Institution und Utopie: Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne [1. Aufl.] 9783839407820

Die Berliner Volksbühne übernahm inmitten des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses die institutionelle Federführung d

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Institution und Utopie: Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne [1. Aufl.]
 9783839407820

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Einleitung
1. Kulturproduktion als Vergesellschaftungsprozess
1.1 Zur Sozialfigur des Kulturproduzenten
1.1.1 Frühe soziologische Perspektiven: Die relative Autonomie
1.1.2 Ethnographie der Methode: Pierre Bourdieu
1.1.3 Classe normative und Vorbild Bohème
1.2 Praxeologische Wechselwirkungen
1.2.1 Prinzip und Praxis: Anomie
1.2.2 Utopie und Institution
1.2.3 Von der Wissenschaft zur Wirklichkeit
2. Der staatssozialistische Kulturrahmen: Offizielle und inoffizielle Wirklichkeiten
2.1 Das Projekt der sozialistischen Moderne als Avantgarde
2.1.1 Die russische Kunstlinke
2.1.2 Sozialistischer Realismus als coincidentia oppositorum: Georg Lukács
2.1.3 Veralltäglichung des Posthistoire
2.2 Konsensdiktatur DDR: Gestaltungswille und Gestaltungszwang
2.2.1 Das Feld der Kunstproduktion in der DDR
2.2.2 Anomie und Utopie im Spätsozialismus
3. Merkmale der Theaterfelder in Ost- und Westberlin
3.1 Kritik und Affirmation
3.1.1 „Fürstenerziehung“? Das Ostberliner Theaterfeld
3.1.2 Der Westen damals und heute: Nomos und Polyvalenz
3.1.3 Simul et Singulis: Produktionspraxis
3.1.4 Das Theater als Bedürfnissystem
4. Die Volksbühne als stabilisierte Leitidee
4.1 Auftrag zur performativen Differenzproduktion
4.2 Struktur und Praxis: die Akteure
4.2.1 Abweichende Linienführung: Frank Castorf
4.2.2 Autonome Raumkontrolle: Bert Neumann
4.2.3 Scheitern als Chance: Christoph Schlingensief
4.2.4 Homologien als Stabilisierungsfaktoren
4.2.5 Exkurs: René Pollesch
4.3 Instituierung und Institution
4.4 Symbolische Wirklichkeitsorganisation
4.4.1 „Nordamerikanischer Zynismus“
4.4.2 Relative Autonomie
4.4.3 Ästhetischer Empirismus
4.4.4 Modellfall freie Arbeit
4.5 Stabilisierte Spannung
5. Schluss: Institution und Utopie
Post scriptum: Risiken, Nebenwirkungen und ein Missverständnis
Literatur- und Quellenverzeichnis

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Tanja Bogusz Institution und Utopie

Tanja Bogusz (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Wissenssoziologie und Praxistheorie.

Tanja Bogusz

Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne

Die Drucklegung dieser Arbeit wurde durch Mittel der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt. D188

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I N H AL T

Vorwort................................................................................................... 7 Einleitung................................................................................................ 9 1. Kulturproduktion als Vergesellschaftungsprozess..................... 17 1.1 Zur Sozialfigur des Kulturproduzenten .............................................18 1.1.1 Frühe soziologische Perspektiven: Die relative Autonomie ...................................................... 18 1.1.2 Ethnographie der Methode: Pierre Bourdieu...................... 26 1.1.3 Classe normative und Vorbild Bohème ............................. 34 1.2 Praxeologische Wechselwirkungen ............................................... 46 1.2.1 Prinzip und Praxis: Anomie................................................ 47 1.2.2 Utopie und Institution......................................................... 54 1.2.3 Von der Wissenschaft zur Wirklichkeit ............................. 63 2. Der staatssozialistische Kulturrahmen: Offizielle und inoffizielle Wirklichkeiten..................................... 67 2.1 Das Projekt der sozialistischen Moderne als Avantgarde ...............71 2.1.1 Die russische Kunstlinke .................................................... 74 2.1.2 Sozialistischer Realismus als coincidentia oppositorum: Georg Lukács...................................................................... 83 2.1.3 Veralltäglichung des Posthistoire ....................................... 93 2.2 Konsensdiktatur DDR: Gestaltungswille und Gestaltungszwang .............................................................................. 105 2.2.1 Das Feld der Kunstproduktion in der DDR...................... 105 2.2.2 Anomie und Utopie im Spätsozialismus .......................... 116

3. Merkmale der Theaterfelder in Ost- und Westberlin.............. 121 3.1 Kritik und Affirmation ...................................................................... 121 3.1.1 „Fürstenerziehung“? Das Ostberliner Theaterfeld .......... 124 3.1.2 Der Westen damals und heute: Nomos und Polyvalenz .................................................... 138 3.1.3 Simul et Singulis: Produktionspraxis ............................... 149 3.1.4 Das Theater als Bedürfnissystem .................................... 153 4. Die Volksbühne als stabilisierte Leitidee................................... 161 4.1 Auftrag zur performativen Differenzproduktion ......................... 161 4.2 Struktur und Praxis: die Akteure.................................................. 172 4.2.1 Abweichende Linienführung: Frank Castorf ................... 172 4.2.2 Autonome Raumkontrolle: Bert Neumann ...................... 191 4.2.3 Scheitern als Chance: Christoph Schlingensief ............... 206 4.2.4 Homologien als Stabilisierungsfaktoren .......................... 217 4.2.5 Exkurs: René Pollesch ..................................................... 223 4.3 Instituierung und Institution......................................................... 231 4.4 Symbolische Wirklichkeitsorganisation ...................................... 238 4.4.1 „Nordamerikanischer Zynismus“ ..................................... 238 4.4.2 Relative Autonomie ......................................................... 247 4.4.3 Ästhetischer Empirismus ................................................. 250 4.4.4 Modellfall freie Arbeit ..................................................... 267 4.5 Stabilisierte Spannung ................................................................. 273 5. Schluss: Institution und Utopie .................................................. 281 Post scriptum: Risiken, Nebenwirkungen und ein Missverständnis.................................................................... 297 Literatur- und Quellenverzeichnis....................................................... 319

VORWORT

Als ich zu meiner letzten Recherche in die Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz kam und mit der Chefin des Archivs, Barbara Schultz, über die Hinterbühne hinauf zu ihrem Arbeitsplatz unter das Dach stieg, waren überall Baugerüste zu sehen und Baulärm zu hören. „Ja, das wird alles neu gemacht,“ stellte Frau Schultz fest, während wir an Requisiten, Technikern und Bühnenarbeitern vorbeiliefen. Sie seufzte: „Aber es muss gemacht werden, so ging es ja nicht weiter!“ Die Einsicht in die Notwendigkeit, dass das marode Gebäude einer dringenden Sanierung bedarf, ist ähnlich zwiegespalten wie der Blick in die Straßen Ostberlins: Dank eines aufwändigen Bauprogrammes kamen sie nach der deutsch-deutschen Vereinigung zwar zu neuem Glanz, verloren jedoch damit auch einen nicht unerheblichen Teil ihres ursprünglichen Charmes, der gleichwohl nur um den Preis einer Tristesse zu haben war, dem sich die Ostberliner nach 1989 endgültig entledigt sehen wollten. Nur noch wenig unterscheidet diese Quartiere von ihren Westberliner Gegenstücken. Auch die inzwischen weltberühmte Volksbühne, die diesen Entwicklungen ein trotziges „Ost“ auf ihrem Dach entgegenhält, ist vom Zahn der Zeit betroffen. Dies scheint in der Phase der „stabilisierten Spannung“, in der sie sich heute befindet, durchaus konsequent. Und es ist wohl auch eine Konsequenz dieser Phase, dass sich nun, fünfzehn Jahre nach der Intendanzübernahme durch Frank Castorf und seiner „Truppe Ost“ – die sich schon bald nicht mehr auf den Osten beschränkte, doch ebenso trotzig an dem Label festhielt – eine soziologische Studie zutraut, die hier verstetigten gesellschaftlichen Mobilisierungsressourcen zu erforschen, die zu dem Erfolg dieses Theaters geführt haben. Ihnen ist die vorliegende Studie gewidmet. In ihr wird die

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INSTITUTION UND UTOPIE

Volksbühne nicht theaterwissenschaftlich untersucht, sondern sie ist Mittel zum Zweck soziologischer Erkenntnis. Diese Arbeit wäre ohne die freundliche Unterstützung verschiedener Personen und Organisationen nicht möglich gewesen. Mein erster Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies. Ohne seine aufmerksame, freundliche und unermüdliche Kritik wäre ich nicht in der Lage gewesen, das Projekt in dieser Form durchzuführen. Trotz mancher Schwierigkeiten gab er mir stets das Gefühl von Zuversicht und Vertrauen, das mir die Kraft gab, gerade diese als Herausforderung und Ermutigung zu begreifen und niemals an meiner Arbeit zu zweifeln. Diese Erfahrung hat mich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch persönlich unendlich bereichert. Meiner zweiten Betreuerin Prof. Dr. Erika FischerLichte danke ich für die intensive Betreuung. Ich war in dieser ganzen Zeit sehr froh, ihre freundliche Kritik gegenüber der Soziologin, die keine Theaterexpertin ist, an meiner Seite zu wissen. Prof. Dr. KarlSiegbert Rehberg danke ich für seine Offenheit und Unterstützung, die mich in meinem Vorhaben bestärkten und mir Einsichten brachten, die über das hier Niedergelegte weit hinaus gehen. Für seine freundliche Unterstützung und Kritik bedanke ich mich herzlich bei Friedrich Dieckmann. Mein ganz besonderer Dank gilt Jelka Plate, Max Disbeaux und Guido Bröckling. Schließlich danke ich der Hans-Böckler-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums. Meinem dortigen Betreuer Dr. Eike Hebecker danke ich für die Unterstützung verschiedener Forschungsaufenthalte und Vortragsmöglichkeiten im In- und Ausland, die sehr anregend und wichtig für mich waren.

Jena, im August 2007

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EINLEITUNG

„Die gewordenen Wirklichkeiten der Vergangenheit entziehen weitestgehend dem Kampfe der bloßen Meinungen die Beurteilung dessen, was von den früheren seinstranszendenten Vorstellungen als wirklichkeitssprengende relative Utopie und was als wirklichkeitsverdeckende Ideologie zu gelten hat.“ Karl Mannheim

Das Ende des deutschen Staatssozialismus liegt 17 Jahre zurück. Vieles wurde in diesen Jahren über seine Geschichte, Kultur und Gesellschaft geschrieben; zahlreiche soziologische und kulturwissenschaftliche Forschungen sind seither initiiert worden und dauern noch an. Während sich die meisten Soziologen in der Hauptsache aus der Perspektive einer in Westdeutschland etablierten Gesellschaftswissenschaft mit der DDR auseinandersetzten und entsprechend den Fokus auf die aus ihrer Sicht zwanghaften und anomischen Aspekte des Staatssozialismus legten, suchten die Kulturwissenschaftler, die sich auch personell stärker nach ost- und westdeutscher Herkunft durchmischen, ihrem Fach gemäß die phänomenologisch fassbaren Phänomene der Hoch- und Alltagskultur sowie deren Spezifika zu beleuchten. Problematisch blieb dabei zweierlei: Befassten sich die Kulturwissenschaftler maßgeblich mit ausgesuchten Gebieten, ohne daraus zwangsläufig zeitdiagnostische Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, so blieben viele Soziologen zwar ihrem Verallgemeinerungsinteresse treu, doch trieben diesen so weit, dass der Blick fürs Detail und der Anspruch einer politischen Wertneutralität, den 9

INSTITUTION UND UTOPIE

Max Weber einst in einer ähnlich intensiven Umbruchsituation eingefordert hatte1, häufig auf der Strecke blieben. Immer noch wird hier gerne mit dem in der politischen Wirklichkeit längst rostig gewordenem Rüstzeug des Kalten Krieges argumentiert, indem dem bislang einmaligen Versuch, die Idee des Kommunismus zu verwirklichen, mit der ebenfalls ideologisch stumpf gewordenen Waffe des kapitalistischen Gleichheitsversprechens begegnet wird. Die Gleichsetzung von Ideologie und Utopie, vor der Karl Mannheim 1929 gewarnt hatte, erfuhr in der nachsozialistischen Ära eine erstaunlich unbehelligte Renaissance in den Gesellschaftswissenschaften und blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend diskursdominant. Dies kennzeichnet eine Entwicklung, die für eine westdeutsche Soziologie, die sich nicht auf die Fahnen schreiben kann, den Fall der Mauer vorausgesehen, geschweige denn Konzepte für die Transformation Ostdeutschlands in der Tasche gehabt zu haben, nicht nur wenig rühmlich ist, sondern epistemische und politische Konsequenzen zeitigt, die uns noch lange beschäftigen werden. Eine Ahnung dessen scheint in der gegenwärtigen Diskussion um den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zur Weltmacht auf. Wang Hui, Soziologe und Professor an der Tsinghua-Universität in Peking beantwortet die Frage, was der Westen von China lernen könne, damit, dass dort viele Menschen verschiedenster Ethnien und Glaubensformen seit Jahrhunderten friedlich zusammen lebten. Er bezeichnet dies als große Leistung und wertvolle kulturelle Erfahrung, die China Europa in der durée voraushabe. Auf den Westen bezogen, ergänzt er: „Es fehlt die Geduld, sich mit China zu beschäftigen.“2 Seine Interviewpartnerin, die ModeDesignerin Feng Li stellt auf die empörte Behauptung der abendländischen Journalisten, dass sich die heutigen Chinesen nur noch für das Geldverdienen interessieren würden, fest: „Ihr Ausländer habt eine zu dogmatische Vorstellung von China. Früher war es für euch kommunistisch, heute kapitalistisch. Die Nuancen seht ihr nicht.“3 Problemstellung Es gehört zu den Hauptaufgaben der Gesellschaftswissenschaften, jene Nuancen zu erkennen, herauszuarbeiten und sinnhaft zu deuten – dabei mag das Versagen der Soziologie in der Vergangenheit als Warnung da1 2

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Vgl. Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“. In: Von Mao bleibt nichts als die Mode. Lassen sich Kapitalismus und Kommunismus versöhnen? Ein Gespräch mit dem Soziologen Wang Hui und der Designerin Feng Li über das große chinesische Experiment. Christof Siemens und Georg Blume, Die Zeit Nr. 30, 19.7.2007. Dossier „Peking“. Ebd.

EINLEITUNG

vor dienen, die innere Komplexität eines wirtschaftlich und kulturell weltweit bedeutenden Akteurs wie den chinesischen Staatssozialismus zu ignorieren, oder, noch schlimmer, in ihm bloß die vermeintliche Gefahren der globalen Wirtschaftsmacht zu wittern. Das mag dem Niveau mancher Printmedien entsprechen; der Soziologie jedoch steht dies schlecht zu Gesicht. Vereinseitigte soziologische Theorien und Empirien, die sich der historiographischen Gesellschaftsdiagnose verschließen, weil sie fürchten, bloß des Gegenstandes wegen zu den politischen Dinosauriern des Faches zu zählen, lassen wenig Hoffnung für eine Überführung der klassischen soziologischen Erkenntnisse in das, was heute als Postmoderne oder auch als ‚zweite Moderne‘ bezeichnet wird. Man könnte die Lage nach 1989 auch als post-utopisch bezeichnen und käme damit dem ostdeutschen Erfahrungsvorsprung, den Friedrich Dieckmann in seinen zahlreichen Schriften über das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen so kenntnisreich beschrieben hatte, wesentlich näher. Die Utopie lässt sich auf Dauer nicht institutionalisieren, sie wird zur Ideologie – dieser Schluss wurde von vielen gezogen, die im Ende des bipolaren Systemkonfliktes zugleich auch die Bestätigung für die sozialstaatlich gebändigte Marktwirtschaft fanden – ohne zu erkennen, dass der Grad der Bändigung auch durch kulturelle Legitimationszwänge bedingt war, die durch die politische Gegensatzspannung zwischen Ost und West hervorgetrieben worden waren. Die Wende brachte in rasender Geschwindigkeit die Umstrukturierung einer über vierzig Jahre lang vom Staatssozialismus geprägten Gesellschaft in Gang. Viel war in dieser Zeit von Bruch die Rede, weniger hingegen von den Kontinuitäten, die sich als verinnerlichte Erfahrungen mit der staatssozialistischen Kultur viel dauerhafter in die Biographien der Ostdeutschen eingeschrieben haben sollten, als manche Abwicklungseuphoriker wahrhaben wollten. Wenig sprach man über die Potentiale, die in der wechselseitigen Bereicherung des nunmehr gesamtdeutschen Erfahrungsspeichers lagen – dies betraf im Übrigen sämtliche gesellschaftliche Lager, in denen über das ‚deutsch-deutsche Problem‘ gestritten wurde. In einem Bereich jedoch, wo die Vereinigung als kultureller Transformationsprozess en miniature vollzogen wurde, ist es gelungen, diesen komplexen Erfahrungsspeicher, in dem Reibungen nicht ausbleiben konnten, in eine Institution zu verwandeln – das war das Berliner Kulturhaus am Rosa-Luxemburg-Platz, die Volksbühne. Die Volksbühne stellte im Berlin der Nach-Wende-Zeit eine herausragende Ausnahme von der Regel dar, nach der die DDR in struktureller, ökonomischer und kultureller Hinsicht fast über Nacht und beinahe vollständig verschwand. Bei aller Aktualität und Leibhaftigkeit bietet 11

INSTITUTION UND UTOPIE

sich in ihr auch ein altes und wohl nie versiegendes soziologisches Sujet: Ausnahmen gewinnen erst auf der Folie einer sich an ihnen als sinnhaft erkennbaren ‚Normalität‘ oder eines sensus communis an Kontur. Ausnahmen, noch dazu solche, die derart breit rezipiert werden wie die Volksbühne, sind wichtige soziologische Gradmesser für das, was am schwersten zu rekonstruieren ist: das Alltägliche. Es ist der Vorbildcharakter des Außeralltäglichen, der, wie Erving Goffmann festgestellt hatte, dem Ort des Symbolischen und Fiktionalen eine kaum zu unterschätzende Bedeutung für die soziologische Erkenntnis zuweist.4 An der Volksbühne konzentrieren sich wie in einem Brennglas symbolische, strukturelle und zeitgeschichtliche Paradigmen. Sie übernahm inmitten des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses mit der Intendanzübernahme durch Frank Castorf 1992 die institutionelle Federführung des gesamtdeutschen hauptstädtischen Kulturlebens. Ihr Einfluss ging vom Theaterfeld aus, doch er zielte von Beginn an auf den gesamten Berliner Kulturraum. Der Erfolg und die Bedeutung dieses Theaters macht eine soziologische Studie dieses Phänomens, über das inzwischen zahlreiche publizistische und theaterwissenschaftliche Arbeiten vorliegen, längst überfällig. Es stellt sich nunmehr die Frage: Warum konnte dieses Ostberliner Theater, dessen ostdeutsche Leitung sich unübersehbar auf seine realsozialistische Herkunft bezog, eine derartige Anziehungskraft auf einen Kulturraum ausüben, in dem das Ende der DDR zum konstitutiven Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeitsorganisation erhoben wurde? Ziel dieser Auseinandersetzung ist also nicht nur eine soziologische Verortung des Phänomens Volksbühne, sondern auch und vor allem, einen Beitrag zu einer vergleichenden Strukturanalyse der soziokulturellen Grundlagenforschung in Ost- und Westdeutschland zu leisten. Die hier vorgestellte empirische, komparatistische und genealogische Untersuchung dieser Grundlagen, die als symbolische Bestände in das postsozialistische Theaterhaus einflossen, ermöglicht eine spezifische Perspektivierung der beiden politischen Systeme und insbesondere der kulturellen und symbolischen Grundierungen, die sie beinhalteten. In diesem Zusammenhang erhält der Begriff der Kulturproduktion seinen soziologischen Sinn: als eine spezifische Praxis, deren Bedingtheit gerade auf ihren Verallgemeinerungscharakter verweist. Das Gebiet der Soziologie beschreibt damit die Aufgabe, das ontologische Alleinstellungsmerkmal der Kulturproduktion mit den Wechselwirkungen gesellschaftlich bedingten Gestaltungswillens und Gestaltungszwanges zu verbinden und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen hervorzuheben.

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Vgl.: Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, S. 604.

EINLEITUNG

Vorgehen Am Theater, dieser wohl institutionalisiertesten Form der Kunstproduktion, hat es der Soziologe mit einem Ort sozio-symbolischer Praxis zu tun. Es stellt den institutionellen Rahmen für eine symbolische Wirklichkeitsorganisation zur Verfügung, deren Ursprünge gleichwohl disloziert sind. Ich habe daher Feldforschung, Zeitgeschichte und Theoriebildung miteinander verbunden. Die Feldforschung setzte sich aus Experteninterviews, Archivarbeit sowie der teilnehmenden und der nichtteilnehmenden Beobachtung zusammen. Die teilnehmende Beobachtung wurde in Berlin an der Volksbühne (2003-2005 als Komparsin in Christoph Schlingensiefs Aufführungs-Performance „Atta-Atta – die Kunst ist ausgebrochen“ sowie 2004/2005 als Hospitantin in der Produktion „Der Marterpfahl“ unter der Regie von Frank Castorf und Meg Stuart), am Hebbel-am-Ufer-Theater, kurz HAU (2004 als Vortragsassistentin bei der von Hannah Hurtzig organisierten „Mobilen Akademie“, die unter dem Motto „Fakelore: Erfindungen und Konstruktionen urbaner Folklore“ stattfand) und an den Sophiensaelen (2005 als Ausstattungsassistentin bei Jelka Plate für die Produktion „Wir später“ unter der Regie von Leonie von Watzdorf) durchgeführt. Die empirischen Studien ermöglichten eine praxisnahe und historiographische Sichtung kreativer Handlungsoptionen, die aus der inneren Dynamik einer bedeutenden künstlerischen Institution und ihrer Wechselwirkung mit den kulturellen Vergesellschaftungsprozessen der deutsch-deutschen Vereinigung entstanden waren. Dem Vorteil der vorbildhaften Verdichtung, den der Gegenstand Volksbühne bot, stand der soziologische Anspruch der Verallgemeinerung gegenüber. Diesem Widerspruch, der sich auf die Relationierung von Praxis und Theorie zuspitzen lässt, wurde durch ein gezielt eklektisches Theorie-Sampling begegnet. Der hier niedergelegte Reflexionsweg setzte sich dabei zum Ziel, eine beständige wechselseitige Überprüfung der beobachteten Praxis durch die Theorien und der Theorien durch die beobachtete Praxis einzuhalten. Aufbau Die Studie führt mit theoretischen Grundlegungen über frühe soziologische Positionen zur Kulturproduktion und zur Bedeutung von Abweichung (Anomie), Utopie und Institution ein. Die soziologischen Klassiker werden mit Durkheim und Simmel anhand ihrer wirklichkeitskonstituierenden Elemente aktualisiert und mit ihren zeitgenössischen Antipoden Henri Bergson und Georg Lukács konfrontiert. Der Begriff der Anomie wird hinsichtlich seiner passiven und agonalen Konnotation, die sich zwischenzeitlich in der Transformationsforschung durchgesetzt hat, hinterfragt und der kreative und utopische Aspekt seiner Entstehungsge13

INSTITUTION UND UTOPIE

schichte betont. Dabei wird auf die Entwicklungsgeschichte des Feldes der Kulturproduktion eingegangen und die französische Bohème des 19. Jahrhunderts in ihrer Vorbildfunktion für alle späteren künstlerischen Bewegungen beschrieben. Gefragt wird, auf welche Weise sich abweichendes Verhalten im Feld der Kulturproduktion institutionalisieren konnte und utopistisch gewendet wurde. Es ist jene Deutungsverschiebung, die paradigmatisch auf das künstlerische Selbstverständnis verweist, mit dem die Volksbühne sich im Berliner Theaterfeld erfolgreich durchgesetzt hat. Methodologische Ausgangsbasis für die Beweisführung ist die Praxistheorie Bourdieus und dessen Versuch, Gesellschaftsstruktur und Möglichkeitsräume symbolischer Grenzüberschreitungen durch einen, wie er es nannte, „konstruktivistischen Strukturalismus“ systematisch zu vereinen. Vermieden wird die in der deutschen Soziologie beliebte Exegese seines Werkes zugunsten dessen Anwendung auf den Gegenstand aus der Perspektive der ethnologisch grundierten Feldtheorie seiner frühen Untersuchungen. Die Verbindung eines dynamischen Feldbegriffes mit den Institutionentheorien Arnold Gehlens, Helmut Schelskys und Cornelius Castoriadis’ soll die Verknüpfung von Feld- und Institutionentheorien mit aktuellen Performativitätsforschungen in den Theaterwissenschaften ermöglichen. Der Ungeduld, die angesichts der beschleunigten Abwicklung des deutschen Staatssozialismus darin bestätigt wird, sich nicht mit der ‚Konsensdiktatur‘ (Karl-Siegbert Rehberg), sondern mit den Folgen seiner Umwandlung auseinandersetzen zu müssen, wird mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den inneren Widersprüchen des staatssozialistischen Kulturrahmens begegnet. In ihrer Langzeitwirkung hinsichtlich der Ausbildung eines künstlerischen Professionsethos wird die Vorbildfunktion der französischen Bohème mit dem revolutionären Avantgarde-Anspruch verglichen und dessen Gegensatzspannung zum Kapitalismus profiliert. Auch hier geht es um Spurensuche: der antiaufklärerischen Suche der ‚sozialistischen Bohème‘, die in den trägen Jahren des staatssozialistischen Posthistoire in dem grenzenlosen Fortschrittsoptimismus nach 1917 Quellen ihres abweichenden Schaffens suchte, um aus ihnen eine Komplexitätssteigerung zu gewinnen, deren Takt später den weltweiten Bekanntheitsgrad der Volksbühne mitbestimmen sollte. Auf dieser Basis wird die Grundlage geschaffen, die beiden deutschen Felder der Kunstproduktion in ihrer jeweiligen kontextuellen Logik zu erfassen und in einem vergleichenden Schema zu visualisieren. Der Erfolg der Volksbühne, so die These der Studie, beruht auf der gelungenen institutionellen Verknüpfung von Abweichungsprinzipien, die innerhalb der beiden deutschen Kulturen je utopistisch motiviert waren. Dieses für die Kulturproduktion so grundlegenden Antriebsmoment 14

EINLEITUNG

schuf am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz einen öffentlichen Bedeutungsraum, der sich seines zeitgeschichtlichen Kontextes – dem Ende der staatssozialistischen Utopie – bewusst war. Das ist ein Glücksfall für eine Soziologie, die Kultur als Grundlage des Gesellschaftlichen betrachtet und die sich auf dieser Basis mit der kulturellen Gegensatzspannung zwischen Staatssozialismus und Kapitalismus befasst. In beiden Staatsformen enthielt der Begriff der Utopie je systemimmanente Zuschreibungen und die sie herbeisehnenden Praxisformen unterlagen im Feld der Kulturproduktion je sehr verschiedenen Bedingungen. Die entsprechenden Ausprägungen werden daraufhin befragt, wie sie sich als soziale und symbolische Handlungsorientierungen in den beiden Berliner Theaterfeldern herausgebildet haben, durch deren Vereinigung spezifische Reibungspunkte wie auch Wahlverwandtschaften offenkundig wurden. Zeitgeschichtliche, theaterwissenschaftliche und biographische Daten werden genutzt, um die Vorbedingungen des Institutionalisierungsprozesses zu markieren, der in der Volksbühne stattgefunden hat. Die wechselseitige und paradigmatische Dynamisierung dieser Bedingungen wird anschließend mit den ästhetischen und gesellschaftspolitischen Stellungnahmen der zentralen Volksbühnen-Produzenten zusammengeführt. Den Schluss der Studie bildet eine zusammenfassende Stellungnahme zur heuristischen Aktualität eines dynamischen Feld- und Institutionenbegriffes für die soziologische Analyse. Sie wird anhand des spezifischen Transformationsprozesses, der sich an der Volksbühne zwischen abweichenden ost- und westdeutschen Kulturen vollzogen hatte, mit der kulturbedingten Wechselbeziehung zwischen Institution und Utopie begründet. Die fachlich heterogene theoretische Auswahl betont das Bestreben, einen dem Gegenstand und Anspruch gemäßen ebenso sachlichen wie lesefreundlichen Untersuchungsstil zu pflegen und verschiedene Aspekte themenadäquat zu behandeln. In dem solchermaßen umgesetzten Versuch, den eingangs formulierten Appell zur Geduld für die Nuancen aufzugreifen, wünsche ich den geduldigen Lesern der folgenden Seiten eine anregende Lektüre.

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1. K U L T U R P R O D U K T I O N AL S V E R G E S E L L S C H AF T U N G S P R O Z E S S

Zu Beginn meiner Studie über die Berliner Volksbühne sollen die theoretischen und historischen Ausgangsbedingungen, die das soziale und ästhetische Profil dieses Theaters kennzeichnen, einer einführenden Betrachtung unterzogen werden. Dazu gehört zunächst eine Auseinandersetzung mit der Sozialfigur des Kulturproduzenten. Sie wird angesichts der eingangs aufgeworfenen Fragestellung notwendigerweise eher pointierenden als erschöpfenden Charakter haben. Es soll gezeigt werden, welches spezifische Professionsethos die Kunstproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft von anderen Produktionsweisen unterscheidet. Die klassischen Sozialtheorien um und nach 1900 waren sich in diesem Punkt alles andere als einig, doch sie legten die Spur für eine erste Systematisierung des Marxschen Prinzips der relativen Autonomie des gesellschaftlichen Individuums, das für das Feld der Kunstproduktion eine so entscheidende Rolle spielt. Spezifische historische und gesellschaftliche Deutungsmuster haben insbesondere in Frankreich im Laufe des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass die Welt der Kunst zu einem selbstreferentiellen sozialen Raum wurde, dessen Merkmale auch heute noch als Rahmenbedingungen künstlerischer Selbstsicht und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung geltend gemacht werden können. Das Primat der Abweichung und die Formulierung von transzendenten Utopien nahmen dabei – wenn auch häufig eher implizit als explizit – die Funktion zentraler Handlungsorientierungen ein. Ihr struktureller und zugleich paradoxer Kern wurde von Pierre Bourdieu als institutionnalisation de l’anomie bezeichnet –

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INSTITUTION UND UTOPIE

eine Formel, die eine Brücke zu dem herzustellen verspricht, was an der Berliner Volksbühne seit den 1990er Jahren zu beobachten ist. Eine wichtige Konstituente der paradoxen Formel Bourdieus erlebte in den 1990er Jahren eine überraschende Renaissance in der deutschen Soziologie – die ‚Anomie‘. Die Wiederbelebung dieses Begriffes, der sich auf die Folgen des ostdeutschen Transformationsprozesses zur Marktwirtschaft bezieht, konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dort eher die Funktion eines termini umbrellone einnahm. Die Spurensuche hinsichtlich der Frage, inwieweit gesellschaftlich bedingte Abweichung von politischen und kulturellen Ordnungssystemen regressive, kreative oder gar utopische Kräfte freisetzt, führt daher zunächst in die Phase der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Im Frankreich des mal du siècle ist nicht nur der epochale Hintergrund für die Verselbständigung des künstlerischen Feldes zu finden, sondern hier wird auch die ‚Anomie‘ zum Thema philosophischer und früher soziologischer Debatten. Eine methodologische Systematisierung der Zusammenhänge zwischen den für das Feld der Kulturproduktion konstitutiven Paradigmen Anomie, Utopie und Institution erscheint naheliegend. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Erfolg der Volksbühne, so die hier verfolgte Annahme, durch eine Performativität gekennzeichnet ist, die die gesellschaftliche Umbruchsituation nach dem Mauerfall in eine utopistische ästhetische Praxis zu transformieren verstand. Die Ursprünge einer solchermaßen auf der Eigengeltung einer spezifischen künstlerischen Sozialfigur bestehenden Praxis, deren innere Komplexität von Georg Simmel treffend als „Sublimierung der Variabilität“1 bezeichnet wurde, sind in der frühen Moderne zu finden.

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Zur Sozialfigur des Kulturproduzenten

1.1.1 Frühe soziologische Perspektiven: Die relative Autonomie Mit der Verselbständigung der Felder der Kunstproduktion, die sich in den westeuropäischen Industrienationen des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, wurde auch die Frage aktuell, was die künstlerische Produktionsweise eigentlich von den sonstigen Berufen unterscheidet. Die Kulturphilosophen und Soziologen Georg Simmel, Ernst Cassirer, Émile

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Vgl. Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, S. 116.

KULTURPRODUKTION ALS VERGESELLSCHAFTUNGSPROZESS

Durkheim, Karl Mannheim, Georg Lukács und Max Weber gaben entscheidende Impulse zur Beantwortung dieser Frage. Auch wenn ihre Haltungen zum Marxismus kaum unterschiedlicher hätten sein können – von fast vollständiger Ignoranz bei Durkheim bis zu offener Parteinahme bei Lukács –, aktualisierten sie alle auf ihre Weise ein zentrales Paradigma der Geschichtsauffassung des historischen Materialismus – die relative Autonomie des gesellschaftlichen Individuums und sozialer Formationen. Das Paradigma der relativen Autonomie sollte nahezu sämtliche große Sozialtheorien und insbesondere die Kultursoziologie des 20. Jahrhunderts tiefgreifend prägen. Die paradoxe und zugleich überzeugende Hintergrundannahme, auf der die relative Autonomie basiert, hatte Karl Marx 1852 in seiner Schrift „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ auf den Punkt gebracht: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“2 Der frühe Marx hatte Kunstproduktion zunächst als anthropologisches und evolutives Merkmal, als Konstituens von menschlicher Produktion aufgefasst: „Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.“3 In seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten sah Marx die produktive Tätigkeit als Basis allen menschlichen Handelns und fügte ihr die „Gesetze der Schönheit“ als von ihm nicht näher definierte Orientierungsordnung hinzu. Doch nicht nur vom Standpunkt der Arbeit wurde der Kunstproduktion um 1900 als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier ein herausragender Stellenwert für die Erschließung des menschlichen Handelns zuerkannt. Für Ernst Cassirer waren Kunst und Sprache (neben Mythos und Religion) die beiden herausragenden Schöpfungen der menschlichen Existenz, die er als Schlüssel zu einer ontologisch motivierten Daseinsgeltung des Menschen erhob – zu seiner Symboltätigkeit. Das animal symbolicum, als das Cassirer den Menschen vom animal rationale abhob, zeichnete sich aus seiner Sicht durch das immerwährende Bedürfnis des Menschen aus, sich die Welt anzueignen, indem er sie sich zur Anschauung bringt. Cassirer begriff die Kunstproduktion als symbolische Tätigkeit, bei der die Wahrnehmung der äußeren Welt in ein in 2 3

Marx, Karl: „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, S. 115. Marx, Karl: „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“., S. 517. Zur Diskussion um den anthropologischen Marx vgl. Lepenies, Wolf: Soziologische Anthropologie, S. 22ff. 19

INSTITUTION UND UTOPIE

sich geschlossenes Konzentrat gefasst wird. Folglich machte Cassirer die funktionale, also sinngerichtete Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt zur Grundregel: „Die Philosophie der symbolischen Formen geht von der Voraussetzung aus, daß, wenn es überhaupt eine Definition des ‚Wesens‘ oder der ‚Natur‘ des Menschen gibt, diese Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann.“4 Der funktionale Deutungsrahmen verdeutlicht die strukturelle Verbindung zwischen Cassirers Philosophie und der Kultursoziologie Georg Simmels, der in seinem Aufsatz über das „Gebiet der Soziologie“ (1917) ebenfalls auf dem Prinzip der Wechselwirkung als methodische Grundkategorie bestand. Simmel, der Kunstkenner und ‚Soziologe wider Willen‘, suchte nicht nur den universellen Charakter der Kunst, sondern zugleich auch die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer außergewöhnlichen Stellung, also ihr Alleinstellungsmerkmal zu ergründen. Er knüpfte damit implizit an die Idee der relativen Autonomie an. Die Verkörperung dieses Prinzips, das Marx im Subproletariat beheimatet fand, offenbart sich am augenscheinlichsten in Gestalt der französischen Bohème des neunzehnten Jahrhunderts. Sie kann als die Ursprungsgemeinschaft der Kulturproduzenten der Moderne bezeichnet werden. Ihre Eigengeltung war eng mit einer Distanznahme von den sittlichen und ökonomischen Leitlinien der kapitalistischen Gesellschaft verbunden. Den Tätigkeiten der Künstler und Schriftsteller, die weder im staatlichköniglichen noch im privaten Auftrag arbeiteten, war vor allem eine spezifische Zweckfreiheit eigen, die ihre gesellschaftliche Ausnahmestellung kennzeichnete. Eben diese Zweckfreiheit drückte sich in der Formel des L’art pour l’art aus. In seinen Kunstanalysen stellte Simmel diese dem allgemeinen Kulturideal gegenüber. Er tat dies, hier Marx nahe, über das Paradigma des in Materialität verwickelten Handelns. Bei Simmel äußerte sich das Professionsethos der Künstler und Schriftsteller der frühen Moderne anhand ihrer ablehnenden Haltung zum allgemeinen Diktum der Arbeitsteilung: „Die [...] Geschlossenheit des Kunstwerks [...] bedeutet, daß eine subjektive Seeleneinheit in ihm zum Ausdruck kommt; das Kunstwerk fordert nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten Innerlichkeit nach: es vergilt dies dadurch, daß seine Form ihm der reinste Spiegel und Ausdruck des Subjekts zu sein gestattet. Die völlige Ablehnung der Arbeitsteilung ist so

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Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, S. 110.

