wird nicht zuletzt von den harâtîn widersprochen, die mit ihrer eigenen Befreiung oder der Abstammung von harâtîn eine Differenz zu den Sklaven verbinden. Dieser Protest gegen diese Form der Nivellierung sozialer Hierarchie betont, dass die Grenze zwischen frei und unfrei nach wie vor zwischen Sklaven und harâtîn und damit nicht zwischen bidhân und sûdân verläuft. Letztlich verwässert der inflationäre Gebrauch des

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Begriffs harâtîn wie auch seine Inanspruchnahme durch formal nicht befreite Sklaven das damit von »echten« harâtîn oft mühsam errungene – und bis in die Gegenwart von einigen erkaufte – soziale Prestige.30 Fazit Der Prozess der gesellschaftlichen Integration früherer Sklaven und Herren in der maurischen Gesellschaft ist bis heute von tiefgreifenden Ambivalenzen gekennzeichnet. Einerseits werden die sûdân zu einem Teil der Gesellschaft ihrer früheren Herren, der bidhân, andererseits bleibt eine Reihe trennender und in der Regel diskriminierender sozialer und auch ökonomischer Merkmale bestehen. Insofern scheint die Ideologie der Herren, der zufolge die Sklaven keine vollwertigen Mitglieder der maurischen Gesellschaft sind, sondern in dieser gleichsam bloß als inkorporierte Fremde erscheinen, unangefochten den Anspruch auf Hegemonie beanspruchen zu können. Neben die Betonung der Fremdheit von Sklaven und Herrn tritt allerdings das Moment der allmählichen kulturellen Assimilation der Sklaven. Die Balance dieser beiden Tendenzen hat im Laufe des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Veränderung erfahren. Während Sklaven in den vergangenen Jahrhunderten unter den Vorzeichen einer hohen Sterblichkeit und des permanenten Imports neuer Sklaven tatsächlich in der ersten Generation oft »Fremde« waren, hat sich dies mit dem Ende des Sklavenhandels definitiv geändert. Die zunehmende Assimilation, zu der es für die große Masse der Sklaven keine Alternative gab, beförderte die Veränderung der fragilen Balance von Differenz und Identität zwischen Sklaven und Herren. Angesichts steigender kultureller Kompetenzen der Sklaven, der allmählichen Bildung von Sklavengemeinschaften, vor allem aber der wachsenden ökonomischen Autonomie vieler Sklaven verschoben sich die Felder der Artikulation der Relation Sklave / Herr. Emanzipatorische Diskurse fanden wachsende Verbreitung und stellten die Unterordnung der sûdân in der Hierarchie der maurischen Gesellschaft in Frage. Wenn trotz oft schärfster Kritik an Herrenmentalität und Diskriminierung die Mehrzahl dieser Diskurse keine prinzipielle Abkehr von der Gesellschaft der Herren propagiert, so ist dies zum einen das Resultat einer manifesten Assimilation der ehemaligen Sklaven geschuldet. Zum anderen bestehen auch Jahrzehnte nach Beginn der mauretanischen Unabhängigkeit keine tragfähigen alternati-

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ven Muster der Identifikation. Die von einigen Vertretern der sûdân propagierte Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, d. h. die Abstammung von verschiedenen subsaharischen Ethnien, hat wenig Anziehungskraft. Die Angehörigen der verschiedenen in Mauretanien ansässigen schwarzafrikanischen Ethnien unterliegen bis heute einer Diskriminierung durch den von Mauren dominierten Staatsapparat. Ferner war Sklaverei nicht nur bei den Mauren verbreitet, sondern bei nahezu allen ethnischen Gruppen der Region. Ressentiments gegenüber Sklaven, nicht nur gegenüber denen der eigenen, sondern auch gegenüber denen anderer Gesellschaften, sind daher ein generelles und nicht auf eine Ethnie beschränktes Phänomen. Angesichts dieser Faktoren ist die geringe Resonanz der eine ethnische Authentizität propagierenden Diskurse unter der großen Masse der nach unmittelbarer Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Situation strebenden sûdân wenig verwunderlich. Was damit bleibt, ist die Fortsetzung der Auseinandersetzung um den Platz der sûdân in der maurischen Gesellschaft. Hier geht es darum, Merkmale der Identität und Differenz kreativ und in wechselnden Kontexten flexibel zu handhaben. Durch diese »pluritaktischen Identifikationen« (vgl. Schlee / Werner 1996: 11ff.) gelingt es, die Widersprüche der maurischen Gesellschaft in Form des Gegensatzes zwischen Inklusion und Exklusion der Ex-Sklaven produktiv nutzbar zu machen. Anmerkungen 1 Paradigmatisch für diese Argumentationsfigur ist die Selbstpräsentation von Anti-Slavery International (http://www.charity-net. org/~asi/intro.htm). Obgleich durchaus mit der Frage der Persistenz von Sklaverei befasst (Verleihung des Anti-Slavery Awards 1998 an den mauretanischen Menschenrechtsaktivisten Prof. Cheikh Saad Bouh Kamara; vgl. auch Mercer 1982), liegt das Schwergewicht der Arbeit heute auf »moderner Sklaverei«: Kinderarbeit, Zinsknechtschaft, sexueller Ausbeutung von Kindern und Frauenhandel. 2 »Sklavenjäger im Sudan«, Film von Stefan Schaaf, Südwestfunk 1998. Alle rezenten populären Publikationen zu dieser Thematik scheinen auf einer einzigen Quelle zu basieren: »Christian Solidarity International« (CSI), jüngst umbenannt in »Christian Solidarity

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Worldwide« (vgl. http://www.azariah.org.uk/csi/frameset.html). Erste Informationen über eine Revitalisierung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse im Sudan kamen jedoch aus dem Land selbst und stellten die Problematik jedoch deutlich differenzierter dar (vgl. De Waal 1997). Diese Einschränkung trifft nicht auf die USA zu, wo die Trennung in Black Africans als Opfer und »Arabs« als Täter ausreicht, Reminiszenzen an die eigene Geschichte der Sklaverei auszulösen. Gleichwohl sind die Reaktionen seitens der African Americans der Vereinigten Staaten keineswegs einheitlich ablehnend, finden sich doch innerhalb der Schwarzen Bevölkerungsgruppe Christen, Muslime und Juden und entsprechend unterschiedliche Affinitäten zu Staaten wie dem Sudan und Mauretanien (vgl. Gregory 1996). Mr. Saugnier erlangte seine Freiheit wieder, nachdem einer seiner mehreren sukzessiven Besitzer ihn nach Goulimine (Südmarokko) gebracht hatte. Dort gab es einen Mittelsmann, der Schiffbrüchige für den französischen Konsul ausfindig machte und ihren Freikauf verhandelte (vgl. Barbier 1984: 30). Ibn Hawqal, der 947-51 den Maghreb bereiste, berichtet von dem bedeutenden Handel mit Sklaven (in erster Linie Mädchen und Frauen) aus dem Sudan (vgl. Ibn Hawqal in Levtzion / Hopkins 1981: 47). Al-Bakri (gest. 1094) beschreibt die Vorzüge der Sklavinnen von Awdaghust (seinerzeit wichtigste Handelsmetropole am südlichen Rand der westlichen Sahara, deren ökonomische Aktivitäten eng mit denen der nomadischen Bewohner der Region verknüpft waren) und merkt an, dass einzelne Bewohner der Stadt tausende Sklaven besaßen (vgl. Al-Bakri Hawqal in Levtzion / Hopkins 1981: 68). Es ist daher anzunehmen, dass die intensive Oasenwirtschaft Awdaghusts im Wesentlichen auf der Arbeit von aus dem Sudan importierten Sklaven beruhte (vgl. McDougall 1985a: 12). Die territoriale Expansion der pastoralen Nomaden der Sahara weit in agrarisch genutzte Gebiete der Savanne hinein war besonders ausgeprägt bei den Tuareg. Eine Beschreibung dieser Herrschaftsbeziehung aus der Sicht der Unterworfenen findet sich bei Olivier de Sardan (1976). Bei den Mauren ergab sich ein vergleichbares Machtgefälle insbesondere zwischen dem Emirat von Trarza und der Region des Waalo im heutigen Senegal sowie der Region des

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Emirats Brakna und südlich angrenzender Gebiete (Barry 1972: 199; Taylor 1996: 47ff.). Commandant de Cercle du Hodh, I. Bastouil, Aioun el Atrouss, 25. Mai 1959: Étude sur la population noire dans la subdivision d’ Aioun el Atrouss: 2, Dokument der Archives Nationales de Mauritanie (keine Kenn-Nummer), freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch Meskerem Brhane. Daten aus Rapport politique, année 1950, Tableau de population, TOM de la Mauritanie, Cercle du Tagant, Subdivision de Moudjéria; Dokument freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch Roger Botte und dokumentiert in Ruf (1998: 118). Der Bedeutungsinhalt von »weiß« bzw. »schwarz« in den Bezeichnungen bidhân bzw. sûdân ist ein soziales Merkmal der Distinktion. Zahlreiche Mauren nobler Abstammung sind von tiefdunkler Hautfarbe, während bestimmte Teile der sûdân hellhäutig sind. Anders als in den urban geprägten Gesellschaften Nordafrikas waren die Schulung in mystischen Praktiken des Islams in Gestalt des Sufismus und die Ausbildung in verschiedenen Disziplinen des Islams in den gelehrten Kreisen der maurischen Gesellschaft nicht getrennt, sondern wurden in den Koranschulen gleichermaßen gelehrt (vgl. El Hamel 1999: 79f.). Die Elite der zwâya war sozialen Aufsteigern keinesfalls generell verschlossen. Bedingung war jedoch, wie der Fall des berühmten Shaikh Siddiya al-Kabîr belegt, dass sich die Reputation als Gelehrter und Mystiker gleichermaßen entwickelte (vgl. Ould Cheikh 1991). Hamès (1979) hat als erster dezidiert die These formuliert, der zufolge der Import von Sklaven den latenten Mangel an Arbeitskräften innerhalb der pastoral-nomadischen Gesellschaft auszugleichen half und es bestimmte Teile der Gelehrten waren, die von dieser Entwicklung im Zuge des Handelsaufschwungs mit Gummi Arabicum (18.-19. Jahrhundert) profitieren konnten und die hierarchische Strukturierung der Gesellschaft weiter verstärkten. Dieser Trend verstärkte sich, als im Laufe des 19. Jh. auf Grund der allmählich sich vollziehenden politischen Beendigung des Sklavenhandels das Angebot an Sklaven knapper wurde und somit unmittelbare Kosten-Nutzen-Kalküle bei der Anschaffung von Sklaven einen größeren Stellenwert gewannen (vgl. Lovejoy 1989: 383).

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14 Daten aus Rapport politique, année 1950, Tableau de population, TOM de la Mauritanie, Cercle du Tagant, Subdivision de Moudjéria; Dokument freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch Roger Botte und dokumentiert in Ruf (1998: 118). 15 Im Gegensatz zur Praxis der Sklaverei, die von den französischen Kolonialbehörden in Mauretanien anders als in anderen Teilen Westafrikas lange Zeit offiziell geduldet wurde, waren Maßnahmen zur Unterbindung des Sklavenraubs und des organisierten Sklavenhandels vergleichsweise effektiv (vgl. Roberts 1988). 16 Fliehen hieß in der Regel für Sklavinnen, zumindest einen Teil ihrer Kinder bei den Herren zurückzulassen. Fälle, in denen Sklavinnen die Herausgabe ihrer Kinder durch die ehemaligen Herren fordern, beschäftigen bis heute – und manches Mal mit ungewissem Ausgang – die mauretanischen Gerichte (vgl. Dokumentation SOS Esclaves 1999 [http://membres.tripod.fr/faas/sos]). 17 Frauen verfügen in der maurischen Gesellschaft trotz deren patriarchalischer Strukturierung über großen Einfluss. Ursprünge dieser Macht der Frauen können in der besonderen Stellung von Frauen in nomadischen Gesellschaften, in denen sie oft alleine die Haushalte in Abwesenheit der Männer führten, und in der früheren, matrilinearen Struktur der Verwandtschaft in der Westsahara gesehen werden (vgl. Cleaveland 1995: 40ff.; Tauzin 1984). 18 Bis in die heutigen Tage üben Herren einen entscheidenden Einfluss auf ihre Sklavinnen aus. Persönlich konnte ich einen Fall dokumentieren, in dem Herren Ende der 1980er Jahre einer Sklavin verbaten, gemeinsam mit ihren Kindern ihrem Ehemann an einen neuen Wohnort zu folgen (vgl. Ruf 1998: 47ff.). 19 Verwandtschaftsbeziehungen unter Sklaven wurden auch im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika, wo sich die Sklavenbevölkerung anders als in Afrika selbst reproduzierte, durch soziale Praktiken der Herren negiert. Indem Sklaven ausschließlich beim Vornamen genannt und in Dokumenten verzeichnet wurden, gibt es jenseits oraler Traditionen keine Möglichkeit der Rekonstruktion von Familienstrukturen (vgl. Walsh 1997: 4). 20 Entscheidend für die Zuordnung einer Tätigkeit zu einem Geschlecht erscheint hier nicht ihre Härte, d. h. die physische Belastung. Vielmehr entscheiden im Einzelfall Erwägungen des Zeitmanagements und der Verfügbarkeit. So konnten während der Dürre

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von 1992, als Esel als Zugtiere bereits verendet waren, ausschließlich junge Frauen bei der Schöpfarbeit an einem 30 m tiefen dörflichen Brunnen beobachtet werden. In einem anderen Dorf, in dem noch Zug- und Transporttiere zur Verfügung standen, wurde die Arbeit von Männern gemacht. Den Beobachtungen von Caillié zufolge beschränkte sich die Lehrzeit in den stark frequentierten nomadischen Koranschulen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf diese Zeiten des Tages (vgl. Caillié 1830: 89). Sowohl die Lehrer (in einigen Fällen, insbesondere der Unterweisung von Mädchen unterrichteten auch Frauen) als auch die Schüler konnten so den Tag für Arbeiten des Alltags nutzen. Bourdieu (1979: 54) analysierte paradigmatisch die Ausdifferenzierung weiblicher und männlicher Räume und Verhaltensweisen für die kabylische Gesellschaft Algeriens: »Wer tagsüber zu oft und zu lange zu Hause bleibt, macht sich verdächtig oder lächerlich: er ist ›der Mann im Hause‹, wie man den Störenfried nennt, der unter den Frauen bleibt und ›zu Hause brütet wie die Glucke im Nest‹. Der Mann der auf sich hält, muss sich zeigen, sich ständig dem Blick der anderen stellen, ihnen die Stirn bieten, ihnen gegenübertreten (qabel).« Auch in den Traditionen des Propheten Mohammed wird berichtet, dass männliche Sklaven durch das Seklusionsgebot von den Räumen der Frauen ausgeschlossen sind. Eine für Freie wie Unfreie bestehende Möglichkeit, diese Schranken zu überwinden, bestand in der Etablierung einer Milchverwandtschaft (vgl. Conte 1991: 78f., Ruf 1998: 83-89). Die Versorgung im Alter durch den Herrn war für Sklaven keineswegs gewiss. Wurde der Sklave befreit, was in fortgeschrittenem Alter häufiger vorkam, bestand für den ehemaligen Herren keine Verpflichtung mehr, zur materiellen Existenz seines ehemaligen Sklaven beizutragen. Manche Sklaven sicherten sich gegenüber diesem Risiko dadurch ab, dass sie selber Sklaven erwarben, deren Arbeit im Alter den eigenen Unterhalt sichern sollte, oder versuchten, in Polygamie praktizierenden Gesellschaften, diese Sicherheit durch die Heirat einer zweiten Frau zu erreichen (vgl. Klein 1983: 80-84). Die Stereotype, mit denen schwarze Sklaven im Kontext islami-

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scher Sklaverei und der Sklaverei im Süden der USA belegt wurden, gleichen sich erstaunlich. In beiden Fällen wurde schwarze Hautfarbe mit Hässlichkeit gleichgesetzt und wurde den Sklaven übler Geruch, die Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit und ein Hang zu Musik nachgesagt (vgl. Brown 1993: 665f.). Gemäß der islamischen Rechtsprechung ist nur die Versklavung von Ungläubigen im heiligen Krieg legitim. Nur diese sowie ihre Nachfahren, nicht aber Personen, die sich bereits zum Zeitpunkt ihrer Versklavung zum Islam bekannten, können in Sklaverei gehalten werden (vgl. Barbour / Jacobs 1985). Da diese Maßgabe in den Sklavenraubzügen des stark islamisierten sahelischen und subsahelischen Raumes keine nennenswerte Beachtung fand, wohl aber der Beruhigung des Gewissens der Käufer diente, war die Auslöschung des Wissens um das Bekenntnis der Sklaven ein wesentlicher Teil ihrer Transformation zur Ware. Wie in anderen westafrikanischen Gesellschaften besangen die iggawân den Ruhm der großen Krieger (hassân) und bewahrten deren Traditionen. Von den Gelehrten (zwâya), zu denen sie auf Grund ihrer Funktion als Bewahrer von Wissen in einem latenten Konkurrenzverhältnis standen, wurden die iggawân verachtet. Diese Trennung, die angesichts des Faibles der meisten Mauren für Musik nie absolut war, verliert gegenwärtig immer stärker an Bedeutung, und iggawân werden zur Begleitung feierlicher Anlässe von Angehörigen des Krieger- wie des Gelehrtenstandes gleichermaßen, teilweise aber auch von ehemaligen Sklaven und harâtîn, eingeladen. Parallelen ergeben sich zwischen dem meddh der maurischen Sklaven und rituellen Praktiken verschiedener anderer, aus dem subsaharischen Afrika stammenden Sklavengemeinschaften in Marokko, Algerien und dem Sudan. Hier mischen sich offensichtlich Elemente nicht-islamischer Besessenheitskulte mit solchen des mystischen Islams und resultieren in eigenständigen kulturellen Praktiken, in denen Tanz, Ekstase und Besessenheit ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. Hunwick 1992: 28f.; Makris 1996). Als harâtîn werden in verschiedenen Gesellschaften des nordwestlichen Afrikas jeweils Gruppen mit einem geringen, zwischen dem der Freien und Sklaven liegenden sozialen Ansehen bezeichnet. Die Etymologie des Wortes ist unbekannt (vgl. Colin 1960).

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Eine detaillierte Studie über das Verhältnis von harâtîn und shurfa in einer Oase im Süden Marokkos findet sich bei Ensel (1998). 30 In der Region des Adrar sind einzelne harâtîn Träger von bis zu 200 Jahre alten Befreiungsurkunden. Diese Personen hatten oft verantwortungsvolle Aufgaben als Vertraute der Stammesführer und Emire (Pierre Bonte, persönliche Mitteilung). Es liegt nahe, dass diese Personen die Differenz zwischen sich und Sklaven als größer erachteten als die gegenüber einer großen Zahl der freien Mauren. In der Region Achram-Diouk konnte ich eine Reihe von Fällen dokumentieren, in denen Sklaven bis in die Gegenwart für ihre formale Befreiung beträchtliche Summen an ihre ehemaligen Herren zahlten. Literatur Ba, Ahmadou Mahmadou (1932): »L’émirat de l’Adrar mauritanien de 1872-1908«. Bulletin de Géographie et d’Archéologie de la province d’Oran LIII, S. 83-119 u. 263-298. Baier, Stephen / Lovejoy, Paul E. (1977): »The Tuareg of the Central Sudan: Gradations in Servility at the Desert Edge (Niger and Nigeria)«. In: Suzanne Miers / Igor Kopytoff (Hg.), Slavery in Africa, Historical and Anthropological Perspectives, Madison: University of Wisconsin Press, S. 391-410. Barbier, Maurice (Hg.) (1984): Trois Français au Sahara occidental en 1784-1786, Paris: Harmattan. Barbour, Bernard / Jacobs, Michelle (1985): »The Mi’raj: A Legal Treatise on Slavery by Ahmad Baba«. In: John Ralph Willis (Hg.), Slaves and Slavery in Muslim Africa, Vol. 1: Islam and the Ideology of Enslavement, London: Frank Cass, S. 125-159. Barry, Boubacar (1972): Le royaume du Waalo, le Sénégal avant la conquête, Paris: Maspéro. Barth, Fredrik (1969): »Introduction«. In: Fredrik Barth (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference, Bergen / London: Universitetsforlaget / Allen & Unwin, S. 938. Bonte, Pierre (1986): »Une agriculture saharienne: Les grâyr de l’Adrar mauritanien«. Revue de l’occident musulman et de la Méditerranée, 41 / 42, S. 378-396.

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Muslimische Frauenorganisationen im Nordsudan

Muslimische Frauenorganisationen und Geschlechterpolitiken im Nordsudan1 Ruth Klein-Hessling

Zahlreiche Studien der letzten Jahre haben gezeigt, dass Frauen als Vertreterinnen einer modernen islamischen Agenda neue Öffentlichkeiten konstruieren (vgl. z. B. Karam 1998; Klein-Hessling et al. 1999; Macleod 1991; Werner 1997). Der Islam wird für Frauen zu einem wichtigen Referenzrahmen. Im Mittelpunkt dieses Artikels steht die spezifische Lebenspraxis von Frauen in einem nordsudanesischen Dorf, die sich in religiösen Frauengruppen organisieren und dadurch neue Frauenräume (vgl. Lachenmann 1992) schaffen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen Islam und Moderne. Damit übernehme ich einerseits die emische Sichtweise der Akteure, andererseits beziehe ich mich auf die soziologische Diskussion über Konzepte der islamischen Moderne (Al-Azmeh 1996; Salvatore 1998; Stauth 2000). Von Interesse ist dabei weniger der Islam in seiner politischen Variante (vgl. Roy 1994; Ayubi 1993) und auch nicht die Dichotomie von orthodoxem versus lokalem Islam (vgl. Eickelman 1982). Vielmehr geht es darum, den Islam als ein in der Moderne anschluss- und diskursfähiges Konzept zu diskutieren, dessen Werte und Normen rational nachvollziehbar sind (vgl. Nökel 1999). Zentrales Identitätsmerkmal ist dabei ein Lebensstil, der den religiösen Habitus in den Mittelpunkt stellt. In einem Dorf, in dem sich alle DorfbewohnerInnen als Muslime verstehen, erscheint die Frage nach muslimischer Identität zunächst paradox. Und mit eben dieser Gewissheit erklärte mir eine junge Dorfbewohnerin in einer Diskussion über mein Forschungsprojekt

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»aber wir sind alle Muslime hier«. Doch im nächsten Atemzug fügte sie hinzu, dass die BewohnerInnen jenes Dorfviertels AnhängerInnen einer puritanisch-religiösen Gruppe seien, deren religiöse Praxis sie persönlich ablehne. Auch verwies sie auf die ›Alten‹, die noch Bräuchen nachhingen, die längst als unislamisch identifiziert worden seien, und dass gerade junge Menschen wie sie selbst durch Schul- und Hochschulbildung erst in der Lage seien, den Koran zu lesen und zu verstehen. Entlang solcher Grenzziehungen bewegen sich die im Folgenden beschriebenen Akteure. Dabei repräsentiert ihr demonstrativ zur Schau gestellter islamischer Lebensstil und dessen Praxis weniger muslimische Identität als einen partikularen muslimischen Stil in Abgrenzung zu anderen. In diesem Akt der Differenzierung wird Identität konstruiert (vgl. Grossberg 1996; Evers / Schlee 1995). Dabei wird die Konstruktion eines perzeptiven Gegenübers und die Abgrenzung vom Anderen situativ und strategisch eingesetzt. Die im Folgenden vorgestellte Dorfstudie macht auch deutlich, dass neue Organisationsformen von Frauen in lokale, nationale und globale Strukturen eingebunden sind. Die empirische Grundlage der Studie bildet eine einjährige Feldforschung in einem Dorf im nubischen Teil des Nordsudan. Qualitative und ethnologische Methoden – wie teilnehmende Beobachtung, informelle Gespräche, biografische Interviews sowie die Teilnahme am Alltagsleben und an sozialen Ereignissen – ermöglichten mir, sowohl die Selbst- und Fremdbeschreibungen einzelner Akteure als auch die Dynamik ihrer sozialen Interaktion zu erfassen. Durch die Kenntnisse des Dorfalltags und der Alltagserfahrungen der DorfbewohnerInnen konnte ich so unterschiedliche soziale Felder erschließen, in denen die DorfbewohnerInnen handeln. Ein Großteil der ca. 2.000 EinwohnerInnen des Dorfes lebt von der Landwirtschaft. Die Nähe zu einem Bewässerungsprojekt ermöglicht auch jenem Teil der Dorfbevölkerung Land zu bestellen, der über kein oder nur wenig Erbland in der Nähe des Nils verfügt. Darüber hinaus gehört die Migration – v.a. in die Erdöl produzierenden Nachbarstaaten – zur Alltagswelt der Menschen im Dorf. Vor allem für junge Männer ist die Migration Teil des Lebenszyklus und nicht nur ökonomisch motiviert. Die nubische Region im Sudan ist bekannt für ihre jahrhundertealte Tradition der Migration, jedoch hat jedes Dorf auch seine eigene Migrationsgeschichte. Im hier vorliegenden Fall begann

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die Migration nach Saudi-Arabien auf Grund der relativ stabilen ökonomischen Situation im Dorf erst Mitte der 1980er Jahre. Die Einbindung in soziale Netzwerke erleichtert den Migranten die Arbeitsplatzsuche in Saudi-Arabien. Verglichen mit denjenigen aus anderen Dörfern der Region sind die Migranten aus dem untersuchten Dorf allerdings nur bedingt erfolgreich. Den Mythos vom »Habenichts«, der als gemachter Mann ins Dorf zurückkehrt, dekonstruieren die DorfbewohnerInnen mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont: Diskriminierung, Illegalität und Willkür, die das Leben der Migranten in SaudiArabien prägen, sind auch im Dorf bekannt. Der Diskurs um einen modernen Islam, vielfach als Resultat der Migration betrachtet (vgl. Bernal 1994), ist deshalb auch sehr viel komplexer. Zwar ist der Einfluss eines Islams saudischer Prägung im Dorf durchaus spürbar. Eine neue Moschee wurde mit finanzieller Unterstützung aus SaudiArabien realisiert. Migranten bringen häufig als Geschenke für ihre weiblichen Familienangehörigen einen Hijâb (Umhang, der den ganzen Körper bedeckt, häufig mit Gesichtsschleier [nigâb] getragen) oder eine ibâya (langer Mantel) mit. In Radioprogrammen oder auf Kassetten erläutern saudische Religionsgelehrte Fragen der Moral, der Ehe und der Lebensführung. Diese Programme richten sich explizit an Frauen und werden in ihren Kreisen diskutiert. Trotz des konstatierten saudischen Einflusses wäre es aber kurzsichtig, den gegenwärtigen Diskurs um einen modernen Islam alleine auf die Erfahrungen der Migranten und dem Bild Saudi-Arabiens als Zentrum sakraler und ökonomischer Macht (Bernal 1994: 41) reduzieren zu wollen. Die empirischen Ergebnisse zeigen vielmehr, dass die Bedeutung des Islams und die islamische Praxis sozial konstruiert sind und im Kontext sozialer Differenzierung als Folge des Zugangs zu Bildungsinstitutionen sowie der Einbindung in staatliche Institutionen und in den internationalen Arbeitsmarkt zu diskutieren sind. Mit der Beschreitung des »islamischen Wegs«2 hat der ehemalige Präsident Ja’afar Al-Numairi (1969-1985) in den 1970er Jahren einen tief greifenden soziokulturellen Wandel im Sudan eingeleitet, der 1983 zur Einführung der Scharia führte.3 Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Putsch von 1989 unter der Führung des Oberst Umar Hasan al-Bashir, die so genannte »Revolution der Nationalen Rettung« (thaurat al-inqâd al-waTanî). Das gegenwärtige sudanesische Regime versucht, eine rein islamische Ordnung (al-nizâm al-

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îslamî) herzustellen, die alle Lebensbereiche einschließt. Dabei geht es nicht nur um die religiöse Besetzung von Alltagspraktiken, Geschäftsgebaren oder Sprache, sondern auch um die Modernisierung der Gesellschaft (vgl. Beck 1992 / 93). Zentraler Bestandteil dieser Politik ist der Versuch, eine sudanesische Identität zu konstruieren. Die Dominanz eines arabisch geprägten Islams wird zu Gunsten einer muslimischen Gemeinschaft (umma) verdrängt. Damit werden ethnische Grenzziehungen in den Hintergrund gerückt. Die Etablierung einer »öffentlichen Moral« und die damit einhergehende Neuordnung der Geschlechterverhältnisse ist Teil dieser staatlichen Identitätspolitik. Auf der legislativen Ebene sind zahlreiche Erlasse erschienen, die das Verhalten von Frauen und Männern in der Öffentlichkeit regeln. Hierzu gehört eine Kleiderordnung, die vor allem für Frauen folgenreich ist und de facto jedem Mann das Recht gibt, selbst eine unbekannte Passantin bei angeblicher Nichtbefolgung zurechtzuweisen. Bestimmte Berufsgruppen sind für Frauen verschlossen, und bei der Besetzung von Arbeitsplätzen werden Männer bevorzugt behandelt. Gleichzeitig hat die herrschende National Islamic Front (jabha al-islâmîya al-watanîya, NIF) auch Debatten übernommen, die vormals eher auf der Agenda der linksgerichteten Parteien standen. Thematisiert werden die Situation erwerbstätiger Frauen, sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz sowie die Lebensbedingungen von Frauen im informellen Sektor (vgl. Hale 1994). Die staatlich kontrollierten Medien vermitteln auch das Bild der sozial engagierten Muslima, die zum Wohl der Gemeinschaft arbeitet, ohne dabei ihre familiären Pflichten zu vernachlässigen. Medial präsent ist die Frau auch als uniformierte Kämpferin, als Ärztin, die sich um die weiblichen Patienten kümmert, als stolze Mutter eines Märtyrers (mujâhid), der im Krieg sein Leben verlor, oder als religiös bewanderte Studentin, die im Fernsehquiz mit ihrem Wissen über islamische Geschichte die männlichen Konkurrenten aussticht. Die »sudanesische Frau« als Symbol authentischer Kultur ist zentrales Element staatlicher Identitätspolitik. Aus einer Perspektive, die Frauen als Subjekte ihrer eigenen Geschichte betrachtet, zeigt sich aber, dass sich weibliche Identität in der Alltagswelt und entlang von Alltagserfahrungen konstituiert. Deutlich wird dies am Fall von Frauen, die in der islamischen Wohlfahrtsarbeit aktiv sind und die im Folgenden beschrieben und analysiert werden. Die islamische Wohl-

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fahrtsarbeit bietet Frauen ein Handlungsfeld, sich zu organisieren und neue Öffentlichkeiten zu schaffen, nicht zuletzt da seit dem Putsch alle politischen (Frauen-)Organisationen verboten sind. In dem für die vorliegende Studie untersuchten Dorf haben sich Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre Frauengruppen gebildet, die religiöse Studien mit sozialem Engagement verbinden. Lokale Frauenorganisationen und der Staat Ziel der Frauengruppen, die sich im Dorf gegründet haben, ist die religiöse Aus- und Weiterbildung einerseits, das soziale Engagement für das Dorf andererseits. Wöchentlich treffen sich einige Frauen, um gemeinsam einzelne Verse und Kapitel des Koran zu lesen und daran anknüpfend Formen der religiösen Lebensführung zu diskutieren. Dabei werden Themen wie Ehe und Sexualität, Habgier und Eifersucht etc. unter Bezugnahme auf die Alltagserfahrungen der Frauen behandelt. In einer Sitzung, an der ich teilnahm, wurde zum Beispiel erörtert, wie mit Gefühlen wie Neid angesichts des aufwendigen Lebensstils mancher mit erfolgreichen Migranten verheirateter Frauen umgegangen werden soll. In solchen und anderen Fällen erfolgt oft ein Rückgriff auf die weiblichen Gestalten der frühislamischen Geschichte, denen es nachzueifern gilt. Häufig sind diese Frauengruppen die einzigen Organisationen im Dorf, die sich um soziale Verbesserungen und die Abschaffung von Missständen bemühen. Im hier vorgestellten Dorf bietet die Gruppe beispielsweise Alphabetisierungskurse an, betreibt Gesundheitsaufklärung und initiiert Einkommen schaffende Projekte für Frauen. Obwohl die Frauen im Dorf auf lokaler Ebene agieren, legen die Namen ihrer Gruppen die Zugehörigkeit zu nationalen Organisationen nahe. Sie heißen ra¯’ida¯t al-nahda, eine Organisation der Muslimschwestern (vgl. Hale 1996: 207), die sich der »nationalen und geistigen Erhebung« verschrieben hat, oder gami’îat al-Huda und sind in weiten Teilen des Nordsudan verbreitet. Die Namen signalisieren eine religiöse Ausrichtung. Die religiöse Konnotation des Namens Huda kommt z. B. in der Ableitung ’ala Hudan zum Ausdruck, was etwa »dem rechten (religiösen) Weg folgen« bedeutet. Der überregionale Bezug, der durch die Namensgebung besteht, kam allerdings in den Gesprächen, die ich mit Mitgliedern der verschiedenen Frauengruppen im Dorf führte, nicht zum Ausdruck. Vielmehr betonten die Frauen

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die eigenständige Geschichte ihrer Gruppe und grenzten sich deutlich von staatlichen Organisationen ab. Die Gründerin einer Frauengruppe erzählte: »Wir sahen die Unwissenheit ( jahl ) hier im Dorf und wir beschlossen, den Menschen zu helfen. Frauen aus der ganzen Gegend trafen sich, wir diskutierten unsere Probleme und stellten fest, dass auch die Frauen aus den Nachbardörfern dieselbe Idee hatten. Gemeinsam gründeten wir die Gruppe. Dies geschah 1988. Wir verbreiteten die Neuigkeit in allen Dörfern und machten die Menschen auf unsere Aktivitäten aufmerksam. Und dann, Gott sei gedankt, kam die Revolution. Sie gründeten die Sudanesische Frauenunion und sagten, dass sie die einzige Frauengruppe sei. Eigentlich waren wir es, die die Gruppe gründeten, aber dann kam die Regierung und änderte den Namen. Aber unsere Gruppe war vor der Revolution da. Und jetzt arbeitet hier nur noch die Frauenunion. Sie tun etwas, aber was sie machen, ist schlecht. Es wird nicht mehr wie zu Anfang gearbeitet. Alles steht still, nichts geht mehr, es gibt überhaupt keine Bewegung mehr und niemand übernimmt die Verantwortung. Für die Menschen wird nichts mehr getan.«

Diese Aussage thematisiert das Verhältnis der Dorffrauen zum Staat. Der Militärputsch von 1989 hat zumindest in seiner Anfangsphase durchaus Unterstützung im Dorf erfahren. Auch andere GesprächspartnerInnen äußerten, dass sie den Putsch begrüßten, weil sie dadurch die Auflösung etablierter Machtstrukturen, vertreten durch die zwei großen politischen Parteien,4 erhofften. Vor allem aber versprach man sich von einer neuen Regierung einen Weg aus der ökonomischen Krise. Nach Basu tritt eine oppositionelle Haltung gegenüber dem Staat häufig dann ein, wenn dieser seine Autorität nicht mehr in »benevolently paternalistic fashion« (Basu 1998: 6) ausübt. Die Gründerin der Frauengruppe stellt in ihrer Aussage diese Unfähigkeit des Staates heraus, wenn sie betont, »es gibt keine Bewegung mehr und niemand übernimmt die Verantwortung«. Sie unterscheidet zwischen Initiativen auf lokaler Ebene und staatlicher Intervention. Die Politik der Frauen im Dorf bezieht Alltagserfahrungen ein und orientiert sich an den Bedürfnissen der Menschen. Der Staat dagegen wird beschuldigt, die Situation der Dorfbevölkerung zu ignorieren. Gleichzeitig wird die staatliche Vereinnahmung von Frauengruppen und Organisationen erkennbar. Die oben beschriebene Frauengruppe

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wurde schließlich aufgefordert, sich als Teil der Sudanesischen Frauenunion (General Sudanese Women’s Union, SWU) registrieren zu lassen. In einer geheimen Versammlung, so wurde mir berichtet, beschlossen die Frauen, dieser Aufforderung nicht nachzukommen und sich aufzulösen. Inoffiziell finden allerdings weiterhin Alphabetisierungskurse und religiöser Unterricht statt. Mit dem Zwang zur Registrierung in die SWU, die 1991 als offizielle Frauenorganisation gegründet wurde,5 wird nicht nur der Versuch unternommen, den Staat durch die weibliche politische Unterstützung zu legitimieren (vgl. Chazan 1989). Auch das Engagement und Ressourcen von Frauen sollen so absorbiert werden. Umgekehrt werden jene dezentral organisierten Frauen(-Gruppen), die auf ihre Eigenständigkeit bestehen, von jeglicher Unterstützung ausgeschlossen. Dieser Exklusionsstrategie begegnen die Frauen, indem sie ihre Einbettung in die lokale Gemeinde betonen, ihre Aktivitäten auf das Dorf beschränken und sich somit ihrerseits von staatlichen Institutionen distanzieren. Islamischer Lebensstil und Moderne Durch die Einbettung in nationale und globale Strukturen, z. B. durch den Besuch der höheren Schule, der Universität in der Hauptstadt oder einen Aufenthalt im Ausland sowie durch Medien und neue Kommunikationsstrukturen entstehen neue Identitätsangebote, die vor allem für jüngere Frauen eine attraktive Alternative darstellen. Diese Frauen verstehen sich als aktive und gesellschaftlich engagierte muslimische Modernistinnen. Es sind vor allem jüngere, unverheiratete Frauen, die durch ihren Kleiderstil auffallen. Sie tragen ein langes, bis über die Brust reichendes Kopftuch in gedeckten Farben, langärmelige Kleider, darunter Leggings, die bis über die Knöchel reichen. Das Tragen des Hijâb lehnen sie in der Regel als überflüssig und nicht der sudanesischen Tradition entsprechend ab. Dieser Kleiderstil hebt sich kaum von jenem Kleiderkodex ab, den die Regierung favorisiert und für den etwa in den Medien oder durch Illustrationen in Schulbüchern geworben wird. Auch an den Universitäten weisen große Plakatwände die Studentinnen darauf hin, den Campus nur entsprechend der »islamischen Kleiderordnung« zu betreten. Der Kleidungsstil entspricht somit einer nationalen Projektion, sagt allerdings nichts über den Bedeutungsgehalt

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aus, der ihm von seinen Trägerinnen zugewiesen wird. Wie unterschiedlich die Auslegung dieses Kleidungsstils ausfallen kann, wird durch das folgende Beispiel deutlich. Manal, eine zwanzigjährige, unverheiratete Dorfbewohnerin versuchte eines Tages mangels anderer Transportmöglichkeiten, per Autostopp in die Stadt zu fahren. Zu dieser Zeit war im Dorf und der Region ein heftiger Wahlkampf zwischen dem Kandidaten der Regierung und einem Oppositionskandidaten, der von den DorfbewohnerInnen nominiert wurde, im Gange. Ein Auto, voll besetzt mit jungen Regierungsanhängerinnen auf Wahlkampftour, nahm Manal mit. Die Frauen unterhielten sich und schließlich kam das Gespräch auf die bevorstehende Wahl. Als Manal zu erkennen gab, dass sie keineswegs den Regierungskandidaten unterstütze, sondern aktive Wahlkampfhilfe für den Oppositionskandidaten leiste, den »wad al-balad«, den Sohn des Dorfes, erregten sich die Frauen im Wagen. Sie argumentierten, dass sie Manal für eine der ihren gehalten hätten, da sie sich schließlich genauso kleide wie sie. Nur aus diesem Grund hätten sie eine Frau aus einem Dorf mitgenommen, das bekanntermaßen die Opposition unterstütze. Manal erzählte mir diese Geschichte mit verschmitztem Lachen, offensichtlich erfreut, allein auf Grund ihrer äußeren Erscheinung eine Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben. Dieser Zwischenfall verdeutlicht den Umgang mit verschiedenen Identitätsangeboten, die in der Interaktion mit dem jeweiligen Gegenüber konstruiert werden. In Gegenwart der ihr unbekannten, aber offensichtlich regierungsnahen Frauen betont Manal ihre Loyalität zum Oppositionskandidaten, der aus dem Dorf stammt. Religiöse Übereinstimmungen werden in dieser heißen Wahlkampfzeit durch andere Identitätsangebote in den Hintergrund gerückt. Die Unterstützung des Oppositionskandidaten symbolisiert unabhängig vom ethnischen, politischen, oder religiösen Hintergrund einerseits die Bindung zur lokalen Gemeinschaft, andererseits impliziert sie Distanz gegenüber den Agenten des Staates. Als Vertreterinnen eines modernen Islams entwickeln die hier beschriebenen Frauen einen Lebensstil, der durch einen partikularen Kleiderkodex und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit die religiöse Bewertung von Alltagspraktiken ausdrückt. Die Verknüpfung dieses religiösen Habitus mit den alltagsweltlichen Strukturen verlangt dabei eine ständige Überprüfung und Selbstdisziplin (vgl. auch Nökel 1999; Werner 1997). Die Frauen lehnen lokale Praktiken keinesfalls ab, be-

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stehen aber darauf, diese einer strengen Prüfung zu unterziehen. Ihr Verhalten und das der anderen Frauen bei Beerdigungen, die Frage, ob man sich für einen Ausgang parfümieren darf oder nicht, wie ein fremder Mann gegrüßt werden soll – all diese Praktiken werden stets aufs Neue diskursiv ausgehandelt. In ihrer Repräsentation werden diese Frauen zu Vertreterinnen einer neuen Agenda, die die religiöse Besetzung und Bewertung aller Lebensbereiche in den Mittelpunkt stellt. Die Frauengruppe, die ich im Folgenden vorstelle, wurde in den frühen 1990er Jahren gegründet. Ihr fester Kern besteht aus ca. 20 Frauen, die zwischen 16 und 45 Jahre alt sind. Es fällt auf, dass Frauen zweier Altersgruppen besonders aktiv sind. Dies sind zum einen jüngere Frauen zwischen 16 und 27 Jahren. Sie haben in der Regel die höhere Schule besucht, einige waren auf der Universität, andere streben ein Studium an. Die meisten der jüngeren Frauen sind noch nicht verheiratet. Ihre Aktivitäten ermöglichen ihnen einen Prestigegewinn, der nicht über ihren sozialen Status als Ehefrau und Mutter definiert ist. Anders sieht die Situation bei der Altersgruppe der über 35- bis 50jährigen verheirateten Frauen aus. Sie haben eine weniger umfassende Schulausbildung, sind aber mit erfolgreichen Migranten oder Kaufleuten verheiratet und gehören somit zur prosperierenden Mittelschicht im Dorf. Als Mütter älterer Kinder sind sie in der Lage, Aufgaben an ihre Töchter zu delegieren und verstärkt wieder an den Netzwerken der Frauen zu partizipieren. Ihre Autorität umfasst nicht nur den eigenen Haushalt, sondern sie werden zu Wortführerinnen in Nachbarschaft und Dorf. Kenyon (1994) beschreibt diese Frauen (al-marât) als die einflussreichste Altersgruppe in der Frauenwelt: »However, within the women’s world, it is […] al-marat, women in the thirties, forties and fifties, who to all practical purposes run the show. These are the women who are ›in their prime‹« (Kenyon 1994: 146).

Die Autorin beschreibt darüber hinaus noch die Altersgruppen der jungen unverheirateten Frauen (al-shâbba), der jung verheirateten Frauen (al-^arûza) und der Alten (al-^ajûz).6 Diese Kategorisierung orientiert sich an einem normativen System und ist empirisch nur bedingt fassbar und nachvollziehbar. Einschränkungen sind sowohl bei der Gruppe al-marât (die Frauen) als auch bei den unverheirateten Frauen zu beobachten. Zwar handeln jene Frauen (al-marât), die in

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der Frauengruppe aktiv sind, durchaus dem Lebenszyklus angemessen und sind auf Grund ihrer Autorität als marât in der Frauengemeinschaft respektiert. Doch im Kontext der hier diskutierten Frauengruppe sind sie weder Wortführerinnen noch bekleiden sie offizielle Ämter wie etwa ›Leiterin‹ der Frauengruppe, ›Schatzmeisterin‹ oder ›Lehrende‹ in den unterschiedlichen Kursen. In erster Linie sind der demonstrativ zur Schau gestellte religiöse Lebensstil und ihr Engagement Reaktionen auf die sich differenzierenden Lebensbedingungen im Dorf. Als Ehefrauen erfolgreicher Migranten und Kaufleute verstehen sie es, durch den religiösen Habitus ihre Zugehörigkeit zur dörflichen Mittelschicht zu unterstreichen.7 Von besonderer Bedeutung ist, dass mit Bezugnahme auf den modernen Islam neue Organisationsformen und Identitätsangebote entstehen, die gerade jüngeren unverheirateten Frauen eine Perspektive eröffnen, die nicht vom Lebenszyklus, sondern von ihrer Bildungskarriere und Lebensplanung bestimmt ist. Ihre Teilnahme am öffentlichen Leben widerspricht, betrachtet man die von Kenyon aufgestellte Kategorisierung, ihrer sozialen Rolle als unverheiratete Frau, deren Mobilität eingeschränkt ist. Dennoch sind es gerade diese Frauen, die wesentlich die Gruppenaktivitäten prägen. Wie eng Bildungskarriere und religiöser Lebensstil mit der Konstruktion von Identität zusammenhängen, werde ich anhand der Biographie einer jungen, unverheirateten Frau ausführlich analysieren. Frauen, die jung verheiratet sind bzw. Frauen mit Kleinkindern sind in dieser Gruppe dagegen in der Regel nicht vertreten. Sozial immer noch als Braut (al-^arûza) definiert, sind diese Frauen weniger mobil und stattdessen auf das Haus und Besuche bei der Familie beschränkt. Dies schließt sicherlich nicht aus, dass auch Frauen aus dieser Altersstufe einen islamischen Lebensstil demonstrieren. Allerdings sind sie weniger in Gruppen aktiv. In einem Fall trafen sich einige jung verheiratete Frauen regelmäßig zu Hause, um gemeinsam religiöse Schriften zu lesen. Ein öffentliches Auftreten in der Gruppe lehnten sie aber unter Hinweis auf ihre Haushaltspflichten ab. Frauen aus allen Vierteln des Dorfes und mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund, d. h. sowohl nubischer als auch arabischer Herkunft,8 nehmen an den Aktivitäten der Frauengruppe teil. Damit werden Beziehungen geschaffen, die quer zu Verwandtschaftsbeziehungen laufen. Als strategische Gruppe schaffen die Frauen eine Basis

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für Solidarität und die Durchsetzung gemeinsamer Interessen (vgl. Duval 1998). Dies ist auch bei den Verhandlungen mit den männlichen Mitgliedern der Kommune wichtig. Als die Gruppe beispielsweise ein Haus als Treffpunkt suchte, überzeugte sie den mehrheitlich männlich besetzten Gemeinderat, ihr ein leerstehendes Haus zu überlassen. Ihre Arbeit in der Gruppe betrachten die Frauen als »Entwicklungs- und Modernisierungsarbeit« für ihr Dorf. Eine islamische Lebensführung ist ein selbstverständlicher Teil dieser Moderne. Deutlich wird dies in einem Ausstellungsprojekt, das die Gruppe durchführte. Ein Gruppenmitglied erzählte mir von der Konzeption und dem Verlauf der Ausstellung: »Eines Tages planten wir eine Ausstellung in der Mädchenschule. Wir wählten zwei Mädchen aus und kleideten sie als Braut. Ein Mädchen trug unser traditionelles Brautgewand und alte Schuhe, wie sie die Männer tragen. Mit Tusche zeichneten wir Schmucknarben in sein Gesicht und seine Lippen waren schwarz, als wären sie tätowiert. Das waren die Bräuche in der Vergangenheit. Die Braut saß in einer traditionellen Küche mit einer offenen Herdstelle. Sie war die ›alte Braut‹ al-^arûza al-gadîma. Neben ihr saß, getrennt durch eine Mauer, das andere Mädchen, das ein weißes Brautkleid trug. Sein Haar war hübsch frisiert und das Gesicht gepudert und geschminkt. Davor stand ein Kühlschrank und ein Gasherd. Die Leute kamen und es war wirklich wie in einem Museum. Vor jeder Braut stand ein Korb. Wir waren überrascht, als wir entdeckten, dass die Besucher Geld in den Korb legten, wie es bei einer Hochzeit üblich ist. Das meiste Geld gaben sie der ›modernen Braut‹. Im Hof hatten wir auch die Pilgerfahrt (Hajj) nachgebaut. Einen Karton hatten wir schwarz bemalt, das war die ka^ba. Die Mädchen im Hof trugen jallabîya und Turbane. Die unterschiedlichen Stationen der Pilgerfahrt waren nachgebaut und über eine Kassette wurden die Besucher über den Verlauf des Hajj informiert.«

Dieses Beispiel zeigt die enge Verbindung von Religion und Moderne. Die Braut im weißen Hochzeitskleid, die modern eingerichtete Küche und die Nachstellung des Hajj symbolisieren Moderne und Fortschritt. Dagegen steht die traditionelle Braut für Unwissenheit und Exklusion von religiöser Praxis. Die Ausstellung erscheint als eine Metapher für den Zivilisationsprozess, in dem die islamische Moderne mit ökonomischer Prosperität und Zivilisation assoziiert wird. Schließlich aber zeigt das Beispiel der Ausstellung auch die Herausbildung neuer

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Öffentlichkeiten, durch die die Frauen ihre Vorstellung über die Moderne vermitteln. Neue Formen der Wissensaneignung Das religiöse Studium wurde von allen Frauen als die wichtigste Aufgabe der Gruppe betont. Das Selbststudium in der Frauengruppe steht dabei im Gegensatz zu traditionellen Formen der religiösen Wissensaneignung, die in der Regel durch einen Scheikh erfolgt. Dieser zeichnet sich durch seine notable Herkunft als sharîf 9 oder durch eine besondere religiöse Erfahrung aus. Schon allein deshalb ist er eine Person, der man mit Respekt und Ehrfurcht begegnet. Er gilt als Berater in Lebenskrisen und ist auf Grund seines baraka (Segen) ein spiritueller Vermittler. In der klassischen islamischen Lehrtradition ist die Weitergabe von Wissen hierarchisch strukturiert. Frauen sind darüber hinaus im hier vorgestellten Dorf vom Unterricht in der Koranschule ausgeschlossen.10 Mit dem religiösen Studium in der Frauengruppe wird die Beziehung zum Scheikh und den mit ihm verbundenen Hierarchien durch eine neue Form der Wissensaneignung ergänzt. Die Lehrerinnen in der Gruppe sind junge Frauen, die eine langjährige formale Schulausbildung absolviert und sich intensiv mit den religiösen Quellen auseinander gesetzt haben. Als Expertinnen in religiösen Belangen verfügen sie über ein beträchtliches Wissen vor allem des skripturalen Islams. Ihre Bildungskarrieren werden zwar im Dorf geachtet, aber sie sind gleichzeitig auch Töchter, Nachbarinnen und Verwandte der anderen Kursteilnehmerinnen. Aus diesem Grund sind die Unterrichtsstrukturen eher egalitär als durch eine Lehrer-Schüler-Hierarchie strukturiert. Ein ähnlicher Erfahrungshorizont und das Alltagswissen verbinden Lehrerinnen und Schülerinnen. Nicht die besondere Herkunft oder eine herausragende religiöse Erfahrung zeichnet die lehrenden Frauen aus, sondern einzig die religiösen Kenntnisse, die sie erworben haben und die auch jeder anderen Frau offenstehen. Im Idealfall kann unter diesen Umständen jede Frau die anderen Frauen unterrichten.11 Die Frauengruppe eröffnet noch eine weitere wichtige Dimension des sozialen Lebens. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in der Regel vom gemeinsamen Gebet in der Moschee ausgeschlossen sind, vermitteln die Treffen auch kollektiv erfahrene religiöse Besinnung außerhalb des eigenen Hauses.

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Die familiäre Atmosphäre während der Treffen und der private Charakter des Hauses korrespondieren im Übrigen mit dem normativen Kode der Geschlechtersegregation. Unter Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung bildet sich eine neue Öffentlichkeit heraus, in der nicht nur Informationen und Wissen ausgetauscht, sondern auch gesellschaftliche Werte neu ausgehandelt werden.12 Denn durch die Arbeit der Frauengruppe verändert sich nicht nur das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis. Die Erfahrungen und das religiöse Wissen, die sich die Frauen in der Gruppen aneignen, stellen eine nicht zu unterschätzende Ressource dar, um den eigenen Handlungsspielraum in den Familien zu erweitern. So werden die Beziehungen zwischen Eheleuten oder zwischen Vater und Tochter und die Machtbalancen zwischen den Geschlechtern reflektiert und neu ausgehandelt. Das Bewusstsein, auf Grund ihrer Kenntnisse des skripturalen Islams die bessere Muslima zu sein, kann auch die Autorität von Vätern oder (zukünftigen) Ehemännern schwächen. Das Verhalten eines Verlobten wird beispielsweise mit Blick auf seine religiöse Praxis überprüft und diskutiert. Eine junge Frau etwa verlangte unter Berufung auf eine religiös legitimierte Segregation von ihrem Mann, dieser habe gemischt geschlechtliche Treffen zu vermeiden. Eine andere verbat sich die Kritik ihres Verlobten an ihrem Hijâb und erklärte sich mit der Eheschließung nur unter der Voraussetzung einverstanden, auch weiterhin den Hijâb tragen zu können. Die Verhaltensregeln, die sich die Frauen unter Berufung auf ihr Wissen des skripturalen Islams selbst auferlegen, werden in veränderter Form damit auch zum Maßstab, mit dem die männlichen Mitglieder ihrer Familie und der Gesellschaft begutachtet werden. Muna – Zwischen Bürgerin und ›bitt al-balad‹ In der folgenden Fallstudie wird die Biographie einer jungen Frau vorgestellt, die sich sowohl im städtischen Milieu als auch in der dörflichen Gemeinschaft positioniert. Noch vor meiner ersten Begegnung mit Muna wurde sie mir von vielen Frauen als eine wichtige Gesprächspartnerin dargestellt – nicht nur weil sie studiert hatte und daher als adäquate Gesprächspartnerin für mich eingeschätzt wurde, sondern auch weil sie in der Dorfgemeinschaft als engagierte Frau bekannt war, die gemeinsam mit an-

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deren die oben beschriebene Frauengruppe gegründet hatte. Ich traf sie inmitten ihrer Hochzeitsvorbereitungen. Mit ihren 27 Jahren hatte sie das übliche Heiratsalter bereits weit überschritten. Die meisten ihrer Altersgenossinnen und auch Munas jüngere Schwestern waren schon seit mehreren Jahren verheiratet und hatten Kinder. Ihre ›Love Story‹ verriet aber offensichtlich so ungewöhnliche Züge, dass ich mehrfach darauf aufmerksam gemacht wurde. Ich erfuhr, dass sie sich schon als Schülerin in ihren Cousin väterlicherseits verliebt hatte. Der war allerdings verlobt und heiratete zunächst seine Braut. Als Migrant arbeitete er anschließend in Saudi-Arabien, nicht ohne Muna das Versprechen zu geben, sie zu seiner zweiten Frau zu machen, sobald es seine finanzielle Situation erlaube. Derweil beendete Muna die Schule, besuchte die Universität und kehrte später ins Dorf zurück. Sie wies alle potenziellen Kandidaten ab, bis schließlich mehr als zehn Jahre später die offizielle Verlobung verkündet wurde. Nach ihrer Hochzeit reiste Muna in Begleitung eines männlichen Verwandten nach Jidda in Saudi-Arabien, wo sie von ihrem Mann erwartet wurde.13 Während Muna die nächsten Jahre in Saudi-Arabien leben wird, blieb die erste Frau des Mannes mit den gemeinsamen Kindern im Dorf. Diese Geschichte macht deutlich, dass Muna das normative System der Gesellschaft nicht grundsätzlich in Frage stellt. Erstens ist ihr Verlobter der Vater-Bruder-Sohn, und somit ein bevorzugter Heiratspartner. Zweitens ermöglicht ihr erst die Akzeptanz der Polygamie die Ehe. Dagegen gibt ihr die Anpassung an das System auch die Möglichkeit, ihren Handlungsspielraum zu nutzen und eine Lebensplanung zu verfolgen, die ihr mit einer frühen Eheschließung nicht möglich gewesen wäre: Sie nutzt diese Zeit, um in der Stadt zu leben, die Schule zu beenden und die Universität zu besuchen. Als zumindest inoffizielle Verlobte kann sie andere Heiratskandidaten zurückweisen und schließlich besteht für sie auch noch die viel versprechende Aussicht, mit ihrem zukünftigen Ehemann in Saudi-Arabien zu leben. Gerade dies ist eine Perspektive, um die sie viele Frauen im Dorf beneiden, für die das Leben in Saudi-Arabien ein Synonym für Müßiggang und Moderne ist, dem die Härte des Dorflebens gegenübergestellt wird. Die Zielstrebigkeit, mit der Muna ihr Leben plant, wird von ihren Altersgenossinnen, die mich in unterschiedlichen Kontexten auf Munas ›Love Story‹ hinwiesen, durchaus bewundert. In den vielen Gesprächen, die ich mit Muna führte, stellt sie sich als

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»starke Person« (zol qawîy) dar, auf die die Leute hören. In der Schule, so erzählt Muna, wurde sie von ihren Mitschülerinnen als Sprecherin gewählt, führte Demonstrationen an, schrieb Protestnoten und wies auf Missstände hin. In ihrer Selbstbeschreibung präsentiert sie sich als engagierte Person und Bürgerin. Sie lernt unterschiedliche Institutionen und bürokratische Strukturen kennen und ist mit diversen Formen des Protests vertraut. Sie versteht es, ihre Interessen durchzusetzen und schult ihre Diskussionsfähigkeit. Ihr sozialer Radius reicht längst über ihre Verwandtschaftsbeziehungen, das Dorf und seine Netzwerke hinaus. Zur selben Zeit beginnt sie als Schülerin, und wie sie betont, als erste junge Frau im Dorf, sich nach dem islamischen Kleiderkodex zu kleiden. In diesem Fall bedeckt sie ihr Haar zusätzlich zum Tob mit einem Kopftuch und achtet darauf, dass ihre Kleider Fuß- und Handgelenke bedecken. Die »Ästhetisierung des Leibes« (Nökel 1999) verlangt kontinuierliche Selbstüberprüfung und Rückversicherung. Als Braut diskutierte sie häufig mit ihrer Schwester die Kleiderfrage – hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich einerseits in ihrer neuen Kleidung, ein Geschenk des Bräutigams, zu präsentieren, andererseits dem selbst auferlegten Zwang, sich möglichst moderat und diszipliniert zu repräsentieren und ihre ›weiblichen Reize‹ in der Öffentlichkeit nicht zur Schau zu tragen. Diese zurückhaltende Einstellung gilt allerdings ausschließlich für die Repräsentation in der Öffentlichkeit. Im Beisammensein mit ihrem Mann, so betont Muna, werde sie sich besonders attraktiv kleiden und schminken. Mit der Anpassung an den islamischen Kleiderkodex nimmt auch die Beschäftigung mit religiösen Schriften immer mehr Raum in Munas Leben ein. Als eine Konsequenz aus ihren Studien verweigerte sie Männern, die nicht als maHram14 gelten, den Handgruß. Andere Frauen im Dorf folgen mit der Zeit ihrem Beispiel. Munas Verhalten ist eingebettet in die sozialen und politischen Verhältnisse der 1980er Jahre, als das Bekenntnis zu einer explizit religiösen Lebensführung zur »öffentlichen Norm« (Salvatore 1998) wurde. Ihren Schulabschluss machte Muna in der Hauptstadt, wo sie bei Verwandten lebte. Anschließend studierte sie Fremdsprachen an der Universität. Allerdings kehrte sie nach nur einem Jahr ins Dorf zurück. Diese Entscheidung war, wie Muna betont, keinesfalls freiwillig: »Mein Vater war gegen mein Studium, obwohl mein Onkel derjenige war, der

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Ruth Klein-Hessling die Gebühren bezahlte. Ich wollte studieren und nicht so werden wie meine älteste Schwester, die mit 14 heiratete. Ich wollte studieren, lernen, etwas wissen. Dann hätte ich in einer Bank arbeiten können, Geld verdienen, aber mein Vater sagte, er will das Geld nicht, er will seine Tochter zurück, und so ging ich.«

Munas Verhalten nach ihrer Rückkehr ist eine Reaktion auf den Bruch, den diese Aufforderung für sie bedeutete. Die ersten Monate nach ihrer Rückkehr erlebt sie in einem quasi apathischen Zustand, und nichts von ihrem vorherigen Aktivismus scheint übrig geblieben: »Als ich ins Dorf zurückkam, blieb ich einfach im Haus. Ich machte keine Besuche, ging nicht aus. Die Leute fragten mich: ›Warum besuchst du uns nicht, warum bleibst du die ganze Zeit im Haus, magst du nicht mehr mit uns essen?‹«

Gerade in der Lebenswelt der Frauen festigen gegenseitige Besuche soziale Allianzen und Netzwerke. Besuche zu machen und zu empfangen drückt Anteilnahme am Alltagsgeschehen und für besondere soziale Anlässe, z. B. bei Hochzeiten, Geburten, der Rückkehr eines Migranten etc., aus. Indem Muna diese Netzwerke ignoriert, betont sie ihre Rolle als Fremde, als Studentin, als eine Frau, die eher in der Stadt zu Hause ist. Selbst als sie schließlich beginnt, Besuche zu machen, geschieht dies unter Aufrechterhaltung von Distanz. »Wie eine Fremde« begegnet sie der sozialen Realität im Dorf: »Weil sie mich drängten und fragten, warum ich zu Hause bliebe, begann ich schließlich, in die Häuser der anderen zu gehen. Ich aß mit ihnen und sah, wie arm die Menschen hier sind. Ich sah Frauen, die ihre Hände in der Nacht am Feuer erwärmten und sie anschließend auf die Kinder legten, um sie vor der Kälte zu schützen. Da begann ich, Geld zu sammeln von meinem Onkel, meinem Vater, dem Mann meiner Schwester und den Scheikhs. Ich ermutigte die anderen Mädchen, mir zu helfen, und so gründeten wir die Frauengruppe.«

Gerade die Betonung ihres Andersseins ermöglicht Muna die ReIntegration in die Frauenwelt, indem sie nicht allein auf etablierte Beziehungen setzt, sondern durch Gründung der Frauengruppe ein neues soziales Netzwerk bildet. Die Gründung dieser Gruppe ermöglicht

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Munas Verortung im Dorf jenseits herkömmlicher Identitätsmodelle. Das Bild des »Dorfmädchens«, des bitt al-balad, das dem Dorf durch Familie und lokales Wissen verbunden ist, ist für sie kein angemessener Referenzrahmen mehr. Sie fühlt sich in der Stadt zu Hause und hat sich im Umgang mit Institutionen und modernen Wissenssystemen längst bewährt. Mit dieser Art der Repräsentation entspricht sie durchaus dem Bild der »muslimischen Frau«, wie es durch die Medien und die staatliche Politik verbreitet wird. Diese konstruieren das Bild der Muslima, die nicht nur die Familie in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, sondern Verantwortung für die muslimische Gemeinde trägt. Muna präsentiert sich als junge Bürgerin, die religiös bewandert ist und sich dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlt. Die Gründung einer Frauengruppe bietet Muna auch die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre schon in der Ausbildungszeit gesammelten Erfahrungen auf lokaler Ebene anzuwenden. Gleichzeitig betont Muna in unseren Gesprächen ihre Verbundenheit zum Dorf, mit dem sie Werte wie Ehre, Sicherheit und Heimat assoziiert. Kurz vor ihrer Abreise beschreibt sie das Dorf als Ort des Rückzugs und der Erholung. Sie träumt davon, nach einigen Jahren in Saudi-Arabien in die Distrikthauptstadt zu ziehen, um dann am Wochenende das Dorfleben zu genießen: »Andere Migranten ziehen nach Khartoum. Aber unsere Heimat ist hier. Ich könnte nicht für immer von hier wegziehen. Wir werden hier in der Stadt ein Haus mit zwei Etagen bauen. Unten werden wir unser Geschäft haben und oben unsere Privaträume. Im Dorf werden wir ein Haus haben, um hier die Wochenenden zu verbringen und die Familie zu besuchen. So möchte ich in Zukunft leben.«

Mit diesem romantisierenden Bild vom Dorf betont Muna ihre Position als Bürgerin, die einen eher städtischen Lebensstil pflegt. Das Dorf ist nicht mehr Ort von Produktion und Ressourcen, sondern emotional besetzt und bildet den Kontrast zum städtischen Leben. Als Leiterin der Frauengruppe übernimmt Muna eine Position, die Verantwortungsgefühl und Diskretion verlangt, etwa wenn sie Geld oder Lebensmittel an Bedürftige verteilt, die anonym bleiben. Gleichzeitig kann sie auf ihre schon in der Schule erworbenen Erfahrungen zurückgreifen. Ihr Fall demonstriert die Integration der sozialen Welt

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junger, gebildeter Dorffrauen in moderne, institutionalisierte Strukturen. Die Partizipation am sozialen Leben wird über Prozesse organisiert, die nicht mehr auf Verwandtschaft und lokalen Netzwerken basieren, sondern die Institutionen moderner Gesellschaften wie Schule, Universität, Verwaltung und Organisationen einschließen (Giddens 1991). Darüber hinaus vereinfachen Medien, neue Kommunikationsstrukturen und Migrationsbewegungen die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen auf einer globalen Ebene. So spielen die internationalen Netzwerke eine entscheidende Rolle für die Arbeit der Frauengruppe, und die Migranten in Saudi-Arabien werden von den Frauen in die Arbeit einbezogen. »Wir schrieben den Migranten einen Brief und erklärten, dass wir das Dorf entwickeln wollten. Wir baten sie, uns Bücher zu schicken. Und sie sendeten Bücher über die Religion und Bücher, um Lesen und Schreiben zu lernen, dazu noch Kochbücher, Nähmaschinen, Zubehör und Laken.«

Die Bindung der Migranten zum Dorf wird von Muna und den Frauen genutzt, um ihre Idee einer Frauengruppe zu realisieren. In SaudiArabien gründen Migranten aus derselben Region bzw. demselben Dorf häufig Assoziationen, um Projekte in ihren Heimatdörfern zu fördern. Häufig sind die Assoziationen informell strukturiert, da formale Organisationsstrukturen auf Grund der restriktiven saudischen Einwanderungspolitik nicht möglich sind. Die informellen Netzwerke erleichtern auch kollektive Aktivitäten, etwa Geldsammlungen für den Bau eines Hospitals oder ähnlicher Einrichtungen im Heimatdorf.15 In den translokalen Netzwerken scheint sich auch eine Art Gegenstrategie lokaler Gruppen gegen staatliche Intervention widerzuspiegeln. Über ihre informellen Kontakte zu Migranten versuchen die Frauen, der staatlichen Einmischung in ihre Projekte und der Kontrolle über ihre Ressourcen zu entgehen und ihre Eigenständigkeit zu behaupten. So wird verständlich, dass sich die Gruppe der Aufforderung, sich der SWU anzuschließen, durch ihre Auflösung verweigert. Die materielle Ausstattung der Gruppe wird für einige Zeit konfisziert und Muna muss sich gegenüber den Behörden rechtfertigen. Kurz darauf wird sie aufgefordert, in der SWU in der nahen Distrikthauptstadt eine verantwortungsvolle Position zu übernehmen. Muna nimmt dieses Angebot

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an. Sie selbst gibt mir gegenüber an, diese Aufgabe nur halbherzig zu erfüllen, um den Verdacht regierungsfeindlicher Aktivitäten nicht zu erhärten, der ihr gegenüber erhoben wurde. Munas Biographie verdeutlicht die unterschiedlichen Strategien, die sie einsetzt, um ihre individuellen Lebensbedingungen in einem patriarchalen System zu optimieren. Zum Beispiel kann sie die Rückkehr ins Dorf auf Geheiß ihres Vaters nicht verhindern, allerdings verhilft ihr die Gründung der Frauengruppe zu einer machtvollen Position in der Frauenwelt. Der Auflösung der Gruppe folgt ihr Einsatz in der staatlichen Frauenorganisation – auch dies ein Weg, ihre persönliche Karriere und ihren sozialen Aufstieg voranzutreiben. Kandiyoti (1988) betont, dass Frauen den gesetzten Grenzen in der Gesellschaft durch »patriarchal bargains« begegnen. Dieser »Handel« umfasst nicht nur unterschiedliche Formen des Widerstandes, sondern wie der Fall von Muna zeigt, auch Formen der Anpassung und Komplizenschaft. Abschließend lässt sich festhalten, dass das Dorf durch Migration, moderne Kommunikationstechnologien und formale Bildung längst in nationale und globale Strukturen eingebunden ist. Die daraus folgende soziale Differenzierung lässt neue Identitätsangebote entstehen, die gerade für Frauen eine attraktive Alternative darstellen. Als Expertinnen eines religiösen Lebenstils verändern Frauen die Aushandlungsmodi zwischen den Geschlechtern. Sie erschließen sich neue Handlungsfelder, gründen Organisationen jenseits der alten Netzwerke, die auf Verwandtschaftsbeziehungen gründen, und schaffen neue Öffentlichkeiten. Diese alternativen Organisationsformen geben Frauen die Möglichkeit, sich in einer sich wandelnden Gesellschaft zu positionieren. Anmerkungen 1 Ich habe mich um eine einheitliche Transliteration in Anlehnung an das Hocharabische bemüht; um allerdings dem sudanesischen Arabisch gerecht zu werden, sind einige Begriffe aus der Umgangssprache aufgenommen worden. Die so genannten emphatischen Laute wurden in Großbuchstaben wiedergegeben (S = f, D = h, T = i, Z = j, das gilt auch für den Buchstaben H = T). Einige Begriffe, die inzwischen auch in der deutschen Sprache geläufig

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sind, wie etwa »Scheikh«, wurden bei der Transliteration nicht berücksichtigt. Gleiches gilt für Ortsnamen oder Bezeichnungen von ethnischen Gruppen etc. Zur Unterstreichung seiner Politik ließ Al-Numairi z. B. unter seinem Namen ein Buch mit dem Titel: Al-nahj al-islâmî li-mâthâ (Der islamische Weg. Warum?) publizieren. Zur historischen Entwicklung im Sudan und dem politischen Wandel unter Al-Numairi vgl. Woodward 1990; zur Beziehung Islam und Geschlechterpolitik vgl. Hale 1996; den politischen Wandel nach 1989 sowie innerislamische Diskurse und das Verhältnis der traditionellen religiösen Parteien und der NIF behandelt die Studie von El-Affendi 1991. Gemeint sind die Umma-Partei, die sich aus den Anhängern (anSâr) des Mahdi zusammensetzt, und die DUP (Democratic Unionist Party), der politische Flügel der Khatmiyya-Bruderschaft, die neben dem Militär den größten Einfluss im Sudan besitzen. Zur Geschichte der Frauenbewegung im Sudan vgl. El-Bakri 1995, Khalid 1995, El-Sanousi / Al-Amin 1994. Nach Kenyon (1994) schließt die Altersgruppe, die als al-^arûza (die Braut) bezeichnet wird, auch jung verheiratete Frauen mit Kleinkindern ein. Ihre Mobilität ist mehr als bei anderen Altersgruppen eingeschränkt. Die Alten (al-^ajûz) genießen zwar auf Grund ihres Status Respekt, geraten andererseits aber zunehmend in Abhängigkeit von ihren Kindern. Zum Verhältnis von Mittelklasse und neuen religiösen weiblichen Praktiken vgl. auch Gardner 1998. Gemeint sind damit sowohl Danaqla, Angehörige der nubischen Bevölkerungsmehrheit im Dorf, als auch ehemalige Nomaden, die schon seit Generationen im Dorf sesshaft sind und in eigenen Vierteln leben. Ein sharîf wird als Nachfahre des Propheten angesehen. Anders ist die Situation im Ostsudan. Al-Hasan (1995) berichtet von einer einer beachtlichen Zahl von Koranschulen für Frauen in Sinkat. Die erste Koranschule für Frauen wurde hier von AlMirghani, dem Gründer der Khatmiyya-Bruderschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet.

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11 Siehe zum Vergleich auch die Studie von Metcalf (1998) über die Tablighi Jam’at, die als religiöse Gruppe insbesondere in Pakistan und Bangladesh aktiv ist. Auch Metcalf erklärt die Popularität der Gruppe gerade bei Frauen mit den egalitären Strukturen, die die Aneignung von Wissen charakterisieren und sich damit von der klassischen islamischen Lehrsituation unterscheiden. 12 Zur Herausbildung neuer Öffentlichkeiten vgl. auch den Beitrag von Dannecker in diesem Band. 13 Da für die Eheschließung (gemeint ist die Unterzeichnung des Ehevertrages) nur jeweils ein Vertreter (wakîl) von Braut und Bräutigam anwesend sein muss, ist es gerade bei einer Eheschließung mit einem Migranten nicht ungewöhnlich, wenn die Hochzeitsfeier auch in Abwesenheit des Mannes stattfindet und die Braut anschließend nach Saudi-Arabien reist. 14 MaHram bezeichnet jene Männer, die in einem die Ehe ausschließenden verwandtschaftlichen Verhältnis zur Frau stehen. 15 Zur Translokalität sozialer Beziehungen vgl. auch die Studie von Sana El-Batal über »Endogenous Organisation of Development: The Nubian Case«, die zur Zeit an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, verfasst wird. Literatur Al-Hasan, Idris S. (1995): »Gender Religious Experience: Women and Quaranic Schools in Eastern Sudan«. Eastern Africa Social Science Research Review 11 / 1, S. 1-20. Al-Azmeh, Aziz (1996): Islams and Modernities, London: Verso. Ayubi, Nazih (1993): Political Islam – Religion and Politics in the Arab World, London: Routledge. El-Bakri, Zeinab B. (1995): »The Crisis in the Sudanese Women’s Movement«. In: Saskia Wieringa (Hg.), Subversive Women – Historical Experiences of Gender and Resistance, London: Zed Books, S. 199-212. Basu, Amrita (1998): »Appropriating Gender«. In: Patricia Jeffery / Amrita Basu (Hg.), Appropriating Gender – Women’s Activism and Politicized Religion in South Asia, New York, London: Routledge, S. 3-14.

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Ruth Klein-Hessling

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Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch

›Desexualisierung‹ als Grenzziehung: Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch Petra Dannecker

Einleitung Seit Jahren wird insbesondere in der feministischen Literatur1 immer wieder die Grenzziehung zwischen der so genannten privaten und öffentlichen Sphäre in Frage gestellt. Angelehnt an vor allem strukturfunktionalistische Traditionen ist die dualistische Sichtweise von der privaten Sphäre einerseits und der Öffentlichkeit andererseits, eher ein Resultat von wissenschaftlichen Diskursen als eine Widerspiegelung sozialer, ökonomischer und kultureller Prozesse. Dagegen wird eine Verfestigung von Zuschreibungen, die auch in den Frauenbewegungen argumentativ verwendet wurde, immer stärker kritisiert.2 Eine Vielzahl von empirischen Studien verdeutlicht, dass einerseits vielfältige geschlechtsspezifische Räume existieren können und andererseits Frauen die Grenzen zwischen ›home‹ und ›work‹, zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre, zwischen Nationalstaaten und unterschiedlichen Kulturen immer wieder neu aushandeln. Dies zeigt, dass weder die Inhalte der binär gedachten Kategorien noch deren Verbreitung universell sind und macht deutlich, dass die anhand dieser analytischen Dichotomien getroffenen Aussagen und Ansätze zu Geschlechterverhältnissen rekonzeptualisiert werden müssen (vgl. Lachenmann 1999). Ich möchte im Folgenden am Beispiel der Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch nicht nur die Trennung der so genannten privaten und öffentlichen Sphäre dekonstruieren, sondern ferner aufzeigen, dass es im

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Petra Dannecker

Zuge von Globalisierungsprozessen zu neuen Grenzziehungen und zur Herausbildung neuer Öffentlichkeiten kommt. Durch sich ständig differenzierende soziale Lebensbedingungen und damit einer Herausbildung von unterschiedlichen Modellen pluraler oder fraktionierter Öffentlichkeiten, wird der Begriff hier im Plural benutzt. Gemäß dieser Vorgehensweise wird im Folgenden nur bedingt versucht, die Konstitution von Öffentlichkeit als geschlechtsspezifischen asymmetrisch verlaufenden Prozess, d. h. vor allem den Ausschluss von Frauen, ins Zentrum der Analyse zu stellen. Vielmehr geht es darum, Gegenöffentlichkeiten aufzusuchen und den Prozess der Produktion dieser Räume zu analysieren. Auch wenn diese Bestandteile so genannter patriarchaler öffentlicher Räume sind, darf m. E. nicht übersehen werden, dass es Öffentlichkeiten gibt, die über alltägliche Formen der Kommunikation von Frauen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen hergestellt werden und sich nicht nur auf den Austausch von Informationen reduzieren lassen, denn sie entstehen auch über die Neuaushandlung von gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen (vgl. Klaus 1994). In Bangladesch sind es vor allem junge Frauen, die durch die räumliche Verlagerung von Produktionsstätten, in den exportorientierten Industriezweigen, wie z. B. Elektronik-, Spielzeug-, oder Bekleidungssektoren, außerhäuslicher Erwerbsarbeit nachgehen und nicht nur Grenzen neu aushandeln, sondern auch Gegenöffentlichkeiten herstellen. Bangladesch erscheint für eine solche Betrachtungsweise besonders interessant, da dieses Land erst Mitte der 1980er Jahre den globalen Markt ›entdeckt‹ hat und seitdem den Weg der exportorientierten Entwicklung verfolgt. Ungefähr eine Million junger Frauen, meist zwischen 16 und 25 Jahren, arbeiten in den 2.000 Bekleidungsfabriken, die vor allem in der Hauptstadt Dhaka entstanden sind und ausschließlich für den globalen Markt produzieren (vgl. Dannecker 1998). Nicht allein die Zunahme der weiblichen Erwerbsarbeit im formellen Sektor, sondern vor allem das niedrige Alter der Arbeiterinnen, die bisher aufgrund sozial sanktionierter Verhaltensnormen und -regeln (purdah) kaum außerhäuslicher Erwerbsarbeit nachgehen konnten, stellt für Bangladesch ein neues Phänomen dar. Diese Gruppe von Frauen ist es, die nicht nur purdah in Frage stellen, sondern auch die damit in enger Verbindung stehende Trennung der so genannten privaten und öffentlichen Sphäre, d. h. auch der Beziehung zwischen

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Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch

Reproduktion und Produktion. Es sind vor allem diese Frauen, die Grenzen neu ziehen und neue Räume schaffen und Handlungsfelder strukturieren. In diesem Artikel werden am Beispiel der Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch diese neuen Grenzziehungen, neue Formen der Integration zum Beispiel über Netzwerke diskutiert. Purdah Purdah und das Modell der getrennten Lebenswelten von Männern und Frauen spielt sowohl in Studien über Frauen in Bangladesch als auch in politischen und entwicklungspolitischen Zusammenhängen immer noch die entscheidende Rolle. Das Modell der getrennten Lebenswelten stützt sich auf eine Reihe von Polaritäten. So wird davon ausgegangen, dass Männer die öffentliche Sphäre besetzen, Frauen hingegen die private, Männer im Markt aktiv sind, Frauen in der Familie. Demnach sind die Beziehungen zwischen Männern primär politischer und ökonomischer Natur, während die der Frauen eher sozial und persönlich sind (vgl. White 1992: 22). Betrachtet man nationale und internationale Entwicklungsprojekte und -programme wird die politische Signifikanz dieser Betrachtungsweise deutlich: Frauen werden allzu oft als homogene und marginalisierte Gruppe definiert, die durch Projekte aus ihrer Exklusion und Unsichtbarkeit ›gerettet‹ werden muss. Frauenförderung ist zwar auf allen Agenden, führt aber fast zwangsläufig zur Konstruktion der Frauen als den »Anderen« bzw. als das »Problem«, welches »gelöst« werden muss (vgl. Gardner 1995: 200). Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass die vorhandenen Projekte und Programme nicht auch neue Möglichkeiten und Räume für Frauen schaffen, trotzdem bleibt der Eindruck bestehen, dass Frauen entweder passive Opfer religiöser oder sozialer Kontrolle sind oder die potenzielle Ressource für Entwicklungs- und Industrialisierungsprozesse. Statistiken zur Beschäftigungsrate in Bangladesch schreiben die angenommene Trennung der männlichen, d. h. öffentlichen und weiblichen, d. h. privaten Sphäre fest. Nach diesen Daten ist die Beschäftigungsrate von Frauen in Bangladesch eine der geringsten der Welt (vgl. Hasan 1993), auch wenn sich hier das Bild aufgrund der weiblichen Erwerbsarbeit in exportorientierten Sektoren etwas verändert hat. Als Grund für die niedrigen Beschäftigungszahlen von Frauen

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wird immer noch maßgeblich auf das purdah System verwiesen. Eine genaue Betrachtung macht allerdings deutlich, dass die bei der Datenerhebung verwendeten Kategorien oft problematisch sind. In Bengali gibt es verschiedene Begriffe, um Tätigkeiten zu beschreiben. Chakuri wird meist für außerhäusliche Erwerbsarbeit verwendet, kaj für Haushaltsaktivitäten bzw. Feldarbeit. Wird bei der Datenerhebung der Begriff chakuri verwendet, finden weibliche Aktivitäten kaum eine Entsprechung. Dies ist insbesondere für die ländliche Ökonomie von Bedeutung, da Frauen nicht als Produzentinnen wahrgenommen werden, auch wenn ihre Arbeit im so genannten Reproduktionsbereich, zum Beispiel bei der Verarbeitung von Produkten in die lokalen Märkte einfließt. Die verschiedenen ökonomischen Tätigkeiten von Frauen, die Interdependenzen zwischen Subsistenz-, Marktproduktion und Erwerbsarbeit bleiben meist unberücksichtigt, die Frauenökonomie im Sinne übergreifender Tätigkeitsfelder (vgl. Lachenmann 1992, 1997, 1999) wird vernachlässigt. Die empirische wie theoretische Trennung zwischen den unterschiedlichen Bereichen und ihre geschlechtsspezifische Verknüpfung führen zu Grenzziehungen, die sich sowohl in Statistiken und Studien niederschlagen, als auch in politischen Entscheidungen und ökonomischen Analysen. Im ländlichen Bereich in Bangladesch zum Beispiel arbeiten Frauen schon immer saisonal als Tagelöhnerinnen (vgl. Zaman 1996; Khan 1992) und auch im städtischen Bereich waren und sind Frauen in den verschiedensten Bereichen tätig und stellen damit die Trennung in Frage. Zu nennen wäre hier die häusliche Produktion von Gütern, die über männliche Familienmitglieder im Markt gehandelt werden oder die Arbeit von Tagelöhnerinnen im Baubereich. Wie die Beispiele belegen, übertreten Frauen sowohl im ländlichen als auch im städtischen Bereich die konstruierte Grenze zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Grundsätzlich verdeutlichen sie damit, dass das Modell der getrennten Lebenswelten schon immer nur von einer kleinen Gruppe von Frauen gelebt werden konnte und es immer Überlappungen gab. Meist handelt es sich hierbei um Frauen aus besser gestellten Familien, in denen das männliche Einkommen zur Subsistenzsicherung ausreicht. Frauen aus ärmeren sozialen Schichten waren schon immer gezwungen, sich in öffentlichen Räumen zu bewegen und außerhäuslicher Erwerbsarbeit nachzugehen. Die Macht des islamisch geprägten Verhaltenskodex für Frauen, in dessen Zentrum pur-

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dah steht und der neben der Beschränkung der weiblichen Mobilität auf den häuslichen Bereich auch die Interaktionen von Männern und Frauen regelt, war schon immer die Macht eines Mythos – und das »not in a sense of being unreal or untrue, but as a symbolic expression of relations between male and female, with simultaneous ideologies and material dimensions«, wie White (1992: 23) feststellt. Auch wenn die prekäre materielle Basis die Einhaltung des Verhaltenskodex immer stärker in Frage stellt, bleibt purdah und somit die Trennung der Sphären von Männern und Frauen ein kulturelles Ideal in Bangladesch. Purdah als ein wichtiger Bestandteil der bestehenden Geschlechterordnung war allerdings nie statisch, sondern wird immer in sozialen Interaktionen ausgehandelt und durch diese verändert und neu definiert. Trotzdem waren es immer schon junge Frauen, die den purdah-Vorschriften am meisten ausgesetzt waren, da purdah auch als ein Statussymbol wahrgenommen wird: Seine Verletzung bringt Schande über die Familie der unverheirateten Frauen. Sowohl die Zunahme der weiblichen Erwerbsarbeit im formellen Sektor, vorrangig in der Bekleidungsindustrie, als auch die damit einhergehenden neuen Aushandlungsprozesse und Grenzziehungen müssen in diesem Kontext gesehen werden. Die neuen Grenzziehungen Die ›neue‹ Gruppe von ökonomischen Akteurinnen in Bangladesch, die meist jungen Frauen, die in den Bekleidungsfabriken arbeiten, sind nicht nur sichtbar in den Statistiken, sondern haben auch das Straßenbild nachhaltig verändert. Noch in den 1980er Jahren waren auf den Straßen Dhakas vorwiegend Männer und Kinder anzutreffen: ob in Gruppen oder allein, Tee trinkend, im Gespräch vertieft, auf dem Weg zum Markt, um Waren anzubieten oder auf der Rickshaw auf Kunden wartend. Heutzutage jedoch sieht man immer mehr Frauen, die – meist jüngeren Alters und in Gruppen – zielstrebig ihren Weg durch den hektischen Straßenverkehr verfolgen. Besonders früh morgens und spät abends, manchmal sogar bis spät in die Nacht, sind die Frauengruppen unterwegs, die sich den Weg zu den Fabriken bahnen. Diese Besetzung des öffentlichen Raums führt zu einer Konstruktion der Arbeiterinnen als die ›Anderen‹, die herkömmlichen Idealen von Weiblichkeit entgegensteht. Die Sichtbarkeit

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der Arbeiterinnen in der Öffentlichkeit entspricht nicht den vorherrschenden Bildern von adäquatem weiblichen Verhalten. Das wiederum ist ein Grund für ihre gesellschaftliche Sanktionierung und das Zusprechen bestimmter Verhaltensweisen, wie z. B. ein ›unmoralisches‹ Leben zu führen.3 Es kann festgestellt werden, dass die Fabrikarbeiterinnen den sozialen Wandel symbolisieren, den die Integration der nationalen Ökonomie in den Weltmarkt mit sich gebracht hat. Ferner stellen sie eine Herausforderung für die Grenzziehung dessen dar, was in den jeweiligen Lebenswelten als ›männlich‹ und ›weiblich‹ konstruiert wird.4 Die Konfusion, die diese Verschiebung der Grenzziehung für die Frauen bedeutet, wird im Folgenden diskutiert. In den Fabriken Das Eindringen der Frauen in die Fabrikhallen bedeutet einerseits die Reproduktion der weltweit beobachtbaren geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung gerade in den exportorientierten Industriezweigen. Diese ist gekennzeichnet durch die Besetzung von Managementpositionen durch Männer, während die Mehrzahl der Arbeiter Frauen sind. Dabei spielt die Konstruktion von Qualifikation eine entscheidende Rolle, was auch in diesem Fall sehr anschaulich nachgezeichnet werden kann. Vor allem werden die so genannten ›natürlichen Fertigkeiten‹ von Frauen immer wieder als entscheidendes Kriterium für die Arbeit an den Nähmaschinen herangezogen. Ist eine spezifische Tätigkeit als ›typisch weiblich‹ besetzt, kann diese kaum umdefiniert werden; ein Naturalisierungsprozess findet sowohl von Seiten des Managements als auch von Seiten der Arbeiterinnen statt. Dementsprechend werden die Tätigkeiten, die typischerweise Frauen ausüben, als unqualifiziert definiert und niedrig entlohnt. Die Tatsache, dass die von Frauen ausgeübten Tätigkeiten abgewertet werden, verdeutlicht, dass Arbeitsmärkte männliche und weibliche Arbeitskraft nicht geschlechtsunabhängig bewerten, wie in Arbeitsmarktstheorien häufig argumentiert wird. Es gibt demzufolge keine »innocent economic phenomena« (Milkman / Townsley 1994: 601), sondern soziale Praktiken, Interaktionen und kulturelle Wertemuster bestimmen wirtschaftliches Handeln. Im Zentrum dieses Artikels steht allerdings nicht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, obwohl es sich hierbei natürlich auch um

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eine Form der Grenzziehung handelt, sondern der neue Raum, die Fabrik, sowie dessen Strukturierung durch die unterschiedlichen Akteure. Zu nennen sind hier einerseits die Fabrikbesitzer und das Management, andererseits die Arbeiterinnen. Beide Gruppen von Akteuren versuchen mit ganz unterschiedlichen Strategien die neuen Räume nach außen zu präsentieren. Diese Strategien müssen im gesellschaftlichen und historischen Kontext gesehen werden. In den 1980er Jahren kam es auch in Bangladesch zum Erstarken der islamischen Jamaati-i-Islami-Partei und damit zu einer stärkeren Integration so genannter islamischer Werte und Normen in das Alltagsleben, insbesondere zur verstärkten Forderung nach Seklusion und Verschleierung von Frauen. Gleichzeitig wurden Frauen gezielt über nationale und internationale Entwicklungsprogramme und -projekte gefördert. Genannt seien hier vor allem einkommenschaffende Projekte, oft mit dem Ziel, Frauen aus ihrer ›Unsichtbarkeit‹ zu befreien. Diese Projekte und Programme wurden gerade von den erstarkten islamischen Kräften, besonders im ländlichen Bereich, genutzt um den wachsenden westlichen Einfluss anzuprangern.5 Die so genannte ›Frauenfrage‹ wurde somit auch in Bangladesch das Terrain, auf welchem die Frage von kultureller Identität und Modernität ausgetragen wird, ›Frau‹ und ›Familie‹ wurden auch hier zum Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen, insbesondere in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs (vgl. Kandiyoti 1991; Kabeer 1991). Die Fabrikbesitzer sehen sich aufgrund dieser öffentlichen Diskurse hinsichtlich der von ihnen geschaffenen industriellen Arbeitsplätze für Frauen gezwungen, die Fabrik als geschützten und sicheren Raum für Frauen zu präsentieren, welcher mit den Normen und Werten von purdah vereinbar ist. Konkret bedeutet dies, dass die Fabriken während der Arbeitszeit abgeschlossen werden, um, so die interviewten Fabrikbesitzer, die Frauen vor Fremden und anderen ›bad people‹ zu schützen. Die verschlossene Türe stellt einen symbolischen und physischen Marker von Raum dar. Allerdings ermöglicht die verschlossene Türe nicht nur eine strikte Kontrolle der Arbeiterinnen, sondern stellt auch eine Gefahr dar. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Bränden mit Todesfällen in den Fabriken, da die Fluchtwege verschlossen waren.6 Des Weiteren wird in der Öffentlichkeit und in Interviews immer darauf hingewiesen, dass innerhalb der Fabriken die Arbeitsräume von

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Männern und Frauen getrennt sind und Interaktionen zwischen Männern und Frauen streng reglementiert sind, d. h., es sind zum Beispiel nur Gespräche erlaubt, die für den Arbeitsprozess notwendig sind. Ein Gang durch eine der Fabriken verdeutlicht allerdings, dass dies nur bedingt umgesetzt werden kann. Während in den riesigen Nähräumen zwar vor allem junge Frauen hintereinander in langen Reihen an den Nähmaschinen sitzen, laufen die meist männlichen Vorarbeiter durch die Reihen, um die Arbeit der Näherinnen zu kontrollieren. Die Kontrolle der fertigen Stücke ist ebenfalls eine männliche Tätigkeit, die im gleichen Raum durchgeführt wird. Allerdings befinden sich die Arbeitsplätze der männlichen Kontrolleure am Kopfende der jeweiligen Räume und sind so konzipiert, dass sie den Näherinnen den Rücken zudrehen. Während in den Nähräumen versucht wird, die Interaktionen sowohl visuell als auch kommunikativ auf ein Minimum zu beschränken, ist dies in den Schneide-, Falt- und Verpackungsräumen nicht möglich. Hier arbeiten Männer und Frauen meist Seite an Seite und Gespräche begleiten den Arbeitsprozess. Der Bügelraum und die Verwaltungsräume sind fast ausschließlich männliche Räume, ist doch nicht nur die Kontroll- und Verwaltungsarbeit eine typisch männliche Tätigkeit, sondern auch das Bügeln der fertigen Kleidungsstücke.7 Während die meisten der Räume in den Fabriken fließende Grenzen haben, zumindest die Räume, die vom Management festgelegt werden, sind die so genannten Verhaltensregeln strikt. So müssen z. B. im Falle eines Stromausfalls die Männer sofort den Raum verlassen zum Schutz der Arbeiterinnen; bei Missachtung dieser Regel droht die sofortige Kündigung. Auch Gespräche im Treppenhaus zwischen Männern und Frauen werden nicht nur kritisiert, sondern auch sanktioniert. Die strikte Kontrolle vor allem der physischen Mobilität innerhalb der Fabrik durch männliche Vorgesetzte, die u. a. darin zum Ausdruck kommt, dass in einigen Fabriken pro Tag nur zwei Gänge in den Waschraum gestattet sind, kann als Versuch analysiert werden, den häuslichen Bereich mit den entsprechenden Machtstrukturen in den Fabrikhallen zu reproduzieren. Lokale Machtstrukturen werden in den industriellen Arbeitsprozess inkorporiert, um nicht nur die Fabrik als geeigneten Arbeitsplatz nach außen zu präsentieren und somit den Nachschub an billigen Arbeitsplätzen zu gewährleisten, sondern auch um die Reputation der Arbeiterinnen zumindest symbolisch zu schützen. Allerdings beschränken sich diese Versuche ausschließlich

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auf die Fabrik, denn außerhalb der Fabriken werden solche Maßnahmen zum ›Schutze‹ der Arbeiterinnen nicht ergriffen. Weder gibt es sichere Transportmöglichkeiten für die Arbeiterinnen, obwohl dies ein großes Problem ist und es immer wieder zu Übergriffen außerhalb der Fabriken kommt, noch werden Überstunden bis spät in die Nacht eingeschränkt, um den Frauen den Heimweg bei Dunkelheit zu ersparen. Die Frauen sind gezwungen, eigene Strategien zu entwickeln, wie zum Beispiel den Heimweg in Gruppen anzutreten. Die Arbeiterinnen unterstützen teilweise die oben skizzierten Maßnahmen, unterlaufen sie aber gleichzeitig, wie im Folgenden ausgeführt wird. Auch den Arbeiterinnen ist es wichtig, die Fabriken als sichere und geschützte Räume zu präsentieren, gegenüber ihren Familien ebenso wie vor dem weiteren sozialen Umfeld. Allerdings sind sie sich über die Durchlässigkeit der Räume genauso bewusst wie über die Möglichkeiten, die Regeln zu umgehen oder sich eigene Räume zu schaffen, diese entsprechend zu strukturieren und somit die formalen Grenzziehungen zu verändern. Die Desexualisierung des neuen Raums Der Eintritt in den neuen Raum, die Fabrik, bedeutet für alle der interviewten Frauen eine Art industriellen ›Kulturschock‹ (Lenz 1988: 181). Während sich die meisten der Frauen sehr schnell an die neue Form der Arbeit gewöhnten, liegen die Hauptprobleme in der Zusammenarbeit mit Männern und in den Auswirkungen, die diese Form der Arbeit auf ihre unterschiedlichen Lebensbereiche hat. Die Stigmatisierung, der sie innerhalb und außerhalb der Fabrik aufgrund ihrer Erwerbsarbeit ausgesetzt sind, stellt dabei das größte Problem dar, wie die Interviews, die ich in Wohnheimen oder mit den Arbeiterinnen zu Hause geführt habe, deutlich zeigen. Dem Vorwurf eines unmoralischen Lebenswandels versuchen die Frauen entgegenzuwirken, indem sie einerseits die Präsentation der Fabriken nach außen durch die Fabrikbesitzer unterstützen, zusätzlich diese aber erweitern und umdefinieren. Eine Strategie stellt die Desexualisierung des neuen Raums der Fabrik dar. Das bedeutet nicht nur, dass die Frauen versuchen, den Kontakt mit den männlichen Kollegen und Vorgesetzten auf das Wesentliche zu beschränken, sondern sie führen ›fiktive‹ Verwandtschafts-

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begrifflichkeiten ein. Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen Männern und Frauen desexualisiert, um Interaktionen zu ermöglichen. Gleichzeitig wird dadurch aber auch zum Ausdruck gebracht, dass Geschlechter- und Altershierarchien anerkannt werden. Diese Strategie ist in der bengalischen Gesellschaft weit verbreitet und eine gängige soziale Praxis (vgl. Kabeer 1991).8 So werden z. B. die Brüder der Freundinnen oder Nachbarsöhne mit bhai angesprochen, was ›großer Bruder‹ bedeutet. Die Frauen greifen im neuen Raum, der Fabrik, auf diese Strategie zurück, übertragen sie auf den Arbeitskontext, um auf diese Art und Weise eine für sie und andere sozial akzeptierte Form des Umgangs aufzubauen. Jeder Verwandtschaftsbegriff, der benutzt wird, spiegelt für die Frauen ein bestimmtes Beziehungsmuster wider. Eine ältere und erfahrene Kollegin z. B. apa (ältere Schwester) zu nennen, drückt nicht nur Zuneigung und Respekt aus, sondern auch die Hoffnung, unterstützt und gefördert zu werden. Ferner erhoffen sich die jüngeren Frauen Schutz vor Vorarbeitern und männlichen Kollegen. Obwohl viele der gerade jüngeren Arbeiterinnen von älteren Kolleginnen protegiert und an den Maschinen ausgebildet wurden9, sind diese Beziehungen durchaus auch problematisch, besonders in Auseinandersetzungen mit dem Management. So beklagen sich viele der jüngeren Arbeiterinnen, dass ihre ›älteren Schwestern‹ bei Verhandlungen mit dem Management z. B. hinsichtlich der Auszahlung von Löhnen, ihre Interessen nicht nachdrücklich genug vertreten, sondern nach Erfüllung der eigenen Forderungen diejenigen der jüngeren Arbeiterinnen nicht weiter verfolgen. Aufgrund der hierarchischen Strukturen innerhalb der Fabriken ist es den jüngeren Arbeiterinnen nicht möglich, direkte Verhandlungen mit dem Management aufzunehmen. Die entlang von Alterskategorien verlaufenden hierarchischen Beziehungen zwischen den Arbeiterinnen helfen zwar Neuankömmlingen, sich in der Fabrik zurechtzufinden, gleichzeitig spiegeln sie aber familiäre Strukturen wider, in diesem Fall die Rolle der älteren Schwester, die mehr zu sagen hat und oft zwischen Eltern und jüngeren Geschwistern vermittelt. Diese Strukturen sind einerseits dafür verantwortlich, dass eine Solidarisierung der Arbeiterinnen oder der Aufbau entsprechender Organisationen, z. B. Gewerkschaften, noch in den Kinderschuhen steckt, andererseits bieten sie aber auch Schutz und Sicherheit. Der Fabrikbesitzer und die Manager sind die einzigen in der Fabrik, die mit dem englischen Begriff sir und nicht einem lokalen Be-

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griff angesprochen werden. Sir impliziert nicht nur den antizipierten Abstand zwischen ihnen und der männlich besetzten Führungsschicht in der Fabrik, sondern zeigt auch, dass die Arbeiterinnen diese Kluft nicht überwinden können und wollen. Einen männlichen Kollegen mit bhai (großer Bruder) und den direkten Vorgesetzten mit chacha (Onkel) anzusprechen dient, wie schon ausgeführt, in erster Linie der Desexualisierung der Beziehung und damit des neuen Raums, der Fabrik. Die Männer in der Fabrik sind für die Frauen zuerst Fremde, mit denen sie gemäß des Verhaltenskodex keinen Kontakt haben dürfen. Aus diesem Grund übertragen die Arbeiterinnen verwandtschaftliche und ihnen damit familiäre Begrifflichkeiten und Beziehungsmuster in den neuen Kontext. Die Reproduktion von gesellschaftlich akzeptierten Beziehungen, wie die zwischen Schwester und Bruder oder Onkel und Nichte, reflektieren den Versuch der Arbeiterinnen, die Fabrik so zu strukturieren, dass die Zusammenarbeit sozial akzeptiert wird. Gleichzeitig kann dies aber auch als Versuch gesehen werden, den Männern Grenzen zu setzen, d. h., die Frauen verweisen mit diesen Begrifflichkeiten auf einen Referenzrahmen, der auch den Männern bestimmte Verhaltenweisen abverlangt. Schutz gehört ebenso dazu wie zum Beispiel respektvolles Verhalten. Wird dies erfüllt, sind die Arbeiterinnen auch bereit, Kritik oder schlechte Behandlung hinsichtlich ihrer Arbeit hinzunehmen. Exemplarisch verdeutlicht dies eine Aussage einer Näherin, die dies wie folgt beschreibt: »Ich nenne meinen Vorarbeiter Onkel, daher kann er meine Arbeit kritisieren oder mich anschreien, wenn ich etwas falsch mache. Ich weiß, er will nur das Beste für mich und darum behandelt er mich manchmal streng.«

Zwar versuchen die Frauen, die Arbeitsbeziehungen über die Einführung der Verwandtschaftsbegrifflichkeiten zu desexualisieren, aber nicht immer gelingt dies. Ganz im Gegenteil dazu versuchen die männlichen Vorgesetzten oft, über den Gebrauch einer sexualisierten Sprache oder sexuelle Belästigungen Kontrolle über die Frauen auszuüben.

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Die Sexualisierung der ›geschlechtsneutralen‹ Arbeitsbeziehungen Nahezu alle interviewten Arbeiterinnen berichteten, dass sie nicht nur sexuellen Belästigungen ausgesetzt sind, sondern sie sich durch den Gebrauch sexualisierter Sprache innerhalb der Fabriken angegriffen fühlen. Die Vorgesetzten unterminieren auf diese Art und Weise die Versuche der Frauen, familiäre Kontrollmechanismen zu konstruieren, sie ersetzen diese durch sexualisierte Kontrolle, besonders in alltäglichen Interaktionen. Sexuelle Diskurse in den Fabriken sind nicht nur eine Schlüsselkategorie in der Konstruktion von Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz (vgl. Pringle 1989a: 51), sondern eine der vorherrschenden Kontrollmechanismen. Die Männer stellen sexuelle Situationen her, kontrollieren diese und üben damit eine spezifische Form der Macht aus, die in manchen Fällen soweit geht, dass die Frauen ihren Arbeitsplatz aufgeben.10 Dies belegt die These von Hearn / Parkin (1987), dass das Verfügen über den sexuellen Diskurs Macht ist; so wie es auch ein Ausdruck von Macht ist, anderen zu verbieten, an diesem Diskurs teilzunehmen (vgl. auch Müller 1993: 109). Der zweite Aspekt dieser These lässt sich anhand der Interviews sehr deutlich veranschaulichen. Arbeiterinnen, die sich in sexuelle Diskurse einmischen oder kontern, indem sie sexualisierte Begrifflichkeiten in Auseinandersetzungen mit männlichen Kollegen oder Vorgesetzten übernehmen, werden nicht nur von diesen geschnitten, sondern auch aus den weiblichen Netzwerken exkludiert. Die Abgrenzung zu Arbeiterinnen, die durch Benutzung ›unweiblicher‹ Begrifflichkeiten auffallen und damit nicht den Idealen von angemessenem weiblichen Verhalten entsprechen, ist eine gängige Strategie, die im Kontext der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Arbeiterinnen als Gruppe analysiert werden muss. Denn diese Arbeiterinnen stellen für ihre Kolleginnen eine Bedrohung für die Reputation der Fabrikarbeiterinnen als Gruppe dar. Eine Arbeiterin formuliert dies wie folgt: »Ich hatte es satt, mich oder meine Mutter sexuell beleidigen zu lassen. Ich schrie zurück und benutzte dieselben Begriffe wie mein Vorgesetzter. Er war im ersten Moment erstaunt, erzählte aber dann allen, ich wäre verrückt. Sollen sie doch alle denken, ich wäre verrückt, ich kann jetzt tun, was ich will. Meine

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Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch Kolleginnen allerdings vermeiden, mit mir gesehen zu werden, weil sie Angst haben, dass die anderen denken, sie wären genauso wie ich.«

Sexualität und weiblicher Körper dienten schon immer entweder der Exklusion von Frauen oder ihrer Objektivierung in Arbeitsprozessen. Nach Burrell (1992) zeichnet sich schon zu Beginn der Industrialisierung ein Prozess ab, der als Desexualisierung der Arbeit interpretiert werden kann. Frauen wurden aus Organisationen ausgeschlossen und die »Sexualisierung der Frauen bzw. die Stereotypisierung der Frauen als überwiegend oder gar hauptsächlich sexuelle Wesen« (Müller 1993: 104) wurde damit vollzogen. Allerdings wurden Frauen nie vollständig aus der Sphäre der Lohnarbeit ausgegrenzt, ganz im Gegenteil. Im Zuge der internationalen Arbeitsteilung sind sie wieder verstärkt in die Fabrikhallen eingezogen, vor allem in den so genannten Billiglohnländern. Trotzdem ist die Trennung zwischen dem ›männlichen‹ Ort der kapitalistischen Produktion und dem ›weiblichen‹ Zuhause, dem Ort der sexuellen Aktivität allgegenwärtig und damit auch die Vorstellung eines ›entkörperlichten‹ Arbeitsplatzes (vgl. Acker 1992). Daher werden Frauen in der Sphäre der Lohnarbeit immer als am falschen Platz wahrgenommen. Die Reaktionen der männlichen Arbeiter und Vorgesetzten in den Bekleidungsfabriken in Bangladesch veranschaulichen diese Analyse. Der Umgang der männlichen Arbeitnehmer und Vorgesetzten mit den weiblichen Arbeiterinnen, der Gebrauch sexualisierter Sprache ist nicht nur der Versuch, Frauen an ›ihren‹ Platz zu verweisen, sondern kann auch als Strategie interpretiert werden, ein männliches Zusammengehörigkeitsgefühl aufzubauen, meist über männliche heterosexuelle Diskurse und Symbole. Allerdings soll dieser Aspekt nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch eine Rangordnung unter Männern gibt. Die oberste Managementebene versucht z. B., über ein Set von Regeln mögliche Interaktionen zwischen Männern und Frauen einzuschränken und somit Sexualität aus den Fabriken zu verbannen. Der Ausschluss von Sexualität aus Organisationen, der historisch zum Beispiel von Burrell (1992) nachgezeichnet wurde, wird in der organisationstheoretischen Diskussion als Kontrollmechanismus, der für Männer wie Frauen gilt, analysiert. Bezugnehmend auf Foucault, wird in diesen Analysen immer wieder auf die dialektische Beziehung zwi-

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schen Kontrolle und Widerstand hingewiesen. D. h., sexuelle Äußerungen, Bemerkungen und Beziehungen am Arbeitsplatz können als Form des Widerstandes analysiert werden (vgl. Müller 1993: 106). Allerdings bleibt, außer in feministischen Diskursen, die Frage meist unbeantwortet, warum diese Widerstandshandlungen der männlichen Arbeiter und Vorgesetzten sich fast ausschließlich auf Kosten weiblicher Arbeiterinnen vollziehen und es hierbei sehr häufig zu Solidarisierungen männlicher Arbeiter und Vorgesetzter kommt. Geschlecht, Sexualität und Körper sind eine organisatorische Ressource, die primär vom Management genutzt wird (vgl. Burnell 1992; Acker 1992). Allerdings – und dies wird im folgenden Abschnitt behandelt – eröffnet diese Ressource auch anderen Gruppen, in diesem Fall den Arbeiterinnen, Möglichkeiten zu Neuaushandlungen bestehender Geschlechterverhältnisse oder konkreter Arbeitsbedingungen, denn: »Sexual games are integral to the play of power at work, and success for women depends on how they negotiate their sexuality« (Pringle 1989b: 176). Sexualität und Körper als organisatorische Ressource Die Interviews mit den Arbeiterinnen lassen den Schluss zu, dass sich die Mehrzahl der von mir befragten Frauen über die Funktionen und die Mechanismen der sexuellen Diskurse in den Fabriken bewusst sind und sie in diesem Kontext aktiv nutzen. Oftmals wird der ›Einsatz‹ der zugeschrieben ›sexuellen‹ Identität als einzige Möglichkeit wahrgenommen, ihre Arbeitssituation zu beeinflussen. »Mein Vorgesetzter mag mich sehr. Er erklärt mir fast täglich, wie hübsch ich sei, macht Anspielungen und gibt mir Süßigkeiten. Ich weiß, dass er sich mir gegenüber nicht so verhalten sollte, das gehört sich nicht, aber es hilft mir und darum mache ich mit. Ich bekomme weniger Arbeit auf den Tisch und wenn ich zu spät komme, sagt er nichts.«

Eine andere Arbeiterin formuliert es allgemeiner: »Alle Sirs und Vorarbeiter sind in Affären involviert, sie suchen sich ein Mädchen aus, beschützen und fördern es.«

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Ihre Arbeit in einer Gewerkschaft begründet sie wie folgt: »Schau mich an, ich bin nicht so hübsch wie die anderen. Also musste ich mich in der Gewerkschaft engagieren, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ich kann nicht mit den Vorarbeitern oder den Managementvertretern flirten, um eine Gehaltserhöhung zu bekommen oder einen speziellen Bonus. Die Männer in der Fabrik sind so leicht zu beeinflussen. Wenn du hübsch bist, ist es leichter für dich und deine Freundinnen.«

Diese Beispiele zeigen, dass die Arbeiterinnen sich der Bedeutung der ihnen zugeschriebenen sexuellen Identität und Körperlichkeit bewusst sind und diese zur Bewältigung ihrer Arbeitssituation und hinsichtlich ihrer eigenen Interessen nutzen. Dies bedeutet aber auch, dass Loyalitäten unter Frauen in diesem Kontext nur bedingt entstehen können. Männliches sexuelles Interesse, wie von den Arbeiterinnen beschrieben, führt zu komplexen und widersprüchlichen Beziehungen zwischen den Arbeiterinnen. Neben den organisationsinternen Regelungen, wie zum Beispiel dem individuellen Aushandeln der Löhne, die, wie oben dargestellt, die Sexualisierung der Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeiterin und Vorgesetztem noch verstärken, dient die von den Vorgesetzten umgesetzte ›Teile-und-herrsche-Strategie‹ auch der Verhinderung von Solidarisierung und damit dem Organisationsaufbau der Arbeiterinnen. Den Forschungsergebnissen nach erscheint es den meisten der befragten Frauen sinnvoller und damit erfolgreicher, ihre ›sexuelle‹ Identität einzusetzen, als sich mit anderen Arbeiterinnen zusammenzuschließen. Widerstand artikuliert sich zwar auch über spontane Streiks und Arbeitsniederlegungen, dennoch ist die individuelle Form des Widerstands, über direkte oder indirekte Aushandlungen mit dem jeweiligen Vorgesetzten noch dominant.11 Trotz dieser individuellen Form der Aushandlung gibt es aber auch in den Fabriken so genannte »sexually irreverent discourses«, die gemäß Abu-Lughod (1990: 45) als eine weitere Form des Widerstands interpretiert werden können. Die Arbeiterinnen erzählten mit Begeisterung über männliche Vorgesetzte, die in eine der Kolleginnen verliebt waren. Sie machten sich besonders in Gruppendiskussionen über männliche Kollegen oder Vorarbeiter lustig, die von Arbeiterinnen abgewiesen oder instrumentalisiert wurden. So berichtet zum Beispiel eine der Arbeiterinnen:

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Petra Dannecker »Mein Vorgesetzter war in eine der Näherinnen verliebt. Er machte ihr Geschenke und war immer sehr nett zu ihr. Wir alle wussten, was vor sich ging. Wir saßen oft zusammen, besonders während der Mittagspause und lachten über seine Annäherungsversuche. Die Frau war überhaupt nicht an ihm interessiert, denn sie war schon verheiratet. Einmal schrieb er ihr einen Brief. Am nächsten Tag zeigte sie uns den Brief und wir hatten viel Spaß. Immer wenn er sich ihr näherte, haben wir angefangen zu lachen. Er wurde sehr unsicher. Letztendlich fand er heraus, dass wir alle Bescheid wissen und wechselte die Fabrik. Ich glaube, ihm war sein Verhalten sehr peinlich.«

Diese Diskurse über männliches Verhalten finden zumeist in den vom Management, aber auch von den Frauen geschaffenen Frauenräumen statt. Es handelt sich z. B. um Gebetsräume oder – falls vorhanden – die Waschräume und Kantinen. Auch wenn der Besuch dieser Räume stark reglementiert ist, zeigen Fallstudien auch aus anderen Ländern, dass die Arbeiterinnen sich je nach Kontext immer wieder Nischen und Freiräume schaffen.12 Die Arbeiterinnen nutzen diese Räume aber nicht nur, um sich vor den Zugriffen der männlichen Kollegen und Vorgesetzten zu schützen oder Informationen auszutauschen, sondern vor allem auch, um Strategien gegen männliche Vorgesetzte zu entwickeln. Gerade Diskurse über männliches Verhalten und männliche Sexualität führen, wie das Beispiel gezeigt hat, zu Solidarisierungen und einem – wenn auch sporadischen – Wir-Gruppen-Gefühl. Die Kontrollmechanismen in den Fabriken können diese Räume nur bedingt erreichen, daher empfinden die Frauen ein gewisses Maß an Autonomie in diesen Räumen. Sich über männliche Sexualität oder männliches Balzverhalten lustig zu machen, führt aber nicht nur zur Entzauberung des Bereiches Sexualität, über den ansonsten nicht kommuniziert wird, sondern auch zu Neuaushandlungen der bestehenden Geschlechterordnung. Gerade jüngere Arbeiterinnen haben hier die Möglichkeit von den Erfahrungen der älteren Kolleginnen zu lernen, z. B. hinsichtlich des ›ersten Mals‹. Aber auch Fragen der Verhütung werden in diesen Räumen diskutiert und nach Hause getragen. In diesen Räumen wird zum Beispiel auch besprochen, wann eine Arbeiterin, die sich belästigt fühlt, sich an das Management wenden sollte. Es gibt durchaus Fälle, in denen sich das Management gezwungen fühlt, den Vorwürfen einer Arbeiterin oder einer Gruppe von Arbeiterinnen nachzugehen. Meist berufen sich die Frauen auf das von

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der Firmenleitung propagierte adäquate männliche Verhalten, also auf einen Bezugsrahmen, der im günstigsten Fall für Männer und Frauen gilt. »Mein Vorgesetzter gab mir immer wieder Bonbons und ich getraute mich nicht, sie abzulehnen, da ich immer Angst hatte, er würde mir sonst mein Gehalt kürzen oder meine Stückzahl erhöhen. Er flirtete, lachte und redete dauernd mit mir über Sex zum Beispiel. Er dachte, er könnte dies tun, weil ich von ihm abhängig bin. Eines Abends erklärte er, dass einige von uns länger bleiben müssen. Wir arbeiteten bis spät und schliefen dann in der Fabrik. Als ich eingeschlafen war, kam er und berührte mein Bein. Ich schrie und weckte die anderen auf, die das Licht anmachten. Er hörte auf. Ich besprach mich mit den anderen und ging dann zum Sir, um mich zu beschweren. Ich erzählte ihm, was passiert ist, und dass andere dies beobachteten. Außerdem sagte ich ihm, dass die Regel besagt, dass er für dieses Verhalten gefeuert werden muss. Sie sagen immer, sie wollen uns beschützen, darum mussten sie ihn entlassen.«

Die Regeln, die in den Fabriken als Bezugsrahmen für das so genannte angemessene Verhalten institutionalisiert wurden, ermöglichen es den Arbeiterinnen, den Diskurs um moralisches Verhalten zu feminisieren und ihn gegen Männer einzusetzen, die die Grenzen übertreten, d. h. sie zum Beispiel sexuell belästigen. Allerdings funktioniert dies nur, wenn die männliche Führungsebene entsprechend reagiert. Dies ist nicht immer der Fall, besonders nicht, wenn die Führungsetage und die männlichen Vorgesetzten miteinander verwandt sind oder über Beziehungen rekrutiert wurden, was häufig zu beobachten war. Solidarisierung zwischen Männern in unterschiedlichen Positionen und männliche Netzwerke werden in diesen Fällen höher bewertet als fabrikinterne Regeln. Klassische Erklärungsmodelle, wie zum Beispiel das Argument, dass die entsprechende Arbeiterin den Vorgesetzten zu solch einem Verhalten animiert habe, wurden vom befragten Management oft zu Protokoll gegeben. Beschwerden, von Arbeiterinnen vorgetragen, schaffen neue Formen der Vernetzung sowohl unter den Frauen als auch unter den Männern. Zusammenfassend lässt sich analysieren, dass die sexuellen Diskurse in den Fabriken zu ›Arbeitsplatzidentitäten‹ führen, die als Schlüsselelemente in der Konstruktion der Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen definiert werden können (Pringle 1989a: 51). Trotz

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dieser asymmetrischen Machtbeziehungen versuchen die Arbeiterinnen innerhalb der vorgegebenen Grenzen ihre Spielräume zu erweitern, sei es über die Versuche, fiktive Verwandtschaftsbeziehungen einzuführen oder die sexuellen Diskurse für ihre Interessen zu nutzen. Die Geschlechterbeziehungen in den Fabriken können, und hier beziehe ich mich auf Cockburn (1991), als Auseinandersetzung zwischen hegemonialen und subversiven Ideen gedeutet werden. Die Arbeiterinnen versuchen, die hegemonialen Strategien der Männer über subversive Strategien auszuhebeln. Dies bezieht sich nicht nur auf die Fabrik, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird. Lebenswelten außerhalb der Fabriken Die Arbeit in den Fabriken ist nicht ein getrennter Teil des Lebens, den die Arbeiterinnen bei Verlassen der Fabriken ablegen. Familiäre Beziehungsmuster werden in den Fabrikhallen sowohl von den Arbeiterinnen als auch von dem meist männlichen Management reproduziert. Lokale Machtstrukturen werden genutzt, um einen reibungslosen Arbeitsprozess zu garantieren. Damit zeigt sich, wie oben argumentiert wurde, dass die Trennung zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre weder empirisch noch theoretisch zu halten ist. Die über die Fabrikarbeit vermittelten neuen sozialen Beziehungen und Praktiken sowie die neuen Identifikationsmuster machen Rekonzeptualisierungen nicht nur hinsichtlich bestehender Geschlechterverhältnisse notwendig, sondern auch bezüglich der Grenzziehungen. Die Erfahrungen, die die Arbeiterinnen in den Fabriken machen, gleichen sehr oft denen, die ihren Alltag in anderen Lebensbereichen prägen. Auch auf der Straße oder in ihren jeweiligen Wohnvierteln sind die Frauen sexuellen Angriffen ausgesetzt, auch hier werden sie zum Beispiel von Männern belästigt. Allerdings führt dies nicht zum ›Rückzug‹, d. h., die Frauen ziehen sich nicht in die so genannte private Sphäre zurück, sondern sie eignen sich den öffentlichen Raum Schritt für Schritt an, anders könnten sie diese neuen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht wahrnehmen. Sich in Gruppen zu bewegen, ist sicherlich eine der offensichtlichsten Strategien, und das nicht nur aus Sicherheitsaspekten, sondern auch, wie die Interviews gezeigt haben, um über die wahrgenommene Stärke, die die Gruppe signalisiert, den Anfeindungen und der Stigmatisierung etwas entgegensetzen zu können.

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Die Frauen bewegen sich nicht scheu mit gesenktem Kopf, sondern schlendern, insbesondere nach der Arbeit, lachend und scherzend an Rickshaws und Geschäften mit einer unverschleierten Selbstverständlichkeit vorbei, die nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Konzept der »portable seclusion« (Papanek / Minault 1982: 10), wie von z. B. Mirza (1999) für Pakistan oder von Jacobson (1982) für Indien beschrieben. Die Aneignung des öffentlichen Raums, bzw. die Konstruktion neuer Öffentlichkeiten findet hier ihren Anfang. Die Ausdifferenzierung von Lebensentwürfen und die Neuaushandlung von Haushaltsstrukturen sind ebenfalls wichtige Aspekte der Fabrikarbeit, die die Verbindungen und Schnittstellen zwischen den oft getrennt behandelten Bereichen veranschaulichen und die Veränderungen der Grenzen illustrieren. Während die meisten der befragten Arbeiterinnen zu Beginn der Erwerbstätigkeit bei Verwandten in der Stadt wohnten, steigt die Zahl derer, die sich im Laufe ihrer Berufstätigkeit neue Wohnformen schaffen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wählen Frauen eine Wohnform, die nicht um einen männlichen Beschützer13 herum organisiert ist (vgl. Kabeer 1997). Sowohl das Einkommen als auch die gestiegene Mobilität der Frauen eröffnen diese Möglichkeiten. Die wichtigste Ressource allerdings stellen die neuen Netzwerke dar, die oft in den Fabriken entstehen, aber bei weitem nicht nur in diesem Kontext relevant sind. Diese Netzwerke, die Teil der über Globalisierungsprozesse, d. h. direkt über außerhäusliche Erwerbsarbeit vermittelten Lokalisierungsprozesse sind, dienen nicht nur zum Informationsaustausch oder der Planung von Strategien in den Fabriken (siehe oben), sondern bieten auch finanzielle Sicherheit in Krisenzeiten und sind unverzichtbar bei der Umsetzung neuer Lebensentwürfe, wie zum Beispiel Wohnformen. Oft schließen sich Arbeiterinnen zusammen, mieten eine Unterkunft oder beschaffen sich gegenseitig einen Platz in einem der wenigen Wohnheime. Während die Wohnheime gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, da sie im Gegensatz zu den Wohngemeinschaften geschützte und kontrollierte Räume darstellen, bedeutet das Zusammenleben mit anderen Arbeiterinnen zwar größere Autonomie, dafür opfern die Frauen aber die Sicherheit, die Konformität mit sich bringt. Immer noch werden allein lebende Frauen als ›leichtlebig‹ stigmatisiert und ihnen ein ›lockerer Lebenswandel‹ vorgeworfen. Dies zeigt sich schon bei der Suche nach einem geeigneten Wohnraum. Viele Vermieter weigern sich, Räum-

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lichkeiten an Frauen zu vermieten oder versuchen, die Mieterinnen zu überwachen. Damit reproduzieren sie Kontrollmechanismen, die oft aus dem ländlichen Kontext abgeleitet werden. Trotzdem entscheiden sich immer mehr Arbeiterinnen für diese Form des Zusammenlebens, auch wenn der fehlende männliche Schutz und die Angst vor sexueller Belästigung die größten Probleme darstellen. Die fehlende soziale Sicherheit, die ein männlicher Verwandter symbolisiert, kann in dieser Phase nur bedingt über die weiblichen Netzwerke hergestellt werden, auch wenn die Frauen versuchen, dies mit Hilfe gegenseitiger Kontrolle und der Anpassung bestehender Normen und Werte an die neuen Lebenssituationen zu realisieren. Dieser Aspekt veranschaulicht, dass gerade die neuen Netzwerke unterschiedliche Lebenswelten der Arbeiterinnen verbinden und neue Räume sowohl innerhalb als auch außerhalb der Fabriken schaffen. Oft stärken die Netzwerke aber auch die Kooperations- und Aushandlungsprozesse mit der entsprechenden Familie oder dem sozialen Umfeld. Ein größeres Mitspracherecht bei der Eheschließung z. B., das den Frauen sogar ermöglicht, den Ehepartner selbst auszuwählen, kann als Umsetzung der geschlechtsspezifischen Interessen gedeutet werden, auch wenn die Frauen dies nicht unmittelbar als »empowerment«, d. h. als Zunahme an gesellschaftlicher Macht interpretieren. Auch die von den interviewten Arbeiterinnen klar artikulierten Vorstellungen von ›ihrem‹ Geld illustrieren, dass ein selbstverantwortlich bestrittener Lebensunterhalt nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern auch die Verhandlungsposition in der Familie stärkt. Nur wenige der befragten Frauen unterstützen z. B. ihre Herkunftsfamilie regelmäßig. Allerdings ist nicht das Einkommen per se entscheidend, sondern vielmehr inwieweit dieses neue Räume eröffnet und den Arbeiterinnen hilft, ihre Interessen durchzusetzen. Dies gilt ganz besonders auch für verheiratete Arbeiterinnen. Einkommen wird strategisch eingesetzt, um langfristige Ziele und Handlungsoptionen, wie zum Beispiel das Ob und Wann einer Heirat oder der Kinderzahl, umzusetzen. Schlussbemerkungen Wie die Situation innerhalb der Fabriken und der alltäglichen Lebenswelt verdeutlicht, finden die Neuaushandlungen und die neuen Grenzziehungen meist nicht über Konflikte statt. Kooperation und

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Aushandlung mit den Familien und dem sozialen Umfeld kennzeichnen die angestrebten Veränderungen und Autonomiebestrebungen, d. h. auch die Neuaushandlung der Geschlechterordnung. Dabei werden Strategien, die zum Beispiel im Umgang mit den männlichen Vorgesetzten in der Fabrik entwickelt wurden, durchaus auf Nachbarn übertragen. Fiktive Verwandtschaftsbeziehungen werden nicht nur in der Fabrik eingeführt, sondern auch in der Nachbarschaft und die gegenseitige Unterstützung erfolgt nicht nur bei Belästigung einer Arbeiterin durch einen Vorgesetzten, sondern Kolleginnen helfen auch bei familiären Auseinandersetzungen. Die Strategien können dabei nicht einer spezifischen Sphäre zugeordnet werden, vielmehr lässt das empirische Material den Schluss zu, dass erfolgreiche Verhandlungsstrategien in die jeweils andere Lebenswelt übertragen werden. Dabei scheinen Frauen eher subversive Strategien zu wählen, um die hegemonialen Bestrebungen der Männer in allen Lebensbereichen zu unterwandern und damit die Grenzziehungen, besonders hinsichtlich der bestehenden Geschlechterordnung, zu ihren Gunsten zu verschieben. Das purdah-System wird nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr als flexibel wahrgenommen und den neuen Arbeits- und Lebensbereichen, die nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, angepasst. Im Zuge der Globalisierungsprozesse und den damit einhergehenden Lokalisierungsprozessen in den konkreten Lebenswelten entstehen sowohl in den Fabriken wie auch außerhalb neue Öffentlichkeiten, in denen Werte und Normen neu ausgehandelt werden und Fragen der Identität neu diskutiert werden. In meiner Untersuchung der Arbeits- und Lebenswelt der bangladeschischen Arbeiterinnen wurde deutlich, dass die neuen Arbeitsmöglichkeiten neue Unsicherheiten und neue Formen der sozialen Kontrolle mit sich bringen, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen. Grenzen sind komplex, interaktiv und werden ständig neu ausgehandelt. Vermittelt über Fabrikarbeit haben sich die Arbeiterinnen neue Handlungsspielräume erarbeitet und vor allem über den Aufbau von Netzwerken aktiv an Diskursen und Konstruktionen von Grenzen und Grenzziehungen mitgewirkt. Die alltäglichen Aushandlungen von Grenzen stellen konzeptuelle Unterscheidungen wie die zwischen Produktion und Reproduktion oder öffentlicher und privater Sphäre in Frage und veranschaulichen die Notwendigkeit theoretischer und epistemischer Rekonzeptualisierungen.

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Anmerkungen 1 Vgl. Elshtain 1981, Fraser 1989, Klaus 1994 sowie den Artikel von Rössler 1996. Rössler analysiert sehr ausführlich und differenziert die unterschiedlichen Ansätze und Diskussionen. 2 Vgl. beispielsweise Butler 1991, Müller 1993. 3 Vgl. hierzu auch die Studien von Ong 1987, Jamilah 1984 und Buang 1993. 4 Vgl. hierzu auch Rodenberg 1999. 5 Vgl. hierzu Women Living under Muslim Law 1996. 6 Vgl. für die folgenden Ausführungen Dannecker 1998, Kapitel 3. 7 Dass Bügeln in diesem Kontext eine typisch männliche Tätigkeit ist, zeigt die gesellschaftlich jeweils unterschiedliche Konstruktion von Tätigkeiten als männlich oder weiblich. 8 Die Bedeutung familiärer Diskurse und Begrifflichkeiten wird in der Organisationssoziologie und in Arbeitsmarkttheorien nur vereinzelt analysiert und diskutiert (vgl. hierzu eine Zusammenfassung bestehender Ansätze in Oerton 1996: 58ff.). 9 Weder in den Fabriken noch außerhalb gibt es bisher Schulungsprogramme für Arbeiterinnen. Das Erlernen der notwendigen Fertigkeiten findet fast ausschließlich informell statt, d. h., die Arbeiterinnen bringen sich gegenseitig, meist in ihrer freien Zeit, die notwendigen Kenntnisse bei. 10 Diese Form der Machtausübung findet auch im so genannten ›Privatbereich‹statt,nichtnurinBangladesh,sondernauchinMexiko (vgl. Rodenberg 1999). 11 Siehe ausführlicher Dannecker 1998, Kapitel 5. 12 Siehe z. B. Ong 1987 zu Malaysia, Wolf 1992 zu Java. 13 Einen männlichen Beschützer (meist der Vater, Bruder oder ein älterer männlicher Verwandter) zu haben kann als Teil des purdahSystems definiert werden, darum auch wie schon ausgeführt die Übertragung dieses Systems auf den Fabrikkontext. Die Aufgabe des männlichen Beschützers ist es, die Ehre der unverheirateten Frauen zu überwachen, um die Familienehre nicht zu gefährden.