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Ursache wie Symptom des Zusammenhanges, der zwischen der in sich fertigen Totalität des Werkes und der seelischen Einheit besteht.“5

Simmel zufolge stand die Eigengeltung der Kunstproduktion also in einem inneren Zusammenhang mit der Sehnsucht nach der Überwindung der Arbeitsteilung – einer Sehnsucht, die, partiell politisch konnotiert, vor allem als utopischer Grundzug gemeinschaftsstiftend wirkte. Der Charakter der Ausführungen Simmels, der zwischen relationalem Funktionalismus und emphatischen Substantialismus oszillierte, wurde von Karl Mannheim als „verschleierte Sehnsucht nach Apriorität“6 bezeichnet. Simmels holistisches und utopistisches Apriori übersah freilich den Tatbestand, dass nicht alle Kunstproduktion frei vom Zwang zur Arbeitsteilung ist – am wenigsten ist sie dies wohl in ihren institutionalisiertesten Formen: am Theater und im Film. Das ändert allerdings wenig am bedeutungsvollen Kern seiner Aussage. Denn das von ihm thematisierte Problem der Trennung zwischen „subjektiver und objektiver Kultur“ sah das Soziale der Kunst in ihrer Eigenschaft, systematischer Fluchtpunkt der Aufhebung der Dichotomie zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ – also zwischen Produzent und Artefakt – zu sein. Dieser schöpferische Fluchtpunkt begründete in Simmels Theoriearchitektur das Paradigma der Autonomie, das nunmehr als substantialistische Überschreitung gesellschaftlicher Zwänge und Normen hervortrat. Unter den Zeitgenossen Simmels war es Henri Bergson, der diesen Grenzgang wohl am deutlichsten zugespitzt hatte. Bergson löste den Widerstreit zwischen Instinkt und Intellekt als in der menschlichen Verfasstheit verankerte Bedingungen des Schöpferischen nicht auf, sondern trieb diese nietzscheanisch auf die Spitze: „Die Erfindung selbst aber, sie, die doch den Ausgangspunkt unseres Handwerkens bildet, vermag [der Intellekt, T.B.] weder in ihrem Hervorsprudeln – nicht also in dem, was sie Unteilbares hat – noch in ihrer Genialität – nicht also in dem, was sie Schöpferisches hat, zu ergreifen. Sie erklären heißt ihm immer nur, sie die Unvorhersehbare und Neue, auf bekannte oder frühere, jetzt in anderer Ordnung gruppierte Elemente zurückzuführen. Das restlos Neue erkennt der Intellekt genauso wenig an, wie das radikale Werden.“7

Für Bergson stand der schöpferische Ausdruck des Lebens – der élan vital – stets in Opposition zu dem ihn reflektierenden Geist, der die Men5 6 7

Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, S. 106. Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens, S. 120. Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, S. 169. 21

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schen daran hindert, an ihren wirklichen Seinsgrund, den moi profond zu gelangen. Dies war aus seiner Sicht möglich durch den acte gratuit, den willkürlichen Affekt, den Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski literarisch antizipierten und dessen „radikales Werden“ die utopisch-ästhetischen Programme der italienischen Futuristen und der französischen Surrealisten befeuern würde.8 Bergsons und Simmels Zeitgenosse Émile Durkheim, der französische Begründer der Soziologie als Wissenschaft, suchte hingegen nach einem Begriff von der Wirklichkeit als Ausdruck ordnender Soziabilität; ein Wirklichkeitsbegriff, den er auch aus der Opposition zu Bergsons élan vital entwickelte.9 So ist es gerade die Bergsonianisch gefärbte ‚Totalität‘ des Kunstwerkes, die Simmel in die relational mitgedachte Kategorie der ‚Widerspiegelung‘ wendete. Die Kategorie der Widerspiegelung deckte sich mit dem analytischen Koordinatensystem der marxistischen Ästhetik von Georg Lukács. Simmel hatte die bedingte Handlungsfreiheit durch ein totales künstlerisches Seinsverständnis gekontert, das, beeinflusst durch die Lebensphilosophie Bergsons, ausgerechnet in den marxistischen Kunsttheorien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zur Leitlinie avancieren wird – wobei nicht der utopieskeptische Simmel, sondern Georg Lukács als Leitautor galt. Die Homonymie des Widerspiegelungs-Begriffes verweist nur scheinbar auf eine semantische Deckungsgleichheit der Simmelschen Theorie mit dem analytischen Koordinatensystem der marxistischen Ästhetik. Der unüberwindbare Widerspruch zwischen der Singularität seines Erschaffers und einer allumfassenden Wirkmächtigkeit (Simmel) bzw. dem Kommunikationsgehalt des Kunstwerkes (seinem utopischem Charakter bei Lukács) begründete die erste Spaltung zwischen der bürgerlichliberalen und der marxistischen Kulturauffassung und sie zeitigte mit der russischen Oktoberrevolution staatspolitische Konsequenzen, die zur zentralen kulturellen Gegensatzspannung zum Kapitalismus avancieren 8 9

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Vgl. Bogusz, Tanja: Avantgarde und Feldtheorie, S. 87. Wolf Lepenies beschreibt das Konkurrenzverhältnis zwischen den Ansätzen Durkheims und Bergsons: „[N]ach 1795 tritt das ‚Leben‘ an die Stelle der ‚Natur‘ und wird zum Schlüsselbegriff einer neuen Zeit. Vor dem Ersten Weltkrieg beobachtete Paul Bourget eine ähnliche Wortverschiebung, und wieder war es ‚la vie‘, dessen immer häufigere Verwendung jenes Schlagwort ablöste, das seit der Jahrhundertmitte geherrscht hatte: ‚la science‘. Im Wettstreit zwischen Durkheim und Bergson, den die meisten Gegner der Neuen Sorbonne zu ihrem neuen Heros erkoren, kämpften auch Vokabeln um die Vorherrschaft.“ Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen, S. 64ff. Simmels Verhältnis zu Bergson wird durch das bekannte Bonmot überliefert: „Daß Bergson mehr kann als ich, darüber freue ich mich, aber daß ich weniger kann als er, das ist doch schmerzlich.“ Zitiert nach Oger, Erik: Vorwort zu Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. (1896/1908). Hamburg: Felix Meiner Verlag 1991, S. XLVI.

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sollten. Der teleologische Charakter der marxistischen Ästhetik – und das ist entscheidend – marginalisierte jedoch die Bedeutung der relativen Autonomie, mit der Simmel die schöpferische Entgrenzung einerseits zu zähmen, andererseits zu sichern gesucht hatte: eine folgenschwere Vereinseitigung, die bei Lukács vor allem durch die Sehnsucht nach orientierungsgebender Transzendenz motiviert war – Kunst als lebendige Utopie. Auch Lukács sah in dem Verhältnis zwischen Kunst und Lohnarbeit das Spezifikum der Kulturproduktion begründet. In seinen frühen kultursoziologischen Studien, insbesondere in seiner Schrift „Bürgerlichkeit und L’art pour l’art“ (1911) beschrieb er ein von der Lohnarbeit differierendes Produktionsethos, das mit Simmels kritisch-emphatischem Blick auf das Alleinstellungsmerkmal der Kunstproduktion übereinstimmte. Dieses Ethos nimmt Lukács’ späteres Diktum von der coincidentia oppositorum vorweg, das die ästhetische Syntheseleistung des sozialistischen Realismus rechtfertigen sollte: „In einem Leben, in dem nur die ausschließlich auf Talent begründete Fruchtbarkeit dem Menschen Gewicht nach außen und Stütze im Inneren geben kann, wird der Schwerpunkt des Lebens ganz in die Richtung eben des Talents verschoben. Für die Arbeit ist das Leben da, und die Arbeit ist immer etwas Unsicheres, etwas, wodurch das Lebensgefühl fast bis zu extatischen Höhen hinaufgeschraubt und mit hysterischer Kraftanspannung wohl zeitweilig bis zum Extrem gesteigert werden kann […]. Das Werk ist der Zweck und der Sinn des Lebens. Infolge der stärksten Verinnerlichung ist das Zentrum des Lebens nach außen geschoben, in das brausende Meer der Ungewißheiten und völlig unberechenbaren Möglichkeiten. Die prosaische Arbeit hingegen gibt festen Boden und Sicherheit.“10

Die Arbeit am künstlerischen Werk scheint unberechenbar hinsichtlich ihres Erfolges. Lukács verknüpfte diese Ungewissheit mit einer Haltung, die den Künstler mit einer vollständigen Sachhingabe ausstattet. Doch war diese Sachhingabe tatsächlich bloß dem Künstler vorbehalten? Konnte sie nicht vielmehr als allgemeines Merkmal professioneller Ethik beobachtet werden, das sich in der westlichen Moderne auf jede Tätigkeit, oder besser: auf jeden Beruf erstreckte? Mit Max Weber, in dessen Kreis Lukács seit 1912 verkehrte, ließ sich gegen den Unterschied, den Lukács zwischen „Werk“ und „prosaischer Tätigkeit“ hinsichtlich eines hier unterstellten, dort in den Hintergrund gerückten „Lebensinns“ postulierte, leicht zeigen, dass gerade die Herausbildung der 10 Lukács, Georg: „Bürgerlichkeit und L’art pour l’art. Theodor Storm“, S 38. 23

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kapitalistischen Produktionsweise und der Rückgang der staatlichen Auftragskunst eine bis dahin nicht gekannte persönliche Identifizierung mit der Arbeit etablierte, deren Ursprünge Weber nicht nur in der Lebensführung des Protestantismus begründet sah, sondern auch in seiner berühmten Rede von der „Wissenschaft als Beruf“ (1917) leidenschaftlich verteidigte. Das irrationale Moment dieser Identifizierung als erst zweckmäßiges und schließlich bedürfnismotiviertes Handeln sui generis begann Weber zufolge mit der Rationalisierung der Handlungsabläufe selbst und trieb diese an. So berichtete Weber über die bürgerlichen Frühkapitalisten: „Würde man sie selbst nach dem ‚Sinn‘ ihres rastlosen Jagens fragen, welches des eigenen Besitzes niemals froh wird, und deshalb gerade bei rein diesseitiger Orientierung des Lebens so sinnlos erscheinen muß, so würden sie, falls sie überhaupt eine Antwort wissen, antworten: ‚die Sorge für Kinder und Enkel‘, häufiger aber und – da jenes Motiv ja offenbar kein ihnen eigentümliches ist, sondern bei den ‚traditionalistischen‘ Menschen ganz ebenso wirkte, – richtiger ganz einfach: daß ihnen das Geschäft mit seiner steten Arbeit ‚zum Leben unentbehrlich‘ geworden sei. Das ist in der Tat die einzig zutreffende Motivierung und sie bringt zugleich das, vom persönlichen Glücksstandpunkt aus angesehen, so Irrationale dieser Lebensführung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt, zum Ausdruck.“11

Dieser eigentümliche Antrieb bestimmte auch die Kunstproduktion bis heute. Mit Weber argumentierend, scheint die gern gepflegte Behauptung, Kunstproduktion unterscheide sich von den anderen Berufen dahingehend, dass der Produzent hier ein holistisches und dort ein säkularisiertes, oder gar rationales Verhältnis zu seiner Tätigkeit unterhielte, nicht haltbar und verweist vielmehr auf eine ethische Dauergeltung, die durch die Bewegung des L’art pour l’art hervorgebracht worden war. Der Zweck der Kunstproduktion kristallisiert sich aus Sicht des Produzenten jedoch nicht nur an jener transzendenten, utopischen Sehnsucht nach Grenzüberschreitung, sondern auch an der ‚prosaischen‘ Kategorie der gesellschaftlichen Anerkennung. Sie bildet zugleich die ethische und materielle Bedingung aller Produktion und wird damit zu einem soziologischen Tatbestand. Künstlerischer Erfolg basiert auf einer Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und ihrer adäquaten ästhetischen Übersetzung in einen sowohl politisch als auch ökonomisch vergleichsweise sanktionsfreien Raum. Das bedeutet natürlich nicht, dass der künstlerische Raum selbst sanktionsfrei wäre. Viel11 Weber, Max: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, S. 54. 24

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mehr bringen die gesellschaftlichen Bedürfnisse spezifische symbolische Räume und Formen hervor, deren Konstrukteure sich ihrerseits wiederum gesellschaftliche Anerkennung erhoffen. Lukács war Marxist genug, dass er sich trotz seiner Begeisterung für L’art pour l’art gegen eine allzu einfache Übernahme der mit dem Erfolgsstreben verbundenen ‚genialischen‘ Selbstzuschreibungen der Künstler abgrenzte. Stattdessen betonte er die sublimierte Kehrseite dessen, was Weber als funktionale Irrationalität des Frühkapitalismus bezeichnet hatte: „Die Selbsterkenntnis der reinen Genialität im Wirken kann immer nur irrational sein. Ihr Wirken wird immer überschätzt und unterschätzt zugleich, eben weil sie nie an etwas, weder Innerem noch Äußerem, gemessen werden kann.“12 Die Messbarkeit der Selbsterkenntnis – hier: der künstlerischen Eigengeltung – gehört allerdings zu den Faktoren, ohne die keine kultursoziologische Analyse auskommt. Sie konturiert vielmehr auf einer weiteren Stufe das, was als über den Zweck der Kunstproduktion hinaus ihre besondere Fähigkeit zur Wirklichkeitsorganisation ausdrückt. Denn wenn Kunst mit Niklas Luhmann eine an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gedoppelte Realität produziert,13 aus deren Existenz das Soziale augenscheinlich und erfahrbar wird, dann ist die in ihr konzentrierte Wirklichkeit auch als kondensierte soziale Praxis extrahierbar. Aus einer Perspektive der relativen Autonomie wird sie es jedoch weniger im Sinne einer ihr innewohnenden Eigenschaft (wie einer vorhandenen oder nicht vorhandenen Genialität), sondern vielmehr als Ausdruck ihrer konkreten Bezüglichkeit zur Gesellschaft – einer spezifische Form der Wirklichkeitsorganisation also. Der Aufbau von Wirklichkeiten berührt nicht nur die Kernfragen der Professionsthesen von Simmel, Weber und Lukács, sondern insbesondere die Ordnungsleistungen, die jene scheinbare Irrationalität des Handelns der künstlerischen Tätigkeit durchziehen. Lukács’ kultursoziologisches Programm, dass sich sowohl als Formenwissenschaft als auch als methodisches Untersuchungsangebot verstand, litt darunter, dass es ihm nicht gelang, seinen empirischen Anspruch, „den Anteil des rein Gesellschaftlichen an Kulturobjektivationen zu suchen“,14 umzusetzen. Eine systematische Perspektivierung einer solchen Methodologie und insbesondere der Sozialfigur der Kulturproduzenten lieferte hingegen die französische Soziologie des späten zwanzigsten Jahrhunderts. 12 Lukács, Georg: „Bürgerlichkeit und L’art pour l’art“, S. 38. 13 Vgl.: Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, S. 176ff. 14 Lukács, Georg: „Zum Wesen und zur Methode der Kultursoziologie“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 218. Zitiert nach Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, S. 477. 25

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Pierre Bourdieu hat die Herausbildung des künstlerischen Sozialraumes in seinem Werk „Les règles de l’art“ (1992) nach institutionellen, funktionalen und strukturellen Merkmalen untersucht. Er hat die Schriftsteller und Künstler der Bohème, die sich im 19. Jahrhundert unter dem Signum des L’art pour l’art zusammenfanden, als Urheber einer spezifischen Praxis charakterisiert, die ihnen erst einen eigenständigen Status verlieh. Es ist eine Praxis, die sich in Frankreich aus der Reibung mit den herrschenden Institutionen – den staatlichen Akademien und der damit verbundenen Auftragskunst einerseits und eines neu expandierenden literarischen und künstlerischen Marktes andererseits – herausgebildet hatte. Der Wille zur Behauptung einer literarischen und künstlerischen Zunft15 brachte nicht nur neue Produktionsformen, sondern vor allem einen selbstreferentiellen sozialen Raum hervor – das Feld der Kulturproduktion. Die Betrachtung dieses Feldes erfordert eine Vertiefung der von den Klassikern eingeführten Grundlegungen, die den folgenden Reflexionen über die Sozialfigur der Kulturproduzenten vorangestellt werden soll.

1.1.2 Ethnographie der Methode: Pierre Bourdieu Anders als Lukács und Simmel ging Pierre Bourdieu zunächst weniger von den kulturellen Phänomenen und den Kulturproduzenten selbst aus, als von dem sozialen Raum, in dem sie zu beobachten sind. Um das spezifische Professionsethos der Kunstproduzenten zu begreifen, rekonstruierte er diesen sozialen Raum, innerhalb dessen sich bestimmte Gruppen aufhalten und aus dem heraus sie ihr Selbstverständnis entwickeln. Die Analyse kultureller Handlungen war für den jungen Bourdieu auf das Engste mit philosophischen, anthropologischen und ethnologischen Studien verbunden. Dabei war er tief beeinflusst von Karl Marx, Immanuel Kant, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Claude Lévi-Strauss; aber auch Stéphane Mallarmé, Paul Valéry und Marcel Proust. Der Strukturalismus bildete die zentrale Grundlage für seine Suche nach einer Methode, jenen sozialen Raum als eine eigengesetzliche Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit handhabbar zu machen. Bourdieu 15 Zum Begriff der Zunft als Lebensgemeinschaft schrieb Simmel: „Die mittelalterliche Korporation schloß den ganzen Menschen in sich ein; eine Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen, welche die bloßen Interessen der Tuchmacherei pflegt, sondern eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und vielen sonstigen Hinsichten. Um so fachliche Interessen sich die mittelalterliche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz unmittelbar in ihren Mitgliedern, und diese gingen rechtlos in ihr auf.“ Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, S.79. 26

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verstand die sozialen Felder als konstitutives Kompendium einer Soziologie, die das Primat der relativen Autonomie des Menschen in der Gesellschaft wissensorganisatorisch einzuholen beanspruchte. Dabei gelang es ihm zu zeigen, wie ein strukturtheoretisch motivierter Begriff der relativen Autonomie auch die intellektuellen und künstlerischen Produktionsfelder symbolisch konstituiert und so in die praktischen Handlungen der Akteure und sogar bis in ihre Werke hineinwirkt. Das bietet die Chance, das Selbstverständnis und die Mobilisierungsressourcen ästhetischer Produktion aus den für das jeweilige Feld immanenten Wirkungskräften und den Anerkennungsleistungen nachzuvollziehen, die schließlich die allgemeinen Grundlagen künstlerischen Erfolges bilden. Bourdieu bemerkte in „Zur Soziologie der symbolischen Formen“ (1970) zu einer Soziologie der Kunst: „Gleichwohl entzieht sich auch die ‚reinste‘ künstlerische Intention nicht ganz der Soziologie, weil sie [...] ihre Entstehung einem ganz besonderen Typ historischer und sozialer Bedingungen verdankt und darüber hinaus zu jener objektiven Wahrheit Stellung beziehen muß, wie sie sich im Spiegel des intellektuellen Feldes präsentiert.“16 Ähnliche Interdependenzen attestierte Karl Mannheim der Utopie: „[D]er Substanz- und Gestaltwandel der Utopie spielt sich […] nicht in einem sozial ungebundenen Raume ab, vielmehr lässt es sich zeigen, dass die jeweils spätere Form der Utopie […] in ihrem Ansatz an bestimmte historische Stufen und dort auch an bestimmte soziale Schichten gebunden ist.“17 Mannheims Utopieverständnis gibt einen Hinweis auf den gesellschaftspolitischen Impuls der französischen Bohème; ein Impuls, den Simmel in der Aufhebung der Arbeitsteilung beheimatet fand und dem auch Bourdieu auf der Spur war. Bourdieus frühe kunstsoziologische Arbeiten sind von seiner Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss und von seinen Studien über die Bevölkerung der nordalgerischen Kabylei während des Algerienkriegs geprägt. Für ihn waren die empirischen Feldstudien im Anschluss an seinen Militärdienst in Nordalgerien (1955-1958) ein Schlüsselerlebnis, das ihn von der Philosophie zunächst zur Ethnologie führte – ein Schritt, der ihm nicht leicht fiel, wie er später erklärte.18 Zugleich beschäftigten ihn methodologische Fragen und er begann mit ersten Arbeiten über das schriftstellerische Feld und über die Anthropologie der Vormoderne. Sein Übergang vom Philosophen zum Ethnologen und schließlich zum Soziologen war von einer eingehenden Beschäftigung mit dem historischen Materialismus begleitet, wie er in einem Gespräch ausführt: „Natürlich habe ich mir die entsprechenden Texte von Marx 16 Bourdieu, Pierre: Soziologie der symbolischen Formen., S. 89. 17 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, S. 180. 18 Vgl. Bourdieu, Pierre: Choses dites, S. 16ff. 27

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und vieler anderer [zur Frage der Methodologie, T.B.] vorgenommen. Im Rahmen von Untersuchungen zum künstlerischen Feld arbeitete ich ebenfalls über den Begriff der relativen Autonomie.“19 Das Paradigma der relativen Autonomie der Individuen gegenüber der sozio-ökonomischen Struktur als „vorgefundene, gegebene und überlieferten Umstände“ (Marx) drückt zugleich die Offenheit und die Begrenztheit ihrer Handlungsoptionen aus. Bourdieu ersetzte die von Marx entlang des historischen Materialismus präzisierten „Umstände“ durch den Begriff der „Felder“ – vermutlich eine Referenz an seine ethnologischen Studien in der Kabylei, aus denen er, wie er immer wieder betonte, das Fundament seiner Sozialtheorie entwickelte. Die Theorie der Felder wurde aber erst durch seine Beschäftigung mit der Kunst zu einem methodologischen Arbeitsbegriff, den er u.a mit und gegen Marx konzipierte: „Ich gehe davon aus, dass die Analyse der objektiven Strukturen – die der verschiedenen Felder – nicht zu trennen ist von der Analyse der Entwicklung mentaler Strukturen, die – auf der Ebene des biologischen Einzelwesens – sich aus der Inkorporierung sozialer Strukturen und der Genese dieser Strukturen selber noch erklären lassen: Der soziale Raum ebenso wie die darin auftretenden Gruppen sind das Produkt historischer Auseinandersetzungen (in welche die Akteure je nach Stellung innerhalb dieses Raums und ihren spezifischen mentalen Strukturen, vermittels derer sie ihn erfassen, verwickelt sind).“20

Ein Feld im Sinne Bourdieus konstituiert sich daher physisch, räumlich und ideell. Insofern ist jedes Feld – als sozialer Zusammenschluss von Interessengemeinschaften – ebenso durch materielle wie auch durch kulturelle Orientierungsachsen gekennzeichnet, die spezifische Formen der Organisation sozialer Wirklichkeiten gewährleisten. Die Verinnerlichung dieser Orientierungsachsen beherbergt kulturelle Codes. Diese werden im Habitus aktualisiert, ritualisiert und damit zu einem wirksamen symbolischen Kapital, das die Höhe der sozialen Anerkennung markiert. Der Habitus bezeichnet Bourdieu zufolge also den Kreuzpunkt zwischen den vom Feld bereitgehaltenen (oder verweigerten) soziokulturellen Voraussetzungen und ihrer individuellen Ausgestaltung. Er relationiert das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Praxis und gibt diesem Verhältnis einen sozialen Sinn. Wie war Bourdieu zu der Neuformulierung des philosophisch-phänomenologischen Habituskonzepts gekommen? Die Übertragungen der ethnologischen Studien, die er in Algerien durchgeführt hatte, auf seine ländliche Heimat im südfranzösi19 Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, S. 26. 20 Ebd., S. 31ff. 28

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schen Béarn und auf die akademische Welt in Paris, hatten ihn in grundlegende Zweifel hinsichtlich des strukturalistischen Paradigmas versetzt: „Ich wollte […] die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel bringen, die durch Lévi-Strauss und die Strukturalisten, zumal Althusser, dadurch eskamotiert worden waren, dass man sie zu Epiphänomenen der Struktur erklärt hatte. Ich sage bewusst Akteure und nicht Subjekte. Eine Handlung, das ist kein bloßer Vollzug einer Regel, ist nicht: Befolgen einer Regel.“21

Ausgerechnet der Zweifel an der Regel hatte Bourdieu zum Soziologen gemacht. Und doch erhob er die Regel in seinem wichtigsten kunstsoziologischen Werk zum programmatischen Titel. Eine Provokation gegenüber der genialischen Eigengeltung der Künstler des L’art pour l’art? Oder der Versuch, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichstrukturellen Grundlagen und individuellen Handlungsspielräumen in einer Regelhaftigkeit nachvollziehbar zu machen, die ‚Regel‘ nicht als Gesetz, sondern als praxisbezogenes Modell von Wirklichkeitsorganisation versteht? Mit dem Ziel, den praktischen Sinn der Akteure konzeptuell zu rekonstruieren, proklamierte Bourdieu eine radikale Abkehr in zweierlei Richtungen: von dem, was er als „objektivistische Wissenschaft“ bezeichnete und von der französischen Subjektphilosophie. In seiner „Esquisse d’une théorie de la pratique“ (1972), in der er insbesondere seine nordalgerischen Feldstudien verarbeitete, hatte er sein methodologisches Programm bereits ausformuliert. Demnach führt das Postulat des wissenschaftlichen „Objektivismus“ zu einer fahrlässigen Unterschätzung der eigentlichen Erfahrungen der Akteure und ihrer konkreten Rahmenbedingungen. Das praxeologische Wissen hingegen erhebt aus seiner Sicht den Anspruch, eine Dialektik zu erzeugen, welche die objektive Struktur dieser Rahmenbedingungen mit den in ihnen eingebetteten Handlungsoptionen der Akteure in einen systematischen Zusammenhang bringt. Jene Dialektik sollte also die theoretisch möglichen Handlungsoptionen mit den tatsächlichen Bewegungen der sozialen Akteure verbinden. Sie kann damit Hinweise auf ihre Wirklichkeit geben. In diesem Zusammenhang sprach Bourdieu zeitweilig auch von seiner Sozialtheorie als „konstruktivistischen Strukturalismus“. Die durch den sens pratique motivierte Wirklichkeitsorganisation wird demzufolge von den Akteuren unbewusst-strategisch eingesetzt und deutet auf die ihr zugrundeliegenden Repräsentationsmuster und gesellschaftlichen Normgeltungen hin. Der konstruktivistische Charakter dieser Wirklichkeit wird jedoch erst in der Konzeptualisierung des Forschungs-

21 Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, S. 28. 29

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gegenstandes offenbar – das entspricht einem wichtigen Grundprinzip der qualitativen Sozialforschung.22 Der solchermaßen verfolgte Bruch mit der Alltagssicht ist Bourdieu zufolge durch die Erstellung eines theoretischen Modells möglich, das sich zunächst von der unmittelbaren Wahrnehmung löst, um dann anhand der konkreten Fallstruktur erneut betrachtet zu werden. Es ist der Versuch der weitestmöglichen Objektivierung der soziologischen Perspektive, die Durkheims positivistische Prämisse, „de traiter les faits sociaux comme des choses“ methodologisch einzuholen sucht. Damit einher ging Bourdieus eindeutiges Bemühen, den jeweiligen sozialen Feldern trotz der von ihm herausgearbeiteten Homologien hinsichtlich ihrer inneren Struktur eine weitgehende Autonomie zuzuweisen. Dies gilt ganz besonders für seine Untersuchungen über die Felder der Kunst und der Literatur. Dabei setzte er sich zwar von einer deterministischen Funktionalität ab, indem er den espace des possibles – den Raum der Möglichkeiten – als unvorhersagbaren und offenen Ort abweichenden Verhaltens in das Feldmodell integrierte und damit eine methodologische Option für sozialen Wandel, Brüche und Transformationen eröffnete. Zugleich konnte er sich des Vorwurfs nicht immer überzeugend erwehren, keine hinreichenden Instrumente zur Erklärung sozialen und kulturellen Wandels bereitgestellt zu haben. In einem Vortrag aus dem Jahre 1986 setzte sich Bourdieu mit der objektivistischen Perspektive der Wirklichkeitsorganisation kritisch auseinander und unterstreicht die Notwendigkeit, die künstliche Opposition zwischen Sozialstruktur und den subjektiven Repräsentationen der Akteure durch den Aufbau einer dialektischen Theorie der Wechselbeziehung aufzulösen. Zum Charakter dieser Dialektik, die auf der relativen Autonomie beruht, bemerkt er: „Kurz, der Versuch, die Sozialwissenschaft auf die bloße Aufdeckung objektiver Strukturen einzuengen, darf mit Recht zurückgewiesen werden, wenn dabei nicht aus den Augen verloren wird, dass die Wahrheit der Erfahrungen gleichwohl doch in den Strukturen liegt, die diese determinieren.“23 Die hier betonte Übermacht der Sozialstruktur wirft Fragen hinsichtlich Bourdieus praxeologischem Gesamtkonzept auf. Wenn die „Wahrheit der Erfahrungen“ in den sie determinierenden Strukturen liegt, dann ist es nicht mehr die soziale Praxis, bzw. der Habitus, die Veränderungen erzeugen, sondern die Struktur. Das ist prinzipiell durchaus denkbar innerhalb eines Feldmodells, das auf der kongenialen Wechselwirkung zwischen Struktur und Praxis aufbaut. Die Praxis ist der Struktur aber 22 Vgl. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 164. 23 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 149. 30

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hier untergeordnet und ihr immanent. Kippt der Strukturrelationismus in den Strukturdeterminismus, wird in der Logik des Modells – gewollt oder nicht – auf die strategische Option transformierender Möglichkeitsräume verzichtet und damit sozialer Wandel letztlich für unmöglich erklärt. Hier wird ein immanenter Antagonismus offensichtlich, der zwischen dem Programm Bourdieus, „de défataliser le monde“24 und einer Haltung besteht, die die Resistenz und Dauer überlieferter Muster anerkennt.25 Das verweist in der Tat auf einen programmatischen Widerspruch innerhalb des Bourdieuschen Œuvres, das sich zwischen aufklärerisch-emanzipatorischem Erkenntnisgewinn einerseits und vernunftkritischen, dezentrierten und kontingenzbetonenden Einsichten andererseits bewegte. Die von Bourdieu geforderte Verschaltung von Strukturalismus und empirisch begründetem Dezentrismus ist ohne den systematischen Einbau der Feldkategorie ebenso wenig zu gewährleisten wie die Modifizierung gegebener Tatbestände zu beantworten. Erst innerhalb des spezifischen sozialen Raumes kann sich eine eigengesetzliche Dynamik, können sich also Handlungsspielräume freisetzen, die auf der Nahtstelle zwischen Struktur und Praxis operieren und deren Grenzen stets neu ausgehandelt werden. Hans-Peter Müller spricht daher folgerichtig von Bourdieus Sozialtheorie als „Strukturationstheorie“.26 Der häufig kritisierte versteckte Strukturdetermismus scheint mir im Gegensatz zu vielen Kritikern jedoch weniger methodologisch angelegt, sondern vielmehr durch eine gewisse Marginalisierung der methodischwissenssoziologischen Reflexionen über den Feldbegriff, die das Spätwerk vom Frühwerk unterscheidet, verursacht. Dies wird in seinen Analysen zur Herausbildung der künstlerisch-avantgardistischen Strömungen deutlich, in der die Residualkategorie der Distinktion hinsichtlich der Bildung symbolischer Formen z. T. überbetont wird.27 Hier ist eine Tendenz zur Vereinseitigung spürbar, die gleichwohl in der Arbeit mit der Theorie nicht übernommen werden muss – schon deshalb, weil die wissensgeschichtlichen Grundlegungen des Frühwerks auf diese Weise nur unzureichend erfasst werden können. Festzuhalten bleibt, dass Bourdieu eine Forscherposition in einem von der Empirie entfernten Locus observandi ebenso verweigerte wie die wissenssoziologische Aufspaltung zwischen Körper, Geist und Intuition. Der Reichtum und die Differenziertheit seiner Sozialtheorie geben 24 Bourdieu, Pierre: „Défataliser le monde“. Les Inrockubtibles 2004. 25 Vgl. Bourdieu, Pierre: Der Tote packt den Lebenden, S. 99ff. 26 Müller, Hans-Peter: „Handeln und Struktur. Pierre Bourdieus Praxeologie“, S. 24. 27 Die Méditations pascaliennes (1997) bilden hier die Ausnahme. 31

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daher berechtigten Anlass zu der Vermutung, dass soziale Veränderungen, Brüche und Transformationen mit Bourdieu am gewinnbringendsten durch eine praxeologisch-empirische Anwendung der Feldtheorie untersucht werden können. Er selbst beschrieb das innere Spannungsgefüge seiner epistemologischen Entwicklung in einem Interview: „Mein schwieriges Verhältnis zur Welt hatte eine permanente Anstrengung zur Folge, um das zu bekämpfen, was […] Merleau-Ponty den Intellektualismus nannte. [D]er Bruch mit dieser Perspektive, der mich dazu führte, das, was ich Habitus nenne, zum Prinzip des menschlichen Handelns zu erklären, also einen Sinn für das Spiel, einen praktischen Sinn und nicht ein intentionales Bewusstsein, ist zweifellos untrennbar mit dem von mir immer verdeutlichten Bedürfnis verbunden, in meinen empirischen Studien, aber auch in meinen Arbeiten zur theoretischen und analytischen Konstruktion, mit dem ‚fernen Blick‘ des Betrachters zu brechen, um zu versuchen, den praktischen Gesichtspunkt des Akteurs in die Theorie einzubeziehen.“28

Dieses experimentelle Prinzip der hier vorgeschlagenen Konzeptualisierung zugrunde gelegt, kann Bourdieus Formulierung einer Dialektik zwischen Struktur und Praxis als eine wissenssoziologisch grundierte „praktische Wirklichkeitsorganisation“ verstanden werden. Die praktische Wirklichkeitsorganisation zu rekonstruieren, ist Aufgabe der soziologischen Analyse. Sie bezeichnet die Handlungsorientierungen der Individuen und erlaubt, von den feldspezifischen Grundlagen, die Bourdieu in den Begriff des opus operatum fasste, auf ihre spezifische Technik und ihr Wirken zu schließen; auf ihren modus operandi – und umgekehrt. Der Erkenntnisgewinn, der sich aus induktiven Verfahrensweisen anhand von wissenschaftlich präsupponierten Tatbeständen und Orientierungspunkten ableitet, stößt, so Bourdieus Kritik, unweigerlich an seine wissensorganisatorischen und intradisziplinären Grenzen.29 Ver28 Bourdieu, Pierre: Défataliser le monde. Ü.v.m. 29 Dies gilt im besonderen Maße für die Untersuchung eines zeitgenössischen, lebendigen Gegenstandes wie die Volksbühne. Es ist immer leichter, wenn auch durchaus nicht ohne Gefahren, kollektive Repräsentationsmuster im Nachhinein dingfest zu machen, weil zumeist schon ein Bestand von Reflexionsmaterial existiert, auf dem aufbauend Gemeinsamkeiten etwa zwischen wirtschaftlicher Lage, politischen Ereignissen und kulturellen Bewegungen herausgearbeitet werden können. Hier stellt sich vor allem die Frage der „richtigen“, also für die Untersuchung sinnvollen Auswahl der bereits vorhandenen Daten, die allerdings, für sich genommen, bereits vor-konstruiert sind. Daher ist der Forscher letztlich nie von der Selbst-Konstruktion des Gegenstandes befreit. Zum wissenssoziologischen, aus der philosophischen Anthropologie abgeleiteten Wirklichkeitsbegriff pointiert Berger/Luckmann: „Die Wissenssoziologie sieht die 32

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fahren hingegen, die im Sinne einer rekapitulierenden Wirklichkeitsorganisation ausgehend von den Praktiken selbst operieren, greifen den symbolisch-imaginären und relationalen Charakter des Sozialen auf. Sie ermöglichen damit grundsätzlich nicht nur Rückschlüsse auf kollektive Repräsentationsmuster, sondern auch auf performative Abweichungen von diesen. Reckwitz bezeichnet die soziologische Praxistheorie in diesem Sinne als Kulturtheorie: „Dass die Praxistheorie eine Version der ‚Kulturtheorien‘ darstellt, soll dabei generell bedeuten, dass in ihrem Verständnis die soziale Welt ihre Gleichförmigkeit über sinnhafte Wissensordnungen, über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, durch im weitesten Sinne symbolische Ordnungen erhält, die eine symbolische Organisation der Wirklichkeit betreiben.“30 Eine spezifische symbolische Organisation der Wirklichkeit hat jedoch immer auch ein dynamisches, vielleicht sogar „radikales“ Werden (Bergson) und damit eine empirische Praxis zu bezeichnen. Was bedeutet das nun für die Sozialfigur des Kulturproduzenten, mit der sich die Soziologie nach 1900 auseinandergesetzt hatte? Das Feld der Kulturproduktion, und in ihm insbesondere die bildende Kunst und die Literatur repräsentiert eine spezifische gesellschaftliche Wirklichkeitsorganisation, gerade weil hier der Anspruch verfolgt wird, jegliche „Wirklichkeit“ und gesellschaftliche Norm zu überwinden; ein Anspruch, der die utopische Stoßrichtung der Kunstproduktion kennzeichnet und der zugleich zu seiner Institutionalisierung drängt. Die damit verbundene Eigengeltung der Kulturproduktion symbolisiert aber auch das, was Erving Goffman einmal als das „vorbildliche Reich der Erfindung“ bezeichnet hatte31 – es schafft sich seine eigenen Orientierungsgrößen und Verkehrsformen. Auch in dieser Welt hat sich die Geschichte in die Körper der Menschen eingeschrieben, vermittelt sich durch sie und produziert auf diese Weise soziale Beziehungen, Räume und Machtstrukturen. Soziale und kulturelle Verkehrsformen sind also historisch bedingt – für die soziologische Analyse bedeutet das vor allem: „Geschichte dient als Hypothesen-Hilfe“ (Lepenies).32 In kritischer Anwendung des Bourdieuschen Feldmodells kann daraus zunächst folgender Schluss gezogen werden: Die innerhalb des Vergesellschaftungsprozesses der Kulturproduzenten zu beobachtende symmenschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit.“ Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 200. 30 Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 287. Kursiv von mir. 31 Vgl. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, S. 604. 32 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 65. 33

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bolische Wirklichkeitsorganisation wird erst dann einen Vermittlerstatus zwischen sichtbaren Praxisformen und Theoriemodell erlangen, wenn sie auf ihre historischen und kollektiven Repräsentationsmuster und strukturellen Grundlagen zurückgeführt, oder, vorsichtiger ausgedrückt, in Hinblick auf solche überprüft werden kann. Das wird besonders deutlich in der Betrachtung des Feldes der Kulturproduktion, das ich im Folgenden am Beispiel der französischen Bohème-Bewegung skizziere. Ihr Modellcharakter wirkte nicht nur innerhalb Frankreichs fort, sondern auch in den beiden deutschen Staaten, deren sozio-kulturelle Rahmungen die Basis zeitgenössischer Kunst- und Theaterproduktion im vereinigten Berlin bilden.