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Herrschaftsstrukturierte Verständigung, interkulturelle Beziehungen und symbolische Gewalt

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Ethnische Symbole in Nepals Öffentlichkeiten

Distanzen und Hierarchien. Kampf um ethnische Symbole in Nepals Öffentlichkeiten Joanna Pfaff-Czarnecka

Einleitung Kultur kann beides: Brücken bauen und unüberwindliche Barrieren errichten. Welche Option gewählt wird, hängt weitgehend vom sozialen Kontext ab, in dem Menschen – mehr oder weniger bewusst – ihre Entscheidungen treffen. Solche Entscheidungen üben beispielsweise einen großen Einfluss auf die Einstellungen zu Personen aus, die man als »anders« betrachtet – etwa weil sie anderen Ethnien oder Kasten angehören. Besonders bei Konflikten steigt die Tendenz, Unterschiede hervorzuheben. Es werden Barrieren errichtet, indem Zeichen an Bedeutung gewinnen, die auf soziale Distanz hindeuten. Eine häufige Option sind Strategien, einander zu meiden; eine andere Möglichkeit eröffnet sich darin, die Unterschiede in die Sprache der Hierarchie zu kleiden. Allerdings können strategisch wichtige Symbole in relativ kurzer Zeit neue Bedeutungen erlangen (Elwert 1997). Ihre Interpretationen wandeln sich, und es besteht die Tendenz, dass zusätzliche Konnotationen entstehen. Vier Themenbereiche sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Erstens ist zu fragen, in welchen Situationen gesellschaftlicher Umwälzungen – etwa in welchen Phasen ethnischer Mobilisierung – die Bereitschaft steigt, die Symbole einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, um auf den Inhalt ihrer an die Öf-

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fentlichkeit getragenen Botschaften Einfluss zu nehmen. Zweitens ist von Interesse, welche Symbole besonders anfällig für Anfechtungen sind. Diese lassen sich drittens mit Vorteil vor dem Hintergrund einer Analyse der kulturellen Repertoires betrachten, der sich die Mitglieder einer nationalen Gesellschaft bedienen. Schließlich ist zu untersuchen, welche Bedeutung den kulturellen Kontakten zwischen öffentlichen Sphären auf verschiedenen Ebenen – lokal, national, global – in diesen Prozessen zukommt. Ethnizität spricht also eine komplexe Sprache. Die Aktivisten und ihre Anhänger haben in Zeiten ethnischer Mobilisierung zahlreiche kulturelle und religiöse Elemente zur Auswahl, auf die sie zurückgreifen können, wenn sie versuchen, ihren Unmut auszudrücken und wenn sie ihre Visionen und Projekte öffentlich darstellen wollen. Zu den für öffentliche Darstellungen besonders »geeigneten« Elementen gehören religiöse Symbole, Rituale und Gebräuche, historische Ereignisse, an die in öffentlichen Feierlichkeiten erinnert wird sowie die zum nationalen Schatz deklarierten Elemente wie Sprache, Kleidung oder die Gepflogenheiten des öffentlichen Umgangs. All diese Elemente können als positive Werte hervorgehoben werden – oder aber eine negative Aufladung erfahren. Letzteres geschieht besonders dann, wenn die vormals den Kern der nationalen Ganzheit bildenden Kulturelemente der dominanten Gruppe in den Phasen ethnischer Mobilisierung von den Minderheiten als Symbole der Unterdrückung hervorgehoben werden. Entsprechende Beispiele muss man nicht lange suchen: Wenn eine Gesellschaft im öffentlichen Raum eine als »national« vorgegebene Sprache benutzen muss und gleichzeitig die Sprachen ethnischer Minderheiten systematisch übergangen werden, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ethnische Aktivisten die Sprachpolitik als Schauplatz ihrer Auseinandersetzung mit der Vorherrschaft der Majoritätsgruppe wählen. Andere Kampfarenen bieten insbesondere nationale Feiertage, welche die politische Macht ritualisieren (vgl. Pfaff-Czarnecka 1998). In der »Politik der Reaktion« (Hirschman 1992) ist es ein häufig verwendetes Muster, wenn ethnische Mobilisierung sich gegen nationale Symbole richtet: »ethnisch« gegen »national«, »Vielfalt« gegen »Einheit«, »Gleichheit« gegen »Hierarchie«, »back-to-the-roots«-Bewegungen gegen »äußere« kulturelle Einflüsse.1 Im Folgenden werden Prozesse der Ethnisierung in Nepal, die hier unter anderem als Reaktion auf historische Prozesse der Eingliederung

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ethnischer Populationen in das sich formierende staatliche Gefüge gesehen werden, im Hinblick auf diese Position untersucht. Ethnische Minderheiten im nepalischen Staatsgefüge Seit Mitte des 18. Jahrhunderts haben auf dem heutigen Territorium Nepals umfassende gesellschaftliche Transformationen stattgefunden.2 Mit der militärischen Expansion des Gorkha-Reiches, die im Jahr 1744 begann, kam es auf dem Gebiet des nepalischen Staates zu einer gewaltsamen »Vereinigung«, in deren Verlauf ca. 60 politische Einheiten – mit einer Vielzahl ethnischer Gruppen und hinduistischer Kasten – zu einem politischen Gebilde zusammengeschlossen wurden. Unter den Hindu-Herrschern Nepals kristallisierte sich eine gesellschaftliche Ordnung heraus, welche die politische und ökonomische Macht weitgehend, aber nicht ausschließlich, in den Händen hochkastiger Hindu-Gruppen konzentrierte. Die gesellschaftliche Ungleichheit wurde in die hinduistische Hierarchie-Sprache gekleidet, indem die Herrscher im Jahr 1854 eine zivile Gesetzgebung erließen, die eine »nationale« Kastenordnung festlegte – mit den so genannten »doppelgeborenen« Hindu-Kasten oben, mit den tiefen (»unberührbaren«) Hindus unten und den »ethnischen Gruppen« in den mittleren Rängen.3 Diese Gesetzgebung legte nicht nur den relativen Status der kollektiven Einheiten fest, sondern regelte auch weitgehend die gegenseitigen Beziehungen. Sie definierte Strafen, Rechte und Pflichten entsprechend der Stellung innerhalb dieses hierarchischen Gefüges. Abbildung 1: Die »nationale« Kastenhierarchie Nepals aus dem Jahr 1854 1. Caste group of the »Wearers of the holy cord« (ta¯ga¯dha¯ri) 2. Caste group of the »Non-enslavable Alcohol-Drinkers« (nama¯sinya¯ matwa¯li) 3. Caste group of the »Enslavable Alcohol-Drinkers« (ma¯sinya¯ matwa¯li) 4. Impure, but »touchable« castes (pa¯ni nacalnya¯ choi chito ha¯lnunaparnya¯) 5. Untouchable castes (pa¯ni nacalnya¯ choi chito ha¯lnuparnya¯)

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Zwischen 1951 und 1990, insbesondere seit dem Anfang der 1960er Jahre, änderten sich die politischen Auffassungen der Herrscher darüber, was die nepalische Nation ausmachen sollte. Auf der Basis der hierarchischen Kastenordnung, die zwar 1963 de jure weitgehend abgeschafft wurde, de facto aber weiterhin bestehen blieb, bemühten sich die Herrscher, den Prozess des nation-buildings mit dem Modernisierungsgedanken zu verbinden. Teilte das frühere System die Bevölkerung in hierarchisch geordnete Kasten, so brachte es damit zugleich die Vielfalt und die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck. Der Modernisierungsimperativ suchte hingegen, die nationale Einheit zu betonen, indem alle Merkmale der ethnischen Vielfalt – sowohl religiös als auch sprachlich – aus dem öffentlichen Repertoire verbannt wurden (ein klassisches Beispiel für Exklusion – vgl. Schlee / Werner 1996). Was ethnisch war, galt als rückständig – ganz im Sinne der Dualismusthese. Der Fortschrittsgedanke setzte in der offiziellen Rhetorik die nationale Einheit voraus, welche die Sprache (Nepali), die Religion (Hinduismus) und die Gebräuche hochkastiger Hindus (Kleidung, Rituale) der Gesamtgesellschaft aufzwang. Der Staat »gehörte« den hochkastigen Hindus.4 Im Rahmen blutiger kommunaler Unruhen im Frühjahr 1990 sah sich der nepalische Monarch Sri Panc Birendra Bir Birkram Shah Dev gezwungen, einen Teil seiner politischen Prärogativen abzugeben und eine Verfassung zu proklamieren, welche die Gewaltenteilung in einem Mehrparteiensystem verankerte und der Bevölkerung umfassende bürgerliche und politische Rechte einräumte. Noch ein Jahr zuvor hatte kaum jemand in Nepal zu träumen gewagt, dass das Land eine Verfassung bekommen würde, welche die Nation als ein »multiethnisches, multilinguales, demokratisches, unabhängiges, unteilbares, souveränes, hinduistisches und konstitutionelles Königreich« (Art. 4) verankern würde. Die Bewegung von 1990, von unterschiedlichen gesellschaftlichen Trägern vorangetrieben, hat den Minderheitenanliegen einen enormen Impuls verliehen. Insbesondere macht heute die nepalische Bevölkerung dadurch von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch, dass eine große Vielzahl ethnischer Vereinigungen gegründet wurde, die ihre Anliegen öffentlich artikulieren. Deren Aktionen haben erheblich zur Ausdifferenzierung der öffentlichen Sphäre beigetragen, indem Kommunikationsmedien (Zeitungen und Radiosender in mehreren Landessprachen) erschienen, indem zahlreiche

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Kulturprojekte (z. B. die Gründung des ethnographischen Museums) ins Leben gerufen wurden, und umfassend – auch innerhalb der politischen Gremien – debattiert wird. Die Debatten betreffen interne Angelegenheiten einzelner Ethnien und sie berühren Fragen gegenseitiger Beziehungen: die politische Repräsentation ethnischer Vereinigungen, Ansprüche auf staatliche Zuwendungen, die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts5 oder die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Besonders der letzte Punkt birgt in sich Konfliktpotenziale.6 Ethnische Aktivisten verknüpfen ihre Forderung nach der kulturellen Neudefinition der nationalen Einheit mit dem Anspruch auf mehr politische Partizipation, und – in der Folge – nach einem größeren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt (und an externen Zuwendungen seitens der Entwicklungspartner). Eine große Anzahl der Aktivisten betrachtet ihre Chancen als zu gering, im Rahmen der Parteipolitik ihre Anliegen vertreten zu können. Vielmehr wird die Repräsentation auf der Basis ethnischer Organisationen im Upper House des Parlaments verlangt: Quotenregelungen und – in der extremsten Version – die Aufteilung des Landes in autonome ethnische Gebiete. Eine große politische Sprengkraft beinhaltet die Forderung nach solchen kollektiven Regelungen, die die Machtressourcen hochkastiger Hindu-Eliten in bedeutendem Maß beschneiden würden. Formen kollektiver Anerkennung setzen in der Regel neue Volkszählungen voraus, auf deren Basis – so der Grundtenor vieler ethnischer Aktivisten – die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse neu geordnet werden können oder müssen. Als besonders problematisch erweisen sich die Forderungen einiger politischer Führer7, autonome ethnische Gebiete einzurichten. Angesichts des Umstands, dass die Völker Nepals stark durchmischt miteinander leben, liegt die gesellschaftliche Sprengkraft dieses Verlangens auf der Hand. Es gibt in Nepal keine Bevölkerungsgruppe, die eine Mehrheit darstellt. Die hochkastigen Hindus sind mit 30 % die größte Gruppe (ca. 10 % entfallen auf die niedrigen Kasten), während die ethnischen Gruppen nur wenig mehr als 40 % stellen. Zu ihnen gehören mit ca. 7,2 % die Magar, ca. 6 % die Newar und mit 5,5 % die Tamang.8 Dieser Essay versteht sich nicht als Analyse ethnischer Beziehungen und ethnischer Konflikte in Nepal. Diese sind anderswo dokumentiert worden.9 Hier werden vielmehr die Identitätspolitiken geschildert,

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Abbildung 2: Mehrheiten und Minderheiten in Nepal nach aktuellem Zahlenmaterial 1. Parbatiya, d. h. Gruppen, die als Kastenhindu betrachtet werden (d. h. Mitglieder doppelgeborener Kasten – der ta¯ga¯dha¯ri –, der AsketenKasten, sowie den so genannten Unberührbaren – pa¯ni nacalnya¯ –, die alle Nepali als Muttersprache sprechen)

ca. 40 %

2. Newar, eine ethnische Gruppe, die sich aus mehreren hinduistischen und buddhistischen Kasten zusammensetzt

ca. 6 %

3. Ethnische Gruppen (matwa¯li), die im Hügelgebiet und im Hochgebirge siedeln

ca. 22 %

4. »Menschen des Südens«, die so genannten Madheshi, darunter ca. 16 % Hindus und 3,5 % Muslime (die als unrein, aber berührbar gelten)

ca. 32 %

die gegenwärtig im Rahmen ethnischer Mobilisierung einen wichtigen Anteil an gesellschaftlichen Kräften mobilisieren. Es versteht sich von selbst, dass die Minderheiten- und Repräsentationspolitik direkt die Frage nach den Grundlagen der nationalen Einheit tangiert und zudem eine starke lokale Komponente aufweist. Interne Debatten unter den ethnischen Aktivistinnen und Aktivisten, die teilweise in den nepalischen Dörfern, scheinbar weit weg vom Landeszentrum, ausgetragen werden, lassen sich heute nicht mehr abgeschieden von öffentlichen Diskussionen durchführen. Wichtige Argumente und Ideologien tauchen innerhalb unterschiedlicher Öffentlichkeiten auf. So vernakular sich die ethnischen Introspektionen gelegentlich präsentieren – diese lassen sich nicht mehr ohne Kenntnis der Kontexte eines umfassenden kulturellen Wandels in Nepal verstehen. Drei Bemerkungen drängen sich in diesem Zusammenhang auf: (1) Der Fokus dieses Essays auf kulturelle Repertoires, aus denen Mitglieder ethnischer Gruppen ihre kulturellen Manifestationen speisen, folgt dem konstruktivistischen Ansatz (vgl. insbesondere Calhoun 240

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1994 sowie Schlee in der Einleitung zu diesem Band). Sowohl Individuen als auch Gruppen, so meine argumentative Stoßrichtung, können zu einem gegebenen Zeitpunkt spezifische Werte oder Zeichen aus dem vorhandenen kulturellen Repertoire besonders betonen oder diese zu Gunsten anderer Werte oder Zeichen zurückdrängen. Gegen die essenzialistischen Auffassungen des Immer-da-gewesenen oder dessen, was der Identität von Individuen und Gruppen zu Grunde liegt und was nicht verhandelt werden kann, setze ich die bekannten sozialwissenschaftlichen »Wahrheiten«: die stete Bereitschaft von Menschen, Traditionen zu erfinden (Hobsbawm / Ranger 1983), und den Umstand, dass Gemeinschaften gern »imaginiert« werden (Anderson 1991). Ein beliebiges »switchen« ist allerdings nicht möglich (Elwert 1997). Kulturelle Neuorientierungen müssen notwendigerweise in ihrem jeweiligen Kontext sinnvoll sein – denn sogar die Politik der Reaktion (Hirschman), welche die vermeintlich selbstverständlichen Werte und Normen erschüttert, schließt an vorhandene kulturelle Repertoires an, ja sie speist sich geradezu aus ihnen. Eine Haltung gegen den Essenzialismus einzunehmen, hat jedoch keineswegs die Konsequenz, dass der hohe emotionale Gehalt ethnischer Bindungen ausgeblendet werden kann. Verwandtschaft, Sprache und Religion bilden für viele Menschen die entscheidende Grundlage ihrer Selbstwahrnehmung. Die Hinweise kritischer Forscherinnen und Forscher, die vergleichend vorgehen und auf den konstruierten Charakter von Identitäten hinweisen, die auf diese Elemente bauen, kollidieren nicht selten mit dem Anspruch der von ihnen untersuchten Akteure auf deren Wahrheit – auf die korrekte Version, die sich nur ihnen erschließt.10 Denn auch wenn primordiale Gegebenheiten Konstruktionen sind,11 so ist die Kraft primordialer Bindungen groß – so paradox dies klingen mag. Angesichts der enormen Pertinenz ethnischer Mobilisierung ist es notwendig zu untersuchen, weshalb essenzialistische Identitäten heute immer noch, wenn nicht vielleicht gar vermehrt, so vehement evoziert werden.12 (2) Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Typen kultureller Dynamiken, auf die ich mich konzentrieren werde. Es gilt, zwei Phänomene zu unterscheiden. Die ethnologische Literatur zu Nepal enthält zahlreiche Beispiele dafür, welche Elemente von Kultur und Religion die Mitglieder ethnischer Gruppen in Nepal im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte von den Hindus übernommen haben.13 Das

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Spektrum der Übernahmen reicht von der Konversion zum Hinduismus (indem man etwa nur noch die Brahmanen-Priester beschäftigt) über Modifikationen im Verwandtschaftssystem (z. B. Aufgabe der Heirat mit der Kreuzkusine) bis zum Erlernen neuer produktiver Techniken (z. B. Hinwendung zum Ackerbau). Solche Veränderungen vollziehen sich mehr oder weniger bewusst und sind als Anpassungsstrategien an die sich wandelnde Umwelt zu sehen, die über lange Zeiträume weitgehend unbemerkt verlaufen. Eine gänzlich andere Kategorie bilden Formen kultureller Mobilisierung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. So flexibel und hybrid (Werbner 1997) die lokalen Realitäten, so drastisch kann sich die programmatische Abkehr von oder die Zuwendung zu einer korrekten Version dessen vollziehen, was die Mitglieder einer ethnischen Gruppe in ihrem Kampf um Anerkennung als die authentische Sicht auf die eigene Identität erachten. In solchen Momenten bemüht sich die Sprache der Ethnizität um Eindeutigkeit und um große Zusammenhänge: Hinduismus gegen Buddhismus, Hierarchie gegen Gleichheit. Zudem werden Systeme von Klassifikationen einander gegenüber gestellt (vgl. dazu Macfarlane 1997 und weiter unten). Die Politiken der Identität greifen in der Regel auf glasklare Agenden zurück: Es werden vermehrt Unterschiede und die Einzigartigkeit betont, wenn die korrekten Versionen ethnischer Identität an die nationale Öffentlichkeit gelangen; zudem erstarken die Politiken, welche auf Anerkennung kollektiver Rechte – sei es in Form politischer Repräsentanz im Oberhaus, sei es in Form politischer Autonomie – ausgerichtet sind, und die Abgrenzung voraussetzen. (3) Schließlich müssen die Identitätspolitiken im Spannungsfeld zwischen »privat« und »öffentlich« betrachtet werden. Die ethnische Mobilisierung zielt ja in der Regel geradezu darauf, »Privates« an die Öffentlichkeit zu tragen. In Nepal blicken Mitglieder ethnischer Gruppen auf eine lange Tradition der Toleranz der staatlichen Rechtsprechung gegenüber den eigenen kulturellen und religiösen Formen zurück.14 Wen man heiratete, welche Sprache man sprach, welchen Glauben man praktizierte, galt als Privatsache. Zugleich aber waren diese ethnischen Elemente aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannt. Nur Nepali, die Sprache der machthabenden Gruppen (d. h. der hochkastigen Hindus) durfte in der Schule, in den Massenmedien

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oder in den Ämtern verwendet werden. Konversionen vom Hinduismus waren verboten. Die offizielle Rhetorik, welche die nationale Einheit behauptete, negierte krass den Umstand, dass die nepalische Gesellschaft eine enorme kulturelle Vielfalt aufweist. Die Politiken der sozialen Anerkennung, wie sie sich gegenwärtig in Nepal vollziehen, suchen eine Verbindung zwischen den ethnischen Introspektionen und der öffentlichen Zurschaustellung. Es geht nicht nur darum, den nationalen Zusammenhalt neu zu definieren, sondern vielmehr öffentlich klar zu machen, dass kulturelle Politiken direkt mit anderen Politiken zusammenhängen, welche auf die Umverteilung von Ressourcen in einer Gesellschaft abzielen. Indem die kulturellen Politiken mit den institutionellen und prozeduralen Formen so eng verflochten sind, lassen sich kulturell-religiöse Anliegen weder aus der öffentlichen Sphäre zurückdrängen, noch können sie verstanden werden, ohne dass fest steht, dass der »Kampf um den Staat« (Wimmer 1995) eine wichtige Grundlage für deren Ausgestaltung darstellt. Ich werde, wie gesagt, den »Kampf um den Staat« aus dieser kurzen Betrachtung ausblenden, doch die Erörterung kultureller Politik muss stets in diesem Kontext gedacht werden. Leider liegen nur wenige Studien vor, die die Formen der Koexistenz der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Nepal – sowohl auf der nationalen Ebene als auch in den lokalen Kontexten – dokumentieren. Es fehlen deshalb weitgehend Analysen von Zeichen, welche die Interaktionen sowohl im Alltag als auch bei besonderen (Ritual-)Anlässen geregelt haben. Bis 1990 stellten sowohl die offizielle Rhetorik als auch viele wissenschaftliche Publikationen Nepal als Beispiel für interethnische Harmonie dar, nicht als ein komplexes gesellschaftliches Gefüge, das sich durch eine prekäre und durch Ressentiments geprägte Koexistenz um die Macht kämpfender Gruppen auszeichnete. Diese multiethnische Situation wurde oft als »ein wilder Garten, in dem viele wilde Blumen gediehen, seit Jahrhunderten« (Sharma 1992) apostrophiert. Während bis zum Jahr 1990 die – vorwiegend westlichen – Ethnologinnen und Ethnologen die ethnischen Gruppen Nepals analysierten, ohne auf die Konfliktpotenziale in den Auseinandersetzungen untereinander und mit den Hindu-Gruppen hinzuweisen, hat sich der Fokus der anthropologischen Forschung nach 1990 drastisch verän-

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dert. Seither mehren sich die Analysen ethnischer Prozesse der Grenzziehung und der aufbrechenden Auseinandersetzungen aus mindestens zwei Gründen. Der erste liegt im neuen politischen Klima, in dem nun auch die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen durchgeführt werden. Denn bis Ende der 1980er Jahre haben die nepalischen Verantwortlichen die Erforschung der gesellschaftlichen Konfliktpotenziale, insbesondere wenn sie eine ethnische Komponente aufwiesen, aktiv unterbunden. Der zweite Grund liegt im tatsächlichen Anwachsen offener Konfliktsituationen seit der 1990er »Revolution«. Ethnischer Unmut und Konflikte wurden bereits vor 1990 festgestellt, doch der Erfolg der politischen Bewegung, die umfassende politische Reformen einleitete, eröffnete geradezu die Pandorabüchse ethnischer Unmutsäußerungen, die an die nationale Öffentlichkeit herangetragen wurden. In diesen Prozessen spielen starke Symbole eine große Rolle, die den Protest, das Unrechtsempfinden und die alternativen Visionen dessen, was eigene Ziele sind und wie die nationale Einheit zu denken ist, ausdrücken. Die sozialen Bewegungen, die gemeinhin als »Ethnizität« bezeichnet werden, sind besonders darauf bedacht, die Einheit der eigenen Ethnie und zugleich die Andersartigkeit und soziale Distanz gegenüber anderen Gruppen zum Ausdruck zu bringen, insbesondere gegenüber denjenigen Gruppen, deren Symbole dominieren. Bei fast allen nepalischen Ethnien sind gegenwärtig Prozesse zu beobachten, die »eigenen« kulturellen Werte zu überdenken, die der Einheit zu Grunde liegenden Merkmale zu bestimmen, die eigene Kultur zu pflegen und deren Einzigartigkeit zum Vorschein kommen zu lassen. Dass solche Prozesse nicht ohne interne Konflikte verlaufen, liegt auf der Hand (vgl. insbesondere Gellner 1997). Der Umstand, dass die Illusion von Nepal als einem Ort der ethnischen Harmonie in solch kurzer Zeit zerbrechen konnte, stellt nicht zuletzt die Qualität der ethnographischen Erforschung der nepalischen Gesellschaft (die Autorin schließt sich keineswegs aus) in Frage. Andererseits lassen sich die angesprochenen Veränderungen teilweise auch im Licht von James Scotts Konzept der Moralökonomie analysieren. Bekanntlich warnte Scott (1976), spezifische Repräsentationen nicht für bare Münze zu nehmen. Nicht selten haben sich Mitglieder ethnischer Gruppen – zahlreiche ethnische Führer würden diese Aussage heute allerdings vehement bestreiten – aktiv daran beteiligt, Bilder des

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kommunalen Friedens zur Schau zu stellen, denn innerhalb bestimmter Machtkonstellationen ist es angezeigt, das Einverständnis mit der geltenden Ordnung und mit der sie stützenden Symbolsprache zu bekunden. Erst wenn sich die politischen Konstellationen ändern, geraten die vermeintlich – oder tatsächlich, aber auf beschränkte Dauer – anerkannten Symbole in den Fokus der Aufmerksamkeit. Allein die Tatsache, dass ein kulturelles Merkmal mit politischer Macht assoziiert werden konnte, kann es zu einem Symbol der Unterdrückung werden lassen, gegen das man öffentlich ankämpft. Weiter unten werde ich mich auf solche rezenten Beispiele konzentrieren. Bevor ich jedoch auf die gegenwärtigen kulturellen Kämpfe eingehe, halte ich es für nützlich, die Formen der Symbolisierung in den interethnischen Interaktionen in Nepal zu skizzieren. Hierarchie, Differenz, Distanz: Die Zeichensprache einer multiethnischen lokalen Gesellschaft in Zentralnepal Belkot ist ein zentral-nepalisches Multi-Kastendorf, das hier stellvertretend für weite Teile des nepalischen Hügelgebiets steht. Die meisten Zeichen, welche die Bewohner in ihren Alltagsinteraktionen verwenden und wahrnehmen, fallen in die Kategorie dessen, was Maurice Bloch als »what goes without saying« bezeichnet. Selten bewusst wahrgenommen, gehörten die Zeichen, welche die lokalen Erfordernisse nach Differenzierung und Distanzwahrung erfüllen, lange zur hidden agenda in den interethnischen Begegnungen.15 Gegenwärtig kommen aber Prozesse in Gang, welche diese Zeichen in den Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung rücken. Ethnische und tiefkastige Aktivisten sind damit beschäftigt, die Formen der Interaktionen und die dabei verwendeten Zeichen näher zu betrachten. Einige der Zeichen werden nun als Symbole der Unterdrückung oder als inadäquate Repräsentationen des lokalen Zusammenhalts gedeutet. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Hierarchiesprache zu. Es überrascht kaum, dass ein lokaler Mikrokosmos, der über Jahrhunderte von hinduistischen Werten und Normen dominiert war, gelernt hat, die sozialen Unterschiede und Distanzen im Idiom von Über- und Unterordnung auszudrücken. Das Leben in den nepalischen Dörfern, in denen mehrere Kasten und Ethnien nah beieinander

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leben, ist stark semiotisiert. Zahlreiche Zeichen werden als Symbole sozialer Ordnung verwendet. Zudem können die Besucher aus bestimmten Situationen die Informationen über den relativen Status der an Begegnungen beteiligten Personen herauslesen. Bis vor zehn Jahren schienen solche Zeichen selbstverständlich und verbindlich zu sein. Klar sichtbar waren etwa die Statusunterschiede in der Kleidung und in der Anlage der Gehöfte. Auch manche Umgangsformen gaben eindeutig Aufschluss über den Status. Andere Botschaften waren eher versteckt oder wurden erst im nachhinein als Sprache der Hierarchie interpretiert. Zu den besonders sichtbaren Zeichen gehörte das Aussehen von Personen. Die Nepalis sind sehr darin geübt, Zeichen zu »lesen«, die in Kleidung oder Schmuck zum Ausdruck kommen. Im Alltagsleben fallen solche Botschaften kaum auf, denn man kennt einander und ist nicht auf zusätzliche Informationen angewiesen. Doch Fremde, die sich auf das dörfliche Territorium begeben, werden augenblicklich einer näheren Untersuchung unterzogen. Ist das Aussehen nicht eindeutig, so wird nach der Stellung der betreffenden Person direkt gefragt. Erheblich ist nicht nur die kastenmäßige oder ethnische Zugehörigkeit, sondern auch der Zivilstand. Im Fall der Frauen lässt er sich kaum verbergen. Eine Witwe darf keine farbige Kleidung und auch nicht die Kette (pote) tragen, welche die Bräute bei der Hochzeit erhalten. Deshalb fallen die unverheirateten Frauen ebenfalls sofort auf: Nicht nur ist ihnen das Tragen des pote strikt verwehrt. In der Regel tragen sie auch keinen Goldschmuck, den Witwen wiederum tragen dürfen. Ihre Ohren und Nasen sind bereits durchstochen und die Löcher mit kleinen Steckern versehen, damit die Bräute im Verlauf der Hochzeit Goldschmuck anziehen können. Die Verzierung an der Stirn ist allen Frauen erlaubt. Allerdings dürfen Witwen lediglich tikas aus Metall tragen, das heißt sie müssen – anders als ledige und verheiratete Frauen – auf farbige Ornamente verzichten. Nur eine verheiratete Frau trägt im Scheitel das rote Pulver (sindur), das Symbol des Verheiratetseins schlechthin. Andere Merkmale bezeichnen die ethnische oder Kastenzugehörigkeit. In Zentralnepal tragen die Angehörigen hoher Kasten – im Gegensatz zu denen tiefer Kasten – keine schwarze Kleidung (eine Ausnahme ist die schwarze Weste der Männer). Dort tragen die weiblichen und männlichen Angehörigen der ethnischen Gruppen mehrheitlich

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die gleiche Kleidung wie die hochkastigen Hindus (wenngleich die Frauen aus der Newar-Ethnie keinen Nasenschmuck tragen). Gelegentlich sieht man aber Menschen der Tamang-Ethnie in ihrer besonderen Tracht, die aus Wolle gewebt und besonders zugeschnitten wird. In der Distrikthauptstadt konnte man vor 1990 immer wieder beobachten, dass die Beamten die nach alter Sitte gekleideten Tamang gehänselt haben. Andere Zeichen werden in den Interaktionen im öffentlichen und im privaten Raum verwendet. Im privaten Bereich ist die Behandlung von Gästen stark reglementiert. Gäste, welche die Häuser hochkastiger Hindus besuchen, werden entweder zum Eintreten eingeladen oder aber draußen empfangen. Draußen darf sich jedermann auf der Veranda aufhalten. Befinden sich dort jedoch mehrere Besucher, dann haben sich die tiefkastigen Personen (die so genannten »Unberührbaren«) zu entfernen. Diejenigen, die zum Essen in die Küche gebeten wurden, dürfen – sofern sie den gleichen Kastenstatus haben – entweder mit dem Gastgeber in der Nähe der Feuerstelle speisen, wo der für rituelle Verunreinigung besonders anfällige Reis gekocht wird. Statustiefere Personen müssen sich in dem Bereich aufhalten, der üblicherweise den nicht-initiierten Kindern des Haushalts zugewiesen ist. Noch tiefere (aber »berührbare«) Personen werden weit von der Feuerstelle, fast an der Schwelle verköstigt. Das Aussehen der Gehöfte (die Brahmanen entziehen die Eingänge zu ihren Häusern den zufälligen Blicken der Passanten), die Tiere, die man dort hält (bis vor wenigen Jahren hielt man nur Tiere, die man auch selbst – wiederum: gemäß dem Kastenstatus – essen durfte), das Vorhandensein heiliger Pflanzen und religiöser Insignien lassen sich als Zeichen lesen, die entweder über den Kastenstatus der Bewohner eines Haushalts informieren oder aber Vorkehrungen darstellen, um sich von den Nachbarn aus einer anderen Gruppe zu distanzieren. Auch in öffentlichen Situationen – an den Tempeln, in Ämtern, Schulen und Geschäften – muss man sich an die hauptsächlich durch die Gebote der rituellen Reinheit vorgegebenen Interaktionsregeln halten. Besonders streng sind die Regeln an Orten, wo Nahrung serviert wird. Die Regeln der Absonderung müssen strikt eingehalten werden, denn eine Person, die einer höheren Kaste angehört, darf nicht während der Nahrungsaufnahme berührt werden. Für einen Außenseiter sind die Verschiebungen in der räumlichen Anordnung kaum sichtbar,

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doch sobald auch nur der Tee serviert wird, rückt man voneinander ab. Ein Abstand von ca. 20 cm genügt, um die Regeln der rituellen Reinheit einzuhalten. Das Benehmen gegenüber Menschen aus tiefen, das heißt so genannten »unberührbaren« Kasten ist drastisch: Die Angehörigen dieser Gruppe müssen sich nicht nur stets außerhalb eines Teegeschäfts halten; der Tee wird ihnen in besonderen Gefäßen serviert, die sonst niemand benutzt (vgl. auch Bluestain 1977). Gelegentlich bekommen auch sie ihren Tee in den sonst üblichen Gläsern, doch sie haben sie selbst abzuwaschen. Das Rauchen von Zigaretten und Wasserpfeifen bietet klare Indizien über den relativen Status der beteiligten Personen: Da Speichel als besonders verunreinigend gilt, kann eine Zigarette nur von einer statushöheren zu einer tieferen Person gereicht werden – bis sie vor den Füßen eines Unberührbaren landet. Im Falle der Wasserpfeife (hukka) ist genau vorgeschrieben, wer welchen Teil von wessen Pfeife benutzen darf. Rituale bieten ein weiteres Feld, auf dem Unterschiede und Distanzen ausgedrückt werden. Im Allgemeinen wird anlässlich von Ritualen die räumliche Anordnung genau festgelegt. Nur bestimmte Personen dürfen die für rituelle Verunreinigung besonders anfälligen Stellen aufsuchen. Der relative Status von Personen wird durch Verbeugungen ausgedrückt sowie durch den Austausch ritueller Zeichen und Gaben. Besondere Regeln gelten bei der Verteilung geheiligter Nahrung. Zudem werden die Statusunterschiede bei der Nahrungsaufnahme deutlich. Kochen dürfen nur Inhaber des höchsten Status, häufig also die Brahmanen. Die hochkastigen Hindus müssen im rituell gereinigten Bereich essen – und erst nach ihnen oder hinter ihnen die Angehörigen anderer Kasten. Die »unberührbaren« Musiker (Damai-Kaste), ohne die kaum ein Ritual durchgeführt werden kann, werden beim Essen stark ausgesondert, denn bereits der Blick eines Unberührbaren auf einen Reis essenden Brahmanen genügt, um diesen rituell zu verunreinigen. Spezifische rituelle Anlässe machen weitere Vorkehrungen notwendig. Die in Belkot in enger Nachbarschaft lebenden Brahmanen und Angehörigen der Magar-Ethnie haben besondere Abkommen, was das Benutzen der gemeinsamen Wasserquelle anbelangt. Im Alltag bedarf es keiner besonderen Regelungen. Doch wenn die Magar Schweine schlachten und ihr Fleisch anlässlich von Ritualen essen – das Essen von Schweinefleisch ist den Brahmanen strikt verboten –, ist ihnen die

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Benutzung der gemeinsamen Wasserquelle verwehrt. In der Regel wird zu diesem Zweck Trinkwasser in großen Gefäßen gelagert. Um sich zu waschen, benutzen die Magar dann andere Quellen. Diese Vorkehrung zeigt, dass mit Regeln der Distanzhaltung das Miteinanderleben von Menschen aus unterschiedlichen Statusgruppen ermöglicht werden kann. Als solches ist dieses Abkommen kein Zeichen. Doch vor wenigen Jahren haben die Magar beschlossen, diese für sie doch lästige Regelung als ein Zeichen des Machtgefälles – zu ihren Ungunsten – zu »lesen«. Besonders eindrücklich kommen die Statusunterschiede in Belkot anlässlich der Dasai-Festivitäten (auch Durga Puja genannt) zum Tragen, bei denen die meisten Bewohner durch die Erfordernisse ritueller Arbeitsteilung verbunden und zugleich durch das Gebot der Distanzhaltung getrennt werden. Dasai, wie es bis vor einer Dekade in Belkot begangen wurde, besteht aus einer elaborierten rituellen Sequenz mit verschiedenen Protagonisten: Dazu gehören – mehrere Priester, die im Verlauf dieser zehntägigen Festivitäten unterschiedliche Aufgaben zu verrichten haben, – die lokalen Machthaber / Regierenden, die am zehnten Tag in Erscheinung treten, – die für das rituelle Töten von Tieren zuständigen Spezialisten der Magar-Ethnie (upa¯sye), – der für Koordination zuständige Dorfführer (naike – aus der Ethnie der Newar), – die Damai-Musiker und andere. Die Dasai-Aktivitäten in Belkot stimmen weitgehend mit dem panhinduistischen Muster der Durga-Puja-Festivitäten überein. Doch sie enthalten andererseits einige lokale Besonderheiten und einige dem rituellen Korpus hinzugefügte Bedeutungen (vgl. u. a. Krauskopff / Lecomte-Tilouine [1996]; Pfaff-Czarnecka [1998]). Weder das gesamte Ritual noch die Einzelheiten können hier wiedergegeben werden, doch es sei besonders auf die oben erwähnte Zusammenarbeit der rituellen Spezialisten hingewiesen. Bis vor einer Dekade konnte Dasai in Belkot als ein Fest begangen werden, das die lokale Einheit und die besondere Bedeutung Belkots in der rituellen Geographie Nepals hervorhob. Zudem konnten Angehörige verschie-

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dener Bevölkerungsgruppen diesen Anlass dazu nutzen, ihre eigenen Bedeutungen anlässlich bestimmter Rituale auszudrücken: beispielsweise konnte der Hauptpriester die Gottheit der eigenen Lineage rituell in enge Beziehung zur Göttin Durga setzen und damit die besondere Stellung der eigenen Lineage im dörflichen Gefüge hervorheben. Anlässlich dieses Festivals kommt ferner die rituelle Anordnung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und ihrer Repräsentanten zum Vorschein. Am zehnten Tag kommt es nämlich zu fein ausgearbeiteten Zurschaustellungen des jeweiligen Status der Bewohner. Dabei ist weniger der Kastenstatus als vielmehr die politische Macht von Bedeutung (die allerdings bis ca. 1990 ausschließlich in den Händen der hochkastigen Hindus konzentriert war). Am zehnten Tag wird am Morgen ein Ziegenbock geopfert. Sein Kopf wird auf eine Platte gelegt und im Sanktuarium deponiert. Die Brahmanen versammeln sich und lesen aus der heiligen Schrift Devi-Mahatmya. Die Bewohner kommen auf dem rituellen Grund des Tempels zusammen. Im Sanktuarium verehrt der Hauptpriester die Gegenstände, die die Göttin Durga symbolisieren. Danach werden die Ritualobjekte, auch der Kopf des Ziegenbocks, nach draußen getragen. Nun klebt der Hauptpriester eine rituelle Markierung (tika) auf die Stirn des Dorfvorstehers. Darauf folgt ein elaborierter Austausch von tika und Verbeugungen zwischen den Priestern und Honoratioren. Danach bleibt der Dorfvorsteher im Zentrum des Geschehens und die Dorfbewohner kommen zu ihm, um eine tika zu empfangen, sich vor ihm zu verbeugen und ihm ein Geschenk zu überbringen. Die besondere politische Bedeutung der Dasai-Festivitäten bestand eben darin, dass bis ca. 1990 alle Dorfbewohner aus diesem Anlass vor dem Dorfvorsteher zu erscheinen und ihm in einer hierarchisch festgelegten Abfolge ihre Reverenz zu erweisen hatten. Wie ich nun im nächsten Abschnitt ausführen will, wird Dasai heute in Belkot als ein Ritual der Macht aufgefasst, das die politische und rituelle Dominanz hochkastiger Hindus über einen Großteil der ethnischen Populationen ausdrückt. Neue Perspektiven auf vermeintlich etablierte Zeichen Die soeben beschriebenen Formen der Interaktion und die verwendeten Zeichen geraten nun seit über zehn Jahren in das Blickfeld ethnischer und tiefkastiger Aktivisten. Was früher als Folge umfassender

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Prozesse der Akkulturation interpretiert werden konnte, präsentiert sich gegenwärtig in einer neuen Perspektive. Vieles, was über lange Zeiträume als selbstverständlich, geradezu als natürlich galt, was seitens der dominanten Gruppen als kulturelles Mittel deklariert wurde, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten, wird nun einer eingehenden Prüfung unterzogen, die in der Regel in Kritik und Ablehnung mündet. Nepal gilt nicht mehr als ein Ort, wo friedliche ethnische Koexistenz gepflegt wird, sondern vielmehr als Ort, wo umfassende kulturelle Debatten ausgetragen werden und wo Kämpfe der Repräsentation entbrennen. Zeichen, die noch bis vor zehn bis fünfzehn Jahren scheinbar unanfechtbar waren, gelten nun als Symbole der Unterdrückung, der Unterordnung oder als Symbole erzwungener kultureller Übernahmen – zumindest aus der Sicht ethnischer und tiefkastiger Aktivisten. Die Dasai-Feierlichkeiten der letzten Jahre veranschaulichen den einsetzenden Wandel in den Wahrnehmungen. Im Jahr 1986, das heißt bereits vor der politischen Wende von 1990, blieb der neu gewählte Dorfvorsteher von Belkot den Feierlichkeiten fern. Dieser Mann, der erste Dorfvorsteher aus der Ethnie der Tamang, und seine Anhängerschaft erklärten ihr Wegbleiben und den negativen Bescheid, aus der Dorfkasse einen Beitrag an die Feierlichkeiten zu leisten damit, dass Dasai ein Symbol der Unterwerfung ethnischer Minderheiten sei. 1986 und in den darauf folgenden Jahren dieser Legislaturperiode (die nächsten Wahlen gewann wieder ein Brahmane) repräsentierte der Dorfsekretär aus der hohen Kaste der Chetri die »politische Macht«. Viele Dorfbewohner erschienen nach wie vor am zehnten Tag der Feierlichkeiten, um ihre Loyalität zu bezeugen, doch der Dorffrieden war fortan gestört. Es ist bemerkenswert, dass die aufgeschlossenen politischen Führer aus der Tamang-Ethnie sich unmittelbar nach dem Wahlsieg daran machten, Zeichen der hinduistischen Dominanz anzuprangern, anstatt die Gelegenheit zu nutzen, sich selbst im Zentrum der Macht zelebrieren zu lassen – was ihnen durchaus zugestanden hätte. Insbesondere die junge Generation der Tamang war an solchen Unmutsbekundungen beteiligt. Dasai galt fortan als ein Symbol der Dominanz der Hindu-Herrscher mit dem nepalischen König an der Spitze des Regimes sowie ihrer Klienten, welche die Herrschaft in den dörflichen Gesellschaften aufrecht erhielten.

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Nach den Aussagen der Tamang-Führer war die Teilnahme der Akteure an den früher begangenen Dasei-Feierlichkeiten Ausdruck ihrer religiösen Gefühle. Zudem konnte die weltliche Macht religiös untermauert werden. Die lokale Bevölkerung war über viele Jahrzehnte dazu angehalten, dieses Faktum mit dem Bezeugen ihrer Unterordnung kund zu tun. Die anwesenden Honoratioren – die Beamten, die Priester und die einflussreichen Familien – sahen in den Dasai-Feierlichkeiten ein Mittel, ihre Loyalität zu bekunden und zugleich ihre eigene Nähe zur Macht zu demonstrieren – indem sie am zehnten Tag als erste vorgelassen wurden, um sich vor dem lokalen Herrscher zu verbeugen. Die lokale Bevölkerung der niederen Ränge hatte zu warten und durch ihre Anwesenheit diese Ordnung anzuerkennen. Man hatte zu kommen, sich zu verbeugen und zu schauen – kurz: die Staffage für die Festivitäten zu stellen. Denn man war nicht nur eingeladen, sondern vielmehr zum Erscheinen genötigt und zudem zur Mitgestaltung einer rituellen Ordnung angehalten, indem man sich an die Regeln der Über- und Unterordnung und der Distanzwahrung zu halten hatte. Die Anwesenheit der niederen Ränge in korrekter Entfernung rückte erst die Bedeutung der im Vordergrund der Feierlichkeiten stehenden Personen in ein angemessenes Licht. Während die hochkastigen Volksvertreter – die nach 1962 nicht mehr ernannt, sondern fortan gewählt wurden – die althergebrachte rituelle Form nutzten, um den eigenen Status hervorzuheben, mühten sich die Tamang-Führer nun, die Dasai-Feierlichkeiten gänzlich zu unterbinden. Die Tamang von Belkot haben in den späten 1980er Jahren die bewusste Wahl getroffen, dieses Symbol der Herrschaft ganz abzuschaffen – auch wenn sie sich nun im Zentrum der rituellen Ordnung hätten feiern können. Doch indem man betonte, dass Dasai nicht nur eine starre politische Ordnung stützte, sondern auch die ethnische Inferiorität der Minderheiten im hinduistischen Kastengefüge zum Ausdruck brachte, ging es vielmehr darum, den ganzen rituellen Komplex zu boykottieren. Es ist bemerkenswert, dass mit dieser starken Geste nun der Versuch unternommen wurde, gegen eine über 200 Jahre alte Tradition anzukämpfen, in der sich die Hindu-Dominanz auf Kosten ethnischer Minderheiten ausgedehnt hatte. Es sei hinzugefügt, dass im Verlauf der 1980er Jahre auch in anderen Landesteilen ethnische Proteste gegen die Dasai-Feierlichkeiten stattfanden. Bekannt sind vor allem religiöse Bewegungen (vgl. Paul 1989), in denen sich nicht-

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hinduistische Aktivisten darum bemühten, dem Tieropfer Einhalt zu gebieten und Riten durchzuführen, welche die Sünden von Nepal reinwaschen sollten, die das Reich im Zuge der Opfer auf sich geladen hat. Die Mobilisierung gegen Dasai ist kein Einzelphänomen. In weiten Teilen Nepals brachen immer häufiger Konflikte aus, welche die kulturellen und religiösen Gewissheiten erschütterten. Dazu einige Beispiele: Mitglieder tiefer Hindu-Kasten setzen sich zunehmend gegen den Usus zur Wehr, dass sie in den Teegeschäften ausgesondert werden und ihr Geschirr selbst abwaschen müssen.16 Auch die Kleidung erlangt immer mehr Symbolcharakter, indem Bewohnerinnen und Bewohner vieler Dörfer zunehmend wieder Trachten tragen, die nicht nur Ausdruck ihrer Rückbesinnung auf ihre eigenen ethnischen Kultur sind, sondern ebenfalls ihr Bemühen demonstrieren, das lokale Handwerk anzukurbeln. Überall in Nepal können Bemühungen beobachtet werden, die ich als »Auszug aus Südasien« bezeichne. Der Begriff meint die bewusste Abwendung der ethnischen Bevölkerung vom Hinduismus und den sich daraus ableitenden kulturellen Formen. Diese Abwendung vollzieht sich in zweifacher Form: indem man sich erstens bemüht, hinduistische Einflüsse aus dem eigenen Brauchtum zu entfernen und deutlicher die nicht-hinduistischen Elemente hervorzuheben, und zweitens, indem Diskurse geführt werden, die sich klar dagegen verwahren, dass die nepalischen Ethnien als Bestandteil der panhinduistischen Welt Südasiens betrachtet werden. Im zweiten Fall liegt es auf der Hand, dass die ethnischen Aktivisten, die diese Stoßrichtung einschlagen, sich unter anderem an der ethnologischen Forschung orientieren. Das wichtigste Charakteristikum dieser Prozesse besteht in der Durchführung von Reformen, die die hinduistischen Einflüsse aus dem ethnischen Brauchtum entfernen sollen. Alan Macfarlanes Bericht (1997) über die diesbezüglichen Aktivitäten der Gurung-Ethnie ist besonders interessant.17 Sein Bericht konzentriert sich insbesondere auf zwei Bereiche, die den Gurung gegenwärtig besonders wichtig erscheinen. Erstens behandelt er das aufkommende Interesse an Chroniken, welche die Geschichte ethnischer Gruppen dokumentieren und zweitens eröffnet er einen neuen Blick auf die eigene Sozialstruktur und ihre Darstellung in der akademischen Öffentlichkeit. Beide Bestrebungen hängen eng zusammen, denn sie verstehen sich unter ande-

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rem als Kritik an brahmanischen Praktiken, denen die Gurung heute eine Verfälschung ihres Brauchtums zuschreiben – und die manche Forscherinnen und Forscher, die sich zu sehr auf die Angaben der Aktivisten bezogen, unkritisch übernommen haben. In dieser Hinsicht beteiligen sich die Gurung-Aktivisten an dem in Nepal allgemein beobachtbaren Trend, die Brahmanen-Priester der Fälschung ethnischer Chroniken (vamsavalis) zu bezichtigen. Zudem hätten die Brahmanen aktiv dazu beigetragen, dass die ethnischen Kulturen als hierarchisch dargestellt wurden (z. B. in ethnologischen Untersuchungen), während diese – so der Grundtenor – in Tat und Wahrheit einen egalitären Charakter hätten. Am 13. März 1992 erhielt Professor Alan Macfarlane in seinem Büro in Cambridge (England) ein Fax aus Pokhara (Westnepal), das von Gurung-Aktivisten unterzeichnet war. Dieses Schreiben informierte Macfarlane, dass anlässlich einer nationalen Zusammenkunft der Gurung mehrere Resolutionen verabschiedet worden waren, insbesondere dass (1) die Geschichte der Gurung bisher von Brahmanen geschrieben und verfälscht worden sei; (2) es keine höher- und tiefer gestellten clans der Gurung gäbe; (3) die traditionellen Gurung-Priester die pachyu (Bön) und die klabri (Bön) seien, die buddhistischen lamas hingegen seien erst später dazu gekommen. Gleich mehrere Aspekte sind hier von besonderem Interesse. Ganz klar wenden sich die Gurung heute gegen die Idee, sie seien nicht egalitär organisiert. Die Aktivisten untermauern diese Aussage unter anderem mit dem Hinweis, dass in ihrer Kultur die Heirat mit der patrilinearen wie mit der matrilinearen Kreuzkusine gleichermaßen erlaubt sei. Der »Exodus aus Südasien« kommt in der Revision der Chroniken zum Ausdruck. Die Aktivisten beharren darauf, dass sie nicht aus Indien, sondern aus der Mongolei, wo sie die Bön-Religion angenommen hätten, nach Nepal eingewandert seien. Von Interesse ist ferner die wechselseitige Beziehung zwischen den Aktivisten und den (ausländischen) Forschern. Ein Grund, weswegen Macfarlane und seine Frau Sarah Harrisson dieses Fax erhielten, lag nämlich darin, dass beide zu dieser Zeit mit der Übersetzung von Bernard Pignèdes Monographie

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über die Gurung vom Französischen ins Englische beschäftigt waren. Die Aktivisten kreideten Pignède an, er habe ihre Kultur aus der südasiatischen Perspektive analysiert. Das habe dazu geführt, dass die brahmanische Perspektive auf die Gurung angewendet wurde. Die Aktivisten betonten, dass Pignède ein Student Louis Dumonts war, der ganz Südasien durch das Prisma des Hinduismus und dessen Werte und Normen betrachtet habe (vgl. v. a. Dumont 1966). Wenn wir die gegenwärtigen Bemühungen der Gurung-Aktivisten meiner obigen Beschreibung der Zeichen gegenüberstellen, die in den alltäglichen Interaktionen verwendet werden, so drängen sich zwei Überlegungen auf. Erstens wird deutlich, dass viele Praktiken, die heute einer kritischen Prüfung unterzogen werden, noch vor zwei Jahrzehnten kein öffentliches Thema darstellten. Es kam sicherlich vor, dass privat Kritik geübt wurde oder dass Ressentiments wuchsen, doch man scheute sich, solche Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Man könnte meinen, dass offene Konflikte vor 1990 nicht ausgetragen wurden. Doch bei einer solchen Aussage ist Vorsicht geboten. Gab es sie nicht? Oder war es nicht vielmehr so, dass die Ethnologinnen und Ethnologen westlicher wie nepalischer Provenienz diese ganz einfach nicht wahrgenommen haben, gar nicht wahrnehmen wollten (vgl. Dahal 1993)? Immerhin wurden einige Konflikte dokumentiert: mein eigener Bericht über den Konflikt um die Dasai-Feierlichkeiten, der Film Makai sowie Pauls Ausführungen zur ablehnenden Haltung der Buddhisten gegenüber den Tieropfern. Doch angesichts der unzähligen Bemühungen ethnischer Mobilisierung nach 1990 nehmen sich die früheren Beobachtungen ausgesprochen spärlich aus. Eine zweite Bemerkung bezieht sich auf die neue Akzentuierung in der Wahrnehmung dessen, was Kultur und was die Bedeutung einzelner Symbole ist. Was bis vor einer Dekade als anscheinend selbstverständlich galt, erlangt heute neue Konnotationen. Zeichen, die früher kaum wahrgenommen wurden, erscheinen als neue und wichtige Mittel in den Identitätspolitiken. Was ich weiter oben als »Muster friedlicher Koexistenz« beschrieben habe, wirkt aus der heutigen Perspektive als eine naive Beschreibung spezifischer Muster, wie die Herrscher den Hegemonialanspruch hochkastiger Hindus behaupteten und die lokalen Gesellschaften zur Ordnung anhielten. Heute hingegen liefern Zeichen Waffen in den umkämpften Arenen. Nicht zu übersehen ist dabei eine gewisse Uniformität der ethnischen Reformbewegungen,

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die in ganz Nepal beobachtet werden können, die alle nach einem ähnlichen Muster gestrickt sind: Wiederentdeckung ethnischer Chroniken, »back-to-the-roots«-Bewegungen sowie Nachdruck auf Egalität in den öffentlichen Darstellungen der eigenen Gruppe. Kulturelle Produktion, Reformen, Reaktionen und die Rolle internationaler Öffentlichkeiten in diesen Bestrebungen Woraus speist sich die Bereitschaft ethnischer Aktivisten, die verwendeten Symbole einer kritischen Betrachtung zu unterziehen? Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die ethnische Mobilisierung in Nepal zunehmend an Bedeutung gewinnt und Ethnizität – zumindest in den Anfangsphasen der Mobilisierung – stets von symbolischen Kämpfen begleitet wird. Je geeigneter ein Zeichen ist, um den internen Zusammenhalt zu versinnbildlichen und zugleich eine Differenz zu markieren, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Zeichen in der Politik der Repräsentation Verwendung finden wird. Eine strategische Bedeutung erlangen solche Zeichen, die zugleich (positiv) den Gruppenzusammenhalt und (negativ) die Abgrenzung zum Anderen beinhalten. Zudem sind Symbole besonders dann wirksam, wenn sie breiten Öffentlichkeiten zugänglich sind.18 Die Fragen nach dem Wandel in der Benutzung von Zeichen und nach den Gesetzmäßigkeiten, die neue Orientierungen regeln, tangieren deshalb direkt die Prozesse ethnischer Mobilisierung. Die große Bereitschaft zur Überprüfung tradierter kultureller Repertoires der nationalen Gesellschaft – um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen – sowie die nachdrücklichen Forderungen ethnischer Aktivisten, die ethnische Symbolik vermehrt öffentlich sichtbar zu machen, sind Indikatoren dafür, dass die ethnische Mobilisierung in Nepal ein rezentes gesellschaftliches Phänomen darstellt. Ob die Kulturpolitiken auch in Zukunft die Priorität haben werden oder ob sich die Aktivisten zunehmend auf andere gesellschaftliche Ressourcen konzentrieren werden, wird auch davon abhängen, ob es zu befriedigenden kulturellen Kompromisslösungen kommt (Wimmer 1995) und davon, ob die Aktivisten in der Lage sein werden, ihre Anhängerschaft für Verteilungskämpfe zu mobilisieren. Denn die kulturellen Terraingewinne im öffentlichen Raum werden den ethnischen Unmut nicht eindämmen können. Gegenwärtig sind es aber haupt-

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sächlich kulturelle und religiöse Anliegen, welche die ethnische Mobilisierung kennzeichnen. Es ist heute immer noch nicht möglich vorherzusagen, inwiefern die umfassenden Bestrebungen ethnischer Aktivisten, auf die Identitätspolitik Einfluss auszuüben, zu einem neuen Verständnis der nationalen Einheit Nepals führen werden. Das wachsende Interesse an der eigenen Kultur, die Suche nach dem eigenen Ursprung und nach der »korrekten« Version, die neuen kulturellen Projekte (etwa die Versuche, Schriften für die bislang nicht geschriebenen ethnischen Sprachen zu finden), die öffentlichen Debatten über Kultur im Allgemeinen und über die Nationalkultur im Besonderen, die kulturellen Vergleiche und die kulturellen Wettkämpfe sind teilweise als Reaktionen auf die bisherige Vernachlässigung der Kultur der Minderheiten sowie den früheren Versuchen der Machthaber zu sehen, die ethnische Vielfalt in Nepal einzudämmen, teilweise als taktisches Manöver und kann teilweise auch als ein neues Betätigungsfeld der Intelligenzija betrachtet werden, indem man sich mit den Wurzeln der eigenen Gemeinschaft beschäftigt. Welche Symbole heute in Nepal für Anfechtungen besonders anfällig sind, dürfte deutlich geworden sein: Der Unmut ethnischer Aktivisten richtet sich gegen die Dominanz des Hinduismus, insbesondere gegen Riten und Gebräuche der hochkastigen Hindus. Auf diesen starken kulturell-religiösen backlash mit den obigen Beispielen hinzuweisen, soll aber nicht zugleich implizieren, dass die gesamte nepalische Gesellschaft in reformatorischen Projekten begriffen ist, die sich auf die Kurzformel: weg vom Hinduismus – hin zu ethnischer Solidarität bringen lassen. Wir wissen gegenwärtig zu wenig darüber, welchen Stellenwert die Politiken der Reaktion gegen die hinduistische Prädominanz innerhalb der lokalen Gesellschaften in weiten Teilen des Landes haben. Es lässt sich beispielsweise nicht von der Hand weisen, dass wichtige Protestströmungen, zu denen ich insbesondere die in etwa einem Drittel aller nepalischen Distrikte seit 1996 eskalierende maoistische Bewegung rechne, nicht auf ethnischen Unmut zurückgeführt werden können. Andere Konflikte werden wiederum im Rahmen formaler Wahlkämpfe ausgetragen, die in Nepal jenseits ethnischer Grenzen stattfinden. Es ist daher Vorsicht geboten, wenn es darum geht, die Breitenwirkung der ethnischen Reaktion gegen die hinduistische Hegemonie einzuschätzen. Vehement werden ethnische

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Kämpfe im Zentrum des Landes ausgetragen, wo die ethnischen Aktivisten erstens mit ihren geringen Chancen des Zugangs zu staatlichen Ressourcen, insbesondere zu wichtigen Positionen in Politik und Verwaltung, direkt konfrontiert werden, wo sie zweitens bereits eine starke Öffentlichkeit geschaffen haben und wo sie drittens ihre Projekte in Abstimmung mit Aktivisten aus anderen Gruppen durchführen können, so schwierig sich die Koordination auch gestalten mag. Nur auf umfassende Anstrengungen zur Kooperation ist nämlich zurückzuführen, dass in Kathmandu ein Museum entsteht, in dem sämtliche Völker Nepals repräsentiert werden. Die gegenwärtig durchgeführte Volkszählung, die auf ethnische Zugehörigkeit besonderen Wert legt, geht ebenfalls auf die geschlossenen Bemühungen verschiedener Aktivisten und Organisationen zurück, die teils einzeln an die Öffentlichkeit treten, teils von NEFEN – der Nepal Federation of Nationalities repräsentiert werden. Dass eine Dachorganisation ins Leben gerufen wurde, ist ein wichtiger Indikator dafür, dass die einzelnen ethnischen Organisationen sehr früh einsehen mussten, dass sich nur durch ein gemeinsames Vorgehen Terraingewinne gegenüber den dominanten Gruppen erzielen lassen. Die nepalischen Ethnien, die niedrigen Kasten und die Minderheitenreligionen (vor allem die Muslime) haben sich nämlich in Dutzenden zahlenmäßig schwacher Vereinigungen zusammengeschlossen, zu deren bekanntesten u. a. die Nepal Magar Association, die Nepal Tamang Association, Thakali Services Committee, Nepal Sherpa Association, Newar Language Joint Committee gehören.19 Deren Tätigkeiten äußern sich in der Öffentlichkeit in vielfältiger Weise, wobei allein schon der Umstand, dass ethnische Anliegen öffentlich verhandelt werden, und dass es immer mehr Presseerzeugnisse und Radiostationen gibt, die von ethnischen Organisationen ins Leben gerufen wurden, die neue Transparenz zum Ausdruck kommen lässt. Um die gegenwärtigen Formen der Symbolisierung zu verstehen, ist es wichtig, auf den öffentlichen Charakter der Auseinandersetzungen hinzuweisen. Die höchst diskontinuierlichen Prozesse der nepalischen Demokratisierung und die Bestrebungen zur gesellschaftlichen Entwicklung stellen dabei wichtige Rahmenbedingungen dar. Die neue Verfassung, die nur ein halbes Jahr nach den blutigen Unruhen vom Frühjahr 1990 in Kraft getreten ist (9.11.1990), verankert umfassende politische und bürgerliche Rechte, von denen die nepalischen Minder-

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heiten auch regen Gebrauch machen. Die Forderung nach mehr Partizipation – im Rahmen von Parteipolitik und in den immer dichteren Netzwerken der Zivilgesellschaft – schlägt sich unter anderem in den Debatten über die gesellschaftlichen Ziele nieder, die heute nicht nur in unterschiedlichen Sprachen und unter Betonung unterschiedlicher Werthaltungen geführt werden, sondern gerade auch die Forderung enthalten, dass diese ethnische Vielfalt zu fördern sei. Die Ausdifferenzierung der Kulturpolitik werten die Aktivisten zugleich als Indikator und als Voraussetzung dafür, dass die ethnische Bevölkerung vermehrt an der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung und an der Umverteilung teilhaben kann. Dennoch stellt sich angesichts der vermehrten Präsenz ethnischer Anliegen in der nepalischen Öffentlichkeit die Frage nach der Breitenwirkung solcher Bestrebungen. Welcher Anteil der ethnischen Bevölkerung ist in der Tat an der Kulturpolitik beteiligt? Inwiefern wissen Bauern in den entlegenen Himalaya-Tälern, welche Ziele und Inhalte ihre selbst ernannten Führer geltend machen und beanspruchen? In der Regel sind es Lehrer und versierte opinion leaders, die mit der Meinungsbildung und mit den geltenden Werten in der nationalen, manchmal der internationalen Öffentlichkeit vertraut sind, welche die lokalen Ziele formulieren und kommunizieren, und die daran beteiligt sind, Symbole dem mainstream anzupassen. Es ist daher umso weniger überraschend, dass die meisten ethnischen Aktivisten zu ähnlichen Mitteln greifen – so dass z. B. das Verfassen von Chroniken plötzlich generell in allen ethnischen Bewegungen Verbreitung findet. Sobald die Debatten um die kulturellen Formen öffentlich geführt werden, steigt die Gefahr, dass die kulturellen Eigenarten durch die »Übersetzung« für die Öffentlichkeit verloren gehen. In Bezug auf die Frage, was überhaupt die korrekte Version ihrer eigenen Kultur oder Religion sei, sind ethnische Aktivisten gegenwärtig an teilweise äußerst konflikthaft ausgetragenen internen Auseinandersetzungen beteiligt. Alte (viele Priester) und neue Eliten (viele Lehrer) streiten beispielsweise miteinander, ob Blutopfer, die in manchen schamanistischen Praktiken vorgenommen werden, mit den Erfordernissen der heutigen Zeit noch kompatibel sind. Ramble (1997) dokumentiert, dass viele Aktivisten Schamanismus ohne Blutopfer als eine progressive Haltung werten. Andere Mitglieder der gleichen Ethnie sehen ausgerechnet im Blutopfer das Wesen des Rituals. So entbrennen die

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meisten Debatten um den kulturellen Gehalt zwischen Puristen und Reformatoren. Die Suche nach der kulturellen Distinktion, an der sich die ethnischen Introspektionen orientieren, resultiert paradoxerweise nicht selten in der Anpassung an andere Minderheiten und an die nationale Umwelt. Nicht nur gehen verschiedene ethnische Aktivisten nach altbekannten Mustern vor. Auch die Abgrenzung gegenüber den zuvor geltenden Werten und Normen, gegen die man sich auflehnt, kann darin resultieren, dass eine Wir-Gruppe entsteht. Eine nationale Arena ist durch Rollenmodelle besetzt, für deren Botschaften die Aktivisten anfällig sind. Wenn die Aktivisten einer Gruppe eine Maßnahme erfolgreich durchgeführt haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass andere Aktivisten folgen werden. Zudem ist es natürlich für alle Minderheiten von Vorteil, sich an gemeinsamen Projekten zu beteiligen: sei es eben, wenn ein Nationales Museum der Minderheiten errichtet werden soll, sei es, wenn ein neuer Zensus durchgeführt wird, der die Größenverhältnisse festlegen soll, die später bei allfälligen Quotenregelungen ausschlaggebend werden könnten. Die Mobilisierung gegen die hinduistische Prädominanz – etwa das Sanskrit-Obligatorium in den Schulen – bietet eine wichtige Grundlage für die vielen ethnischen und religiösen Minderheiten in Nepal, um sich überhaupt zusammenzuschließen. Für das Verständnis der ethnischen Mobilisierung ist es schließlich von Bedeutung, an wen sich die Botschaften richten. Die sich in Nepal formierende Öffentlichkeit ist ein umkämpftes soziales Feld. Der Umstand, dass eine große Vielfalt an Organisationen und Meinungsäußerungen besteht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue Pluralismus Nepals durch Ungleichheiten gekennzeichnet ist. Öffentlichkeiten werden durch Kräfte dominiert, die in der Lage sind, andere Akteure daran zu hindern, ihre Themen und Inhalte an die Öffentlichkeit zu tragen. Die Kontrolle über die politischen Agenden ist hart umkämpft (vgl. auch Lukes 1974: 21ff.). Daran ändert in Nepal auch der Umstand nichts, dass die nepalische Öffentlichkeit nicht nur durch nationale Interessen, sondern auch durch internationale Akteure und deren Anliegen definiert wird. Vielmehr sind auch die internationalen Akteure – die Experten der Entwicklungszusammenarbeit (vgl. Burkert 1997), das internationale Kapital, die Touristen, die religiösen

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Schüler aus dem Westen – daran beteiligt, Ziele zu formulieren und international anerkannte Werte einzubringen. Einen besonderen Stellenwert nehmen gegenwärtig immer noch die Debatten um die herausragende Rolle bestimmter ethnischer Gruppen im Prozess gesellschaftlicher Entwicklung ein, welche Dor Bahadur Bista entfesselt hat. Der nepalische Ethnologie Dor Bista hat nämlich 1991 ein mittleres Erdbeben ausgelöst, als er in seinem Buch Fatalism and Development die These vertrat, dass die Hindus mit ihren egoistischen und fatalistischen Haltungen nicht im Stande seien, die Entwicklung Nepals voranzutreiben. Diese Rolle müsse laut Bista den zahlreichen nicht-hinduistischen Ethnien zufallen, die einen starken kooperativen Geist an den Tag legten. Bistas Argumentation und die Kontroversen, die sich darum entfachten, machen deutlich, dass kollektive Identitäten zu einer Ressource geworden sind – trotz oder vielleicht eben wegen der Unbestimmtheit des Konzepts. Kommunale Formen zu haben bringt Prestige. Indem internationale und nationale Akteure aufeinander treffen und in gegenseitigen Aushandlungen spezifische Werte in den Vordergrund rücken, werden nicht selten Signalwirkungen erzielt. Seit Anfang der 1990er Jahre sind beispielsweise Werte wie »Gemeinschaft«, »Egalität«, »Kleinräumigkeit« und »Ortsbezug« besonders positiv aufgeladen. Kurz: Der Entwicklungsdiskurs und der westliche Traum von Authentizität bewerten gerade das hoch, was die nepalischen Minderheiten in ihren Selbstrepräsentationen zu bieten haben. Dass die öffentliche Produktion von Bedeutungen solch komplexen Prozessen der Meinungsbildung unterliegt und dabei vielfältige kulturelle Repertoires bietet, ist überraschend – wohl nicht nur für die westlichen Forscherinnen und Forscher, sondern auch für die Mitglieder nepalischer ethnischer Gruppen selbst, die sich neu verorten. Anmerkungen 1 Dazu Hirschman (1992: 17): »Führt man sich dies fortwährende Vorwärts und Zurück von Aktion und Reaktion vor Augen, dann erscheint die Lesart noch bewundernswerter, das aus einer bekannten Bemerkung Whiteheads spricht: ›Bei den wichtigen Fortschritten der menschlichen Zivilisation handelt es sich um Vorgänge,

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welche die Gesellschaften, in denen sie stattfinden, nahezu in Trümmer legen‹.« Diese Prozesse sind umfassend dokumentiert worden. Zu allgemeinen historischen Darstellungen vgl. Regmi (1972, 1978); zu den staatlichen Maßnahmen angesichts der ethnischen Vielfalt vgl. Burghart (1984); zur Verankerung der »nationalen Kastenhierarchie« vgl. Höfer (1979); zu den umfassenden Transformationen in den Beziehungen zwischen den nepalischen Ethnien und den Hindu-Gruppen sowie zum kulturellen Wandel infolge dieser Prozesse vgl. Pfaff-Czarnecka (1989, 1997, 1999). Die Unterscheidung »Hindu-Bevölkerung« vs. »ethnische Gruppen« geht auf den nepalischen Usus zurück. Zu den wichtigsten ethnischen Gruppen Nepals gehören die Newar, Magar, Gurung, Tamang, Limbu, Rai, Thakali u. a. – vgl. Gellner / Pfaff-Czarnecka / Whelpton (Hg.) (1997). Zum Begriff »Kampf um den Staat« vgl. Wimmer (1995). Aktivisten mehrerer Ethnien behaupten, ihre Ländereien, die sie auf der kommunalen Basis hielten und bewirtschaftet haben, seien durch List und Tücke an hochkastige Besitzer überschrieben worden (vgl. dazu u. a. Krämer 1996: 217ff.). Der nepalische Ethnologe Krishna Bahadur Bhattachan (1995: 92) zeichnet ein pessimistisches Bild: »Indigenous ethnic groups are federating themselves to challenge continuing monopoly of the ruling class in national political, social, cultural, and economic resources. Similarly, Madhesiyas are raising their voice against the hill people’s domination, and the Dalits are fighting against continuing social discrimination by high caste groups. […] Also, the rise of Hindu fundamentalist groups in India, such as Shiv Sena, has fueled Hindu-Muslim conflicts in the Terai, and HinduBuddhist and Hindu-Christian conflicts are slowly brewing up. Given the continuing and rising social and economic inequality, the Nepalese people now fear that Nepal may be on the verge of witnessing ethnic conflict(s) in near future as a part of the process of globalization.« Allen voran Gopal Gurungs, der der Mongol National Organisation vorsteht. Zu den besonders aggressiven (Krämer 1996: 257f.) ethnischen Organisationen gehören u. a. Limbuwan Mukti Morcha (eine Organisation der Rai-Ethnie) und Tamang Saling

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Mukti Morcha (eine der Tamang-Organisationen). Das nepalische Wort mukti (Befreiung) konnotiert die politische Stoßrichtung der Aktivisten (ebd.). Gegenwärtig (Ende 2000) ist eine Volkszählung in Gang, die erstmals in der Geschichte des Landes das Merkmal »ethnische Zugehörigkeit« berücksichtigt. Vgl. hierzu u. a. Bhattachan 1995, 1996, 1998; Gellner 1997, 1999a, 1999b; Krämer 1996; Pfaff-Czarnecka 1997, 1998, 1999. Ein eindrucksvolles Zeugnis für diesen Zwiespalt legt der Ethnologe Bhattachan (1998: 112f.) in seiner Rezension unserer Buchpublikation zu Nationalismus und Ethnizität in Nepal (vgl. Gellner et al. 1997) ab: »I myself being a Thakali, a member of the National Committee for Development of Nationalities representing the Nepal Federation of Nationalities (NEFEN) and a faculty member of the Department of Sociology and Anthropology from its inception in 1981, who was trained in sociology in a Western school, I must frankly say that my reactions and analyses about the book under review would be multiple – partly from an academic perspective, partly from an advocacy perspective and partly from an ethnic activist perspective. In other words, I will primarily rely on reason, logic and rationality, but also emotion […] our ethnic demands are not just about economic and political gains. Our demands are also for the recognition of our very existence, our histories, cultures and religions.« Vgl. dazu Geertz (1973: 259), der immer wieder fälschlicherweise des Primordialismus bezichtigt wurde: »By a primordial attachment is meant one that stems from the ›givens‹ more precisely, as culture is inevitably involved in such matters, the assumed »givens« – of social existence: immediate contiguity and kin connection mainly, but beyond them the givenness that stems from being born into a particular religious community, speaking a particular language, or even a dialect of a language, and following particular social practices. These congruities of blood, speech, custom, and so on, are seen to have an ineffable, and at times overpowering, coerciveness in and of themselves.« Calhoun (1994: 17) weist in diesem Zusammenhang auf eine Wende im Feminismus hin, die für die Ethnizitätsforschung von Interesse ist. Einige Feministinnen halten es zunehmend für eine

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gangbare Option »to risk essentialism«: »At its simplest, the argument suggests that where a particular category of identity has been repressed, delegitimated or devalued in dominant discourses, a vital response may be to claim value for all those labeled by that category, thus implicitly invoking it in an essentialist way.« Für eine Übersicht über die wichtigsten Übernahmen vgl. PfaffCzarnecka (1997). Zugleich können nicht die »ethnischen Einflüsse« auf den nepalischen Hinduismus vernachlässigt werden. Eine wichtige Ausnahme stellt das Leviratsverbot dar, das die nepalische Zivilgesetzgebung von 1854 gegenüber den diesen Typus der Ehe praktizierenden Gruppen verankert hat. Ich stütze mich hauptsächlich auf die eigenen Erhebungen; vgl. v. a. Pfaff-Czarnecka (1989). Ein solcher Konflikt, der in einem anderen zentralnepalischen Dorf entbrannt ist, wurde im Film Makai von Garlinski und Bieri dokumentiert. Vgl. dagegen auch Krämer (1996), Campbell (1997), Gaenszle (1997) sowie Russell (1997). Das bekannteste Zeichen der letzten Dekaden ist wohl der Schriftzug der polnischen Solidarnos´c´-Bewegung. Eine detaillierte Aufstellung, die auch die nepalischen Namen enthält, findet sich bei Krämer (1996: 390f.).