1.1.3 Classe normative und Vorbild Bohème Die französische Bohème ist die Sozialfigur, an der sich sämtliche künstlerische Bewegungen der Moderne bis in die Gegenwart messen. Sie bildete sich innerhalb eines Feldes der Kulturproduktion heraus, das die Geschicke der Künstler und Schriftsteller dauerhaft lenken würde. Dieses Feld hatte sich in Frankreich im 19. Jahrhundert mit Beginn der Industrialisierung und der Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten verselbständigt. Es war eine historische Schwellenzeit, die sowohl vom Aufstieg der bürgerlichen Finanziers und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Adels, als auch von heftigen politischen Unruhen geprägt war. Gesellschaftskrisen alternierten mit Phasen der Sättigung und einer fatalistischen Stimmung, die sich in dem Schlagwort Le mal du siècle ausdrückte. Nach der Abdankung Louis XVIII., der das Ziel deklamiert hatte, das revolutionäre Erbe von 1789 mit der monarchistischen Tradition zu verbinden, besteigt Charles X. 1824 den Thron. Er flüchtet 1830 im Zuge der Julirevolution nach England. Louis Philippe wird „Bürgerkönig“. Seine Klassenherrschaft steht für eine bürgerlichliberale Monarchie. Doch das Land bleibt in einem Zustand der Instabilität und des Übergangs – es ist der Übergang in die Moderne. Diese Schwellenzeit ist von dem Tatbestand begleitet, dass die einstige höfische Hegemonie über sittliche Deutungsmuster und gesellschaftliche Normen zunehmend sinkt. Sie wird von der Allgegenwart utilitaristischer Grundprinzipien verdrängt. Der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem, der Henri Bergsons Fragestellung über die Beziehung von Geist und Leben auf eine Philosophie der Biologie übertrug, machte diese Veränderungen an einer von ihm beobachteten „semantischen Konfusion“ fest, die er in der Neuformulierung des Verhältnisses von ‚Normalität‘ und ‚Anormalität‘ zu sichern sucht. Lepenies fasst Canguilhems Gedankengang zusammen: 34

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„Canguilhem versucht eine Erklärung zu skizzieren, worin die so wechselvolle Einschätzung des Verhältnisses von Normalität und Anormalität im 19. Jahrhundert begründet sein mag. Wieder auf semantologische Überlegungen zurückgreifend, führt ihn die Tatsache, daß wir dem Begriff ‚normal‘ bereits 1759, dem Terminus ‚normalisé‘ dagegen erst 1834 begegnen, dazu, die aufsteigende bürgerliche Klasse eine normative Klasse (une classe normative) zu nennen, die mit der Ergreifung der politischen Macht die sozialen Normen zu definieren vermag und die Normalität und Allgemeinheit dadurch miteinander identisch macht, daß sie eine Norm durch ihre statistische Häufigkeit definiert – ein Paradigma, das die soziologische Theorie von Quetelet über Durkheim hinaus prägt.“33

Das Objektivierungsbedürfnis in den Wissenschaften vom Menschen resultierte nicht nur aus ihrer inferioren Stellung gegenüber der Philosophie und den Naturwissenschaften, sondern auch aus dem zunehmenden Auseinandertreten einst allgemeingültiger ethischer Geltungen. In der Phase des mal du siècle, die auf die Revolution von 1830 folgte, entwickelte sich die von Lepenies unterstrichene Neusetzung gesellschaftlicher Normen durch die wirtschaftlich und politisch erfolgreiche classe normative, der Bourgeoisie, zu einer bedeutenden Handlungsorientierung. In Frankreich ist diese Entwicklung auf allen gesellschaftlichen Ebenen auch von dem stetigen Verlust intermediärer Vermittlungsinstanzen begleitet, wie Hans-Peter Müller kenntnisreich schildert: „[M]it der Abschaffung der ‚corps intermédiaires‘ während der französischen Revolution, der nachfolgenden Zentralisierung und der territorialen Neuordnung sind sämtliche sekundäre Organe zerstört worden. Daraus resultiert eine strukturelle Konstellation, in der ein zentralisierter Staat einer Masse von Individuen gegenübersteht.“34

Diese von nun an schier unüberbrückbare Kluft deutete Durkheim noch viele Jahrzehnte später als strukturelle gesellschaftliche Dysfunktion: „So hat also die politische Malaise dieselbe Ursache wie die gesellschaftliche Malaise, unter der wir leiden: das Fehlen von sekundären Organen, die zwischen den Staat und den übrigen Gesellschaften eingeschaltet wären.“35 Dieses Fehlen schafft ein soziales und kulturelles Va-

33 Lepenies, Wolf: „Normalität und Anormalitat. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert“, S. 248. 34 Müller, Hans-Peter: „Die Moralökologie moderner Gesellschaften“, S. 322. 35 Durkheim, Émile: Physik der Sitten und des Rechts, S. 150ff. 35

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kuum, das entscheidend zur Herausbildung der Sozialfigur der Bohème beitragen wird. Die Übernahme der wirtschaftlichen und politischen Macht durch die aufsteigende Klasse der bürgerlichen Ingenieure und Industriellen verdrängt zunächst das aristokratische Besitzer- und Rentierstum. HeinzGeorg Haupt bringt diesen Tatbestand auf die Formel: „Der Industrielle als Eroberer. In dieser Charles Morazé entlehnten und abgewandelten Formulierung wird die Dynamik bürgerlicher Industrieller betont, die auf der Suche nach Profit alte gesellschaftliche Modelle zerbrachen, neue Strukturen aufbauten und auch die Wertordnung veränderten.“36 Max Weber hat eine der herausragenden Eigenschaften der Figur des Eroberers in seinen Studien über das Charisma hervorgehoben. Gleichwohl bezweifelte er dessen „revolutionäre Energie“ bei den Trägern der industriellen Revolution selbst.37 So führt der Niedergang des mit dem Adel assoziierten politischen Charismas, der durch die ökonomische Rationalisierungsethik beschleunigt wird, dazu, dass die an die alte Herrschaftsschicht des Adels gebundenen überzeitlichen Repräsentationsmuster auf der Ebene der Sozialstruktur nicht abgelöst oder gar demokratisiert, sondern vielmehr in die nutzwertorientierte Rahmung des industriellen Fortschritts überführt werden. Sie werden damit in anderer Form auf Dauer gestellt, wie Haupt am Beispiel der Neugründungen der technischen Hochschulen erläutert: „Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung gewann in der Tat die technische Kompetenz ihren Adelstitel. Mit dem Aufbau prestigereicher, dem militärisch-aristokratischen Modell angelehnter Schulen trugen die staatlichen Instanzen zum Prestige der Absolventen bei. [...] Kaserniert und militärisch organisiert, einer strengen Disziplin und einem adligen Verhaltenskodex unterworfen, sollten die Absolventen technische Fertigkeiten mit einem hohen Korpsgeist verbinden. [...] Von wenigen Ausnahmen abgesehen, [...] ordneten sich die Ingenieure eher in die Notabelngesellschaft ein, als daß sie diese in Frage stellten. Zumeist stammten sie aus ihr.“38

Die Überführung des adligen Verhaltenskodex in die Ausbildungsinstitutionen der zukünftigen herrschenden Klasse verdeutlicht die Resistenz eines elitären Habitus gegenüber der neuen Zeit und den mit ihr verbun-

36 Haupt, Heinz-Gerhard: Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, S. 172. Die Gründungen der Écoles normales und die damit einsetzende Institutionalisierung der classe normative wird auf das Jahr 1794 datiert. 37 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 665ff. 38 Haupt, Heinz-Gerhard: Sozialgeschichte Frankreichs, S. 176. 36

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denen kulturellen Werteverschiebungen.39 Das beeinflusst auch die Bedingungen der Kulturproduktion. Die höfisch-kirchliche Auftragskunst bleibt zwar bestehen; an ihre Seite treten jedoch nun auch private Aufträge aus den etablierten Schichten der Finanziers. Sie sehen in dem Kauf und in der Ausstellung von Kunstwerken eine bedeutende Aufwertung ihres Prestiges, das sich gegen das spöttische Etikett des „Parvenus“ verteidigt, mit dem die adligen Notabeln ihre bürgerlichen Konkurrenten herablassend belächeln. Neben „Industriekapitänen“ und Ingenieuren machen nun Journalisten und Lehrer ihr Talent gegenüber einer Statuszuweisung geltend, die zuvor fast ausschließlich durch die soziale Herkunft bestimmt war. Diese neue Schicht der Geistesarbeiter differenziert sich gegenüber den etablierten kulturellen Instanzen aus, wodurch zugleich die Eigenheit des Feldes der Kulturproduktion an Profil gewinnt. Die Ausbreitung des Journalistenberufes ist auch durch die zunehmende Gewissheit angetrieben, dass der rasch expandierende Zeitungsmarkt im öffentlichen Leben einen bisher ungekannten Bedeutungszuwachs erfährt. Lepenies bemerkt zum steigenden Prestige der Berufsgruppe der Kritiker in dieser Zeit: „Vom Wohlwollen der Kritiker hingen politische Karrieren und literarische Erfolge ab.“40 Die Hoffnung des neuen Intellektuellenstandes auf politischen Einfluss wurde bestätigt. Hier kristallisiert sich das Professionsideal der „Fürstenerziehung“, das, seiner höfischen Charakteristika entledigt, nur scheinbar säkularisiert in die Moderne übergeht. Als deren wohl berühmtestes Beispiel gilt seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts Émile Zola. Unabhängig von den politischen Positionen der „neuen Fürsten“ erfährt dieses Ideal eine Dauergeltung, die bis in das gegenwärtige Berliner Theaterfeld hineinreicht, wie ich noch zeigen werde. Wie als Reflex auf diese Entwicklungen subventioniert das königliche Regime Louis Philippes die Ausbreitung einer Kunst, die sich den Erwartungen des Publikums anpasst, jedoch vor allem der Zerstreuung dient. Louis Véron, ab 1831 Direktor und Leiter der Opéra de Paris, formuliert seine Prämisse: „Ich sagte mir: ‚Die Julirevolution ist der Triumph der Bourgeoisie. Diese siegreiche Bourgeoisie will sich amüsieren. Die Opéra wird ihr Versailles werden, sie wird dorthin strömen und in Scharen den Platz der Grands Seigneurs und des exilierten Hofes einnehmen‘.“41 39 Diese Struktur ist ein Spezifikum des zentralistischen Frankreichs, welches das französische Staatsgefüge bis heute prägt. 40 Lepenies, Wolf: Nimm das! 41 Véron, Louis: Mémoires d’un Bourgeois de Paris. Tome 3. Paris 1854, p. 171 (zitiert nach Walter, Michael: Die Oper ist ein Irrenhaus. Sozialge37

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In dieser Zeit streben aber auch viele junge, in der Provinz ausgebildete Intellektuelle des Kleinbürgertums in die Hauptstadt und suchen hier ihr Glück als Schriftsteller oder als Maler. Angesichts der Dichte dieses Aufstiegswillens können nur wenige erfolgreich sein – und erfolgreich sein bedeutet vor allem, nicht als artiste raté auf den Straßen von Paris zu verkommen. Für den Großteil bleibt daher allein die Möglichkeit des weniger anerkannten Journalismus. Ihm ist der Zugang zu den Salons verwehrt, in denen die Kunst der Causerie gepflegt wurde – des klugen und zugleich vergnüglichen Gespräches unter den anerkannten Dichtern, Kritikern, Schriftstellern und Malern. Eingebunden in eine strenge Zeitungshierarchie, immer in Konkurrenz zu den etablierten Schriftstellern, sind die „ouvriers littéraires“, wie der Kritiker Charles Augustin Sainte-Beuve diese neue Berufsschicht nennt, individualisiert und meist schlecht bezahlt. Das ändert nichts an der steigenden Beliebtheit dieses Berufes, wie Lepenies hervorhebt: „Wer gut schrieb, beeinflusste auch das öffentliche Leben und die Politik. Umgekehrt konnte niemand ernsthaft nach politischem Erfolg streben, ohne selbst gut zu schreiben oder zumindest einen Schriftsteller zu kennen, der bereit war, Gutes über ihn zu schreiben. [...] Zugleich wollten immer mehr Menschen selbst schreiben und publizieren. Die Epidemie der Moderne breitet sich aus: die Stampomanie, die Sucht, gedruckt zu werden.“42

Die Vergleichzeitigung einer zwar modifizierten, doch stabilen öffentlich-privaten Auftragsproduktion, der gleichwohl unangetasteten Geltungshoheit der staatlichen Akademien und einer konsumentenorientierten kulturellen Massenproduktion führt dazu, dass sich zwischen den drei großen gesellschaftlichen Polen der bürgerlichen classe normative, der entstehenden Arbeiterklasse, und dem absteigenden Adel eine vierte Sozialfigur herausbildet: die Bohème. Nach der Julirevolution schließen sich unter der Federführung Gérard de Nervals und Théophile Gautiers Künstlergruppen zusammen, die sich in Anlehnung an den bewunderten Victor Hugo Petit cénacle nennen.43 Nerval bezeichnet ihr Selbstverständnis als das von „großen Faulpelzen“, die nach eigener Aussage die Sitte pflegen, „nichts zu veröffentlichen, oder fast nichts“44 – der Stampomanie wird ostentatives déta-

schichte der Oper im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: Verlag B. Metzler 1997). 42 Lepenies, Wolf: Nimm das! 43 Der sich um Hugo bildende Kreis von Dichtern vor 1830 trug die Bezeichnung ‚grand cénacle‘. 44 In: Meyer, Anne-Rose: Jenseits der Norm, S. 31. Ü.v.m. 38

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chement entgegengehalten. Die jungen Protagonisten des L’art pour l’art grenzen sich nicht nur von dem „neuen Versailles“ und seinen Protagonisten sowie den staatlich anerkannten Akademien und der Auftragskunst ab, sondern genauso von den Journalisten und den neubürgerlichen Intellektuellen, die sie mit der Strömung des Realismus und dem art social identifizieren. Außer dem Petit cenacle, der eindeutig dichterische Ambitionen verfolgt, machen in den krisengeschüttelten Jahren der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts weitere kleine Gesellschaften auf sich aufmerksam, die später zur Bohème zählen: die Bousignots und die La jeune-France: „The Bousignots were mostly students, often known for noisy behavior, and a readiness to join in demonstrations against the government. Their dress and behavior were much closer to that of the peuple than of the Jeunes-France. The Bousignots were often described as enemies of law and order and enthusiasts for absolute liberty.“45

Der distinktive Habitus, der gleichwohl mit einem exotistischen Blick auf le peuple korrespondiert, wird zu einem zentralen Merkmal der Bohème. Sie bildet ein Konglomerat aus verschiedenen Strömungen, deren Selbstverständnis Anne-Rose Meyer anhand eines Gedichts von Pétrus Borel zusammenfasst und dabei en passant Marx’ und Simmels utopistische Thesen von der aufgehobenen Arbeitsteilung bestätigt: „Der Bohémien entbehrt Schutz und Geborgenheit der Gesellschaft. Andererseits grenzt er sich von der Lebensweise der bürgerlichen, utilitaristisch geprägten Welt ab und führt in anderer Hinsicht ein sorgenfreies Leben. Borel spricht [...] die bewußt gesuchte Andersartigkeit der Compagnons an, die – nicht im Erwerbsprozeß begriffen – keine monetären Werte schaffen und ihre eigenen Normen proklamieren.“46

Als „Compagnons der Künste“ schreiben sich die Anhänger der Bohème die Neusetzung von Normen auf die Fahnen, deren Abgrenzung von der classe normative von Bourdieu als zentrale Handlungsorientierung bezeichnet wird. 47 Es ist typisch für die Herausbildung neuer Sozialformationen, dass sie ihre Kontur durch die schärfste Abgrenzung von denen gewinnen, denen sie politisch, sozial und kulturell am nächsten stehen. Der Antrieb zur Autonomisierung, der diese Gruppen motiviert hatte, 45 Seigel, Jerrold: Bohemian Paris: Culture, Politics and the Boundaries of Bourgeois Life 1830-1930. New York 1985, S. 26. Zitiert nach Meyer, Anne-Rose: Ebd., S. 30. 46 Ebd., S. 38. 47 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 100. 39

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speiste sich aus einer Mischung aus Abgrenzungswillen und einer Geltungsbehauptung, die durch die veränderte soziale Struktur bedingt war. Ihr kultureller Rahmen ermöglichte – zwischen dem Aufgreifen eines modernistisch-utilitaristischen Zweckhandelns und der Kultivierung traditioneller Abgrenzungshaltungen von der „breiten Masse“ – erstmals multipolare und klassenspezifisch-nivellierende Handlungsoptionen. „Wir hatten die Wissenschaft entdeckt, die Wissenschaft vom sorglosen Leben,“ schwärmt Arsène Houssaye, ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift L’Artiste und Direktor der Comédie-Française, der einst mit Gérard Nerval und Théophile Gautier zusammengelebt hatte, rückblickend in seinen Erinnerungen.48 Das so lässig scheinende savoir-vivre wird, ironisch gebrochen, zu einer objektiven Erkenntnis erhoben, die zugleich ihre eigene Exklusivität betont. Dieses fast Ideal-typische Selbstzeugnis verdeutlicht eine symbolische Wirklichkeitsorganisation, in der sich der säkularisierte Rückgriff auf die höfische Lebensart ausdrückt. Die Bohème wird zu einer institution imaginaire (Castoriadis), deren funktionale Zielsetzung durch die praktische Formulierung des „radikal-Imaginären“ einen sozialen Tatbestand behauptet. Als symbolisches Beziehungsgeflecht instituiert sie ihre Verkehrsformen als nichtentfremdete und zugleich exklusive Gesellschaft. Doch auch wenn die meisten Protagonisten des L’art pour l’art bürgerlicher Herkunft waren, so bleibt doch die Kunst als Lebensform oder die Lebens-Kunst im eigentlichen Sinne eine Kategorie der höfischen Gesellschaft, die sich vor allem durch Distinktion von der gesellschaftlichen Masse auszeichnet. Norbert Elias hat die zeitgeschichtliche Transformation dieser Haltung in seiner Arbeit über den Hof Louis XIV. charakterisiert: „Das Verlangen, sich abzuheben, sich von den Nicht-zugehörigen zu unterscheiden, sich gesellschaftlich auszuzeichnen, findet seinen sprachlichen Ausdruck in Begriffen wie ‚valeur‘, ‚considération‘, ‚se distinguer‘ und vielen anderen, deren selbstverständlicher Gebrauch zugleich ein Schibboleth der Zugehörigkeit und ein Beweis der Verpflichtung auf die gleichen sozialen Ideale ist. Die Ausdrücke selbst, wie die Haltungen und Werte, die sie symbolisieren, gehen früher oder später auch auf die Familien der aufsteigenden bürgerlichen Assimilanten der höfischen Gesellschaft über, auf die Finanziers. Auch in deren Kreisen verlieren ‚économie‘ und ‚intérêt‘ ihr Primat; die Motivation durch ‚Ehre‘, Distinktions- und Prestigeverlangen läuft ihnen nach ein oder zwei Generationen den Rang ab.“49

48 In: Meyer, Anne-Rose: Ebd., S. 49. Ü.v.m. 49 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft, S. 101. 40

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Die Abgrenzung der Bohème von der Bourgeoisie wird mit sehr ähnlichen Paradigmen betrieben und das Ehrgefühl drückt sich zunächst darin aus, dass die Faulheit als Gegenentwurf zum ökonomischen Ehrgeiz mit einer Kunst assoziiert wird, die von Nutzwerten frei und damit „unschuldig“ ist. In einem Artikel der Zeitschrift L’Artiste von 1834 erkennt sie der Kunstkenner Félix Pyat bereits als Zeichen einer ideellen Unabhängigkeit: „Die Kunst ist fast ein Kult, eine neue Religion geworden, die eben richtig zu einem Zeitpunkt auf den Plan tritt, da die Götter verschwinden und die Könige auch. Selbst das Geld, die Macht unserer Zeit, sieht sich gezwungen, eine konkurrierende Macht anzuerkennen.“50 Die Verachtung der Bohème gegenüber der nutzorientierten Lebenspraxis, sei es der Broterwerb, Stil oder Geschmack, wurde so zum utopischen Spiegel einer Haltung, die ursprünglich den Adel des Frühkapitalismus kennzeichnete – dessen zunehmende Handlungshemmung indes durch Melancholie und Weltflucht kompensiert wurde, wie Lepenies in seiner Melancholie-Studie gezeigt hat.51 Auf diese Weise setzte die Bohème gegen den Partizipationsdruck, den Innovationsdrang und das Verwertungsprinzip die Utopie, den Rekurs auf die Romantik und den musischen Müßiggang – das savoir-vivre –, der ursprünglich zum Verhaltenskodex des Adels gehörte. Hier manifestiert sich die von Simmel konzedierte Autonomie als systematischer Fluchtpunkt, in dem die Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft utopistisch aufgehoben wird. Die eifrigen Bestrebungen der aus der Provinz angereisten Diplomanden, die in der Pariser Metropole nach sozialem Aufstieg streben, beantwortet die Bohème mit demonstrativem Desinteresse an gesellschaftlicher Anerkennung und am Erfolg – auch wenn ihre Protagonisten selbst nur allzu häufig aus eben diesen aufstiegssuchenden Schichten und Regionen stammen. Die Relativität dieser Autonomie wird in der inneren Kontingenz dieser Sozialfigur deutlich, wie Bourdieu betont: „Als schillernde Realität löst die Bohème selbst bei ihren bedingungslosen Anhängern gemischte Gefühle aus. Zunächst einmal deshalb, weil sie sich der klaren Einordnung sperrt: dem ‚Volk‘ nahe stehend, dessen materielle Not sie häufig teilt, ist sie doch auch von diesem getrennt durch die Lebensweise, die sie gesellschaftlich definiert und die, auch wenn sie sich ostentativ von den Konventionen und Schicklichkeiten der Bürger absetzt, sie doch eher der Aristokratie oder Großbourgeoisie annähert als den ordentlichen Kleinbürgern […].“52 50 In: Meyer, Anne-Rose aus: Nouveau tableau de Paris au XIXme siècle, Bd. VI. Paris 1834, S. 1-12, hier S. 4. Ü.v.m. 51 Vgl. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 185ff. 52 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 97. 41

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Jene gebrochenen Annäherungs- und Abgrenzungsbewegungen werden durch politische Klassenkämpfe und Interessenskonflikte flankiert, die eine feste Verortung dieser schillernden Sozialfigur in der Tat immer wieder verhindert – ein Tatbestand, den die Bohème schließlich zu einem wichtigen Prinzip ihrer Eigengeltung umzudeuten versteht. 1848 wählt das Bürgertum, beunruhigt durch den Juni-Aufstand des Pariser Proletariats, Prinz Louis Bonaparte zum Präsidenten, der die Republik durch einen Staatsstreich stürzt und die Aufstände blutig niederwirft. Bei der Volksabstimmung wird Bonaparte zum Präsidenten auf zehn Jahre gewählt. Er identifiziert die Sache der Ordnung mit seiner Person. Die Ordnungspartei feiert die Rückeroberung ihrer Macht, die durch den Aufstand der sozialdemokratischen Partei der Montagne gebrochen schien. Die politisch-ökonomischen Determinanden, innerhalb derer sich die etablierte société des lettres in diesem Konflikt bewegte, definierte Marx in seiner Schrift „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852): „Was sie zu Vertretern des Kleinbürgertums macht, ist, daß sie im Kopf nicht über die Schranken hinauskommen, worüber [der shopkeeper, T.B.] nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jene das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“53 Bourdieu beschreibt die Position der Bohème – als Teilfiguration innerhalb der Intellektuellenschicht – im sozialen Raum hingegen als die der „von Beherrschten unter Herrschenden, die sie zu einer Art objektiver, also auch subjektiver Unbestimmtheit und Bestimmungslosigkeit verurteilt, welche sich nie besser zeigt als in ihren – simultan oder sukzessiv – wechselnden Beziehungen zu den Machtinstanzen.“54 Auch die société des lettres ist weit davon entfernt, eine politisch einheitliche Gruppe zu sein. Angesichts der nun wieder verschärften Zensurbedingungen bleibt ihr einziger gemeinsamer Nenner die Orientierung an literarisch-ästhetischen Fragen, mit denen man sich an ein gebildetes Publikum wendet. Ein anderes politisches Wertesystem wird nur von einzelnen Protagonisten wie Victor Hugo verteidigt. Die Angehörigen der Bohème konzentrieren sich ihrerseits vielmehr darauf, ihr institutionell erfolgloses Künstlerdasein und ihre Verachtung gegenüber der siegreichen Bourgeoisie selbstbewusst in die Formel der artistes maudits umzudeuten – der von den gesellschaftlichen Institutionen ausgeschlossenen und verfemten, doch gerade deshalb heroischen und un53 Marx, Karl: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 142. 54 Bourdieu, Pierre: Ebd., S. 98. 42

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abhängigen Künstler. Ihre zugleich symbolische wie soziale Figurationsbildung, deren Antrieb sie aus der Gegensatzspannung zur classe normative zieht, entwickelt sich zu einer Lebens- und Produktionspraxis, die ihren Symbolcharakter zunehmend in einen funktionellen Faktor des gesellschaftlichen Lebens verwandelt. Der damit verbundene, von Lukács hervorgehobene Unterschied des Lebenssinns, der Kunstproduktion und prosaische Tätigkeiten symbolisch voneinander trennte, wird spätestens jetzt zu einer sozialen Messgröße. Denn er ist Ausdruck des sozialen Selbstverständnisses, für das die Philosophie des L’art pour l’art steht. Die Systematisierung von Distinktionstechniken gegen die etablierten Künste entwickelte sich im auslaufenden 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Lebenspraxis gerade der Künstler, die von den legitimierten Institutionen und damit von der Aussicht, von ihren Werken leben zu können, ausgeschlossen waren. Sie war begleitet von einer Auffächerung der Orientierunginstanzen und autonomer Distributionssysteme. Durch die Einrichtung von Gegenszenen, die sich als Parallelgesellschaften in Form von Salons etablierten, adelte die Bohème die Lebenshaltung des L’art pour l’art. Eine Pluralisierung ästhetischer Bezüge setzte ein, die sich neben den staatlich legitimierten Sanktionsinstanzen zunehmend Geltung verschafften. Nach Bourdieu war es nun nicht mehr der alte nomos – die das Feld dominierende allgemeine Geltungsmacht in Gestalt der kirchlichen und staatlichen Auftraggeber – sondern das Primat der permanenten symbolischen Revolutionen, dem Zwang zur künstlerischen Innovation also, der sich zum Impulsgeber künstlerischen Handelns entwickelte. Dessen zum Professionsethos erhobener sens pratique richtete sich gegen anerkannte und etablierte Stilmittel in der bildenden Kunst und in der Literatur und machte aus der Not ihrer institutionellen Ausgegrenztheit eine Tugend. Die permanente symbolische Revolution gewann dabei innerhalb des Feldes der Kulturproduktion durch zwei Dispositionskategorien eine innere Stabilität: der Kategorie der Originalität, die den Maßstab der Objektivierungsprozesse des künstlerischen Produkts generierte, und der Kategorie der Interesselosigkeit an materiellem Profit, die den Habitus des Künstlers von nun an dauerhaft prägen sollte. Gleichwohl wurde dieser Säkularisierungsprozess von einem ‚Glaubensersatz‘ begleitet, dem unabdingbaren Glauben an die Autonomie der Kunst, die allein durch den permanenten Kampf um ihre Geltungsbehauptung Legitimation erfuhr. Fortan mussten die Objektivierungsprozesse, die dem Kunstwerk auf der Rezeptionsseite in Form immer uneinheitlicherer Sanktionsinstanzen gegenübertraten, ihrerseits mit ebenso polyvalenten Bewusstseinsansprüchen seitens der Künstler vereinbart werden. Dieses Spannungsgefüge brachte eine Felddynamik 43

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hervor, deren spezifische Ausdifferenzierungen je nach Kunstgebiet unterschiedliche Prägungen erfuhren. Dabei schlossen Künstler und Schriftsteller häufig symbolische Allianzen, die auf ästhetischen und verhaltensspezifischen Gemeinsamkeiten basierten. Die Verachtung der Bohème gegenüber den profitorientierten Produktionsformen artikulierte aber vor allem eines: ihre Ohnmacht angesichts einer Moderne, in der die Säkularisierung aller Lebensbereiche in Begriff war, zugleich die Vergesellschaftung des Sublimen – der Kunstproduktion – durchzusetzen. In der Figur des ouvrier littéraire drückte sich diese Entwicklung aus – noch lange wird das Schreiben von Romanen und der Journalismus von der Avantgarde mit Hohn und Spott überzogen.55 Dass die Zeitgenossen Charles Baudelaires und seine Nachfolger eine solche Haltung adeln, drückt ihre paradoxe Position im sozialen Raum im auslaufenden 19. Jahrhundert aus. Nicht ohne Grund charakterisierte Paul Claudel die Schreibweise Baudelaire sinngemäß mit den Worten, dass Baudelaires Sonderstellung sich durch die Verknüpfung des Stils von Racine mit dem Journalismus des Second Empire ausweise.56 1864 baut der Maler Gustave Courbet am Rande der Pariser Industrieausstellung einen eigenen Austellungspavillon auf, in dem er seine Arbeiten mit dem programmatischen und damals äußerst provokanten Titel „Réalisme“ präsentiert. Eduard Manet und andere folgen seinem Beispiel. Der Pariser „Salon des réfusés“ versammelt die zeitgenössischen eigenwilligsten und innovativsten Künstler und verweist die Akademie auf die Erhaltung tradierter Besitzstände. Doch ohne den Tatbestand eines sich immer weiter ausdifferenzierenden künstlerischen und vor allem literarischen Marktes hätte die Bohème ihre Eigengeltung langfristig nicht behaupten können. Den höfischen oder kirchlichen Auftragskünstler des ancien régime konnte weder die Frage der Käuflichkeit noch der empörte Vorwurf der ästhetischen Korruption, die meist auch

55 So wurde Philippe Soupault noch 1926 u.a. aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit und dem Verfassen von Romanen aus der surrealistischen Gruppe ausgeschlossen. Vgl. Bogusz, Tanja: Avantgarde und Feldtheorie, S. 50. 56 Ihre Kraft bezog Baudelaires Dichtung aus der Montage von traditioneller Poesie mit der von ihm zugespitzten modernen Poesie, die in vereinfachter Form in folgende Gegensatzpaare auseinandertreten: Poésie traditionnelle Poésie moderne Harmonie dissonance sentiment, inspiration intellect idéalisme découpage clarté obscurité divertissement du lecteur choc 44

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eine institutionelle meinte, tangieren. Erst das Auftreten des Schriftsteller-Arbeiters der kapitalistischen Moderne wird das Desiderat einer künstlerischen Autonomie in bisher nicht gekannter Schärfe auf den Plan rufen, weil sie sich als Anti-Profession gegen die Zweckhaftigkeit der Arbeit und damit gegen die Warenhaftigkeit des Kunstwerks positioniert. Die Behauptung eines Professionsethos, das den romantischen Rückgriff auf das génie créateur reformuliert und damit eine transzendente Totalität der künstlerischen Produktionsweise gegen die Massenproduktion setzt, geht zugleich programmatisch mit einer organisatorischen Soziabilität einher: Man bildet Gruppen, Gemeinschaften, kollektive Distributionssysteme und genre-übergreifende Kooperationen zwischen den Künsten.57 Auf diese Weise reiht sich das Selbstverständnis der Bohème zwischen dem Gemeinsinn des marktwirtschaftlichen Professionsglaubens und dem distinktiven universalistisch-höfischen savoir-vivre in das Feld der Kunstproduktion ein. Diese Position kann in ihrer Doppelfunktion als Grenzzone von Unterscheidungen ausgemacht werden, die für die Moderne prägend werden sollte. L’art pour l’art setzte ein utopistisch konnotiertes Professionsethos gegen den längst zur empirischen Tatsache gewordenen Anpassungsdruck, dem die staatlichkirchliche oder die marktwirtschaftliche Auftragskunst unterworfen war. Die sich von beiden Optionen distanzierende Eigengeltung entwickelt sich zur zentralen Abgrenzungskategorie, ohne freilich ganz auf deren Trägerschaft zu verzichten. Sie wird wichtigstes Orientierungsmuster einer Lebenshaltung, die der institutionellen und materiellen Wertschätzung als potentielle Profanierung der künstlerischen Leistung misstraut.