Literatur Anderson, Benedict (1991): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso. Bhattachan, Krishna Bahadur (1995): »Ethnopolitics and Ethnodevelopment: An Emerging Paradigm in Nepal.« In: D. Kumar (Hg.), State Leadership and Politics in Nepal, Kathmandu: CNAS, Tribhuvan University. Bhattachan, Krishna Bahadur (1996): »Induced and Indigenous SelfHelp Organizations in the Context of Rural Development: A Case Study of the GTZ Supported Self-Help Promotion Programs in Nepal.« In: M.K. Dahal / H. Mund (Hg.), Social Economy and National Development: Lessons from Nepalese Experience, Kathmandu: NEFAS.

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Ethnische Symbole in Nepals Öffentlichkeiten

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Identitätsdiskurse in Südthailand

»Wertschätzung und Ächtung«: Kommunikative Konstruktion von Moral in Identitätsdiskursen Südthailands1 Alexander Horstmann

Einleitung Die Region im Süden Thailands am Isthmus von Kra kann im weitesten Sinne als eine »Grenzlandschaft« konzeptualisiert werden.2 Es ist eine Grenzlandschaft zwischen Nationen (Thailand und Malaysia), zwischen Kulturen (Thais, Chinesen, Malaien), Religionen (Hinduismus, Theravada Buddhismus, Islam) und Sprachen (Thai, Bahasa Melayu, Patani Melayu, Chinesische Dialekte). Indem Südthailand von Anfang an als eine Grenzgesellschaft angesehen wird, kann ihre Genese und Entfaltung in der späten Moderne als ein eskalierender sozialer Wettbewerb verstanden werden, in dem unterschiedliche kulturelle Entwürfe um Hegemonie in der lokalen Öffentlichkeit ringen.3 Die auf Hochtouren laufenden Identitätsdiskurse in Südthailand haben in den 1980er und 1990er Jahren an Heftigkeit zugenommen und scheinen auf zentrale Weise auf der Imagination, den Ansprüchen und den Utopien der neuen Mittelklasse zu basieren. Das persönliche Engagement von Akademikern, die sich leidenschaftlich an der politischen Intervention beteiligen, wird Teil des Erkenntnisinteresses dieser Studie. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sind soziale Kreise lokaler Intellektueller wichtige Akteure der Konstitution öffentlicher Räume. Dieser Zugang macht deutlich, dass unterschiedliche Visionen der

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Alexander Horstmann

sozialen Ordnung miteinander konkurrieren – und dass Lokalitäten durch soziale Praxen im politischen Alltag immer neu ausgehandelt werden (vgl. Peleikis in diesem Band). Südthailand kann aus dieser Perspektive als ein Set verschiedener Lokalitäten betrachtet werden.4 Innerhalb dieser Felder werden unterschiedliche Subjektivitäten und Positionen verhandelt, die ich mit Hilfe einer Typisierung der beteiligten Akteure illustrieren werde.5 Dieser Artikel geht also den in Kommunikationsprozessen konstruierten Grenzziehungen und Grenzverschiebungen zwischen Buddhisten und Muslimen nach und fragt nach der kommunikativen Konstruktion von Wertmaßstäben in den kulturellen Projekten sozialer Bewegungen in Südthailand.6 Es wird unterstellt, dass sich die kulturellen Segmente der neuen Mittelklasse in einem größeren Kommunikationszusammenhang befinden. Dieser Kommunikationszusammenhang ist weder herrschaftsfrei, noch kann man davon ausgehen, dass es ein Erkenntnisinteresse an der Kultur des Anderen geben würde. Es ist gemeint, dass sich in der tobenden Identitätspolitik ein Diskurs über Moral, Moralen und den Verfall der Moral jenseits ethnischer Grenzen herausbildet. Dieser Diskurs wird vor allem über Lebensformen und Lebensstile und über den Ort dieser Lebensstile in Konstruktionen sozialer Ordnung artikuliert. In diesem herrschaftsgeladenen Diskurs geht es um die sozialen Positionen unterschiedlicher kultureller Segmente im öffentlichen Raum.7 Im Folgenden soll der strukturelle Wandel der öffentlichen Sphäre in Südthailand untersucht werden:8 Die Öffentlichkeit wird in Südthailand einerseits als eine Bühne verstanden, die von sozialen Akteuren und kulturellen Segmenten genutzt wird, um kulturelle Präsenz und Sichtbarkeit zu erreichen. Zum anderen wird Öffentlichkeit als ein sozialer Raum konzeptualisiert, in dem Lokalität zum Verhandlungsgegenstand von Klassifikations- und Konkurrenzkämpfen wird. Der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit wird hier insbesondere am »moralischen Haushalt« der Gesellschaft festgemacht. Damit ist das kulturelle Repertoire an Konstruktionen von Wertmaßstäben gemeint.9 In Songkla ist an der Schnittstelle zwischen lokalem Staat und Öffentlichkeit eine zivilgesellschaftliche Bewegung entstanden, in der die Grenzen zwischen Staat und außerstaatlicher Öffentlichkeit fließend geworden sind. Die Vertreter dieser Bewegung haben sich zum Ziel gesetzt, in Songkla ein Gefühl von Heimat zu entwickeln. Die Bewe-

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Identitätsdiskurse in Südthailand

gung wird von einem sozialen Zirkel geführt, der sich aus Personen des Erziehungs- und Bildungssektors zusammensetzt. Diese charismatischen Persönlichkeiten genießen auf Grund ihrer hohen Bildung hohes soziales Prestige. Der im Rahmen der Dezentralisierungsprogramme zentralstaatlich initiierten und finanziell unterstützten Songkla Civic Assembly (Songkla Prachakom) kommt eine integrative Funktion zu, die Handelskammer, lokale Regierung, Nicht-Regierungsorganisationen (NROs), zahlreiche Zirkel, Vereine und Netzwerke zusammenführt. In Songkla Prachakom kommen ungleiche Partner zusammen, die in der politischen Arena sehr unterschiedliche Lagen einnehmen und z. T. noch nie kooperiert haben bzw. sich gegenseitig misstrauen. Die hohe Präsenz von Songkla Prachakom im öffentlichen Raum führt dazu, dass eine Reihe von Entrepreneurs, Beamten, Lehrern und Aktivisten der Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) in diese Bewegung drängen. Im Zuge der erfolgreichen Mobilisierung unterschiedlicher sozialer Kräfte kommt im Kräftefeld von Songkla Prachakom es zu einer Verlagerung sozialer Macht. In der sozialen Bewegung bildet sich eine Kerngruppe heraus, in der alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden. In öffentlichen Ereignissen können die Inhalte der Bewegung performativ in Szene gesetzt werden. Die moralischen Unternehmer benutzen das Bild der Eltern, die sich um die Erziehung ihrer Kinder sorgen. Das gesetzte Ziel des von der Organisation Songkla Forum organisierten »Lernfestes« war es, die Bürger von Songkla für das Gemeinwesen »wachzurütteln«. In den während des Ereignisses benutzten Bilder vom guten Leben kommt der Kommunikation über Moral eine zentrale Bedeutung zu. Die Praktiken von Songkla Prachakom setzen sich so mit den Bedingungen der späten Moderne auseinander. Das »Lernfest« sensibilisierte die Erwachsenen für die Schönheit Songklas. Die Erwachsenen wurden an Infoständen mit den sozialen Problemen Songklas konfrontiert: Umweltverschmutzung, Drogenprobleme, Jugendkriminalität. Kinder und Jugendliche konnten sich über pädagogisch geplante Sinnspiele mit »ihrer« Lokalität auseinander setzen. Mit Hilfe dieser Mittel wurde versucht, ein Bewusstsein für die Lokalität zu schaffen und eine öffentliche Debatte über die von Songkla Prachakom eingeführten Themen der sozialen Gesundheit herzustellen. Die Meinungsführer der Organisation haben den Anspruch aufgestellt, an der Herstellung und Rezeption einer auf-

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geklärten Kultur beteiligt zu sein, die Licht in das von der Modernisierung verursachte Dunkel bringt. Klagen über die moralische Krise werden in der Öffentlichkeit dramatisiert, Folgen der nationalen Integration, der wachsenden Präsenz Bangkoks, des endlos erscheinenden Massenkonsums und der zunehmenden Verflechtung in düsteren Farben ausgemalt. Im Zuge der Thematisierung der negativen Folgen der Moderne wird auch ein Handlungsbedarf hergestellt. Die leidenschaftliche Debatte über eine moralische Krise weist auf einen Anspruch hin, die neuen politischen Spielregeln vorzugeben. Der Diskurs über die moralische Krise enthält implizit auch eine Kritik an der politischen Klasse, die nicht mehr in der Lage zu sein scheint, die aufgeworfenen Probleme selbst zu lösen. Auf diese Weise werden bestimmte Felder von der neuen Bewegung besetzt. Die Sinnkrise der Familie, die Umweltverschmutzung und die zunehmende Anonymität werden beklagt und im Rahmen von Seminaren und Talk-Shows öffentlich thematisiert. Insofern ist das Ziel des Zirkels, eine Reflexion über die Bedingungen der Moderne in Songkla auszulösen. Gleichzeitig bieten sich charismatische Persönlichkeiten als Mittler, Konfliktschlichter, aber auch als Führungspersönlichkeiten an. Positionen und kulturelle Lagen in Songkla Pannipa Sotthibandhu, die Tochter des ehemaligen Präsidenten der Universität Prince of Songkla in Hatyai, erfährt besonders hohe Wertschätzung. Vorstandsmitglied im Songkla Prachakoms Board, Direktorin der Organisation Songkla Forum und Vorsitzende der lokalen Radiostation, ist sie zurzeit Direktorin eines neuen Instituts für berufliche Weiterbildung in Songkla. Ihre feine Analyse des Gesellschaftszustands ist typisch für die Diskurse über das schlechte Leben in Thailand: Pannipa ist der Meinung, dass 30 Jahre Entwicklung die thailändische Gesellschaft »vergewaltigt« haben und zu einer raschen Zerstörung der thailändischen Tradition und der thailändischen Werte geführt haben. Pannipa analysiert den Wandel der Gesellschaft aus der Perspektive der Familie. Sie berührt vor allem die Frage der Stadtkultur und Stadtumwelt. Pannipa bedauert, dass sich der Zusammenhalt in der Familie auflöst. Sie zeichnet ein Bild der Anomie, in der Eltern und Kinder voneinander entfremdet sind, Nachbarn sich nicht kennen

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und die Jüngeren die Älteren nicht mehr respektieren. Eltern haben kaum noch Zeit füreinander und die abwesenden Väter verbringen ihre Zeit außerhalb der Familie mit anderen Vätern, Alkohol und Frauen. Die Thais hätten ihre Hilfsbereitschaft verloren, seien egoistischer geworden und der Konsumsucht verfallen. Neue Möglichkeiten des Transports und der Kommunikation verursachten Anonymität und Umweltverschmutzung. Dieses Bild einer entfremdeten, dekadenten Gesellschaft wird mit dem Bild einer idealisierten Dorfgemeinschaft konfrontiert. Die traditionelle Dorfgemeinde wird als ein lebendiger Raum des gemeinschaftlichen Lebens gezeichnet ( püntihengchiwit), in dem es »Reis und Fisch in Fülle« gäbe.10 Die Stadt oder das Gemeinwesen wird mit einem Haus (ban) verglichen. Pannipa hofft, dass es in diesem Haus gelingt, die traditionelle Dorfgemeinde zu revitalisieren und die Kommunikation zwischen Vater und Mutter sowie zwischen Generationen und Nachbarn wieder zu beleben. Sie ist der Meinung, dass die Familie die Zelle einer gesunden Gemeinschaft sei und nimmt programmatischen Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Raums und auf die Ideologie der sozialen Bewegung in Songkla. Pannipa Sotthibandhu hat nicht nur die organisatorische Vorbereitung des »Lernfestivals« und die Heimat (Ban Kert)-Kampagne geleitet, sondern auch die Position einer Geschäftsführerin der privaten Radiostation bekleidet. Pannipa fährt regelmäßig nach Bangkok, um mit Freunden in Zirkeln, demokratischen Institutionen und internationalen Stiftungen Kontakt zu halten. Bangkok Forum, die Mutterorganisation von Songkla Forum, unterstützt Pannipa bei ihren Vorhaben. Ajarn Aree Rangsiyogit, Dekan des Rajahpat Instituts in Songkla, ist sowohl Gründungsmitglied als auch Präsident ( pratarn) von Songkla Prachakom. Aree kommt aus bescheidenen Verhältnissen und ist durch seine Ausbildung in Bangkok und Songkla sozial aufgestiegen. Über sein Engagement in der Öffentlichkeitsarbeit hat sich Aree in Songkla große Anerkennung erworben, sich an die Spitze der Bewegung gestellt und hofft nun, Songkla Prachakom auf die politische Bühne zu bringen und an der politischen Entscheidungsfindung zu partizipieren. Er kontrastiert die neue Bewegung und ihre Strategie mit den NROs, die er in die Kooperation mit Songkla Prachakom zwingt. Während Pannipa die Familie in den Vordergrund rückt, stellt sich für Aree die Machtfrage. Aree möchte die moralische Überlegen-

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heit in politische Macht umsetzen, während Pannipa auf die Unabhängigkeit der sozialen Bewegung drängt und sich gegen staatliche Eingriffe und staatliche Bevormundung wehrt. Aree hingegen sieht die Aufgabe der Bewegung in der Interaktion mit dem Staat und hofft, dass Mitglieder der Bewegung in Zukunft politische Positionen besetzen und den formalen politischen Prozess gestalten können. Eine weitere Führungspersönlichkeit ist Chamnong Raekpinit, der mit Bauern und Bauernorganisationen in Songkla zusammenarbeitet. Chamnong ist eng mit NROs in Bangkok und anderen regionalen Zentren in Thailand vernetzt, verfügt über Kontakte zu internationalen Geberorganisationen und hat sich in den Wahlen als Kandidat für einen Senatorenposten angeboten. Chamnong hat die ideologischen Standpunkte der NRO-Bewegung in Thailand übernommen, die stark an den Diskursen thailändischer Intellektueller orientiert sind. Diese in ganz Thailand populären Diskurse von Prawes Wasi und Sulak Sivarak beklagen die Konsequenzen der Transformation und Marktausdehnung in Thailand (Prawes 1999; Sulak 1988). Hier wird vor allem die Krise der Kultur genannt. Der Buddhismus habe seine Funktion als Sinnzentrum des Gemeinwesens verloren. Prawes und Sulak sehen Thailand in einer spirituellen Krise, die auf dem Verlust der Beziehung des Menschen zur Natur und der Entfremdung der Thais von ihren spirituellen Grundlagen beruht. Die Legitimation der sozialen Bewegung stützt sich auf diese spirituellen Sinnressourcen.11 Besonders wird die reformbuddhistische Lehre von Phra Buddhadasa Bhikku herangezogen, um die Einmischung in öffentliche Angelegenheiten zu rechtfertigen. Die Lehre Buddhadasas, die eine revolutionäre Interpretation des Buddhismus enthält und ihrerseits spirituelle Grundlage einer sozialen Bewegung geworden ist, scheint sich besonders gut als Legitimationsstrategie zu eignen. Suan Mokkh ist ein spirituelles Sinnzentrum, das, in der Provinz Chumphorn gelegen, auf Thailand, Südostasien, und, durch eine eigene Webseite und einen Tempel in Nordamerika, auf die westliche Welt ausstrahlt. Die Re-Traditionalisierung von Urbanität und urbaner Kultur wird als Basis für politischen Aktionismus genutzt. Es werden habituelle Stile eingeführt, die Tradition und Moderne zusammenzuführen suchen. Die Promotion lokaler Essgewohnheiten steht für die geforderte Rückbesinnung auf die eigenen Sinnressourcen, die der »dekadenten« Konsumgesellschaft entgegengesetzt werden.12

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Die islamische Bewegung in Pattani13 In einer Zeit, in der das malaiische Sultanat Patani zu einer einfachen thailändischen Provinz geschrumpft ist, erinnern sich die Malaien an ein goldenes Zeitalter, als Patani als spirituelles Zentrum des Islams bekannt war, das Muslime von der ganzen malaiischen Halbinsel angezogen hat. Diese Nostalgie für den verlorenen Staat scheint die psychologische Situation der Malaien zu charakterisieren, die von den islamischen Kernländern getrennt wurden und sich nun mit der religiösen Kosmologie des thailändischen Nationalstaates konfrontiert sehen. Die Erinnerung an die Vergangenheit dient nicht nur der Wiederbelebung des kulturellen Erbes, sondern beinhaltet auch die Reorganisation der islamischen lokalen Arena. Die Forderung nach kultureller Autonomie enthält auch einen Anspruch auf die eigene Geschichte. Die neue Integration der marginalen Gesellschaft in die globale Gemeinschaft führt auch zu einer Wiederbelebung der Erinnerung. Die lokale muslimische Gesellschaft hat eine fundamentale Transformation erfahren, in der die traditionellen Strukturen erschüttert wurden und die lokale Gesellschaft in die thailändische Öffentlichkeit eingegliedert wurde (Horstmann 1999). In der gegenwärtig zu beobachtenden Identitätspolitik kommt es zu einem Wettbewerb unterschiedlicher Positionen und sozialen Lagen in der lokalen Arena. Der Aufstieg lokaler Intellektueller ist ein Resultat der Bildungsmigration religiöser Lehrer in den Mittleren Osten. Im Folgenden werde ich unterschiedliche Persönlichkeiten sowie ihre Visionen und Utopien darstellen. Ihre Portraits reflektieren gleichermaßen die unterschiedlichen Positionen, die in der Lokalität um Vorherrschaft ringen. Im Zentrum dieses Wettbewerbs steht die Umgestaltung der pondoks (islamische Schulen) bzw. der islamischen Erziehung. Dr. Hasan Madmarn ist ein respektierter Akademiker, der, aus bescheidenen Verhältnissen stammend, als Kosmopolit und Intellektueller gilt. Hasan sieht sich selbst als einen offenen Konservativen, der Werte, familiäre Bindungen und lokale Traditionen schätzt. Er repräsentiert die Modernisierung des Islams, der aber die Traditionen bewahren möchte. Ursprünglich in Patthalung aufgewachsen, beschreibt Hasan seine Eltern als gläubige und würdige Muslime, die für eine solide islamische Erziehung in Chana sorgten. Die reiche autobiographische Beschrei-

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bung seiner Bildung in Chana (Songkla) ist eine Illustration des muslimischen Milieus in Thailand (vgl. Madmarn 1999). Er begann seine Studien 1955 in der Pondok Padang Langa. Seine Schüler-Lehrer-Beziehung zu guru Abdul Ghani beschreibt er als vertraut und respektvoll. Abdul Ghani kam ursprünglich aus Kelantan und sprach sehr gut Arabisch. Hasan beschreibt das Leben in Chana in reichen Farben. Nach einem abgeschlossenen Hochschulstudium in Thailand hat er seine Studien in den USA bei Prof. Fazlur Rahman fortgesetzt und einen Ph. D. an der Temple University erworben. In seiner Dissertation formuliert Hasan seine Vision für die Umgestaltung der pondoks in Südthailand (vgl. Madmarn 1999): Er möchte islamische Tradition und islamische Modernität miteinander versöhnen. Dazu weist er die junge Generation an, dem lokalen Erbe Respekt entgegenzubringen und nennt vor allem die Schriften islamischer Gelehrter in Patani, die als kitab jawi erhalten sind. In seiner Vision bereiten Bildungseinrichtungen in Thailand die Studenten für die Eliteuniversitäten in der muslimischen Welt vor. Er hofft, alle diese Qualitäten in der modernen madrasah nach arabischem Vorbild zu verbinden. Hasan betont die historische Kontinuität der islamischen Netzwerke, die Patani mit Mekka verknüpfen. Hasan ist ein wichtiger Mittler, der zwischen der muslimischen Minderheit und der Regierung verhandelt. Er vertritt eine nationalstaatliche Eingliederung der muslimischen Minderheit und die Repräsentation in den politischen Institutionen. Dr. Hasan Madmarn hat die Gründung des College of Islamic Studies vorbereitet und war an den Verhandlungen mit staatlichen Autoritäten maßgebend beteiligt. Im Gegensatz zu Hasan Madmarn bricht Dr. Ismail Lutfi mit den historischen Kontinuitäten. Seine auf der Autorität des Textes beruhende skripturale Methode bricht mit der traditionellen ulama (spirituelle Führung), deren mystische Beziehung zu Gott in Frage gestellt wird. Lutfi steht für eine neue Generation islamischer Spezialisten, die den Habitus eines modernen, kompromisslosen saudischen Experten verkörpern, der nicht in den Bruderschaften der ulama verankert ist. Lutfi genießt breite Anerkennung in studentischen und intellektuellen Kreisen, in denen er für eine neue gebildete, kompetente und anschlussfähige Generation steht. »I am a man of peace«, sagt er, und meint damit, dass er eine Konfrontation mit der Regierung vermeiden möchte. Auf lokaler Ebene führt er sein strenges, rigoroses Lebensstil-

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Identitätsdiskurse in Südthailand

regime ein, mit dem er seine Lehre auf die Organisation des Alltags und den öffentlichen Raum überträgt. Anders als Hasan, der die Rolle eines erfahrenen Administrators spielt, sucht Lutfi seinen Platz im öffentlichen Raum. Er inszeniert die Lesungen als Spektakel, in dem das Publikum in seinen Bann gezogen und an seine Figur gebunden wird. So wird Lutfi zum Professor, zum Gelehrten und Medien-Star, dessen Bildungsangebot eine Attraktion auf studentische und intellektuelle Zirkel ausstrahlt. Öffentliche Lesungen, die in der Umgebung seiner pondok stattfinden, werden auf Audiokassette aufgenommen und am selben Ort oder in den islamischen Läden in der Stadt verkauft. Die Lutfi-Schule wurde durch die Einrichtung eines islamischen Seminars in Yala aufgewertet, dem Lutfi als Direktor vorsteht. In diesem Seminar wird in Abstimmung mit dem thailändischen Erziehungsministerium ein Studiengang der Islamischen Theologie angeboten. Das Arabische, das als Sprache der heiligen Texte angesehen wird, wird zur Unterrichtssprache aufgewertet. Der »Lebensstilapparat« des skripturalen Islams bestimmt die Curricula und das Leben auf dem Campus.14 Im Gegensatz zu Hasan Madmarn und Ismail Lutfi hat Muhammad Shagir das politische Exil in Malaysia gewählt. Shagir, der sich in eine verwandtschaftliche Linie mit dem Gelehrten Sheykh Daud Al-Fatani stellt, hat in Kuala Lumpur eine Stiftung zu Ehren von Sheykh Daud eingerichtet. Shagirs Lebenswerk ist die Edition der klassischen Lehrwerke Sheykh Dauds, dessen originale Handschriften sich in seinem persönlichen Besitz befinden. Shagir selbst ist Autor zahlreicher Kommentare, der Dokumentation und der Archivierung der Schriften Sheykh Dauds, nach dem auch die Stiftung benannt ist, und historischer Arbeiten über die Geschichte der Islamisierung Patanis und die Rolle der Patani ulama. Shagir sieht sich als Vertreter der geistlichen Elite Pattanis, der die Aufgabe hat, das islamische Erbe zu pflegen. Er ist Teil der traditionellen ulama, die mit der neuen fundamentalistischen Bewegung um Vorherrschaft ringt. Obwohl Shagir in religiösen und intellektuellen Zirkeln an der Islamischen Fakultät der University Kebangsaan in Malaysia hohe Anerkennung genießt, ist er sich seiner Machtlosigkeit bewusst, die in der finanziellen Misere der Stiftung zum Ausdruck kommt. Die Kompromisslosigkeit gegenüber der thailändischen Regierung hat zur Marginalisierung der traditionellen ulama und zum Austrocknen der traditionellen pondoks geführt.

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Alexander Horstmann

Nostalgie im Netz der neuen Medien Die neuen Medien stellen neue Möglichkeiten bereit, kulturelle Identitäten zu verpacken und zu verbreiten (Hannerz 1992). Die Aneignung sozialer Realitäten und Medieninhalte hat unter den Bedingungen der kulturellen Globalisierung eine neue Dimension bekommen. Die als Bewegung organisierte Mittelschicht nutzt Kommunikationsnetzwerke und Medientechnologien, um in ihren eigenen Medien kulturelle Sichtbarkeit herzustellen und so an der Distribution ihrer Inhalte in der Mediengesellschaft in einem Kontext rascher politischer Transformation zu partizipieren. Songkla Talk ist das Kernstück der Radiostation Core Radio, doch mittlerweile gibt es bereits mehrere Sender, die über die Aktionen von Songkla Prachakom berichten. Am Anfang mietete Songkla Forum Sendezeit von einem lokalen Sender im Besitz der Thai Navy. Inzwischen senden die Journalisten ihre Programme jeden Tag und nutzen dazu die an den Universitäten befindlichen Radiostationen. Zweifellos hat diese regelmäßige Radioausstrahlung die Präsenz der Bewegung erhöht. Die Produktion und Institutionalisierung kleiner Medien ermöglicht neue Sinnkonstruktionen, die von den Medieninhalten der konventionellen Massenmedien scharf abgegrenzt werden. Das Radio eröffnet neue Möglichkeiten, Rituale der Authentizität im öffentlichen Raum zu inszenieren. Dabei werden die Meinungsführer von Songkla Forum sehr schnell in Songkla bekannt und mutieren zu veritablen Medienstars, die einen weiten Hörerkreis haben. Die neuen Sinnkonstruktionen (Heimat-Kampagne) werden in der Form der Mund-zu-Mund-Propaganda sehr effektiv weitergereicht. Diese schnelle und effektive Verbreitung von Strategien und Programmen ist typisch für die kleinen Medienhersteller. Im Radio wird das Publikum angesprochen, eingeladen (»willkommen in der Familie«) und es werden neue Mitglieder für die Sache von Songkla Prachakom gewonnen. Im Medienraum des Radios wird der Zuhörer in den Bann der Medienproduzenten gezogen. So hat z. B. eine Sendung die Form einer Meditation angenommen, die einen geführten Spaziergang darstellt, der die Teilnehmer zu einem Tempel (wat) am Thalesap Songkla (Songkla Lake) führt. Das Thema der Sendung ist die Gefährdung des ökologischen Systems des Thalesap Songkla. Aus dem Kontext der neo-buddhistischen Lehre von Phra Bhuddhadasa kann die Einheit des Menschen mit der Natur und unsere Verantwor-

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tung für die Natur begründet und als spirituelle Grundlage strategischen Handelns genutzt werden. In diesem Sinn ist der Spaziergang ein Akt der Meditation, in dem die Teilnehmer sich auf die Natur konzentrieren und ihre Atmung kontrollieren. Eine Aufnahme vom Phra Buddhadasa, die geschickt in die Sendung eingefädelt wurde, ruft seine Anhänger auf, die heilige Natur zu schützen. Auf diese Weise gelingt es der Bewegung, eine Kampagne zur Begrünung Songklas und über die Umweltverschmutzung Songklas medial zu begleiten. Aus der Kampagne ist eine Tagung hervorgegangen, in der Akademiker und NROs über die Zukunft des Ökosystems Thalesap Songkla diskutierten. Dabei wurde auch das lokale kulturelle Erbe betont. Der Thalesap Songkla gilt auch als Wiege der buddhistischen Kultur in Südthailand. Die »Sinnbastler« der Lebensstilgruppe in Songkla machen regen Gebrauch von den neuen Kommunikationstechnologien, um die Traditionen medial in Szene zu setzen und Diskurse um Werte, Moral, lokales Wissen und lokale Intellektuelle in den öffentlichen Raum zu bringen.15 Die neuen Medientechnologien werden im Zuge der Inszenierung authentischer Kultur enthusiastisch angeeignet. Indem sie eine kulturelle Nische in der medialen Lebenswelt Südthailands besetzen, spielen islamische Medien eine tragende Rolle in der Organisation religiöser öffentlicher Räume in Patani. Die Koranlesung der religiösen Spezialisten wird zu einem öffentlichen Ereignis, das medial in die privaten Räume der Zuhörer weiter getragen wird. Audiokassetten mit religiösen Inhalten haben einen wichtigen Platz im Alltag muslimischer Konsumenten eingenommen. Im Kontext der Inszenierung des Korans als massiver Lebensstilapparat und Tugend werden charismatische islamische Gelehrte zu Medienstars, die ihre eigenen habituellen Stile entwickeln. Islamische Medien helfen bei der Transformation des Selbst, geben klare Lebens- und Verhaltensregeln und Anleitungen. In der konzentrierten Lesart der islamischen Medien steht das Lernen im Vordergrund. Indem jugendliche Zuhörer die auf Audiokassetten gebannten Ausführungen verteilen oder immer wieder im Kreis der Vertrauten, der Familie oder der Freunde hören, intensivieren sie ihre Heilserfahrungen und ihren Erwerb religiöser Kompetenzen. So werden in Diskussionskreisen über die islamische Lehre Medienräume eingerichtet, die den Zuhörern eine Orientierung in der thailändischen Lebenswelt geben. Der Gebrauch der islamischen Medien unterstützt so die sinnstiftenden, den Alltag strukturierenden

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Praktiken und konstruiert Islam als einen Kode, der fundamentale Bedeutung für die Beschreibung von Selbst- und Fremdbildern eines »guten Muslims« hat. Die Teilnahme an den öffentlichen Lesungen der islamischen Gelehrten und der Konsum der Audiokassetten haben die Form eines Gebets. In diesem Gebet werden Bilder des Himmels und der Hölle kontrastiert. Der Zugriff auf die Öffentlichkeit: Politische Karrieren in Songkla Ban Kert – Heimat als Sinnkategorie sozialen Handelns Die sinnstiftende und sinnkonstituierende symbolische Aneignung von Heimat ist das Herz der politischen Kampagne der sozialen Bewegung in Songkla. Die nostalgische Rückbesinnung auf die ursprüngliche Kultur legt den Blick für eine verständliche, zugleich hoffnungslose Suche nach der verloren gegangenen Authentizität frei. Die Zerstörung der ursprünglichen thailändischen Lebensweise wird verantwortlich gemacht für eine moralische Krise, in der sich Thailand befände und aus deren Joch das Land sich befreien müsse. Die Lebensstilbewegung in Songkla übernimmt die essenzialistische Definition thailändischer Kultur und Lebensweise und konfrontiert diese mit einer lebenszerstörenden Zivilisation, in der ein wilder Kapitalismus die Tugenden der thailändischen Lebensweise im Keim zu ersticken droht. Watthanatham Chumchon: Die Kulturgemeinschaft thailändischer Intellektueller Die Lebensstilbewegung in Songkla entlehnt ihre kulturellen Bilder aus den Schriften führender thailändischer Intellektueller (Suchart 1999), die die Kommunikation von Moral und buddhistischer Ethik als wichtiges Sujet behandeln.16 In der späten Moderne und der scheinbar grenzenlosen Expansion der materialen Kultur haben Diskurse über die thailändischen Werte und die thailändische Lebensweise Konjunktur (Suchart 1999): Siam wird in einer Krise gesehen, die am Einfluss der westlichen Entwicklung und des Massenkonsums festgemacht wird. Die Auflösung der familialen Bindungen sei das Zentrum dieser Krise. Der Diskurs stützt sich auf den Theravada Buddhismus, der, von der Folie der Sangha losgelöst, eine wichtige

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Rolle bei der Rekonstruktion der Kulturgemeinschaft spielen soll, und hat eine latent antiwestliche Ausrichtung, in der thailändische Werte und die thailändische Lebensweise als überlegen angesehen werden. Muster politischer Legitimation: Die Lehre von Phra Buddhadasa Suan Mokh, der Tempel des ehrwürdigen Phra Buddhadasa, kann zweifellos als das einflussreichste spirituelle Zentrum im gegenwärtigen Thailand gelten. Suan Mokh ist im Lauf der 1980er Jahre ein Zentrum des Tourismus, der Meditation und der Besinnung geworden. Die moderne, rationale Begründung des Theravada Buddhismus ist besonders von Mittelschichtangehörigen, akademischen und intellektuellen Kreisen enthusiastisch aufgenommen worden. Anhänger identifizieren sich als Mitglieder der Bewegung auf der Basis kultureller Intimität und persönlicher Widmung. »Buddhadasa hat mein Leben verändert« ist ein Satz, der von Mitgliedern oft wiederholt worden ist. Die städtische Lebensstilbewegung inkorporiert die tugendhafte Lebensführung, übernimmt die Art der Atmung, der Ernährung, der Kleidung und des Äußeren als habituellen Stil und nutzt sie als Ressource, um individuelle Lösungen für individuelle Krisen zu finden. Die politische Intervention wird in der buddhistischen Lehre begründet. Zur Selbstbeschreibung der aufgeklärten, modernen Buddhisten zieht die Bewegung die Lehre von Phra Buddhadasa heran, deren Lebensführung beispielhaft ist und deren Bildungsvorsprung ihre Führung im öffentlichen Raum rechtfertigt. Pannipa formuliert: »Wir wollen die Lehre Buddhadasas als spirituellen Rahmen für unsere Aktivitäten propagieren.« Die Autorität Buddhadasas bleibt unangetastet. Politische Karrieren in Songkla Fast unbemerkt profilieren sich Persönlichkeiten aus Bildungsinstitutionen, die innerhalb der politischen Arena persönliche Karrieren vorbereiten. Diese Personen haben durch ihre engen freundschaftlichen Beziehungen ein dichtes Netzwerk gesponnen, in dem sich soziale Macht konzentriert. Im Rahmen ihrer Interventionen sind sie auf Tuchfühlung mit Zentren der Macht gegangen. Die Etablierung eines Bürgerhauses symbolisiert den Anspruch der Repräsentation genauso wie das Ethos einer bürgerlichen Gemeinschaft. Wie Ajarn Aree sagt:

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Damit drückt Aree aus, dass Songkla Prachakom Gehör findet und nicht mehr ignoriert werden kann. Zugleich drückt er den Anspruch aus, dass er sich in Zukunft in der lokalen Machtkonstellation einbringen wird. Ajarn Aree qualifiziert sich über sein Engagement in der Lebensstilbewegung für politische Ämter. Bekanntheitsgrad, Reputation und Charisma öffnen Tore zu politischen Karrieren in politischen Parteien. Der Führungskreis hat wichtige Ämter im öffentlichen Raum besetzt. Politische Allianzen Die Popularität der Lebensstilbewegung im öffentlichen Raum spielt in einer politischen Ökonomie der Präsenz eine große Rolle. Trotzdem sind sich die Führungsmitglieder ihrer Machtlosigkeit wohl bewusst. Die Bilder der guten Gesellschaft werden immer wieder gemalt, bleiben aber ohne gesellschaftliche Folgen. Die politischen und ökonomischen Herrschaftsstrukturen, die von der Bildungselite so stark angegriffen werden, bleiben unangetastet. Trotzdem hat Songkla Prachakom die politische Landschaft verändert. Es ist dieser Bewegung gelungen, unterschiedliche soziale Kräfte zu bündeln und Vertreter des Staates, der NROs und der Wirtschaft einzubinden. Aree: »Die NROs müssen sich auf unsere Strategie umstellen. Sie sind dem Staat zu antagonistisch eingestellt. Die Regierung braucht uns. Sie stehen den drängenden Problemen hilflos gegenüber. Die Unternehmer wollen mit uns kooperieren. Wir werden versuchen, die Unternehmen zu beteiligen und so von innen her zu verändern. Alle Vertreter achten unsere moralische Autorität.«

Songkla Prachakom hat ein dichtes Netzwerk von Organisationen in Songkla gesponnen (»City-net«), in dem sich NROs (z. B. zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Slums), Vereine (z. B. die Umweltschutzgruppe Klum Rak Kukud) und Berufsorganisationen (z. B. die Handelskammer) koordinieren. Darüber hinaus unterhalten Pannipa, Aree und Chamnong intime Netzwerke mit zivilgesellschaftli-

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chen Institutionen in Bangkok sowie mit Bürgerbewegungen in Pethburi, Chiangmai und Korat. Songkla Prachakom ist also immer mehr in Prozesse nationaler Integration eingebunden, was auch eine wachsende Koordination und Formalisierung der Organisationsformen erforderlich macht. Führende Intellektuelle Thailands werden gezielt eingeladen, um die eigenen Aktivitäten symbolisch zu legitimieren und aufzuwerten. Dr. Prawes Wasi wurde 1996 zur Eröffnungsveranstaltung von Songkla Prachakom eingeladen, um einen Vortrag über buddhistische Spiritualität zu halten. Außerdem wurde der respektierte Politiker, Unternehmer und Intellektuelle Anand Panyarachun zur Gründung des Projekts für politische Reform in Songkla geladen. Der Diskurs der Lebensstilbewegung in Songkla stützt sich also eng auf die Diskurse führender thailändischer Intellektueller, artikuliert aber auch die Authentizität der Lokalität Songklas, die freilich in Konzepte thailändischer Kultur und Lebensweise eingebettet ist. Ethnisierung der Identitätsdiskurse in Songkla In den kulturellen Revitalisierungsbestrebungen von Songkla Prachakom entsteht eine neue, intime Gemeinschaft. Die kulturelle Intimität entsteht durch die Rekonstruktion der thailändischen Kultur und der thailändischen Identität. Die Projektteile dieser etwas essenzialistischen Zuschreibung der thailändischen Lebensweise werden hervorgehoben. Ein Baustein der Pflege der ursprünglichen Kultur ist die Besinnung auf die lokalen Traditionen. Modell ist das intime Dorf und nicht die anonyme Stadt, das Bild des vergangenen Songkla und nicht des verschmutzten Songkla, des prächtigen Tempels und nicht des sinnentleerten Tempels, des lokalen Essens und nicht des Fastfoods, des bunten Marktes und nicht des Supermarktes usw. Der Diskurs arbeitet also mit Dichotomien, die Bilder der guten und der schlechten Gesellschaft miteinander kontrastieren. Der in der Bildersprache der Praktiken präsentierte Entwurf ist in jedem Sinne eine Utopie und hat keine Entsprechung in der sozialen Wirklichkeit. Die beinahe fetischhaft anmutenden Praktiken der Mittelklasseangehörigen inszenieren die Nostalgie einer authentischen Kultur, die der traumatischen Erfahrung der Moderne entgegengesetzt werden soll. Die Bildungspartizipation und das damit verbundene soziale Prestige sowie die auf dieser Basis entwickelten Strategien der Differenz und Distinktion ermöglichen

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Mittelschichtangehörigen mit sozialer Aspiration Agency in den neuen öffentlichen Räumen. Die Bewegung beruft sich auf die vermeintliche Eigenständigkeit der »thailändischen Kultur« und »ethnisiert« sich. Die Reorganisation der islamischen Öffentlichkeit in Patani Islamische Netzwerke Die verbesserten Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten haben in Patani zu einer finanziellen Unterstützung der islamischen Erziehung in bisher unbekanntem Ausmaß geführt und das für die islamischen Kernländer so marginale Patani in globale islamische Netzwerke integriert. Die Süd-Süd-Beziehungen zwischen Patani und dem Mittleren Osten haben schon seit Jahrhunderten Gelehrte in Patani und im benachbarten Kelantan geprägt. Aber diese Netzwerke haben eine neue Qualität erfahren, in der die islamische Erziehung eine wichtige Rolle spielt. Islamische Gelehrte, die sich an den Hochburgen islamischer Erziehung in Ägypten und Saudi-Arabien, aber auch in vielen anderen Ländern der muslimischen Welt aufhalten, genießen in Patani hohes Ansehen und hohen gesellschaftlichen Einfluss. Ihre soziale Macht ist in diese Netzwerke und Kontakte eingebettet. In einer Situation, in der es zu einer relativen Verarmung Patanis in einem Kontext rascher Kommerzialisierung und Marktausdehnung kommt, stärken Auslandskontakte und materielle Unterstützung die Position dieses neuen Typs von muslimischen Intellektuellen in Patani. Im Wettbewerb mit der traditionellen spirituellen Führung (ulama), deren Führungsrolle radikal angezweifelt wird, spielt die Mobilisierung der Mittelschicht eine besonders wichtige Rolle, da Studenten und Akademiker bereit sind, sich der pädagogischen Autorität Ismail Lutfis und seinem Bildungsvorsprung zu unterwerfen. Durch den kulturellen Austausch führen diese textorientierten Skripturalisten einen neuen »ägyptischen« Habitus ein, der das arabische Rezitieren des Korans, neue Arten des Gebets, der Atmung und der Lektüre, der Kleidung, der Imagination, eine neue Lebensführung und eine neue Weltsicht in die Lokalität Patanis einführt und als neue Normen auch durchsetzt.

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Die Rekonstruktion der islamischen Erziehung Die Rekonstruktion islamischen Wissens ist ein grundlegendes Element der Strategie der fundamentalistischen Bewegung in Patani, die islamische Öffentlichkeit zu organisieren. Die Modernisierung der traditionellen Institutionen islamischen Wissens steht im Zentrum der Bemühungen der fundamentalistischen Bewegung, einen neuen islamischen Stil einzuführen. Tatsächlich ist die pondok das Herz der islamischen Kultur in Thailand. In der pondok wird das islamische Wissen weitergegeben. Die neuen religiösen Spezialisten, die aus Kairo und Riad zurückkommen, stellen dieses Wissen in Frage. Der Ruf und die Popularität einer pondok hängt stark vom Charisma des Lehrers ab. In einer Situation, in der sich der Staat von den pondoks zurückzieht, verarmen viele islamische Schulen. Die neu gegründeten islamischen Schulen, die von den Eltern, dem thailändischen Staat und Saudi-Arabien finanziell unterstützt werden und relativ wohlhabend sind, stellen eine Machtbasis der modernen Bewegung dar. Dieser Typ von pondok führt ein Regime ein, das mit der Lebensweise der traditionellen ulama bricht. Die pondok ist nicht nur eine Stätte des Lernens, sondern Mittelpunkt im Leben der Schüler und Lehrer, die das intime Verhältnis aus der traditionellen pondok übernehmen. Die neue islamische Erziehung ist geprägt durch einen massiven Lebensstilapparat, der den Alltag der Schüler / Anhänger strukturiert. Dieses Lebensstilregime wird auch in Institutionen höherer Bildung eingeführt. Dr. Ismail Lutfi ist Direktor des neuen Seminars für Islamische Erziehung in Yala, in dem – in Vereinbarung mit dem thailändischen Erziehungsministerium – ein Hochschulabschluss in islamischer Theologie erworben werden kann. Das College for Islamic Studies versteht sich als ein ganzheitliches Institut, in dem die islamische Ethik die Orientierung für die Lebensführung der Studenten vorgibt. Indem dieser rigorose, textorientierte, arabische Stil in den wichtigsten Institutionen islamischer Erziehung durchgesetzt wird, gewinnt der neue Stil an Einfluss und Macht in der islamischen Öffentlichkeit. Die Schüler nehmen den neuen islamischen Stil und seine habituellen Elemente an und legen im Laufe ihrer Sozialisation in der madrasah ihre alte Identität ab.

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Die islamische Öffentlichkeit Auf der Basis der Rekonstruktion der traditionellen islamischen Erziehung im Rahmen der internationalen Netzwerke entstehen neue öffentliche Räume innerhalb der thailändischen Lebenswelt, die von der fundamentalistischen Bewegung besetzt werden. Die neuen Gelehrten werden zu kulturellen Brokern zwischen der lokalen und der globalen Sphäre. Muslimische Studenten und Akademiker in Patani erhoffen sich durch ihre Teilnahme an islamischen Diskussionskreisen, Bildungsangeboten und Lesungen, Zugang zu islamischem Wissen zu bekommen und ihre Partizipation an der islamischen Moderne zu sichern. Studenten, Universitätsangehörige und Vertreter anderer Berufe fühlen sich durch Lesungen von Dozenten wie Ismail Lutfi auch emotional in den Bann gezogen und fühlen ihre Teilnahme an den Vorlesungen Lutfis als Schritt in die Richtung eines guten, die Regeln korrekt befolgenden, kompetenten Muslims. Die Modernisierer nutzen die Freiräume des politischen Systems, um ihre politischen Interessen auf demokratischem Weg voranzubringen. Die Ethnisierung der islamischen Öffentlichkeit Die moderne intellektuell-orthodoxe Bewegung, die urbane und rurale Segmente vereint, hat zu einer fundamentalen Reorganisation der muslimischen Lebenswelt innerhalb der thailändischen Öffentlichkeit geführt. Sie hat einen neuen religiösen Stil eingeführt, der das Religiöse in der alltäglichen Lebensführung akzentuiert. Eine neue Generation religiöser Broker, die sich über längere Zeit in Kairo oder Mekka in den Hochburgen der islamischen Renaissance aufgehalten haben, spielt eine führende Rolle in der Einführung des neuen Stils. Diese religiösen Spezialisten, die in kosmopolitische islamische Netzwerke einer intellektuell-orthodoxen Hochkultur eingebettet sind, werden in der lokalen muslimischen Arena mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Die massive politische Intervention, die nicht nur mit den lokalen Traditionen bricht, sondern auch eine Purifizierung prä-islamischer Rituale vornimmt, provoziert den Widerstand der muslimischen Bruderschaften, für die Ismail Lutfi ein Verrückter ist und für die die neuen habituellen Stile fanatische Ideen sind. Die mystische sufitische Bruderschaft ist in der Defensive, weil

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sich der Staat aus der islamischen Lebenswelt zurückzieht, die Malaien der Armut überlässt und sie damit auch finanziell austrocknet. In dieser Situation haben die »Kosmopoliten« großen Zulauf, weil sie, anders als die »Lokalen«, in institutionelle Netzwerke in Malaysia, Ägypten, Saudi-Arabien und den USA eingebettet sind. Während es fast allen pondoks an allem mangelt, kristallieren sich in den Institutionen höherer islamischer Bildung sehr gut ausgerüstete Institute heraus, die eine Vorbildfunktion für die soziale Ordnung haben, wie sie die »Kosmopoliten« etablieren möchten. Während es für die Mehrheit der Malaien im buddhistischen Thailand kaum Zukunftsperspektiven gibt, ermöglicht die Teilnahme am neuen, rigorosen Lebensstil den Unterschichten, einen Zugang zu den transnationalen islamischen Netzwerken zu bekommen, Thailand für einen Bildungsaufenthalt in den islamischen Kernländern zu verlassen und durch die Demonstration neuer Kompetenz Zugehörigkeit zur islamischen Moderne auszudrücken. Die rigide Durchsetzung des neuen textbasierenden Regelwerks in den wenigen ägyptischen oder arabischen pondoks wird auf die gesamte islamische Lebenswelt ausgeweitet, die dadurch der orthodoxen Zensur unterworfen wird. In der korrekten Anwendung des puristischen Islams treffen sich Modernisierer wie Dr. Hasan und Fundamentalisten wie Dr. Lutfi. Diese Kampagne zur Purifizierung wird, wiederum ausgehend von der Disziplinierung und Durchstrukturierung der pondok, auf den Alltag ausgeweitet und betrifft die Säuberung von Ritualen (auch Gebeten) und Festen wie Beerdigungen und Heiratszeremonien, von so genannten prä-islamischen Traditionen sowie die Neuordnung und strenge Segregation der Geschlechter, die neue Kleiderordnung und das Verbot Sinne stimulierender Poesie, Tanz und Musik. Die neue Art des Gebets, des Äußeren und der rigorosen Lebensführung symbolisiert das Ende der laxen religiösen Praxen des synkretistischen Islams im malaiischen Archipel. In den durchstrukturierten »arabischen« Institutionen islamischer Bildung wird Macht gebündelt. Modernisierer und Fundamentalisten verbinden ihr kulturelles Projekt der Rekonstruktion des lokalen muslimischen Feldes mit einer Integration der Muslime in das politische System Thailands. In der alltäglichen Lebenswelt signalisiert der neue islamische Stil in Kleiderund Essensordnung sowie im Lebensstilregime rigorose Grenzziehungen zu den buddhistischen Thais. Die Lebens- und Konsumwelten der buddhistischen Thais finden in unmittelbarer Nähe statt und werden

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als Hölle demonstrativ verurteilt. Die Akzentuierung des Religiösen führt zu einem neuen Selbstbewusstsein der an der Rekonstruktion des Islams beteiligten Muslime. Der Islam wird zu einem Symbol der Stärke in einem Kontext der kontinuierlichen Verhandlung der islamischen Identität in Thailand. Auch hier ermöglicht das soziale Prestige, das mit der Akzentuierung des Religiösen verbunden ist, den Mitgliedern Handlungsspielraum in neuen öffentlichen Räumen. In den Präsenzkämpfen gewinnt die fundamentalistische Bewegung an Boden. Die Islamisierung des politischen Alltags führt zu einer Reimagination der muslimischen Gemeinschaft in Thailand. Identitätspolitik in Südthailand Das öffentliche Leben wird maßgeblich von Bewegungen getragen, die sich leidenschaftlich mit der soziokulturellen Veränderung in Südthailand auseinander setzen. In diesem Kommunikationsprozess werden Lebensstile als Zeichen zur Beschreibung von Unterschieden besonders akzentuiert und kommunikativ konstruiert. Hier wird die interessante Frage aufgeworfen, welche Rationalität der Akzentuierung von Lebensordnungen für die an der Identitätspolitik in Südthailand beteiligten Akteure zu Grunde liegt. Welche Bedeutung hat es, wenn Bildungsanghörige in Songkla einen geführten Spaziergang zu einem alten buddhistischen Tempel am Thalesap Songkla veranstalten und diesen anschließend in der eigenen Radiostation vorstellen? Welche Rationalität steht hinter dem Diskurs eines islamischen Gelehrten in weißer Kleidung, der in arabischer Sprache den Koran zitiert, in den malaiischen Patani-Dialekt überwechselt und die islamische Lebensordnung nicht nur erläutert, sondern ihre Anwendung im Alltag befiehlt? Die Akzentuierung der Lebensstile ist deshalb so wichtig, weil die so gewonnene Symbolik die Voraussetzung für die Präsenz im öffentlichen Raum und für strategisches Handeln darstellt. Die bereitgestellten Sinnangebote haben eine immanente kulturelle Relevanz in der Lebenswelt der an der Identitätspolitik beteiligten Akteure. In Anlehnung an Karl Mannheim (1978) können wir von utopischem Denken sprechen: In der »Hölle« Hatyais hat die Erinnerung an die bäuerliche Vergangenheit keine Entsprechung in der sozialen Wirklichkeit. Ge-

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nauso wenig entspricht die Nostalgie des goldenen Zeitalters der Realität der lokalen muslimischen Lebenswelt. Immer wieder werden im Diskurs von Songkla Prachakom soziale Ängste vor anonymer Marktmacht, Gewalt und Chaos geschürt. Bilder der Familie rücken in den Mittelpunkt der kulturellen Intimität. Die Ban-Kert-Kampagne vergleicht die lokale Gesellschaft mit einem Haus, in dem die thailändischen Werte und die Lebensweise aufgehoben sind. Die Revitalisierung der Familie und der familiären Bindungen ist das Herz der imaginierten sozialen Ordnung. In dem Ereignis »Lernfestival« werden neue urbane Räume geschaffen, Lernräume, Spielplätze, in denen eine fröhliche, heitere Atmosphäre herrscht und in der die Mitglieder des Songkla Forums die Elternrolle einnehmen. Die Akzentuierung der indigenen Traditionen ist der Ausgangspunkt sinnstiftender Praktiken, durch die moralische Räume konstruiert werden. Eine Art der Meditation, der Kleidung, Folklore und Lebensführung wird in dieser Kommunikation mit den »Anderen« als Zeichen verwendet. Diese Zeichen werden medial – mit Hilfe der eigenen Radioprogramme – verbreitet. In den kulturellen Revitalisierungsbestrebungen werden Fragen der Lebensführung zu Fragen der sozialen und politischen Legitimität aufgewertet. Im Mittelpunkt der Identitätsdiskurse steht die Zelebrierung des Authentischen. Wie bereits angesprochen, steht die Produktion und der Konsum kultureller Bilder des guten Lebens in Songkla im Zusammenhang mit Diskursen führender thailändischer Intellektueller und NROs und setzt sich kommunikativ mit den Bedingungen der späten Moderne auseinander. Es ist auffällig, dass es an mehreren Orten zur Revitalisierung des Authentischen kommt (vgl. Stauth 1999, 2000). Die Wertschätzung der thailändischen ruralen Tugenden wird mit der Ächtung der anomischen Strukturen der Moderne verglichen. Das Authentische spielt dabei eine wichtige Rolle als sinnstiftender Kode, der in Globalisierungsprozesse eingewoben ist (Schlee / Werner 1996: 9-36). Die Akzentuierung des Authentischen ist auch der Ausgangspunkt der Rekonstruktion des Islams (Stauth 2000). Hier wird über das Bild der islamischen ursprünglichen Gemeinschaft des Propheten kulturelle Intimität erzeugt. Die Art des Gebets, des Äußeren (insbesondere der Verschleierung), des halal etc. bilden jeweils die moralischen Kodes, die in der Kommunikation mit den »Anderen« maßgebend sind. Im

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verarmten, zerrütteten Patani weckt die Nostalgie des goldenen Zeitalters Selbstbewusstsein und soziale Anerkennung. Islamische Medien – Bücher und Audiokassetten – spielen eine wichtige Rolle in der Produktion und dem Konsum der Bilder vom guten Leben. Auch hier spielen Ideologien über die Familie, Geschlechter und Lebensführung wieder eine wichtige Rolle in der imaginierten sozialen Ordnung. Die rigoros durchstrukturierte madrasah ist das Modell der imaginierten guten Gesellschaft. Die intime Gemeinschaft steht in vielfältigen Austausch- und Kommunikationsbeziehungen, die Südthailand mit der islamischen Welt integrieren (Horstmann 1999). In der Identitätspolitik Südthailands ist es zu einer Moralisierungslawine gekommen. Die Moralisierungsakteure teilen die Beteiligten nach einem binären Schema in gut und böse ein. Die moralisierende Beschreibung der schlechten Gesellschaft (z. B. die Auflösung der familiären Strukturen, Prostitution und Sexualität) und die darin enthaltenen Bewertungskriterien sorgen für eine Polarisierung in gute und böse Gesellschaft. Diese Grundhaltung der Wertschätzung und moralischen Beurteilung legt gewissermaßen die Grenzen der Gesellschaft fest: Sie stiftet den Anhängern einerseits das Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität, was den Gerechtigkeitsvorstellungen der Lebensstilbewegung entspricht. Sie enthält andererseits Elemente der Ächtung, durch die mit Hilfe sprachlicher Mittel Außengrenzen definiert und Machtansprüche angemeldet werden. Es handelt sich um eine machtvolle Kommunikation, weil die Zuerkennung moralischer Qualitäten zu Achtung und sozialer Anerkennung, der Entzug gerade dieser Qualitäten jedoch zu Ächtung und Verweigerung der Anerkennung des »Anderen« führt. Es zeigt sich, dass die in der Interaktion verwendeten moralischen Kodes in einem großen Kommunkationszusammenhang stehen. In Südthailand bildet sich ein politischer Diskurs jenseits ethnischer Grenzen heraus, der sich auf die kulturelle Symbolik der an der Identitätspolitik beteiligten Akteure stützt. Diese kommunikativen Konstruktionen sozialer Ordnung akzentuieren moralische Wertmaßstäbe, in denen Lebensstile einen vornehmen Platz einnehmen. Man könnte sagen, dass sich die ethnischen Segmente mittels ihres nostalgischen Rückgriffs auf Authentizität in ihrer Interaktion mit dem »Anderen« gewissermaßen selbst »essenzialisieren«. In diesem Prozess der Ethnisierung der kulturellen Bilder des guten Lebens, der räumlich an be-

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stimmte Orte gebunden ist, greifen die Akteure auf den lokalen Wissensvorrat zurück, stellen diese Sinnressourcen aber sofort in nationale und globale Kommunikationszusammenhänge. Dies zeigt, dass es die Intensivierung der interethnischen Interaktion und Kommunikation ist, die den Wandel in Südthailand vorantreibt. Es war die Aufgabe dieses Beitrags, der in dieser kommunikativen Interaktion zwischen Buddhisten und Muslimen verwendeten kulturellen Symbolik nachzugehen, um ihre Projekte, Entwürfe und Machtansprüche in der Öffentlichkeit zu verstehen. Anmerkungen 1 Der vorliegende Aufsatz stützt sich auf mehrere Forschungsaufenthalte in Südthailand 1995 / 96, 1998 und 1999. Er ist der Studie »The Making of a New Middle Class: Social Space and the Production and Consumption of Cultural Images in Southern Thailand« (2000) entnommen. Mein besonderer Dank gilt den Gutachtern meiner Dissertation, Prof. Hans-Dieter Evers und Dr. Georg Stauth. Eine leicht veränderte Fassung dieses Beitrags habe ich auf dem Kongress 2000 der DGS in Köln vorgestellt. Für konstruktive Anregungen möchte ich mich bei Prof. Reinhart Kössler, Dr. Dieter Neubert und Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka bedanken. Mein aufrichtiger Dank gilt dem Leser Horst Haus. 2 Siehe die Anthologie von Donnan / Wilson 1998 für eine systematische Einführung des Begriffs »Grenzlandschaften« und Horstmann (2000b) für seine Anwendung auf Südostasien. Die »Grenzlandschaft« weist eine spezifische politische Ökologie auf, welche die ethnischen, religiösen und sprachlichen Grenzen des territorialen Nationalstaats markiert. 3 Die urbanen Hafenzentren Südthailands waren in der Geschichte immer auch bedeutende Orte der kulturellen Begegnung, des wirtschaftlichen Austausches und der politischen Macht (Cushman 1991). 4 In diesem Zusammenhang argumentiert etwa Appadurai (1995), dass die vielen subtilen Formen der sozialen Organisation, der Rituale und der kulturellen Symbolik als Techniken betrachtet werden sollten, Lokalität herzustellen bzw. zu »produzieren«. »Südthailand« ist eine Konstruktion des Nationalstaats, der von der Ba-

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sis des Staatsgebiets Thailand in vier Regionen unterteilt (Zentral-, Nord-, Nordost- und Südthailand). Hier soll betont werden, dass es konkurrierende Gesellschaftsmodelle in Südthailand gibt und Südthailand unterschiedlich vorgestellt und rekonstruiert wird (vgl. Rajah / Acharya 1999). Unter »Lokalität« verstehen wir einen Raum, der gerahmt und mit Sinn versorgt wird (Appadurai 1995; Lovell 1998). Das Konzept konkurrierender Lokalitäten wurde in meiner Dissertation entfaltet (Horstmann 2000a). Aus einer Fülle von empirischen Beispielen von Lokalitäten seien hier die Beiträge in Stauth / Buchholt (1999) und Peleikis (in diesem Band) genannt. Für Vorarbeiten zu Südthailand bzw. Projekte mit ähnlicher Stoßrichtung siehe Chaiwat (1992, 1993, 1994) und Nishii (1999). Dazu möchte ich anmerken, dass der Diskurs über Moral, Moralen und den Verfall der Moral ein zentraler Kode ist, der in der Transkription meiner qualitativen Diskursanalyse immer wieder aufgetaucht ist (Horstmann 2000a, Kap. 12). »Öffentlichkeit« und »öffentlicher Raum« sollten nicht mit im eurozentristischen Blickwinkel gefangenen Konzepten verwechselt werden. Es geht um die alltäglichen Formen der Artikulation und Formen der sozialen Organisation, um die Aneignung des öffentlichen Raums (vgl. Gledhill 1994; Hann 1996). Dieses Konzept folgt der Überlegung Bourdieus, der in den Klassifikationskämpfen in der sozialen Arena einen fundamentalen Motor der Organisation sozialer Beziehungen sieht (Bourdieu 1979). Das kulturelle Repertoire ist der lokale Referenzrahmen der beteiligten Akteure. Die Akteure können nicht Zeichen und Symbole außerhalb dieses Repertoires, das den Vorrat des lokalen Wissens bezeichnet, verwenden. Ein thailändisches Sprichwort steht für ein Bild der harmonischen Dorfgemeinschaft: »In den Feldern gibt es Reis, im Wasser gibt es Fisch«. Dieses Bild wird mit der städtischen und ländlichen Armut der Gegenwart konfrontiert. Die soziale Lage der Bauern in der Vergangenheit wird in diesem Diskurs nicht berücksichtigt (A.H.). Die Verwendung des Sinnbegriffs stützt sich auf die Lebensweltanalysen von Alfred Schütz (1974). Der Sinnbegriff trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei den Aktivitäten der Bewegungen um sinnstiftende Praktiken handelt. Aus einer post-strukturalis-

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tischen Perspektive könnte man argumentieren, dass es zu einer Gleichzeitigkeit von Sinngewinn und Sinnverlust kommt, denn der Sinnverlust und die Desorientierung sind in dem Diskurs, der ohne Sinn nicht auskommt, immer auch präsent (vgl. Stäheli 2000). Für eine analytische Darstellung der Bewegung Phra Buddhadasas vgl. Suchira (1991). Es ist aufschlussreich, die Mobilisierung von Sinnressourcen und die Werbung neuer Mitglieder in der Bewegung Buddhadasas mit Bewegungen in Südthailand zu vergleichen. Es kommt teilweise zu Überlappungen, weil sich die regionalen Mittelschichtbewegungen an den neo-buddhistischen Netzwerken orientieren. Die thailändische Schreibweise Pattani mit »tt« unterscheidet die Provinzstadt Pattani von dem malaiischen Sultanat Patani mit »t« (A.H.). Der Begriff »Lebensstilapparat« wird eingeführt, um den systematischen Katalog von Lebensstilregeln und Lebensstilvorgaben im skripturalen Islam zu betonen. Zur Bedeutung der Lebensstile und Lebensordnungen vgl. die Studien von Stauth (2000) und Werner (1996, 1997, 1998 sowie in diesem Band). Der Ausdruck »Sinnbastler« ist von Hitzler (1997) entliehen. Er trägt dem Experimentieren mit Lebensstilen Rechnung. Diesen Intellektuellen kommt in Thailand die Funktion von Vorbildern, Idolen, Medienstars und moralischen Autoritäten zu. Besonders die Besetzung des sozialen Feldes der Moral und ihrer kommunikativen Konstruktion und Rhetorik soll hier betont werden. Vgl. die Publikationen von Prawes (1999) und Sulak (1988) für Darstellungen führender Intellektueller.