57 Bourdieu bemerkte zur soziologischen Betrachtung solcher Kooperationen: „[D]ie Soziologie (oder die Sozialgeschichte), die immer wieder beschuldigt wird, zu ‚reduzieren‘ und die schöpferische Originalität des Schriftstellers und des Künstlers herabzusetzen, [kann] gerade im Gegenteil der Einzigartigkeit der großen Traditionsbrüche Gerechtigkeit widerfahren lassen, die die gewöhnliche Geschichtsschreibung aus der Welt schafft. Diese nämlich reduziert die Geschichte auf eine rhapsodische Aufzählung irgendwelcher keinem Relevanzprinzip untergeordneter Einzelheiten und dispensiert sich von der immensen Mühe, das soziale Universum objektiver Beziehungen zu konstruieren, in bezug auf die der Schriftsteller sich konstruieren musste und die sich nicht notwendig auf die von der Geschichtsschreibung verzeichneten, das heißt realen Interaktionen bei persönlichen Begegnungen mit Schriftstellern oder Künstlern reduzieren – Hugo, Gautier oder Delacroix sind in diesem Raum nicht wichtiger als Charles Asselineau, Banville, Babou, Champfleury oder Pierre Dupont.“ Bourdieu, Pierre: Meditationen, S. 109. 45

INSTITUTION UND UTOPIE

1.2

P r a x e o l o g i s c h e W e c h s e lw i r k u n g e n

Die Autonomisierung des Kunstfeldes geht mit seiner ökonomischen Verselbständigung einher. Die politische und ästhetische Bevormundung durch die staatlichen Institutionen wird von der Bohème mit der Mikroökonomisierung der künstlerischen Profession beantwortet, die auf Techniken der Abweichung von den offiziellen Anerkennungswegen ausgerichtet ist. Für die Bestimmung der Struktur des künstlerischen Feldes, das sich zwar als sozialer Raum „instituiert“, jedoch noch keine Institution darstellt, erklärte Bourdieu daher nicht die Konsensbildung, sondern die Differenzsetzung zur zentralen Handlungskategorie. Auf Cassirer Bezug nehmend, betonte er in Méditations pascaliennes (1997): „Wir müssen daher die unterschiedlichen Arten der ‚Welterzeugung‘ auf die sie ermöglichenden ökonomischen und sozialen Bedingungen zurückführen, das heißt über die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ im Sinne Cassirers hinaus zu einer differentiellen Anthropologie fortschreiten oder, anders gesagt, Durkheims Analyse der gesellschaftlichen Genese der ‚Denkformen‘ durch eine Analyse der je nach sozialen Bedingungen und historischen Situationen variierenden kognitiven Einstellungen zur Welt erweitern.“58

Welcher Aspekt sich aus den Abgrenzungstendenzen und Übereinstimmungen als Denkform und schließlich als neuer „Stil“ – von Bourdieu intentionsstärker aufgeladen durch den Begriff des modus operandi – durchsetzt, hängt allerdings vor allem von dem sens pratique als ‚Sinn für das Richtige‘ oder das ‚Notwendige‘ ab. Auch hier sind synergetische Welterzeugungen mindestens so ausschlaggebend wie die Kraft der Ideen und der Intentionen; Welterzeugungen, die sich in der Umgebung des Produktionsprozesses abspielen, auf diesen einwirken und von ihm gespiegelt werden. Der den Stilmitteln zugrunde liegende Streit um ihre Legitimation löst schließlich die feldspezifische Dynamik aus, die Bourdieu in das Prinzip der „permanenten symbolischen Revolutionen“ gefasst hatte. Durch die Bedingungen der kapitalisierten Gesellschaft geprägt, erfährt das scholastische Aushandlungsprinzip in der Kunst und in den Wisssenschaften einen konjunkturellen Beschleunigungsschub: Die Abweichung wird zur Ausgangsbedingung der Aushandlung. Bourdieu brachte diese Praxis auf die zentrale Formel: „Der zur Konstituierung eines Feldes führende Prozeß stellt einen Prozeß der Institutionalisierung von Anomie dar, an dessen Abschluß sich niemand mehr

58 Ebd., S. 27. 46

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als absoluter Herr und Besitzer des nomos, des Prinzips legitimer Vision und Division, aufspielen kann.“59

Im Folgenden soll diese Formel auf ihre methodologische Stichhaltigkeit überprüft und mit weiteren Sozialtheorien konfrontiert werden, die abweichende, imaginäre und utopische Institutionalisierungen als wirklichkeitskonstituierendes soziales Handeln gekennzeichnet haben. Dabei wird auch der Frage nachzugehen sein, inwieweit die erörterte Herausbildung der künstlerischen Zunft zugleich als Genese neuer sozialer Systeme und als handlungsweisender Vergesellschaftungsprozess aufgefasst werden kann. In dem Anspruch, eine sowohl historiographische wie situative Relationierung von theoretischer Analyse und empirischer Beobachtung zu gewährleisten, bietet sich folglich eine praxeologische Sichtnahme des hier dargelegten künstlerischen Professionsethos an.

1.2.1 Prinzip und Praxis: Anomie Die vorangegangenen Überlegungen geben berechtigten Anlass zu der Vermutung, dass die Stellung innerhalb der gesamten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen und die daran geknüpften Wechselwirkungen für die Aufschlüsselung des Professionsethos der Kulturproduzenten von grundlegender Bedeutung sind. Zugleich schafft die Verselbständigung dieser Sozialfigur, die wir im neunzehnten Jahrhundert beobachten konnten, die Grundlage für eine symbolische Wirklichkeitsorganisation, die nach einer Systematisierung des Abweichungsprinzips sucht und dessen Grenzen immer wieder aufs Neue auslotet. Das Problem, dass sich aus soziologischer Sicht stellt, bleibt jedoch, ob und inwieweit an dieser Praxis soziale Transformationen kenntlich gemacht werden können. Sozialer Wandel ist nur bedingt durch Distinktion motiviert – selbst wenn man deren Kontingenz anerkennt und diese selbst zum Aushandlungsprinzip deklariert – als institutionnalisation de l’anomie. Offen bleibt die Frage, warum es der Bohème gelungen ist, Produktionsformen und Lebenswelten zu etablieren, die zugleich abseits von wie innerhalb des marktwirtschaftlichen Kulturrahmens eine Dauergeltung bis in die Gegenwart erreichen konnten – auch wenn die Gradwanderung zwischen artiste maudit und artiste raté nur durch einen ‚Geniestreich‘ zu gelingen schien, dessen innere Ambivalenz im höchsten Grade grenzwertig und schon deshalb soziologisch interessant ist. Doch bleibt die Analyse damit immer noch dort immanent, wo sie das Muster dieser Handlungsorientierungen noch nicht erfasst hat. Das innere Spannungs59 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 216. 47

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verhältnis zwischen loser Formierung und verfestigter Sozialformation, das die Bohème für ihre Selbstkonstitution brauchte, wirft die Frage auf, anhand welcher Orientierungspunkte diese Spannung auf Dauer gestellt werden konnte. Ist es aus praxistheoretischer Sicht möglich, aus der Auf-Dauer-Stellung dieser Spannung sowohl Verstetigung als auch Transformationen nachzuvollziehen? Die hier verfolgte These lautet, dass die Erfassung dieses Spannungsverhältnisses durch die systematische Verbindung dreier für das Feld der Kulturproduktion so wirklichkeitskonstituierender Orientierungspunkte möglich ist: Anomie, Utopie und Institution. Führt das Prinzip der Abweichung im Feld der Kulturproduktion zu einer zwar paradoxen, doch äußerst wirksamen inneren Ordnung, so müssten die bedürfniskonstituierenden Elemente dieses Prinzips (Aufhebung der Arbeitsteilung) hinsichtlich ihrer utopistisch grundierten Mobilisierungsressourcen (Zusammenführung von Arbeit und Leben) untersucht werden. Woraus aber speist sich das Bedürfnis nach Abweichung? Was führt zur Vergesellschaftung dieses Bedürfnisses? Und ist diese Vergesellschaftung als soziale Ordnung, als institutionelle Formation zu verstehen, oder handelt es sich, eben weil sie zunächst eine anomische Gerichtetheit aufweist, um eine spezifische Form von Un-Ordnung, die auf der Grundlage utopischer Zielvorstellungen gerade auf der Schwelle zur Institution operiert? Die hier bereits aufscheinende wechselseitige Durchdringung von Anomie, Institution und Utopie lässt ahnen, dass es sich in der Tat um Grenzphänomene handelt, die gleichwohl handfeste soziale Praktiken, Tatbestände und Artefakte dort unübersehbar machen, wo ihre inneren Triebkräfte auf das engste an ihre gesellschaftlich bedingten Rahmungen gekoppelt sind. Diese Orientierungspunkte soll der folgende Abschnitt markieren. Das Prinzip der Abweichung, das hier auf den Begriff der Anomie gebracht wurde, ist komplex. Zwar findet sich Abweichung erst und überall dort, wo Ordnung auf die eine oder andere Weise etabliert ist. Doch Ordnung ist stets polyvalent; ihre Legitimation ist Verhandlungssache und selbst wo sie über jeden Zweifel erhaben scheint, ist ihre Dauergeltung dort am verlässlichsten, wo sie eine gewisse Elastizität aufweist, die die Spannungen, die sie hervorbringt, abzufedern versteht. Das gilt für soziale Mikrokosmen ebenso wie für ökonomische Systeme und große Staatsgefüge. Abweichung ist also untrennbar mit Ordnung verbunden und sie ist ebenso vielschichtig wie diese. Die klassischen Anomie-Autoren Émile Durkheim und Robert K. Merton changierten zwischen einer Definition, die ein strukturelles Missverhältnis innerhalb gefestigter Sozialgefüge zu bezeichnen suchte und einer Definition, die Anomie als soziale Praxis des abweichenden 48

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Verhaltens verstand. Anomie wurde dabei generell als Ausnahmezustand, also als Un-Ordnung wahrgenommen (als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise), die sich aber als prozessuale Handlungskategorie innerhalb längerfristiger Transformationsprozesse auch strukturell verstetigen kann – Durkheim nannte dafür etwa das Beispiel der gesetzlich legitimierten ehelichen Scheidung. Gleichwohl war Durkheim nicht der Erste, der den Begriff der Anomie soziologisch zu nutzen suchte. Finden sich erste Spuren zum Anomie-Begriff zwar schon im dreizehnten Jahrhundert, so wird er doch erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts besonders in Frankreich zu einem soziologischen (Kampf-) Begriff – in dem Land also, in dem sich die Kultur der Bohème inzwischen zur Orientierungsinstanz sämtlicher Kunstbewegungen des Okzidents gemausert hatte. 1885, im Todesjahr des großen Vorbildes der Bohème, Victor Hugo, tritt der Sozialphilosoph Jean-Marie Guyau (1854-1888) erstmalig mit seinen Anomie-Thesen an die französische Öffentlichkeit. Guyau proklamiert die Anomie optimistisch als zukünftiges universelles Menschheitsgesetz, demzufolge gesellschaftliche Abweichung zum Signum autonomer Selbstbestimmtheit wird. Damit liefert er, ohne dies zu benennen, einen ersten systematischen Kommentar zur Sozialfigur der Bohème. Er sah in der Anomie eine ins Positive gewendete Autonomie des Subjekts, die es von allen gesellschaftlichen Leistungsanforderungen freisprechen sollte. Die zukünftige Moral, schreibt Guyau in Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction (1885), „wird nicht nur autonom, sondern anomisch sein.“60 Das Fehlen einer festen Regel bezeichnet aus seiner Sicht keinen defizitären Zustand, wie ihn der griechische Terminus unterstellt (Ungerechtigkeit, Unordnung, Pietätslosigkeit) und wie er später von Durkheim in der Soziologie etabliert wurde. Guyau versteht Anomie vielmehr als eine Praxis der schrittweisen individuellen Aneignung von moralischen Regeln, Verhaltenskriterien und Glaubensformen. Dieser Individualisierungsprozess ist ihm zufolge ebenso unausweichlich wie wünschenswert, wie Philippe Besnard in seiner Studie über den Anomie-Begriff feststellt: „Die Anomie wird als Ziel gesetzt, auf das die Entwicklung der Menschheit zusteuert und zusteuern sollte.“61 Guyau definiert „die Absenz eines gültigen Gesetzes, die man als Anomie bezeichnen kann, um ihn der Autonomie der Kantianer gegenüberzustellen“.62 Damit setzt er den Begriff der Anomie als kongenialen Ausdruck von individueller Originalität ein. Für Guyau ist „Anomie“ also Ausdruck der Eigengeltung und Selbstbefreiung starker individueller Naturen. Sie beschreibt 60 Nach Besnard, Philippe: L’anomie, S. 23. Ü.v.m. 61 Ebd., S. 23. Ü.v.m. 62 Ebd. 49

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keinen Zustand, sondern eine Praxis. Ihre Triebkraft ist liminal und projektiv, ihr Tun grenzüberschreitend. Sie führt eine bohemianische, scheinbar zeittranszendente Grenzexistenz, die dem Blochschen Utopiegedanken näher steht als der im prosaischen Diesseits verharrenden Gegenüberstellung von Ordnung und Unordnung. Hermann Schweppenhäuser bemerkt in einem Bloch-Aufsatz: „Grenzexistenz heißt eine, bei der unentschieden ist, was im Grenzbereich gegeneinandersteht. Grenze ist Front, die Linie, wo die Entscheidung fällt – Krisenlinie. Wie Raumfronten nationale, so sind Zeitfronten geschichtliche Krisenlinien. Das Zeitfeld, durch das sie laufen, ist multivers, ist geladen: die Zeitkrisis. Was an der Zeit ist, will heraus; was in ihr ist, darin bleiben. Was längst hinunter war, ohne seine Präsenz, sein Futurum gehabt zu haben, rumort unter der Decke der Aktualität: der chronologischen wie der finalen – heliotropisch gedreht nach der utopischen Sonne.“63

Die utopistisch konnotierte Subjektzentriertheit der Guyauschen Anomie ist ein früher Hinweis auf die französische Existenzphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts; aber auch sie betont das individuelle Bedürfnis um den Preis der Marginalisierung seiner sozialen Bedingtheit; letztlich: seiner relativen Autonomie. Die Heliotropie des kunstinteressierten Guyau sah sich alsbald dem langen Schatten einer Soziologie ausgesetzt, die die sozialen Tatbestände als Dinge betrachtet sehen wollte. Der frühe Durkheim, der mit den überaus erfolgreichen Schriften Guyaus über die Moral, die Bildung und die Religion vertraut war und dessen Kritik am Utilitarismus teilte, wendet sich in seiner Dissertationsschrift La Division du travail social (1893) klar gegen Guyaus Anomie-Begriff. Durkheim suchte die Idee von der Anomie in eine sozialökologische Sittenlehre einzupassen, die sein Vorläufer strikt abgelehnt hatte. Durkheim betonte stattdessen den unfreiwilligen Aspekt der Anomie, die aus seiner Sicht keine voluntaristisch auserkorene Lebensführung ist, sondern ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als normative Kraft mitdenkt. Die von der Bohème thematisierten Folgen dieser Rahmenbedingungen wird Durkheim später in seiner Studie über den Selbstmord vertiefen. Das Thema der Grenze ist auch hier entscheidend. Demnach tritt anomisches Verhalten gerade dort auf, wo das Individuum, verunsichert durch die Segmentierung seiner Handlungen im kapitalistischen Produktionsprozess, sich den normativen Grenzen seines Handelns nicht mehr bewusst ist. Hier ist Anomie das pure Gegenteil der Utopie, sie sucht nicht nach der Überwin63 Schweppenhäuser, Hermann: „Reale Vergesellschaftung und soziale Utopie“, S. 166. 50

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dung der Arbeitsteilung, sondern ist von deren Auswirkungen absorbiert. Im Ordnungsparadigma verharrend, beschränkte Durkheim die Anomie damit zwar auf ihre negativen Folgen für das sittliche Sozialleben, griff jedoch zugleich über Guyau hinaus, weil er den paradoxen Ordnungscharakter der Veralltäglichung erkannte, den die permanente Grenzüberschreitung („Innovation“) von Kapital und Produktionsmitteln dem Individuum in der Industriegesellschaft einprägte. Dieser Tatbestand galt Durkheim als Charakteristikum der kapitalistischen Moderne par excellence. So war es nur konsequent, dass die immanente Logik dieser Paradoxie ihn zur methodischen Verbindung von Anomie und Institution führte.64 Die utopistisch grundierten Bedürfnisse nach Grenzüberschreitung, die Guyau in der Anomie bestätigt fand, wandte Durkheim kritisch in einen Glauben an das Neue – was auch einschließt: an das ‚Andere‘ –; ein Glaube, der aus seiner Sicht soziologisch erst noch eingeholt werden müsse. Hier und in der Regelhaftigkeit der Praxis liegt der entscheidende Kern der Anomie-Thesen Durkheims, den Bourdieu offenbar auf das Feld der Kunstproduktion übertragen hatte. Während Durkheim den Anomie-Terminus zwar als konstitutives Merkmal der modernen Industriegesellschaft definierte, Anomie jedoch in der Praxis, d.h. im Sinne einer Abgrenzungskategorie allein labilen Charakteren zuschrieb, deren Bewusstsein ein krisengeschütteltes ist, wurde sie für Bourdieu im Feld der Kunstproduktion zu einem instituierenden Imperativ, der beide Tatbestände vereint: „Mit der Entwicklung eines Feldes von Institutionen, die miteinander um die künstlerische Legitimität konkurrierten, ergab sich eine institutionalisierte Anomie, welche noch die Möglichkeit eines letztinstanzlichen Urteils beseitigte und die Künstler einem endlosen Kampf um eine Konsekrationsmacht auslieferte, die nur noch im Kampf selbst und durch ihn erworben und bestätigt werden kann.“65

Diese Anstrengung ist unmittelbar mit dem irrationalen Moment einer durch den Kapitalismus hervorgebrachten Lebensführung verbunden, die Max Weber als „rastloses Jagen“ bezeichnet hatte, „welches des eigenen Besitzes niemals froh wird.“ Der „endlose Kampf“ unterstreicht ein Professionsethos, von dessen utilitaristischer Zielsetzung sich die Kunstproduzenten zwar auf das Schärfste abgrenzten, dessen Habitus sie gleichwohl zum praktizierten Glaubenssatz erhoben: Die permanente 64 Vgl. Besnard, Philippe: L’anomie, S. 102. 65 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 364. 51

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symbolische Revolution und mit ihr der Bruch mit den etablierten Formen wird zur zentralen Handlungsorientierung. Sie strukturiert die Repräsentationsmuster, die Wirklichkeitsorganisation und damit die Dynamik des Feldes der Kunstproduktion. Die Bohème ist in diesem Sinne das symbolische Pendant zur Paradoxie des marktwirtschaftlichen Berufsethos; ihre Sanktionsinstanzen jedoch, und das trennte sie von dem ökonomischen Feld ihrer Zeit, waren polyvalent, disparat und dezentral verortet, was ihre Wirkmächtigkeit nicht im geringsten beeinträchtigte – lag doch eben darin ihre Vorbildfunktion für anschließende kulturelle Bewegungen.66 Die Beziehung zwischen den allgemeinen Normgeltungen des marktwirtschaftlichen Professionsethos und seiner spezifischen Performanz durch bestimmte soziale Gruppen beschäftigte auch den zweiten Anomie-Theoretiker, Robert K. Merton. Prinzipiell unterschied Merton zwei Elemente zur Erklärung von Anomie. Das eine zielte auf die intentionale Ebene der Interessen und Zielvorstellungen, die durch eine Gesellschaft formuliert werden. Sie sind innerhalb dessen, was Merton „kulturelle Struktur“ nannte, in eine Wertehierarchie eingebettet und haben eine modellhafte Orientierungsfunktion. Das zweite Element, das er ebenfalls innerhalb der sogenannten „kulturellen Struktur“ ansiedelte, bezeichnet die Mechanismen, die über die Legitimität der Mittel entscheiden, die für das Erreichen jener Ziele eingesetzt werden. Vereinfachend fasste Niklas Luhmann zusammen: „Strukturen in sozialen Systemen [müssen] Wertwidersprüche verkraften [...]. Es gibt latente Strukturen, ich würde sagen, Paradoxien oder Antinomien, die sich als ‚Anomie‘, das ist Mertons Ausdruck, auswirken.“67 Luhmanns etwas hilfloser Erklärungsversuch deutet an, wie unklar Mertons Analyse der Beziehung zwischen kultureller Struktur und Sozialstruktur ist. Dies hängt auch damit zusammen, dass Mertons kultureller Strukturbegriff einen starken ordnungsleitenden Funktionalismus des „Kulturellen“ behauptet, den Merton jedoch methodisch nicht einlöst. Der eigentliche „Clou“ an der Anomie-Theorie Mertons liegt dagegen in der Umwandlung von Legitimitätsdeutungen, die aus der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichuniversalistisch vorgeschriebenen Sollgeltungen und ihren strukturell und individuell ungleichen Erfüllungsmöglichkeiten hervorgeht. Das sich darin widerspiegelnde funktionale Gefälle zwischen dem Versprechen auf Partizipation an gesellschaftlicher Anerkennung und Erfolgschancen und den davon faktisch abweichenden Zugriffsmöglichkeiten wird zur allgemeinen Handlungsorientierung. Das Ergebnis ist bei Mer66 Vgl. dazu Chodzinski, Armin: Kunst und Wirtschaft. Peter Behrens, Emil Rathenau und der dm-drogerie markt. Kadmos 2007. 67 Luhmann, Niklas: „Doppelte Kontingenz, Struktur, Konflikt“, S. 336. 52

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ton gleichwohl kein soziales, sondern ein „kulturelles Chaos“.68 Doch im Gegensatz zu Durkheim thematisiert er auch die Polyvalenz und Gleichzeitigkeit verschiedener mehr oder weniger normierender Geltungsansprüche, in deren Facettenhaftigkeit sich schon neue (institutionalisierte) Normgeltungen ankündigen – an dieser Stelle ist Mertons Modell anschlussfähig an die Vergleichzeitigung von Machtansprüchen, die Bourdieu für das Feld der Kulturproduktion beschrieben hatte: „Macht mag in einer Gesellschaft für einige Gruppen legitimiert sein, sie braucht es aber nicht für alle zu sein. In einem solchen Falle sollte man Nichtübereinstimmen mit bestimmten sozialen Institutionen nicht einfach als abweichendes Verhalten betrachten; vielmehr kann dies sehr wohl das Auftreten eines neuen, alternativen Verhaltensanspruchs bedeuten, der seine eigene moralische Geltung fordert.“69

Hier können die ursprünglich gegensätzlichen Anomiebegriffe von Guyau und Durkheim in eine Idee der Anomie als Freiheit von vereinheitlichenden Regeln gewendet werden, die im Sinne einer „Loslösung von oder Entwurzelung aus einem bisher als verbindlich und maßgeblich erachteten normativen Regelsystem“70 spezifische Praktiken mobilisiert. Das von Merton beobachtete Phänomen der Überlappung von Anomie und projektierter Transformation ist sowohl anschlussfähig an die vorangestellten Einsichten in das Feld der Kunstproduktion als auch an die dynamische Ausrichtung einer performativ ausgerichteten Institutionentheorie des Imaginären, deren ebenso fiktionaler wie praktischer Charakter nicht nur Abweichung, sondern auch gesellschaftliche Transformation antizipiert. Damit ist das breite Interpretationsspektrum von Anomie in den Sozialtheorien des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts in groben Zügen ausgemacht; offen bleibt angesichts der extrem divergierenden Definitionen nun jedoch, unter welchen Umständen Anomie je einen regressiven Prozess der Marginalisierung und des Scheiterns auslöst oder aber gesellschaftliche Anerkennung erfährt – und damit aufhört, Anomie zu sein. Im zweiten Fall, der uns hier vornehmlich interessiert, waren an der Bohème spezifische Vergesellschaftungsformen zu beobachten, deren anomischer Anteil schließlich durch die Evidenz seiner 68 Vgl. Merton, Robert: „Social structure and anomie“, S. 137. In ihrem „Exkurs 2. Notiz über die Begriffe ‚soziale Struktur‘ und ‚Anomie‘“ kritisieren die Autoren von „Etablierte und Außenseiter“ – Norbert Elias und John L. Scotson – diesen Schluss zu Recht. Vgl. Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, S. 273. 69 Merton, Robert K.: „Sozialstruktur und Anomie“, S. 284 70 Ortmann, Rüdiger: Abweichendes Verhalten und Anomie, S. 615. 53

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Transformationsgewalt einen positiven Deutungswandel erfährt: Anomie wird zur Utopie und schafft auf dieser Grundlage die Bedingungen zu ihrer symbolischen Instituierung. Auf dieser zunächst imaginären Basis sind praktische Gesellschaftstransformationen möglich. Aus Sicht des griechisch-französischen Institutionentheoretikers Cornelius Castoriadis sind moderne Gesellschaften maßgeblich durch die Verknüpfung von Anomie (bei ihm Ergebnis einer Aufspaltung zwischen Rationalem und Pseudo-Rationalem: Antinomie) und dem „gesellschaftlichen Imaginären“ geprägt: „Gerade weil [das moderne gesellschaftliche Imaginäre, T.B.] seine Substanz dem Rationalen, einem Moment des Rationalen entnimmt und es damit in Pseudo-Rationales verwandelt, ist darin eine radikale Antinomie enthalten, die es in die Krise stürzt und verschleißt. Eben deshalb birgt die moderne Gesellschaft aber auch die ‚objektive‘ Möglichkeit einer Transformation der Rolle in sich, die das Imaginäre in der bisherigen Geschichte gespielt hat.“71

1.2.2 Utopie und Institution Prozessualität, Transformation und Verstetigung bilden die vielfältigen Komponenten soziologischer Institutionentheorien. Schon die semantische Doppeldeutigkeit des Institutionenbegriffes selbst unterstreicht dessen symbolischen Charakter, wie Karl-Siegbert Rehberg ausführt: „Daraus ergibt sich […] die Entgegensetzung zwischen einer fixierten, tendenziell erstarrten Ordnung […] einerseits und der Dynamik des Charisma, der Rebellion, der ihre Autonomiespielräume behauptenden Persönlichkeit andererseits.“72 Institutionen werden von Rehberg als symbolische Ordnungen begriffen und erfassen damit auch projektierende Handlungsformen. Hinsichtlich der hier interessierenden Frage, wie es dazu kommt, dass abweichende Praktiken der symbolischen Wirklichkeitsorganisation sich vergesellschaften und verstetigen, unterscheidet Rehberg zwischen der Proto-Ebene der ‚Instituierung‘ (Castoriadis) und ‚Institutionalität‘. Für Zweitere werden anthropologische Voraussetzungen dieser Vergesellschaftungsprozesse mit einer „analytische[n], sozusagen konstruktivistischen Perspektive“ verknüpft.73 Die anthropologischen Grundlagen basieren dabei im Kern auf der Institutionentheorie Arnold Gehlens, gehen jedoch hinsichtlich der Frage des sozialen Wandels durch instituierende Praktiken etwas weiter als dieser. Gleichwohl, 71 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 274. 72 Rehberg, Karl-Siegbert: „Weltrepräsentanz und Verkörperung“, S. 12. 73 Vgl.: Rehberg, Karl-Siegbert: Die stabilisierende „Fiktionalität“ von Präsenz und Dauer, S. 386 ff. 54

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und das unterscheidet diesen Ansatz von dem „Anti-Strukturalisten“ Castoriadis’, werden Institutionen bei aller zugestandenen inneren Dynamik vor allem als ordnungsleistende Mechanismen betrachtet. Abweichung muss sich früher oder später mit dieser Sollgeltung abfinden und wird nicht prinzipiell als schöpferisches, instituierendes Phänomen untersucht – was eine Perspektive der Emergenz sozialer Praktiken einfordern würde, die auf Bedürfnissen beruhen, deren Artikulation jeden Ordnungsgedanken zunächst zweitrangig macht; Bedürfnisse also, die für die Herausbildung der Bohème konstitutiv waren und in die hier beschriebenen Anomie-Thesen einflossen. In Gehlens Institutionentheorie gilt eine sukzessive Reflexionsminderung als konstitutiv für die Habitualisierung des Handelns. Das erscheint auf dem ersten Blick kaum kompatibel mit der Idee von der utopischen Antizipierung einer fiktionalen Zukunft, in der Reflexion durch ein Handeln gerahmt wird, das zwar einer Ordnung entgegenstrebt, aber weder habitualisiert noch frei von Reflexion ist – es befindet sich auf der Schwelle. Mit Gehlens Institutionentheorie tritt nun ein entscheidender Vorschlag für die von Bourdieu eingeforderte „differentielle Anthropologie“ auf den Plan. In seinem Werk „Urmensch und Spätkultur“ (1956) hatte Gehlen die zentralen Prämissen seiner Institutionentheorie dargelegt. Institutionen sind Ergebnisse von Handlungen. Sie versetzen Leitideen in einen zeitkontingenten Geltungszustand. Das Bedürfnis des Menschen nach Bündelung von Handlungsmotiven korreliert mit dem Bedürfnis nach Handlungsentlastung, das durch die Institution erfüllt wird. Schon in den Riten wird deutlich, wie stark sich der anthropologisch verankerte Motivationstrieb des Menschen in der Zuspitzung auf objektive Gegenstände und Symbole konzentriert. Hier sind Urformen der Spezialisierung begründet, die schließlich zu Gewohnheiten werden und damit erste Attribute institutioneller Verankerung menschlichen Handelns tragen. Ist die Gewohnheit stabilisiert, verselbständigt und damit Selbstverständlichkeit, tritt an die Stelle seiner vorherigen Bedürfniserfüllung der Gestaltungswille hin zu weiteren, verfeinerten Handlungen. Für Gehlen ist das Phänomen der Eigenwertsättigung, also der Handlung, die sich grundsätzlich selbst genügt, das zentrale Charakteristikum für Institutionen. Er verbindet diese Eigenwertsättigung, die sich, wie ich gezeigt habe, in der institutierenden Praxis des L’art pour l’art ausdrückt, hinsichtlich der Frage des künstlerischen Produktionsprozesses mit dem bereits erwähnten Tatbestand der „stabilisierten Spannung“. Die Stabilisierung der Handlungen führt zu ihrer Habitualisierung, sie wird inkorporiert und bedarf damit nicht mehr der Reflexion. Sie werden zur „Sache“:

55

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„[Die Habitualisierung] kann sich, wie wir jetzt sehen, gegenüber der ursprünglichen Zweckbindung soweit verselbständigen, daß der Bedürfnisdruck oder das Primärinteresse überhaupt in den Hintergrund tritt. Das jetzt entlastete Verhalten gibt Raum für eine Fülle zusätzlicher Motive, die sich in ihm bewegen können, die es in eigener Ebene anreichern und künftig das auf höherer Ebene habitualisierte Verhalten ihrerseits auf dem Rücken tragen.“74

Mit der Habitualisierung beschreibt Gehlen einen ähnlichen Zustand, den Bourdieu in den Habitusbegriff projiziert; gleichwohl betont dieser die Inkorporiertheit des Sozialen stärker als die Entlastetheit von ihm und verleiht damit der Habitualisierung einen prinzipiell widersprüchlicheren und zugleich performativeren Charakter als Gehlen – der Habitus Bourdieus ist die neuralgische und höchst konfliktbeladene, geradezu nicht-entlastete Aushandlungszone zwischen Feldstruktur, allgemeiner Zweckbindung und individuellem Gestaltungswillen und damit der Ort, der den „Raum der Möglichkeiten“ – innerhalb dessen sich spezifische Sozialfiguren von dem Bestehenden abzugrenzen suchen – mit Hilfe des sens pratique erst performativ zu instituieren imstande ist. Der Habitus reproduziert nicht zwangsläufig Ordnung. Vielmehr ermöglicht er Rekurs, Anpassung, Ordnung ebenso wie Abweichung, Wandel und Transformation. Darum kann er auch als simulierte Vorhut einer noch nicht eingetretenen Gesellschaft nicht frei von Reflexion sein. Anders bei Gehlen: Durch „Motivzuwachs, Motivanreicherung und Sachanreicherung“ stabilisieren sich die habitualisierten Handlungen und führen in den Zustand der „Entlastung durch Stabilität“. Weitere Spezialisierungen und Ausdifferenzierungen sind jetzt, also innerhalb der bereits hergestellten Institution möglich. Damit ist das Verhalten auf der Ebene der „Trennung des Motivs vom Zweck“ angelangt. Die Trennung von Motiv und Zweck führt nach Gehlen zu Zweckverlagerungen, zu einer „Zwecktransformation“, so dass die Eigenwertsättigung des institutionell gebundenen Handelns zugleich Haupt- und Nebensache wird: Es wird routiniert und damit zur Oberflächenhandlung, die sich eben nicht in ihrem genuinen Zweck einlöst, sondern in ihrer Verschiebung zur „Sache“, die die nun freigesetzten Motivationsschübe stützt. Das ist der Selbstzweck der Institution: „Unser Verhalten innerhalb einer Institution, die in eine selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit umgeschlagen ist, fordert von uns, vom direkten und unmittelbaren Nutzerfolg für die eigene Person abzusehen.“75 Die Zweckmäßigkeit des Handelns liegt in der Hingabe zur Sache, für die die Institution steht und die bereits hinsichtlich des kapitalistischen Professionsethos bei Weber und 74 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 33. 75 Ebd., S. 69. 56

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der Kulturproduzenten bei Lukács thematisiert wurde. Das Absehen von einem unmittelbaren Nutzerfolg bedeutet Entlastung. Gehlen, der ähnlich wie Elias zivilisatorische Institutionalisierungsprozesse auch als sukzessive „Zähmung der Affekte“ bezeichnete, sieht in der Kunstproduktion selbst eine Versachlichung der Triebe, die er als Stabilisierungsleistung geltend macht. Die durch die Rationalisierung in die Institutionen eingegangene Zähmung der Affekthandlungen führt nach Gehlen zu einer qualitativen Aufstufung der Motivationsebene. Denn die Zähmung hält den Akteur in einer dauerhaften „Spannungshelligkeit“, die nicht den direkten Sprung in ihre Objektivierung leisten muss, andererseits aber auch nicht in ihrer Subjektivierung sich selbst genügt. Sie wird auf der Schwelle gehalten und dadurch domestizierbar. Damit reflektiert die Institution die in die habitualisierte Verhaltensstruktur eingeflossene Bedürfniserfüllung.76 Wie aber geht eine solche Bedürfniserfüllung vonstatten? Ist sie innerhalb dieses Modells nicht vor allem als ‚institutionalisierte Dauerreflexion‘ (Schelsky) denkbar – wenn also das Stadium der Ordnung selbst erreicht ist? Helmut Schelskys Institutionenverständnis baute auf einer Ordnungsperspektive auf, die die Funktionalität von Institutionen betonte. Schelsky bezeichnete Institutionen in Anlehnung an Bronislaw Malinowksi sinnfällig als „Bedürfnissynthesen“: „Das Individuum, gefasst als Bewusstseinssubjektivität, erhält seinen bestimmenden Bezug zu den Institutionen über die Tatsache, dass das subjektive Bewusstsein Schöpfer und Träger von Ideen ist.“77 Schelsky hatte dabei die bereits verstetigte Ordnung von Vergesellschaftungsprozessen im Auge, die er aus der Retrospektive untersuchte. Ähnlich wie Gehlen befasste er sich dabei mit der klassischen soziologischen Frage: Wie ist Ordnung möglich? Seine Institutionentheorie begründete sozialen Wandel aus bereits bestehen Institutionen, die je neue Bedürfnisse produzierten. Sozialer Wandel außerhalb von Institutionen ist in diesem Modell nicht vorgesehen, bzw. wird entsprechend des strukturfunktionalistischen Paradigmas von diesem direkt absorbiert. Dabei bleibt jedoch weiterhin offen, woher von gesellschaftlichen Normgeltungen abweichende Bedürfnisse kommen und was nötig ist, damit sie sich instituieren. Die Differenz zwischen Gehlen, Schelsky und Bourdieu entscheidet sich an eben dieser Stelle: Die Prädominaz der institutionellen Struktur wird in den Institutionentheorien nur dort aufgebrochen, wo abweichende Bedürfnisse in sie eingehen; auch (Zweck-)Transformationen sind innerhalb der Institution verortet, während die Feldtheorie Abweichung 76 Vgl. Ebd., S. 91. 77 Schelsky, Helmut: „Zur Theorie der Institution“, S. 17. 57

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nicht nur als konstitutiven Baustein des Feldes (auch: der Institutionen) aufgreift, sondern der Praktiken selbst betont, die ihrerseits Wandel und Transformation präskribieren, bevor sie überhaupt strukturell – also auch institutionell – einholbar sind; deutlich wird das bei Bourdieu in der Komplexität des sens pratique, der in den Habitus eingelagert ist, nicht wissend, wohin die Handlung führt, doch wissend, dass sie vollzogen werden muss. Schelsky greift diesen Aggregatzustand hingegen erst in der verstetigten Ordnung auf, indem er Gehlens institutionentheoretisch aufgeladene tension stabilisée als regulativen Charakter von Institutionen beschreibt. Ungeklärt bleibt in diesem letztlich normativen Institutionenbegriff also, was der Institutionalisierung als Ordnung vorausgeht, was den sens pratique und dessen immanenten Spannungen und Intentionen also ‚instituiert‘. In seinen anthropologischen Prämissen der Kulturhaftigkeit des Menschen galt Gehlen hier das ideative Bewusstsein als notwendige Voraussetzung, die dem Menschen erst Selbstverortung ermöglicht – dieses Bewusstsein verstand er als transzendent in dem Sinne, dass es über die Evidenz der Norm hinausgreift. In „dieser substantielle[n] Zweideutigkeit des unmittelbaren, nicht normenunterworfenen Lebens“78 knüpfte er an die Inkommensurabilität an, mit der Bergson bereits den Schöpfungsprozess der Erfindung als „radikales Werden“ beschrieben hatte. Diese vitalistisch-lebensphilosophische Perspektive nahm bei dem politisch utopiefernen Gehlen durchaus utopistische Züge an, wie seine Definition der idée directrice, der Leitidee zeigt: „Eine idée directrice muß anschaulich symbolisierbar sein, in Handlungen entwickelbar, sie muß teil-indeterminiert sein und nur im sozialen Zusammenhang evident, ‚subjektiv‘ gar nicht echt nachvollziehbar. Und sie muß einen ‚Endgültigkeitston haben, also einen reellen oder auch nur ersehnten Stabilisierungseffekt.“79

Damit ist zwar noch nichts über die sozialen Normgeltungen gesagt, die jener idée directrice zugrunde liegen, doch der Zusammenhang zwischen ihrem utopischen Charakter und ihrem instituierenden Impuls ist deutlich. Der instituierende Impuls der Anomie kann seinerseits, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde, neue Sollgeltungen etablieren; diese sind im Feld der Kulturproduktion hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bezüglichkeit als utopistische Wirklichkeitsorganisation präsent und stellen den regressiven Status der Anomie in Frage.

78 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 301. 79 Ebd., S. 206. 58

KULTURPRODUKTION ALS VERGESELLSCHAFTUNGSPROZESS

Wie aber schlägt Anomie in Utopie um? Durch eine Verschiebung der Perspektive, die das Gegenwärtige auf Distanz setzt und Zukünftiges vorwegzunehmen sucht. Karl Mannheim bemerkte dazu: „Nur jene ‚wirklichkeitsfremde‘ Orientierung soll von uns als eine utopische angesprochen werden, die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz aufsprengt.“80 Der instituierende Charakter der Utopie im Sinne einer performativen Praxis der Abweichung findet sein mentales Gegenstück in der von Lepenies beschriebenen Handlungshemmung, die die Melancholie kennzeichnet. In seiner großen Melancholie-Studie grenzte Lepenies die Utopie in Anlehnung an Georges Sorel als „composition d’institutions imaginaires“81 nicht nur von der passiven Tristesse der Melancholie ab, sondern auch von der Reflexion und von der auf Dauer gestellten Handlung, wie sie in Arnold Gehlens Institutionentheorie verteidigt wurde – aus Lepenies’ Sicht ist die Utopie ein instituierender Impuls: „Versteht man Institutionen einfach als auf Dauer gestellte Handlungsfolgen in voraussehbaren Abläufen, so lässt sich die projektive Institutionalisierung der Utopie auch vom Zusammenhang von Reflexion und Handlungshemmung her begreifen. Utopia entsteht aus der Reflexion am Ungenügen der Welt, sie endet im Bild einer besseren, in der die Reflexion nichts mehr zu suchen hat, weil alles ‚in Ordnung‘ ist. In Utopia wird gehandelt […].“

Die konzeptuelle Deckungsgleichheit zwischen Bourdieus institutionnalisation de l’anomie und der hier thematisierten projektiven Institutierung der Utopie ist offensichtlich, wenn sie auch je anderen Zwecken dient: Während Bourdieu die innere Feldlogik der Kulturproduktion zu verdeutlichen suchte, zielt Lepenies auf den semantologisch-physiologischen Charakter einer aktiven, einer Zukunft entwerfenden Praxis. Die „traurige Wissenschaft“ des großen Institutionentheoretikers Gehlen, so Lepenies’ Kritik, blendete die subjektkonstituierenden Potentiale dieser Praxis aus, indem sie sich der Melancholie ebenso verweigerte wie der utopischen Kraft der entgrenzten Handlung. In der Utopie aber, davon ging auch Mannheim aus, scheint die Option auf Transformation zum Greifen nah, was sie gerade von der Ideologie, mit der sie fälschlicherweise häufig in eins gesetzt wird, unterscheidet: „Utopien sind auch seinstranszendent, denn auch sie geben dem Handeln eine Orientierung an Elementen, die das gleichzeitig verwirklichte Sein nicht enthält; sie sind aber nicht Ideologien, bzw. sie sind es insofern und in dem Maße 80 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, S. 169. 81 Vgl. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 191. 59

INSTITUTION UND UTOPIE

nicht, als es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren.“82

In Bezug auf die Sozialfigur des Kulturproduzenten wurde es deutlich: Anhand der bereits verstetigten sozialen Verkehrsformen lässt sich zwar rückwirkend ihre Genealogie nachvollziehen, nicht jedoch zwingend auch ihr wirklichkeitskonstituierender Kern und ihre transformierende Wirkung. Diese feine Trennung wird für die Beobachtung eines sozialen Phänomens wie der Berliner Volksbühne jedoch entscheidend sein, weil sie erst zu erklären vermag, warum eine bestimmte Praxis erfolgreich und durchsetzungsfähig ist – was wiederum erlaubt, eine spezifische gesellschaftliche Situation zu erfassen und aus ihr verallgemeinerbare Rückschlüsse ziehen zu können. Gebraucht wird ein Institutionenbegriff, der die Praxis und die Dynamik von Transformationsprozessen vor bzw. neben die Ordnung setzt. Die Frage lautet also nicht: Wie ist Ordnung möglich? Sondern: Wie ist Un-Ordnung möglich und unter welchen Bedingungen kann sie zu Ordnung werden? Cornelius Castoriadis hat die Proto-Ebene von Institutionen durch eine politische Philosophie der „Gesellschaft als imaginäre Institution“ (zuerst 1975) beschrieben. Castoriadis’ Thesen stehen denen der klassischen Institutionentheorien vor allem hinsichtlich der Frage der Bedürfniserfüllung diametral gegenüber: „[E]s gibt keinen ursprünglichen ‚Inhalt‘ des gesellschaftlichen Lebens, der sich – unabhängig von den Institutionen – in diesen ‚ausdrückte‘.“83 Die Erfindung und Befriedigung von Bedürfnissen beruht aus seiner Sicht vielmehr auf der imaginären Konstruktion und Performanz gegebener Zustände, den Castoriadis, hier Cassirer nahe, im Symbolismus verortet. Dabei greift er das Paradigma der relativen Autonomie auf, dessen Deckungsgleichheit zum MarxWort einer feinen Ironie gleicht: „Die Gesellschaft konstituiert ihren eigenen Symbolismus, doch nicht in völliger Freiheit. Er benutzt das bereits vorliegende natürliche und geschichtliche Material als Anknüpfungspunkt; schließlich hat er auch Teil am Rationalen.“84 Dessen anomische Wirkung, die sich als Pseudo-Rationales erweist, führt zu einer verstärkten Wirkmächtigkeit des Imaginären und damit der Bewusstseinsansprüche. Die symbolische Konstruktion, die an die menschliche Schöpferkraft appelliert, ist ontologisch bedingt und sie antizipiert die Wirklichkeit des menschlichen Daseins: „Jenseits der bewußten Tätigkeit der Institutionalisierung finden die Institutionen ihren Ursprung im

82 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, S. 172. 83 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 213. 84 Ebd., S. 215. 60

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gesellschaftlich Imaginären.“85 Und etwas später heißt es: „Erst das gesellschaftlich Imaginäre erklärt die Besonderheit und Einheit des Symbolischen. Erst aus dem gesellschaftlich Imaginären wird ersichtlich, an welcher Zielsetzung sich das Funktionale orientiert.“86 Das Imaginäre ist bei Castoriadis nicht per se utopistisch konnotiert; es ist vielmehr das, was die gesellschaftliche Struktur als solche erzeugt. In ihm eingelagert ist aber, wie wir oben gesehen haben, sein Deutungswandel, seine Transformation – und damit auch die Utopie. Bei aller Kritik am Strukturalismus befragt Castoriadis also die strukturelle und praktische Wirkmächtigkeit dieses Imaginären – hier kann eine Stoßrichtung festgehalten werden, die dem performativen sens pratique Bourdieus näher kommt als die Gehlensche Habitualisierung, die auf Ordnung angelegt ist: die Funktion des Imaginären beim Ersteren entspricht der Funktion des in den Habitus eingelassenen sens pratique beim Zweiten – wobei das Imaginäre sich jedem „Funktionalismus“ entschieden verweigert, es beruht auf zunächst intentionsfreien Bedürfnissen und bringt selbst neue Bedürfnisse hervor. Die methodische Parallele zwischen Bourdieus symbolischer Ethnographie des Feldes und Castoriadis’ imaginärer Institution ist unübersehbar. Sie wird in Castoriadis’ Anmerkungen zur Wirklichkeit des sozialen Feldes und seiner geschichtlichen Aufgeladenheit unterstrichen: „Daß wir in der menschlichen Welt auf etwas treffen, das zugleich weniger und mehr ist als eine ‚Substanz‘ – Individuen, Subjekte, Für-sich-Sein – , darf in unseren Augen die Wirklichkeit des ‚Feldes‘ nicht mindern.“87 Joas/Knöbl fassen pointiert zusammen: „Anstatt unsinnigerweise zu versuchen, Institutionen auf ‚gegebene‘ Bedürfnisse zurückzuführen, muß es Castoriadis zufolge Aufgabe der Sozialwissenschaften sein zu untersuchen, wie Bedürfnisse kulturell bzw. gesellschaftlich definiert und welche Institutionen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse geschaffen werden.“88 Eben in dieser deduktiven Stoßrichtung lag auch das feldtheoretische Forschungsinteresse Bourdieus begründet. Beide Positionen zusammengedacht bedeutet dies: Das Imaginäre und der sens pratique (Habitus) konstituieren und strukturieren je das symbolische Soziale (bzw. das Imaginäre) und werden zugleich durch das symbolische Soziale strukturiert.89 Diese Wechselwirkung bestimmt 85 86 87 88

Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 248. Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang: „Französische Anti-Strukturalisten“. In dies.: Sozialtheorie, S. 564. 89 Bourdieu spricht vom Habitus von einer „structure structurante structurée“; Castoriadis bemerkt zur imaginären Vorstellung: „[Sie] strukturiert 61

INSTITUTION UND UTOPIE

den Kern gesellschaftlicher Wirklichkeitsorganisation. Dabei bleibt der Charakter des Habitus grundsätzlich kontingent, denn er bewegt sich in einem imaginierten, aus Bedürfnissen hervorgetriebenen Möglichkeitsraum, der vom Status Quo ausgeht, diesen jedoch zugleich modifiziert. Das Ergebnis ist hier aber offen – die Performanz des Gegebenen kann nunmehr zu einer Instituierung führen, die Ordnung und Nicht-Ordnung im Sinne von Abweichung und utopischen Denkens optional vakant lässt – das entspricht einer ‚Ontologie des Unbestimmten‘ (Joas/Knöbl). Ohne nun die Utopie beim Wort zu nehmen, findet sie auch Einlass in das imaginäre System Castoriadis’: „Ohne ein produktives, schöpferisches oder – wie wir es genannt haben – radikales Imaginäres, wie es sich in der untrennbaren Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder möglich noch begreifbar.“90 Basiert dieses Bedeutungsuniversum auf einer anomischen Krisensituation, kann sie, utopistisch aufgeladen, in der Tat immanente Gegensatzspannungen projektiv artikulieren. Es ist dieser Zustand, den Ernst Bloch in „Geist der Utopie“ (1923/1964) als Durchgangsstadium der philosophischen Erkenntnis beschrieben hatte: „[Die philosophische Erkenntnis, die hier gemeint ist, T.B.] [i]st Tun des großen Werks, des Lebenswassers, des Erlösungsworts; magischer Idealismus aus Gründen des im Haupt aller Dinge wartenden Wahrtraums, der unkonstruierbaren Frage, ihres Dings an sich: dass dieses also ist, was noch nicht ist, was letzte Zukunft, endlich echte Gegenwart ist, sich in Existenz befindliches Selbstproblem, noch unbekannte, unfertige Utopie.“91

Doch sowohl Bloch als auch Castoriadis und Bourdieu unterschätzten den Tatbestand, dass das Imaginäre (hier: als Utopie) und der Habitus ein konstitutives Verbindungsglied benötigen, das die notwendige Entladung dieser Spannung ermöglicht. Gehlen suchte dieses im Ritual und in der Darstellung.92 Ich sehe es in der performativen Praxis. Das Performative ist Erika Fischer-Lichte zufolge im Anschluss an Helmuth Plessner die anthropologische Konstruktion der Abständigkeit des Menschen von sich selbst, die, zugleich symbolische Praxis wie geistigphysiologischer Vorgang, darauf abzielt, symbolische Grenzen in

und ist strukturiert.“ Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 245. 90 Ebd., S. 251. 91 Bloch, Ernst: Geist der Utopie, S. 255ff. 92 Vgl. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 139ff. 62

KULTURPRODUKTION ALS VERGESELLSCHAFTUNGSPROZESS

Schwellen zu verwandeln.93 Daraus lässt sich eine Parallele zu Gehlens idée directrice ziehen, die sich bei ihm in der Darstellung und im Ritus manifestierte: So wie der Ritus institutionalisierend wirkt und institutionell ermöglicht wird, aktualisiert das Performative symbolische Transzendenzleistungen und wird durch spezifische Ordnungen – etwa in der Theaterinstitution – manifest. Im bewussten performativen Akt, der durch den unbewussten Habitus ermöglicht wird, wird so das Imaginäre zu einer sozialen Handlung. Als liminale und vorausgreifende Praxis, oder, um im Bilde zu bleiben, als Transmitter stellt das Performative gleichwohl die Gehlensche Domestizierbarkeit der ‚Spannungshelligkeit‘ in Frage, weil die Transformationen, die durch die Spannungsentladung ausgelöst werden, ja gerade die Existenz sozialer, politischer und symbolischer Grenzen zum Thema machen. Auf diese Weise wird das Imaginäre durch spezifische Praktiken konkretisiert, die ihrerseits emergente Phänomene erzeugen. Deren institutioneller Status bleibt während ihres Hervortretens ungewiss und muss es bleiben; sie können jedoch potentiell Abweichung, Utopie und schließlich Transformation auslösen, die durch das Imaginäre zunächst fiktional antizipiert worden war. Dessen Umdeutung zu einer Triebkraft, die in den Utopiegedanken mündet, beschreibt Schweppenhäuser: „Soweit die Sozialutopien dieses Potential aufnehmen, vermögen sie die zeitliche Aktualität der etablierten sozialen Gebilde der eigenen essentiellen Inaktualität zu überführen. Wegen ihres Tendenzsinnes haben sie oft größere Realität als die harten politischen Gefüge in der Wirklichkeit, die gerade durch ihre Unübersteiglichkeit irreal werden und zerbrechen.“94

1.2.3 Von der Wissenschaft zur Wirklichkeit Erst die konkrete, d.h. fallbezogene Untersuchung der Genese einer spezifischen Praxis erlaubt es, die sie antreibenden gesellschaftlichen Desiderate als wirklichkeitskonstituierend zu sichern und ihre kulturellen Folgen zu durchdringen. Ein tieferes Verständnis für „das Kulturelle“ erfordert gleichwohl die Bereitschaft, dessen historiographische, politische und ästhetische Merkmale zu beobachten und die damit verbundenen Diskontinuitäten sowie ko-evolutiven Entwicklungen in das Gesichtsfeld der soziologischen Forschung zu rücken. Dies gilt grundsätzlich und erst recht, wenn es sich, wie bei der Berliner Volksbühne um ein aus zwei verschiedenen politischen und kulturellen Systemen zusammenge93 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 359. 94 Schweppenhäuser, Hermann: „Reale Vergesellschaftung und soziale Utopie“, S. 172. 63

INSTITUTION UND UTOPIE

fügtes soziales Phänomen handelt. Ausgehend von der dargestellten Wechselbeziehung zwischen Anomie, Utopie und Institution bietet es sich dabei an, die Kategorie des Feldes als dynamische Figuration (im Sinne eines ethnographischen „Geschehens“), mit einem dynamischen Institutionenbegriff zu kombinieren und gleichsam in das Zentrum der Untersuchung zu stellen. Die hier dargelegten Einsichten legen nun zusammenfassend folgenden Schluss nahe: Die gesellschaftlich imaginäre Institution drückt die interdependente Dynamik zwischen Repräsentationsmustern (als mehr oder minder starke normative Orientierungspunkte) und spezifischen Wirklichkeitsorganisationen aus. Die mit diesen Wirklichkeitsorganisationen verbundenen und zugleich von ihnen abweichenden Praxisfelder können nunmehr entlang ihrer utopischen Stoßrichtung instituiert werden und sich eben dadurch in einen fait social verwandeln, der seinerseits weitere Vergesellschaftungsprozesse auslöst. Dies konnte nicht nur bei der französischen Bohème beobachtet werden, sondern gilt auch für spätere Sozialformationen. Anomie, Utopie und Institution sollten im zwanzigsten Jahrhundert auf eine Weise in ein Verhältnis gesetzt werden, das den beschriebenen Tatbeständen zunächst wenig zu ähneln schien. Und doch erfuhren diese Orientierungspunkte gerade dort eine bis dahin ungekannte Zuspitzung, wo die ihnen zugrundeliegenden Bedürfnisse mit einer regelrechten Bedürfnisproduktion konfrontiert wurden – die Rede ist von der Produktion und der Verstetigung der Utopiesehnsucht, die der Staatssozialismus repräsentiert hat. Die Existenz und der Untergang der Sowjetunion und der DDR hat gezeigt, wie die von Schweppenhäuser beschriebenen harten politischen Gefüge irreal werden und zerbrechen können. Der Weg „von der Utopie zur Wissenschaft“ (Friedrich Engels) brachte lange vor, doch mehr noch mit seinem Ende einen Utopieverlust mit sich, dessen Folgen noch heute gegenwärtig sind. Selbst die schier unübersteigliche, zur reinen Ideologie geronnene Utopie enthält eben immer noch einen Rest Utopie, schon weil sie ohne diese nichts wäre – was umgekehrt nicht genauso zutrifft. Friedrich Dieckmann stellte 1990 zu Ernst Blochs Wirken in der DDR fest: „Daß der Weg von der Utopie zur Wirklichkeit statt zur Wissenschaft eine Philosophie der Hoffnung auf die Dauer weder politisch noch ideologisch ertragen konnte, ist plausibel; insofern war Blochs Leipziger Wirken selbst ein Stück konkret gewordener Utopie – ein wirkliches Wunder und begrenzt wie ein solches.“95 Der instituierende und antizipierende Charakter der Utopie kann noch in der erstarrtesten Form

95 Dieckmann, Friedrich: „In der Utopie bestehen“. In ders.: Vom Einbringen, S. 69. 64

KULTURPRODUKTION ALS VERGESELLSCHAFTUNGSPROZESS

Wirklichkeiten konstituieren; ihre Wirkmächtigkeit ist kaum geringer als die des Diktats der Innovation. Entscheidend hierfür ist die Praxis. Mannheim bemerkte: „Für uns gelten als Utopien alle jene seinstranszendenten Vorstellungen […], die irgendwann transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirkten.“96 Das Imperfektum sollte warnen: Die Utopie ist hier ebenso retrospektiv zum fait accompli vereinseitigt wie die Auf-Dauer-Stellung der tension stabilisée in den klassischen Institutionentheorien – was den Verdacht nahe legt, dass sie vor Missbrauch geschützt werden soll. So bleibt die Utopie nicht frei vom Ideologieverdacht – und dies gilt nicht nur für die Vergangenheit. Die Betrachtung eines spezifischen sozialen Feldes und seiner inneren Felddynamik sollte gleichwohl vor allzu modischen und leicht zu habenden Schlussfolgerungen schützen, die sich durch jene historische Hypothek aufzudrängen scheinen; die Bedeutung der relativen Autonomie außer Acht zu lassen ist ein zeitgeschichtlicher und methodischer Fehler, der nicht wiederholt werden muss, wenn der Gefahr eines strukturlastigen Soziologismus ebenso getrotzt werden will wie der Rede von einer gesellschaftsfernen ästhetischen Produktionspraxis. Dies bedeutete zudem eine glatte Verkennung einer Institution wie der Volksbühne, in der sich die von Schelsky hervorgehobene soziale Bedürfnissynthese beispielhaft ausdrückt. Weniger von ihrem Ergebnis als von den konstitutiven Entstehungsbedingungen jener Bedürfnisse ausgehend, wird die relative Autonomie dieser Bedürfnisse durch die Handlung, die (Kultur-)Produktion offenbar. Als „Bedürfnisproduktion“ fasst Lepenies diesen Gedanken in seiner Schrift über die „Soziologische Anthropologie“ (1972/1977) auf: „In der ‚Deutschen Ideologie‘ haben Marx und Engels auf ein, auch anthropologisch, entscheidendes Moment menschlicher Geschichte, die Bedürfnisproduktion, hingewiesen. In glücklicher Weise faßt dieser Begriff Anthropologie (Bedürfnis) und Geschichte (Produktion) zusammen.“97 Für eine historische Anthropologie plädierend, bemerkt er an anderer Stelle: „Eine solche Fragestellung verweist auf das Desiderat einer Geschichte der Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Veränderung der Produktivkräfte.“98 Ohne die Künste zu meinen, spricht Lepenies damit doch eben diese an, nimmt man seine Forderung, die Veränderung der Produktivkräfte zu studieren zum Anlass, über die strukturellen Veränderungen nachzudenken, die der Staatssozialismus für das künstlerische Professionsethos bewirkt hat.

96 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, S. 179. 97 Lepenies, Wolf: Soziologische Anthropologie, S. 30. 98 Ebd., S. 38. 65

INSTITUTION UND UTOPIE

Die Volksbühne ist ein Produkt dieser Veränderungen. Ihre Protagonisten instituierten im Berliner Stadtraum eine ebenso abweichende wie utopistische „Bedürfnisproduktion“, die ihre Wurzeln sowohl in dem Erbe der französischen Bohème-Kultur als auch in der DDR hatte. Die Existenz und das Ende des Staatssozialismus bildete das Fundament für die sozio-symbolische Praxis in dem Theater am Rosa-LuxemburgPlatz. Inmitten des hauptstädtischen Kulturraumes wurde hier eine institutionenspezifische idée directrice etabliert, die sich auf den Zusammenbruch der DDR und dem bei ihren Bürgern verinnerlichten Fortbestehen seiner kulturellen Wirklichkeit bezog. Um zu verstehen, welche Bedürfnisse die Volksbühne-Ost unter diesen Umständen zu transformieren verstand, ist es hilfreich, der deutsch-deutschen Vereinigung aus der Perspektive des staatssozialistischen Kulturrahmens zu begegnen. Anders gesagt: Es ist nun an der Zeit, von der Wissenschaft zur Wirklichkeit zu kommen.

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2. D E R S T A AT S S O Z I AL I S T I S C H E K U L T U R R AH M E N : O F F I Z I E L L E U N D INOFFIZIELLE WIRKLICHKEITEN

„Die Ostdeutschen als Avantgarde“ – der Titel von Wolfgang Englers Buch trifft wohl auf kaum ein Phänomen der Nach-Wende-Zeit so sehr zu wie auf die Volksbühne. Denn wo sonst konnten sich Handlungsorientierungen ostdeutscher Provenienz so erfolgreich durchsetzen und sogar zu einem echten Kassenschlager werden? Schließlich konnte auch die „Ostalgie“-Welle nicht darüber hinweg täuschen, dass die Abwicklung der DDR unter Federführung der politischen Elite Westdeutschlands die Delegitimation der gesamten staatssozialistischen Lebensführung und ihrer Kultur zum Ziel hatte und dies auch weitgehend erreicht hat. Die Künste, allen voran das Theater, bildeten hier die einzig sichtbare Ausnahme. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Deutsche Demokratische Republik in doppelter Hinsicht ein „Kunststaat“ war. Ihre künstliche Errichtung nach dem Zweiten Weltkrieg war zugleich von Beginn an durch die Protegierung der Künste selbst geprägt. Die Künste nahmen einen herausragenden Status innerhalb des Staatsgefüges ein, das den Kunstproduzenten eine hervorragende Ausbildung und eine privilegierte Stellung ermöglichte. Die sozialistische Regierung brauchte und schätzte „ihre“ Künstler, deren Streben nach Eigengeltung den Zielen des Kommunismus untergeordnet werden sollte. Die symbolischen Wechselwirkungen zwischen Utopie und Institution wurden nirgendwo so betont wie im Staatssozialismus, und die mit ihnen einhergehende Bedürfnisproduktion prägte das Professionsethos der Kulturschaffenden auf eine bis dahin ungekannte Weise. 67

INSTITUTION UND UTOPIE

Die Autonomie des Feldes der Kulturproduktion, zu deren Begründung die künstlerisch-literarische Bohème der Moderne einst angetreten war, hatte in dem Gesamtentwurf der sozialistischen Gesellschaft allerdings keinen Platz. Die Grundlagen der Bedürfnisproduktion, die für die westliche Hemisphäre galten, wurden durch ein umfassendes Gesellschaftsmodell ersetzt, das sich als antagonistischer Gegenentwurf zur westlichen Kultur verstand. Die staatliche Auftragskunst im Staatssozialismus hob die Autonomie des Feldes der Kunst und damit auch die Autonomie der Künstler faktisch auf. Das bedeutete freilich nicht, dass damit auch die Autonomieansprüche der Kulturproduzenten obsolet wurden. Die Aufhebung der Arbeitsteilung galt in der Planwirtschaft zwar als noch nicht eingelöst, doch als offizielles Ziel, als dessen Etappe der Staatssozialismus sich selbst ernannte; folglich war die damit verbundene Orientierung nach der Verbindung von Arbeit und Leben nicht allein der Vorstellungskraft der Kulturproduzenten vorbehalten, sondern sollte für die gesamten Bürger gelten. In diesem gesellschaftlich Imaginären, das durch die logistische Verschmelzung von Staat, Klassen und Produktionsformen flächendeckend institutionalisiert wurde, wurden die Tätigkeiten der Intelligenz durch ein festes Rahmenwerk aus staatspolitischen Organisationen überformt. Im „Vorstadium zum Kommunismus“ blieb die Intelligenz Teil des privilegierten Überbaus, die ihre Stellung gleichwohl durch ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Sozialen wettzumachen hatte. Nicht mehr die Weiterentwicklung der Künste als Selbstzweck, sondern ihre Wirkmächtigkeit als VorBild für den gesellschaftlichen Fortschritt, d.h. ihr pädagogischer Effekt stand im Zentrum der offiziellen Professionsideologie. Sie maß dem Kunstproduzenten eine immense Bedeutung für die symbolische Repräsentation der kommunistischen Idee zu. Dies hatte weitreichende Konsequenzen für die Produktionsbedingungen und damit für die ‚Bedürfnisproduktion‘. Die tradierten Dichotomien der Moderne (Autonomie versus Auftragskunst) und das damit zusammenhängende Professionsethos der künstlerischen Zunft besaßen im offiziellen Kulturleben der Ostblockstaaten keine Gültigkeit mehr. Die Programmatik staatssozialistischer Kunst zielte auf die langfristige Auflösung der künstlerischen Elite zugunsten einer Popularisierung der Künste. Die Parole „Kunst für alle“ wurde zugleich von einem allgegenwärtigen bürokratischen und institutionellen Apparat getragen, dessen strenge Definitionsmacht nur schwerlich zu unterlaufen war. Dieser nomos innerhalb des Feldes der Kulturproduktion – und damit auch innerhalb des Theaterfeldes – war somit nicht nur ein institutionellinformeller, sondern vor allem ein ethisch-politischer. Darin glich er formal dem Akademismus der Vormoderne, gegen den die Künstler 68

DER STAATSSOZIALISTISCHE KULTURRAHMEN

einst opponiert hatten und der bis zur russischen Oktoberrevolution allgemein als überwunden galt. Die Wiedereinführung des staatlichen Auftragsmodells – aus westlicher Sicht ein historischer Rückschritt hinsichtlich seiner institutionellen Organisationsstruktur – war gleichwohl mit einem emanzipatorischen politischen Projekt verbunden. Schon deshalb wurden die Künste im Vergleich zum Westen, glaubt man den Äußerungen vieler DDR-Künstler, wesentlich ernster genommen. Sie waren nie von ihren gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu trennen. Wolfhart Henckmann fasst die Situation zusammen: „Das Verhältnis zwischen Theorie, gesellschaftlicher und künstlerischer Praxis wird ganz in den Dienst des Aufbaus des Sozialismus gestellt.“1 Offiziell zumindest hatte L’art pour l’art hier ausgespielt. Ich befasse mich in diesem Abschnitt mit dem staatssozialistischen Kulturrahmen. Der Schwerpunkt wird auf eine Verknüpfung zeitgeschichtlicher Elemente mit den widerstreitenden Positionen der frühen russischen Avantgarde und der marxistischen Ästhetik Georg Lukács gelegt. Dem Anspruch, eine umfassende Analyse der Kultur des Staatssozialismus abzugeben, werde ich nicht genügen können. Vielmehr geht es mir darum, spezifische Repräsentationsmuster und besonders markante Formen der Wirklichkeitsorganisation in der russischen und ostdeutschen Kulturproduktion herauszuarbeiten, die ein entsprechendes Professionsethos kennzeichneten. Leitend sind dabei folgende Fragen: Wie unterschieden sich die kulturellen Leitbilder von dem der frühen Moderne und vom Westen? Welche Folgen hatte die Auflösung der künstlerischen Feldautonomie für die Praxis? Welche Reibungen ergaben sich daraus? Was bedeutet das für die Felddynamik innerhalb des Kunst- und Theaterfeldes in denen sich, in unterschiedlichem Maße, die beiden heutigen Köpfe der Berliner Volksbühne, Frank Castorf (Intendant) und Bert Neumann (Chefbühnenbildner), in den 19970er und 1980er Jahren bewegten? Bert Neumann, ausgebildeter Szenograph, war in den Jahren vor der Wende freier Künstler. Frank Castorf hatte bereits als Regisseur eine bedeutende Position in der DDR. Aus der DDR-Herkunft und den starken Ost-Bezügen, die in der Volksbühne etabliert wurden, können auf der Basis der theoretischen Rahmung dieser Studie nunmehr zwei Hypothesen formuliert werden, die als Ausgangspunkte für die Erforschung der sozialen Bedeutung dieses Kulturhauses dienen sollen. Die erste Hypothese lautet, dass Castorf und Neumann in der Volksbühne die Fortschreibung eines kulturellen Substrates etabliert haben, das aus spe1

Henckmann, Wolfhart: „Zur Diskussion über Gegenstand und Aufgaben der Ästhetik besonders in den 50er Jahren“, S. 82. 69

INSTITUTION UND UTOPIE

zifischen Techniken der Aushandlung und der Abweichung besteht, die in dem staatssozialistischen Kulturrahmen ihre Ursache haben. Diese Anpassungmodi und Distinktionstechniken waren durch ein Kultursystem gerahmt und motiviert, in dem, im Gegensatz zur Moderne und zum Westen, das besondere Geschick des kompromisssuchenden Aushandlungsprozesses für die künstlerische Anerkennung entscheidender war als die Abweichung. Wenn überhaupt gelang es nur unter der Wahrung einer spezifischen äußeren Form, an das traditionelle Professionsethos des von äußeren Anforderungen weitgehend entlasteten Kulturproduzenten anzuknüpfen. Die Entlastung bestand in der offiziellen staatssozialistischen Lebenswelt nicht in der individuellen Freiheit des Einzelnen, sondern in seiner nunmehr nicht-entfremdeten Tätigkeit als Teil des sozialistischen Kollektivs; sie bestand damit aber auch nicht – um mit Boris Groys zu sprechen – in der Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche, sondern in deren institutionalisierter Verwaltung, der ritualisierten Akzeptanz der inneren Paradoxie, in der die Abweichung nur dann legitim ist, wenn sie als dialektische Konsequenz dieser Widersprüche auftritt.2 In der ‚Konsensdiktatur DDR‘ (Rehberg) war die Eigengeltung der Künstler, die gleichwohl fortbestand, nach wie vor dem scholastischen Grundprinzip des questio und disputare unterworfen, demgegenüber sie sich zu behaupten hatten. Dabei spielte der Bezug auf den von der Staatsführung propagierten gesellschaftlichen Gemeinsinn eine entscheidende Rolle – und das auch noch dann, wenn er die Form des Entzugs angenommen hat, wie dies insbesondere in den 1980er Jahren zu beobachten war. Ich nehme an, dass die Praxis der späteren Volksbühnen-Produzenten von der Suche nach Freiräumen geprägt war, die in der unterschwelligen Orientierung an der Bohème-Kultur ihr Vorbild fand. Die von ihnen bereits zu DDR-Zeiten formulierte Sehnsucht nach einer autonomen Lebensführung grundierte damit eine ästhetische Wirklichkeitsorganisation, die sich zwar von den soziokulturellen Normen der Konsensdiktatur abhob, doch nolens volens durch diese geprägt wurde. Zugespitzt formuliert: Was in der DDR als anomische Tendenz aufgefasst wurde, transzendierte gleichwohl ein imaginäres und utopistisches Bedürfnis, das sich innerhalb der engen Umklammerung des späten Staatssozialismus instituierte. Die zweite These lautet, dass der Erfolg des Hauses zu einem wichtigen Teil auf der geschickt genutzten Gelegenheit zur performativen Institutionalisierung dieses zuvor anomischen Bedürfnisses beruht, die sich gerade auf der Basis des Utopieverlustes nach 1989 produktiv verstetigen konnte. Diese Bedürfnisproduktion mündete am Rosa-Luxem2 70

Vgl. Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum, S. 36ff.