Literatur* * Das Literaturverzeichnis führt thailändische AutorInnen gemäß thailändischen Gepflogenheiten mit dem Vornamen zuerst auf. Appadurai, Arjun (1995): »The Production of Locality«. In: Richard Fardon (Hg.), Counterworks. Managing the Diversity of Knowledge, London, New York: Routledge, S. 204-225. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt / M.: Suhrkamp.

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Alexander Horstmann

Chaiwat Satha-Anand (1992): »Pattani in the 1980’s: Academic Literature and Political Stories«. SOJOURN 7, S. 1-38. Chaiwat Satha-Anand (1993): »Kru-Ze. A Theatre for Renegotiating Muslim Identity«. SOJOURN 8, S. 195-218. Chaiwat Satha-Anand (1994): »Hijab and Moments of Legitimisations. Islamic Resurgence in Thai Society«. In: Charles Keyes / Laurel Kendall / Helen Hardacre (Hg.), Asian Visions of Authority, Honolulu: University of Hawaii Press. Cushman, Jennifer W. (1991): The Formation of a Sino-Thai TinMining Dynasty 1797-1932, Singapore: Oxford University Press. Donnan, Hastings / Wilson, Thomas M. (Hg.) (1998): Border Identities. Nation and State at International Frontiers, Cambridge: Cambridge University Press. Gledhill, John (1994): Power and its Disguises: Anthropological Perspectives on Politics, London: Pluto Press. Hann, Chris (Hg.) (1996): Civil Society: Challenging Western Models, London, New York: Routledge. Hannerz, Ulf (1992): Cultural Complexity. Studies in the Social Organisation of Meaning, New York: Columbia University Press. Hitzler, Ronald (1997): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik: Eine Einführung, Opladen: Leske + Budrich. Horstmann, Alexander (1999): »Visions, Claims, and Utopia. Renegotiating Social Space for Muslims in Patani / Southern Thailand«. In: Georg Stauth / Helmut Buchholt (1999), S. 191-211. Horstmann, Alexander (2000a): The Making of a New Middle Class: Social Space and the Production and Consumption of Cultural Images in Southern Thailand, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie (unveröffentlichte Dissertation). Horstmann, Alexander (2000b): »Die politische Geographie der Grenzlandschaften in Südostasien«. SÜDOSTASIEN 3/2000. Lovell, Nadia (Hg.) (1998): Locality and Belonging, London, New York: Routledge. Madmarn, Hasan (1999): The Pondok and Madrasah in Patani, Bangi: Penerbit University Kebangsaan Malaysia. Mannheim, Karl (1978): Ideologie und Utopie, Frankfurt / M.: G. Schulte Bulmke. Nishii, Ryoko (1999): »Coexistence of Religions: Muslim and Bud-

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Identitätsdiskurse in Südthailand

dhist Relationship on the West Coast of Southern Thailand«. Tai Culture, International Review on Tai Cultural Studies 4, S. 77-92. Prawes Wasi (1999): The Self-Sufficient Economy and Civil Society: The Way to Restore the Economy and Society, Bangkok: Mor Chaoban. Ananda Rajah / Amitav Acharya (Hg.) (1999): »Reconceptualising Southeast Asia«. Southeast Asian Journal of Social Science 27 / 1. Schlee, Günther / Werner, Karin (1996): Inklusion und Exklusion: Die Dynamik von Grenzziehungen im Spannungsfeld von Markt, Staat und Ethnizität, Köln: Rüdiger Köppe Verlag. Schütz, Alfred (1974 [1932]): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt / M.: Suhrkamp. Stäheli, Urs (2000): Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld: transcript. Stauth, Georg (1999): Authentizität und kulturelle Globalisierung, Bielefeld: transcript. Stauth, Georg (2000): Kultur und moderne Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie des Islams, Bielefeld: transcript. Stauth, Georg / Buchholt, Helmut (Hg.) (1999): Investigating the South-South Dimension of Modernity and Islam: Circulating Visions and Ideas, Intellectual Figures, Locations, Hamburg: Lit. Suchart Sriyaranya (1999): Thai intellectuals: critical role and alternative discourse in the public life in Thailand, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie (unveröffentlichte Dissertation). Suchira Payulpitak (1991): Buddhadasa’s Movement: An Analysis of its Origins, Development, and Social Impact, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie (unveröffentlichte Dissertation). Sulak Sivaraksa (1988): A Socially Engaged Buddhism, Bangkok: InterReligious Commission for Development. Vichai Kanchanasuwon (1998): People’s Organisations in the Development Process of Southern Thailand. Report to National Council of Social and Economic Development, Hatyai: Prince of Songkla University (in Thai). Werner, Karin (1996): Neue Medien und neue Religionen: Islamisten in Ägypten als Medientaktiker, Universität Bielefeld, FSP Entwicklungssoziologie, Working Paper No. 253.

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Alexander Horstmann

Werner, Karin (1997): Between Westernization and the Veil: Contemporary Lifestyles in Cairo, Bielefeld: transcript. Werner, Karin (1998): Deconstructing the Issue of Islamic Fundamentalism, Universität Bielefeld, FSP Entwicklungssoziologie, Working Paper No. 286.

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»Les fils (divers) de Tanguiéta«

»Les fils (divers) de Tanguiéta«. Politische Geschichte und Identitätsprozesse in einer afrikanischen Kleinstadt Tilo Grätz

Einleitung Der folgende Beitrag befasst sich mit den Bedingungen der Konstitution kollektiver Identitäten in der Béniner Kleinstadt Tanguiéta. Anhand einer Mikrostudie werden die Bedingungen der Politisierung sozialer und kultureller Differenz in dieser Region diskutiert. Tanguiéta ist eine provinzielle Gemeinde im Norden Bénins und in gewisser Weise typisch für ähnlich große Siedlungen im heutigen Savannenraum Westafrikas. Die Stadt ist gekennzeichnet durch eine Geschichte der Einwanderung in Wellen von Migranten unterschiedlicher Herkunft, ein Wachstum in Fläche und Bevölkerungszahl seit der Kolonialzeit, eine ökonomische, religiöse, kulturelle und sprachliche Heterogenität, und sie ist ein Verkehrsknotenpunkt sowie ein regionales administratives wie ökonomisches Zentrum. Im Lichte dieses Fallbeispiels wird versucht, bisherige Erkenntnisse für die Konstitution kollektiver Identitäten im westafrikanischen Savannenraum zu nutzen und Thesen für die Bewertung interethnischer Beziehungen in Relation zu lokalen Machtstrukturen oder Machtdifferenzialen (vgl. Elias / Scotson 1990) in Tanguiéta einzubringen. Dabei gehe ich von der Prämisse der Dominanz sozioökonomischer (Groß-)Gruppen in der Region mit verschiedenen Ebenen der Integration und Exklusion aus, die in dieser Deutung vor allem distinkte mo-

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Tilo Grätz

ralische Räume etablieren. Es werden die Bedingungen ihrer Konstitution als politisch relevante und konfligierende Interessengruppen in der Vergangenheit und Gegenwart diskutiert und für die Gegenwart wird das Modell eines (ungeschriebenen) Vertragsverhältnisses in Tanguiéta vorgestellt, das jedoch ständig erneut ausgehandelt wird. Wichtig für die dominierenden Identitätsprozesse in Tanguiéta waren verschiedene Formen der Politisierung von Differenz, die vor allem an die Rolle des Staates sowie das Wirken kultureller und politischer Unternehmer aus der Region gebunden waren. Kurze Vorstellung der Untersuchungsregion Die hier in den Mittelpunkt gestellte Gemeinde Tanguiéta ist in administrativer Hinsicht eine sous-préfecture, eine ländliche Verwaltungseinheit in Bénin (einem Landkreis vergleichbar). Die staatliche Verwaltung wird am Verwaltungssitz Tanguiéta (ca. 15.000 Einwohner) direkt durch einen sous-préfet repräsentiert; hinzu kommen der Chef der Gendarmerie, der RDR (responsable du développement régional) und die Verantwortlichen staatlicher Dienstleistungseinrichtungen. Im Nordwesten Bénins, am Fuß und zum Teil an der Nordseite der falaises des Atakora-Gebirges gelegen, umschließt das Gebiet auch den nahen Pendjari-Nationalpark. Die sous-préfecture Tanguiéta besteht wiederum aus den kleineren Landgemeinden (communes rurales) von N’Dahonta, Tanongou und Cotiacou sowie der Stadtgemeinde Tanguiéta mit (bisher) sehr beschränkten Verwaltungsfunktionen. Ihnen steht ein Bürgermeister vor. Die Bewohner leben überwiegend von der Landwirtschaft, d. h. den Erträgen aus Feldbau, Klein- und Großviehwirtschaft, Jagen und Sammeln, Kleinhandel und einigen Formen von Produkttransformation (z. B. Räucherfisch, Soßenzutaten und, besonders in der Stadt, Brauen von Sorghumbier). Der Anteil der Subsistenzproduktion ist in einigen Orten der Region noch recht hoch (PNUD 1996). Die Landwirtschaft leidet unter sehr unbeständigen Regenfällen sowie einer Abnahme der Bodenfruchtbarkeit. Die effektiv nutzbare landwirtschaftliche Fläche steht zudem durch viel felsiges Terrain in einem relativ ungünstigen Verhältnis zur Bevölkerungsdichte. An Cash-Crops werden vor allem Erdnüsse und (seit einigen Jahren allmählich auch) Baumwolle angebaut. Im Zentrum Tanguiétas leben jedoch viele Klein-, Zwischen- und Großhändler, Handwerker und die

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Besitzer oder Mitarbeiter von Dienstleistungseinrichtungen. Es handelt sich um eine aus linguistischer Perspektive sehr heterogene Region mit vielen Sprachgruppen; allerdings dominiert das Dendi1 (Zima 1994) als Zweit- bzw. Verkehrssprache. Annäherung an die Bestimmung sozialer und ethnischer Beziehungen in Tanguiéta: sozioökonomische Gruppen Zunächst soll der Versuch der Rekonstruktion der wichtigsten Ebenen kollektiver Identität in der Gemeinde unternommen werden. Dieser folgt zunächst einer von außen vorgenommenen Analyse (d. h. einer von den Beteiligten u. U. nur partiell geteilten Betrachtung) und stellt zunächst ein mögliches Modell, ein sozioökonomisches Analyseraster vor. Unabhängig von multiplen und hybriden kollektiven Identitäten, die auch im Raum Tanguiéta relevant sind, ist es sinnvoll, dominante, übergreifende Integrationsformen der Bewohner dieser Region zu beschreiben. Es geht zunächst um jene Formen kollektiver Identifizierungen, die in verschiedenen Austausch- und Konfliktsituationen in der hier untersuchten Gemeinde dauerhaft relevant werden können. Hier kristallisieren sich meines Erachtens vier größere Einheiten heraus: – Angehörige der erstsiedelnden »Bauerngruppen«, – Angehörige der später eingewanderten »Händler- und Handwerkergruppen«, – Staatsangestellte und Kleinunternehmer aus anderen Landesteilen oder dem Ausland, – »Viehzüchter« der Fulbe. Zunächst folgt hier die Zuordnung nach bestimmten sozioökonomischen Kriterien. Die hier verwendeten Berufskategorien stimmen aber nicht vollkommen mit den hier beschriebenen Kategorien überein. Sie werden zum Teil auch deshalb im Text in Anführungszeichen gesetzt. Sie spielen aber in der dominanten Selbst- und Fremdsicht der Gruppe – oft unabhängig vom Anteil der jeweiligen beruflichen Aktivitäten am Gesamteinkommen der Wirtschaftseinheiten – eine große Rolle und beeinflussen zudem auch direkt und indirekt unterschiedliche Alltagskulturen innerhalb des Gemeindelebens.

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Diese generelle Einteilung macht insofern Sinn, als diese zunächst sozioökonomisch verankerten mit weiteren dominanten Kategorien der Exklusion zusammenfallen (Endogamie, Berufsgilden, Religion, Sprache etc.) sowie mit dominanten öffentlichen Diskursen bezüglich der Beziehungen zur kolonialen wie nachkolonialen Verwaltung: soziale Gerechtigkeit, moralische Normen u. a. korrespondieren, wie später an Beispielen erläutert wird. Es geht, so soll im Folgenden argumentiert werden, nicht einfach nur um eine ökonomische und soziale Komplementarität zwischen diesen Gruppen,2 unterstützt durch Endogamie und andere Faktoren der Schaffung sozialer Distanz, sondern um die daraus erwachsenden Alltagspraktiken, Formen der physischen wie symbolischen Aneignung der Umwelt, Regeln des symbolischen Austausches und rhetorische Abgrenzungsformen in der Selbst- und Fremdsicht, die u. a. auch (konkurrierende Sichtweisen der) Lokalgeschichte immer wieder bemühen und somit Distinktion erzeugen. Diese können Formen der Kohabitation und pluralen Integration in die lokale Gemeinschaft3 potenziell aufbrechen, Differenz gerade über die Artikulation unterschiedlicher Interessen thematisieren und politisieren.4 Angehörige der erstsiedelnden »Bauerngruppen« Hierzu sollen alle Angehörigen der überwiegend Landwirtschaft betreibenden gur-sprachigen Gruppen gerechnet werden, die auch ähnliche kulturelle und soziale Merkmale teilen (dazu gehören lineageStruktur, Religion, Siedlungsform etc.). Sie sind im Laufe der letzten Jahrhunderte aus dem Norden und Nordwesten in die Region des nördlichen Atakora eingewandert. Dies geschah teils auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten, teils in Folge sozialer oder kriegerischer Auseinandersetzungen. Sie sind linguistisch different, verstehen und sprechen aber meist auch die Sprache ihrer unmittelbaren Nachbarn, die der eigenen oft sehr verwandt ist und vielerorts Übergänge offenbart.5 Hierzu können die Gruppen der Gurmanceba, Byerobe, Natemba, Tankamba, Waaba, Buruba (Notba) und auch der Bebelibe gerechnet werden.6 Die Tanguiéta umgebenden Dörfer innerhalb der commune urbaine sind fast ausschließlich von den Angehörigen der einzelnen »Bauern«-Gruppen sowie einigen Fulbe bewohnt. Im Ort selbst dominieren letztere einige Stadtviertel (vor allem Tchout-

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choumbou, Yarika und Porika). Dies ist vor allem die Folge eines massiven Zuzugs seit dem Ende der 1950er Jahre. Diese Gruppen unterhalten vielfältige soziale und kulturelle Beziehungen, übernehmen Initiationsriten und heiraten untereinander (meist Nachbarn). Angehörige der später eingewanderten »Händler- und Handwerkergruppen« Vor allem im Zentrum Tanguiétas, vornehmlich in den Vierteln Djindjiré-Béri und Goro-Bani, leben seit der Kolonialzeit Angehörige muslimischer Einwanderer, die sich vor allem im Zuge des innerafrikanischen Handelsverkehrs, aber auch auf Grund der Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen am neuen Verwaltungssitz ansiedelten. Dominieren hier verschiedene Formen des Handels als wichtigste Tätigkeiten, so sind doch viele von ihnen auch in der Landwirtschaft aktiv bzw. kombinieren diese mit anderen Aktivitäten im Dienstleistungsbereich. Die Einwanderer lassen sich drei größeren Gruppen zuordnen: den Hausa (aus Nigeria und Niger eingewandert, meist Händler, aber auch Fleischer), den Zerma aus Niger und im Weiteren auch Mosi, Baatombu sowie den später hinzu gekommenen Yoruba und Igbo aus Nigeria und aus anderen Landesteilen des heutigen Bénin. Die zweite Generation dieser Einwanderergruppen ist hier geboren und hier heimisch geworden. Abgesehen von Yoruba und Igbo sind sie fest am Ort etabliert und haben nur geringe Bezüge zur Herkunftsregion ihrer Eltern. Die Händler waren zum einen entlang der Karawanenwege in die Region gekommen7 (Dramani-Issifou 1981). Im Schatten der pax colonialis wurde es ihnen möglich, weitere sichere Niederlassungen und Stationen der Karawanen zu gründen, so genannte caravansérails. Dies geschah in diesem Falle entlang der seit dem 18. Jahrhundert bestehenden klassischen Ost-West-Handelsroute zwischen dem heutigen Nigeria und Ghana. Immer mehr fahrende Händler und später auch Handwerker, die auf den Bedarf der Karawanen, aber auch auf die zunehmende Nachfrage der Kolonialverwaltung und ihren Angestellten reagierten, ließen sich fest am Ort nieder. In der Folgezeit entwickelte sich, ähnlich wie an anderen Orten Westafrikas, das Zongo (auch Zango), ein von muslimischen Händlern und Handwerkern (die auch Landwirtschaft und Gartenbau betrieben) geprägtes, sich durch urbane Lebensformen auszeichnendes Zentrum.8

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Das Zongo, zunächst meist abseits der Bauernsiedlungen gelegen, wurde zu einem eigenen Viertel mit eigenen, islamisch geprägten Regeln. Es wurde von den Besitzern der Übernachtungsmöglichkeiten dominiert und unterstand einer religiösen oder politischen Autorität. Das Zongo wurde das Synonym für die Niederlassung Fremder, geprägt vom Islam und einer übergreifenden großen Verkehrssprache (Hausa, Dendi, Dyula). Auf die Bedeutung des Zongo komme ich später noch einmal zurück (vgl. S. 313ff.). In gewisser Weise kann man einzelnen Gruppen – vor allem am Anfang der Einwanderung bis in die 1960er Jahre – auch dominante berufliche Spezialisierungen, mitunter auch bevorzugte Handelsgüter zuweisen. So waren Hausa ausschließlich Viehhändler und Fleischer, die Mosi Friseure, die Zerma Schmiede und die Igbo Ersatzteilhändler. Hausa ist nach wie vor eine weit verbreitete Sprache im Zentrum Tanguiétas; allerdings ist das Dendi die übergreifende, dominante Sprache dieser Bevölkerungsgruppen in der gesamten Region. Dendi wurde gleichzeitig zum Synonym der Bewohner des Zongo, wenngleich sich dahinter Bewohner ganz unterschiedlicher Herkunftsregionen verbergen. Demgegenüber sind jene, die ursprünglich das (inzwischen immer mehr veränderte) Dendi als Verkehrssprache mitbrachten, ethnisch eher den Songhay und den Zerma zuzurechnen. »Staatsangestellte« und »Kleinunternehmer« aus anderen Landesteilen oder aus dem Ausland Seit der Kolonialzeit sind viele Angestellte der Verwaltung an den Ort gekommen, die aus Gebieten kamen, die über einen Vorsprung hinsichtlich der Bildungsinfrastruktur (Lesen und Schreiben) oder verwaltungstechnischer oder handwerklicher Fähigkeiten verfügen. Hierzu lassen sich verschiedene ethnische Gruppen zählen: die Fon, die Yoruba, die Baatonum etc. Die Zahl der aus der Region stammenden »Funktionäre« ist nach wie vor nicht sehr hoch. Vor allem viele Lehrer kommen auch heute noch aus anderen Gebieten des Landes. Weitere »Immigranten« sind die Kleinunternehmer, Händler etc. Der Grad der Integration dieser Bevölkerungsschichten ist oft begrenzt, da sie zunächst nur mit einem vorübergehenden Aufenthalt rechnen. Sie heiraten meist in ihrer Heimatregion, in der sie auch in den Wohnungsbau

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investieren. Einige wenige dieser Personen, pensionierte Verwaltungsangestellte, sind aber am Ort geblieben. Sie sprechen, wenn es sich um »Funktionäre« handelt, außerhalb des familiären Raumes meist nur französisch. Hinzu kommen jedoch viele mit guten Dendi-Kenntnissen, vor allem Kleinunternehmer. Fulbe-Viehzüchter Eine in dieser Region marginalere Gruppe ist jene der Fulbe-Viehzüchter. Marginal sind sie insofern, als die Fulbe räumlich meist sehr separat siedeln, wenig ins kommunale Geschehen einbezogen sind und einen hohen Grad an Endogamie aufweisen. Die Mehrheit der Fulbe wohnt in Tanguiéta – in den Stadtteilen Tchoutchoumbou I und II, in Biacou und Sepounga. Die Männer der Fulbe sind in der Auftragsrinderhaltung und im Viehhandel tätig, während die Frauen Milch und Käse verkaufen. Die Fulbe sind überwiegend muslimisch und sprechen meist sehr gut die Sprache der jeweiligen Nachbarn. Ihre Situation ist durch das geringe Niveau ihrer Schulbildung gekennzeichnet, da der Schulrhythmus nicht immer mit dem Arbeitsrhythmus der Fulbe und ihren Hüteverpflichtungen korrespondiert. Im Wesentlichen müssen aber innerhalb der Gruppe der Fulbe in der Region drei Kategorien unterschieden werden: (1) Diejenigen, deren Vorfahren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach neuen Weiden vorwiegend aus Mali und dem heutigen Burkina Faso eingewandert waren, heute aber relativ sesshaft sind und wie die seit längerem Ansässigen Feldbau betreiben sowie enge Beziehungen zu den Bauern unterhalten; wenige Familien sind saisonal teilweise transhumant. (2) Eine kleine Untergruppe sind jene, die auch als Handwerker, Händler oder Funktionäre relativ sesshaft geworden sind. (3) Eine andere Untergruppe sind jene nomadisierenden Viehhirten, die, in den letzten 20 Jahren immer wieder aus dem Norden kommend, vor allem in der Trockenzeit durch die Region ziehen. Die hier vorgestellte Differenzierung entspricht keinesfalls der offiziellen ethnischen Klassifikation in Bénin, die sich immer wieder an Sprachgrenzen orientiert. Es macht aber Sinn, zunächst diese größeren, linguistische Grenzen überschreitenden Einheiten hervorzuheben, denn sie entsprechen auch markanten Unterschieden in Siedlung,

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Wirtschaft und u. a. einer nach wie vor starken Tendenz zur Endogamie dieser Gruppen bzw. Formen von innerer Integration. Die wichtigsten Kriterien für meine Einteilung sind durch – verschiedene Zeitpunkte der Einwanderung und die bevorzugten Siedlungsräume, – sprachliche Unterschiede und Heiratsregeln, – ökonomische Spezialisierung, daraus erwachsene Formen von Komplementarität, aber auch Interessengegensätzen, – differente Formen des alltäglichen Zusammenlebens und -arbeitens, – Verweise auf verschiedene religiöse und kulturelle Praktiken als Marker von Differenz, – verschiedene Arten der Selbstdarstellung und distinkte offizielle Normen bzw. moralische Regeln sowie – Ebenen der Politisierung der Beziehungen in der Vergangenheit als konstituierende Merkmale und Ausgangspunkt des Bezugs auf Geschichte als Ressource gekennzeichnet. Letztere Faktoren sollen im Folgenden zunächst näher erläutert werden. Dabei soll in Fallbeispielen auf die Beziehungen zwischen und innerhalb der ersten beiden genannten Kategorien der »Händler / Handwerker« und jener der »Bauern« eingegangen werden. Politische Geschichte und Komponenten zur Entstehung und Verstärkung von Differenz sowie kollektiven Identitäten in Tanguiéta Vorkoloniale Siedlungsgeschichte der Region, Naturaneignung und ihre unterschiedliche Wahrnehmung Die Bauerngruppen, die, wie bereits erwähnt, in mehreren Wellen zuerst in die Region kamen, reklamieren vor allem, dass sie die ersten waren, die in Tanguiéta siedelten. Vor allem die Natemba auf der einen Seite sowie die Buruba (Notba) auf der anderen verweisen auf ihre Ursprungslegenden, in denen die Landnahme geschildert wird. Es gibt auch untereinander einen Streit, wer von beiden die ersten Bewohner Tanguiétas gewesen sein sollen. Später sind die Tankamba aus den

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Bergen in die Ebene gekommen. Die Händler und Handwerker waren vor der Kolonialzeit kaum präsent; sie hielten sich mit ihren Karawanen aus Furcht vor Überfällen nur selten länger in der Region auf. Dies änderte sich, als die Kolonialmacht die Errichtung der Karawanenstation, caravansérail 9, und des muslimischen Viertels aktiv unterstützte. Wenn man es genau nimmt, kann eigentlich keine der Gruppen das Erstsiedlungsrecht für Tanguiéta10 reklamieren, weil der Ort an sich erst durch die Bestimmung als strategisch relevanter kolonialer Außenposten am nördlichen Fuße der Atakora-Bergkette ab 1913 entstand. Die Verwaltungseinrichtungen, das Militärlager sowie die Residenz des chef de subdivision (bis 1930 bestand aus Furcht vor Rebellionen eine reine Militärverwaltung) befanden sich allerdings außerhalb sowohl des Zongo als auch der kleinen Bauernsiedlungen. Die Buruba waren räumlich den Verwaltungsbeamten am nächsten, arrangierten sich der oralen Überlieferung zufolge recht schnell mit ihnen und nahmen offenbar an keiner Rebellion teil. Die Tankamba sind offenbar erst seit den 1920er Jahren massiv eingewandert, ebenso wie seit den 1960er Jahren auch Gurmanceba und Byerobe sowie weitere Natemba.11 Die Pisten wurden ausgebaut, die Bewohner der umliegenden Gebiete mussten in den frühen 1960er Jahren zwangsweise in größere Dörfer ziehen (regroupements), Wochenmärkte wurden eingerichtet und im Stadtgebiet Parzellierungen vorgenommen. So wuchs allmählich die Stadt mit den angrenzenden Dorfsiedlungen zu ihrer heutigen Gestalt zusammen. Allerdings reklamieren die Angehörigen der Bauerngruppen insgesamt das Recht, als Erstsiedler hier mehr Rechte wahrnehmen zu können. In den Augen vieler, vor allem der Bewohner der umliegenden Dörfer, sind die Händler nach wie vor Fremde. Auch ihre zahlenmäßige Unterlegenheit wird immer wieder erwähnt. In der Sicht der Bauern ist es nicht nur das Land ihrer Ahnen, die es urbar gemacht haben, sondern es ist auch durch heilige Haine, Opferplätze und Altäre, Friedhöfe und »verbotene Orte« gekennzeichnet. Einzelne Flurnamen, Wasserläufe und Hügel werden vor allem durch saisonal stattfindende Opferzeremonien Teil einer rituellen Topographie (Schlee 1992). Die Händler wären als fahrende Händler in der Region nur als Fremde akzeptiert worden. Indem sie sich niederließen, bildeten sie eine kompakte Siedlung mit Basisinfrastrukturen, u. a. auch einer Moschee. Die Angehörigen der Händlergruppen stellen die Zeit ihrer

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Einwanderung in einem anderen Licht dar. In ihrer Perspektive waren sie es erst, die die »Zivilisation« brachten – vor der Kolonialzeit, so wurde immer wieder gesagt, sei alles »nur Busch« gewesen. Sie sagen oft, das Land hätte niemandem gehört; man hätte nur zerstreute, von »Anarchisten« bewohnte Siedlungen wahrgenommen. Diese »urbanistische Sicht«, gespeist aus dem Alltagsleben der größeren Siedlungen der in Westafrika seit dem Mittelalter verbreiteten Handelsknotenpunkte (entlang der Karawanenwege) vor allem der Sudan-Reiche, konkurriert hier mit der Umweltwahrnehmung und -aneignung der Bauerngruppen. Für diese – nicht zuletzt auch durch die erwähnten Formen des Wanderfeldbaus und der vormals permanenten Bevölkerungswanderungen – ist unbewohntes Land nicht herrenlos. Man kann im Wesentlichen von drei Kategorien sprechen, denen das Territorium zugeordnet ist: entweder als (aktuelles oder potenzielles) Ackerland, das von bestimmten Klanen »verwaltet« wird,12 als (von jagbaren Tieren bewohnte) Wildnis (mit zu wenigen Wasserstellen oder unwirtlichen Bodenverhältnissen) oder als häuslicher Siedlungsraum. Diese differente Sichtweise auf die räumliche Umgebung wird von den Maßnahmen des Staates beeinflusst. Das gesamte Stadtgebiet von Tanguiéta wurde zum ersten Mal in den 1950er und dann noch einmal in den 1970er Jahren parzelliert und als urbanes, kommerzialisierbares Territorium definiert. Es wurde bereits erwähnt, dass die Persistenz ethnischer Unterschiede im Raum Tanguiéta mit einer Reihe weiterer Faktoren zusammenhängt. Dabei spielen vor allem das kollektive Gedächtnis und die damit verbundenen unterschiedlichen Sichtweisen bzw. Konstruktionen der Lokalgeschichte eine große Rolle. Sie haben nicht nur konkrete Auswirkungen auf die Formen des heutigen Zusammenlebens gehabt, sondern bilden immer wieder die symbolische Referenz in der Selbstdarstellung oder als rhetorischer Bezugspunkt in Streitfällen. Dabei spielen verschiedene (Schlüssel-)Ereignisse eine Rolle: – das Verhältnis zur Kolonialmacht, vor allem während des KabaKrieges, der Zwangsarbeit und Rekrutierung für die Kolonialarmee, – die Ereignisse während der »Revolution«, vor allem die Zusammenstöße im Jahre 1974. Im folgenden kurzen Rückblick soll noch einmal versucht werden, die

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spezifische Akzentuierung kollektiver Identitäten in jenen historischen Phasen zu diskutieren. Kolonialzeit Für die kolonialen Verwaltungsbeamten – so durchzieht der Diskurs die Mehrzahl der Archivmaterialien der Verwaltung – schälten sich nach ihrem Grad von Loyalität, d. h. in der (formellen) Akzeptanz der Eingriffe der Kolonialpolitik (Zwangsarbeit, Straßenbau, Zwangsanbau, Steuerzahlung, Zwangsrekrutierungen) vier Gruppen von Einheimischen heraus: – Bauerngruppen, die wie einige ihrer Autoritäten (religiöse Autoritäten) als renitent und potenziell gefährlich betrachtet wurden, – Bauerngruppen, die als loyal und gelehrig angesehen wurden, – Händler und Handwerker am Ort, die man förderte und einfach brauchte, deren Steueraufkommen ebenso begehrt wie schwierig zu kontrollieren war, sowie – als sehr loyal betrachtete Milizen und Sprachmittler, auch aus anderen Regionen oder Kolonialgebieten Afrikas. Selbstverständlich ging es den Kolonialbeamten vor allem darum, geeignete Mittler, einheimische Autoritäten zu fördern, die ihre Politik durchzusetzen halfen. Man erkannte recht bald, dass die damalige subdivision ein recht zerstreutes Siedlungsgebiet mit einem sprachlichen und sozialen Mosaik darstellte. Es wurden deshalb die anfangs recht großen cantons in immer kleinere, »ethnisch« definierte Einheiten eingeteilt, auch um verschiedene Gruppen gegeneinander ausspielen zu können. Die Akzeptanz der Kantonschefs (chefs de canton) war jedoch begrenzt. Man experimentierte mit verschiedenen Personen und versuchte, als Kantonschefs Personen mit Prestige einzusetzen, sei dies religiösen oder militärischen Ursprungs (ancien combattants). Auch die Verwaltungssitze der Kantone (cantons) wurden mehrfach verändert. Die französischen Beamten bestanden trotz der komplexeren Realitäten darauf, einheitliche Verwaltungseinheiten auf der Basis ethnisch und linguistisch einheitlicher Gebiete zu schaffen – Prinzipien, die sich im postkolonialen Staat nach 1960 fortsetzten.

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Veränderungen in der Zeit der Revolution 1972 Mit der Machtübernahme junger Offiziere um Mathieu Kérékou und der späteren Erhebung des Marxismus-Leninismus zur offiziellen Staatsdoktrin begann die Revolution, eine Umgestaltung von Wirtschaft und Verwaltung entsprechend einer Béniner Spielart des Sozialismus. Seit den 1970er Jahren erfolgte eine bildungspolitische Offensive des Staates. Ein Element war die funktionale Alphabetisierung in afrikanischen Sprachen, die zusammen mit der école nouvelle als Schlüssel zur geistigen Dekolonisierung betrachtet wurde. Es sollten alle, auch die kleineren Sprachen der Region gefördert werden. Diese waren bis dahin z. T. nur ungenügend erforscht worden. So wurden zunächst Forschungen angeregt, die dann zur Kanonisierung von Schreibweise und Basiswortschatz führen sollten. Mit dieser Aufgabe waren die comités linguistiques betraut. Sie wurden von den jungen Absolventen der Region getragen und wurden mitunter organisatorischer Anstoß neuer Bewegungen zur Integration der neuen Funktionseliten zu den (oft neu eingesetzten) einheimischen Autoritäten in den ländlichen Räumen. Weiterhin wurde versucht, die »lokale orale Tradition« aufzuwerten sowie die Lokalgeschichte im Sinne des sozialistischen Nationalismus (in der Auslese »progressiver« Traditionen) zu bewerten. Hier wurden vor allem Forschungen zu antikolonialen Widerstandsbewegungen und »Helden der Region« vorgenommen; einige lokale Kulte wurden jedoch misstrauisch betrachtet. Die Auseinandersetzungen im Jahre 1974 Im Jahre 1974 kam es zu Ereignissen, die bis heute – in unterschiedlicher Weise – im Gedächtnis vieler Bewohner eine große Rolle spielen. Es handelt sich um Ausschreitungen zwischen Bauern und Händlern, die durch die Intervention des Staates provoziert worden waren. Zunächst hatten die lokalen Staatsvertreter wieder neue Wegezölle für Handelswaren eingeführt, die für die Händler offenbar die Überschreitung einer Schmerzgrenze bedeuteten. Sie organisierten einen Protestmarsch gegen den sous-préfet und vor allem den Bürgermeister, der diese Maßnahmen guthieß. Sie beleidigten dabei den Bürgermeister als Vertreter der »primitiven Bauerngruppen«. Dieser rächte sich, indem er die Bauern der Region gegen die Händler aufwiegelte. Die

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Bauern – vor allem jene aus dem nahen Taiacou – unternahmen ihrerseits einen Protestmarsch gegen die Händler, bei dem es aber zu Ausschreitungen kam. Viele Händler wurden geschlagen und etliche Geschäfte zerstört. Erst das Eintreffen paramilitärischer Kommandos beendete diese Zusammenstöße. Viele Händler verließen den Ort für immer. Andere versuchten, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Die »Bauerngruppen« gingen zunächst gestärkt aus diesen Ereignissen hervor. Allerdings wurden ihre Anliegen auch direkt vom Staat unterstützt. Bis heute wirkt die Erinnerung an diese Ereignisse nach. Die »Händlergruppen« haben sich seitdem im öffentlichen Leben meist zurückgehalten und versucht, ihren Anliegen eher unspektakulär nachzugehen. Selbst- und Fremdsicht in Beziehung zu religiösen und kulturellen Praktiken Nach wie vor dominieren, vor allem unter den Älteren, Stereotype die Sicht auf die jeweils »Anderen«. Hier wird vor allem auf unterschiedliche religiöse Praktiken, aber auch allgemeine Verhaltensmuster im Alltag verwiesen. Die meisten Bauern stehen z. B. dem Islam sehr misstrauisch gegenüber. Sie sehen ihn oft als Religion der ehemals großen, militärisch expandierenden Reiche. Aber auch die zunehmende Präsenz der Moscheen und Koranschulen wird von ihnen oft negativ bewertet. Die Rufe zum Gebet werden als Störung bezeichnet. Die Händler z. B. sind für sie vor allem auf finanziellen Vorteil bedachte Personen; sie werfen ihnen Betrug vor. Für die muslimischen Bewohner wiederum sind die »Anderen« jene, die wichtige Speisetabus missachten, übermäßig Alkohol trinken, sexuell zu freizügig oder in religiöser Hinsicht »Ungläubige« sind. Diese Stereotype werden natürlich unabhängig von tatsächlichen Beziehungen zwischen den Bewohnern aufrechterhalten. Für das Stadtgebiet von Tanguiéta kann man hier aber auch in territorialer Hinsicht von symbolischen Räumen sprechen, die die unterschiedlichen Alltagspraktiken abgrenzen und Distinktion (Bourdieu 1979) erzeugen. Sie sind einerseits durch die verschiedenen Siedlungsgebiete gegeben, gehen aber darüber hinaus. Im Gegensatz zu vielen Dörfern der Region gibt es z. B. keinen Hirsebiermarkt innerhalb des Wochenmarktes im Zentrum von Tanguiéta; dieser liegt vielmehr weiter außerhalb im Viertel Tchoutchoumbou.

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Die meisten Hirsebierbars befinden sich an den Randlagen des Ortes. Auch der zeitweise sehr prosperierende Schweinemarkt wurde – auch aus hygienischen Gründen – an den Ortsrand verlegt. Die meisten Moscheen sind andererseits von jeher sehr zentral gelegen. Unmittelbar vor dem Markt, entlang der Hauptstraße und rund um den Autobusbahnhof, dominieren Essens- und Kaffeestände bzw. Cafés, die meist von Muslimen geführt und frequentiert werden. Es handelt sich um recht einfach eingerichtete Stände zum Ausschank von Tee und Kaffee, zu denen Brot und Omelette gereicht werden. Vergleichbare Kioske kann man inzwischen überall in Westafrika finden. Man trifft sich hier auf einen Schwatz über die Geschäftslage, beobachtet gemeinsam ankommende Fahrzeuge und verabredet kleinere Transaktionen. Die dominante Sprache ist hier das Dendi, in einigen Fällen aber auch das Hausa. An manchen Ständen treffen sich bevorzugt auch die Fulbe, die für Einkäufe, Arztbesuche o. ä. in die Stadt kommen. Alkohol wird hier selten offen ausgeschenkt. Hier werden MikroRäume der kulturellen Differenz innerhalb des öffentlichen Raumes im Stadtzentrum (in unmittelbarer Nachbarschaft der Buvettes) etabliert, die durch Alltagsrituale der Anerkennung von Zugehörigkeiten (durch Grußrituale, bevorzugte Gesprächsthemen, Rabatte etc.) ausgefüllt werden. In diesen Bereichen des öffentlichen Raumes kann man also eine unspektakuläre, aber alltägliche Inszenierung von Unterschieden (Desjeux 1994) erkennen – den Aufbau von Trennflächen, die anderen Ebenen gemeinsamer Handlungen und persönlich engerer Beziehungen gegenüberstehen (Guichard spricht für die Beziehungen zwischen Fulbe und Baatonum sogar von einem Modell eines symbolischen Nicht-Austausches, der seine tatsächlichen Überschreitungen verdeckt [Guichard 1996: 113]). Durch die urbane Entwicklung lässt sich die Abgrenzung dieser Territorien aber nicht mehr vollständig aufrechterhalten; vor allem die in den letzten Jahren entstandenen Kneipen befinden sich oft in unmittelbarer Nähe muslimischer Wohnsiedlungen. Im Prinzip findet man heute in der Region sehr wenige Ehen zwischen Bauern und muslimischen Händlern. Die Angehörigen beider Gruppen, vor allem die Älteren, erklären diese Tatsache nicht einfach nur durch unterschiedliche religiöse Zugehörigkeiten und den Verweis auf die »Tradition«, sondern berichten von einem gewissen gegenseitigen Misstrauen sowie allgemeinen Verbotsregeln in beiden Gemein-

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schaften. Auf empirischer Ebene kann man jedoch einen zunehmend intensiveren Austausch zwischen den Jugendlichen vor allem im Ort Tanguiéta selbst feststellen, vor allem bei jenen, die gemeinsam zur Schule gehen, eine Lehre absolvieren oder sich in den Diskotheken, Videotheken etc. treffen. Schließlich gibt es auch einige junge Ehepaare, die die normativen Regeln verletzen. Manchmal handelt es sich auch um Staatsangestellte, die ihre Frau bereits während der Ausbildung bzw. in der Stadt ihres Dienstes kennen gelernt hatten. Eine Heirat zwischen einer »Händlerstochter« und einem »Bauernsohn« ist dagegen selten. Ökonomische Differenz, Interessengegensätze bzw. Komplementarität Innerhalb der beschriebenen größeren Einheiten haben sich im Laufe der Geschichte zwischen den einzelnen Teilgruppen ganz unterschiedliche Formen des Austausches entwickelt, von gewaltsamen Auseinandersetzungen bis zu gegenseitigen Heiratsbeziehungen. Wie bereits angedeutet, waren die einzelnen Gruppen, deren Angehörige heute vor allem auf Sprache und Wohnort als Hauptfaktoren kultureller Differenz rekurrieren, seit der Zeit der Einwanderung vor allem von den Faktoren der Fusion und Fission geprägt: d. h. des Zusammenschlusses verschiedener lineages über sich entwickelnde Heirats- und Nachbarschaftsbeziehungen; aber auch der immer wieder erfolgten Abspaltung einzelner Segmente bzw. einzelner Personengruppen auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen. Fusion und Fission brachten und bringen auch eine große Dynamik der sprachlichen und kulturellen Entwicklung mit sich: die Sprachen überlagern sich; ihre Sprecher treten in Austausch. Es konnte durchaus der Fall sein, dass eine Sprache von Erstsiedlern übernommen wurde, oder jene der Zuwanderer – oft, aber nicht ausschließlich von demographischen Faktoren abhängig – dominant wurde.13 Bei den einzelnen Wanderungen war die Landnahme, die Rodung und rituelle Aneignung des Siedlungsraumes von großer Bedeutung, die sich in Mythologie und religiösen Riten bis heute widerspiegelt. Dabei steht immer wieder der Klan (Biali: buru) als patrilineare Deszendenzgruppe14 und (vormals) Siedlungsgruppe15 als lange Zeit dominante Referenz im Vordergrund. Fast jeder Klan reklamiert noch heute für einen bestimmten Ort die Landnahme bzw. Erst-

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siedlung, auch wenn man inzwischen nicht mehr unbedingt an diesem Ort wohnt und weit verstreut ist oder durch Zwischenheirat vielfältig »vermischt«. Jeder Klan bezieht sich auf einen mythischen Ahnen, oft einen der Erstsiedler, und trägt formell auch Speisetabus, Heiratsregeln und das Exogamiegebot mit sich. Verwandtschaft und Exogamie konstituieren zentrale Ebenen der Selbstdefinition, was im Alltag auch heute durch Grußformeln, Scherzbeziehungen etc. symbolisch untermauert wird. Die übergreifende Ebene der – vor allem seit der Kolonialzeit – offiziell soziolinguistisch definierten ethnischen Einheiten16 (Byerobe, Natemba, Gurmanceba) hat sich ursprünglich speziell entlang gemeinsamer kultureller Merkmale, vor allem der Initiationsriten (wenn auch mitunter von den Nachbarn übernommen) und der damit verbundenen Altersgruppen, Heirats- und Abstammungsregeln, territorialer Integration und dann des Faktors Sprache, der auch durch Definitionen von außen verstärkt wurde, herausgeschält. Seit den 1970er Jahren wurden diese Zuschreibungen durch administrative Veränderungen und die Kulturpolitik des Staates untermauert. Auf der Basis der bisherigen ethnographischen Beschreibungen soll hier die These vertreten werden, dass die wichtigsten Gruppenidentitäten in der Region von Tanguiéta mit der Entfaltung distinkter moralischer Räume verbunden sind. Damit sind soziokulturelle Orientierungsrahmen gemeint, die (auch konfligierende, diskursiv entwickelte) Vorstellungen über Normen, vor allem »korrekte« alltägliche Verhaltensweisen im öffentlichen Austausch, aber auch unterschiedliche Deutungen bzw. Bewertungen dieser in Geschichte und Gegenwart umschließen. Sie haben sich vor allem entlang unterschiedlicher wirtschaftlicher Aktivitäten entwickelt, beziehen sich aber z. B. auch auf religiöse Praktiken und weisen über eine reine »Berufsidentität« hinaus, da sie mit einer Reihe unterschiedlicher Alltagsrituale, rhetorischer Elemente etc. im öffentlichen Austausch verbunden sind, die davon mitunter relativ unabhängig sind. Durch meine Bezugnahme auf den Begriff des moralischen Raumes beziehe ich mich vor allem auf einen Begriff der moralischen Ethnizität von John Lonsdale (1993, 1996), und in gewisser Weise auch auf die Arbeiten von James Scott (1976).17 Ein moralischer Raum schließt in meiner Auffassung eine Reihe kollektiver Vorstellungen über Verhaltensweisen, Normen und soziale Wertschätzung (in einem bestimmten Gebiet bei einer bestimmten Gruppe von Personen) ein; aber in einem

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weiten Sinne beinhaltet er auch die Bedingungen für praktische Regelungen im Alltag. Sie betreffen vor allem das individuelle Verhalten, die idealen Tugenden, Routinen und Formen der sozialen Organisation, aber auch ästhetische Maßstäbe. In Lonsdales Sicht (1996: 99) sind diese Vorstellungen nie vollkommen festgelegt, sondern sind innerhalb dieser Räume, die jene moralische Ethnizität einschließen, Gegenstand ständiger Debatten und Konflikte. Im öffentlichen Austausch entwickeln sich dadurch Diskurse über Unterschiede, verbunden mit sozialen Prozessen der Aufspaltung und des Zusammenschlusses. In unserem Fall erhalten die verschiedenen Identifikationen ihre Relevanz auch durch weitere Faktoren, vor allem die Ausprägung korporativer beruflicher Interessengemeinschaften. Sie etablieren in Arbeitsteilung und Austausch zugleich Ebenen der Komplementarität, aber auch des (meist ökonomisch motivierten) Konfliktes. Ein moralischer Raum ist ein sozialer Raum der täglichen Interaktion, in dem diese Kategorien beständig ausgehandelt werden. Seine Besonderheit liegt in den Bedingungen der sozialen Integration und den kulturellen Markern, die ihn abstecken. Diese sind durch Vorstellungen über moralisches Verhalten bestimmt. Hier soll zunächst jene Ebene diskutiert werden, die die Gruppe der muslimischen Händler und Handwerker in Tanguiéta betrifft. Sie bewohnen vor allem die Stadtviertel Goro-Bani und Djindjiré-Béri. Im Alltagsleben sind sie (vor allem die älteren unter ihnen) nach wie vor durch eine distinktive Art der Wohnraumes, der Kleidung, Sprache u. a. gekennzeichnet. Fallbeispiel 1: Die Fleischer der Hausa Die Fleischer in Tanguiéta sind in einer Art Zunft organisiert. Ihre Verantwortlichen, allen voran der sarkin fawa, der Chef der Fleischer, entscheiden, wer eine Lizenz als Fleischer und als Fleischverkäufer bekommt, wer Lehrling wird, wann welcher Fleischer mit dem Schlachten betraut wird, wie die Hygienekontrollen stattfinden. Außerdem versuchen sie, die Preise zu kontrollieren. Jeden Tag ist ein anderer Fleischer im Schlachthaus des Ortes an der Reihe. Die Fleischer kaufen die entsprechenden Schlachttiere (täglich ein bis zwei) selbst bei den Viehhändlern (manche sind zugleich auch Viehhändler) und verkaufen dann das Fleisch an die Fleischverkäufer, die es auf dem Markt an

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einem speziellen Stand anbieten. Fleischer wird man erst, wenn man eine lange Lehre absolviert hat. Zudem stellen auch persönliche Tugenden wie Ehrlichkeit, Überlegtheit, ein vorbildlicher Lebenswandel als Moslem (möglichst schon verheiratet), Voraussetzungen für die Anerkennung als selbstständiger Fleischer dar. Bisher sind alle Fleischer Hausa. Derzeit gibt es aber zwei Lehrlinge, die ursprünglich Buruba sind. Beide haben aber Frauen der Hausa geheiratet, sind zum Islam übergetreten und wohnen in der Familie der Frauen. Sie sind quasi adoptiert worden. Der Islam hat hier als Identitätsmarker die größte Bedeutung. Ein wichtiges Element sind dabei ethische Vorstellungen, die als Teil moralischer Räume betrachtet werden. Hiermit möchte ich an die Kategorie der »Ethik des Zongo« (l’éthique du Zongo) von Michel Agier (1982) anschließen, die auch hier in Tanguiéta – allerdings mit unterschiedlichen Akzenten – relevant ist. Eine spezifische Ethik des Zongo wurde von Agier für das Viertel der Hausa-Händler in Lomé (Togo) beschrieben. Agier vertritt die Auffassung, dass Hausa vor allem ein Synonym für eine Reihe von Personen ist, die aus der gleichen Großregion (Savanne, westlicher Sudan) eingewandert sind, und denen bestimmte gemeinsame Moralvorstellungen zuzuordnen sind, denen man als Bewohner des Händlerviertels folgen sollte. Man findet Zongo-Viertel im Grunde sehr häufig in Westafrika. In Ghana, Bénin, Togo, Niger, Nigeria und Burkina Faso18 ist Zongo19 die dominierende Bezeichnung vor allem für die Viertel der islamischen Händler, die aus anderen Regionen eingewandert sind. Obwohl sie nicht ausschließlich von Händlern und Fremden bewohnt werden, gelten sie meist als »Viertel der Fremden« im Gegensatz zu den »Einheimischen« oder »Autochthonen«. Sie gehen auf die ersten Wellen der Emigration der HausaHändler, vor allem der Kola-Händler zurück, beschrieben z. B. von Adamu (1978) und Lovejoy (1980), der Emigration der Fleischer (Cohen 1965, 1969) und Militärs (im Dienste der Kolonialmächte). Zongo wurde hauptsächlich das Synonym für: – eine Gemeinschaft von Muslimen, – eine Gemeinschaft von Einwanderern und die Aufnahme fremder Muslime, – einen Raum des Respekts vor Regeln des Islams (shariya),

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– einen Ort des freien ökonomischen Austausches ohne Betrug, verbunden mit Ebenen des Vertrauens,20 der Intermediarität (brokerage) und Möglichkeiten der Kreditnahme etc. (Nicolas 1964), – einen Raum des Respekts vor den älteren etablierten Händlern und den Chefs der jeweiligen erweiterten Familien (Hausa: maigida) sowie – einen Raum, in dem spezifische Heiratsregeln respektiert werden. Zongo beschreibt zugleich einen Ort und eine Gemeinschaft, ursprünglich von (eingewanderten oder konvertierten) Hausa. Es ist aber zugleich ein in Nuancen reproduziertes Modell islamischer Gemeinschaft, das die Handelsexpansionen möglich machte. Eine ähnliche Darstellung der Gemeinschaft gibt auch Warms (1994) für die Djoula. In Accra wurde Zongo ein Synonym für eine islamische Gemeinschaft, die dann zunehmend von Mosi-Einwanderern aus Burkina Faso dominiert wurde (Shildkrout 1974, 1978). In Tanguiéta trugen zuvor die Viertel Djindjiré-Beri und Goro-Bani den Namen Zongo. Man findet ein solches Viertel unter diesem Namen aber auch in Boukombé. Zongo ist der Raum, der für fremde muslimische Händler als Anlaufpunkt diente. Bis heute können sie hier Unterkunft und Verpflegung, aber auch geschäftliche Kontakte erwarten (vgl. Shildkrout 1978; Shack 1979). Wenn sie sich länger niederlassen, bietet das Zongo ihnen die Basis für eine stärkere Binnenintegration21, wenn sie offenbar grundsätzliche Verhaltensweisen befolgen. Konstitution und Persistenz verschiedener moralischer Räume können meines Erachtens auch als Etablierung semi-autonomer sozialer Felder dargestellt werden.22 Mit dem Begriff der semi-autonomen sozialen Felder schließe ich mich Sally Falk Moore (1978) an, die diesen Begriff innerhalb der Rechtsanthropologie entwickelt hat. Demzufolge gibt es in jeder Gesellschaft eine rechtliche Heterogenität, d. h. das Nebeneinanderbestehen bzw. Überlappen unterschiedlicher formeller und informeller Normen. Es handelt sich nicht um völlig autonome Bereiche, denn der Staat beeinflusst indirekt viele Rahmenbedingungen der Entwicklung eines solchen Feldes mit, interveniert zeitweise oder ist partiell eingebunden. Im Falle Tanguiétas lassen sich hierzu Bereiche identifizieren wie die Formen der kollektiven Arbeitsorganisation, die Organisation des Bierbrauens und -konsums, Teile

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des Handels, natürlich der Schmuggel, Initiation, Konfliktregelungen, aber auch die Organisation des Taxi- und Autobusbahnhofs, die Organisation des Viehhandels und des Fleischerhandwerks etc. In diesen Bereichen streben die Beteiligten oft eine Exklusion Fremder oder nichtkonformer Personen an, vor allem dort, wo es um begrenzte symbolische oder gar materielle Ressourcen geht. Es geht darum, die Normeinhaltung kontrollieren zu können. Durch bestimmte Formen wird die Exklusivität erhöht: Endogamie, Aufnahmeregeln, Wissensmonopole, Sprache oder gar latente Gewalt. Der moralische Raum, der durch das Zongo etabliert wird, fällt deshalb nicht zufällig mit der Fremddefinition ihrer Bewohner zusammen – les gens du Zongo, manchmal sogar auch les Zongo. In Tanguiéta hört man diese Bezeichnung heute weniger; allerdings steht hier Dendi als Synonym für jene Gruppen. Man kann von einer Art »Amalgamisierung« von Teilidentitäten sprechen, die sich hier in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Hier waren es im Wesentlichen fünf Faktoren, die diesen Prozess erleichtert haben: (1) der moralische Raum einer islamischen Gemeinschaft, (2) gemeinsame wirtschaftliche Spezialisierungen, (3) Dendi als gemeinsames Idiom, das hier die gleiche Rolle wie andernorts Hausa spielt, also gemeinsame Sprache, (4) die staatliche Politik (vor allem in den 1970er und 1980er Jahren) und (5) Heirat innerhalb dieser Gruppen. Fallbeispiel 2: Soziale Integration und Differenzierung im Viertel Tchoutchoumbou Das Viertel besteht aus einem Ensemble kleinerer Familienhöfe (Bezeichnung im Französischen für Familiengehöft concession; für das Grundstück parcelle). Jeder umfasst mehrere Gebäude und Speicher und wird von einer erweiterten Familie bewohnt. Die Bevölkerungsdichte in diesem Viertel ist relativ gering. Zwischen den Häusern befinden sich größere Flächen, die als Felder vor allem für den Gemüse-, Hirse- und Tabakanbau genutzt werden. Auf Grund der Parzellierung ist das Viertel jedoch relativ klar gegliedert und unterscheidet sich insofern von den umliegenden Dörfern, die durch eine zerstreute Wohnlage gekennzeichnet sind. Das Viertel wird von Angehörigen mehrerer ethnischer Gruppen (entsprechend unterschiedlicher Sprachen) bewohnt: Natemba, Byerobe, Gurmanceba, alle den »Bauerngruppen« zugehörig, mit einer Mehrheit der Na-

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temba. Diese Aufteilung resultiert aus der sukzessiven Einwanderung der vergangenen Jahrzehnte, vor allem durch Natemba. Im hier gewählten Ausschnitt findet man mehrere cabarets, eines recht nahe am anderen. Die cabarets sind wichtige Orte der Nachbarschaftsbeziehungen im Viertel. Innerhalb der Bauerngruppen im Ort vollziehen sich zwei parallele Tendenzen. Einerseits gewinnt eine sozioökonomische und alltagskulturelle Integration23 innerhalb der Nachbarschaft immer mehr an Bedeutung. Die Tendenz zu gemischten Partnerschaften und Ehen nimmt zu. Andererseits werden in Teilbereichen des öffentlichen Diskurses, vor allem im Zusammenhang mit politischen Parteien und Vereinigungen, die Unterschiede in der regionalen Herkunft betont. Die soziale Integration beschleunigt sich vor allem seit den 1960er Jahren und dem massiven Zuzug, insbesondere von Kriegsveteranen und kleinen Angestellten in das Viertel. Die Alltagsbeziehungen sind seitdem in Tchoutchoumbou vor allem durch das Prinzip der Nachbarschaft gekennzeichnet. Immer mehr wirtschaftliche Transaktionen vollziehen sich zwischen Nachbarn unterschiedlicher verwandtschaftlicher und linguistischer Herkunft. Diese Beziehungen werden vor allem von den Frauen hergestellt, die in vielfältigen Beziehungen wirtschaftlichen Austausches und gegenseitiger Hilfe stehen. Dazu zählen das Bierbrauen, gemeinsame Felder, gegenseitige Hilfe im Haushalt und bei der Kindererziehung sowie Sparklubs (tontines). Es kommt auch zu gegenseitiger Hilfe unter den Männern, z. B. bei der Ernte oder beim Hausbau. Die Situation im Ort Tanguiéta weicht von jener in den kleineren Kommunen ab, wo die Prinzipien der Verwandtschaft eine wichtigere Rolle innerhalb der Moralökonomie spielen. In Tanguiéta wird die Binnenintegration im Viertel durch gegenseitiges Erlernen der Sprachen der Nachbarn verstärkt. Die Kinder sprechen fast alle die Sprachen der jeweiligen Nachbarn; mit dem Dendi beherrschen sie meist drei aktive Sprachen. Hirsebierkneipen (cabarets) sind in Tchoutchoumbou die wichtigsten Orte des öffentlichen Austauschs im Alltag zwischen Personen unterschiedlicher soziolinguistischer und regionaler Herkunft. Die Vielfalt dieser sozialen Verbindungen in der Nachbarschaft wird natürlich begrenzt durch die Vorzugsbeziehungen zu Personen aus der gleichen Herkunftsregion, die die gleiche Muttersprache sprechen (selten spielt hier die lineage-Zugehörigkeit eine Rolle). Es han-

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delt sich oft um Beziehungen zwischen den Männern, die sich seit längerem kennen, die zusammen Dienst geleistet hatten (z. B. in der Armee wie die Kriegsveteranen, ancien combattants), die Schule gemeinsam besucht haben oder ähnliche politische Einstellungen haben. Der Viertelvorsteher (chef de quartier), ein Natemba, wird von den meisten anerkannt; im Rat des Viertels gibt es keine Vertreter einer soziolinguistisch definierten Gruppe. Die Tendenzen zur »Amalgamisierung«, vor allem über Heirat, der ethnischen Konversion sind in Tanguiéta sehr stark. Selbstverständlich behalten die einzelnen Bewohner, vor allem die Älteren, ihre Beziehungen zu den Herkunftsgemeinschaften. Die Frequenz der jeweiligen Kontakte ist allerdings sehr unterschiedlich. Es gibt jene, die mindestens einmal im Monat in die entsprechenden Dörfer der Herkunftsregion reisen und sogar Felder dort pflegen. Andere tun dies nur selten, d. h. sie fahren dorthin nur für die großen Feste, meist Beerdigungen naher Angehöriger. Einige wenige jedoch, vor allem ehemalige oder aktive Staatsangestellte der Natemba und Gurmanceba haben sowohl Häuser in Tanguiéta als auch im Dorf. Sie halten sich dann immer wieder kurzzeitig im Dorf auf. Sie sind als big men (vgl. Sahlins 1963; Bakel et al. 1986), einflussreiche Männer und Organisatoren zu bezeichnen und oft lokalpolitisch aktiv. Sie brauchen vor allem auch den Rückhalt in der Heimatregion, den sie entsprechend pflegen wollen. Sie haben mitunter einen Teil der Frauen und Kinder im Dorf, andere in der Stadt, und verfügen über ein Motorrad. Die Pflege der Beziehungen zur Herkunftsregion ist meines Erachtens vor allem als Teil der persönlichen Lebensstrategien zu sehen, die im Zweifelsfall eines Rückzugs in jene Orte die Nutzung dieser Kontakte bei persönlichen Problemen (zum Beispiel Krankheiten, zeitweiliges Kinderhüten, aber auch zu religiösen Zeremonien etc.) erlauben. Die zunehmende soziale Integration in denjenigen Vierteln Tanguiétas, die vorwiegend von Bauern bewohnt werden (Yarika, Porika), wäre sicherlich größer ohne eine in den letzten Jahren wieder geförderte Tendenz zur Politisierung der Unterschiede der regionalen und sprachlichen Herkunft, vor allem als rhetorische Referenz neuer politischer Gruppierungen. Dies hat verschiedene Ursachen. Zum einen geschieht dies allgemein auf Grund des starken Wettbewerbs um Projekte der Entwicklungshilfe zwischen den einzelnen sous-préfectures. Hier sind es die Einwohner der jeweiligen communes rurales, die sich

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an die ausgewanderten Mitglieder ihrer Gemeinschaft bzw. Verwandte in Tanguiéta wenden, damit jene ihre Interessen aktiv in den in Tanguiéta relevanten Gremien vertreten (Grätz 1998). Dies betrifft zunehmend die Aktivitäten der politischen Parteien und ihrer Abgeordneten und Kandidaten, die tendenziell eine »ethnische« Wählerschaft auf der Basis sprachlicher und territorialer Abstammung gewinnen wollen. Sie wenden sich meist verstärkt an jene, die sie zuallererst als »Sohn« des Ortes sehen könnten, und polemisieren dabei auch gegen andere Ethnien, vor allem wenn es Politiker anderer Parteien in der Region gibt, die jeweils auf andere Wählerschaften setzen (dies schließt jedoch nicht aus, dass sich auch Kandidaten unterschiedlicher Parteien im gleichen »Abstammungsraum« Konkurrenz machen. So wird immer wieder von einigen Kandidaten gegen andere polemisiert). Die These vom Vertragscharakter interethnischer Beziehungen im Raum Tanguiéta Hinsichtlich der aktuellen kommunalpolitischen Beziehungen in der Gemeinde Tanguiéta lässt sich meiner Interpretation zufolge die Idee eines (ungeschriebenen) Vertragsverhältnisses zwischen den großen ethnischen Gruppen entwickeln. Es handelt sich meiner Meinung nach um informelle Regelungen, die physische wie symbolische Räume abgrenzen, aber auch Möglichkeiten wirtschaftlichen Handelns regeln sowie den Zugang zu Ressourcen und Ämtern betreffen. Es geht um eine Art stillschweigende »Übereinkunft«, die hier beschriebenen Ebenen der Differenz und der Interessengegensätze derzeit nicht zum dominierenden Feld öffentlicher Auseinandersetzungen in der Gemeinde zu machen. Die informellen Regelungen z. B. zwischen den Protagonisten der »Händler- und Handwerkergruppen« und jener der »Bauerngruppen« lassen sich vereinfachend so beschreiben, dass letztere die Mehrzahl der öffentlichen Foren, Institutionen und Ämter in der Gemeinde – über die Ebenen des Stadtviertels und Quotenplätze hinaus – personell wie auch institutionell (durch den Rückhalt von außen, d. h. durch Staatsfunktionäre aus der Region) dominieren, während Erstere sich in diesen Ebenen bewusst zurückhalten. Dazu zählen die Verwaltungsposten der Gemeinde mit dem Bürgermeister und sécretaire sowie jene der umliegenden Gemeinden und die wichtigsten Posten innerhalb der einflussreichen association de développement