DER STAATSSOZIALISTISCHE KULTURRAHMEN

burg-Platz in Leitideen – idées directrices, die sich zusammen mit den Ansprüchen bestimmter Interessengemeinschaften aus dem Westen zu einer spezifischen Bedürfnissynthese verselbständigten. Der Bedeutungsgehalt dieser Bedürfnissynthese ist zu einem nicht unerheblichen Teil in der strukturellen Logik der Situation nach dem Mauerfall zu suchen. Ich werde diesen Thesen anhand des Prozesses der De-Autonomisierung der Kunst in der Sowjetunion und dem Prinzip der coincidentia oppositorum, für das Georg Lukács’ mit seiner marxistischen Ästhetik stand, zunächst in Hinblick auf die kulturellen Vorbilder nachgehen, an denen sich die Kunstideologie der DDR und der Ostberliner Kultur orientiert hatte. Darauf aufbauend skizziere ich das daraus resultierende künstlerische Professionsethos. Hier möchte ich den Blick insbesondere auf das Verhältnis zwischen staatsideologischem Anspruch und praktischer Wirklichkeit werfen, das die Gesellschaften im Realsozialismus nachhaltig prägte.

2.1 Das Projekt der sozialistischen Moderne a l s Av a n t g a r d e Die russische Oktoberrevolution von 1917 und die Gründung des Staatssozialismus hatten die Rahmenbedingungen für den großangelegten Versuch geschaffen, dem bürgerlichen Idealismus ein grundlegend neues kulturelles Selbstverständnis entgegenzusetzen. Erstmals in der Geschichte sollte die Kunst zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Jeder sollte an Kunst partizipieren können, sie verstehen, mit ihr Umgang haben, sie herstellen können. Nicht mehr eine Elite individualisierter Einzelgänger, sondern die Arbeiter-Avantgarde und das Kollektiv sollten in der Kunstproduktion dafür sorgen, dass die Kunst nicht mehr nur Teil eines privilegierten Überbaus, sondern ein Element der gesamten Gesellschaft würde. Ein ehrgeiziges Projekt, das mit einem Schlag den gesamten Kulturkanon der westlichen Moderne überwinden und zugleich die permanente symbolische Revolution durch die kulturellen Vorteile der realpolitischen Revolution ersetzen wollte. Auch L’art pour l’art sollte zur Geschichte werden, ganz so wie Karl Marx und Friedrich Engels es prophezeit hatten: „Bei einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft fällt jedenfalls fort die Subsumtion des Künstlers unter die lokale und nationale Borniertheit, die rein aus der Teilung der Arbeit hervorgeht, und die Subsumtion des Individuums unter diese bestimmte Kunst, so daß es ausschließlich Maler, Bildhauer 71

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usw. ist und schon der Name die Borniertheit seiner geschäftlichen Entwicklung und seine Abhängigkeit von der Teilung der Arbeit hinlänglich ausdrückt. In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen.“3

Dass die Sowjetunion nicht den Kommunismus, sondern eine Etappe auf dem Weg zu ihm darstellte, wird an der Differenz zwischen diesem Anspruch und der staatssozialistischen Realität deutlich: Abgesehen von den (zum Teil sehr erfolgreichen) Versuchen, die breite Bevölkerung und vor allem die Arbeiter für die Kunst zu interessieren, blieben die „echten Maler“ Maler, doch sie repräsentierten ein anderes Professionsethos als ihre westlichen Kollegen. Für sie galten die symbolischen Kapitalien, auf deren grenzüberschreitender Akkumulationslogik das westliche Feld der Kulturproduktion beruhte, nun als Einsätze einer veralteten, namentlich der bürgerlichen Kultur des Individualismus, die mit den neuen sozialen Strukturen abgeschafft werden sollte. Dies hatte weitreichende Konsequenzen für das Feld der Kulturproduktion der Sowjetunion: Das künstlerische Selbstverständnis der Moderne wurde zugunsten eines gesellschaftlichen Auftragsmodells abgelöst, das an den Leitideen der „sozialistischen Moderne“ orientiert war. Diese Ablösung geschah nicht ohne Kämpfe. Denn die russische Oktoberrevolution fiel zeitgleich mit einem europaweiten Aufschwung utopistischer Kunstbewegungen zusammen, die ebenfalls den Anspruch vertraten, die neue, schnelle Zeit in ästhetische Formen zu übersetzen, die Kunst und Leben zusammenführen sollten. Der Symbolismus, der Futurismus und Dada, die Kubisten, die Konstruktivisten und die Surrealisten suchten gerade nach dem Schock des Ersten Weltkrieges nach Ausdrucksmitteln, die sich ein für alle mal vom bürgerlichen Idealismus verabschieden sollten. Vor allem in Russland gewannen diese Bewegungen große Bedeutung innerhalb der Kulturproduktion – insbesondere in der bildenden Kunst, im Film und am Theater. Für die neue kommunistische Regierung stellte sich damit das Problem konkurrierender Geltungsansprüche. Denn die Kunstlinke bezog ihre Orientierungen aus den Avantgardebewegungen der kapitalistischen Moderne und beanspruchte damit auch einen Autonomieanspruch hinsichtlich ihrer eigenen Produktionsformen. Darin lag für die kommunistischen Kulturfunktionäre jedoch die Gefahr der unübersichtlichen Freisetzung von Handlungsspielräumen, der man sich in der Phase der Staatskonsolidierung nicht aussetzen wollte.

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Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Die deutsche Ideologie“, S. 379

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Dies war die Geburtsstunde des sozialistischen Realismus. Er wurde zur zentralen ästhetischen Orientierungsinstanz, die für das gesamte Feld der russischen Kulturproduktion gelten sollte. An der neuen Kunstdoktrin sollte sich der Massengeschmack bilden und formen. Der sozialistische Realismus erlaubte es, den Fortschrittsglauben in die Handschrift der alten Meister einzuprägen. Teleologie und Musealität derart vereinend, gleich fotografischen Ansichten von der Zukunft, entfernte diese Setzung die Kunst von der komplizierten Alltagswelt und schien ihr zugleich näher zu kommen. Leo Trotzki kommentiert die Ikonisierung Stalins und seiner Funktionäre 1938 mit bissigen Worten: „Der Stil der offiziellen sowjetischen Malerei von heute heißt ‚[S]ozialistischer Realismus‘... Dieser Realismus besteht darin, die provinziellen Daguerreotypien des dritten Viertels des letzten Jahrhunderts nachzuäffen; der sozialistische Charakter besteht offensichtlich darin, mit den Mitteln einer verfälschenden Fotografie Ereignisse darzustellen, die niemals stattfanden. [...] In diesen Werken verewigen mit Feder, Pinsel oder Meißel bewaffnete Funktionäre unter der Aufsicht von Funktionären, die mit Mauserpistolen bewaffnet sind, ‚große‘ und ‚geniale‘ Führer, die in Wirklichkeit nicht einen Funken von Größe oder Genialität besitzen.“ 4

In den literarischen Zeugnissen Wladimir Majakowskis (1893-1930) aus den Jahrzehnten des widersprüchlichen, komplizierten und gefährlichen Manövrierens zwischen Ideologie und Utopie wird Trotzkis wütender Kommentar zur ironisch-klugen Karikatur. In seinem satirischen Theaterstück „Schwitzbad“ (1930) konfrontiert Majakowski eine Gruppe von Funktionären, Arbeitern und Künstlern mit einer Zeitmaschine, die sie in die Zukunft katapultieren soll. Die Genossen stehen dem Vorhaben fasziniert und zugleich zögernd gegenüber. Auf die Aufforderung der phosphoreszierenden Frau, an der Reise in die Zukunft teilzunehmen, melden sich Luschkin, Zweikin und Dreikin bereit. Die phosphoreszierende Frau ist erstaunt, dass sich diese sowohl als Arbeiter wie als Mathematiker melden, und sagt: “PHOSPHORESZIERENDE FRAU: Ich sehe, mit Ihrem beweglichen Schnellgehirn können Sie direkt zu uns kommen und bei uns arbeiten. Darauf antwortet Fahrradkin, der Sprecher der Drei: FAHRRADKIN: Das fürchten wir gerade, Genossin. Wir lassen die Maschine an und kommen selbstverständlich mit, wenn die Parteizelle uns schickt. Aber vorläufig lassen Sie uns lieber hier. Unsere Fabrik geht eben zum Dreischicht-

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In: Eagleton, Terry: „Kapitalismus und Kultur“, S. 9. 73

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system über – da interessiert man sich doch und möchte wissen, erfüllen wir den Fünfjahresplan in vier Jahren oder nicht?“5

Die russische Gesellschaft befand sich auch noch über ein Jahrzehnt nach der Revolution zwischen der Herausforderung des ökonomischen Aufbaus des Landes und der Sehnsucht nach dem schnellen Sprung in eine Zukunft, die die Konstruktivisten und die Futuristen mit ihren virtuosen Wortspielen, Theaterstücken und Kunstaktionen zum Ausdruck brachten. Konsolidierung der kommunistischen Gesellschaft oder entgrenzende Experimente – hier scheint der grundlegende Konflikt auf, der die avantgardistische Kunstlinke in ganz Europa bewegte. Der Stalinismus wird sich diesen Konflikt zunutze machen, um ihn in der Veralltäglichung eines „lebensnahen“ Kunstverständnisses aufgehen zu lassen, wie Boris Groys in Gesamtkunstwerk Stalin bemerkt: “Die Avantgarde und der [S]ozialistische Realismus, unter dem hier die Kunst der Stalinzeit verstanden wird, treffen sich [...] in der Motivation und dem Ziel, die Kunst ins Leben expandieren zu lassen, die Ganzheit der vom Eindringen der Technik zerstörten göttlichen Welt mit den Mitteln der Technik wiederherzustellen, den technischen und überhaupt den historischen Prozeß anzuhalten, die Zeit zu überwinden, in die Ewigkeit einzugehen. Die Avantgarde wie der sozialistische Realismus sehen sich in einer kompensatorischen Funktion, als Alternative zur ‚bourgeoisen individualistischen Dekadenz‘, die hilflos vor dem Zerfall des sozialen und kosmischen Ganzen steht.“6

2.1.1 Die russische Kunstlinke Die Ursprünge für einen Begriff von Kunst als Kompendium einer utopistischen Wirklichkeitsorganisation des Posthistoire lassen sich an den Texten des russischen Kunsttheoretikers und Kritikers Boris Arvatov aus den 1920er Jahren verfolgen. Arvatov (1896-1940) hat in seinen Schriften ein eindrucksvolles Zeugnis der nach-revolutionären Phase der Sowjetunion hinterlassen. Die Leitlinien der von ihm vertretenen „Produktionskunst“ wurden von einer der bedeutsamsten Strömungen nach der russischen Revolution, dem LEF (Levji front iskusstv/Linke Kunstfront), vertreten. Arvatov gehörte dem Redaktionskollektiv der gleichnamigen Zeitschrift an, die das Organ der Gruppe bildete. Der LEF war eine Gruppe avantgardistischer Künstler, die sich um 1922 um Wladimir Majakowski gebildet hatte und Futuristen, Vertreter des Proletkults und

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Majakowski, Wladimir: Schwitzbad, S. 44. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 80.

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Konstruktivisten miteinander verband. 1929 löste sich die linke Kunstfront auf. Der große Optimismus der nachrevolutionären Zeit springt dem Leser noch heute aus jeder Zeile entgegen. Eine der zentralen Zielsetzungen galt dem Kampf gegen die Degenerierung einst revolutionärer Inhalte durch hohle Phraseologie. Dies betraf auch die Ikonisierung der revolutionären Führer. So ist schon in der Lenin-Ausgabe des LEF von 1924 unter der Überschrift „Schachert nicht mit Lenin“ zu lesen: „Macht Lenin nicht zur Schablone. Druckt seine Bilder nicht auf Plakate, Wachstuch, Teller, Bierkrüge, Zigarettenetuis.“ – „Lernt bei Lenin, aber kanonisiert ihn nicht. Treibt keinen Kult mit dem Namen eines Menschen, der sein ganzes Leben gegen alle Kulte gekämpft hat.“7 Die Ablehnung der Kanonisierung und Ikonisierung begründet sich aus Sicht der Kunstlinken in dem historisch einmaligen Neuerungsprozess, den die sowjetische Gesellschaft nach der siegreichen Oktoberrevolution umsetzen sollte. Diese Sicht auf das unbestreitbar Neue teilte der LEF mit der künstlerischen Avantgarde, als dessen Vertreter Kasimir Malewitsch das Aufgehen der Kunst in das Leben forderte: „Jedes Detail der zu schaffenden geistigen Welt muss sich an einem umfassenden Gesamtplan orientieren. Es kann keine speziellen Rechte und Freiheiten für die Kunst, die Religion oder das bürgerliche Leben geben.“8 Ein solcher Gesamtplan kann nur innerhalb eines politischen Systems realisierbar sein, in dem die Künste ihre Autonomie preisgeben. Malewitsch unterschied sich vom LEF gleichwohl durch eine antiprogressive Haltung, die im schwarzen Quadrat des Suprematismus ihren radikalsten Ausdruck fand. In seiner Schrift „Über die neuen Systeme in der Malerei“ (1919) formuliert Malewitsch die Weigerung, das Primat der permanenten formalen Revolutionen in der Kunst fortzusetzen: „Alle schöpferische Kraft, sei es der Natur, des Künstlers oder auch eines beliebigen schöpferischen Menschen, liegt in der Erfindung einer Methode zur Überwindung unseres unendlichen Fortschritts.“9 Damit sucht Malewitsch einen Ort außerhalb der Kunstproduktion, an dem das Gesetz der Grenzüberschreitung – als anomisches Merkmal des künstlerischen Professionsethos im kapitalistischen Kulturrahmen – aufgehoben ist. Der Wunsch, sämtliche tradierten Gesetzesmäßigkeiten zu überwinden, drückt sich schon in der Bezeichnung seiner Strömung aus – dem Suprematismus. Der von ihr formulierte Anspruch der absoluten Zweck7 8 9

Zitiert nach Mierau, Fritz. In: Majakowski, Wladimir: Schwitzbad, S. 252 ff. Malewich, Kasimir: The Question of imitative Art. In: Essays on Art, Vol. p. 174, zitiert nach Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 22. Zitiert nach Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 20. 75

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freiheit mündet in die Gegenstandslosigkeit des künstlerischen Sujets selbst, die die „Suprematie der reinen Empfindung“ ausdrücken sollte. Diesen Anspruch teilte sie mit der Bewegung des L’art pour l’art.10 In der Sehnsucht nach der Aufhebung des Alten trifft sich die Kunstlinke mit Malewitsch, doch sie bedient sich dabei anderer Methoden. Es ist vor allem ihre vom Fortschrittsoptimismus durchdrungene Technikbegeisterung, die sie anschlussfähiger an die spätere sowjetische Staatsdoktrin machen wird. Die an den Fortschrittsglauben gekoppelte Versuchung, den historisch einmaligen Sieg der kommunistischen Bewegung mit einem gleichsam teleologischen Verständnis für die Entwicklung der Geschicke der Menschheit gleichsetzen zu können, begünstigt eine normative Wirklichkeitsorganisation. Ebenso unaufhaltsam wie die technologische Innovation, so hoffen die neuen sowjetischen Führer, müsste auch der Kommunismus im permanenten und letztlich siegreichen Kampf gegen den Kapitalismus voranschreiten. Der Fortschrittsglauben, den die Kommunisten mit dem Westen teilen, unterscheidet sich von diesem dadurch, dass die symbolische Simulation der „permanenten Revolution“ in einem Land, in dem die tatsächliche gesellschaftliche Revolution stattgefunden hat, ihren Selbstzweck erfüllt hat und damit überflüssig geworden ist. Arvatov schreibt zur Zielsetzung des LEF: „Die Bewegung des LEF [...] unterscheidet sich grundlegend von allen vorangegangenen Vorhaben durch die Methoden, mit denen nach Ansicht der russischen Produktionskünstler die Kunst in der Produktion angewandt werden muß, aber auch – und das ist besonders wichtig – durch ihre Auffassung vom Wesen des künstlerischen Schaffens und seiner Bedeutung für die Gestaltung der materiellen Kultur. [...] Weiterhin ist der LEF gegen alle Arten und Typen von Stilisierung und Nachahmung fetischisierter Formen der Vergangenheit. Der LEF ist für eine bis ins kleinste Detail zeitgemäße, urbanistische, industrielle, ‚amerikanisierte‘ Kunst. Die LEF-Künstler wollen nicht Raritäten oder Luxusgegenstände schaffen, nicht sog. ‚Kunstgegenstände‘ im Gegensatz zu den Dingen des täglichen Lebens. Das Ziel der LEF-Künstler ist die Umwandlung der gesamten Kunst in die Gestaltung der materiellen Kultur der Gesellschaft in engem Kontakt mit der technischen Intelligenz.“11

10 Das programmatische Heraustreten Malewitschs aus dem Kreislauf der permanenten Innovation wird jedoch nicht umhin kommen, selbst zu genau dem zu werden, was er zu beenden suchte – das alles negierende schwarze Quadrat als die totale Innovation, aus westlicher Sicht eingebettet in ein Gesellschaftsbild des Posthistoire, das die politische Revolution hervorgebracht hat. 11 Arvatov, Boris: Kunst und Produktion, S. 48. 76

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Nicht der Abbildung, sondern dem Einbruch der Realität in die Künste galt die methodische und inhaltliche Orientierung der nach-revolutionären Kunstlinken. Sie kündigt die später von Georg Lukács zur Doktrin erhobene Widerspiegelungstheorie an, nach der die Trennung zwischen den gesellschaftlichen Repräsentationsmustern und der praktischen Wirklichkeitsorganisation der Bürger im Sozialismus aufgehoben werden sollte: „Die geistige Aneignung und Reproduktion der objektiven Realität vermittels des Bewußtseins ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der sich historisch auf der Grundlage der gesellschaftlichen Praxis des Menschen entwickelt. Die Praxis bildet die Grundlage und wichtigste Triebkraft dieses Prozesses, in dessen Verlauf die Menschen als Subjekt (gesellschaftliches, kollektives oder individuelles Subjekt) die außerhalb und unabhängig von ihnen existierende materielle Welt zum Objekt ihrer praktischen und theoretischen Tätigkeit machen und sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bewußtseinsformen, wie Wissenschaft, Ideologie, Moral, Kunst, Religion immer umfassender und differenzierter geistig aneignen und reproduzieren, d.h. widerspiegeln.“12

Die strukturelle Diskrepanz, die der Innovationsdruck zwischen die soziale und die kulturelle Struktur des Kapitalismus gesetzt hatte, war damit theoretisch in eine ästhetische Praxis transponiert, die jene mit der Anomie verbundenen Dysfunktionen – von Guyau affirmiert und von Durkheim mit Sorge analysiert – auf der Grundlage des Sozialismus langfristig beheben sollte. Doch die Definition dessen, wie dieser Prozess ausgestaltet werden sollte, war nicht nur umstritten, sondern geriet spätestens mit der Machtübernahme Stalins zu einem (lebens-)gefährlichen Machtkampf. Für die nachrevolutionäre Kunstlinke galt zunächst als oberstes Ziel, dass die Kunst die Museen verlässt und zu einer medialen Massenkultur wird. Mit Hilfe der künstlerischen Montage wollen die russischen Avantgardisten mentale und szenische Räume aufbrechen, die sich dem zunehmenden Argwohn der Partei entziehen und die zugleich die Utopie eines anderen Alltags erkennen lassen. Hanno Möbius schreibt zu Bedeutung und Funktion des Montageprinzips dieser Phase: „Mit dem Begriff der Montage fand der revolutionäre Konstruktivismus eine zentrale Kategorie, die Kunst und Leben gleicherweise durchdringen und verbinden sollte. In der Kunsttheorie von Boris Arvatov wurde dieser neuartige

12 Buhr, Manfred/Klaus, Georg (Hg.): Wörterbuch der Philosophie Bd. 2. Leipzig 1964, S. 1301. Zitiert nach Fabian, Jeanette: Lukács Widerspiegelungstheorie und der Revisionismusvorwurf, S. 86. 77

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Zusammenhang auf das Theater bezogen. In seinem Aufruf ‚Von der Theaterregie zur Montage des Lebens‘ forderte er die Bühnenkünstler auf, sich nicht die ‚Methoden der Ästhetik‘ anzueignen, sondern zu ‚Ingenieuren und Monteuren des Alltags‘ zu werden.“13

Arvatovs Postulat einer technizistischen Produktionskunst argumentiert gegen die „Staffeleikunst“ des 19. Jahrhunderts und wird von den Futuristen geteilt. Für die russischen Futuristen ist der technische Fortschritt vor allem Garant für die Emanzipation des industriell rückständigen Sowjetrussland – hier ist der Futurismus als Movens für technische und geistige Innovation pragmatischer konturiert als in Westeuropa. Das ästhetische Programm des LEF besteht im Wesentlichen aus Techniken und Fertigkeiten, die von den Prinzipien der Industrialisierung ausgehen. So gewaltig und umfassend wie die Rationalisierungsschübe, die die Industrialisierung hervorbrachte, sollte auch die sowjetische Kulturrevolution die russische Gesellschaft von Grund auf erfassen. In der Utopie einer kollektiven Arbeitsorganisation setzt Arvatov auf die „Produktionskunst“ als revolutionäres Mittel der Befreiung von gesellschaftlicher Hierarchisierung. Einige Produktionskünstler dieser Zeit – wie etwa Vsevolod Meyerhold – sprechen sich sogar für die „Taylorisierung der Schauspielausbildung“ aus.14 Dies entspricht einem Begriff vom Artefakt, der sich auf seine Materialität konzentriert und ihn auf diese Weise für das (Alltags-)Leben verfügbar machen will. Meyerhold hat versucht, die Körperlichkeit des Schauspielers in seiner Theorie der Biomechanik zu systematisieren.15 Wollte Meyerhold den schauspielerischen Körper aus seinem Repräsentationszwang befreien, dem er unter dem bürgerlichen Literaturtheater unterworfen war, steht die Verschmelzung von „Schaffen“ und „Produzieren“ aus Sicht Arvatovs für die Aufhebung des Dualismus zwischen den Produktionsformen überhaupt: „Das marxistische Denken hat bis heute noch nicht versucht, an die Kunst, an das ganze System des künstlerischen Schaffens als an einen besonderen Be-

13 Möbius, Hanno: Montage und Collage, S. 302. 14 Dazu Möbius: „Meyerholds Formel ‚Das Taylor-System ist in der Arbeit des Schauspielers ebenso anwendbar wie in jeder anderen Arbeit auch, wo nach maximaler Produktion gestrebt wird‘ ist [..] ein Mißverständnis. Für die Bewegungskunst der Schauspieler oder der Tänzer gab es im Taylorismus nichts zu lernen. Meyerholds Berufung auf Taylor ist als allgemeine Absichtserklärung zu verstehen, die körperliche Bewegung des Schauspielers und die Organisation des Theaterbetriebes mit wissenschaftlichen Methoden umzugestalten.“ Möbius, Hanno: Montage und Collage, S. 300 ff. 15 Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 136ff. 78

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reich gesellschaftlich notwendiger Arbeit heranzugehen. Leider herrscht in der marxistischen Kritik und Theorie weiter die prinzipielle Trennung von ‚Arbeit‘ und ‚Schaffen‘, die nur vom bürgerlichen Standpunkt aus verständlich und zweckmäßig ist. Real existiert eine solche Trennung nur, insofern sie durch die Klassenteilung der Gesellschaft hervorgerufen ist, bei der die Initiative erfordernden, organisatorischen Funktionen von der Bourgeoisie und ihren Agenten, der Intelligenz, ausgeführt werden (das sog. Schaffen), die ausführenden und partiell-organisatorischen Funktionen aber den ausgebeuteten Klassen auferlegt werden.“16

Damit erklärt Arvatov entsprechend Marxens Anspruch, nicht die Kunst, doch den künstlerischen Beruf abzuschaffen, die Autonomie der Kunstproduktion für überholt. Ihr Aufgehen innerhalb des kommunistischen Staates wird hier zur einzig legitimen Rahmung einer Wirklichkeitsorganisation, die zwar fiktiv ist, aber immer an die „realen“ Materialien gebunden ist, die ihre Lebensnähe garantieren sollen. Der politische Totalitätsanspruch dieser Kunstauffassung wird nach Groys schon vor der Machtübernahme Stalins in grundsätzliche Konflikte mit gemäßigteren Strömungen geraten.17 Auf die Konkurrenzkämpfe unter den vielen Künstlerverbänden, die sich nach der Revolution gebildet hatten, reagierten die Machthaber mit ihrer Bändigung durch das Mittel der institutionellen Zentralisierung. In dem Unbehagen gegen die drohende Dominanz der Avantgarde, das insbesondere in den gemäßigteren Kreisen der Intelligenz verbreitet war, sah die Partei einen willkommenen Anlass für ihre Bekämpfung. Selbst Lenin reagierte auf die Forderung einiger LEF-naher Musiker, eine „revolutionäre Akustik“ zu begründen, indem man sämtliche Instrumente zerstöre und sie durch lautstarke Fabriksirenen und den tosenden Klang der Arbeitsmaschinen ersetze, ablehnend: Es sei ein interessanter Vorschlag, doch er bedaure: Er liebe die Violine ebenso wie das Piano.18 Auch mochten sich große Teile der Jugend nicht auf die gänzliche Abschaffung traditioneller Produktionsweisen festlegen. Sie suchten nach Mitteln, die die Moderne mit den technizistischen Verfahren der Avantgarde verbinden sollten. Sie fanden rasch die Zustimmung der Partei. 16 Arvatov, Boris: Kunst und Produktion, S. 15ff. 17 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 29. 18 Diese Anekdote habe ich während des Vortrages von Dmitri Zakharine: „Die vertonte und die stumme Wirklichkeit. Eine Revolution der Lautwahrnehmung zwischen 1920 und 1930“ den er im Rahmen der Tagung „Imagination und Illusion“ am 4. Mai 2006 an der Universität Konstanz gehalten hat, notiert. Zakharine berichtete mir hinterher, dass Lenin dem Antragssteller Avraamov diese Nachricht über den Vorsitzenden der Creznycajnaja komnissija, Dzerzinski ausrichten ließ. 79

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Im Jahr 1900 hatte Georg Simmel behauptet, dass die Kunst sich durch eine Totalität auszeichne, die sämtliche anderen gesellschaftlichen Felder übertreffen würde: „Das Kunstwerk ist unter allem Menschenwerk die geschlossenste Einheit, die sich selbst genügendste Totalität – selbst den Staat nicht ausgenommen.“19 Wegen der vielen Opfer, die die Schreckensherrschaft Stalins über das Land gebracht hatte, war das Bedürfnis nach ihrer Verdrängung aus dem kollektiven Gedächtnis groß. Das verringerte die Chancen auf eine Klärung dessen, was unter dem Projekt der sozialistischen Moderne als Avantgarde zu verstehen sein sollte und wie dieses Projekt in der weiteren Kunstideologie der UdSSR fortlebte. Während man die historische russische Avantgarde im Westen hoch lobte und schätzte, ließ man sie in der Sowjetunion selbst im Dunkel der durchlittenen Geschichte zurück. Groys führte diesen Tatbestand darauf zurück, dass die russische Avantgarde, verdrängt aus allen relevanten Institutionen der nach-revolutionären Zeit, nicht nur an Stalin, sondern bereits vorher an ihren eigenen Forderungen gescheitert war. Denn sie verfolgte – entsprechend ihres ästhetischen Programmes – einen totalen Machtanspruch, der immer stärker von politischen Kampfparolen durchzogen war, je mehr sie in die Defensive geriet. Ihr Scheitern war ebenso total, denn im Vergleich zu ihrem Plan, die Kunst in das Leben der Sowjetbürger zu überführen, konnten diejenigen, die Stalins Säuberungen überlebt hatten, ihre spätere Heiligsprechung in den Museen des Westens nur als traurigen Trostpreis empfinden. Die politische Radikalisierung ihrer Kunstideologie bereitete gleichwohl das Feld für den “Künstler-Staatsingenieur“, der Lenin ablösen sollte – für Stalin. Es ist die von der Avantgarde eingeforderte Vorbildfunktion der Künste, die die Kultur der Stalinzeit vollends übernehmen und in ihren visionären Abbildungen, die das angestrebte Zukunftsmodell des Kommunismus in die Gegenwart hineinerzählen, festigen wird. Die formale Synthese kanonisierter Formen des Naturalismus mit der Ikonisierung des Fortschrittsgedankens bereitet den Weg für den sozialistischen Realismus. Diese „Rekolonisation“ des kulturellen Erbes unter sozialistischen Vorzeichen äußert sich in den Worten des Kulturministers A. Schdanow auf einer Konferenz sowjetischer Musiker folgendermaßen: „Wir, die Bolschewiki, schlagen das kulturelle Erbe nicht aus. Im Gegenteil, wir eignen uns das kulturelle Erbe aller Völker und Zeiten kritisch an und wählen aus ihm alles aus, was die Werktätigen der sowjetischen Gesellschaft

19 Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, S. 106. 80

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zu großen Taten in der Produktion, in der Wissenschaft und in der Kultur inspirieren kann.“20

Die Bedeutung des sozialistischen Realismus innerhalb der Sowjetunion und ihrer Bruderstaaten wird angesichts der kaum zu ermessenden Anforderungen, die das neue Staatsprojekt mit sich brachten, häufig mit einer Entlastungsfunktion begründet, die mit der raschen Institutionalisierung der Künste einherging. Diese „Entlastung“ impliziert zugleich die Annahme, es habe sich bei dem sozialistischen Realismus um eine nachvollziehbare Kunst für alle Bürger gehandelt, die nichts gemein habe mit ihrer avantgardistischen Konkurrenz. In der Tat greift ein solches Verständnis vom sozialistischen Realismus, das erstaunlicherweise sogar das Ende der UdSSR überlebte, zu kurz. Es geht von einem klaren Bruch zwischen der Avantgarde und der Kultur der Stalinzeit aus, den es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Vielmehr hat der sozialistische Realismus der Stalinzeit, der auch nach der „Entstalinisierung“ die Hauptorientierungsinstanz blieb, die gleichen utopistischen Wurzeln und Ziele wie das Projekt der russischen Avantgarde. Die Renaissance klassischer und naturalistischer Paradigmen, nunmehr motiviert aus der Selbstgewissheit des Posthistoire, betraf nicht nur den Staatssozialismus, wie ein vergleichender Blick auf die westeuropäische Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre zeigt. Doch nur in der Sowjetunion werden die tradierten Paradigmen mit der utopischen Vorstellung von einem populären Massengeschmack in eins gesetzt und medial allgegenwärtig. Groys hat auf die enge Verbindung zwischen den kulturpolitischen Eliten und der Avantgarde hingewiesen: „Den sozialistischen Realismus haben nicht die Massen geschaffen, sondern, in ihrem Namen, hochgebildete und versierte Eliten, die durch die Erfahrung der Avantgarde gegangen und über die immanente Entwicklungslogik dieser Methode zum sozialistischen Realismus gekommen waren, der mit dem tatsächlichen Geschmack und den tatsächlichen Bedürfnissen der Massen nichts zu tun hatte.“21

Die Kunstdoktrin der Stalinzeit sah sich formal gerade in der Vormoderne auf der sicheren Seite: keine Entgrenzung der Künste, sondern ihre Stabilisierung hieß das Motto. Auf dem Ersten sowjetischen Schriftstellerkongress von 1934 wurde die Methode des sozialistischen Realismus 20 Zit. Nach dem redaktionellen Artikel „Die Arbeit der schöpferischen Verbände verbessern, in: Iskusstwo, Nr. 6, Moskwa-Petrograd 1948, S. 6, zitiert nach Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 47. 21 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 13. 81

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zum ersten Mal ausformuliert und angenommen. Es folgte die Übertragung auf alle anderen Künste, die das Prinzip der „Widerspiegelung“ mit einem antiformalistischen Pathos verband. Dies schloss auch die Einverleibung der Paradigmen der Kunstlinken unter anderen Vorzeichen ein.22 Im Sinne einer sozialistischen Moderne verstehe ich die staatssozialistische Kultur daher in Übereinstimmung mit Groys als avantgardistisch. Das bedeutet, dass nicht mehr spezifische Teilbereiche des Kunstsystems zu einer permanenten symbolischen Grenzüberschreitung getrieben wurden, sondern der nomos selbst war – zumindest von seinem Selbstverständnis her – die Avantgarde. Nicht mehr die permanente symbolische Revolution, sondern die Institutionalisierung bzw. die Verstetigung der Avantgarde wird zum Hauptmerkmal des staatssozialistischen Kunstsystems. Bereits hier wird ein Punkt offenkundig, der später die Leitidee der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz entscheidend grundieren wird: Aus einem Kultursystem kommend, in dem die Verstetigung der Avantgarde „normal“ ist, erweist sich der institutionelle Erfolg als weniger problematisch. Das von der Bohème zum Professionsethos erhobene Misstrauen gegen staatliche und institutionelle Anerkennung ist damit obsolet. Die Kunstproduktion im Staatssozialismus ist einerseits durch gewisse Parallelen mit dem Akademismus der Vormoderne gekennzeichnet, doch es handelt sich andererseits nicht um eine einfache Reetablierung der vor-autonomen Phase des Feldes der Kulturproduktion. Die Handlungsorientierungen im Sinne des feldspezifischen nomos sind hier ganz anders strukturiert. Sie bauen auf einem utopischen Projekt auf, dessen Institutionalisierung durch die soziale und kulturelle Gegensatzspannung zum kapitalistischen Westen motiviert ist. Dieser Tatbestand bringt Formen der praktischen Wirklichkeitsorganisation hervor, die sich deutlich von denen unterscheiden, die ich im ersten Kapitel anhand des französischen Feldes der Kulturproduktion dargelegt habe. Der nomos ist nicht mehr polyvalent, sondern er hat einen Namen: Sozialistischer Realismus. Seine Deutungshoheit wird zwar Ende der siebziger Jahre verblassen, doch die mit ihm verbundenen Paradigmen, auf die ich in Verbindung mit der marxistischen Ästhetik von Georg Lukács zu sprechen komme, bleiben bis zum Ende des Staatssozialismus von zentraler Geltungsdauer. Die russischen Spezialisten des bildkünstlerischen, dichterischen oder szenischen Konstruktivismus – häufig in die Form der Satire gebracht – verloren damit ihren Kampf um die Avantgarde-Position, der auch ein Kampf um ihre Autonomie war. Viele von ihnen wurden liqui22 Vgl. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, S. 42. 82

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diert. Boris Arvatov erlitt 1930 eine Nervenkrankheit und musste infolgedessen seine literarische Tätigkeit aufgeben. Wladimir Majakowski brachte sich im Alter von 27 Jahren um. Wenige andere, wie Michail Bulgakow, die der russischen Kunstlinken ebenso skeptisch gegenüberstanden wie deren Gegnern, blieben Zeit ihres Lebens zwischen Abscheu und Affinität gegenüber ihrem „ersten Kritiker“ Stalin gefangen. Die staatssozialistische Kultur erklärte ihr Selbstverständnis des Posthistoire zu ihrem letzten Bindeglied mit der bürgerlichen Gesellschaft – sie war nicht eine ihrer Ausprägungen, sondern ihr antagonistischer Widerspruch. Der künstlerische Utopismus des neunzehnten Jahrhunderts hat damit im Staatssozialismus das Stadium der Probehandlung und des Experiments ebenso hinter sich gelassen wie das Primat der permanenten symbolischen Revolutionen. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Kunstformen, die sich dem Experiment verschreiben, hier keine offizielle Gültigkeit mehr haben werden.

2.1.2 Sozialistischer Realismus als coincidentia oppositorum: Georg Lukács Wie wenig die grenzüberschreitende Probehandlung mit der staatssozialistischen Wirklichkeitsorganisation vereinbar war, wird wohl fast nirgendwo so deutlich wie in der marxistischen Ästhetik von Georg Lukács (1885-1971). Trotz oder gerade wegen seiner zeitweilig umstrittenen Stellung sowohl in der UdSSR als auch in der DDR wurde der ungarische Philosoph im osteuropäischen Raum stark rezipiert. Karlheinz Barck bemerkt im Rückblick zu Lukács‘ Bedeutung in den Literaturwissenschaften: „Alle, die [sich] in der DDR wissenschaftlich mit Literatur oder Literaturgeschichte befasst haben, also die Literaturwissenschaftler, waren bis 1960 an Lukács orientiert. Alle haben sie Lukács gelesen, aber natürlich unterschiedlich. Es gab ja auch kaum etwas anderes. Ich kann mich an diese kleinen gelben Hefte erinnern. Die haben wir an der Oberschule gelesen. Das haben wir alles gefressen. Das waren die Ur-Bildungserlebnisse der jungen Wissenschaftler. Das kannten alle.“23

Die marxistische Ästhetik von Lukács, die sich nicht auf die Literatur beschränkte, bietet den Vorteil, Rückschlüsse auf eine spezifisch utopistisch orientierte Kultur zu ermöglichen. Sie beziehen sich vor allem auf die Fragen: Welche Funktion haben Kunst und Literatur aus marxistischer Perspektive? Welcher Art könnte eine mit ihnen verbundene 23 Barck, Karlheinz in: Funke, Mandy: „Zeitzeugenbericht“, S. 193. 83

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emanzipatorische Wirklichkeitsorganisation sein, die hervorzubringen sie angetreten waren? Auch wenn es verkürzt wäre, Lukács als Chefideologen des sozialistischen Realismus zu bezeichnen – dazu war er viel zu umstritten –, gehört er doch zu den zentralen Theoretikern, die das Realismus-Konzept mit einem richtungsweisenden Anspruch verbanden – man denke nur an seine Diskussionen mit Bertolt Brecht über dieses Thema, die in zahlreichen Schriften niedergelegt sind.24 Ich konzentriere mich in diesem Kapitel vor allem auf Lukács’ ästhetische Theorie. Zuvor erlaube ich mir noch einige ideengeschichtliche Anmerkungen zu seiner Person. Lukács stand zu Beginn seines Schaffens in einem zwar zeitlich kurzen, doch dafür umso intensiveren Kontakt mit Max Weber, den er verehrte. Zoltan Tárr bringt die Beziehung zwischen dem Marxisten Lukács und dem Soziologen Weber pointiert auf den Satz: „Wenn es stimmt, was Albert Salomon über Weber gesagt hat, nämlich daß er sein Leben lang einen Dialog mit dem Gespenst von Karl Marx führte, dann kann man auch davon sprechen, daß Georg Lukács eine ebensolche Auseinandersetzung mit den Ideen von Max Weber führte.“25 Mit dem Verdacht, ob er am Ende „nicht doch ein Weberscher Marxist“ war,26 musste sich der Thomas Mann- und Dostojewski-Liebhaber angesichts der Revisionismus-Vorwürfe in der Ära der offiziellen Entstalinisierung auseinandersetzen. Lukács’ Kritik an den naturalistischen Zügen in der Sowjetliteratur, die er noch unter den bürgerlichen Naturalismus stellte, trug ihm den offenen Verdacht der antisowjetischen Verleumdung ein. So warf Hans Koch ihm vor, es könne nicht angehen, dass Lukács der „Roman Der Zauberberg des großen bürgerlichen Realisten Thomas Mann nicht nur an künstlerischer Geformtheit, sondern auch sozial, politisch und ideologisch unendlich höher stehend erscheint als die junge proletarische revolutionäre Literatur.“27 Aus Kochs Sicht propagierte Lukács’ Realismuskonzept letztlich das Paradigma der bürgerlichen Demokratie im marxistischen Kleid. Walter Benjamin nannte hingegen in einem Brief aus dem Jahre 1924 zwei Bücher, die er für die aufregendsten und bedeutendsten hielt: Es waren Manns „Zauberberg“ und Lukács’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ – das der Autor selbst al-

24 Vgl. Pike, David: Lukács und Brecht. Tübingen: Niemeyer 1986. 25 Tarr, Zoltán: „Sozialismus, Revolution und Ethik. Einige Bemerkungen zur Weber-Lukács-Beziehung“, S. 59. 26 Ebd., S. 69. 27 Koch, Hans: „Theorie und Politik bei Georg Lukács“. In Ders.: Georg Lukács und der Revisionismus. Eine Sammlung von Aufsätzen. Berlin 1977, S. 104. Zitiert nach Fabian, Jeanette: „Lukács‘ Widerspiegelungstheorie und der Revisionismusvorwurf“, S. 96ff. 84

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lerdings später als „reaktionär-idealistisches Frühwerk“ verdammte.28 Zu den vier von Tarr genannten Problemkomplexen, die Lukács in seiner frühen Phase mit Max Weber verband, gehörten neben der gemeinsamen Begeisterung für Thomas Mann „die kritische Haltung bzw. Zurückweisung des Vulgärmarxismus der II. Internationale, damit verknüpft die Hochschätzung des südwestdeutschen Neukantianismus, insbesondere auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie; ein reges Interesse an der Soziologie der Kunst und Literatur [und] das sogenannte ‚Russische Erlebnis‘, d.h. vor allem ihre Dostojewksi und Tolstoi-Rezeption.“29 Einig waren sich Weber und Lukács sicher nicht zuletzt in der Auffassung, dass die Figur des Raskolnikow paradigmatisch für das ethisch-religöse Prinzip menschlicher Sehnsucht nach Grenzüberschreitung steht, das auch Bergson und Durkheim beschäftigt hatte; wie jedoch mit diesem Prinzip zu verfahren sei, darüber konnte es zwischen dem nüchternen Weber und dem erklärten Marxisten Lukács nur bedingt Übereinstimmung geben. Nicht zuletzt ist auch Lukács, wenn auch aus einer größeren Distanz, durch die Erfahrung der Avantgarde gegangen, die er ebenso ablehnte wie die Moderne und den Expressionismus. Hier war er sogar strenger als Arnold Gehlen, den er über alle politischen Differenzen hinweg bewunderte. Lukács lehnte Gehlens Lebensphilosophie zwar ab, da sie aus seiner Sicht jegliche materialistische Dialektik negierte; mit dessen Bild vom Menschen als ein Natur- und Kulturwesen stimmte er jedoch ebenso überein wie mit Gehlens Geringschätzung des „Subjektivismus“ in der Kunst.30 Nach der Zerschlagung der ungarischen KP emigriert Georg Lukács von 1933-1944 nach Moskau. Seine Unterstützung des ungarischen Oppositionspolitikers Imre Nagys vor dem Ungarn-Aufstand 1956 kostet Lukács seinen Lehrstuhl für Ästhetik und seine Anerkennung: Er wird nach Rumänien deportiert und kehrt 1957 nach Ungarn zurück, wo er weiter an seinen Projekten über eine systematische marxistische Ästhetik und über die Grundlegungen eines ontologischen Marxismus arbeitet. Lukács hält zeitlebens am Marxismus fest, wird sich jedoch in seinem Spätwerk auch vehement für die rigorose Aufarbeitung des Stalinismus einsetzen. „Von der Utopie zur Ontologie und wieder zurück – darin 28 Vgl.: Marcus, Judith: „The artist and his philosopher. Reflections on the relationship between Thomas Mann and Georg Lukács“, S. 48ff. Zu Lukács‘ Meinungsänderung zitiert aus Fabian, Jeanette: Ebd., S. 95ff. 29 Tarr, Zoltan: „Sozialismus, Revolution und Ethik. Einige Bemerkungen zur Weber-Lukács-Beziehung“, S. 60. 30 Vgl.: Rehberg, Karl-Siegbert: „Instrumentalität und Entlastung. Motive Arnold Gehlens im Werk von Georg Lukács“. 85

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sind die Grundzüge von Lukács’ intellektueller Entwicklung auf den Punkt gebracht, sind die wesentlichen Momente eines enzyklopädischen Lebenswerks erfaßt.“31 Mit dieser Formulierung von Werner Jung komme ich nun zu Lukács’ philosophischer Ästhetik der Zeit von 19091969, die insbesondere in der DDR stark rezipiert wurde. Er wird bis in die Gegenwart gemeinhin als der Philosoph des Kommunismus bezeichnet, dessen theoretische Architektonik gegenüber der Walter Benjamins die Vor- und Nachteile einer größeren Stabilität aufweist, die man auch als Starre bezeichnen kann. Wie immer man zu der komplexen und widersprüchlichen Figur Lukács stehen mag, so ist es eben diese stabile Architektonik, die den reflexiven Zugang zur Kultur des Kommunismus aus heutiger Perspektive erleichtert, weil an ihrem nomothetischen Anspruch gerade die utopistisch konnotierten Abweichungen an Profil gewinnen, die durch Kulturproduzenten der späten DDR artikuliert wurden. In Übereinstimmung mit dem Projekt der sozialistischen Moderne verstand Lukács Kunst als Mittel, dem Menschen sein gesellschaftliches Sein zu offenbaren und ihm damit Erkenntnis über sein Dasein in der Welt zu überantworten. Als Kulturwesen, das durch die Moderne von seiner Substantialität abgespalten wurde, braucht der Mensch die Kunst kraft ihrer Fähigkeit, die Gegenwart mimetisch zu spiegeln und somit zwischen dem entfremdeten Sein und der objektiven Welt eine transzendente Erfahrung zu produzieren. Diese Erfahrung kann jedoch nur dann wirksam werden, wenn die Kunst – sei es die Literatur oder die bildende Kunst – als humanistisches Vorbild für eine egalitäre Gesellschaft dient. Der Kunstsoziologie Simmels in der Affirmation eines holistischen Totalitätsbegriffs ähnelnd, weist sich Lukács’ Ästhetik durch die Suche nach Objektivität im Artefakt aus, wie Jürgen Egyptien ausführt: „Ausgangspunkt ist die Aufforderung an die Kunst, die unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende Wirklichkeit in intensiver Totalität widerzuspiegeln, d.h. die ausschlaggebenden, objektiven Bestimmungen des menschlichen Daseins ‚in richtigem und richtig proportioniertem Zusammenhang‘32 zu erfassen.“33 Damit ist ein wesentlicher Grundzug des Lukácsschen Realismus-Begriffes benannt, den er, in Abgrenzung zum Expressionismus, als die einzige künstlerische Methode 31 Jung, Werner: „Von der Utopie zur Ontologie: Das Leben und Werk Georg Lukás’“, S. 25 32 Lukács, Georg: „Kunst und objektive Wahrheit“ (1934). In: Ders.: Kunst und objektive Wahrheit. Leizig. Reclam 1977, S. 63-112, hier S. 77. Zitiert nach Egyptien, Jürgen: „Realismus, Totalität und Entfremdung“, S. 88. 33 Egyptien, Jürgen: Ebd., S. 88. 86

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auffasste, die diese Leistung erbringen kann. Das Soziale an der Kunst ist ihre Form, ihr „In-der-Welt-Sein“ und damit die „dialektische Wechselwirkung von Form und Inhalt“34 In seiner programmatischen Schrift: „Es geht um den Realismus“ formuliert Lukács dies aus: „Jeder bedeutende Realist bearbeitet – auch mit den Mitteln der Abstraktion – seinen Erlebnisstoff, um zu den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit, um zu den tiefer liegenden, verborgenen, vermittelten, unmittelbar nicht wahrnehmbaren Zusammenhängen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gelangen. Da diese Zusammenhänge nicht unmittelbar an der Oberfläche liegen, [...] entsteht für den bedeutenden Realisten eine ungeheure, eine doppelte künstlerische wie weltanschauliche Arbeit: nämlich erstens das gedankliche Aufdecken und künstlerisch-gestalterische Zeigen dieser Zusammenhänge; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge – das Aufheben des Abstrahierens. Es entsteht durch diese doppelte Arbeit eine neue, gestaltet vermittelte Unmittelbarkeit, eine gestaltete Oberfläche des Lebens, die, doch als Unmittelbarkeit, als Oberfläche des Lebens erscheint. [...] Das ist die künstlerische Einheit von Wesen und Erscheinung.“35

Die von Lukács unterstrichene künstlerische Einheit ging von einer substantialistischen Wirklichkeit aus, die durch die Kunst zugleich aufgedeckt wird, ohne allerdings die Abstraktionsleistung der Kunst selbst zu offenbaren bzw. sie dem Rezipienten aufzunötigen. In jener verdeckten Abstraktionsleistung lag auch der „reale“ Kern des Realismus, dessen Ziel durch Simmel auf den Satz gebracht wurde: „[A]uch der äußerste Realismus will nicht die Dinge, sondern die Erkenntnis der Dinge gewinnen“36 Mit diesem Auftrag zur Wirklichkeitsorganisation transponierte Lukács die traditionelle Dichotomie zwischen künstlich-wirklich, die er in einem synthetischen Ästhetikbegriff aufzuheben suchte. Die Kunstrezeption erhielt damit den Charakter einer Inititation. Indem er dem Kunstprodukt eine gleichermaßen tiefe Eindrücklichkeit zusprach, in dem sich – ähnlich dem Perspektivenwechsel, der durch die utopische Einstellung vorgenommen wird – Wirklichkeit unteilbar spiegelt, teilte er das von Walter Benjamin aufgestellte Postulat des Erfahrungsverlustes der Moderne, doch hatte dieser andere Konsequenzen für das Kunsterlebnis. Während Benjamin, mit Brecht übereinstimmend, etwa die Montage als aufklärerische, emanzipatorische Technik beschrieb, die 34 Lukács, Georg: Schriften zur Literatursoziologie. Neuwied: Luchterhand 1968, S. 138. 35 Lukács, Georg, zitiert nach Egyptien, Jürgen: „Ernst Fischer und Georg Lukács“, S. 89. 36 Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache...“ S. 100. 87

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den Betrachter (oder den Leser) zur (Selbst-)Distanzierung und damit zur Reflexion nötigt,37 konnte bei Lukács nur das holistisch grundierte Werk den Rezipienten wieder auf sein reales In-der-Welt-Sein zurückführen. Die Leistung der Kunst, so Lukacs‘ Forderung, muss also in der Produktion eines solchen Erlebens liegen und nicht in der weiteren Distanzierung durch formale Abstraktion. In seiner „Phänomenologische[n] Skizze des schöpferischen und rezeptiven Verhaltens“ schrieb er: „Das Schema der Mitteilung hat im Werk alles Brüchige – sowohl das leer Abstrakte wie das bloß persönliche – abgelegt, und die absolute Einheit des Individuellen und des Überindividuellen scheint durch ihre Vereinigung im Werk, durch eine coincidentia oppositorum erreicht. Was selbst den tiefsten persönlichen Lebensäußerungen noch fehlt, worin ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch von woanders hergeholten Elementen entspringt, ist im Werk geleistet: Rein aus sich heraus wirkt das gestaltete Erlebnis und braucht dazu kein Wissen und kein vorangegangenes Erlebnis.“38

Die Sehnsucht nach einer „Stunde Null“, die keine Vergangenheit kennt und den Rezipienten nicht dazu zwingt, aus Vorkenntnissen schöpfen zu müssen, begründet den Vorrang der Verständlichkeit, den auch die offizielle staatssozialistische Kunstauffassung in der DDR betont. In der coincidentia oppositorum vereinigt sich die scholastische Praxis der quaestio und der disputatio, als dessen Kompromiss das Artefakt hervortritt. Der normative Anspruch der coincidentia oppositorum macht den Kompromiss jedoch nicht nur zum Allgemeinsinn, zum sensus communis, sondern – und das ist für die daraus resultierende Wirklichkeitsorganisation entscheidend – auch zur Hauptorientierung des sens pratique der Kunstproduzenten selbst. Der von Lukács unterstellte Allgemeinsinn soll auf diese Weise die ästhetische Produktionsweise mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verkoppeln. Die Trennung zwischen der sozialen und der kulturellen Struktur ist damit theoretisch aufgehoben; das mit ihr verbundene Phänomen der Entgrenzung; die Anomie obsolet. Entgrenzung gerinnt nur noch zur künstlichen, effektheischenden Attitüde des „Brüchigen“, das nun jedoch – theoretisch zumindest – im Werk aufgelöst ist. Der utopische Charakter der Lukacschen Kunstphilosophie liegt in ihrer Sehnsucht nach homogenisierten Erlebniswirklichkeiten. Die Kunstproduktion ist Mittler zwischen Ding-Welt und Erlebniswelt und 37 Vgl: Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“, S. 368ff. 38 Lukács, Georg: „Über die Vernunft in der Kultur“, S. 67 ff. Kursiv von mir. Vgl. dazu auch: Paetzold, Heinz: „Die Ästhetik des späten Georg Lukàcs“. 88

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erfüllt damit ein tiefes, anthropologisch begründetes Bedürfnis: Kunst entsteht aus dem Scheitern, sich mitzuteilen, das nach Übersetzungsleistungen sucht, die durch den Kunstproduzenten auf eine höhere Ebene gezogen werden. Lukács nimmt die Entfremdung der Moderne zum Ausgangspunkt einer Kunstphilosophie, die dem Werk die harmonische Synthese aufträgt, in der das Individuelle und das Überindividuelle vereint werden und die Aufhebung der Entfremdung erfahrbar gemacht wird. In der von ihm unterstellten ontologischen Suche des Menschen nach einer solchen Synthese steht Lukács der anthroplogisch grundierten Institutionentheorie Gehlens – als notwendige Verstetigung von Spannung – näher als dem Prinzip der relativen Autonomie des frühen Marx oder der funktionalen Symboltheorie Cassirers. Seine Vorstellung von Realität lässt auch keinen Konstruktivismus zu, und sei er noch so vorsichtig angedeutet wie in Durkheims religionssoziologisch analysierten Form der rituellen Wirklichkeitsorganisation. Im Gegensatz zu Durkheim sucht Lukács nicht nach gesellschaftlich präskribierten Vorrichtungen zur Behebung einer Dysfunktion zwischen dem Sozialen und dem Kulturellen. Innerhalb der sozialistischen Gesellschaft geht Lukács davon aus, dass jene Diskrepanz aufgehoben ist. Das Soziale findet Lukács in der ästhetischen Form, deren Entlastungsleistung sowohl den Produzenten als auch den Rezipienten wieder auf die Einheit mit seiner Umwelt zurückführt. Indem die Form dazu dient, die Umwelt mimetisch zu spiegeln, gewinnt der Betrachter wieder einen direkten Bezug zu ihr. Ganz dem Prinzip des sozialistischen Realismus entsprechend, refiguriert Lukács auf diese Weise eine überweltliche Substantialität, die durch die Moderne abgespalten wurde, in das kommunistische Projekt. Die Kunst wird damit zu einem Zeichensystem erhoben, das den Menschen wieder auf sein verlorenes In-der-Welt-Sein zurückführt. Daraus folgt für Lukács eine Phänomenologie der Ästhetik, „denn damit ist der Gesichtspunkt erreicht, von welchem aus das in der Erlebniswirklichkeit abgeschwächt und unklar vorhandene Treiben und Gerichtetsein auf das Werk erkannt und zur Klarheit gebracht werden kann.“39 Das macht die Kunst zu einem Paradigma des Sozialen und erteilt ihr zugleich einen gesellschaftspolitischen Auftrag. Dieses Paradigma führt Lukács zu einem weiteren wichtigen Konzept seiner philosophischen Ästhetik – die harmonia praestabilita. Die Balance, auf der die Beziehung des Schöpfers zu seinem Werk bereits vor dessen Erschaffung beruhen sollte, sucht Lukács in Anlehnung an Leibnitz40 zu fassen. Er ver39 Lukács, Georg: „Phänomenologische Skizze...“, S. 73. 40 Zur prästabilierten Harmonie bei Leibnitz vgl. einführend Weischedel, Wilhelm: Leibnitz oder das Puzzlespiel der Monaden. In Ders.: Die philosophische Hintertreppe, S. 149ff. 89

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ortet die Ebene der Wirklichkeitsorganisation in einer dialektischen Beziehung zwischen Schöpfer und Werk. Diese liegt in der Übersetzungsleistung, die sich in zwei Stufen vollzieht und in die das Wissen um den Rezipienten eingelassen ist: “[D]er Sprung von Erlebnis auf Technik [und] der von Technik auf Erlebnis“41 Hier berührt Lukács die Herzstelle innerhalb des Feldes der Kulturproduktion im Staatssozialismus, die durch die russische Kunstlinke manifest wurde. Denn er transponiert einen dem sozialistischen Realismus vorausgesetzten Dualismus zwischen Subjekt („Erlebnis“) und Objekt („Technik“), der sich in der harmonia praestabilita aufzuheben habe: “Wo aber diese harmonia praestabilita nicht da ist, wird das Erlebnis bloß übersprungen, nicht aber der Sprung von Technik auf Erlebnis realisiert, und der auf Technik gerichtete Schaffende, dem diese Gnade nicht zuteil ward, erscheint als bloßer Virtuose, als Jakobiner der Technik.“42 Sicher keine zufällige Anspielung auf die Jakobiner der Moderne – die historische Avantgarde wie die russische Kunstlinke und ihre Technikbegeisterung – deren Qualitätssprünge gerade in dem Aufbrechen der Harmonie liegen. Eben dieser Akt der Freisetzung wird von Lukács rundweg abgelehnt – schon deshalb, weil ihre Rezeption Gefahr läuft, dem geschulten Auge vorbehalten zu bleiben. So schreibt er in „Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“: „Das normative Erlebnis, worin das Werk als Realisation des ästhetischen Wertes geschaffen beziehungsweise als solches aufgenommen wird, ist ein Gerichtetsein des Subjekts auf eine den immanenten Erlebnisanforderungen vollendet angemessene Welt, die ihm in seinem normativ zugeordneten Objekt, im Werk entgegenkommt; um dessen Gelten in sich zu verwirklichen das Subjekt in sich alles zur höchsten Intensität zu treiben hat, was in der Richtung dieser gesteigerten und rein gewordenen Erlebnisintensität liegt und alles von sich fernhalten, in Nichtexistenz, ja Undenkbarkeit versinken lassen soll, was diesem homogenen Strom nicht angehört oder gar seinen Lauf hemmen könnte.“43

Das Postulat einer normativen Ästhetik wird damit zum notwendigen Rahmen, der erst die Objektivierung der wiederzuerlangenden Substanzialität ermöglicht. Damit liefert Lukács das entscheidende Argument für die Notwendigkeit eines allgemeingültigen nomos, der die befreienden Potenziale einer Kunst, die sich einer subjektiv-reflexiven und polyvalenten Produktionsstrategie verschreibt, verneint. Die Autonomie der 41 Lukács, Georg: „Phänomenologische Skizze...“, S.86. 42 Lukács, Georg: „Phänomenologische Skizze...“, S. 90. 43 Lukács, Georg: „Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“, S. 155. 90

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Kunst sieht er sogar in ihrer Fremdheit gegenüber der Reflexion.44 Das Reflexionsbedürfnis, das den Menschen der Moderne kennzeichnet, äußert sich bei Lukács also nicht als Distanzierung von der Wirklichkeit, sondern in dem Versuch ihrer mimetischen Spiegelung, deren Deutungsgehalt sich freilich einem transzendenten Substantialismus verschreibt. Das erklärt, warum Lukács immer ein Gegner der ästhetischen Montage war, die es ja gerade auf die Unterbrechung und damit auf die Zuspitzung der (kritischen) Distanznahme von der Wirklichkeit anlegt. Entsprechend ist Lukács’ Geniebegriff eine von der Gesellschaft losgelöste totale Kategorie. Wie aber ist das vereinbar mit der Parteilichkeit und der „propagandistischen Wirkung des echten Kunstwerks“, die Lukács im Folgenden so betonte? Zudem ist ein solches Objektivitätsverständnis empirisch kaum einlösbar – da die immer virulenten Bestrebungen hin zu Eigengesetzlichkeiten sich immer aus der Wiedereinführung einstiger oder dem Postulat davon abgeleiteter vergangener Formen speisen, auch wenn dies, wie im Staatssozialismus, durch das Primat der Aushandlung geschieht. Es steht in einem seltsamen Widerspruch zum Postulat einer spezifischen Wirklichkeitsorganisation, die sich letztlich in der Wiedereinführung eines nomos niederschlägt und die Lukács an anderer Stelle verteidigt – es ist das Schlagwort der “Parteilichkeit der Objektivität“.45 An diesen Stellen wird die innere Widersprüchlichkeit der phänomenologischen Studien von Lukács deutlich, deren politischer Rationalismus von überzeitlichen Grundannahmen durchzogen sind, die einer aufklärerischen Zielsetzung entgegengestehen. Wieder bleibt es dem Kunstproduzenten (oder seinen Auftraggebern) überlassen, zu wissen, was gut für den Betrachter/Leser ist. Eine solche Erhöhung des Subjekts erfordert in der Tat eine Vorstellung vom künstlerischen Genie, eine Vorstellung, auf die sich auch die künstlerisch-literarische Bohème bezog. Allerdings sucht Lukács nach einer Verschiebung der Grenzzonen, die die Philosophie des L’art pour l’art zum Selbstzweck beschränkte. Das von ihm vertretene künstlerische Professionsethos sucht Anschluss an seine gesellschaftliche Rahmung, anstatt ihr zu entfliehen. Die Entgrenzung hat dabei indes eine humanistisch-pädagogische Funktion und ist weit entfernt von den Prinzipien des acte gratuit. Zum anderen – und hier wird die Beziehung zwischen Lukács und dem historischen Erbe der russischen Kunstlinken deutlich – wird durch die Erhöhung des Subjekts gerade der utopische Gehalt eines marxistischen künstlerischen Professionsethos nachvollziehbar, weil im künstle44 Vgl. Ebd., S. 159. 45 Vgl. Fabian, Jeanettte: „Lukács’ Widerspiegelungstheorie und der Revisionismusvorwurf“, S. 90. 91

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risch-produzierenden Subjekt zugleich der Ort der praktischen Aufhebung der Entfremdung vermutet wird: „Das Werk ist also in dem Hegelschen Doppelsinn (und zwar mehr als conservare wie als tollere) die Aufhebung der künstlerischen Tätigkeit, es ist weniger ihre Objektivation als ihre Selbstsetzung, ihre, wenn der eigentümliche Ausdruck gestattet ist, Subjektivation.“46 Erst darauf folge seine notwendige Objektivierung durch die Rezipienten, die entsprechend der dualistischen Theorie aus dem Wechselverhältnis zwischen dem Kunstwerk als Mikrokosmos und der Erlebnisintensität erfolgt: „Die Objektivität des Werkes hebt also seine vollendete Selbstgenügsamkeit teilweise auf, es ist nunmehr als ‚utopische Wirklichkeit‘, als immanente Erlebniserfüllung, als Ziel der künstlerischen Tätigkeit da [...].“47 Lukács verbindet so den utopistischen mit dem institutionellen Charakter der Kunstproduktion. Beide bewegen sich auf der Schwelle zwischen schrankenlosem Individualismus und Sollsuggestion. Darin stimmt er mit Gehlens Institutionentheorie überein. Denn die coincidentia oppositorum kondensiert sich bei ihm nicht nur im Werk, sondern innerhalb des produzierenden Künstlers selbst, implizit als sens pratique angelegt. Das Werk ist das materielle Ergebnis einer im Schaffenden angelegten Erlebnisintensität, die man als Ergebnis von Selbstreflexion bezeichnen könnte. Der vom späteren Lukács geforderte Aushandlungsprozess der coincidentia oppositorum lässt jedoch nahezu ausschließlich Rahmenbedingungen zu, die eine holistische – um nicht zu sagen totalitäre – Wirklichkeitsorganisation begünstigen. Terry Eagleton kommentiert das Lukácsche Kompendium einer nicht-entfremdeten Kunstproduktion: „The work of art [...] comes to the rescue of a commodified existence, equipped with everything in which the commodity is so lamentably lacking - a form no longer indifferent to its content but indissociable from it; an objectifying of the subjective which entails enrichment rather than estrangement; a deconstruction of the antithesis between freedom and necessity, as each element of the artefact appears at once miraculously autonomos yet cunningly subordinated to the law of the whole.“48

Im Staatssozialismus, in dem die Kunst ganz in dem Projekt des gesellschaftlichen Fortschritts aufgeht, ist die harmonia praestabilita zumindest theoretisch gewährleistet. In ihm kann der Gegensatz aus sozialer Struktur (als Gestaltungszwang) und kultureller Struktur (als Gestal46 Lukács, Georg: „Die Subjet-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“, S. 174. 47 Ebd., S. 178. 48 Eagleton, Terry: The Ideology of the Aesthetic, S. 324. 92

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tungswillen) in der Übereinstimmung von Form und Inhalt aufgehoben werden, die Lukács herauszuarbeiten suchte.49 So setzt Lukács die Vormoderne in den idealistischen Zustand der Utopie, die letztlich durch den Staatssozialismus verkörpert wird. Im Mikrokosmos der Werke konstituieren sich die Ablagerungen des menschlichen Bedürfnisses nach einer überindividuellen Seinsform. Das Kunstwerk verkörpert zum einen eine subjektivierte Totalität des Für-Sich-Seins und spiegelt zugleich das objektive gesellschaftliche Dasein des Menschen mimetisch. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis werden in ihm miteinander verflochten. Kunst bewegt sich in einer Sphäre des Besonderen, in der sich das Machbare und das Utopische vereinen. Die Legitimität des sozialistischen Realismus erklärt aus eben dieser Verbindung, die sich dem Produzenten – als „conservare“ – aber auch dem Rezipienten – als pädagogische Mimesis – darbieten. Die Sehnsucht nach der Einheit des Individuellen und des Überindividuellen als zentrale Aufgabenstellung von Kunst ist zugleich ein zentrales Merkmal der staatssozialistischen Wirklichkeitsorganisation. Sie muss sich in der Tat einer verstörenden Moderne verschließen, die jene Einheit verweigert und sich der Brüchigkeit polymorpher Erlebnisschichten aussetzt. Lukács’ Hoffnungen in eine Kunst, die zur Befreiung menschlicher Sinneswahrnehmungen verhilft und damit emanzipatorisches Handeln ermöglicht, setzen auf eine coincidentia oppositorum, in der die Kunst den Auftrag der symbolischen Stabilisierung von Wirklichkeitsorganisation erhält. Das ist der paradigmatische Entwurf einer transzendenten Kunst, die der siegreiche Utopismus der sozialistischen Moderne als Basis seiner künstlerischen Professionsideologie deklariert. Dieses avantgardistische Projekt wird im Zuge seiner Veralltäglichung modifiziert werden müssen. Es stellt sich nun die Frage: Wie ließen sich diese Leitideen innerhalb des staatssozialistischen Alltags der UdSSR und der DDR aufrechterhalten?