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Tilo Grätz

sowie weiterer kommunaler Vereinigungen, z. B. der Elternvertretung (association de parents-élèves), der Landvergabekommission, des Aufsichtsrats des Radio Rurale Locale Tanguiéta. Dafür besteht ein – derzeit nicht offen in Frage gestelltes – Ungleichgewicht hinsichtlich ökonomischer Einflussbereiche, d. h. des Zugangs der »Händler« zu Möglichkeiten der wirtschaftlichen Kapitalakkumulation, der Kontrolle von Kapital- und Warenströmen sowie Dienstleistungen. Es sind vor allem die Großhändler, die sich fast ausschließlich aus Angehörigen der Dendi rekrutieren, wie auch Besitzer von Bars, Videokinos, jene mit Immobilienbesitz, Farmen mit Lohnarbeitern, der Tankstellen und anderen Möglichkeiten der Kapitalakkumulation. Aber auch die Mehrzahl der Kleinhändler kommt aus ihren Reihen, wie z. B. der Präsident der Union des producteurs, die vor allem Kleinunternehmer im Baumwollanbau vereint. Die Formel »wirtschaftliche Macht gegenüber politischer Macht« soll hier nicht einfach als durchgehendes, strukturierendes Prinzip in Tanguiéta verstanden werden, sondern als Beschreibung einer Tendenz. Diese wurde zum einen durch aktuelle politische Entwicklungen (Wahlen auf Mehrheitsbasis – zahlenmäßiger Vorteil der Bauerngruppen) und wirtschaftliche Tendenzen (Anwachsen der Inlandsnachfrage nach Lebensmitteln, Rückgang der Cash-Crops und staatlicher Nachfrage) verstärkt. Ein wichtiger Faktor sind hier aber auch derzeit relevante übergreifende Formen politischer Integration und gemeinsamer Interessen, wie andererseits aber auch Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Erinnerung z. B. an die Auseinandersetzung der 1970er Jahre. Bedingungen ethnischer Konversion Unter »Konversion« wird hier die das allmähliche Überwechseln zur dominanten Identität einer anderen Gruppe bezeichnet. Diese Konversionen stehen mit multiplen Identitäten in Wechselwirkung, geht es doch um Übergänge gerade auf individueller Ebene: um die Veränderung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Alltagspraktiken und schließlich um neue Ebenen der sozialen Integration. Hier geht es vor allem um Kriterien, die offenbar die Akzeptanz einer neuen Gruppe erleichtern. Es gibt in Tanguiéta einige Elemente, die es bestimmten Personen erlauben, allmählich von einem Referenzfeld zum anderen

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überzugehen bzw. die Ebenen ihrer soziokulturellen Identität zu erweitern. In vielen Fällen handelt es sich dabei zunächst um eine berufliche Strategie. Diese Übergänge sind mit einem Aushandeln unterschiedlicher Normen verbunden: Bedingungen, die man erfüllen muss, um die Wertschätzung der Anderen zu bekommen. Es gibt in GoroBani z. B. den Fall zweier Fleischermeister, die von den Bulba abstammten, aber zu den Hausa konvertierten. Sie wurden vor einigen Jahren quasi von einer Hausa-Familie adoptiert, haben Hausa-Frauen geheiratet und sind Muslime geworden. Andere etwas verbreitetere Fälle betreffen einige Händler der Herkunft Byerobe. Hier sind in Tanguiéta vor allem Kampotta und Soumanou als sehr bekannte Personen zu nennen. Sie sind gleichfalls zum Islam übergetreten.24 Händler wie Kampotta bleiben jedoch eng mit ihrer Herkunftsgruppe verbunden. Sie haben Kontakte zu den Verwandten. Die Angestellten und Hilfskräfte, die sie einstellen, stammen oft aus ihrer erweiterten Familie. Es ist durchaus so, dass – bei entsprechender Auswahl – Kunden aus Ihrer Herkunftsgruppe bevorzugt bei ihnen einkaufen – nicht nur aus Gründen sprachlicher Verständigung. Sie sind nicht aus den sozialen Netzwerken ihrer Herkunftsgruppe ausgeschlossen, allerdings erwartet man von ihnen auf Grund ihres besseren finanziellen Status wirtschaftliche Hilfe im Rahmen einer nicht-ausgewogenen Reziprozität. Diese Händler werden sich nie dem Ansinnen um kleine Gaben verschließen, halten diese aber (nicht ohne Probleme) in Grenzen, denn sie müssen ihr Kapital ja wieder investieren. Sie sehen sich zwischen den unterschiedlichen Erwartungen zweier Referenzgruppen. Andererseits erweitern diese Personen auch ihren Spielraum um eine weitere dominante Gruppenidentität, vor allem als anerkannte Muslime. Man kann feststellen, dass diese HändlerKleinunternehmer gleichzeitig ihre Beziehungen im Ort erweitern, um ihre wirtschaftlichen Aktivitäten problemlos fortführen zu können. In letzter Instanz hängt ihr wirtschaftlicher Erfolg stark von ihrer Fähigkeit ab, sich selbst zu kontrollieren, und vom Erhalt ihres Prestiges, vor allem selbstverständlich bei jenen Händlern, von denen sie als Partner größerer Transaktionen anerkannt werden müssen. Hier sind auch Frauen aus den Reihen der »Bauerngruppen« zu erwähnen, die Schneiderwerkstätten haben, und vor allem jene, die in jüngerer Zeit zum Klein- und Getreidehandel übergangenen sind. Es gibt sehr wenige von ihnen in Tanguiéta. Diese haben allerdings

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durchaus bedeutende Kapitalmittel akkumuliert. Sie besuchen vor allem die Wochenmärkte der Region Matéri (Gouandé, Matéri, Tantéga), denn dort profitieren sie von ihren exzellenten Sprachkenntnissen in Biali. Dies ist eine recht neue Entwicklung. Die hier behandelten kollektiven Vorstellungen über die Abgrenzung wie über die Integration Anderer auf sozioprofessioneller Ebene etablieren soziale Normen, die den öffentlichen Austausch in Tanguiéta beeinflussen. Sie schaffen verschiedene moralische Räume, in denen Unterschiede im Alltag produziert, wahrgenommen und mit Sinn gefüllt werden. Vereinfachend kann man sagen, dass sich im Falle Tanguiétas jene Bereiche gegenüberstehen, die vor allem von Prinzipien der »Ethik des Zongo«, der islamischen Händler (Agier 1982), und der »Ethik der Subsistenz« bzw. der Moralökonomie der Bauern (Scott 1976; Elwert 1987) geprägt sind, auch wenn die damit verbundenen wirtschaftlichen Referenzen sich immer stärker wandeln. Übergreifende Ebenen gemeinschaftlichen Handelns und politischer Integration Der politische Wandel in Bénin, die renouveau démocratique, ist seit der Nationalkonferenz vom Februar 1990 durch eine programmatische Liberalisierung von Politik und Wirtschaft gekennzeichnet. Die politische Bühne Bénins ist nun durch eine Vielfalt von Parteien, Nichtregierungsorganisationen, aber auch neuen Medien wie Tageszeitungen und unabhängigen Radiostationen geprägt. In wirtschaftlicher Hinsicht werden Kleinunternehmer und Händler eher zur Ausdehnung der Aktivitäten ermuntert. Hinsichtlich der staatlichen Verwaltung hat sich vor Ort jedoch nicht viel geändert. Trotz bereits beschlossener Gesetze zur Dezentralisierung hat noch immer der vom Innenminister eingesetzte sous-préfet die formelle Verwaltungsmacht.25 Es kam in den letzten Jahren zu einer Art »negativer Integration« der Bewohner, ausgelöst durch Ereignisse im Jahre 1996. Damals baute sich eine breite Front gegen den arrogant agierenden Staatsverwalter (sous-préfet) auf, die recht unterschiedliche Bewohner vereinte. Zum anderen waren es die Präsidentschaftswahlen 1996, die einen klaren Sieg Kérékous in der Region zur Folge hatte. Die Bewohner waren damals weitestgehend einig gegenüber einem unbeliebten Präsidenten Soglo, der die regionalen Differenzen auch provoziert hatte. Gerade in

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politischer Hinsicht, im Auftreten nach außen, aber auch gegenüber dem sous-préfet gibt es also strategische Bündnisse, auch zwischen den einzelnen Gruppen. Dies ist ebenso in Bereichen zu erkennen, wo ein Geflecht wirtschaftlicher Komplementärbeziehungen im Ganzen gefährdet ist. Dies betrifft Händler, Fahrer und Fahrzeugbesitzer und Bauern gleichermaßen, wenn es darum geht, dass der Staat die Benzinpreise erhöht oder die Straße immer noch nicht ausbaut oder zu hohe Wegezölle erhebt, was u. a. die Funktion der für alle wichtigen Wochenmärkte in der Region beeinträchtigt. Dies sind kommunale Fragen, die in den letzten Jahren Aktionen zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen auslösten. Zusammenfassung und Ausblick Ein Bewohner Tanguiétas bzw. jemand, der dort geboren ist – in der Béniner Umgangssprache »fils de Tanguiéta« (»Sohn Tanguiétas«) genannt – kann sich also als Angehöriger der »Bauerngruppen« oder muslimischen »Händlergruppen«, als Bewohner eines Stadtviertels, in dem er Nachbarschaftsbeziehungen zu anderen unterhält, oder als Mitglied einer Religionsgemeinschaft, als Angehöriger einer kleineren Sprachgruppe oder als jemand, der einer politischen Partei nahe steht, als Mitglied einer Berufsgruppe u. a. definieren. Diese Definitionen sind allerdings, wie gezeigt wurde, nicht beliebig und schließen teilweise einander aus. Wichtig ist hier zu betonen, dass diese Zugehörigkeiten persönlich jeweils auch etwas Verschiedenes bedeuten können. Ein Dendi zu sein kann z. B. bedeuten, als Muslim in einer Teilöffentlichkeit Anerkennung zu finden, einer »Familientradition« zu folgen oder sich als neuer Händler einer universaleren Gruppenzugehörigkeit anzuschließen, moralischen Prinzipien zu folgen. Einige dieser kollektiven Identitäten fallen zusammen und verstärken die Tendenzen der Inklusion und Exklusion: die Fleischer sind z. B. zumeist gleichzeitig Muslime. Hier wird, wie gezeigt wurde, Dendi – analog Hausa in anderen Fällen – ein Idiom für berufliche Zugehörigkeit, ist mit einem bestimmten Arbeitsethos sowie moralischen Kategorien der Inklusion verbunden, die es allerdings auch ermöglichen, die Kriterien der Konversion zu definieren. In ähnlicher Weise erfolgt die Betonung speziellerer Identitäten durch die in den letzten Jahren wieder verstärkte Politisierung innerhalb der »Bauern-

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gruppen« hinsichtlich (angenommener) Abstammung, Sprache und vor allem regionaler Dominanz. Die associations de développement werden von Politikern organisiert, die gerade den Zusammenhalt von Netzwerken über Tanguiéta hinaus reorganisieren und Leute mobilisieren können. Politiker der nationalen Ebene suchen zunächst ihre Verankerung innerhalb dieser Teilidentitäten; sie wollen etwa von den Byerobe oder Natemba sozusagen innerhalb einer Hausmacht gewählt werden. Allerdings liegt in der Politisierung der kommunalen Sozialbeziehungen wiederum der Ausgangspunkt für erfolgreiche übergreifende Zuschreibung: als Sohn der Region (fils de terroir oder genauer fils de Tanguiéta), ein Beamter oder Politiker, der für alle Bewohner ein Ansprechpartner sein kann. Als fils de Tanguiéta können sie z. B. als Parteipolitiker Zustimmung auch trotz der beschriebenen soziokulturellen Heterogenität erhalten. Diese solcherart agierenden Politiker sind erfolgreicher als jene, die auf eine ethnische Karte setzen. Sie müssen allerdings auch Interessenkonflikte und überlappende Zugehörigkeiten ausbalancieren. In der Kommunalpolitik gibt es also kein automatisch wirkendes »segmentäres Prinzip«. Es handelt sich um jeweils aktuelle politische Prozesse und öffentliche Diskurse, die hier Anhängerschaften oder Gegnerschaften konstituieren. Die beschriebenen dominanten kollektiven Identitäten im Raum Tanguiéta entstanden historisch aus einem Wechselspiel sozioökonomischer und sozialer Differenz, abgrenzender Selbst- und Fremdsicht sowie der Etablierung von Interessengruppen. Integration (wie Konfliktminderung) innerhalb der Gemeinde erfolgt nicht über unterschiedliche soziale und kulturelle Zugehörigkeit, sondern über kommunale und nationale Faktoren wie Wahlen, die Intervention des Kommandostaates bzw. über den Wandel des Alltagslebens vor allem bei der jüngeren Generation. Die vorstehenden Ausführungen sollten vor allem meine Interpretation verdeutlichen, der zufolge die Politisierung kollektiver Identitäten in dieser Region jeweils durch geschichtliche Entwicklungen, vor allem äußere Intervention in Verwaltung, Wirtschaft und Kultur, akzentuiert bzw. auf die öffentliche Bühne (public agenda) gebracht wurde. Sie erfolgte teilweise auch parallel zu ökonomischen Veränderungen in der Region, aber teilweise auch losgelöst davon. Somit lassen sich die Phasen der Politisierung kollektiver Identitäten nicht immer

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mit reinen Verteilungskämpfen bzw. ökonomischer Partizipation gleichsetzen, wenngleich auf der Ebene der Argumentation politischer Akteure hier immer auf diese Identitäten angespielt wird. Die eingangs beschriebenen moralischen Räume verschieben sich, so meine Prognose, sicherlich langfristig durch den allgemeinen sozialen und ökonomischen Wandel in der Region, der unausbleiblich ist und vor allem in den Mittelstädten und größeren Verwaltungssitzen bereits begonnen hat. Sie könnten aber zum Ausgangspunkt erneuter Akzentuierung von Differenz bis hin zu neuerlicher Desintegration führen, wenn sich z. B. anlässlich kommunaler Konflikte um neue oder knapper werdende Ressourcen oder Entscheidungen bestimmte Interessengruppen faktisch oder auch nur rhetorisch auf kulturelle und soziale Differenz berufen. Wichtig wird die Rolle von Institutionen der Konfliktschlichtung sein, die Konfliktursachen nicht als »ethnisches«, sondern rechtliches Problem darzustellen vermögen. Besonders die anstehende Umsetzung der Gesetze zur Dezentralisierung mit Verwaltungsreformen, der Einstellung eines Gemeinderates mit Budgetrechten und Kommunalwahlen könnte hier der nächste Prüfstein werden. Anmerkungen 1 Das Dendi ist mit dem Songhay verwandt. Es hat sich mit der Wanderung der Händlergemeinschaften aus dem heutigen Niger und nordöstlichen Bénin ausgebreitet und besteht heute aus verschiedenen Dialekten. Es ist als Verkehrssprache im gesamten Atakora und Borgou verbreitet. Dendi als Ethnonym ist sehr weit gefasst und bezeichnet auch Personen, die Dendi sprechen, auch wenn ihr Ursprung sehr unterschiedlich ist. 2 Eine Fallstudie zur Herausbildung der ökonomischen Komplementarität und Arbeitsteilung einzelner endogamer Gruppen legt z. B. Müller (1989) für Mali vor. 3 Tanguiéta als Kommune bleibt ein plurales Gemeinwesen. Integration entlang sozioökonomischer Differenz erfolgt hier meiner Auffassung nach (und in einem gewissen terminologischen Dissens zu anderen Autoren dieses Bandes) als Integration in das (fragile) lokal-politische Gemeinwesen, nur begrenzt als Integrationsleistung in sozialer und kultureller Hinsicht.

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4 Eine große Rolle bei der Revitalisierung und Folklorisierung lokaler Kulturen spielt in diesem Zusammenhang auch die lokale Radiostation (Grätz 1998). 5 Die Angehörigen der einzelnen Bauerngruppen sprechen meist die Sprache ihrer Nachbarn, allerdings die Sprachen der später eingewanderten (Hausa, Dendi) relativ dazu in weit bescheidenerem Maße – vor allem wenn sie weiter entfernt von Tanguiéta wohnen. Für den Marktaustausch wird meist ein einfaches Dendi verwendet. Die Händler beherrschen meist auch einige Wörter wie auch Zahlen in den Gur-Sprachen, meist im Biali; allerdings in sehr begrenztem Umfang. Arbeitsmigranten und junge Intellektuelle, die eine Ausbildung durchlaufen haben, beherrschen meist besser die im nördlichen Atakora verbreitete Verkehrssprache Dendi. Innerhalb des Ortes Tanguiéta schält sich Dendi allerdings als die Verkehrssprache heraus, die auch fast alle Jugendlichen beherrschen. 6 In Bezug darauf ist es gerechtfertigt, diese Gruppen – von denen die meisten sprachlich zu den Oti-Volta (Manessy 1975) oder GurGruppen gehören – in kultureller Hinsicht als verwandt, als zu einem ein Kontinuum sozioökonomisch ähnlicher Einheiten gehörend, zu betrachten. Dies ist sicherlich nur eine Referenz (sie wird von Autoren wie Köhler [1958], Dittmer [1975] oder auch Aimé [1994a] vertreten, die zudem wenig über die aktuellen Gruppenbeziehungen und die Selbstsicht der einzelnen Gruppen aussagt). 7 Vgl. hierzu auch die Arbeiten zur Ausdehnung des Handels von Adamu (1978), Dramani-Issifou (1981) und Lovejoy (1980). 8 Fallstudien zu den sozialen Beziehungen zwischen Einheimischen und Eingewanderten Bewohnern in einem Zongo haben u. a. Cohen (1969), Shildkrout (1978) und Agier (1982) vorgelegt. 9 Wird als solches noch auf alten Karten der Region bezeichnet. 10 Der Name »Tanguiéta«, so ist man sich aber einig, bezieht sich zudem auf eine topographische Bezeichnung tankyeta, aus dem Tankamba / Waama für die Öffnung der falaises, das Ende der Schlucht, die die Durchquerung des Gebirges erleichterte. 11 Es kam zunächst vor allem zur Einwanderung der ancien combattants, Kriegsveteranen der französischen Armee, die auf Grund ihrer Pensionen die Nähe urbaner Dienstleistungseinrichtungen suchten.

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12 Viele Klangruppen reklamieren und pflegen bis heute Altäre in verlassenen Siedlungsgebieten. 13 Die heute in der Region gesprochenen Sprachen, ihrerseits von regionalen Varianten geprägt, sind an sich deshalb relativ jung. Vergleiche mit den ersten linguistischen Arbeiten zeigen neue Entwicklungen. 14 Dabei kann die genealogische Tiefe bzw. die Definition von Untersegmenten auch zwischen den Klanen sehr unterschiedlich sein. 15 Bezogen auf den Ort der ersten (mythischen) Landnahme, des Friedhofes und der Erdschreine. Das heutige Siedlungsgebiet ist durch Abspaltung und Wanderungen sehr zerstreut. 16 Die Bezeichnung ethnie verdrängt im alltäglichen französischen Sprachgebrauch allmählich die Bezeichnung race. Beide Begriffe werden auf Grund direkter vereinfachter Übersetzung aus den Lokalsprachen von den Bewohnern der Region sowohl auf soziolinguistische Kategorien (Natemba, Byerobe, Waaba etc.) als auch auf kleinere, auf Verwandtschaft rekurrierende Einheiten wie Klangruppen angewandt, denn außerhalb der Bezeichnung für die nahen Verwandtschaftsgruppen gab es – neben den direkten Fremdbezeichnungen für die Nachbarn – oft nur eine Kategorie, die soviel wie die »Anderen« bedeutete. 17 James Scott versucht in seiner Arbeit von 1976 vor allem, die Subsistenzethik südostasiatischer Bauern zu rekonstruieren. Er behandelt das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen und inkompatiblen Logiken der vom Staat ausgehenden (erzwungenen) Marktintegration und der Moralökonomie der Bauern. Die kolonialen und postkolonialen Rahmenbedingungen engten zunehmend den Spielraum dessen ein, was Scott »safety-first«-Prinzip nennt: ein auf Risikominimierung ausgerichtetes ökonomisches Handeln, das zugleich untrennbar mit moralischen Werten verbunden ist, in die die Mitglieder der einzelnen Gemeinschaften eingebunden sind. Ähnlich wie die von Thompson (1965) beschriebenen Maschinenstürmer (Jackards) führte die erzwungene Brechung ökonomischer und moralischer Prämissen der Bauern zur Verletzung ihres Gerechtigkeitsempfindens. 18 In Ougadougou heißt ein Stadtviertel Zangwetin (Verbindung von Zango und dem More-Ausdruck für Stadtviertel). Bis heute leben dort Hausa. Es war ursprünglich im 19. Jahrhundert das

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erste Viertel der Fremden (Händler), das ihnen vom Moogo Naaba zugewiesen wurde. Das Wort Zongo (oder Zango, oft im Französischen übersetzt mit caravansérail) kommt aus dem Hausa. Die Hausa waren die ersten Händler, die längere Distanzen im genannten Raum Westafrikas zurücklegten (vgl. Adamu 1978). Bekannt sind vor allem die Kola-Handelsrouten (Lovejoy 1980). Die historischen Ursprünge dieser Bewegungen betreffend ist es, wie Adamu ausführt, aber nicht einfach, genau zwischen »reinen« Händlern und Islamgelehrten zu unterscheiden, die auf ihren Wanderungen ebenso Handel zum Lebensunterhalt betrieben. Für ein Beispiel der Bedeutung von Vertrauen in der Geschichte der Entwicklung und Ausdehnung des Handels – hier im südlichen Afrika – vgl. von Oppen (1993). Mit dem Begriff der Binnenintegration sind hier soziale Bindungen innerhalb einer Teilgruppe der lokalen Gesellschaft gemeint. Ich schließe hier an Autoren wie Elias / Scotson (1990), die hier den Begriff der »Insider« verwenden, und Elwert (1982) an. Damit sind einzelne Bereiche des Alltagslebens gemeint, die spezifische Normen und Regeln, Institutionen, Hierarchien sowie Sanktionsformen weitestgehend jenseits »offizieller« staatlicher Regelungen oder anerkannter Satzungen ausgebildet haben. Sie sind generell typisch für afrikanische Gesellschaften, in denen der Staat nie totalisierend wirkte, in einige Bereiche überhaupt nicht eingreift bzw. in anderen, empirisch betrachtet, zu schwach ist (Jackson / Rosberg 1982) (und seine Vertreter auch Unwillens sind), offizielle Gesetze durchzusetzen. Wenn hier die Rede von kulturellen Unterschieden ist, so soll noch einmal betont werden, dass ich mich im Anschluss an Barth (1969: 14) auf die Vorstellungen der Akteure selbst stütze. Gnammi Abdullahi Kampotta, ein Byerobe, wurde 1960 in Mamoussa in einer Bauernfamilie geboren. Er ist in Matéri aufgewachsen, besuchte dann aber später die Schule bis zum Niveau CM2 in Tanguiéta. Er hat heute eine Frau und vier Kinder. Er wohnt in seiner eigenen Villa zusammen mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern, die Mechaniker und Schweißer lernen. Sein Vater, Sahgui Gnammi, war Bauer und Militärveteran des

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Indochinakrieges. Im Jahre 1971 starb der Vater. Abdullahi war 11 Jahre alt. Er verließ die Schule und wurde Händler. Zunächst war er Gehilfe und Lehrling des Kleinhändlers Ousmanou aus Porga und war als Kommissionshändler aktiv. Seit 1989 führt er seine eigene Boutique. Inzwischen hat er seine unternehmerischen Aktivitäten erweitert und hat die SONACOP-Tankstelle gepachtet, die er zusammen mit einem Freund führt. In Tanguiéta hat er zahlreiche gut ausgestattete Häuser gebaut, die er vermietet. Kampotta ist Moslem: »Nach dem Tod meines Vaters bin ich Moslem geworden. Inzwischen respektieren mich alle. Ich habe niemals jemanden betrogen!« (Tanguiéta, 22.6.1996). 25 Mitte des Jahres 2001 sollen Kommunalwahlen stattfinden, aus denen ein Gemeinderat hervorgehen wird. Literatur Adamu, A. (1978): The Hausa Factor in West Africa, Zaria: Ahmadu Bello University Press. Agier, Michel (1982): Commerce et sociabilité. Les négociants soudanais du quartier zongo de Lomé (Togo), Paris: Orstom. Aimé, Marco (1994a): »Frontiera ed etnie nell’Atakora (Nord Benin)«. Africa XLIX, S. 54-74. Aimé, Marco (1994b): »Djougou, una chefferie sulla rotta della cola«. Africa XLIX / 4, S. 481-497. Bachabi, A. (1980): La constitution du groupe Dendi de ZougouWangara: approche historique, Cotonou: École Nationale Supérieure. Bakel, Martin A. / Hagesteijn, Renée R. / van de Velde, Pieter (1986): »›Big-man‹: From Private Politics to Political Anthropology«. In: Martin A. Bakel / Renée R. Hagesteijn / Pieter van de Velde (Hg.), Private Politics. A Multi-Disciplinary Approach to ›Big-Man‹ Systems, Leiden: E.J. Brill, S. 211-215. Barth, Frederik (Hg.) (1969): Ethnic Groups and Boundaries, London: Allen & Unwin. Bourdieu, Pierre (1979): La distinction, Paris: Éditions de minuit. Cohen, Abner (1965): »The social Organization of Credit in a West African Cattle Market«. Africa 35 / 1, S. 8-19.

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Tilo Grätz

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe in der Elfenbeinküste und Burkina Faso Youssouf Diallo

Einleitung Der vorliegende Beitrag,1 der auf den Ergebnissen zweier einander ergänzender Feldforschungen im Westen von Burkina Faso und im Norden der Elfenbeinküste beruht (vgl. Schlee / Diallo / Guichard 1997),2 behandelt Prozesse der Integration, der Assimilation und der ethnischen bzw. beruflichen Differenzierung der Vieh haltenden Fulbe in einer mehrheitlich von Bobo-Bwa und Senufo-Bauern bewohnten Gegend. Die Fulbe (Sing. Pullo) sind nomadische Viehhirten, deren Wirtschaft im Wesentlichen auf der Rinderzucht basiert. Die Fulbe Burkina Fasos und die dortigen Angehörigen von Fulbe-Gruppen, die direkt oder über Mali in den Norden der Elfenbeinküste eingewandert sind, entsprechen einem weit verbreiteten Muster. Es ist anzunehmen, dass die ursprüngliche Ausbreitung der Fulbe von Senegambien aus in weiter östliche Regionen des Sudangürtels durch die nomadische Rinderhaltung bestimmt war. Das Einsickern von Fulbe in bäuerliche Gesellschaften war das Resultat eines sehr graduellen Prozesses, ausgelöst von kleinen Gruppen in kurzen Etappen. Durch die JihaadBewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts sind von Fulbe dominierte Staaten wie Fuuta-Tooro (Senegal), Fuuta-Djalon (Guinea), Sokoto (Nigeria), Maasina (Mali) und Adamawa (Kamerun) entstanden. Es

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gab unter den Fulbe-Gesellschaften Freie (F. rimbe) und Sklaven (F. maccube)3. Die Fulbe trieben von den Bauern, die von ihnen abhängig waren, Abgaben ein, während die Sklaven die landwirtschaftlichen Arbeiten und Hütearbeiten für ihre Fulbe-Halter erledigten. Nach dem Niedergang dieser Staaten und nach der Sklavenbefreiung haben sich die Fulbe, jetzt ihrer abhängigen Arbeitskräfte beraubt, erneut dem Pastoralismus zugewandt; einige von ihnen haben auch wieder eine nomadisierende Lebensweise aufgenommen. Dies ist auch bei den Fulbe im Westen Burkina Fasos der Fall, die sich seit den 1960er Jahren im Norden der Elfenbeinküste ausgebreitet haben. Die interethnischen Beziehungen zwischen den Fulbe, den BoboBwa und den Senufo-Bauern werden hier sowohl unter historischen als auch unter aktuellen Aspekten betrachtet. Ich werde versuchen, die Umstände darzustellen, unter denen die Fulbe ihre ethnische Identität geändert haben und ändern. Die Faktoren, die die Integration oder die Assimilation einer Gruppe in eine andere begünstigen, z. B. der Zugang zum Land, Eheschließungen, religiöse Aspekte (Islam) und Berufstätigkeit sowie die Ko-Residenz ethnischer Gruppen stehen im Zentrum meiner Analyse. Jede Untersuchung über Prozesse der ethnischen oder kulturellen Assimilation sollte den demographischen Faktor, d. h. die Anzahl der Immigranten, den Rhythmus ihrer Integration sowie die Dauer ihres Aufenthaltes berücksichtigen. Hierzu fehlen jedoch ausreichende Daten. Mein Beitrag konzentriert sich demzufolge auf die Analyse verschiedener Integrationsformen der Fulbe in die jeweiligen Dorfgemeinschaften. Dynamiken der Identität im pluriethnischen Kontext Erste Überlegungen zur ethnischen Identität in Westafrika gingen von europäischen Kolonialbehörden aus. Aus praktischen Gründen wurden Gruppen »entdeckt« und auf der Grundlage lokaler Diskurse klassifiziert. Somit wurde die Frage nach einem Identitätswechsel vernachlässigt. Die Kolonialethnologen legten ihr besonderes Augenmerk auf die physischen Aspekte der Fulbe-Identität. Unter dem Blickwinkel der physischen Anthropologie wurde ein Fulbe als Gegenpart zum Bambara betrachtet. Auch die Klassiker der Ethnologie legten größten Wert auf die kulturelle Dimension der ethnischen Identität, die aus der

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Außenperspektive nur über die Sprache oder die Religion konstruiert wurde. Die ethnischen Bezeichnungen »Senufo« und »Bambara« sind interessante Beispiele dafür. Die ethnische Differenzierung hat aber nicht nur eine kulturelle Dimension, sondern auch eine ökonomische Grundlage. Die ethnische Identität ist eine differenzielle Identität. Sie kann nur verstanden werden unter Bezugnahme auf ein allumfassendes System, in welchem sich die Gruppen in Beziehung zueinander definieren oder abgrenzen. Der fließende Charakter ethnischer Identitäten im Verhältnis zu Klan-Identitäten sowie die Umstände des Identitätswandels sind in einem hirtennomadischen und pluriethnischen Kontext in Nordkenia untersucht worden (Schlee 1994a). Amselle (1985) unterscheidet vor allem vier Handlungsräume in der vorkolonialen westafrikanischen Welt: den Raum des Austausches, die Sphäre der Staaten und des Kriegertums, die kulturelle und religiöse und letztlich die sprachliche Sphäre. Die Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen und Berufsgruppen werden im Inneren und in den Überschneidungsbereichen dieser Sphären geknüpft. In den Savannen des Nordens der Elfenbeinküste sowie des Westens Burkina Fasos, d. h., in jenen Gebieten, die uns hier interessieren, sind die Dynamiken der Identität ebenfalls Produkt einer langen Geschichte, in deren Verlauf bestimmte Gruppen miteinander in Berührung gekommen sind. Die Dorfgemeinschaften der Senufo und der Bobo-Bwa waren keinesfalls selbstgenügsam: Sie waren in große politische und wirtschaftliche Handlungsräume eingebettet (z. B. die Staaten Kong oder Djenné). Unter diesem Gesichtspunkt, so meine These, ist die Geschichte der Senufo von derjenigen der Dyula-Fernhändler nicht zu trennen. Braukämper (1992: 53) unterscheidet vier Varianten von Wandlungsprozessen. Zwei davon, die Verschmelzung und die Inkorporierung, lassen sich als Formen der Assimilierung zusammenfassen, während sich auf der anderen Seite die Formen der Differenzierung in Teilung und Proliferation unterscheiden lassen. Die Verschmelzung besteht darin, dass zwei oder mehrere Gruppen sich zu einer neuen vereinigen; Inkorporierung dagegen bedeutet, dass eine Gruppe die Identität einer anderen annimmt. Bei der Differenzierung handelt es sich dann um eine Teilung, wenn zwei oder mehr neue Gruppen aus einer alten entstehen, ohne dass diese alte dabei mit ihrer

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ursprünglichen Identität bestehen bliebe. Proliferation liegt vor, wenn eine oder mehrere Gruppen aus ihrem Körper heraus neue Gruppen hervorbringen. Die laufenden Prozesse bei den Bobo-Bwa in Burkina Faso und bei den Senufo der Elfenbeinküste lassen sich am ehesten mit den Begriffen der Verschmelzung und der Inkorporierung beschreiben. Andere Formen der sozialen und politischen Integration, die hier nicht behandelt werden, betreffen die Inkorporierung von Fulbe-Sklaven bzw. Nicht-Sklaven in den ehemaligen zentralisierten Staaten (z. B. Segu, Yatenga, Kano). Die so genannten Bagaredemba oder Silmimossi (»mossisierte« Fulbe) in Yatenga sind Beispiele dafür. Hier geht es also nicht um Prozesse individueller Assimilierung, sondern vielmehr um die Eingliederung von Fulbe-Gruppen in den Rahmen der Dorfgemeinschaften. Das aus der Ko-Residenz resultierende Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Familiengruppen unabhängig von ihrem ethnischen Ursprung aneinander bindet, konstituiert die dörfliche Gemeinschaft. Ein solches Gefühl der Zusammengehörigkeit kann ein Schritt zur Assimilation sein. Der Begriff Zusammengehörigkeit kann hilfreich sein, um die Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse der Fulbe in den aufnehmenden Dörfern zu beschreiben. Im Falle einer so beweglichen Gruppe wie der Fulbe ist die Zugehörigkeit oft nur zeitweilig. Es kommt vor, dass die Fulbe in aufeinander folgenden Etappen der Wanderung nacheinander zu verschiedenen Dorfgemeinschaften (Samo, Bobo-Bwa und Senufo) gehören, ohne jedoch ihre eigene Identität wirklich zu verändern. Diese vorübergehende Dimension der Zusammengehörigkeit zeigt sich auch zu den Gebetszeiten. Von der Fulbe-Identität kann man nicht sprechen, ohne die Rolle des Islams zu erwähnen, der den Bezugsrahmen zur Konstruktion der »Fulanität« darstellt. In der Elfenbeinküste gehören die Fulbe zur muslimischen Bevölkerung. Aus religiösen Gründen betrachten sie sich also häufig den muslimischen Dyula enger verbunden als den Senufo, die »nicht beten«. Der Islam, der eine zentrale Stelle im alltäglichen Leben einnimmt, ist ein Wesenselement der fulbischen Identität, und die Jungen praktizieren wohl aus diesem Grund schon sehr früh diese Religion. Manchmal scheint die ethnische Zugehörigkeit für die Prozesse interkultureller oder sozialer Abgrenzung nicht relevant zu sein. Neue

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Untersuchungen in Westafrika haben gezeigt, dass Gruppen sich in erster Linie nach Berufskriterien (Ackerbau, Handel, Rinderzucht) von anderen abgrenzen. In den meisten westafrikanischen Gesellschaften unterscheiden sich ethnische Gruppen, Kasten und andere soziale Gruppen vor allem in beruflicher, kultureller und ökologischer Hinsicht voneinander. Die Bezeichnung Fulbe oder Fula hatte eine berufliche Konnotation. Unter den Bambara-Bauern von Mali ist sie auf jene Gruppen angewandt worden, deren hauptsächliche Wirtschaftsform die Viehhaltung war, ungeachtet ihrer tatsächlichen ethnischen Zugehörigkeit. Fulbe in Burkina Faso und in der Elfenbeinküste Die westliche Region von Burkina Faso setzt sich aus den Provinzen Kossi (die Gegend von Nouna), Mouhoun (die Gegend von Dédougou) und Houet (Region von Bobo-Dioulasso) zusammen. Die Gegend um Nouna war der Hauptwohnort der Fulbe und ist noch heute eines der wichtigsten Gebiete der Rinderzucht in Burkina Faso. In den drei genannten Provinzen sind die Samo, die Marka, die Bobo und die Bwa die wichtigsten ethnischen Gruppen, in deren Nachbarschaft Fulbe unterschiedlichster Klan-Zugehörigkeit lebten. Die Samo bevölkerten das Ostufer des Sourou (Zufluss und Abfluss des Mouhoun). Das Samoland spielte in der Geschichte eine Rolle als Aufnahmegebiet für die ersten Fulbe-Gruppen wie Diallube und Jafunbe und wurde auch zum Zufluchtsort für Fulbe aus Barani, die den Angriffen der Jihaad-Armeen aus dem Maasina-Reich auswichen. Die Bobo und ihre Nachbarn, die Bwa, die gemeinsame kulturelle Eigenschaften aufweisen, sind sich in ihrer sozialen Organisation, der Religion und im politischen und rituellen Leben sehr ähnlich (Capron 1973; Le Moal 1980). Es sind diese beiden Gruppen, die am längsten in der Region ansässig sind. Sie waren es auch, die den Marka-FulbeGruppen hier Zugang gewährten. Bwa sind auch auf der anderen Seite der Grenze zwischen Burkina Faso und Mali (die Gegend von San) anzutreffen. Was die Marka anbelangt, so sind diese, noch vor den Fulbe, die älteste Zuwanderungsgruppe im Gebiet der Bwa, mit denen sie zumeist in harmonischen Beziehungen gelebt zu haben scheinen. Ihre Sprache ist derjenigen der Bambara verwandt.

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Die heute in der Elfenbeinküste lebenden Fulbe aus Burkina Faso stammen zum größten Teil aus der Region um Barani (Nouna). Bevor sie sich im Norden der Elfenbeinküste niederließen, hatten diese Fulbe-Gruppen mehrere Jahrzehnte in den Gebieten von San, Koutiala und Sikasso (im heutigen Mali) gelebt. Diese Regionen sind auch die wichtigsten Ursprungsorte der malischen Fulbe in der heutigen Elfenbeinküste. Zwischen 1940 und 1950 begannen die ersten Fulbe-Familien (der Sidibe-Klan), Barani zu verlassen, um sich im Gebiet von San (heute Mali) niederzulassen. Alle diese Auswanderungen sind im Kontext eines politischen und sozialen Wandels zu verstehen, der durch die Abschaffung des Häuptlingstums von Barani und durch die Befreiung ehemaliger Sklaven, deren Nachkommen (F. riimaaybe) zum Teil die Viehwirtschaft wieder aufnahmen, geprägt war. So gehören z. B. die so genannten Diallube-Banankoro zu den ersten Fulbe von Burkina Faso, die das alte Häuptlingstum von Barani während der Kolonialzeit aufgegeben haben. Der Grund hierfür war Machtmissbrauch durch die Häuptlinge von Barani gewesen, die unter dem Vorwand, Steuern einzutreiben, sich das Vieh der Diallube von Banankoro angeeignet hatten. Die Sidibe und ihre Vorläufer, die Diallube von Banankoro, folgten bei der Einwanderung im Abstand weniger Jahre aufeinander. Die zur Verfügung stehenden Informationen über die einstigen Wanderungen heutiger malischer Fulbefamilien zeigen, dass die meisten von ihnen den Sidibe aus Barani auf ihren Wanderungen gefolgt waren, indem sie denselben Weg bis nach Bougouni (heute Mali) einschlugen. Von Bougouni aus zogen die Viehhalter unter ihnen weiter nach Kolondieba, das im Umfeld der Stadt Sikasso liegt. Dort trafen sich verschiedene Hirtengruppen. 1962 drangen sie bei Tengréla auf das Gebiet der Elfenbeinküste vor, nachdem sie 22 Jahre lang in Mali gelebt hatten. Dies geschah in Folge des durch die Milizen des Regimes des malischen Präsidenten Modibo Kéita (1960-1968) auf die Fulbe ausgeübten Drucks, der diese dazu bewog, den Kreis Sikasso zu verlassen. Die Milizionäre beschuldigten die Viehhalter, Buschfeuer gelegt zu haben – eine Praxis, welche die Regierung bekämpfte. 1962 drangen auch bestimmte Gruppen von Sidibe-Fulbe in die Elfenbeinküste vor. Andere zogen sich wieder zurück nach Burkina Faso, um sich dort im Westen der Region von Orodara niederzulassen. Da dieses Gebiet von Tsetsefliegen verseucht ist und ihr Vieh zu sterben begann, beschlossen diese Fulbe, sich wieder ihren Verwandten anzu-

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

schließen, die sich bei Foulabougou im Grenzdepartement von Tengréla niedergelassen hatten. Eine zweite Welle der Einwanderung von Fulbe in die Elfenbeinküste bestand aus fulbischen Viehzüchtern, die aus dem Südwesten von Burkina Faso kommend in den Norden des Landes eindrangen. Diese Fulbe findet man vor allem im Departement von Ouangolodougou. Teile dieser später eingewanderten Gruppen, die man jedoch auch in Boundiali findet, datieren ihren Aufbruch von Barani in das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970. Die in jüngerer Zeit stattfindende Umorientierung der SenufoBauern im Norden der Elfenbeinküste auf die Viehhaltung hat dazu beigetragen, diese Region für solche Fulbe-Hirten attraktiv zu machen, die kommen, um ihre Arbeitskraft Viehbesitzern zur Verfügung zu stellen oder gelegentlich auch, um eine Anstellung in den Staatsfarmen zu suchen, die hier eingerichtet worden sind. Diese Wanderungen wurden zunächst von solchen Fulbe unternommen, die aus den Provinzen des Yatenga im Mossi-Gebiet in Burkina Faso und aus Mopti in Mali stammten. Sie begaben sich vor allem in die Gegend von Kong (Bernus 1960: 302). Im Allgemeinen kehrten diese temporären Migranten in ihre Ursprungsländer zurück, nachdem sie einige Jahre lang eine gute Bezahlung gefunden hatten. Die Wanderungen der Hirten, die aus den Gebieten langer Fulbe-Präsenz in Burkina Faso und Mali stammen, haben heute zunehmend definitiven Charakter. Im Rahmen der Fulbe-Einwanderung in die Elfenbeinküste lassen sich grob drei Tendenzen unterscheiden: Während die Wanderungsbewegungen 1960 unbedeutend waren, trat die Einwanderung der Fulbe in die Elfenbeinküste zwischen 1961 bis 1969 in eine Wachstumsphase und machte dann von 1970 bis 1975 eine entscheidende Wandlung durch. Seit dieser Zeit ist die Fulbe-Einwanderung zum Spielball der Politik geworden. Dies drückt sich darin aus, dass bestimmte Intellektuelle und Politiker der Elfenbeinküste sich nicht scheuen, diese Einwanderung als eine »Invasion« zu bezeichnen. Dieses Bild ist jedoch weit davon entfernt, die Realität wiederzugeben: Die Gesamtzahl der Fulbe, die in der Elfenbeinküste leben, wird auf 50.000 Personen geschätzt (Arditi 1990: 139), was im nationalen Maßstab einen unbedeutenden Anteil ausmacht. Bei den Fulbe stellt der Weiler (F. wuro) die Residenzeinheit dar, die durch gemeinsame Anstrengung geschaffen wird. Zu den Mitglie-

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dern der ursprünglichen Gründungsfamilie, die den Kern der Siedlung bildet, stoßen mit der Zeit andere Gruppen derselben geographischen Herkunft hinzu. Alle Bewohner des Weilers unterstehen der Autorität eines Anführers, des Ältesten. Die definitive Entscheidung der Fulbe, sich in einer neuen Siedlung niederzulassen, wird erst getroffen, wenn bestimmte Voraussetzungen dafür gegeben sind. Kennzeichen für die Endgültigkeit einer solchen Entscheidung ist vor allem der Bau einer Moschee. Zuvor versuchen die Fulbe-Neuankömmlinge, die Einstellung der Bauern ihnen gegenüber herauszufinden. Das anfängliche Misstrauen und Zögern, das man in der religiösen Praxis und im Siedlungsverhalten der Fulbe beobachten kann, äußert sich im Bau von Strohhüten und der Einrichtung provisorischer Gebetsplätze mit Umzäunungen aus Ästen. Wenn nach einem Zeitraum von zwei oder drei Jahren die Bedingungen für die Aufnahme als günstig betrachtet werden und man die dauerhafte Niederlassung beschließt, lassen sich die Fulbe von ihren neuen Senufo-Bekannten und von Saisonarbeitern aus Mali, die sie für diesen Zweck anheuern, Rundhütten aus Lehm bauen, die mit einem Strohdach gedeckt werden. Der Bau einer Moschee (F. misiide) und die Ankunft des Imams (F. almaami), des zeitlich letzten Zuzöglings in einer neuen Siedlung, sind Markierungspunkte der Sesshaftwerdung der Fulbe. Nützlich ist die Moschee auch als Schutzraum bei Regen. Deswegen spielt sie eine große Rolle in der Gastfreundlichkeit der Fulbe. Dort schlafen nämlich die Gäste eines Weilers. Der Status der Fulbe als Muslime, die fast abgeschlossen inmitten von Senufo-Heiden wohnen, ist wichtig für die räumliche Trennung, die man in verschiedenen Departements im Norden der Elfenbeinküste beobachten kann, wo die Weiler von den Senufo-Dörfern getrennt wirkliche Inseln aus Hütten sind. Der Islam der Fulbe passt sich aber auch an seine Umgebung an. Die Aufnahme der Fulbe in ein Senufo-Dorf wird oft durch die Existenz von Vierteln erleichtert, in denen Dyula leben. Das ist der Fall in bestimmten Dörfern, wo die Fulbe die Moscheen ihrer Glaubensbrüder, der Dyula, zum Freitagsgebet aufsuchen. Die Dyula nehmen auch an den Heirats-, Namensgebungs- und Trauerzeremonien der FulbeMuslime Teil. In Falle des Todes eines nichtmuslimischen Senufo werden sie allerdings erst nach der Beerdigung ihr Beileid bekunden. Auf der anderen Seite werden in den eigenständigen Weilern die religiösen

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Aktivitäten von den Almaami und den Korankundigen (F. modiibabe, Sing. modiibo) geleitet. Ethnische Identität, Zuschreibung und Selbstidentifikation Das gängige Bild der sozialen Identität der Fulbe ist überall in Westafrika das der »Hüter des Viehs«. Im Allgemeinen sind die Namen der Fulbe-Gruppen von Ortsnamen bestimmt. In ihrer Gesamtheit bilden die wichtigsten Haupt(Boobolankoobe, Feroobe, Benduguube, Foynankoobe, Jafunbe) und Untergruppen (Jonkaarinkoobe, Waakambe) von Sprechern der verschiedenen Dialekte des Fulfulde die Fulbe-Gemeinschaft (pulaaku) im Norden der Elfenbeinküste, die sich ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Sonderstellung bewusst ist. Auf der intraethnischen Ebene ist es interessant, die interne Differenzierung kurz zu analysieren. Hier soll die Integration der Jafunbe in Burkina Faso und der Diskurs über die anderen Fulbe am Beispiel der Benduguube in der Elfenbeinküste untersucht werden: Der Jafuno (Pl. Jafunbe) im heutigen Mali war Ausgangspunkt der weiträumigen Verteilung von Fulbe verschiedener Klans in der Sahelzone zu einem Zeitpunkt, der nur schwer zu bestimmen ist. Die Jafun oder Jafun-Bororo, die man heute in Adamawa, Kamerun sowie in Zentralafrika und noch weiter im Sudan antrifft, sind Feroobe und bilden eine der Untergruppen der BororoNomaden. Die Jafun-Bororo sind ohne Zweifel zu den ersten Gruppen von Fulbe-Nomaden zu rechnen, die sich, ausgehend von Jafuno, zunächst im Tal des Niger aufgehalten haben, bevor sie ihre Wanderung nach Osten wieder aufnahmen und in die Region um Kano im Norden Nigerias vordrangen. Jelgooji und Liptaako, im Nordosten von Burkina Faso, Say im heutigen Niger und das Hausa-Land waren die wesentlichen Etappen dieser Fulbe-Hirten. Die meisten Autoren bezeichnen die Region um Kano als Wiege dieser Nomadengruppe (Braukämper 1992; Pfeffer 1936). Diese Annahme basiert auf der Tatsache, dass sich die Jafun-Bororo lange Zeit in Kano aufhielten, wo sie sich in verschiedene Untergruppen aufgespalten haben, bevor sie ihre Wanderung in die Feuchtsavannen des Kamerun wieder aufnahmen. In Burkina Faso werden alle Jafunbe oder Jafun dem Patronym Bari zugeordnet; umgekehrt sind aber nicht alle Bari Jafunbe. Heute trifft

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man Jafunbe vor allem im Norden der Elfenbeinküste und hier wiederum in erster Linie im Grenzgebiet bei Kawara (Departement von Ouangolodougou) an: Sie gehören zu den ersten pastoralen Wanderungsbewegungen, die sehr früh vom Samoland (Toma) aufbrachen und, nach einem kurzen Aufenthalt im Gebiet von Nouna und Orodara im Westen von Bobo, 1969 auf das Gebiet der Elfenbeinküste vordrangen. Unter dem Gesichtspunkt der Religion redet man manchmal in der Literatur von der niederen sozialen Stellung der Nomaden. Im Sudan z. B. gehören die Jafun-Bororo zu den weniger angesehenen FulbeGruppen und das Bild, das man sich von ihnen macht, ist das von Hinterwäldlern und falschen Muslimen (Braukämper 1992: 98). In Kamerun scheint es so, als sei das Prinzip der längeren Zugehörigkeit zum Islam das vorherrschende Kriterium, nach dem die früher zu dieser Religion konvertierten Fulbe sich von den Jafun-Bororo unterscheiden. Anders als die Jafun-Bororo tragen die Jafunbe im Westen von Burkina Faso kein Stigma auf Grund ihrer nomadischen Lebensweise und sie haben keine besonderen Züge, die ihnen von außen, von anderen Fulbe, zugesprochen werden. Was z. B. die Religion anbelangt, sind alle diese Jafunbe Muslime. Einige meiner Informanten sind bereits mehrere Male auf Pilgerfahrt in Mekka gewesen. Auch Kleidung und Lebensweise erlauben es nicht, sie von anderen Fulbe zu unterscheiden, die als Hirten in der Region leben. Auch der Lebensraum ist überall von gleicher Gestalt. Einige Jafunbe sind jedoch Einflüssen durch die Samo ausgesetzt gewesen, von denen sie außer der Sprache bestimmte Gewohnheiten übernommen haben, z. B. einen Bogen zu tragen. Daher rührt die Bezeichnung Fulbe ba’i, d. h. die »Fulbe mit dem Köcher«, für die kulturell nur unvollständig angeglichenen Jafunbe. Dieser Name findet auch Anwendung auf Minderheitengruppen unter den Fulbe wie z. B. die Diallube, die früher unter den Samo lebten, bei denen der Bogen in lokalen Kriegen und bei der Jagd Verwendung fand. Nach ihren Überlieferungen haben die Jafunbe, die vor allem Zebus besitzen, sich von jeher ausschließlich der Rinderzucht gewidmet. Sie haben in den Kriegen, die den Jihaad-Bewegungen des 19. Jahrhunderts vorausgingen und jenen, die ihnen folgten, keine bedeutende politische oder militärische Rolle gespielt. Deswegen betrachtet die Sangare-Untergruppe der Waakambe, die ihre Zeit mit

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

der Kriegsführung verbrachte, die Jafunbe als Fulbe na’i, d. h. als Fulbe, die ausschließlich den Rindern hinterherlaufen. Beide Bezeichnungen, Fulbe na’i und Fulbe ba’i, werden nicht mehr gebraucht, um die heutigen Jafunbe zu bezeichnen. Der Diskurs der anderen Fulbe bezüglich der Identität der Fulbe des Bendugu (Benduguube) ist ambivalent. Die Benduguube stammen ursprünglich aus der Region von San (Bendugu) und lebten früher in der Nachbarschaft der Bambara, deren Sprache sie übernommen haben. Sie züchten Rinder, haben denselben Kleidungsstil und dieselben Patronyme wie die Fulbe. Von den anderen Fulbe der Elfenbeinküste unterscheiden sie sich nur durch Eigenschaften von zweitrangiger Bedeutung wie die Sprache und Siedlungsform. Die anderen Fulbe, die vor allem in kleinen, verstreuten Weilern leben, erkennen in der Siedlungsform der Benduguube eine starke Tendenz zur Konzentration, die oft die Form richtiger Dörfer annimmt. In der Elfenbeinküste, wo die Fulbe eine ethnische Minderheit darstellen, zweifelt jedoch niemand an der »Fulanität« der Benduguube. Auch wenn die BenduguFulbe in vollem Umfang als Mitglieder der Fulbe-Gemeinschaft betrachtet werden, hindert dies die anderen nicht daran, sie gelegentlich geringschätzig als haabe (»schwarze Bauern«) oder als bamana fula (»Bambara-Fulbe«) zu bezeichnen. Es scheint, als hätten die Fulbe von Bendugu sogar Sklavenfrauen heiraten müssen. Heutzutage leben Bendugu-Fulbe, die diese Bezeichnung nur als Ursprungsort übernehmen, gelegentlich verstreut unter anderen Fulbe-Gruppen, mit denen sie sich auch verheiraten. Außer der Viehzucht betreiben sie Ackerbau und Handwerk und werden deswegen als Arbeiter höher geschätzt als andere Fulbe. In der Elfenbeinküste, wo Spannungen zwischen Viehzüchtern und Bauern bestehen, sagen die anderen Fulbe von den Bendugu-Fulbe, dass diese sich besser mit den Senufo verstehen als sie selbst. Ebenfalls in Bezug auf ihre Beziehung zu den Bauern beharren die Boobolankoobe (die Sidibe von Barani) darauf, dass sie sich von den Jonkaari unterscheiden. Sie behaupten, dass sie im Unterschied zu den Jonkaarinkoobe nie die Rinder der Bauern gehütet hätten und keine Lohnarbeit annähmen. Grundlage dieser internen Differenzierung ist also ein gewisser sozialer Stolz, der zum Ausdruck bringt, dass ein Fulbe nicht für einen Bauern arbeiten könne. Abgesehen davon sind die Beziehungen zwischen den Jonkaarinkoobe und den Sidibe har-

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monisch und es kommt zu interethnischen Heiraten. Die Boobolankoobe werden dagegen als ausgezeichnete Viehzüchter betrachtet. Bambara – Senufo – Dyula Die Senufo bevölkern eine breite Zone, die sich von der Gegend um Koutiala in Mali bis in die Nähe der heutigen Stadt Banfora im Südwesten von Burkina Faso ausbreitet und sich bis in die Elfenbeinküste hinein erstreckt. Der Norden der Elfenbeinküste setzt sich administrativ aus den Departements von Boundiali, Korhogo, Ferkéssédougou und Tengréla zusammen. Dort leben die Fulbe in der Nachbarschaft der Senufo und der Dyula. Das Senufo-Gebiet, in dem sich Fulbe aus Mali und Burkina Faso ausgebreitet haben, umfasst Zonen sehr unterschiedlicher Bevölkerungsdichte. Neben dünn besiedelten Departements gibt es diejenigen von Boundiali und Tengréla – Gegenden, in denen die Bevölkerungsdichte in ländlichen Gebieten 15 bis 16 Einwohner pro Quadratkilometer beträgt, und eine Verdichtungszone um Korhogo herum sowie im Osten dieser Stadt 70 Einwohner pro Quadratkilometer erreicht. Das Ethnonym »Senufo« umfasst verschiedene Untergruppen, die unterschiedliche Dialekte sprechen. Man unterteilt die Senufo in vier Hauptgruppen: die nördlichen, die zentralen, die östlichen und die südlichen (Glaze 1981; Knops 1980). Sie sprechen eine Gur-Sprache. Sprachen der Gur bzw. der voltaischen Sprachenfamilie der Elfenbeinküste werden nicht nur von den Senufo, sondern ebenso von den Lobi und den Koulango gesprochen, zwei Gruppen aus der Nordostregion des Landes (Departements von Bouna und Bondoukou), die aber nicht Gegenstand dieser Studie sind. Die Senufo der Elfenbeinküste gehören der östlichen, der südlichen und der zentralen Untergruppe an. Das Wohngebiet dieser drei Gruppen umfasst nicht nur den ganzen Norden der Elfenbeinküste (die Departements von Boundiali und Korhogo), sondern auch einen Teil der Nordwestregion (das Departement von Odienné) und der Nordostregion (das Departement von Bondoukou). Die Senufo des Departements von Boundiali, von denen hier die Rede sein wird, gehören zu den zentralen Senufo-Untergruppen. Die zentralen Senufo werden mit dem Terminus »Senambele« oder »Senambi« bezeichnet. Dieser Terminus ist auch eine Berufsbezeichnung und wird von den Fonon-Schmieden gebraucht, um sich von den

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Senufo-Bauern zu unterscheiden. Die Senufo aus dem Nordteil von Boundiali, die eine Untergruppe der Senambele sind, sagen, sie gehörten zur Gruppe der Tiebabele. Die Tiebabele, die von den Dyula »Niene« genannt werden, sind Senufo-Gruppen, die mit den Malinke und den Fernhändlern in engerem Kontakt stehen. Es liegt eine ganze Reihe von kritischen Analysen des ethnischen Begriffs »Senufo« bzw. »Bambara« vor (Bazin 1985; Trimingham 1970; Förster 1997). In der Literatur wurden Senufo und Bambara oft miteinander verwechselt. Der Terminus senufo ist ursprünglich ein Dyula-Sammelbegriff, den die frühen Händler gebrauchten, um die Gesamtheit der Sprecher der Siena-Sprache zu bezeichnen, und der später von der französischen Kolonialverwaltung aufgegriffen wurde. Die Senufo selbst bezeichnen sich als »Bamana«. Der Terminus bamana oder bambara ist häufig in einem generellen Sinne von Muslime gebraucht worden, um Nicht-Muslime zu bezeichnen, also diejenigen, die in den Statistiken als Animisten auftauchen (Bazin 1985). Diese ethnische Terminologie hat für die Senufo-Bauern, bei denen ich Interviews durchgeführt habe, keinerlei pejorativen Beiklang. Die Unterscheidung zwischen Senufo und Dyula hat eine ökonomische, eine kulturelle und eine religiöse Dimension. Der Terminus »Dyula«, der außer einem Kulturtypus eine Berufsgruppe bezeichnet, bedeutet auch Händler. Wenn z. B. ein junger Fulbe-Hirte vom Viehhüten zum Viehhandel übergeht, sagt man, er habe das dyulaya vollzogen. Die Senufo werden noch heute im Allgemeinen von den islamischen Händlern und den Fulbe als »Bamana« (»ungläubige Bauern«) bezeichnet. Im Gegensatz zu dieser kollektiven Zuschreibung verwenden die im Norden der Elfenbeinküste lebenden Senufo das Berufskriterium, um sich von anderen Sozialgruppen abzugrenzen. Die Faktoren, die den Senufo ein starkes Bewusstsein ihrer Identität gegenüber den Dyula und den Fulbe geben, sind weder die Sprache noch die Religion, sondern die Berufstätigkeit und vor allem die Arbeit auf den Feldern. Die Rinderzucht hingegen wird von den Senufo geringer geschätzt. Vor kurzem hat auch Förster (1997) auf die Arbeitsethik als zentralen Wert in der Senufo-Gesellschaft hingewiesen.

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Berufliche Spezialisierung und die Identitätsdiskurse: Gegensätze und Ergänzungen Die Bobo-Bwa in Burkina Faso und die Senufo in der Elfenbeinküste sind in Dorfgemeinschaften organisiert. Das Dorf ist die relevante Einheit und der Rahmen aller Aktivitäten. Um das Gefüge eines Dorfes besser verstehen zu können, muss man untersuchen, aus welchen Bevölkerungsgruppen es sich konstituiert hat. Die Gründerfamilie des Dorfes hat das Häuptlingstum inne, doch das ist eine geschmeidige Institution von eher kollegialem Charakter, da die Senufo keine Häuptlinge als wirkliche Autoritäten kennen. Inhaber der Autorität auf Dorfniveau sind die Ältesten, die auch rituelle Funktionen ausfüllen, insbesondere im Hinblick auf den Ahnenkult. Der Häuptlingsfamilie schließen sich in der Regel andere Familiengruppen und sozio-professionelle Gruppen an, die in gesonderten Wohnvierteln leben. Oberhalb der Familie steht das Wohnviertel als unmittelbar relevanter Bezugsrahmen. Der Häuptling jedes Viertels ist der älteste Mann der ältesten Familie, d. h. der Gründerfamilie der Siedlungseinheit. Die Versammlung der Häuptlinge der Viertel wird vom Erdherren des Dorfes geleitet. In bestimmten Dörfern fallen die Funktionen des Häuptlings eines Viertels und des Erdherren zusammen. Tatsächlich ist es der Erdherr (S. tarfwe), der aus der zuerst in das Gebiet gekommenen Familie stammt, der seine Macht an den Häuptling (S. pienfolo) delegieren kann. Letztere haben dadurch Verfügungsgewalt über einen Teil des Landes und ihre Zustimmung ist bei der Niederlassung Fremder im Dorf erforderlich. Was die Praktiken der Aufnahme von Gruppen von Fremden anbelangt, so dreht sich alles um die Landfrage. Es gibt genaue Regeln für die Aneignung und Aufteilung von Land, die auch das Recht temporärer Nutzung durch Fremde umfassen. Senufo-Bauern oder Angehörige anderer Ethnien, die Land zum Anbau beanspruchen, müssen rituellen Pflichten nachkommen, die den Zugang zu Land ermöglichen. Sie fügen ihren Gesuchen rituelle Gaben wie Kolanüsse, Hirsebier und Hühner bei. Die Reihenfolge ihres Verzehrs entspricht den verschiedenen Stadien der Zeremonien zur Übergabe eines Nutzungsrechtes an die Neuankömmlinge. Auch Yams – insbesondere dort, wo Yams eine größere Bedeutung in der Ernährung zukommt – und Holz spielen gelegentlich eine solche ritu-

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

elle Rolle. Das Landnutzungssystem der Senufo sieht auch temporäre Nutzungsrechte für die Fulbe vor. Doch um solche Nutzungsrechte zu erhalten, werden die Fulbe nicht den gleichen rituellen Obligationen unterworfen wie die Bauern. Die Fulbe sind nicht Fremde wie die anderen. Sowohl bei den Senufo als auch bei den Bobo-Bwa werden die Fulbe als durchreisende Fremde angesehen, auch wenn das nicht immer der Fall ist. Nach Ansicht der Senufo und Bobo-Bwa haben sie keine geheiligte Beziehung zur Erde, weil sie nicht in einem autochtonen Beziehungsnetz stehen, das an den Ahnenkult anknüpft. Daher gibt es auch keinen Niederlassungsvertrag zwischen den Fulbe und den Senufo, obwohl die Hirten sich an die Verantwortlichen des Dorfes wenden müssen, bevor sie einen Weiler gründen. Nirgendwo haben die Fulbe ein Eigentumsrecht an Land. Es ist ihnen daher auch in aller Form untersagt, einen Baum zu pflanzen und manchmal auch Brunnen zu graben. Das Verbot, Brunnen zu graben, berührt vor allem diejenigen Fulbe, die außerhalb der Dörfer »im Busch« leben und sich dort gerne dauerhaft niederlassen wollen. Dies ist vielleicht das häufigste Muster im Fulbe-Milieu. In einer solchen Situation überleben die Fulbe, indem sie in der Regenzeit das Wasser der Flussläufe nutzen und sich in der Trockenzeit an den Brunnen und Pumpen ihres Gastgeberdorfes versorgen. Andererseits können die Fulbe in den Dörfern ihrer Gastgeber die dort üblichen Dienstleistungen wie die eines Schmiedes in Anspruch nehmen, der – die Zustimmung des Dorfes vorausgesetzt – z. B. einen Brunnen für den Weiler graben kann. Im Süden von Boundiali sind das Austrocknen der Brunnen oder deren Einsturz Probleme, denen die Fulbe häufig gegenüberstehen. Obwohl sie mehrheitlich von Bauern bewohnt werden, die sich der Produktion von Lebensmitteln (Mais, Reis etc.) und Cash-Crops widmen, sind die Senufo-Dörfer Gesellschaften, die aus vielen kleineren Gemeinschaften bestehen. Hierzu trugen in der Vergangenheit insbesondere zwei Typen von Einwanderern bei: Dabei handelt es sich um Angehörige bestimmter sozio-professioneller Gruppen, die über technische und handwerkliche Fertigkeiten verfügen, und um bäuerliche Haushalte, die Land für den Ackerbau urbar machten und die z. T. auch im Besitz neuer agrarischer Techniken waren. Zu den jüngeren Einwanderern gehören auch Gruppen, die sich der Abgabepflicht an bewaffnete Banden entziehen wollten. Die Entwicklung der SenufoDörfer, die auf der Hinzufügung verschiedener sozio-professioneller

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Gruppen beruht, ist von den meisten oralen Traditionen ablesbar. Unter all den hinzugezogenen Fremden sind die Dyula-Händler, wie wir gesehen haben, diejenigen, die das ethnische und kulturelle Gesicht des Senufo-Landes am stärksten verändert haben. Neben Handwerker-Händlern, die als »Dyula« bezeichnet wurden, und Vieh haltenden Fulbe, die von den Senufo Flabele genannt werden, gehören Kastengruppen, insbesondere Schnitzer, Lederarbeiter (D. jeli), Schmiede (D. numu) und Kupferschmiede (D. loron) zu den wichtigsten Berufsgruppen, deren Gegenwart das ökonomische und soziale Leben diversifizierte (vgl. auch Launay 1995). Früher waren die Dyula reine Fernhändler. Ihre Einwanderung in das Senufo-Gebiet ist Teil der Mande-Expansion und einer der ältesten Bevölkerungsströme in den Savannenraum der Elfenbeinküste. Die Beweggründe der Dyula-Einwanderer, ins Senufo-Gebiet einzuwandern, waren anfangs vom Handel bestimmt. Die Einrichtung der ersten Händlerniederlassungen im Südwesten des Senufo-Landes reflektiert die Sorge der Dyula um die Kontrolle der Kolanuss-Produktion in dieser Zone. Von dort aus haben die Dyula das große politische Zentrum von Kong erreicht. Die Ausstrahlung des Staates von Kong und der Fernhandel, der wesentlich zur Verbreitung des Islams im Senufo-Gebiet beitrug, sind die beiden Faktoren des Dyula-Einflusses. Einige Senufo sind im Zuge des Aufbaus der politischen Organisation von Kong sogar zunächst von den Dyula assimiliert worden. Die nördlichen Senufo (im jetzigen Departement von Boundiali), die in Dörfern entlang der Handelsrouten siedelten, waren kulturellen Einflüssen der Dyula ausgesetzt, weil sie mit islamisierten Dyula-Händlern zusammenlebten, die die Weberei im Senufo-Land einführten. Entlang der Straße von Boundiali nach Tengréla, einem Teilstück der präkolonialen Handelsroute, die Kong mit Djenné verband, findet man besonders viele »dyulaisierte« Senufo. Diese unterscheiden sich von anderen Senufo in der Familienorganisation (sie sind patrilinear) und der damit zusammenhängenden Sozialstruktur. Auf Grund der Kompetenz der Dyula im Fernhandel und ihres Sozialprestiges nahmen einige Senufo die Kultur der Dyula an und änderten ihre Zugehörigkeit. Als Resultat dieses sozialen und kulturellen Wandels treiben sie heute, nachdem sie zum Islam konvertiert haben, Handel. Die Dörfer der »dyulaisierten« Senufo zu beiden Seiten dieser Achse sind in Viertel (D. kabila) aufgeteilt, von denen jedes

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

aus mehreren Familien desselben Ursprungs besteht. Diese auf Familien basierende Sozialorganisation findet man in vielen Senufo-Dörfern des Nordteils des Departements von Boundiali wieder, in deren Mitte man mehrere autonome Dyula-Viertel antrifft. Abgesehen von der beruflichen Spezialisierung und dem Verbot interethnischer Heiraten, bewohnten die jeweiligen Haushalte verschiedene Viertel. Sie unterschieden sich voneinander durch ihren Ursprung, ihre Patronyme und manchmal durch sprachliche Praktiken. Einige von ihnen pflegen untereinander besondere Beziehungen. Den Fulbe ist es verboten ihre »joking partner« zu heiraten. Dies trifft für die Numu und die Jeli zu, zwei Gruppen, deren Beziehungen zu den Fulbe als joking relationship bezeichnet werden. So sagt man, dass die Vorfahren der Vieh haltenden Fulbe, als sie in präkolonialer Zeit zum ersten Mal nach Tounvré kamen, dort bei den Vorfahren der heutigen Schmiede Aufnahme fanden. Letztere waren ihre Gastgeber (D. jatigi) und hatten sie erst später den Bewohnern eines anderen Viertels anvertraut. In wesentlich jüngerer Zeit, 1965, übernahmen Schmiede die Rolle des Mittlers zwischen dem Anführer der heutigen Fulbe-Hirten, die aus Barani stammten, und dem Häuptling von Tounvré, der ihn gastlich aufnahm. Oral-historische Zeugnisse über die Aufgabenverteilung zwischen den Senufo und den Fulbe in alter Zeit sind selten. Doch zeigen Hinweise aus Gesprächen, dass einige Eigentümer Viehhirten angeworben und diesen ihre Rinder anvertraut haben. Aus denselben Gesprächen ergibt sich, dass die Anwesenheit von Fulbe in bestimmten Gebieten des Nordens der Elfenbeinküste relativ lange zurückreicht, dass ihr demographisches Gewicht aber nur gering war. Ein Zensus, der in den 1950er Jahren durchgeführt wurde, ergab nur 942 Fulbe in der gesamten Region Tengréla-Boundiali (Holas 1966). Wenn man von den durchziehenden transhumanten Hirten absieht, die aus Bougouni (Mali) im Bambara-Gebiet stammen und regelmäßig nach Séguéla ziehen, stammen die meisten Fulbe-Hirten aus den Ortschaften im Norden von Boundiali und im gegenwärtigen Departement von Tengréla, an der Grenze von Mali. Diese ungleichmäßige Verteilung der Fulbe-Bevölkerung im Senufo-Gebiet muss man zur räumlichen Verteilung der Rinder in Beziehung setzen, die man in einigen Dörfern des Nordens der Elfenbeinküste vorfindet. Einige Fulbe, die mit den Senufo in gutem Einvernehmen gelebt

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hatten, wurden in die Gruppen ihrer Gastgeber aufgenommen. Es handelt sich dabei um den Prozess einer vollständigen Integration, obwohl die Fulbe dabei ihre Familiennamen behalten haben. In Tounvré führte ich ein Interview mit dem Ältesten einer Gruppe von Fulbe, deren Patronym Diallo ist und die zu Senufo geworden waren. Diese Fulbe, die sich kaum an ihre Ursprünge erinnern, waren anfänglich Hirten, die in das Dorf gekommen waren, um für die Bauern Rinder zu hüten. Auch im Grenzdorf Débété im Departement von Tengréla findet man Fulbe, und zwar Sangare, die behaupten, aus dem Wasolon zu stammen. Sie betreiben vor allem Landwirtschaft und Jagd. Diese »senufoisierten« Fulbe, die von den Bauern als »schwarze Fulbe« (flafing) bezeichnet werden, haben alle die Dyula-Sprache übernommen und sprechen keine Fulbe-Sprache (fulfulde) mehr. Die Unterscheidung schwarz/weiß entspricht einem häufig vorgefundenen Muster. Bei den Senufo dient sie dazu, die vollständig assimilierten Fulbe von den nicht assimilierten, die ihre Sprache und ihre Praktiken der Rinderhaltung bewahrt haben, zu unterscheiden. Wie wir sehen werden, unterscheiden auch die Bobo in der Gegend von Bobo-Dioulasso die transhumanten Hirten, die sie »rote Fulbe« (flè pènè) nennen, von den Fulbe, die gänzlich assimiliert in ihrer Mitte leben. Diese von der lokalen Bevölkerung gemachte Unterscheidung ist später zu einem Prinzip der Einteilung und zur festen Denkfigur der französischen Kolonial-Ethnologie geworden. Die Kolonialverwaltung zog eine Trennungslinie zwischen weißen und schwarzen Fulbe oder zwischen den »wahren« Fulbe und den »Mestizen« im Bereich der Religion (Islam), der Wirtschaft (Viehhaltung) und der Politik (Staaten- oder Reichsgründung). Der französische Forschungsreisende Binger war einer der ersten, die von »schwarzen« Fulbe sprachen oder von Fulbe, die sich mit der schwarzen Bevölkerung vermischt hätten. Ihm zufolge sind die schwarzen Fulbe diejenigen, die ihre Familiennamen und ihren »Rassentypus« bewahrt hätten, ihre Sprache aber vergessen hätten und eine »fetischistische« Religion praktizieren würden. Er berichtet von einer Begegnung mit Sangare-Fulbe in der Gegend von Tengréla, die die Senufo-Identität übernommen hätten. Diese Fulbe, deren Anzahl Binger auf ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Dorfes Fourou schätze, sind so assimiliert, dass sie kaum mehr als Fulbe erkennbar sind, da sie nicht nur ihre Sprache, sondern auch die Viehwirtschaft aufgegeben haben.

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe »Tätowiert wie die Senufo, gekleidet wie diese und deren Sprache sprechend, während sie die ihre vergessen haben und denselben Beschäftigungen nachgehen wie ihre Mitbürger, sind sie nur noch in Gestalt bestimmter Typen erkennbar, die die gerade und schmale Nase, die feinen Glieder, die Unterscheidungsmerkmale ihrer Rasse also, bewahrt haben« (Binger 1892, Bd. 1: 210).

Noch heute leben Fulbe in der Nachbarschaft der Senufo. Die Entscheidung zur Ansiedlung wird von den lokalen ökologischen Bedingungen, dem Vorhandensein von Ressourcen wie Wasser und Weideland und dem Zugang zu Handelsverbindungen, die den Abfluss von Milchüberschüssen erlauben, bestimmt. Es kommt aber auch vor, dass sich auf Verlangen der Bauern hin Fulbe-Hirten in den SenufoDörfern ansiedeln und dass sich unter diesen Fulbe auch solche befinden, die selbst Vieheigentümer sind. Die Senufo weisen den Fulbe Niederlassungsrechte zu, um sie zur Zusammenarbeit und zum Handel zu bewegen. Von einer Barth’schen Perspektive (1969) ausgehend kann man also sagen, dass die Senufo und die Fulbe sich nicht nur in einer lokalen Ressourcennutzungskonkurrenz befinden, sondern durchaus auch komplementäre Arrangements finden. Letztere sind die wichtigste Basis der sozialen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen. Diese Ergänzungsbeziehung zwischen beiden Produzenten zeigt sich im Verkauf von Zugochsen an die Bauern, die ihrerseits ihre Herden den Viehhaltern anvertrauen; z. T. auch im Vorhandensein von SenufoArbeitskräften in den Lagern der Fulbe (Diallo 1996b). Die in der Nähe der Dörfer siedelnden Fulbe hüten die Rinderherden der Bauern und verfügen über die Milch. Im Gegenzug können die Bauern des Dorfes den Rinderdung nutzen und bei Bedarf von den Fulbe, welche durch Kreuzungen geeignete Tiere züchten, Zugochsen kaufen oder leihen. Wie bereits erwähnt, ist die Kreuzung zwischen Fulbe- und Taurinenrindern als Zugtier sehr begehrt. Zwar ziehen die Zebus den Pflug ebenso gut, jedoch trennen sich die Fulbe nur ungern von Zebus. Die Bauern der Baumwollzone von Kasséré beschweren sich über diese Einstellung der Fulbe. Nur dank guter Beziehungen zu den Fulbe gelingt es einigen von ihnen, einen Zebu-Jungstier zu erwerben, um Kreuzungen zu züchten. Im heutigen Kontext des Nordens der Elfenbeinküste trifft man auf lokale politische Spannungen: Das Zusammenleben von Senufo- und

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Fulbe-Gruppen wird immer schwieriger, was den Integrationschancen von Viehhaltern in den Dörfern entgegensteht (Diallo 1999). Die Fulbe-Präsenz in der Elfenbeinküste wurde sehr rasch zu einem Politikum. Nach der Schaffung von Projekten zur Entwicklung der Viehund Weidewirtschaft in den 1970er Jahren wurde der staatlichen Administration von lokalen Eliten vorgeworfen, die Fulbe-Ausländer bevorzugt und ihnen übermäßige Vorteile eingeräumt zu haben. Die durch den Weidegang einer Rinderherde verursachten Verwüstungen von Pflanzungen auf den Feldern der Bauern haben die bestehende Kontroverse verschärft. Aus dem Norden der Elfenbeinküste stammende Intellektuelle, Beamte und Politiker haben daraufhin natürlich nicht versäumt, von der Regierung eine Stellungnahme zu fordern. Noch heute versuchen zur Wahl stehende Kandidaten, die Unzufriedenheit der Bauern zu ihrem Vorteil zu nutzen, indem sie versprechen, die Fulbe in ihre Herkunftsländer (nach Burkina Faso und nach Mali) zurückzuschicken, um das Problem der Flurschäden und die Bodenkrise zu lösen. Die Konflikte führen gelegentlich zum Abwandern von Fulbe-Gruppen aus einer bestimmten Region. Durch die angespannte ethnische Lage wurde die Migration zahlreicher Fulbe aus der Elfenbeinküste ausgelöst. Einige Viehzüchter zogen sich nach Burkina Faso (in das Gebiet von Banfora) und nach Mali zurück. Was die differenzierenden Faktoren anbelangt, so spielen die religiöse Zugehörigkeit, die Trennung der Wohngebiete und die Konkurrenz um den Zugang zu Ressourcen (Land, Wasser) eine wichtige Rolle (Diallo 1996a). Für die ökologischen Probleme werden die FulbeViehhalter verantwortlich gemacht. In Boundiali führen manche Bauern die Wasserprobleme auf die Ankunft des Großviehs der Fulbe in ihrem Dorf zurück. Nach Ihrer Ansicht führt nicht nur das Tränken der Rinder zur Erschöpfung der Wasserstellen, sondern auch die von ihnen verursachten Trittschäden, die zum schnelleren Abfluss des Oberflächenwassers in tiefer gelegene Bereiche außerhalb des Dorfes führen. Darum glauben die Bewohner bestimmter Dörfer, dass die Lösung ihrer Probleme darin läge, das freie Herumlaufen des Viehs der Fulbe zu verbieten. Dies ist aber gleichbedeutend mit einer Vertreibung der Fulbe aus ihrem Territorium. Häufig ist auch zu hören, dass die Bauern die Fulbe des Diebstahls bezichtigen. So haben die Bewohner eines Dorfes uns gesagt, sie hätten die Rinderhaltung deswegen aufgeben müssen, weil die Fulbe ihre

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Pferche geleert hätten. Ihrer Ansicht nach gehört der Rinderdiebstahl zum regulären Erwerbsleben der Fulbe. Der Akzent auf der beruflichen Spezialisierung ist die Grundlage ethnischer Differenz zwischen Senufo und Fulbe. Tatsächlich betrachten die Senufo die Rinderhaltung als berufliche Spezialisierung der Fulbe, denen sie gern ihre Rinder anvertrauen, um sich selbst mehr der Bearbeitung des Bodens widmen zu können, mit dem sie sich sehr verbunden fühlen. Das Prestige, das besonders erfolgreichen Bauern in der lokalen Gemeinschaft zukommt, gehört zu den Werten der Senufo-Gesellschaft. Solche Werte werden auch durch die Feldarbeit ausgedrückt (siehe auch Förster 1997). Neben diesem identitären Idealbild spielen hier auch praktische Überlegungen eine Rolle: Seit 1962 gehört das Senufo-Gebiet zum Baumwollgürtel der Elfenbeinküste und ist besonders stark in die Geld-Ökonomie integriert. Gewöhnlich unterscheidet man zwei Formen der Rinderhaltung im Norden der Elfenbeinküste: die »transhumante« Viehzucht, wie sie von den Fulbe betrieben wird, und die »sesshafte« Viehzucht, die den Senufo- und Lobi-Bauern eigen ist. Roussel (1965: 73) hat die Hypothese aufgestellt, dass die Senufo ursprünglich Viehzucht betrieben, erst zu einem späteren Zeitpunkt Bauern wurden und sich heute so etwas wie eine Rekonversion zur Rinderhaltung abzeichnen würde. Als Indiz für die historische Praxis der Rinderhaltung bei den Senufo gibt er an, dass die Senufo ihre Toten in Rinderhäute einwickelten. Heute sind Rinder bei den Senufo vor allem eine Geldanlage, jedoch werden sie nach wie vor in Begräbniszeremonien verwendet. Nach den offiziellen Zahlen gehört ein Drittel der nationalen Herde, die 1994 auf 1.300.000 Stück geschätzt wurde, zu den Herden der Fulbe, deren Tiere ungefähr 50 % der nationalen Milch- und Fleischproduktion liefern (Ministère de l’Agriculture 1994). Das ökonomische Gewicht der Fulbe-Bevölkerung in der Elfenbeinküste ist beträchtlich, steht aber im Widerspruch zu ihrer Lage als ethnischer Minorität. In der Elfenbeinküste ist die Fulbe-Identität mit den ökologischen Aspekten der Rinderhaltung eng verbunden, wobei die verschiedenen Unterarten und Rassen des Hausrindes über unterschiedliche ökologische Anpassungen verfügen. Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen dem Buckelrind oder Zebu (bos indicus) und dem buckellosen Rind, das wohl von vorderasiatischen Formen des Auerochsen abstammt (bos taurus). Die Einführung des Zebus in der Feuchtsavanne

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der Elfenbeinküste geht auf die Fulbe zurück. Die Tsetsefliege ist der entscheidende begrenzende Faktor für die Zebu-Zucht unter semihumiden Bedingungen. Die Fulbe unterteilen ihren Viehbestand in Milchherde und Satelliten- oder »Buschherde«. Diese Unterteilung entspricht häufig der in Zebus und taurine Rinder. Die Milchherde, in der oft taurine Rinder überwiegen, wird in der Nähe des Dauerlagers gehalten und produziert die Milch für den Gebrauch der Familie. Was die Satellitenherde anbelangt, die vor allem aus Zebus besteht, so wird diese einem Lohnhirten anvertraut und bewegt sich im ständigen Ortswechsel. Die Fulbe sagen, dass es dem Zebu nur gut gehe, wenn es auf ständiger Wanderschaft sei. Tatsächlich verträgt das Zebu lange Wegstrecken sehr gut und ist daher in erster Linie an das nomadische Leben vieler Fulbe angepasst. Wenn man sich die Zucht von Zebus in der Elfenbeinküste genauer ansieht, so stellt sich heraus, dass der Besitz dieser Tiere die Fulbe von den Senufo unterscheidet. Das Zebu ist bei den Fulbe ein Anlass zu Stolz und Symbol der Gruppen-Identität. Trotz der ökologischen Zwänge, die die Zebu-Zucht in den Savannen der Elfenbeinküste einschränken, bringen die Fulbe nach wie vor ihre Affinität zum Zebu zum Ausdruck. Sie benutzen zwei Termini für das Zebu-Rind: na’i pulli (Sing. naggè pullel) und senooji (Sing. senoori). Aus einer identitären Perspektive ist der Ursprung dieser zwei Termini interessant, da hierdurch das Zebu als konstitutives Element in die Fulbe-Identität integriert wird. Die Bezeichnung na’i pulli, die wörtlich nichts anderes als »Rinder der Fulbe« bedeutet, drückt eine ethnische Besitzergreifung dieser Rinder durch die Fulbe aus, während senooji auf den geographischen Ursprung in der Sahelzone hinweist: auf die Tatsache, dass die Zebus von den Fulbe aus dem Seeno eingeführt wurden. Diese Ortsbezeichnung bezieht sich auf die sandige Ebene, die sich vom Norden Burkina Fasos aus weit in malisches Territorium bis hin zum Land der Dogon erstreckt. Das Zebu spielt also eine Rolle in den Identitätsbehauptungen der Fulbe und ist verknüpft mit der landschaftlichen, ethnischen und kulturellen bzw. religiösen Zugehörigkeit. Eine Legende, die auf den Ursprung der Zebus in Arabien und die Spezialisierung der Fulbe auf die Zucht dieser Unterart hinweist, legt darüber ein beredtes Zeugnis ab: Nach dieser Legende sind vier Kühe und ein Bulle, alle Zebus, vom Himmel herabgestiegen, nachdem ein

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Heiliger (D. waliju) Gott um Hilfe angefleht hatte, als er Gäste hatte und nicht wusste, wie er diese bewirten sollte. Nachdem es den Fulbe gelungen war, die Rinder zu zähmen, trieben sie sie durch das Meer und durch Äthiopien hindurch bis nach Westafrika. Während die Zebu-Rinder für die Muslime, also die Fulbe, bestimmt gewesen seien, sei das Taurus-Rind eine pharaonische Schöpfung, dem Gott das Leben eingehaucht habe. Die Häufigkeit der Farben Rot und Schwarz im Fell der taurinen Rinder sei ein Beweis für deren heidnischen Ursprung. Diejenigen Fulbe, die die Legende erzählen und den heidnischen Ursprung der taurinen Rinder betonen, sagen freilich, dass die Zucht der taurinen Rinder eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei. Tatsächlich vermehrt sich das Taurus-Rind schneller als das Zebu, weil die Jungkühe früher reif sind als die des Zebus. Wandel ethnischer Identität der Fulbe bei den Bobo-Bwa Dieses Kapitel befasst sich mit dem Fall der Fulbe im Westen von Burkina Faso, die Bobo oder Bwa geworden sind. Der Westen von Burkina Faso ist eine Region, die ältere und neuere Einwanderungen Vieh haltender Fulbe aufweist, eine Zone der Ausbreitung des Pastoralismus in Form eines Dreiecks, markiert durch Nouna im Nordwesten, Bobo-Dioulasso im Süden und Houndé im Osten. Diese Zone umfasst nicht nur Bwa- und Marka-Dörfer entlang der Nationalstraße von Dédougou nach Bobo, wo sich seit langer Zeit Sidibe- und Sangare-Fulbe aus den alten Häuptlingstümern von Barani bzw. Dokwi niedergelassen haben, sondern auch Bobo-Dörfer nördlich der Nationalstraße von Bobo nach Ouagadougou. Dieses Gebiet, wo Bauern und Hirten zusammen leben, ist gleichzeitig eine der bedeutendsten Zonen des Baumwollanbaus in Burkina Faso. Unter den für den Markt bestimmten Agrarprodukten nimmt die Baumwolle den ersten Rang ein. In den Jahren 1993 / 94 nahm sie nach jüngeren Schätzungen 11 % der bebauten Fläche in dieser Zone ein, nach Getreideanbau (80 %) und noch vor den Erdnüssen (6 %) (Faure / Kleene / Ouédraogo / Raymond 1996). Früher stand diese Region unter dem hegemonialen Einfluss der Sidibe- und Sangare-Fulbe aus den Häuptlingstümern von Barani und Dokwi, an die die Bwa-Bauern Tribut zahlten. Aufeinander folgende Gruppen von Fulbe-Migranten haben sich aus Gründen des Weide-

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managements zunächst in den Dorfgemeinschaften der Bobo und der Bwa niedergelassen. Einige von ihnen, besonders die Sidibe und die Sangare, haben in Barani und in Dokwi Enklaven gegründet, die sich im 19. Jahrhundert zu Staaten entwickelten. Teile der Sidibe- und Sangare-Fulbe, die führende Rollen in Barani und Dokwi innehatten, wurden sogar in Bobo- und in Bwa-Gruppen aufgenommen. Diese Fulbe haben also einen Wechsel ihrer ethnischen Identität vollzogen. Die Überlieferungen in den Dörfern der Bobo und der Bwa, die im Allgemeinen die sesshafte Lebensweise dieser beiden Völker hervorheben, erwähnen nur geringe Ortsveränderungen von Individuen oder Familiengruppen, die zumeist auf der Suche nach kultivierbarem Boden, nach einem Jagdgebiet oder nach Eisenerz beruhten. Das erklärt, warum die meisten dieser Ursprungslegenden die Entdeckung oder die Gründung des Dorfes Jägern oder Schmieden zuschreiben. Die Mitglieder sozio-professioneller Sondergruppen unter den Bobo und den Bwa, insbesondere die Schmiede und Griots, zählen zu den mobilsten Elementen der Gesellschaft. Während die Migration der Griots von rituellen Motiven bestimmt wird (Beerdigung), sind die Schmiede in ständiger Bewegung, um Erz zu suchen, das sie für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte benötigen. Es soll oft vorgekommen sein, dass sie die Ältesten des Dorfes über einen interessanten möglichen Siedlungsplatz informierten. Im Gebiet von Bobo-Dioulasso gibt es auch viele Erzählungen von Dorfgründungen, die berichten, Jäger hätten sich zuerst niedergelassen und später hätten sich andere aus ihrer Ursprungsgruppe ihnen angeschlossen. Die Bobo- und die Bwa-Gesellschaften im Westen von Burkina Faso haben eine eigene Konzeption politischer Gemeinschaft. Das Dorf ist eine funktionale Einheit. Es besteht aus Vierteln, die ihrerseits aus mehreren Lineage-Segmenten bestehen. Die soziale Organisation der Bobo weist jedoch starke Elemente eines Klan-Systems auf (Le Moal 1980). In beiden Gesellschaften hat die Gründerfamilie des Dorfes den Status von Autochthonen und Gastgebern. Die Macht liegt in den Händen der Ältesten, die das überlieferte Häuptlingstum innehaben und die den anderen Gruppen, aus denen das Dorf besteht, übergeordnet sind. Der Erdherr wird vom Rat der Ältesten aus mehreren Kandidaten ausgewählt. Er hat eher rituelle als politische Funktionen. Es ist seine Aufgabe, den Schutz des Dorfes zu garantieren. Unter seiner Leitung »grüßen« die Ältesten des Dorfes die Gottheiten oder

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

danken ihnen, indem sie ihnen Opfergaben darbringen; das Gleiche gilt für die Ahnen, die dann zu ihren Gunsten eingreifen sollen, damit es gute Regenfälle gibt oder eine Epidemie einen anderen Weg nimmt. Ebenso wichtig ist die Rolle des Erdherren für die Vermittlung zwischen Neuankömmlingen wie z. B. den Fulbe und den Schutzgottheiten des Dorfes. Diese Mittlerrolle macht aus dem Erdherren des Dorfes eine zentrale Persönlichkeit für die Festlegung und Umsetzung der Aufnahmepolitik gegenüber Neuankömmlingen und für die Zuteilung von freien Landparzellen an Bittsteller. In einigen Bobo-Orten gibt es nicht einen einzigen Erdherrn, der für die Erde verantwortlich ist. Hier kann das Oberhaupt eines jeden Viertels die ihm übertragene Macht der Kontrolle über seinen Teil der Bodenfläche ausüben und die Bedingungen für den Zugang Fremder beeinflussen. Aber wie bei den Senufo ist auch hier die verbreitetste Verfahrensweise für Fremde, ein Geschenk, normalerweise zwei Hühner und Hirsebier, mitzubringen, um das Wohlwollen der Vorfahren des Dorfes zu erlangen. Die Reproduktion der sozialen Diversität Bei den Bobo, den Bwa und den Marka ist die vorherrschende politische Organisationsform die der autonomen Dorfgemeinschaft. »Autonomie der Dorfgemeinschaft« bedeutet nicht ihre Abgeschlossenheit, die allenfalls relativ ist. Ganz wie die Senufo waren die Dorfgemeinschaften des Westens von Burkina Faso Teil großer politischer und wirtschaftlicher Räume und sie lebten in keiner Weise auf sich selbst bezogen. In diesen von Handelsströmen durchzogenen Regionen gab es aus rituellen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen eine große Zirkulation sozialer Gruppen. Zwischen den Bobo-Bwa und den Marka war ein starker Faktor der Annäherung in Gestalt der Ähnlichkeiten ihrer sozio-politischen Organisation gegeben, die in beiden Fällen die Bedeutung der Dorfgemeinschaft hervorhob (Capron 1973). Die Marka waren vor allem Handwerker-Händler und schufen Austauschsphären in den Dörfern, indem sie auch die Märkte belieferten, auf denen sich die Bobo- und die Bwa-Bauern versorgten. Bei den Bobo und den Bwa reproduziert sich die soziale Diversität durch die Assoziation von Gruppen Fremder wie z. B. sozio-funktioneller Gruppen (Schmiede, Griots, Weber, Fulbe-Viehhalter), die über

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besondere technische und professionelle Fertigkeiten verfügen. Bei den bäuerlichen Bwa gibt es einen Mythos, demzufolge einst die Fulbe-Viehhalter, die Dyula-Händler und die Schmiede Brüder der Bwa gewesen seien (Cremer 1924: 21). Auch bei den Fulbe sind Bündnis und Freundschaft mit den Bwa wichtige Themen in der oralen Tradition. Die Bwa-Schmiede, die sich auf die Arbeit an Hochöfen verstehen, stellen landwirtschaftliche Geräte her. Die Griots, die anlässlich eines Todesfalles als Musiker auftreten, waren gleichzeitig Weber. Die Fulbe wurden von den Bobo-Bauern gerufen, die ihnen das Vieh des Dorfes anvertrauten. In der sozialwissenschaftlichen Literatur zur kollektiven Identität werden im Allgemeinen zwei Arten der Zugehörigkeit unterschieden: die Zugehörigkeit von Natur aus, d. h. durch Abstammung, und die Zugehörigkeit durch Vertrag. Auch unter den Bobo und den Bwa des Westens von Burkina Faso findet man diese zwei Vorstellungen von Gemeinschaft wieder. Sie gehören zu den ethnischen Gruppen, die gegenüber Außeneinflüssen besonders offen sind. Bei ihnen gibt es Gruppen, die »von Natur aus« zur Dorfgemeinschaft gehören, d. h. gemäß den Abstammungsregeln, welche die Zugehörigkeit zu Ethnie, Klan und Lineage bestimmen, und diejenigen, die durch Vertrag dazugehören. Die Fulbe-Viehhirten zählen zur zweiten Kategorie. Im ethnischen Milieu der Bobo und der Bwa gibt es eine Politik der Assimilation bzw. der Aufnahme von Fremden. Eine solche Politik tritt in Erscheinung, wenn Dörfer gegründet werden und die wichtigsten das Dorf konstituierenden Gruppen ihren Platz zugewiesen bekommen. Wenn die Bedingungen für die Gründung eines Dorfes gegeben sind, zögern die Bobo-Gründer nicht, in ihrer Nachbarschaft andere Verwandte oder derselben Ethnie zugehörige Gruppen zur Niederlassung zu bewegen und ihnen wichtige Aufgaben zuzusprechen (Le Moal 1990). Ein Prozess der Autochthonisierung oder der schnellen Assimilation der Neuangekommenen (Bobo oder Bwa) wird auch durch eine rituelle Aufgabenteilung eingeleitet, die eine enge Interdependenz zwischen den Gruppen begründen soll. Die so assimilierte Gruppe, die jetzt den vorrangigen Status von Autochthonen innehat, kann nun das Dorf nicht mehr verlassen. Auf diese Weise haben die Bobo von Lena den Bwa, die aus Boura – in der Region von Nouna – gekommen waren, die Rolle der »Hüter der Fetische« (do) des Dorfes anvertraut. Diese fremden Bwa, die das Doke-Viertel in

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Lena gründeten, sind später zu Bobo geworden und haben das Patronym Millogo ihrer Gastgeber übernommen. Anfänglich waren sie Schmiede (sabere), die landwirtschaftliche Geräte fertigten und zu den Bobo von Lena kamen, um sie zu verkaufen oder sie bei ihnen gegen Getreide einzutauschen. Heute ist es nicht mehr möglich, die Millogo aus dem Viertel Doke kulturell und sozial von den anderen Bobo von Lena zu unterscheiden, es sei denn durch ihre Beziehungen zu den assimilierten Fulbe, mit denen sie immer wieder nichteheliche Beziehungen eingehen. Dieser Typ sozialer Regelung, in dem zwei ursprüngliche Gruppen sich im Hinblick auf eine dritte definieren oder an diese die Aufforderung richten, ihre Beziehungen zu regeln, ist unter den Bobo recht weit verbreitet (vgl. auch Le Moal 1980). Die Fulbe, die sich in einem Bobo- oder in einem Bwa-Dorf niederlassen wollen, sehen sich immer mit einer vertraglichen Formel konfrontiert. Um die Abmachung zu schließen, muss jeder Haushaltsvorstand der Fulbe einen Hahn und in manchen Dörfern auch Hirsebier bringen. Der Hahn wird den Vorfahren geopfert, während das Bier von den Ältesten des Dorfes konsumiert wird. Bei gewissen BoboGruppen müssen zusätzlich zu einem Hahn alle Mitglieder einer Fulbe-Familie eine symbolische Geldzahlung leisten, nämlich 5 Francs CFA4, und zwar »an die Masken«, die es dann später, bei der Zeremonie ihres Abschieds, unterlassen werden, sie »zu schlagen«. In den Dörfern, in denen es ein Totemtier gibt, werden die Fulbe gelegentlich von seiner Existenz in Kenntnis gesetzt, damit sie es nicht töten, sollten sie ihm durch Zufall im Busch begegnen. Die Fulbe werden nach dem Opfer an die Vorfahren und an die Masken und nach der Anerkennung des Totemtieres zu Mitgliedern der Dorfgemeinschaft. Diese spezifische Integration der Fulbe in die Dorfgemeinschaften führt so weit, dass einige von ihnen gänzlich assimiliert werden. Die Boobolankoobe sind Sidibe-Fulbe aus dem alten Häuptlingstum von Barani. Zur Zeit ihrer Einwanderung nach Barani lebten schon andere Fulbe-Gruppen in diesem Gebiet, das von ihnen kontrolliert wurde. Nach den mündlichen Überlieferungen fanden die Sidibe bei ihrer Migration zu den Bwa in der Region von Barani einen Fulbe-Klan namens Yiirlaabe mit dem Patronym Diallo vor. Die Yiirlaabe, die unter den Marka lebten, stellten das älteste Element der Fulbe-Bevölkerung dar. Sie übernahmen die Rolle des Gastgebers (jatigi) gegenüber den Klans der Fitoobe (Sangare) und Sidibe. Die Yiir-

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laabe und Fitoobe hatten die Marka-Sprache übernommen, von der sie einen Dialekt sprachen. Sie lebten in getrennten Familien. Heiratsbeziehungen verbanden diese Gruppen, waren aber von begrenztem Umfang, und es kam vor, dass Töchter ihre Familien verließen, um anderswo zu heiraten. Die Yiirlaabe hatten auch mit den Marka Heiratsallianzen geschlossen. Die Yiirlaabe zahlten einen jährlichen Tribut (F. jangal) an die Marka und bewegten die Sidibe dazu, dies auch zu tun. Die Sidibe, die die Unterordnung unter die Marka nur schwer ertrugen, setzen sich dann an die Spitze eines gewaltsamen Aufstands. Diese siegreiche Erhebung war die erste politische Selbstbehauptung der Sidibe-Identität in Barani. Man erzählt, dass die Sidibe die Yiirlaabe von den lokalen politischen Geschäften unter dem Vorwand ausschlossen, dass sie ja nicht mehr in der Lage seien, sich auf Fulfulde zu verständigen. Ihnen eine Führungsrolle zuzubilligen hätte bedeutet, die Fulbe-Kultur in der der Marka aufgehen zu lassen. Es gibt verschiedene Interpretationen der Bedeutung des Wortes yiirlaabe. Einige Gewährsleute sagten, dass yiirlaabe »die desorientierten Verlorenen« bedeute und sich auf ihr Vergessen des Fulfulde beziehe. Hier wird also auf die Assimilation der Yiirlaabe bei den Marka angespielt. Andere dagegen interpretieren yiirlaabe (Sing. girlaadjo) als »tapfer«. Die zweite Interpretation wird auch von Mohammadou (1976: 33) geteilt, der schreibt, dass »ce qui distingue les Férôbé des Yiirlabé, c’est la ruse et la bravoure. Toute conquête des Yiirlabé a été acquisé grâce aux armes«. Was den Wandel der fulbischen ethnischen Identität bei den Bobo und Bwa anbelangt, sind es vor allem die Sangare, die am stärksten in die Dorfgemeinschaften der Region von Dédougou-Bobo integriert worden sind. In der Redeweise der Fulbe heißt es von dieser ethnischen Einverleibung, dass diese Gruppen in diejenigen der Bobo oder die der Bwa eingetreten seien. Burnham (1991: 87; 1996) hat denselben Ausdruck bei den Bororo im Norden von Kamerun gefunden, und auch außerhalb der Sprechergemeinschaft des Fulfulde sind entsprechende Ausdrucksweisen weit verbreitet (Schlee 1994a). In der Region aber, die uns hier interessiert, nennen diejenigen Fulbe, die ihre Identität bewahrt haben, die Gruppen, die den Marka, den Bobo und den Bwa assimiliert sind, Murube (Sing. Murunke) oder Fulamuru (Dyula). An anderer Stelle (Diallo 1997: 102) habe ich das semantische Bedeutungsfeld des Begriffes murunke als »derjenige, der etwas vor-

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

gibt« definiert. Tatsächlich sind für die anderen Fulbe die Murube zu Leuten geworden, die etwas nicht wissen oder nicht kennen, nämlich die Fulfulde-Sprache. Diese Fulbe, die in die Bwa, die Marka oder die Bobo »eingetreten« sind, auch wenn sie ihre Fulbe-Familiennamen bewahrt haben, sind keine Fulbe mehr. Diese Fulbe sprechen die Sprache der Bwa und sind kulturell assimiliert. Als Fulbe sind sie nur noch durch den Namen Sangare erkennbar. Zwei Fallbeispiele für die ethnische Einverleibung der SangareFulbe finden wir in den Bobo-Dörfern Baré und Lena. Auf die Aufforderung von Bauern hin haben sich Fulbe aus Dokwi zunächst in der heutigen Stadt Bobo-Dioulasso niedergelassen und später bei den Bobo von Baré, die das Patronym Sanu tragen. Einige dieser Fulbe, die heute nicht mehr das Fulfulde sprechen, sind teilweise assimiliert und leben in denselben Vierteln wie die Autochthonen. Die Bobo von Baré unterscheiden zwischen den integrierten Fulbe und den Fulbe, die ihre »Fulanität« bewahrt haben, indem sie die Letzteren als flè pènè, d. h. als »rote Fulbe« bezeichnen. Dagegen gehen andere Fulbe, die bei den Bobo von Baré leben, mit ihnen Heiratsallianzen ein. Die Nachkommen aus Verbindungen zwischen Bobo-Männern und Fulbe-Frauen nennt man in Baré fla-si. Der Terminus fla ist die Dyula-Entsprechung von Fulbe (fula). Was den Begriff si anbelangt, so trifft man ihn auch in der Dyula-Sprache an (shiya = Ethnie oder Rasse), und er wird auch bei den Bobo auf verschiedene Weise verstanden (Le Moal 1980: 61). Im hier diskutierten Fall jedoch bezeichnet fla-si eher eine Klan-Identität als einen ethnischen Unterschied. Heiraten zwischen der fla-siUntergruppe der Bobo sowie den Griots und den Schmieden sind ausgeschlossen. Die Bezeichnung fla-si bezieht sich also nicht eigentlich auf eine neue ethnische Gruppe. Noch heute sind Heiratsallianzen zwischen Fulbe und den Bobo möglich. Meinen Gewährsleuten zufolge sind die Ehen zwischen Fulbe-Männern und Bobo-Frauen harmonischer als die Ehen zwischen Bobo-Männern und Fulbe-Frauen. Ihnen zufolge trifft eine Ehe zwischen einem Bobo und einer FulbeFrau auf Schwierigkeiten, die in der Wirtschaftsform der Bobo liegen, die vor allem auf der Landwirtschaft basiert (vgl. auch Schlee 1994b). Die Fulbe sind eine an der Endogamie orientierte Gruppe. Durch ihr Verhalten (Religion, wirtschaftliche Produktion) verhinderten die Fulbe die Heirat mit den Bauern. Im Gegensatz zu den Bobo-Frauen, die sich auf den Ackerbau verstehen, zögern die Fulbe-Frauen, denen der

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Ackerbau fremd ist, sich mit einem Bobo-Mann zu verheiraten. Sie denken, dass eine solche Ehe mit einer Scheidung enden würde. Eine solche Befürchtung wird in gleicher Weise auch von den Senufo der Elfenbeinküste ausgesprochen, bei denen jede verheiratete Frau ein Feld bestellt. In Lena, östlich von Bobo-Dioulasso, hängen die Umstände des Wechsels der Fulbe von der Viehzucht zum Ackerbau mit der großen anti-kolonialen Revolte von 1915 / 16 zusammen. Die Alten erzählen, dass die Dorfbewohner ihre Herden den Sangare-Fulbe anvertraut hatten, die ihrerseits ihre eigenen Rinder und die der Bauern anderen Fulbe zum Hüten überlassen hatten. Diese Letzteren hätten die große Bobo-Bwa-Revolte ausgenutzt, um mit allen Rindern zu fliehen. Die Sangare-Fulbe, die ihr eigenes Viertel (flèta, d. h. »bei den Fulbe«) gegründet hatten, haben sich daraufhin dem Ackerbau zugewandt. Ihre Assimilation erfolgte auch durch Heirat. Sie sind Bobo geworden, haben das Patronym Millogo übernommen und haben die Alltagskultur und die Sprache der Bobo übernommen. Sie nehmen an den sozialen und religiösen Aktivitäten des Dorfes teil, dessen vollwertige Mitglieder sie geworden sind. Das Verbot der Heirat mit Schmieden und die Tatsache, dass jetzt der Affe ihr Totemtier ist, sind zwei Elemente, die sie noch heute von anderen Bobo unterscheiden. Eine andere Gruppe ist jene, die aus Heiratsallianzen zwischen Fulbe-Männern und Bwa-Frauen hervorgegangen ist. Man nennt sie Bobo-Fula. Diese findet man in der Gegend von Dédougou. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Sidibe-Fulbe dieser Region, die seit langem sedentarisiert sind und alle die Bwa-Sprache, das bwamu, als zweite Sprache sprechen. Letztere, die Sidibe-Fulbe, die sich immer noch der Viehwirtschaft widmen, besitzen vor allem taurine Rinder. Ihre Herden wandern zur Trockenzeit-Transhumanz in das Lobigebiet, wohin sie nicht von den ganzen Haushalten, sondern nur von Hirten begleitet werden. Beim Verlassen von Barani sind einige Sidibe-Familien durch das Samogebiet gezogen. Nach dieser kriegerischen Epoche haben sie erneut Viehherden aufgebaut, bevor sie in das Gebiet von Bondoukwi (die Region von Dédougou) gekommen sind.

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Abgrenzungs- und Assimilierungsprozesse bei den Fulbe

Zusammenfassung Die Fulbe sind in unterschiedlicher Weise in die gegenwärtigen Staaten West- und Zentralafrikas integriert und stellen oft eine ethnische Minderheit dar. Im Gegensatz zur westlichen Region von Burkina Faso, wo die Fulbe schon seit langer Zeit leben, ist deren Ansiedlung im Bereich der westafrikanischen Küste relativ rezent und ihr demographisches Gewicht nur gering. Die Elfenbeinküste, die in Westafrika bei weitem keinen Einzelfall darstellt, ist ein interessantes Beispiel hierfür. Anders als in Burkina Faso, wo die Fulbe schon seit langer Zeit anzutreffen sind, zählt diese Gruppe in diesem Staat zu den Minoritäten. Ziel dieses Beitrags war es, sich mit den verschiedenen Modalitäten der interethnischen Beziehungen zwischen Fulbe, Senufo, Bobo und Bwa zu befassen. Die Fulbe, die historisch gesehen immer enge Beziehungen zu den Bobo und Bwa gehabt haben, nutzen seit Ende der 1950er Jahre dieselbe ökologische Nische im Norden der Elfenbeinküste und stehen heute mit den Senufo in Konkurrenz um die Kontrolle über die Ressourcen. Das Land der Senufo und der Bobo-Bwa lag im Einflussbereich der Dyula von Kong, deren politische und wirtschaftliche Rolle in der gesamten Region hervorgehoben wurde. Migration und Identität sind miteinander verkoppelte Phänomene. So haben die Fulbe im Verlauf des langen Prozesses des Expandierens, Sesshaftwerdens und Herrschens hier und da durch Gruppenassimilation oder auch indem sie sich stark mit der lokalen Bevölkerung vermischten, Modifikationen in ihrer ethnischen Identität erfahren, was gelegentlich die Entstehung neuer Gruppen begünstigt hat. Insgesamt gesehen ist die Identität der Fulbe sehr stark mit den Bereichen Wirtschaft (Rinderzucht) und Religion (Islam) verbunden. Der vorliegende Beitrag hat allerdings gezeigt, dass innerhalb des ökologischen Kontextes der ivorischen Feuchtsavanne, an welchen die Fulbe sich anzupassen versuchen, Aneignung und Spezialisierung in der Zucht des Zebu-Rindes ein Ausdruck ihrer Identität sind. Der Islam ist bei den Fulbe ein weiteres sehr wichtiges Identitätsmerkmal. Die Analyse der Fulbe-Ethnizität umfasst außer der Erforschung der Rolle der Religion und der Form wirtschaftlicher Produktion (Viehwirtschaft) gleichermaßen die Untersuchung der Rolle des Nationalstaates.

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Anmerkungen 1 Ich bedanke mich bei Günther Schlee für die Übersetzung der ersten Version dieses Texts. Für seine Anmerkungen zum Text danke ich auch Tilo Grätz. Ich bedanke mich bei Alexander Horstmann für die Überarbeitung des gesamten Kapitels. 2 Mein Dank gilt der DFG für die Unterstützung der Feldforschung. 3 »F.«, »D.« und »S.« kennzeichnen Vokabeln aus den Fulfulde-, Dyula- und Senufo-Sprachen. 4 CFA (Communauté Financière Africaine) ist die regionale Währung in Westafrika. 1 DM entspricht 330 Francs CFA. Literatur Amselle, Jean-Loup (1985): »Ethnies et espaces: pour une anthropologie topologique«. In: J.-L. Amselle / E. Mbokolo (Hg.), Au coeur de l’ethnie. Ethnies, tribalisme et Etat en Afrique, Paris: La Découverte, S. 11-48. Arditi, Claude (1990): Les Peuls, les Senufo et les vétérinaires: pathologie d’une opération de développement dans le nord de la Côte d’Ivoire, Cahiers des sciences humaines 26 (1-2): 137-153. Barth, Frederik (1969): »Introduction«. In: Frederik Barth, Ethnic Groups and Boundaries, Boston: Little, Brown & Co., S. 9-38. Bazin, Jean (1985): »A chacun son Bambara«. In: J.-L. Amselle / E. M’Bokolo (Hg.), Au coeur de l’ethnie. Ethnies, tribalisme et Etat en Afrique, Paris: La Découverte, S. 87-127. Bernus, Edmond (1960): »Kong et sa région«. Etudes éburnéennes VIII, S. 239-324. Binger, Louis G. (1892): Du Niger au golfe de Guinée, par le pays de Kong et le Mossi 1887-1889, Paris: Hachette. Braukämper, Ulrich (1992): Migration und ethnischer Wandel. Untersuchungen aus der östlichen Sudanzone, Stuttgart: Franz Steiner. Burnham, Philip (1991): »L’ethnie, la religion et l’Etat : le rôle des Peuls dans la vie politique et sociale du Nord-Cameroun«. Journal des Africanistes 61 / 1, S. 73-102. Burnham, Philip (1996): The Politics of Cultural Difference in Northern Cameroon, Edinburgh: Edinburgh University Press.

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Ethnische Identität im sozialen Wandel

Yem, Janjero oder Oromo? Die Konstruktion ethnischer Identität im sozialen Wandel1 Wossen Marion Popp

Einleitung Als die sozialistische Militärregierung 1991 gestürzt wurde, hoffte die Mehrheit der Bevölkerung Äthiopiens nicht nur auf Frieden, sondern auch auf Demokratie und auf die Föderalisierung des zentralistischen Staatsapparates. Die beiden wichtigsten Forderungen während des Bürgerkrieges waren einerseits die Unabhängigkeit Eritreas und andererseits die Gewährleistung größerer lokaler Autonomie, die den über 80 verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes sowohl die Entfaltung der eigenen Kultur als auch politische Partizipation ermöglichen sollte. Diesem Ziel dienten auch die Neueinteilung des Landes in administrative Einheiten nach ethnischer Zugehörigkeit und die Einführung lokaler Sprachen als Amts- und Unterrichtssprachen, so wie es in der vorläufigen Verfassung von 1991 beschlossen wurde. Im Zuge der Neueinteilung wurden zwölf Regionen und zwei freie Städte (Addis Abeba und Harrar geschaffen. Die Regionen selbst wurden noch einmal in woreda und kebelle unterteilt.2 Die neuen territorialen Grenzen machten jedoch die Festlegung ethnischer Zugehörigkeiten notwendig. Entsprechende Ansprüche mit Bezug auf Geschichte, Sprache und Traditionen wurden geltend gemacht. 1995 zeichnete sich bereits ab, dass die Wiederentdeckung der eigenen Herkunft mit der Gleich-

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schaltung oder Unterdrückung politischer Opposition einherging. Zunehmende Einschränkungen der Pressefreiheit, Menschenrechtsverletzungen und die erneute Etablierung eines Einparteienstaates begleiteten die Regionalisierungsmaßnahmen der neuen Regierung. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Konstruktion ethnischer Identität in Südwestäthiopien. Am Beispiel der Yem soll dargestellt werden, wie staatlich dirigierte Kulturförderungspolitik und zunehmende Konkurrenz um knappe Ressourcen deren Selbstzuweisung zu einer ethnischen Gruppe beeinflussen. Dabei wird insbesondere die Interaktion der ländlichen Bevölkerung mit staatlichen Institutionen betrachtet. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die aktuelle Dezentralisierungspolitik der Handlungsrationalität der agrarischen Bevölkerungsmehrheit entspricht. Die Gesamtbevölkerung Äthiopiens wurde Anfang der 1990er Jahre auf 48 Millionen geschätzt (Eikenberg 1993). Die politisch einflussreichsten Gruppen sind die Amharen, die in der Vergangenheit den Staats- und modernen Produktionssektor dominierten, und die Tigray. Den Oromo, der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, war bislang der Zugang zu entscheidenden ökonomischen und politischen Positionen erschwert. Den Tigray verhalf erst der Sieg der EPRDF im Jahr 1991 zu größerem Einfluss auf die Institutionen des öffentlichen Lebens. Die in der Südregion vertretenen Yem sind für die nationale Politik nur von geringer Bedeutung. Der Volkszählung von 1984 zufolge bezeichnen sich ca. 100.000 Menschen als Yem. Historische Perspektive Die Forderung nach kultureller Entfaltung, die zzt. in Äthiopien laut wird, und die Art und Weise, wie die ethnische Zugehörigkeit im Rahmen der aktuellen Regionalisierungs- und Dezentralisierungsmaßnahmen festgelegt wird, sind das Ergebnis der historischen Entwicklung des Landes. Durch die kriegerische Expansionspolitik Meneliks (1889-1913) wurde das christlich-abessinische Kaiserreich ein ethnisch hochkomplexes Gebilde. Insbesondere die Oromo erlebten diese Einverleibung als Kolonisation:

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Ethnische Identität im sozialen Wandel »Menelik’s conquest not only deprived the Oromo people of their independence; it all but destroyed their cultural heritage; it dehumanized and subjugated them and above all it expropriated their land« (Greenfield / Hassen 1980: 11).

1974 wurde das autoritäre Kaiserregime durch eine sozialistische Militärregierung abgelöst. Diese versuchte, durch Kulturförderungsmaßnahmen zu verhindern, dass die Einheit des christlichen, absolutistischen Regimes vom Ende des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt wurde. Im Rahmen von Alphabetisierungskampagnen verschriftlichte man weitere Landessprachen in Fidel, der amharischen Schrift. Radio- und Fernsehsendungen wurden für die größten Sprachgruppen in ihrer Muttersprache ausgestrahlt, islamische Feiertage zu Nationalfeiertagen erklärt und ein Nationalitäten-Ministerium eingerichtet. Dennoch blieb die Kenntnis der amharischen Sprache weiterhin Voraussetzung für den Zugang zu staatlichen Institutionen (Verwaltung, Justiz, Polizei). Die Unabhängigkeitsbestrebungen Eritreas wurden mit dem Hinweis abgetan, dass der Sturz des imperialistischen Regimes alle Völker Äthiopiens befreit habe und somit keine Notwendigkeit für eine Abspaltung bestehe. Die von Teilen der Linken geforderte Basisdemokratie oder eine Dezentralisierungspolitik mit mehr Autonomie für die einzelnen Regionen hätte zu Kontroll- und Machtverlust geführt. Neue Grenzen, Sprachen und Identitäten Am Sturz der sozialistischen Derg-Regierung war auch die OromoBefreiungsbewegung beteiligt. Die Hintergründe des erstarkten Oromo-Nationalismus sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei soll auf das Beispiel der in der Oromia-Region lebenden Yem eingegangen werden. Auf Grund der engen nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Yem und Oromo kommt dem Oromo-Nationalismus eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der Yem-Identität zu. Die Übertragung der Sprache der Oromo (Afaan Oromo) in die lateinische Schrift und ihre Einführung als Verwaltungs- und Unterrichtssprache in der Oromia-Region entsprach dem Wunsch der Oromo nach kultureller Autonomie.

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Neben dieser wichtigen kulturpolitischen Errungenschaft wurde mit der neu geschaffenen Region Oromia den Forderungen nach Föderalisierung entsprochen. Diese neue Verwaltungseinheit ist auch eine offizielle Bestätigung der Einheit Oromiyaa, die bislang nur ein Konstrukt der Befreiungsbewegungen war (Zitelmann 1989). Im 16. Jahrhundert nahm eine Wanderungsbewegung vom südöstlichen Hochland Äthiopiens aus ihren Anfang. Die Oromo siedelten sich in kleinen Einheiten in dem neu eroberten Gebiet an. Die Sozialorganisation der verschiedenen Oromo-Völker, die auf einem egalitären Altersklassen- oder gada-System beruhte, veränderte sich mit der Zeit durch den Einfluss benachbarter Völker. Im Süden (dem Gebiet der heutigen Jimma-Zone) entstanden durch den Kontakt mit kuschitischsprachigen Völkern fünf Monarchien, die Gibe-Staaten (Abir 1965). Die Integration der Oromo in das äthiopische Reich unter Menelik verlief unterschiedlich. Für die Mehrzahl der Oromo-Völker war sie eine Unterdrückungserfahrung. Es war jedoch wiederum ein König der Gibe-Staaten, Jimma Aba Jifar, der Mitte des 19. Jahrhunderts die fünf Gibe-Monarchien vereinigte und Meneliks imperialistische Bestrebungen unterstützte. Er unterwarf die benachbarten Sidama-Königreiche und behielt als Gegenleistung die Herrschaft über die GibeStaaten (vgl. Markakis 1974: 105). Hierarchische Herrschaftssysteme stehen im Widerspruch zum gada-System, das ein wichtiges Symbol des modernen Oromo-Nationalismus ist. Die Oromo-Bewegung hebt die Erfahrung der gewaltsamen Eingliederung in das äthiopische Reich und die gemeinsame Sprache als wichtige Elemente der Verbundenheit zwischen den OromoVölkern hervor, deren Gebiete zur Oromiyaa, dem Land der Oromo, zusammengefasst werden. Auf Grund religiöser Unterschiede und verschiedener historischer Erfahrungen ist die Oromo-Identifikation bis heute mit einem Generationskonflikt verbunden. Ältere Menschen teilen das Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Oromo nicht unbedingt (Zitelmann 1989). Auch von der Oromo-Identität der Boran, einem Oromo-Volk im äußersten Süden Äthiopiens, wird berichtet, dass der Begriff »Oromo« der Bevölkerung zur Mengistu-Zeit nicht geläufig war. Man war Boran, Garre oder Gabbra (Schlee / Shongolo 1995: 11).

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Es wird jedoch auch berichtet, dass sich der neue öffentliche Kulturnationalismus der Oromo negativ auf ehemals friedliche Beziehungen mit Nachbarn auswirkt (vgl. Zitelmann 1994: 180). So kam es 1993 in einigen Dörfern der Jimma-Zone zu Übergriffen. Die Special Woreda Yem An der Hauptstraße von Addis Abeba nach Jimma liegt Sokkoru, die Verwaltungshauptstadt der Yem Special Woreda. Obwohl eine Angliederung an die Oromia-Region logistisch sinnvoller wäre (der Weg nach Awassa, der Verwaltungshauptstadt der Südregion, führt durch Addis Abeba, der Verwaltungshauptstadt der Oromia-Region), ist die Yem-Woreda der Südregion zugeordnet worden. Um auch kleinen Sprachgruppen (mit mindestens 100.000 Sprechern) eine politische Interessenvertretung zu ermöglichen, erhielten sie innerhalb der Südregion den Status einer Special Woreda, der eine Repräsentation auf nationaler Ebene möglich macht. Die Special Woreda verfügt über den Status einer Zone, wodurch sie sich von einer gewöhnlichen Woreda unterscheidet. Gleichzeitig ist die Stadt Sokkoru Verwaltungssitz der Sokkoru-Woreda, die zur Jimma-Zone gehört. Auf der einen Straßenseite befinden sich die Büros der Sokkoru-Woreda (Oromia-Region), auf der gegenüberliegenden die der Yem-Vertreter. Straßenschilder sind sowohl in Amharisch als auch in Afaan Oromo beschriftet. In der Schule wird der Unterricht vormittags in der einen, nachmittags in der anderen Sprache abgehalten. Die Stimmung ist spürbar gespannt. Zwischen den Behörden der Verwaltungseinheiten wird offen ein Konflikt ausgetragen, der auf die Grenzziehung durch die neue Regionalordnung zurückzuführen ist. Die Gründe hierfür werden angesichts der Probleme, mit denen die Special Woreda Yem konfrontiert wird, deutlich: Die Special Woreda Yem ist seit Jahrzehnten mit dem Exodus ihrer Bewohner konfrontiert. Auf Grund von Wasser- und Landknappheit kommt es immer wieder zu Hungersnöten. Da die Special Woreda Yem mit dem Auto nur in der Trockenzeit zugänglich ist, es keinen Strom gibt und es teilweise sogar an Trinkwasser mangelt, ist die Verwaltung dringend auf die günstige Verkehrslage der Stadt Sokkoru angewiesen.

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Die politische Partei der Yem Yem taucht in der Literatur als Eigenname der Janjero auf (Huntingford 1955: 137). Viele Äthiopier wissen nicht, was sich hinter dem Begriff »Yem« verbirgt. Das Ethnonym scheint erst seit der Schaffung neuer administrativer Einheiten offiziell verwendet zu werden. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen dienen daher auch die Definitionen von Mitgliedern einer offiziellen Yem-Vertretung. Die Yem People’s Democratic Movement (YPDM) ist eine der zahlreichen Parteien, die in den letzten Jahren entstanden sind. Sie wurde 1991 nach der Verabschiedung der Transitional Period Charter, die eine politische Vertretung aller »Nationen und Nationalitäten« vorsieht, gegründet. Die YPDM besteht überwiegend aus Intellektuellen mit geregeltem Einkommen, die in Städten wie Jimma oder Addis Abeba leben und sich in jüngster Zeit wieder auf ihre Herkunft und Tradition besinnen. Sie bemühen sich, die Geschichte der Yem zu dokumentieren und die genaue Zahl, auch der in der Jimma-Zone lebenden Yem zu erfassen. Kurze Zeit nach der Gründung kam es zu einer Spaltung der Partei. Die Yem People’s Democratic Front wurde von der regierungsnahen Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) gefördert, während die YPDM sich von der Regierungspolitik distanzierte und ihre Parteiarbeit verboten wurde. Über einen Professor der Kunstakademie in Addis Abeba lernte ich den Vorsitzenden der YPDM, einen Lehrer, kennen. Seine Beschreibung bringt die Geschichte und Interessen der Yem zum Ausdruck und soll der Bestimmung von Merkmalen für die Yem-Zugehörigkeit dienen: »Den Yem, die früher Janjero genannt wurden, wurde das Gebiet um Fofa herum, an der Grenze zur Jimma-Zone zugesprochen. Dabei wurde nicht beachtet, dass ungefähr eine halbe Millionen Yem in der Jimma-Zone leben. Zwischen der SEPR und der Oromia-Region finden zurzeit noch Verhandlungen statt. Uns wurden noch nachträglich einzelne kebelle der Jimma-Zone zugeteilt. In der Stadt Sokkoru ist die aggressive Expansionspolitik der Oromo noch am deutlichsten zu spüren. Würde man die Bevölkerung fragen, welcher Gruppe sie angehört, so würde sich herausstellen, dass sie alle Yem sind. Die Jimma-Zone war ursprünglich Yem-Territorium. Im 16. Jahrhundert wanderten Oromo in das Gebiet ein und es folgte eine lange Zeit der Kriege. Erst En-

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Ethnische Identität im sozialen Wandel de des 19. Jahrhunderts konnten die Oromo mit der Hilfe von Menelik die Yem in das Gebiet um Fofa zurückdrängen. Die Yem-Bevölkerung, die heute in der Jimma-Zone ansässig ist, lebt daher in ihrem rechtmäßig angestammten Territorium. Die Oromo-Bevölkerung stellt dort eine Minderheit dar. Aus der Volkszählung, die 1994 für die Bildungsplanung durchgeführt wurde, resultiert, dass die Dawro die größte Bevölkerungsgruppe sind, gefolgt von den Kaffecho und den Yem. Erst an sechster Stelle tauchen die Oromo auf. In der Stadt Jimma kam es zu Protesten von Schülern und Eltern, als Afaan Oromo als Unterrichtssprache in Schulen eingeführt werden sollte. Auf Grund von Mischehen zwischen Yem und Oromo und von Konversionen zum Islam – wir Yem sind überwiegend Christen – ist es schwierig, die in der Jimma-Zone lebenden Yem zu identifizieren. Die Oromo zwingen ihnen ihre Sprache und Religion auf. In Sentama wurden zehn Yem von Oromo umgebracht. Aber wenn es hart auf hart kommt, zählt die psychologische Motivation. Und wir Yem sind uns unserer Herkunft bewusst. Yem sind an ihren Gesichtszügen, ihrer Siedlungsform und ihren Essgewohnheiten zu erkennen. Du wirst überall, wo Yem leben, Ensetefelder3 sehen. Außerdem unterscheiden sich Yem durch ihre Charakterzüge: Wir sind stolz und werden für unseren Fleiß und unsere Tapferkeit als Krieger gerühmt. Unser wichtigstes Anliegen ist die nationale Integration. Wir wurden nie daran gehindert, unsere Sprache zu sprechen, und wir haben keine Probleme damit, uns als Yem zu bekennen. Die Entwicklung unserer Sprache und Kultur ist wichtig, jedoch nur im Rahmen der ›Äthiopisierung‹. Wir möchten überall in Äthiopien leben können. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes verlangt einheitliche Regelungen« (Interview, Addis Abeba: 4.5.1995).

In dieser Beschreibung wird der alte Name Janjero nur kurz erwähnt. Der Hinweis auf das ursprüngliche Yem-Territorium, die Jimma-Zone, deutet jedoch an, dass die Geschichte des ehemals mächtigen Janjero-Königreiches auch heute noch zentral für die Yem-Identität ist. Von Informanten erfahre ich, dass Janjero leicht mit dem Wort Sinjero (Amharisch: Affe) verwechselt werden kann. Auf Grund dessen wird die alte Bezeichnung Yem im offiziellen Sprachgebrauch verwendet. Auch wenn der Name Janjero nicht fällt, so werden Merkmale der Zugehörigkeit (Fleiß und Tapferkeit) aus der Geschichte des Königreiches Janjero abgeleitet, das bis zur Invasion Meneliks für seine kriegerische Stärke bekannt war. Die Feindschaft des ehemals mächtigen Königreiches den Oromo

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gegenüber beeinflusste ebenfalls die Beschreibung. Es wird deutlich: Yem ist das, was Oromo nicht ist. Die Abgrenzung der Yem von den Oromo Die oben angeführte Beschreibung des YPDM-Vorsitzenden von Yem-Kultur wird in manchen Teilen der Region als Argument für Landforderungen benutzt. Der territoriale Konflikt zwischen Yem und Oromo wird in Sokkoru offen ausgetragen. Beide Seiten stellen Ansprüche auf die Stadt und die umliegenden kebelle. Dabei bedient man sich der Sprache als Instrument. Während die Schilder in Sokkoru noch zweisprachig sind, erscheinen sie bereits in Jimma nur noch in Afaan Oromo. Die Schilder symbolisieren die Reichweite des Konflikts. Es handelt sich hierbei nicht nur um materielle Ansprüche, denn die Beherrschung der Sprache ist Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Menschen, die in Amharisch (der früheren Amtssprache) alphabetisiert wurden, hätten kaum die Möglichkeit sich zu artikulieren, wenn plötzlich Afaan Oromo offizielle Sprache würde. Auch wenn sie Afaan Oromo verstehen, so haben sie doch Fidel gelernt und können keine lateinische Schrift lesen. Der oben zitierte YPDM-Vorsitzende wies darauf hin, dass es unvereinbare Gegensätze zwischen Yem und Oromo gibt. Aus seiner Sicht besteht eine historische Tradition der Feindschaft zwischen beiden. Für ihn hat sich bis heute wenig an der Expansionspolitik der Oromo geändert. Das geht seiner Meinung nach sogar so weit, dass sie die Ausübung ihrer Religion und die Übernahme ihrer Sprache erzwingen. Die Angst vor einer Vereinnahmung durch die OromiaRegion ist nach Einschätzung von Experten (Interview, Addis Abeba: 6.8.1995) auch der Grund dafür, dass die Special Woreda Yem der Südregion angegliedert wurde. Angesichts der fehlenden Infrastruktur und Ressourcenknappheit in der Yem-Woreda, die zum Exodus der Bevölkerung und zu Hungersnöten führten, liegt die Vermutung nahe, dass die Ursachen des Konflikts zwischen Oromo und Yem nicht nur in den von dem Sprecher beschriebenen kulturellen Unterschieden liegen. Abgeschnitten von der Südregion, in direkter Nachbarschaft zur wirtschaftlich starken Oromia-Region, ist die Autonomie der Special Woreda durch die fehlenden materiellen Ressourcen gefährdet. Der Hinweis auf die

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ruhmvolle Vergangenheit des Janjero-Reiches, die Tradition der Feindschaft zu den Oromo oder der Streit um die Unterrichtssprache an den Schulen dienen auch der Mobilisierung im Wettbewerb um Ressourcen. Nur wenn die Special Woreda Yem ihren Bevölkerungsanteil in den kebelle der Jimma-Zone nachweisen kann, können territoriale Forderungen gestellt werden, ohne die das Überleben der YemWoreda gefährdet wäre. Das Königreich Janjero Das Königreich Janjero steht im Mittelpunkt der Darstellungen des YPDM-Vorsitzenden. Die entsprechende Literatur gibt weiteren Aufschluss über die Merkmale der Zugehörigkeit zu den Yem. Auch Huntingford (1955) erwähnt in seiner Monographie The Kingdom of Janjero, dass Janjero geläufiger ist als der Eigenname Yamma oder Yem. Er fährt fort, dass sich auf Grund der kulturellen und sprachlichen Isolierung des kleinen Königreiches Janjero »merkwürdige Sitten und Gebräuche entwickeln konnten« (Huntingford 1955: 137). So führt er unter der Überschrift Ritual and Belief die Reiseberichte Cecchis auf, der ausführlich die Rituale des Menschenopfers beschreibt. Eine Besonderheit der Sprache, die der omotischen Gruppe zugeordnet wird, ist die Unterteilung in eine Königs-, eine Hofund eine Volkssprache. Je nach dem sozialen Status des Gegenübers wurde das angemessene Vokabular gewählt. Über die Gesellschaftsstruktur der Janjero stellt Huntingford jedoch nur fest, dass es eine Klanstruktur gab und Schmiede, Gerber und Töpfer zu den verachteten und zu meidenden Klassen gehörten. Das Ende des Janjero-Königreiches wird von Huntingford auf das Jahr 1894 datiert, den Zeitpunkt der Einverleibung in das äthiopische Reich. Er erwähnt, dass gleichzeitig die Christianisierung der Bevölkerung begann. Enrico Cerulli, dessen Berichte eine wichtige Grundlage der Monographie Huntingfords (1955) sind, war in der Zeit der italienischen Kolonisation wichtiger Mittler bei den Verhandlungen zwischen äthiopischer und italienischer Regierung (Bahru Zewde 1994: 64). Er war einer der vielen den Kolonialverwaltungen verbundenen Sozialanthropologen, die die Aufgabe hatten, ethnische Gruppen zu bestimmen und Merkmale der Zugehörigkeit zu definieren (Elwert 1989: 445). Der Aufbau von Huntingfords Monographie, die an Cerul-

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lis Berichte angelehnt ist, suggeriert, dass ethnische Zugehörigkeit messbar ist und an bestimmten Eigenschaften festgemacht werden kann. Dies wird an seiner Gliederung nach den Kategorien »Sprache«, »Geschichte«, »Territorium« oder »Charakterzüge und Aussehen« deutlich. Diese Kriterien dienen auch dem YPDM-Vorsitzenden bei der Beschreibung der Yem-Zugehörigkeit. Er hat genaue Vorstellungen von dem, was Yem ist, und greift auf die Konzepte von Janjero zurück, die zu einer anderen Zeit von fremden Wissenschaftlern entworfen wurden. Seine territorialen Ansprüche beziehen sich auf die Gebiete, die im 16. Jahrhundert zum Königreich Janjero gehörten. Auch die Charakterzüge, die er als Yem-typisch darstellt, sind Eigenschaften, für die ehemals Angehörige des Janjero-Reiches gerühmt wurden. Für ihn besteht kein Zweifel, dass »das gemeinsame Blut« auch heute noch für ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Yem ausreicht. Auch wenn die in der Jimma-Zone lebenden Yem kein Yemsa mehr sprechen und zum Islam konvertiert sind, so kann doch auf »ihre psychologische Motivation« (Interview, Addis Abeba: 4.5.1995) gezählt werden. Da keine Gemeinsamkeiten mehr in Sprache und Religion bestehen, nennt der YPDM-Vorsitzende andere Merkmale, mit denen er Zugehörigkeit begründet: eine gemeinsame Geschichte, Siedlungsmuster, Charaktereigenschaften, Gesichtszüge und Enseteanbau. Yem ist ein neuer Name für ein altes Konzept. Die Eigenschaften, die die Zugehörigkeit bestimmen und die Yem von anderen Gruppen unterscheiden, führt der Sprecher auf die Geschichte eines Königreiches zurück, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts existierte. Für ihn ist Yem ein Merkmal, das von Zeit und Umgebung abhängig ist. Fremd- und Selbstzuschreibung: die Janjero in der Jimma-Zone Im vorangegangenen Kapitel (S. 369ff.) wurden sowohl die Merkmale der Oromo- als auch der Yem-Zugehörigkeit dargestellt. In beiden Fällen stammte die Selbstbeschreibung von Interessenvertretern und stellt auch das Selbstbild einer politischen Partei dar. Am Beispiel der Special Woreda Yem wird deutlich, dass kulturelle Symbole im Rahmen der aktuellen Dezentralisierungsprozesse auch im Wettbewerb um Ressourcen verwendet werden.

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Beim von der OLF entworfenen Oromo-Bild deutete sich bereits an, dass bestimmte Gemeinsamkeiten nicht von allen Oromo-Völkern geteilt werden und dass es sich erst in der politischen Praxis zeigen wird, in wieweit die Identifizierung mit der Oromo-Zugehörigkeit ausreicht. Dieser Zusammenhang soll nun für die Yem-Zugehörigkeit betrachtet werden. An dem bereits erwähnten Beispiel der Bewohner eines Dorfes, die seit einem Jahrhundert in der Oromia-Region leben, deren Vorfahren jedoch aus dem Gebiet der heutigen Special Woreda Yem stammen, soll dargestellt werden, wie ethnische Zugehörigkeit auf lokaler Ebene bestimmt wird, in welchen Situationen diese relevant ist und wie sie mit der Politik auf nationaler Ebene in Zusammenhang steht. In dem Dorf kam es 1993 zu blutigen Auseinandersetzungen, die mir als Konflikte zwischen der Oromo- und der Yem-Bevölkerung dargestellt wurden. Die Auseinandersetzungen können Anzeichen für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Definitionen von Zugehörigkeit sein, die durch die neue Regionalordnung von weit reichender Bedeutung sind. Im Folgenden soll nun auf das Ethnie-Konzept eingegangen werden, das in den vorangegangenen Darstellungen auch von den Akteuren verwendet wurde. Eine theoretische Annäherung soll die daran anschließende Betrachtung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung, ihre Sicht auf die eigene Vergangenheit und die Bestimmung von religiöser Zugehörigkeit erleichtern. Die Konstruktion ethnischer Identität Die primordiale Verbundenheit ist für den YPDM-Vorsitzenden das wichtigste Element der Yem-Zugehörigkeit. Territoriale Ansprüche, Charaktereigenschaften und Aussehen werden auf die alles überragende gemeinsame Herkunft zurückgeführt. Dagegen stellt Amselle (1985) die Kategorie »Ethnie« bei afrikanischen Gesellschaften als eine koloniale Kreation dar. Ethnonyme, die teilweise schon in diesen Gesellschaften vorhanden waren, dienten zur Einteilung in Verwaltungseinheiten und wurden manchmal in völlig anderen Zusammenhängen verwendet. Die Sozialstrukturen der vorkolonialen Gesellschaften, die sich hinsichtlich Handelsbeziehungen

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und Hierarchiestrukturen unterschieden, fanden bei der Einteilung in »Rassen« und »Ethnien« keine Beachtung. Das Ethnie-Konzept erscheint sowohl für vorkoloniale als auch moderne afrikanische Gesellschaften absurd. Die Etablierung kolonialer Macht wurde durch das Ignorieren vorhandener Strukturen erleichtert. Ethnie ist in diesem Falle also nicht das »… natürliche Organisationsmuster aller Menschen, die nicht in Nationen verfasst leben« (Elwert 1989: 443). Das Ethnie-Konzept kann nicht als deskriptive Kategorie dienen. Es gibt keine Einheit »Yem«, die an bestimmten Merkmalen erkannt wird, so wie sie von dem YPDM-Vertreter beschrieben wurden. Auch wenn beispielsweise ein Kunstprofessor oder ein Lehrer in Addis Abeba weder Ensete anbaut noch ein tapferer Krieger ist (die Merkmale, an denen sie selbst Zugehörigkeit zu den Yem festmachen), so ist es dennoch für sie wichtig, sich mit den Yem zu identifizieren. »Ethnie« ist ein Konstrukt, das Handeln bestimmt. Die Vorstellung von einer Gemeinschaft der Yem ist z. B. entscheidend für ein Engagement in der YPDM oder in einer idir, einer Beerdigungsvereinigung, die entsprechend ethnischer Zugehörigkeit gebildet wird und im Trauerfall gegenseitige Hilfe bietet. Die Yem-Zugehörigkeit in der Fremde am Beispiel der Yem in der Jimma-Zone Für den YPDM-Vorsitzenden war die Abgrenzung von den Oromo wesentlich für die Bestimmung seiner eigenen Yem-Identität. Er versucht jedoch besonders, Gemeinsamkeiten mit den in der Jimma-Zone lebenden Yem hervorzuheben. Zwar deutet er an, dass diese auf Grund von Mischehen und Konversionen zum Islam nicht mehr leicht als Yem zu erkennen sind, betont jedoch die Verbundenheit mit den Yem. Die bereits erwähnten Auseinandersetzungen bestätigen für ihn, dass sich die Bevölkerung dort ebenfalls den Yem zuordnet. Der YPDM-Vorsitzende sagte weiter: »Die Seka-Woreda ist das politische Zentrum der in der Jimma-Zone lebenden Yem. Hier, in Sentama, dem Hochland der Seka-Woreda (200 km entfernt von der Special Woreda Yem) wurden vor zwei Jahren zehn Yem von Oromo umgebracht« (Interview, Addis Abeba, 4.5.1995).

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An dieser Stelle soll das Selbstbild der Bevölkerungsgruppe betrachtet werden, die von dem YPDM-Vertreter als Yem bezeichnet wird. Dagegen behaupten Behördenvertreter, dass es in Seka Woreda keine Yem-Bevölkerung gibt. Schließlich wurde ich in zwei Dörfer gebracht, die vor ungefähr zehn Jahren im Rahmen der Umsiedlungspolitik der früheren Regierung entstanden sind. Von den gewaltsamen und häufig schlecht vorbereiteten Umsiedlungen großer Teile der Bevölkerung aus dem von Dürre- und Hungerkatastrophen befallenen Norden in die fruchtbareren Gebiete des Südens war auch die Yem-Bevölkerung betroffen. Die Umsiedlungsprogramme gehörten zu den umstrittensten Maßnahmen der früheren Militärregierung. Häufig verließ die Bevölkerung nach kurzer Zeit diese Siedlungsdörfer, die meist in unwirtlichen, für die Landwirtschaft ungeeigneten Gebieten angelegt worden waren. Das Gebiet, in dem die Yem-Siedlungsdörfer in Seka-Woreda entstanden sind, ist fruchtbar. Es soll jedoch stark von Malaria befallen sein, weswegen die übrige Bevölkerung die Gegend meidet. Durch Vorgärten mit bunten Blumen und peinlich sauber gehaltenen Auffahrten vor jeder Hütte zeigt sich auf den ersten Blick ein Unterschied zu den umliegenden Dörfern. Die Schulen haben Anträge auf Unterricht in amharischer Sprache gestellt, da Afaan Oromo für die YemSiedler eine Fremdsprache ist. Die Dörfer sind schlecht erreichbar, und ein Bauer berichtete mir stolz davon, dass sich die Yem völlig selbst versorgen können (sogar Kleidung wird selbst hergestellt). Er ist zufrieden damit, ein eigenes Stück Land zu besitzen, und er möchte auch nicht mehr in seine alte »Heimat« (die Special Woreda) zurückkehren. Einmal im Jahr besucht er gemeinsam mit seiner Frau dort lebende Verwandte. Ich hatte den Eindruck, dass die Siedler mit ihrer neuen Umgebung zufrieden sind. Im Gegensatz zu ihrem Herkunftsgebiet scheint ihr Überleben in dem fruchtbaren Tiefland der Seka-Woreda gesichert zu sein. Der anhaltende Strom von Migranten aus der Yem Special Woreda in die Jimma-Zone kann als Bestätigung hierfür betrachtet werden. Die groß angelegten Umsiedlungsprogramme der repressiven Militärregierung scheinen von der Yem-Bevölkerung in Jimma akzeptiert zu werden. Von Informanten erfuhr ich, dass die einheimische Bevölkerung in Seka-Woreda eine Rückführung der Siedler in die Heimatgebiete for-

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dert. In einigen neu angelegten Dörfern soll es schon zu Übergriffen gekommen sein. Auch wenn die Siedlungsdörfer abgelegen sind und sich in Malaria-Gebieten befinden, scheinen die Siedler nicht willkommen zu sein. Die Verwaltung, Schulen und Kliniken der Seka-Woreda befinden sich im fruchtbaren Tiefland. In den ›Städten‹ an der Straße finden täglich große Märkte statt. Daher gibt es auch eine gute Busverbindung mit der Stadt Jimma. Hier sorgt der Kaffeeanbau für Wohlstand. Zudem befinden sich hier auch viele verschiedene Behörden und Organisationen. Das Ministry of Coffee and Tea verkauft z. B. neue, weniger anfällige Kaffeepflanzen an die Bauern, und das Landwirtschaftsministerium verkauft Handelsdünger und Hybridmais. Missionare bauen Schulen und Kliniken auf und CODE-Afrika4 hat im Rahmen seines Alphabetisierungsprogramms einen Lesesaal in Seka eingerichtet. Die Yem in Sentama am Beispiel des Dorfes Maksenyo Gebeya Die Bewohner des Dorfes Maksenyo Gebeya im Hochland von Sentama der Seka-Woreda leben relativ abgeschieden und haben kaum Zugang zu moderner Infrastruktur. Die Bevölkerung stammt zwar aus dem Gebiet der heutigen Special Woreda Yem, lebt aber schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Sentama. Alle sind mittlerweile zum Islam konvertiert und niemand spricht hier noch Yemsa. Afaan Oromo ist zur Muttersprache geworden. Als es 1993 zu Auseinandersetzungen kam, musste die Schule schließen, Häuser wurden angezündet und selbst die idir-Vereinigung hielt keine Treffen mehr ab. Der idirVorsitzende berichtete, dass die Vereinigung der Konspiration gegen den Islam verdächtigt wurde. Die Moschee, der Marktplatz, eine Mühle und eine Grundschule bilden das Zentrum der kebelle Maksenyo Gebeya. Sie befinden sich an der Hauptstraße, die in die nächstgrößere Stadt Jimma führt. Dort sind in den letzten Jahren auch kleine Geschäfte und ›Bars‹ entstanden, in denen junge Männer mit chat »die Zeit totschlagen« (Interview, Sentama). Viele von ihnen haben einen höheren Schulabschluss. Sie finden jedoch in den Städten keine Arbeit und kehren deshalb wieder in ihre Heimat zurück. Auf Grund der Landknappheit kommen sie jedoch auch im Agrarsektor nicht unter.

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In der Regenzeit verwandelt sich die Straße nach Jimma in eine Schlammpiste. Dann ist der Fußweg, der sich durch die Felder schlängelt und nach zwei Stunden zu einer befahrenen Asphaltstraße führt, die einzige Verbindung zur Stadt. Für den Kaffeeanbau, der die Region berühmt gemacht hat, ist es in Maksenyo Gebeya zu kalt. Für Düngemittel oder Saatgut, monatliche Gehaltszahlungen an die Lehrer oder medizinische Versorgung muss jedes Mal ein weiter Weg zurückgelegt werden. Fast alle Flächen werden landwirtschaftlich genutzt. Die Bauern beklagen sich über geringe Ernteerträge auf Grund von Landknappheit und Erosion. Tef, 5 Ensete und Weizen sind die wichtigsten Anbauprodukte. Ensete, eine sehr widerstandsfähige Pflanze, wird auf einem Stück Land direkt neben dem Haus angebaut, während die übrigen Felder weiter entfernt von den Wohnsiedlungen liegen. Der Enseteanbau fällt in den Aufgabenbereich der Frauen. Auf den übrigen Feldern verrichten sie aber nur ›kleinere‹ Arbeiten, wie Unkraut jäten und aussäen. Janjero oder Yem? Der Vorsitzende der Peasant Association (PA)6 sagte mir, dass es in der kebelle Maksenyo Gebeya höchstens fünf Familien gibt, die nicht Yem sind. Er selbst gehöre zu dieser Minderheit, er sei Oromo. Er gehört auch zu den wenigen, die wissen, was Yem ist. Bei einem älteren von mir interviewten Mann löste diese Bezeichnung Empörung aus: »Wir sind Janjero und haben nichts mit diesen christlichen Yem zu tun« (Interview, Sentama). Die meisten bezeichnen sich als »Janjero« und fügen hinzu, dass sie sich ihrer Herkunft nicht schämen und zu ihrer Vergangenheit stehen. Als ich erzähle, dass Fouad, der PAVorsitzende, Oromo ist, lachen alle und sagen, dass er mir wohl ein Märchen erzählt habe. Er sei genau wie alle anderen »Janjero«. Nach einigen Wochen erfahre ich schließlich von einem Bauern, einem YPDM-Anhänger, den Hintergrund der Auseinandersetzungen. Zehn YPDM-Repräsentanten waren nach Sentama gekommen, um die Bevölkerung auf Grund der gemeinsamen Janjero-Herkunft in ihrer Partei (als Yem) zu organisieren. Ziel war es, die Behörden der Oromia-Region auf den Yem-Bevölkerungsanteil in der Jimma-Zone auf-

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merksam zu machen. Teile der Bevölkerung, die in der Islamic Front for the Liberation of Oromia (IFLO) organisiert waren, befürchteten die Bekehrung der Bevölkerung durch die christlichen YPDMRepräsentanten und ermordeten diese daraufhin. Der Name Yem, der von der YPDM als positive Bezeichnung für das verwendet wird, was früher Janjero war, wird von der Bevölkerung abgelehnt. Hier zieht man es vor, den anderswo als abwertend betrachteten Namen des mächtigen Königreiches Janjero beizubehalten. Für den YPDM-Vorsitzenden steht die Geschichte des Königreiches im Mittelpunkt seiner Identität als Yem und schafft ein alle Unterschiede überragendes Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Bevölkerung in Sentama. Diese hat zum Zeitpunkt ihrer Ansiedlung den islamischen Glauben angenommen. Der Gegensatz zwischen Islam und Christentum spiegelt sich für sie in der Differenzierung in Janjero und Yem wider. Yem wird mit der Special Woreda und der YPDM in Verbindung gebracht, zu der die Bevölkerung in Sentama ein Jahrhundert nach ihrer Ansiedlung keinen Bezug mehr hat. In Afaan Oromo existiert bereits der Begriff Bedi für Oromo mit Yem-Herkunft. In diesem Zusammenhang wurden mir weitere Ethnonyme für Oromo anderer Herkunft genannt.7 Auch wenn diese Begriffe nur wenigen geläufig und wahrscheinlich auf die Jimma-Zone beschränkt sind, weisen sie auf die Überlappung verschiedener Zugehörigkeiten hin. Oromo-Zugehörigkeit überlagert nicht nur Yem-, sondern auch Amhara- oder Kaffecho-Identität. Sogar Oromo aus Wollega werden in diesem Zusammenhang genannt. Es gibt verschiedene Merkmale, die die Zugehörigkeit bestimmen, und sie können flexibel verwendet werden. Dies wird besonders bei dem PA-Vorsitzenden Fouad deutlich, der einen Schritt weiter geht, indem er sich von den Yem abgrenzt und sagt, dass er Oromo sei. Seine Stellung als Vorsitzender der Bauernorganisation ist eine Schnittstelle zwischen staatlichen Institutionen und Dorfbevölkerung. In seiner Person treffen zwei verschiedene Handlungsrationalitäten aufeinander. Einerseits ist er Mitglied der Dorfgemeinschaft und soll die Interessen der Bevölkerung vertreten, andererseits muss er judikative und exekutive Funktionen des Staates übernehmen. Seine Entscheidung, mir gegenüber die Oromo-Identität zu wählen, zeigt, dass institutionelle Rahmenbedingungen und Macht-

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verhältnisse die Wahl der ethnischen Identität beeinflussen und diese flexibel je nach Situation und Gesprächspartner gewählt wird. Die Geschichte der Janjero8 Wie geht die Bevölkerung in Sentama mit ihrer Geschichte um, die in dem mächtigen Königreich Janjero ihren Anfang nahm? Die Art und Weise, wie Geschichte dargestellt wird, unterliegt der gegenwärtigen Handlungsrationalität der Akteure. Sie kann Aufschluss über Interaktionsmuster geben. Ein YPDM-Anhänger in Sokkoru, der für die Mitglieder der Partei auf Grund seines hohen Alters als zuverlässiger Informant gilt, berichtete Folgendes: »Bis zum 12. Jahrhundert bevölkerten die Yem (damals noch Janjero) das Gebiet bis zum Fluss Gojeb. Mit der Einwanderung der Oromo wurden sie von dort vertrieben. Es folgte eine lange Zeit der Kriege zwischen den Oromo und dem Janjero-Königreich. Mit der Hilfe von Menelik gelang es Jimma Aba Jifar schließlich, die Janjero zu besiegen. Viele Janjero wurden versklavt und gelangten so wieder in das Gebiet um Jimma. Sie wurden zum Islam bekehrt und wurden von Sklaven zu Pächtern. In der Derg-Zeit wurde Land zu öffentlichem Eigentum erklärt. Auf diese Weise erhielten die ehemaligen Sklaven eigene Landnutzungsrechte. Bis heute hält die Auswanderung der Bevölkerung aus der Special Woreda nach Jimma an. Das Land ist dort fruchtbar. Durch Kaffeeanbau kann man schnell zu Reichtum gelangen. Das Yem-Territorium hingegen ist unfruchtbar. Land ist knapp und es mangelt an Wasser. Die Yem in der Jimma-Zone leben auf ihrem angestammten Territorium, das bis zur unrechtmäßigen Invasion der Oromo Janjero-Land war« (Interview, Sokkoru: 4.7.1995).

Diese Version der Yem-Geschichte beginnt im 12. Jahrhundert. Die Tradition der Feindschaft zwischen Oromo und Yem, die bis in die Gegenwart andauert, nimmt im 16. Jahrhundert ihren Anfang. Aus Sicht des Informanten ist das Verhältnis durch unrechtmäßige Gebietsansprüche der Oromo und Ausbeutung der Yem-Bevölkerung bestimmt. Die Yem gelangten als Leibeigene in die Jimma-Zone. Nur durch die Übernahme der Oromo-Kultur erreichten sie eine Verbesserung ihres Status. In der Darstellung des Informanten erscheint die Re-

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ligion als Instrument. Durch die Konversion zum Islam wird die Yem-Bevölkerung von ihren Ursprüngen entfremdet. Nach Meinung des Informanten sind die Migranten (Oromo) in einer fremden Umgebung dem Kulturimperialismus der Herrschenden ausgeliefert. Das Aufzwingen von Kultur wird als geschickter Schachzug im Wettbewerb um Ressourcen dargestellt. Die Oromo erreichen durch die Konversion von Yem-Siedlern zum Islam, dass diese sich im Konflikt zwischen der Jimma-Zone und dem Special Woreda Yem gegen die Yem im Allgemeinen wenden. Die Tatsache, dass eine freiwillige Migrationswelle von Yem in die Oromia-Region anhält, wird als legitime Rückkehr in enteignetes Territorium gerechtfertigt. Diese Version der Geschichte steht im Gegensatz zu den Darstellungen von elders in Sentama: »Jimma Aba Jifar siegte im Krieg mit Hilfe der Amharen gegen das Königreich Janjero. Der König benötigte Arbeitskräfte und siedelte daher Janjero in der Nähe von Jimma an. Sie waren Pächter, keine Sklaven. Um gebildete Janjero hierher zu locken, belohnte er sie mit einem goldenen Schwert und Schild. Mit der Invasion der Italiener wurden Menschenrechte proklamiert, und die herrschende Digo-Schicht musste ihr Land an die Pächter verkaufen. Diejenigen, die nicht genügend Geld angesammelt hatten, erhielten sogar ein Stück Land umsonst« (Interview, Sentama: 13.6.1995).

Diese Version stellt die Ansiedlung der Janjero positiv dar. Es bestanden keine Sklavenverhältnisse. Im Gegenteil: der König, der bis in die Gegenwart von der Oromo-Bevölkerung verehrt wird, belohnte die Janjero reich. Die Beschreibung von Schild und Schwert lässt aus Sicht des Informanten keinen Zweifel an der Großzügigkeit und Wohlgesonnenheit des Monarchen. Der Eindruck, dass die Geschichte der Janjero in Sentama Ähnlichkeit mit der vom verlorenen Sohn hat, verstärkt sich in den folgenden Darstellungen: »Unter der Herrschaft Meneliks brachte Jimma Aba Jifar die Janjero nach Sentama, da er Verstärkung im Kampf gegen Kulo und Kaffecho benötigte und unsere Leute als tapfere Krieger bekannt sind. Sie wurden in dem kältesten Gebiet angesiedelt, dem Hochland von Sentama, das zu der Zeit unbewohnt war« (Interview, Lucciinee: 17.6.1995).

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Schließlich wurde ich einem elder vorgestellt, dessen Vater Aba Jifar persönlich gekannt haben soll und der deshalb sehr geachtet wird: »Während der Herrschaft Haile Selassies gab es einen Oromo- und einen Janjero-Distrikt, die von Aba Jifar und Fitauri Gebre Medhim (Aba Bogibo) regiert wurden. Aba Jifar mochte die Janjero, weil sie sehr sauber waren, und gab ihnen das Land hier« (Interview, Seka Cooqorsaa: 23.5.1995).

Aus dieser Sicht verfügten die Janjero über außerordentliche Fähigkeiten und wurden daher von Aba Jifar geschätzt. Die Migration nach Sentama war ihre freiwillige Entscheidung, und sowohl Janjero als auch Oromo konnten Nutzen daraus ziehen. Außer bei dem YPDM-Anhänger wird die ruhmvolle Vergangenheit des mächtigen Janjero-Königreiches nicht weiter erwähnt. Die Geschichte der Janjero in Sentama wird nur noch am Rande mit dem Königreich in Zusammenhang gebracht. Die Darstellungen beschränken sich auf die Zeit nach 1894, als das Königreich Janjero dem äthiopischen Reich einverleibt wurde. In biographischen Interviews erfahre ich wenig über Familiengeschichten. Häufig wird berichtet, dass auch der Großvater schon in Sentama geboren wurde. Die Umstände, unter denen die Familien in die Gegend gelangt sind, werden nicht erwähnt. Dies ist ungewöhnlich für afrikanische Gesellschaften, in denen die Familiengenealogie häufig der Legendenbildung dient. Über die Vergangenheit kann nur wenig mit Sicherheit gesagt werden. Die Migration begann ungefähr um die Wende zum 20. Jahrhundert. Sentama war zu der Zeit ein dicht bewaldetes, unbewohntes Gebiet. Die Darstellungen der Ältesten über ihr Volk zeigen, dass die Erfahrungen mit den Oromo positiv waren. Anders als in der Version des YPDM-Geschichtsexperten gilt Aba Jifar in den Darstellungen der Janjero von Sentama als bewundernswerte Persönlichkeit, die für ihre Großzügigkeit gerühmt wird. Damit grenzen sie sich von den Yem ab, die Aba Jifar für ihre schmachvolle Niederlage und das Ende des Königreiches verantwortlich machen. Während Aba Jifar für die einen die »Oromo-Bedrohung« personifiziert, stellen die anderen ihn als gütigen und gerechten Herrscher dar. Ein positives Verhältnis zum Herr-

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scher, der noch heute von der Oromo-Bevölkerung geschätzt wird, scheint wichtig für die Identität der Janjero in Sentama zu sein. Der kurze Zeitraum, auf den sich die Darstellungen der Geschichte beschränken, das Fehlen individueller Familiengeschichten und die Identifikation mit dem Herrscher einer fremden Gesellschaft könnten Hinweise darauf sein, dass die Vorfahren als Leibeigene nach Sentama gelangt waren. Einer der Bauern erwähnt auch die Einführung der ›Menschenrechte‹ durch die Italiener, verwechselt dann aber die Abschaffung von Sklaverei mit der Abschaffung von Pachtverhältnissen. Das Vergessen der eigenen Geschichte, das durch die Kürze der Genealogien deutlich wird, kann auf Entwurzelung zurückgeführt werden, die allen Sklaven gemeinsam ist. Die Gruppe, mit der man durch Verwandtschaft, Umgebung und Sprache verbunden war, wird zurückgelassen. Das Vergessen der eigenen Geschichte könnte ein Zeichen für den Verlust der sozialen Identität sein, die durch eine andere ersetzt wird. Es gibt kein Entkommen aus der neuen Umgebung, in der man vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist und keinen Zugang zu den sozialen Institutionen hat. Durch Sprache, Religion oder eine (konstruierte) Vergangenheit versucht man, eine Zugehörigkeit herzustellen und durch diese die alte, minderwertige Sklavenidentität zu ersetzen. Über die Vergangenheit der Bevölkerung in Sentama bleiben Unklarheiten bestehen. Es lässt sich jedoch für die Gegenwart feststellen, dass die Yem-Identität nur von geringer Bedeutung ist und dass die Darstellung der eigenen Geschichte der Identifikation mit der OromoBevölkerung dient. Die Widersprüchlichkeit der Aussagen verdeutlicht, wie Geschichte konstruiert wird. Der Islam als Identitätsmerkmal bei Yem und Oromo Als Begründung für die blutigen Auseinandersetzungen 1993 wurde die Angst vor einer Konversion von Yem zum Christentum genannt. Yem-Zugehörigkeit wird auf Grund des Widerspruchs von Islam und Christentum abgelehnt. Die Fronten in der Auseinandersetzung verlaufen sowohl entlang ethnischer als auch religiöser Linien. Dies führt nun zu der Frage, welche Bedeutung Religion für die Bestimmung von ethnischer Zugehörigkeit hat.

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Die Frage nach der ethnischen Identität von Muslimen stößt auf das Spannungsverhältnis zwischen den universalistischen, uniformierenden Tendenzen des Islams und den Formen der Ausübung, die dem jeweiligen sozialen Kontext angepasst und an lokale Traditionen gebunden sind. Die Integration in die islamische Gemeinschaft (umma) ist das übergeordnete Ziel, das durch die Einhaltung von Doktrinen, Ritualen und Pflichten, die aus dem Koran und der Sunna abgeleitet sind, erreicht wird. Das Verhältnis zwischen Islam und Oromo-Identität wird in unterschiedlichen Regionen und Zeiten widersprüchlich beschrieben. Für die Boran, ein Oromo-Volk im äußersten Süden Äthiopiens, schildert Schlee (1994a), wie sich im Rahmen neuer Frontenbildung viele Boran vom Islam abgekehrt und ihrer traditionellen Religion zugewandt haben: »Diejenigen Muslime unter den Boran, die ihre Religion noch praktizieren, sehen sich heute oft der Frage ausgesetzt: ›Warum gehst du noch zur Moschee? Siehst du nicht, was diese Muslime uns antun?‹ Wenn jemand zum Islam konvertiert, wird er gefragt: ›At ya saffarte?‹ – Bist du ein Somali geworden?« (Schlee 1994a: 14).

Die Boran setzen den Islam mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit gleich, während die Zugehörigkeit zu den Boran religiösen Inhalt bekommt. Es wird quasi eine Boran-Religion postuliert. Schlee / Shongolo (1995: 13) weisen auf die Widersprüche hin, die zwischen der aada (der Oromo-Kultur), in der das gada-System wesentlicher Bestandteil ist, und den Gesetzen der shari’a bestehen. Beide Glaubenssysteme haben die Herstellung einer Rechtsordnung zum Ziel. Die Vorstellungen widersprechen sich aber und lassen sich nicht ohne weiteres einem säkularen Staat unterordnen. Offiziell ist für die oromische Befreiungsbewegung (OLF) die gemeinsame Sprache und Kultur entscheidend. Religion wird in den Bereich der Privatsphäre verwiesen. Seit dem Regierungswechsel von 1991 und der darauf folgenden Umverteilung politischer Macht im Konflikt zwischen Boran- und Somali-Gruppen gewinnt der Widerspruch zwischen aada und shari’a an Bedeutung. Es wird notwendig, Gruppenzugehörigkeit zu definieren. Religion dient dabei als ein entscheidendes Merkmal. Hier an der

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Grenze zu Kenia ist die Oromo-Identität mit dem Islam unvereinbar. Wie ist die Situation jedoch für die Oromo der Jimma-Zone, die in Nachbarschaft zu christlichen Völkern der Südregion leben? Der Islamisierungsprozess in Äthiopien verlief nicht einheitlich. Es gibt keine ›islamische Kultur‹. Islamisierung ist eher ein dynamischer Prozess, der Veränderungen unterliegt, ausgehandelt und uminterpretiert wird. Das Verhältnis von lokaler Identität und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime ist einerseits vom Verlauf der Islamisierung und andererseits von aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Islam und Oromo-Identität lassen sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren. Am Beispiel der Oromo in der Jimma-Zone wird jedoch deutlich, dass auch kein Widerspruch bestehen muss. Mohammed Hassen (1990) stellt die Islamisierung als langsame Entwicklung dar, die sich den örtlichen Gegebenheiten anpasste. Der rege Handel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verband die Gibe-Staaten mit der Außenwelt. Die Stadt Seqqa entwickelte sich zu einem wichtigen Handelszentrum für Gold, Sklaven, Elfenbein, Kaffee und Gewürze. Die Händler waren Muslime aus dem Norden, Jabarti und islamische Oromo aus Wollo, Shewa und Harrar. Mit der wirtschaftlichen Bedeutung des Handels wuchs auch der Einfluss der Jabarti auf die Herrschenden der Gibe-Staaten. Bis 1840 war der Islam die Religion der Herrschenden, welche enge Beziehungen zu den Jabarti-Händlern knüpften. Ihr Herrschaftsanspruch ließ sich durch den Islam besser legitimieren. Das Interesse, das mit dem Islam verbunden werden konnte, war ausschlaggebend für die Annahme des Glaubens durch die Oberschicht. Erleichtert wurde dies dadurch, dass die Händler Afaan Oromo sprachen und die neue Religion somit nicht ganz fremd erschien. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann die zweite Phase, in der der Islam seine jetzige Ausdehnung erreichte. Zuerst geschah das durch den Kontakt mit den Jabarti auf den Märkten und entlang der Karawanenroute, später durch ihre Ansiedlung in den Handelszentren. Dabei wurden Elemente der aada beibehalten oder in islamische Tradition umgewandelt. So wurde z. B. die butta-Zeremonie weiterhin abgehalten, bekam jedoch einen neuen Inhalt. Anstelle von Gebeten standen nun Hochzeiten im Vordergrund. Während früher die Zere-

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monie Anlass war, Streit zu schlichten, entwickelte sie sich zu einer Gelegenheit für die Monarchen, ihre Differenzen beizulegen. Die Könige bekannten sich zum Islam, opferten jedoch weiterhin waqa, der Quelle allen Lebens und dem Schöpfer aller Dinge im OromoGlaubenssystem. Aba Jifar II. (1878-1932) war es, der Jimma zum Zentrum des Islams machte. Um die Attraktivität seines Reiches für die Jabarti-Händler zu steigern, bemühte er sich, islamische Gelehrte für seinen Hof zu gewinnen. Sprache und Religion der Oromo wurden beibehalten und veränderten sich nur langsam. Der Islam übernahm Elemente der aada. Nur so war die Überwindung der Widersprüche zwischen der aadaOrdnung und den Gesetzen der shari’a möglich. Der Islam wurde ein Bestandteil des Alltags, der sich der aada-Ordnung anpasste, bis er sie verdrängte. Der Islam ist heute für die Bevölkerung in der Jimma-Zone ein wichtiges Identifikationsmerkmal. Da es in der Gemeinschaft der umma keine ethnischen Unterschiede gibt, ist sie auch offen für die Janjero-Bevölkerung. Durch die Konversion zum Islam entsteht eine Zugehörigkeit zu den Oromo-Nachbarn. Bei den aktuellen Ereignissen wird religiöse mit ethnischer Zugehörigkeit gleichgesetzt. Auslöser für den Konflikt mit den Yem ist die Religion, ein übergeordnetes, fremdes Symbol. Die Auseinandersetzungen in Sentama konnten solche Ausmaße annehmen, weil die YPDM nicht nur die ethnische Identität in Frage stellte, sondern auch die religiöse Zugehörigkeit. In den Konflikten erscheint Islamisierung als »Mittel der Oromisierung« und umgekehrt »… dient die Christianisierung der Immunisierung gegen eine Oromisierung« (Interview, Addis Abeba). Lokale Identität und nationale Politik In den dargelegten Definitionen von ethnischer Zugehörigkeit wird nicht nur von einer als natürlich verstandenen Verbundenheit zwischen Menschen ausgegangen, sondern auch zum Land. Dies wird an den Darstellungen der Vergangenheit deutlich. Ein Informant stellte das Gebiet der Jimma-Zone als Yem-Territorium dar, auf das, ungeachtet mehrerer Jahrhunderte Geschichte, »natürliche« Besitzan-

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sprüche bestehen. Andere wiederum schilderten die Landvergabe durch Aba Jifar und drückten auf diese Weise ihre Zugehörigkeit zu den Oromo aus. Der Zusammenhang zwischen ausgenommener genealogischer Bindung zum Land und dem Alltagshandeln kleinbäuerlicher Produzenten wird in Maksenyo Gebeya am Beispiel der Ensetepflanze deutlich. Für die Janjero in Maksenyo Gebeya sind Landnutzungsrechte mit dem Anbau der Ensetepflanze verbunden, die mir von dem YPDMVorsitzenden als weiteres Merkmal der Yem-Zugehörigkeit genannt wurde. Auch noch ein Jahrhundert nach der Ansiedlung in der Jimma-Zone wird Ensete von der Janjero-Bevölkerung angebaut. Sie ist eine wichtige Voraussetzung zur Überlebenssicherung und wird gleichzeitig als Bestandteil der Yem-Kultur betrachtet. Die von mir (Popp 1996: 63-67) dargelegten Biographien des PAVorsitzenden von Maksenyo Gebeya und des Sohnes eines ehemaligen Gouverneurs veranschaulichen, welche Bedeutung der ›Yem-Kultur‹ (oder ethnischer Zugehörigkeit im Allgemeinen) in einer Situation zukommt, die von zunehmender Destabilisierung der Sozial- und Produktionssysteme gekennzeichnet ist. Während der PA-Vorsitzende ein Bauernvertreter ist, dessen Handlungsrationalität von der Lebenswelt der Bevölkerung in Sentama bestimmt ist, ist Wolde Gabriel, der Gouverneurssohn, auf nationaler Ebene in Netzwerke gegenseitiger Hilfe und Verpflichtungen eingebunden. Für den einen hätte die Abgrenzung von Oromo und die Hervorhebung der Yem-Herkunft den Verlust der Existenzgrundlage zur Folge. Die Herstellung von Gemeinsamkeiten mit Oromo ist daher überlebenswichtig. Er ist ein Repräsentant der Landbevölkerung, für die Landnot die größte Bedrohung darstellt, und deren Vorfahren Sklaven und Pächter waren. Für den anderen ergibt sich schon durch seine Familiengeschichte ein Unterschied zur Bevölkerungsmehrheit. Der Gouverneursposten des Vaters brachte eine große Nähe zum Kaiser mit sich. Das positive Verhältnis zu der Amharen-Monarchie zeigt sich an der Religion der Familie. Anders als für die Bevölkerung in Sentama machte für ihn die Verbindung zu privilegierten Kreisen die Herstellung von Gemeinsamkeiten mit der benachbarten Oromo-Bevölkerung nicht notwendig. Eine Identifikation mit dem Islam oder der Oromo-Kultur ist in seiner Familie überhaupt nicht vorhanden.

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Für ihn geht es nicht um Landnutzungsrechte. Seine Verbindung zu einer städtischen Elite bestimmt sein Handeln. Die Fallbeispiele machen deutlich, dass die Zuschreibung zu bzw. Abgrenzung von einer Gruppe auch für den Erhalt der überlebenswichtigen Landnutzungsrechte notwendig ist. Durch die neue Regionalordnung entsteht ein Zusammenhang zwischen Ressourcenzugang und ethnischer Zugehörigkeit. Die Ursachen für Gruppenbildungsprozesse entlang ethnischer Grenzen können daher auch in den politischen Rahmenbedingungen gesucht werden. Dezentralisierung entlang der Grenzen ethnischer Zugehörigkeit Die These von Barth (1969), dass die Abgrenzung von »Anderen« der Kern der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist, bestätigt sich im Falle der Janjero. Die Dichotomisierung in Yem / Oromo ist zentral. Diese hat jedoch erst in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen. Die Lage hat sich durch den Regierungswechsel, das Ende des Krieges und die neue Regionalordnung entscheidend verändert. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe führte zu blutigen Auseinandersetzungen, als die Vertreter einer neuen Partei, der YPDM, ihre Aktivitäten auf Sentama ausweiten wollten. Diese gehören einer urbanen intellektuellen Mittelschicht an, die kein unmittelbares Interesse an Landnutzungsrechten für die Agrarproduktion hat. Sie fanden in einem Bauern einen Anhänger, für den auf Grund der privilegierten sozialen und ökonomischen Stellung seiner Familie die landwirtschaftliche Produktion ebenfalls nicht die einzige Einkommens- und Überlebensquelle ist. An dieser Stelle wird es notwendig, politische Parteien zu betrachten. Sie sind Akteure auf nationaler Ebene und stellen eine Interessenvertretung der Landbevölkerung dar. Die engagiertesten Mitglieder der YPDM sind eine kleine Gruppe von Intellektuellen, wie z. B. Lehrer, ein Kunstprofessor und Bankangestellte. Der erbitterte Kampf der Partei für die freie Entfaltung der Janjero-Bevölkerung in Sentama stößt auf den Widerstand der betroffenen Bevölkerungsgruppe selbst. Es entsteht ein Interessengegensatz. Die Repräsentanten wollen auf den Yem-Bevölkerungsanteil in der Oromia-Region hinweisen, um dort politische Mitsprache zu erreichen. Die Bevölkerung in Sentama

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selbst strebt hingegen sichere Landnutzungsrechte an, was durch die Aktivitäten der YPDM gefährdet wird. Stattdessen findet eine andere Partei, die IFLO, Anhänger. Die IFLO ist zwar aus der Befreiungsbewegung der Oromo heraus entstanden, die Parteigeschichte lässt jedoch eher auf EPRDF-Nähe schließen. »1978 / 79 kam es zu einer Spaltung der OLF im Osten Äthiopiens. Unter Führung von Sheikh Jarre entstand die IFLO. Anfang der 1980er Jahre war eine wachsende Religiosität des Führers zu beobachten, die wahrscheinlich auf Kontakte zum arabischen Ausland zurückzuführen ist. Als es 1991 zum Sturz der Derg-Regierung kam, wurde die IFLO zur Nationalkonferenz eingeladen. Die fünf Oromo-Organisationen sollten sich unter dem Dach der EPRDFnahen OPDO (der Oromo People’s Democratic Organisation) zusammenschließen. Daraufhin kam es zur Spaltung der IFLO. Der Teil, für den der Gedanke einer Nation ›Oromia‹ im Vordergrund stand, verließ 1992 gemeinsam mit der OLF das Parlament und wurde im Untergrund, überwiegend in Ostäthiopien, aktiv. Für den zweiten Flügel steht der Gedanke der umma (der islamischen Gemeinschaft der Gläubigen) im Vordergrund. Dieser islamistische Flügel wird von der EPRDF unterstützt, besonders in der Jimma-Zone, die als ein Zentrum des Islams betrachtet werden kann. Hier findet die IFLO wahrscheinlich Unterstützung aus dem Sudan. Bei den Parlamentswahlen erlangte die IFLO vier Sitze. Seit einiger Zeit ist sie auch im Untergrund aktiv« (Interview, Addis Abeba: 6.8.1995).

Eine konstruierte einheitliche Geschichte und der Hinweis auf eine Bedrohungssituation dienten der Oromo-Befreiungsbewegung in der Vergangenheit zur Rechtfertigung ihres politischen und sozialen Handelns nach innen und außen, d. h. gegenüber der internationalen Öffentlichkeit (Zitelmann 1994: 171). Durch den Regierungswechsel entstand der Eindruck einer politischen Beteiligung der Oromo-Bewegungen. Die sprachpolitischen Ziele wurden weit gehend umgesetzt. Es kam aber nicht zur Realisierung wichtiger wirtschaftspolitischer Forderungen. So wurde Addis Abeba, das Zentrum industrieller Produktion im Herzen der Oromia-Region, zu einer eigenständigen Verwaltungseinheit erklärt. Während eine Abdrängung der Befreiungsbewegung in den Untergrund beobachtet werden kann, bedient sich die staatliche Politik weiterhin ihrer Symbole:

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Ethnische Identität im sozialen Wandel »Obwohl die OLF aus der politischen Verantwortung gedrängt wurde, blieben zentrale Symbole erhalten, für die die OLF jahrelang einstand. Afaan Oromo wurde offizielle Sprache in Oromiya und die Verschriftlichung findet in der lateinischen Schrift statt. Die durch die OLF und ihr Umfeld gepflegte Selbstverherrlichung der aada oromoo wird heute durch ein Dutzend Zeitschriften verbreitet, deren Titel keinen Zweifel an der Romantisierung von Vergangenheit und ländlichen Traditionen aufkommen lassen: Qabee (traditionelles Milchgefäß aus Kalebasse und Gras), gada (das Alters- und Generationsklassensystem), Biftu (die lebensspendende Sonne) […]« (Zitelmann 1994: 179).

Als Folge spaltete sich die Befreiungsbewegung. Während ein Flügel von der Unterstützung durch die EPRDF und islamische Organisationen im Sudan profitierte, zogen die Führer des anderen Flügels OLF-Nähe vor. Was als religiöse oder regionale Differenzen zwischen verschiedenen Oromo-Gruppen erscheint, ist das Ergebnis einer sich zunehmend zentralisierenden staatlichen Politik. Die wichtigsten Oppositionsparteien wurden an ihrer Öffentlichkeitsarbeit für die Wahlen gehindert, die Pressefreiheit wurde weit gehend eingeschränkt und die Zahl der Menschenrechtsverletzungen begann zu steigen (AGKED 1995). Die Spaltung der IFLO ist kein Einzelfall. Alle Parteien sind in Schwesterorganisationen der EPRDF und in Oppositionsgruppen gespalten. Der Regierungspartei gelang auf diese Weise die Kontrolle der Verwaltung bis auf kebelle-Ebene (AGKED 1995). Durch die Vereinnahmung des Gedankenguts und der Symbole der Befreiungsbewegung wird das Bedürfnis nach kultureller Entfaltung angesprochen und das Recht auf Eigenständigkeit betont. Parallel hierzu kann der Aufbau einer zentralistisch organisierten Verwaltung und eines Einparteiensystems beobachtet werden, diesmal entsprechend vermeintlicher Grenzen ethnischer Zugehörigkeit. Die Ursachen für die Wir-Gruppen-Bildung Den Zugriff auf Einnahmen und Ressourcen, den ethnische, religiöse und nationalistische Organisationen genauso wie Klassenorganisationen anstreben, sieht Elwert (1989) als einen Grund für deren Attraktivität an. Er stellt eine Klassen übergreifende Struktur als wesentliches

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Merkmal für ethnische und nationalistische Bewegungen fest. Ihre Stärke liegt dabei darin, dass sie weniger bedrohlich erscheinen als Klassenorganisationen, denn »während horizontale Organisationen (Klassen-Organisationen) das etablierte Verteilungsmuster in einer Gesellschaft bedrohen, verheißen vertikale Organisationen selbst bei revolutionärer Rhetorik eine stärkere Bindung an bestehende Spielregeln« (Elwert 1989: 452).

Markakis (1984, 1990) betrachtet nationalistische Bewegungen am Horn von Afrika als Instrument von Dissidenten, die einer ähnlichen sozialen Schicht entstammen wie die Vertreter des Staatsnationalismus, und die sich durch eine Mobilisierung der Landbevölkerung den Staatsapparat aneignen wollen. In seiner Analyse kommt er zu dem Ergebnis, dass die Entstehung ethnischer Bewegungen in erster Linie auf machtpolitische Interessen einer privilegierten Minderheit zurückzuführen ist. Dennoch bestimmen die Bindungen, die z. B. durch die Zugehörigkeit zu einer idir-Vereinigung oder religiösen Gemeinschaft entstehen, den Alltag weit gehend. Die Zugehörigkeit verändert Norm- und Wertvorstellungen und bewirkt eine Integration in Netzwerke gegenseitiger Hilfe und Verpflichtungen. Sie muss täglich unter Beweis gestellt werden. Auch für die Oromo-Befreiungsbewegung stellt Zitelmann (1994) fest, dass die intellektuelle Konstruktion einer Kultur der Oromo, die in einem Flüchtlingskontext entstanden ist, sowohl Ergebnis von Prestigeinteressen als auch Ausdruck eigener Würde und des Anspruchs auf Humanität ist. Identitätsverlust als Folge des sozialen Wandels und des Aufbrechens sozialer Netzwerke wird von Elwert (1989) als weitere, ebenso entscheidende Ursache betrachtet. Er fasst ethnische, religiöse und nationalistische Bewegungen als Wir-Gruppen zusammen und beschreibt, wie eine zunehmende Monetarisierung zum Aufbrechen sozialer Beziehungen und zu einer Situation der Orientierungslosigkeit führt, in der Wir-Gruppen Halt bieten, indem sie eine neue kollektive Identität vermitteln. An die Stelle der Dorfgemeinschaft tritt die Gemeinschaft der umma oder der ethnischen Gruppe. Sie bietet einen normativen Rahmen, der für die sozialen Netzwerke einen Ersatz dar-

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stellt, die in der Vergangenheit auf lokaler Ebene bestanden und den Einzelnen neben ökonomischer Sicherheit auch die Anerkennung durch andere garantierte (Elwert 1989). Die Identifikation mit der aada oromoo kann als Ausdruck eigener Würde und des Anspruches auf Humanität interpretiert werden. Auch für die Bevölkerung in Maksenyo Gebeya ist der Islam ein Jahrhundert nach ihrer Ansiedlung wichtiger Bestandteil des Alltags geworden. Die Gesetze der shari’a bestimmen das Leben, die Moschee ist ein wichtiger Treffpunkt und Afaan Oromo die Muttersprache. Hinzu kommt der rapide soziale Wandel, der vom Aufbrechen sozialer Sicherungssysteme begleitet wird, und es liegt nahe, dass im Glauben stärkerer Halt gesucht wird. Die Aktivitäten der YPDM müssen als Bedrohung erscheinen, die nicht nur die Landnutzungsrechte gefährden, sondern auch das Glaubenssystem in Frage stellen. Beide Faktoren sind für die Stabilität des sozialen Gefüges Ausschlag gebend. Vereinnahmung durch die Staatsbürokratie? Ein Vergleich mit einer Untersuchung (Schlee / Shongolo 1995), die ebenfalls in der Oromia-Region, jedoch im äußersten Süden Äthiopiens durchgeführt wurde, soll an dieser Stelle der Zusammenfassung meiner Ergebnisse dienen. Beide Arbeiten sind in einem Zeitraum entstanden, in dem sich die ersten Auswirkungen der neuen Regionalgliederung durch die Regierung bemerkbar machen. Das Aufzeigen von Parallelen soll noch einmal verdeutlichen, dass die Merkmale, an denen Zugehörigkeit festgemacht wird, der Handlungsrationalität der Akteure unterliegen. In einem zweiten Schritt soll auf das Bedürfnis nach kultureller Entfaltung und Selbstbestimmung eingegangen werden, dem die aktuellen Dezentralisierungs- und Regionalisierungsmaßnahmen entgegenkommen. Insbesondere in den Städten kann die Entstehung von Selbsthilfeorganisationen festgestellt werden, welche die neu errungenen Freiheiten kreativ nutzen, um sich drängenden sozialen Fragen zu stellen. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die in den Beispielen historisch belegt und religiös untermauert wird, bietet Halt in einer Situation rapiden sozialen Wandels, der durch das Aufbrechen von Netzwerken gegenseitiger Hilfe gekennzeichnet ist. Gleichzeitig zeichnet sich ein erneuter Aufbau zentralistischer

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Strukturen ab. Dabei werden Befreiungsbewegungen und ihre Symbole von der Staatsbürokratie vereinnahmt. Dieser Zusammenhang soll abschließend thematisiert werden. Ausgangspunkt meiner Betrachtungen wie auch der von Schlee / Shongolo (1995) ist die Frage, wie die Abgrenzung von den »Anderen« vollzogen wird. Während für mich die Art und Weise von Interesse ist, wie sich die Janjero von den Yem abgrenzen und den Oromo zuschreiben, betrachten Schlee / Shongolo (1995), wie die Zugehörigkeit zu den Garre und Gabbra, zwei somaloide Gruppen, in Abgrenzung von den Boran, einer Oromo-Gruppe, definiert wird. In beiden Fällen werden die Merkmale der Zugehörigkeit durch das bestimmt, was die andere Gruppe nicht ist. In beiden Beispielen waren die Beziehungen zwischen den Gruppen in der Vergangenheit asymmetrisch: Eine Gruppe, in beiden Fällen die Oromo, war in einer privilegierteren, machtvolleren Position als die andere. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Oromo-Identität. Die Art und Weise, wie die Zugehörigkeit zu einer überregionalen Einheit regional, bei den Boran und den Oromo in der Jimma-Zone, verschieden bestimmt wird, verdeutlicht zusätzlich, dass die Merkmale, an denen Zugehörigkeit festgemacht wird, einem Aushandlungsprozess unterliegen. Die Bevölkerung in Sentama spricht Afaan Oromo und versteht die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr. Sprache kann in Sentama (jetzt, da die Bevölkerung Afaan Oromo erlernt hat) eindeutig als Oromo-Merkmal festgehalten werden. Schlee / Shongolo (1995) stellen hingegen fest, dass Mehrsprachigkeit die eindeutige Zuordnung zu einer Gruppe unmöglich macht. Sprache wird von den Mitgliedern der Gruppe beliebig verwendet und ist keine fest stehende Kategorie. Die Einordnung in Sprachgruppen, die dann als Ethnien zusammengefasst werden, ist zweifelhaft. Fremde Sprachen zu lernen und Mehrsprachigkeit gehört zum selbstverständlichen Repertoire vieler Afrikaner (Fardon / Furniss 1994). Während sich für die Janjero feststellen lässt, dass das ehemalige Unterdrückungsverhältnis verdrängt wird, werden die Tiriso-Beziehungen zu den Boran von den Garre nachträglich als Ausbeutungsverhältnis dargestellt (Schlee / Shongolo 1995). Tiriso wird als eine Art

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kollektive Adoption ganzer Klangruppen der Nachbarn durch die Boran beschrieben. Schlee / Shongolo bewerten diese Beziehung als asymmetrisch, aber nicht mit Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen vergleichbar, stellen jedoch fest, dass die Gabbra / Garre in jüngster Zeit die negativen Aspekte der Beziehung besonders hervorheben. In beiden Fällen zeigt sich, dass die Geschichte nachträglich zur Legitimation verwendet wird. Die einen sehen in ihr ihre Zugehörigkeit zu den Oromo bestätigt, die anderen erkennen in ihr wiederum die Differenzen, die sie schon in der Vergangenheit von diesen unterschieden. Für die Zuordnung zu bzw. Abgrenzung von einer Gruppe wird die Sicht der »Anderen« historisch belegt. Dabei sind die Interpretationen von Geschichte durch die aktuelle Situation bestimmt. Die Oromo-Zugehörigkeit der Boran und der Bevölkerung der Jimma-Zone werden an völlig verschiedenen Merkmalen festgemacht. Während an der Grenze zu Kenia das gada-System noch existiert,9 sind im Gebiet der heutigen Jimma-Zone schon Anfang des 19. Jahrhunderts Monarchien entstanden, deren Herrschaftsstrukturen dem egalitären Altersklassensystem der Oromo widersprachen. Gada ist für die Oromo der Jimma-Zone heute höchstens ein Symbol des modernen Oromo-Nationalismus. Es existiert nicht als Element der Gesellschaftsordnung. In der Jimma-Zone ist der Islam wesentlicher Bestandteil der Oromo-Kultur, der einen unüberwindbaren Gegensatz zu den benachbarten christlichen Yem herstellt. Bei den Boran hingegen wird der Islam als Somali-Merkmal betrachtet, das auf Grund der feindlichen Beziehungen zu diesen unmöglich ein Oromo-Merkmal sein kann. Gemeinsam ist beiden Fällen wiederum, dass Religion als Merkmal zur Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe dient, und dass religiöse Symbole zur Mobilisierung in dem Konflikt verwendet werden. So wurden die Vertreter der YPDM-Partei in Sentama mit der Begründung umgebracht, sie hätten die Christianisierung der Bevölkerung zum Ziel. »Die Muslime sind verloren, die Ungläubigen haben die Muslime vernichtet!« lautete dagegen der Hilferuf der Gabbra / Garre (Schlee / Shongolo, 1995: 12). Von internationalen Beobachtern werden die aktuellen Entwicklungen als unsichere Anfänge eines schwierigen Balanceakts bewertet,

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in dem die überkommenen zentralistischen Strukturen der neuen Regierung keine andere Wahl lassen als mit bewährten Mitteln eine neue Ordnung zu schaffen. Sprache, Geschichte, Territorium und Religion sind wichtige identitätsstiftende Symbole, die einen sensiblen Umgang verlangen. Die Föderalisierung des Landes und die mit ihr verbundene neue Sprachenpolitik sind notwendige Schritte, die tödliche Konfliktdynamik zu entschärfen, und die Voraussetzung für einen eigenständigen sozialen Wandel. Der Jahrzehnte andauernde Bürgerkrieg der Befreiungsbewegungen war Opfer fordernder Ausdruck des Bedürfnisses nach Selbstbestimmung und kultureller Entfaltung. Die Anzeichen weisen auf eine Vereinnahmung kultureller Symbole durch die Politik hin, ohne dass die hierfür notwendige Autonomie der Gesellschaft vorhanden wäre. Menschenrechtsverletzungen, das Verbot von Öffentlichkeitsarbeit für Oppositionsparteien und die Beschneidung der Pressefreiheit sind massive Rückschläge für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Angesichts der drängenden Probleme, die es in Äthiopien zu lösen gilt, ist der Frieden die wichtigste Voraussetzung für eine demokratische Öffnung. Es gilt daher, eine differenzierende Betrachtungsweise beizubehalten. Eine Analyse, die sich auf die machtstrategischen Taktiken einer privilegierten Elite beschränkt, wird den gesellschaftlichen Kräften, die den Prozessen innewohnen, nicht gerecht. Anmerkungen 1 Dieser Artikel ist eine gekürzte und überarbeitete Version meiner Diplomarbeit, die im Januar 1996 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld vorgelegt wurde. Die Daten für diese Arbeit wurden im Rahmen einer Hospitation bei einem Bildungsprojekt der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) von Mai bis August 1995 in der Jimma-Zone der Oromia-Region erhoben. Für Kritik und Anregungen möchte ich Prof. Dr. Gudrun Lachenmann und Prof. Dr. Günther Schlee danken. 2 Vgl. Glossar. 3 Ensete wird auch als ›falsche Banane‹ bezeichnet, aus der sich ein sehr stärkehaltiges Mehl mit hohem Nährwertgehalt herstellen

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lässt. Sie ist eine Dauerkultur und benötigt sieben Jahre bis zur ersten Ernte. Canadian Organisation for the Development through Education. Tef ist ein feinkörniges Getreide, das nur in Äthiopien verbreitet ist und als wichtigstes Anbauprodukt in Nordäthiopien gilt. Die Peasant Association ist eine politische Bauernvertretung, die auf Kebelle-Ebene beginnt und sich auf allen administrativen Ebenen fortsetzt. Beispiele hierfür sind Metritina (Oromo amharischer Herkunft), Sepipiras (Oromo mit Keffa-Abstammung), Digo (Oromo aus Wollega). Das Ethnonym, das die Bevölkerung als Eigennamen verwendet, wird im Anschluss übernommen. Shongolo (1994) und Schlee (1994a / b) beschreiben eine GadaVersammlung im August 1988, die alle acht Jahre stattfindet. Die Versammlung ist von ritueller Bedeutung, es werden aber auch Entscheidungen getroffen, die für alle Boran bindend sind. In der Einleitung zu diesem Aufsatz wird die Frage aufgeworfen, wie das traditionelle Gada-System mit einem modernen Oromo-Staat, dem die Gada-Ordnung zu Grunde liegt, vereinbar wäre: »If the emerging Oromia gives itself a constitution based on the gada system […] It might also lead to conflict with the original gada institutions which continue to exist« (Schlee 1994b: 20).

Glossar Afaan Oromo aada Oromoo Afaan Oromo Bedi Digo gada Oromiyaa waqa

Kultur der Oromo, die mit dem Glaubenssystem verbunden ist Sprache der Oromo Oromo mit Yem-Herkunft Oromo aus Wollega, früher herrschende Schicht egalitäres Altersklassensystem, das auch die politische Herrschaft organisiert Land der Oromo Quelle allen Lebens und Schöpfer aller Dinge

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Amharisch chat

narkotisierende Blätter, die im Gebiet um das Rote Meer herum gekaut werden Beerdigungsvereinigung, die auf dem Prinzip gegenseitiger Hilfe aufbaut; die Kosten einer Beerdigung werden durch regelmäßige Beiträge der Mitglieder getragen, die auch an jeder Trauerfeier teilnehmen Sprache der Yem kleinste Verwaltungseinheit; entspricht etwa einem Dorf; die kebelle Peasant Association ist die direkte politische Vertretung von Kleinbauern Oberhalb der Dorfebene (kebelle) die nächstgrößere administrative Einheit

idir

Yemsa kebelle

Woreda

Englisch / Arabisch Peasant Association

Special Woreda umma

staatliche Bauernorganisation, die auf kebelleEbene beginnt und sich auf allen administrativen Ebenen fortsetzt Woreda mit besonderem Status, die Minderheiten eine Interessenvertretung garantieren soll Gemeinschaft der Gläubigen (arabisch)

Abkürzungsverzeichnis CODE EPRDF GTZ IFLO OLF OPDO PA

Canadian Organisation for the Development through Education Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front Gesellschaft für technische Zusammenarbeit Islamic Front for the Liberation of the Oromia Oromia Liberation Front Oromo People’s Democratic Organisation, seit 1990 Teil der EPRDF Peasant Association

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SEPR YPDM

Southern Ethiopia People’s Region Yem People’s Democratic Movement

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Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Petra Dannecker promovierte zum Thema »Between Conformity and Resistance: Women Garment Workers in Bangladesh« an der Universität Bielefeld. Dort ist sie seit 1998 wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Soziologie und arbeitet zu Geschlechterverhältnissen, Feminisierung der Arbeit und Migration in Asien. Youssouf Diallo promovierte von 1987-1993 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. 1993-1999 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1999 ist Youssouf Diallo als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle / Saale tätig. Tilo Grätz hat 1998 über Staat und lokale Machtstrukturen im Norden Benins promoviert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am MaxPlanck-Institut für ethnologische Forschung in Halle / Saale. Zurzeit arbeitet er über »Handwerklichen Goldabbau, Migration und interethnische Beziehungen in Westafrika«. Alexander Horstmann hat mit einer Arbeit über die kulturellen Kämpfe in Südthailands Öffentlichkeit am FSP Entwicklungssoziologie der Universität Bielefeld promoviert. 1998-1999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der dortigen Fakultät für Soziologie. Zurzeit arbeitet er als Postdoc-Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes über »Grenzlandschaft, Ethnizität und kulturelle Globalisierung in Südthailand / Ostmalaysia«.

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Autorinnen und Autoren

Markus Kaiser promovierte 1998 mit einer Arbeit zu »Informal Sector Trade in Contemporary Uzbekistan: Re-opening of the Great Silk Road« an der Universität Bielefeld. Seit 1999 ist er dort Hochschulassistent für Entwicklungsplanung an der Fakultät für Soziologie. Seine Arbeitsgebiete sind Ökonomische Anthropologie und Globalisierung des Wissens. Ruth Klein-Hessling studierte Ethnologie und Islamwissenschaften an der FU Berlin. Sie promoviert zum Thema »Islamische Identitäten und Geschlechterwandel im Nordsudan«. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld. Anja Peleikis hat 1998 am FSP Entwicklungssoziologie an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit über die südlibanesische Migration nach West-Afrika promoviert. Seit 1998 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient, Berlin und arbeitet in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt »Translokale Akteure: Vision und Praxis gesellschaftlichen Wandels im Libanon«. Joanna Pfaff-Czarnecka ist Sozialanthropologin, zurzeit beschäftigt an den Universitäten Bonn und Bielefeld. Zum Thema »Ethnizität in Nepal« hat sie mehrere Studien vorgelegt, v. a. das Buch »Macht und rituelle Reinheit: Das hinduistische Kastenwesen und ethnische Beziehungen im Entwicklungsprozess Nepals« (erschienen 1989 im Rüegger-Verlag, Gruesch). Sie ist gemeinsam mit David Gellner und John Whelpton Herausgeberin von »Nationalism and Ethnicity in a Hindu Kingdom: The Politics of Culture in Contemporary Nepal« (erschienen 1997 bei Harwood, Amsterdam), und, zusammen mit Darini Rajasingham-Senanayake, Ashish Nandy und Edmund T. Gomez, von »Ethnic Futures: The State and Identity Politics in Asia« (erschienen 1999 bei Sage, New Delhi). Wossen Marion Popp ist Diplomsoziologin aus Bielefeld und ist derzeit im Promotionsstudium an der Freien Universität Berlin.

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Autorinnen und Autoren

Fragen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Entwicklung bilden Kristallisationspunkte des wissenschaftlichen Interesses von Urs Peter Ruf. Seine Promotion zur Frage der Sklaverei in Mauretanien richtet den Blick auf Strukturen und Dimensionen der Abhängigkeit in einer nur vordergründig befremdlichen Welt. Derzeit ist der Autor als Consultant für Internet-Technologie tätig. Monika Salzbrunn beendet ihre deutsch-französische Dissertation über transnationale soziale Räume senegalesischer muslimischer Migrantinnen in Frankreich und Deutschland. Sie ist Mitglied der CNRS-Forschungsgruppe 122 über »Peripheren Islam« und lehrt an der Universität Paris X Nanterre »Interkulturelle Kommunikation und Deutsche Geschichte der Neuzeit«. Günther Schlee, Prof. Dr., ist Direktor am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle / Saale. Von 1986 bis 1999 war er Inhaber der Professur für »Sozialanthropologie« an der Universität Bielefeld. Er studierte in Hamburg Völkerkunde, Romanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft. Promoviert wurde er über das Glaubensund Sozialsystem der Rendille, einer Ethnie in Nordkenia. Die Habilitation erfolgte in Bayreuth. Die Arbeit wurde unter dem Titel »Identities on the Move: Clanship and Pastoralism in Northern Kenia« publiziert. Neben ausgedehnten Forschungsaufenthalten in Kenia und im Sudan hat er in Äthiopien geforscht und war Gastdozent in Pandag (Sumatra) sowie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Kennzeichnend für die Forschung von Günther Schlee ist das ›interethnische‹ Vorgehen sowie die Verbindung von historischen, soziologischen und philologischen Methoden. Karin Werner untersuchte im Rahmen ihrer 1995 abgeschlossenen Dissertation »Between Westernization and the Veil. Contemporary Lifestyles of Women in Cairo« die Konstitution eines Raumes aufeinander bezogener weiblicher Lebensstile in Ägypten. Zurzeit schreibt sie an ihrer Habilitationsschrift zum Thema »Kybernetische Kultur und Techno-Lebensstile«.

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Transstaatliche Räume Transstaatliche Räume sind verdichtete und relativ stabile ökonomische, politische, soziale und kulturelle Beziehungen zwischen Personen, Netzwerken und Organisationen, die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten. Am Beispiel der Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei beantworten die Beiträge folgende Fragen: Welche Formen grenzüberschreitender Tätigkeiten Thomas Faist (Hg.) Transstaatliche Räume Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei

können wir bei Unternehmern,

August 2000, 432 Seiten, kart., 48 DM ISBN 3-933127-54-8

und politischen Organisationen

sozialen Bewegungen, Familien, religiösen Gemeinschaften beobachten? Welche Konsequenzen haben dichte transstaatliche Netze für die Integration von ImmigrantInnen in Deutschland und in der Türkei, für die Zivilgesellschaften und die beteiligten Staaten?

Das Buch ›Transstaatliche Räume‹ wirft einen erhellenden Blick auf das Gesamtbild der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Es ist ein großartiges Kompendium, das eine Vielzahl von wichtigen und interessanten Informationen über Gesellschaft und Politik in diesen beiden Ländern liefert. Cem Özdemir, Mitglied des Deutschen Bundestages

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