2.1.3 Veralltäglichung des Posthistoire Der Begriff des Posthistoire als „Ende der Geschichte“ vereint in sich die zwei Perspektiven Ost und West. Aus Sicht der sowjetischen Revolutionsführer bezeichnete er den Tatbestand der Überwindung der Klassengesellschaft und des Glaubens daran, die kommunistische Utopie zu realisieren. Von dieser kulturoptimistischen Posthistoire und ihrer Ver-

49 Vgl. Lukács, Georg: „Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“, S. 185. 93

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alltäglichung zur historischen Eigengeltung soll im Folgenden die Rede sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte weltweit die Phase des Kalten Krieges ein, in der auf Seiten der UdSSR und der Ostblockstaaten nicht nur die militärische Aufrüstung, sondern vor allem die Konsolidierung der wirtschaftlichen Stabilität erste Priorität hatte. Sie sollte die ideologische Verfestigung des Machtzuwachses garantieren, die der Sieg über den deutschen Nationalsozialismus hervorgebracht hatte. Dieser Sieg war in der Tat vor allem ein Sieg der Sowjetunion. Wenn auch der von Lenin gewünschte weltweite Kommunismus auf den „Kommunismus in einem Land“ bzw. auf die Ostblockstaaten beschränkt blieb, so war die UdSSR spätestens ab 1945 eine Weltmacht ersten Ranges, die die kapitalistischen Systeme in Schach zu halten verstand. Dieser Aufstieg, der sich innerhalb weniger Jahre vollzog, war von einer immensen ökonomischen Umgestaltung und Industrialisierung des Landes begleitet, dessen Führer die internationale Anerkennung durch wirtschaftlichen Aufschwung zu bekräftigen suchten. In den vierziger und fünfziger Jahren gelang es Stalin, aus einem fast feudalistischen Bauernstaat eine zwar nicht prosperierende, doch sich stetig konsolidierende Industriegesellschaft zu machen. Unter seinem Nachfolger Chruschtschow konnte der allgemeine Lebensstandard der Sowjetbürger verbessert werden, worauf eine Phase der relativen Stagnation einsetzte, die bis zum Ende des Ostblocks anhalten sollte. Propagierter Fortschrittsglaube und innenpolitische Repressionen gingen Hand in Hand. Wenn auch mit Chruschtschow die offizielle Entstalinisierung betrieben wurde, so blieb das staatliche Überwachungsnetz so dicht wie eh und je, was von offizieller Seite durch die Blockkonfrontation begründet wurde. Die Gegensatzspannung zum westlichen Imperialismus ging gleichwohl von der Konfrontation zur militärischen und technologischen Konkurrenz über, deren größter Triumph das Raumfahrtprogramm der UdSSR war. 1954 umkreiste der erste künstliche Erdsatellit Sputnik die Erde. Am 12. April 1961 flog Juri Gagarin als erster Mensch in das All. „108 Minuten lang umrundete Gagarin die Erdkugel. Völlig losgelöst von der Erde schwebte der Kosmonaut über allen Systemen,“ notiert der DDR-Bürger Joerg Waehner in sein Tagebuch.50 Der russische Triumph entsetzte die Machthaber der USA und alles schien möglich. Die Schattenseite dieser kaum zu überbietenden Grenzüberschreitung war das Krisenszenario der atomaren Bedrohung: „Von Drohkulissen bis zu den tödlichen Gefahren der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, auf dem Bikini-Atoll oder der 50 Waehner, Joerg: Einstrich-Keinstrich. NVA-Tagebuch, S. 13. 94

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Eismeerinsel Nowaja Semlja – man gewöhnte sich daran, am Rande der Apokalypse zu leben,“ schreibt Wolfgang Eichwede im Rückblick.51 Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, von der DDRFührung gegen die anfänglichen Bedenken der UdSSR durchgesetzt, zementierte dieses Lebensgefühl auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Zugleich wurde der Ruf nach wirtschaftlicher Partnerschaft mit dem Westen lauter, der die allzu offensichtlichen Missstände der Planwirtschaft einer kosmetischen Behandlung unterziehen sollte. Der Rückstand gegenüber dem Westen wurde immer unübersehbarer und durch das Paradoxon der militärischen Aufrüstung und dem Wunsch nach Anerkennung kompensiert. Nach innen aber riss das Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht ab. Die internationale Anerkennung ging mit einer Veralltäglichung der einst vitalen Kampfparolen einher, deren Inhalte für die breite Bevölkerung zunehmend an Bedeutung verloren. Die Ideologie des Kollektivismus wurde von einem totalitären Bürokratismus getragen, der ihre institutionelle Absicherung garantierte. Die eklatanten Widersprüche zwischen der staatskommunistischen Ideologie und der alltäglichen Wirklichkeit wurden während der kurzen Aufstände in den Bruderstaaten DDR (1953), Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) unübersehbar. Ihre rasche Niederschlagung duldete keine Zwischentöne, die einen Sozialismus forderten, in dem Individuum und Kollektiv tatsächlich keinen Widerspruch darstellen. Viele Künstler und Intellektuelle nahmen daraufhin die Ideologie beim Wort. Das Prinzip der „Kritik durch Affirmation“ wurde zugleich Angriffspunkt und Rettungsanker vor offener Repression. Klaus Mehnert, der die Sowjetunion über viele Jahrzehnte bereist hatte, beschrieb in seinem Buch „Der Sowjetmensch“ die Zeit der 50er Jahre. Er beobachtete in dem Verhältnis zwischen Mensch und Staat die immer populärer werdende Verherrlichung Lenins, die schon während des Stalinismus das Prinzip der „Kritik durch Affirmation“ eingeführt hatte: „Bei vielen hatte sich schon vorher der Widerwille gegen das Regime Stalins in eine schwärmerische Verehrung Lenins umgesetzt; für sie galt die Formel: Anti-Stalinismus = Leninismus. Den anderen, die nicht nur den Stalinismus, sondern das Regime insgesamt ablehnen und sich doch nicht in das gefährliche Abenteuer selbständigen Denkens stürzen wollen, gab die Parole ‚Zurück zu Lenin‘ die Möglichkeit, das Regime offen zu kritisieren und doch – durch das Bekenntnis zum toten Lenin – formal auf dem Boden des Kommunismus zu bleiben, statt sich selbst aus der Gemeinschaft der Gläubigen auszuschließen. Wieder andere gehen noch weiter: sie sagen Lenin und meinen die Freiheit. 51 Eichwede, Wolfgang: „Der Kalte Krieg 1945-1989“, S. 26. 95

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Für alle aber ist das Bekenntnis zu Lenin die einzige Möglichkeit, ihre Opposition theoretisch zu legitimieren; der ‚Leninismus‘ ist zum Alibi der Systemgegner geworden.“52

Das bedeutet bei weitem nicht, dass der Großteil der Sowjetbürger gegen das Regime war: „Die große Mehrheit des Volkes hat nie etwas anderes als die Sowjetwirtschaft kennengelernt und legt ihre Mängel, wie es jede konzessionierte Kritik will, nicht dem System, sondern dem Versagen einzelner zur Last.“53 Mehnert fasst zusammen: „Kurz, die Nachteile der Planwirtschaft, auch die mit ihr verbundene Unfreiheit des Einzenen, werden nicht so stark empfunden, wie dies im Westen vermutet wird, weil man von einem freien Wirtschaftsleben seit Jahrzehnten keine Anschauung hat. Was sich alle wünschen, ist ein Nachlassen des Planungsdruckes mit seiner Normenpeitsche. Aber der Wohlfahrtsstaat soll dadurch nicht beeinträchtigt werden.“54 In der UdSSR war das Feld der Kunst seit Beginn der dreißiger Jahre gänzlich durch den Staat absorbiert, d.h. es gab weder die Möglichkeit, noch ein relevantes Bestreben, außerhalb des staatlichen Auftrages künstlerisch tätig zu sein. Dies änderte zu Beginn der fünfziger Jahre. Mit den ersten politischen Widerständen suchten Künstler in der Sowjetunion Parallelgesellschaften zu etablieren, die im Laufe der sechziger, siebziger und achtziger Jahre das Signum der „inoffiziellen“ Kunst erhielten. Das war ein begrifflicher Kompromiss, dessen Pragmatismus sich von der ursprünglichen Bezeichnung des „Antikonformismus“ abwandte: wurde dieser Kampfausdruck doch von im Ausland lebenden Künstlern benutzt, die nicht nur vor staatlicher Verfolgung sicher waren, sondern deren Haltung tatsächlich nicht mehr mit dem Leben im Staatssozialismus zu vereinbaren war. Der heroische Beiklang des Antikonformismus passte nicht zu der für die in den sozialistischen Staaten verbliebenen Bürger typische Haltung, die auch im Nachhinein ablehnt, ein oppositionelles Selbstverständnis zu postulieren: Man war eben nicht unbedingt gegen die Idee des Sozialismus, sondern wollte sie verbessern.55 Diese Einstellung fand sich vermutlich besonders unter den staat-

52 53 54 55

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Mehnert, Klaus: Der Sowjetmensch, S. 421. Ebd., S. 422. Ebd., S. 423. Dazu mögen hier stellvertretend nur zwei Regisseure der DEFA zitiert werden, deren Filme von der Zensur abgelehnt wurden. Die Frage, ob sie sich als Gegenbewegung o.ä. verstanden hätten, wird von Hermann Zschoche („Karla“, DDR 1965/ 66) und Evelyn Schmidt („Das Fahrrad“, DDR 1982) unabhängig voneinander vehement verneint. “Wir wollten einfach zeigen, wie es wirklich war, weil wir dachten, damit zu einer Dis-

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lich geförderten – also den meisten – Künstlern verbreitet. Groys bemerkt dazu: „Die kommunistische Gesellschaft kann als eine Gesellschaft definiert werden, in der die Macht und ihre Kritik im gleichen Medium operieren.“56 In der Sowjetunion holten sich fast alle Künstler, und auch gerade die, die sich zu den Kreisen der inoffiziellen Künstler zählten, ihre Inspirationen aus ihrem offiziellen Broterwerb, der meistens ein künstlerischer war – häufig als Grafiker für die Illustrationen von Arbeit, Forschung und Wissenschaft. In der staatlichen Kunstproduktion arbeitete man vor allem mit der Methode der Reproduktion. Diese ‚Profanierung‘ der Lukácschen Philosophie gelangte als Erbe der russischen Kunstlinken durch die Hintertür des populistischen Anspruchs auf die Ebene der offiziellen Kunst, wie Ekaterina Degot ausführt: „In der Sowjetunion war bereits zu Beginn der dreißiger Jahre ein System der reproduzierten Kunst entstanden, in dem die Künstler gleichsam Angestellte des staatlichen Medienapparats waren und für ihre Dienstleistungen entlohnt wurden. Zu diesem System gehörte neben Buchdesign, Illustration, Werbung und Film genauso die Malerei – als Reproduktionen auf Postkarten sowie in Zeitschriften und Lehrbüchern. Die Fülle von Erzählungen über Polarforscher bzw. Melkerinnen in der sowjetischen Presse, die vom Künstler verlangten, dass er ihnen ein Bild von ihrer Arbeit ‚gebe‘, zeigen deutlich, dass das eigenhändig angefertigte Gemälde nur als Vorlage für die Reproduktion betrachtet wurde.“57

So wenig, wie das Plagiat verpönt war, so wenig richtete sich die staatliche Verfolgungswut gegen die private Kunstproduktion als solcher. Erst ihre eigenmächtige öffentliche Distribution wurde als Provokation empfunden und mit Zensur, Strafen, Haft oder Ausweisung geahndet. Dies führte zu komplexen Repräsentationsmustern und entsprechenden Wirklichkeitsorganisationen, die wohl kaum in der Dichotomie „Staatskunst“ und „autonome Kunst“ oder „offizielle“ und „inoffizielle“ Kunst aufgehen. Es scheint jedoch bis heute unklar, ob die sowjetische Kunstproduktion ab der Chruschtschow-Ära in zwei Lager gespalten war oder nicht; vielmehr muss wohl von einer gegenseitigen Durchdringung dieser Pole gesprochen werden.58 Degot schlägt eine Feldaufteilung in vier kussion beizutragen,“ erklärte Schmidt während der Diskussion über ihren Film im Berliner Arsenal-Kino am 26. April 2006. 56 Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum, S. 9. 57 Degot, Ekaterina: „Zwischen Massenproduktion und Einzigartigkeit“, S. 134. 58 „Wenn sich die Lebensweise des spätkommunistischen Menschen auch relativ einheitlich gestaltete, so war die sowjetische Kultur jener Zeit doch 97

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sich gegenseitig überschneidende Kreise vor, die an den Hauptachsen „Vorhandensein versus Fehlen von staatlicher Unterstützung“ und „Unikalität versus mediale Verbreitung des Werks“ orientiert ist. Diese Einteilung erscheint überzeugend, weil Degot sie damit begründet, dass die Methoden der Moderne, die Medienkunst also, im gleichen Maße auf die offizielle wie auch die inoffizielle Kunst der UdSSR angewandt wurden. Da ist es nur konsequent, dass die inoffizielle Kunst sich nicht durch diese Methoden (etwa die der medialen Produktionskunst) abgrenzen konnte – sie wäre vollkommen wirkungslos geblieben. Das sowjetische Kunstsystem – die inoffizielle Kunst eingeschlossen – führte den Widerspruch „Einzigartigkeit“ und „Massenproduktion“, der ein Widerspruch der frühen Moderne war, ad absurdum. Konnte sich die französische Bohème des 19. Jahrhunderts noch zwischen unikaler staatlicher Auftragskunst und der Massenproduktion der bürgerlichen Gesellschaft etablieren, so war eine solche Zwischenposition in der UdSSR nicht nur unmöglich, sondern galt als historisch überholt. Zugleich formulierte das staatssozialistische Auftragsmodell einen Gegenentwurf zur westlichen Polyvalenz der ästhetischen Praxisformen, der nicht auf den Einbruch der Realität in die Künste und den daraus resultierenden Synergien abzielte, sondern die Kunst selbst in die Wirklichkeit – d.h. in das Alltagsleben überführte. Dies wird deutlicher, wenn ich Degots Einteilung näher erläutere. Die staatliche mediale Kunst war durch ihren Utilitarismus gekennzeichnet und damit die erkennbarste Erbin der russischen Avantgarde. Sie sollte überall zugänglich sein und die Bevölkerung in doppelter Hinsicht „zur Anschauung bringen“. Das Thema der Projektion, schon von Malewitsch eingefordert und von Lukács fortgeführt, zeigte sich hier in seiner spezifischen Doppelbödigkeit. Indem die Kunst Modelle von Lebensentwürfen und Wirklichkeitsorganisationen produzierte, projizierte sie zugleich die noch nicht vollendete Utopie des kollektiven, neuen Menschen in die alltägliche Gegenwart hinein. Doch sie tat dies nicht durch Abstraktion, sondern durch die fast fotografisch anmutende „Abbildung“ der Gegenwart und der Lebenswelt; vor allem der Arbeitswelt, der Welt der Produktion also. In der Methode des sozialistischen Reazutiefst gespalten – und zwar in eine offizielle und in eine inoffizielle Kultur.“ In: „Paradise revisited. Die Ästhetik des Spätkommunismus“, S. 139. Von einer gegenseitigen Durchdringung der beiden Kulturen ist hier nicht die Rede, wenn es auch weiter unten heißt: „Wer die Chance hatte, mit den führenden Funktionären der angeblich parteitreuen, offiziellen sowjetischen Kulturelite privat zu sprechen, der weiß, dass sie sich alle ohne Ausnahme für – vielleicht auch besonders vorsichtige und verschlagene – Kämpfer gegen die Zensur hielten. Die Zensur waren immer nur die anderen.“ Groys, Boris: „Paradise revisited“, S. 139. 98

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lismus wurde der tätige Mensch im Laufe der siebziger und achtziger Jahre zunehmend durch Bilder aus der Freizeit ergänzt. Auf diese Weise wurde die Reproduktion von der Arbeit gleichwohl mit der künstlerischen Methode der Reproduktion ver-sinn-bildlicht. Diese Projektionen fanden Eingang in die Distributionsmedien des Alltags – Tageszeitungen, Broschüren zur Arbeitsanleitung, Lehrbücher an Schulen und Hochschulen. Darin zeigt sich das Konzept der „Sublimierung des Alltags“. Die staatliche unikale Kunst gehörte hingegen zu den Anleihen des kulturellen Erbes, aus dem sich der Staat entsprechend der Formel Schdanows das Beste herausholen wollte, um es für die neue Zeit nutzbar zu machen. Sie verfolgte am deutlichsten die Ansprüche einer marxistischen Ästhetik, wie Lukács sie in seiner Phänomenologie formuliert hatte. Sie repräsentierte den nomos, in dem die coincidentia oppositorum als Wirklichkeitsorganisation im Artefakt vorgeführt wurde. Der Rekurs auf das kulturelle Erbe war nicht zuletzt auf das Betreiben der Künstler zurückzuführen, die den Produktionskünstlern gegenüber skeptisch eingestellt waren und traditionelle Stilmittel mit den Repräsentationsmustern der neuen Zeit zu vereinen suchten. Die Ikonographie, die in der russischen Kunstgeschichte stets beliebt war, wurde nun mit neuen Helden gefüllt, die die produktive, technische, künstlerische oder sportliche Meisterschaft symbolisieren sollten. In der staatlichen Auftragskunst fanden diese Künstler einen Markt, der ihre Unikate sowohl in den staatlichen Museen ausstellte als auch auf Postkarten reproduzierte. Man gab ihnen Aufträge zur Gestaltung öffentlicher Orte wie Plätze, Schulen und Hochschulen, Parks, Bibliotheken usw. Die private unikale Kunst war hingegen durch das faktische Verbot privater Institutionen wie Verlagen und Ausstellungsorten eingeschränkt, was jedoch ihre Entstehung und Verbreitung kaum verhindern konnte. Gerade weil die private Produktion an und für sich nicht verfolgt, sondern im Sinne der allgemeinen Bildung begrüßt wurde, wurde das künstlerische Experimentieren geduldet. Offiziell war es unmöglich, an nicht-staatliche Institutionen zu verkaufen, doch es existierte immer ein Handelssystem im Rahmen von Freundeskreisen, deren Protagonisten meist Allianzen unter Künstlern, Schriftstellern und Musikern bildeten. Besonders beliebtes Verbreitungsmittel war die Mail-Art, die später auch in der DDR Verbreitung finden sollte. Aus den Freundeskreisen wurden informelle Institutionen, indem die Produkte in Salons gezeigt und verkauft wurden, was meist in Privatwohnungen stattfand. Mit dem Ende der sechziger Jahre breiteten sich diese Distributionssysteme – mehr oder minder unter staatlicher Beobachtung und geduldet – zunehmend aus. Einen solchen Salon zu unterhalten, barg zwar immer ein Ri99

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siko, aber auch die Chance, innerhalb von besonders anerkannten Künstlerkreisen ein hohes Renommee zu erlangen. Die staatliche Verfolgung richtete ihre normierende Geltungsbehauptung auf die Form und Radikalität der Werke, doch mehr noch auf die allgemeine Lebensführung der Künstler. Das zunehmende Interesse ausländischer Diplomaten an diesen kleinen Salons, das sich durch ihre immer häufigeren Besuche im Laufe der siebziger und achtziger Jahre zeigte, bot den Künstlern einen gewissen Schutz. Ihr Desinteresse an einer breiten Öffentlichkeit versinnbildlicht sich in der Bezeichnung des „Salon[s] der neuen Aristokratie“59, den Degot als Beispiel für eine Kultur heranzieht, die es als Zeichen von Überlegenheit sieht, keine, oder nicht nur „Staatskunst“ für die „ungebildeten Massen“ zu machen. Dennoch waren auch diese Künstler institutionell eingebunden in das staatliche Reproduktionssystem. Das bedeutet, dass selbst diejenigen, die sich vom Zwangskollektivismus abheben wollten, letztlich in kollektiven Strukturen agierten, die ein egozentrisches Weltbild vom künstlerischen Genie höchstens als ironische Anspielung, doch nicht als symbolische Wirklichkeitsorganisation zuließen. Boris Groys betont die Bedeutung des sozialen Kapitals und der Freundschaften: „Auch wenn man Geld hatte, konnte man wenig damit anfangen. Alles lief über ‚zwischenmenschliche Beziehungen‘, Kontakte, Freundschaften, Bekanntschaften, Seilschaften. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bildeten das eigentliche Kapital. Die Pflege dieser Beziehungen stellte daher die Hauptbeschäftigung des sowjetischen Menschen im späten Kommunismus dar. So war das sowjetische Leben jenseits aller Ideologie damals noch kommunistisch gestaltet, weil es kommunal war – der menschliche Faktor fungierte als entscheidender wirtschaftlicher Faktor.“60

Zu den Vertretern der privaten unikalen Kunst gehörten u.a. die Moskauer Metaphysiker. Sie bewegten sich künstlerisch an der Grenzzone zum Erbe der Moderne, doch sie orientierten sich vor allem an den philosophischen und religiösen Traditionen der russischen Moderne. Gegenüber der Wirklichkeitsorganisation – sowohl der offiziellen als auch der inoffiziellen Kunst – setzten sie den Versuch, durch die Beschäftigung mit transzendenten, überzeitlichen Werten eine Autonomie der Kunst zu behaupten, die sich durch die Form selbst – als Werkautonomie etabliert, wie Jewgeni Barabanow erläutert: „Ihre Überlegungen kreisten unabänderlich um die Theorie und Ontologie des gemalten Bil59 Degot, Ekaterina: „Zwischen Massenproduktion und Einzigartigkeit, S. 135“. 60 Groys, Boris: „Paradise revisited“, S. 138. 100

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des sowie um Fragen nach der wahren Bestimmung des künstlerischen Metiers. In Wort und Schrift offenbarten sie dabei einen Hang zum gnostischen Diskurs – zu einem dualen Diskurs, der durch die Kraftfelder der beiden Welten polarisiert ist: die Welt der wahren, richtigen Wirklichkeit, die dem metaphysischen Wissen offen steht, und der Welt, die die Kunst mit falschen Leitlinien unterdrückt hat.“61 Hier wird deutlich: Auch in der Abgrenzung von der offiziellen Kunst schimmert der von Lukács evozierte Gedanke der Hegelschen Aufhebung immer noch durch. Die private mediale Kunst bezeichnet die Verknüpfung des öffentlichen und privaten Lebens und Arbeitens. Sie unterschied sich von der offiziellen Kunst durch die Intimität der Verteilung und durch die Formen selbst – die Mail-Art, die Diaprojektion oder die Performance. Degot betont: „In jedem Fall blieb die mediale Natur der sowjetischen Kunst gewahrt.“62 Im überschaubaren Freundeskreis wurden die Produktionsformen des Tagwerks als Grafiker oder als Nachrichtenfotograf in andere Perspektiven gebracht. In der Soz-Art, die das Ende der UdSSR überlebte, wird die gegenseitige Durchdringung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum am radikalsten umgesetzt: Sie nimmt die politischen Parolen oder Symbole an öffentlichen Gebäuden, Hauswänden, Tribünen, Gedenkstätten usw. als Ressource für eine dokumentarisch-verfremdete Medienkunst, in der das Medium der Propaganda zugleich zum eindrucksvollen Zeugnis eines spezifischen Kulturrahmens der Moderne wird, der, ob offen oder verdeckt, immer politisch aufgeladen ist. Eine weitere bedeutende Form der privaten medialen Kunst der Sowjetunion war das schrifttypologische „Samisdat“; das heißt Selbstausgabe und klingt in der russischen Phonetik ähnlich wie „Gosisdat“ – Staatsverlag. Die Technik des Samisdat konfrontierte die ideologische Wirklichkeit mit faktographischen Tatbeständen. So sammelte die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja 1968 eine „Chronik der laufenden Ereignisse“, die regelmäßig erschien und „Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Manuskriptbeschlagnahmungen, Verhöre, Prozesse, Zwangseinweisungen in psychiatrische Anstalten, [...] Repressionen gegen Religionsgemeinschaften oder nichtrussische Nationalitäten, [...] Justizwillkür und Übergriffe des KGB“63 in Form von kargen Maschinenschriftsätzen auf weißem Papier kommentarlos dokumentierte.

61 Barabanow, Jewgeni: „Die Moskauer Metaphysiker“, S. 178. 62 Degot, Ekaterina: „Zwischen Massenproduktion und Einzigartigkeit, S. 136“. 63 Hänsgen, Sabine/Witte, Georg: „Die sichtbare unsichtbare Schrift des Samisdat“, S. 244ff. 101

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Nach der Revolution, dem Zweiten Weltkrieg und der Stalinzeit setzte in der UdSSR eine Phase der Sättigung ein. Sie hielt über dreißig Jahre an. Die Gewissheit, der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft eine Lebensführung entgegenzusetzen, die keine Abweichung innerhalb des alten Rahmens, sondern die Etablierung eines neuen Systems bedeutet, verleiht den Bezeichnungen des „siegreichen Utopismus“ und des „Posthistoire“ Berechtigung. Dies gilt insbesondere für das Verständnis der Repräsentationsmuster, auf denen sowjetische Künstler ihre Sinnsetzungen innerhalb ihres Kunstsystems entwickelten. Die Doppelbödigkeit zwischen offizieller und inoffizieller Kunstproduktion führte zwar einen Bruch innerhalb der kulturellen Struktur des Sozialismus mit sich, doch dieser war weit weniger dysfunktional als das von Durkheim und Merton beschriebene Auseinandertreten zwischen der sozialen und der kulturellen Struktur in der westlichen Marktwirtschaft. Trotz aller Repressionen konnten beide Produktionsformen die von Lukács geforderte coincidentia oppositorum zumindest so weit simulieren, dass der dramatische Gestus des L’art pour l’art der westlichen Moderne einer pragmatistischem Kompromisshaltung wich, in der gute Beziehungen wichtiger waren als das Prestige. Ganz ohne Differenzproduktion ging es nicht, doch das Primat blieb die Aushandlung. Wer bereit und risikofreudig genug war, sich an den Grenzen der Aushandlung zu profilieren, konnte auf eben dieser Basis sogar eine bedeutende Position erlangen. Wenn überhaupt, kann innerhalb dieser Logik wohl am ehesten von einer „kulturellen Anomie“ gesprochen werden. Der siegreiche Utopismus hatte die Waffen, mit denen die Künstler der Frühmoderne für die permanente Revolution in das Feld gezogen waren, stumpf gemacht. Er ist ein Paradoxon für sich, denn wenn der Utopismus siegreich ist, hört er auf, utopisch zu sein. „Ankunft im Alltag“64, das war auch die Veralltäglichung des Ausnahmezustandes, der damit im Posthistoire angekommen war. Groys erörtert die Selbstwahrnehmung der inoffiziellen Kunstzene der UdSSR: „Man sah das eigene Land als exotische Verirrung, als Sonderfall, als extravagante historische Abweichung von der gesellschaftlichen Normalität. Doch im Unterschied zur russischen Avantgarde war man auf diese Abweichung nicht stolz. Man wollte die Norm. Und die Norm vermutete man entweder außerhalb der Grenzen der Sowjetunion oder aber in der vorrevolutionären russischen Vergangenheit. Wenn man im eigenen Land in der Minderheit war, fühlte man sich zugleich mit der großen Welt solidarisch [...]. Die Stimmung in der inoffiziellen russischen Kultur der damaligen Zeit war also zutiefst konservativ – 64 So lautet der nüchterne Titel eines Romans von Brigitte Reimann, Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR, aus dem Jahre 1961. 102

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allerdings konservativ in Bezug auf Normen und Traditionen, von denen man im Grunde keine Ahnung hatte, weil man von ihnen zeitlich und territorial unwiderruflich getrennt lebte.“65

Ob konservativ oder fiktiv – die Vorstellung von einer Norm konnte für die Künstler der Sowjetunion keine sein, die viel gemein hatte mit den Repräsentationsmustern des Westens, schon deshalb, weil sie diese nie kennengelernt hatten – und „kennengelernt“ ist hier wörtlich gemeint. Denn das Kennen-Lernen geht über ein paar Besuche und Erzählungen hinaus, es ist die konkrete Erfahrung des Kulturrahmens, seiner unausgesprochenen Gesetze und die Verinnerlichung dieser Erfahrung, die sie in einen praktischen Sinn verwandelt, der ganz auf dieses System ausgerichtet ist und in einem anderen überhaupt keinen Sinn – als sens pratique im Bourdieuschen Sinne – erfährt. Aus dem Dargelegten lassen sich nunmehr folgende Schlüsse ziehen: Der staatssozialistische Kulturrahmen funktionierte nicht auf der Grundlage des permanenten Fortschritts, in dem Abweichung produziert und zwingend notwendig wird, sondern auf der Grundlage des siegreichen Utopismus der kommunistischen Idee. Indem die Avantgarde – oder die Vorstellung von ihr – zum nomos wird und damit das gesamte Kunstsystem bestimmt, benötigt sie keine Grenzhandlung mehr, um ihre Stellung als Vorhut der ästhetischen Weiterentwicklung zu rechtfertigen. Die Avantgarde impliziert sowohl die Ästhetik der sozialistischen Moderne bzw. des sozialistischen Realismus als auch die Projektion eines gesellschaftsbezogenen Humanismus, innerhalb derer der Arbeiter den „neuen Menschen“ inkarniert und die Avantgarde verkörpert. Die Avantgarde wird zugleich von der gesamten Künstlerzunft repräsentiert, die diese humanistische Ästhetik im Lukácschen Sinne „subjektiviert“ und damit einer breiten Bevölkerung zugänglich macht. Das heißt, die Avantgarde ist kein notwendiger Antrieb für die Aufrechterhaltung einer Dynamik, in der sich Krise und Sättigung konjunkturell ablösen, sondern sie bildet die mentale und materielle Produktionsgrundlage aller Kunst. Ihre Aufgabe ist es nicht mehr, einen häretischen Gegenpol innerhalb des Produktionsfeldes zu bilden, sondern die Hauptorientierung der Wirklichkeitsorganisation darzustellen. Aus diesem Gesamtsystem erscheint es einleuchtend, dass sich auch die inoffiziellen Kulturproduzenten auf das Kollektiv, das soziale Kapital, das die finanzielle Misere erträglicher macht, beziehen; sie schätzen die Freundschaft vor dem Karrierismus, den Handschlag vor dem gülti-

65 Groys, Boris: „Paradise revisited“, S. 140. 103

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gen Vertrag und die „fröhliche Melancholie“66, in der die zwischenmenschliche Solidarität gegen den kalten Bürokratismus wappnet. Sie praktizieren schließlich eine Wirklichkeitsorganisation, in der Kunst immer auf das Leben bezogen ist, auf das Material des Alltags und auf eine Selbstbefragung sinnvoller Intervention, die, eher lakonisch als eitel, manchmal mystisch und unverständlich, nur selten den Gestus des Heroischen wählt, es sei denn im Exil. Die Nähe zur Macht ist normal und kaum kompromittierend, denn als Teil der Avantgarde ist man sich der Mächtigkeit, die Bild und Schrift in einem Land besitzen, in dem die mediale Reproduktion eine Massenerscheinung ist, selbstverständlich bewusst. Weder die vollkommene Identifikation noch die radikale Abkehr von den staatlichen Institutionen gehört zum Impetus der inoffiziellen Kunst, schon weil der Aufenthalt in der Sowjetunion eine Entscheidung für das Land war, mit der man die Veralltäglichung des Posthistoire eben als wohl oder minder notwendiges Übel in Kauf nahm, wenn nicht begrüßte. Schließlich war auch die nicht-offizielle Kunst letztlich nur durch die staatliche Subventionierung eines zwar einfachen, doch ausreichend versorgten Lebens und viel Freizeit möglich. All das hat mit der tradierten Dynamik des Feldes der Kunstproduktion, die ich im ersten Teil dieser Studie charakterisiert habe, nicht viel gemeinsam. Wie wenig die alten Gegensätze zwischen „etablierter“ und „autonomer“ Kunst in Bezug auf die UdSSR greifen, wird in Degots Kommentar deutlich: „Die Vorstellung, die sowjetische Gesellschaft habe im völligen Konsens gelebt, geht auf einen totalitären Mythos zurück. Nicht weniger mythisch ist jedoch, dass es in dieser Gesellschaft einen absoluten Gegensatz gegeben habe. Zudem zwingt einen die Figur des Gegensatzes, eine Sache als die Wichtigere herauszustellen. So wurde auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs das „Prosowjetische“ (offizielle, an der Macht Befindliche) lange als typisch favorisiert, während das „Prowestliche“ (z.B. einige Phänomene der inoffiziellen Kunst) als marginal ignoriert wurde. Die sowjetische Kunst kann man – wie auch die sowjetische Gesellschaft – nur als etwas zugleich Einheitliches und innerlich Zerrissenes verstehen, doch ist dieser Riss außerhalb der Logik des Kalten Krieges zu verorten, da dieser eine einseitige Wahrheit präsupponiert. Diese Logik ist politisch und ästhetisch zugleich: Sie gründet sich auf der Gegenüberstellung von autonomer, einzigartiger, individueller Kunst und dem Totalitären, dem Abstrakten und dem Figurativen, Avantgarde und Kitsch.“67

66 Groys, Boris: „Das Leben in dieser Zeit war ein melancholisches Fest.“ „Paradise revisited“, S. 140. 67 Degot, Ekaterina: „Zwischen Massenproduktion und Einzigartigkeit“, S. 134. 104

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Das sowjetische Kunstsystem nach der Stalinzeit war durch die Gleichzeitigkeit von Kritik und Affirmation geprägt, die sämtliche künstlerischen Milieus durchzog und offenbar selbst innerhalb der offiziellen Kunst und ihrer Vertreter verbreitet war. Die „Fürstenerziehung“, von der sich nicht wenige Künstler die Durchsetzung von Freiräumen erhofften, scheint ein für totalitäre Systeme typisches Phänomen zu sein, das sich auch mit dem Selbstverständnis der anerkannten Künstler in der DDR deckt. Umgekehrt erhofften sich die politischen Machthaber die Zustimmung und das Einverständnis „ihrer“ Künstler. In diesem Sinne spreche ich von einer Veralltäglichung des stalinistischen siegreichem Utopismus unter totalitären Herrschaftsverhältnissen. Ich folge hier Rehbergs Begriff der „Konsensdiktatur“: „Meine These ist [...], dass es im Ostblock der 70er und 80er Jahre trotz der Überwindung des Stalinimus keine ausdrückliche Abkehr vom ‚Totalitären‘ gab, wohl aber – um an Max Webers herrschaftssoziologische Kategorie anzuknüpfen – dessen ‚Veralltäglichung‘. Der offenen Angst der Auslöschung der eigenen Person folgten die latenten Ängste vor unterschiedlichsten Sanktionierungen; dabei wurde die ultima ratio der Inhaftierung keineswegs unwahrscheinlicher [...]. Am wichtigsten aber ist, dass der Terror zunehmend durch eine Verinnerlichung entdramatisierter Konsenszwänge abgelöst wurde. Das soll ‚Konsensdiktatur‘ heißen.“ 68

2.2

Konsensdiktatur DDR: G e s t a l t u n g sw i l l e u n d G e s t a l t u n g s z w a n g

2.2.1 Das Feld der Kunstproduktion in der DDR Die Besonderheit der Wirklichkeitsorganisation, die mit der Veralltäglichung dieser Strukturen einhergeht, kommt im Kunstsystem der DDR – der „kleinen Schwester der Sowjetunion“ – paradigmatisch zur Geltung. Sie beruht auf einer Gegensatzspannung zwischen (autonomem) Gestaltungswillen und (kollektivem) Gestaltungszwang, die den Künstler in ein festes institutionelles Rahmenwerk spannt, in dem ihm jedoch zugleich Zugeständnisse hinsichtlich seiner Gestaltungsmöglichkeiten und seines Lebensstandards gemacht werden. Ähnlich wie in der Sowjetunion war die offizielle künstlerische Handlungsorientierung auch hier im Wesentlichen durch die politischen Leitlinien bestimmt, nach denen das sozialistische Menschenbild in das alltägliche Leben hinein vermittelt werden sollte. Dieses Prinzip sollte in allen Künsten mit der Metho68 Rehberg, Karl-Siegbert: „Konsensdiktatur“, S. 143ff. 105

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de des sozialistischen Realismus umgesetzt werden. Ähnlich wie in der Sowjetunion verlor dieser Versuch der ästhetischen Normierung, der immer wieder in den formalen Anlass für Zensur und Verfolgung unliebsamer Künstler umschlug, im Zuge der von Rehberg definierten Veralltäglichung jedoch zunehmend an Bedeutung und damit an Legitimation. Die Anlehnung an das sowjetische Vorbild versetzte die Kunstproduzenten der DDR in ähnliche Widersprüche wie die bereits beschriebenen im Reiche ihres „großen Bruders“. Dass die Beziehung der DDR zur Sowjetunion nicht widerspruchsfrei war, erläutert Henckmann am Beispiel von Walter Besenbruch, der erstmalig eine systematische Ästhetik in der DDR etablierte und durch seine Lehre an der Humboldt-Universität zu Berlin zu den richtungsweisenden Wissenschaftlern gehörte: „Untergründig wirkte sich jedoch bei [Besenbruch, T.B.] und anderen deutschen Ästhetikern eine Spannung aus, die sich zwischen der Anerkennung der Sowjetunion als Siegermacht und Vorreiter auf dem Weg zum Sozialismus einerseits und dem Bewußtsein der Überlegenheit der seit Jahrhunderten entwickelten deutschen Kultur gebildet hatte. Das nationale Selbstbewußtsein der Deutschen stellte eine ernste Schwierigkeit dar, im ersten Jahrzehnt der SBZ/ DDR die Intellektuellen für den Sozialismus zu gewinnen. Es fällt auf, daß trotz der ideologisch-politisch stets betonten Vorbildrolle der Sowjetunion und der umfangreichen Übersetzung und Verbreitung sowjetischer wissenschaftlicher Literatur verhältnismäßig wenig davon in die wissenschaftlichen Erörterungen aufgenommen worden ist.“69

Diese Annäherungsschwierigkeiten änderten jedoch nichts daran, dass das Kunstsystem der DDR prinzipiell – dem sozialistischen Zentralismus entsprechend – genauso strukturiert war wie das in der UdSSR. Nach Paul Kaiser können für die Implantierung der DDR-Kunst fünf Fundamentgründungen benannt werden: 1. Lesbarkeit des Kunstwerkes für die Arbeiterklasse durch populistischen Stil, der sich an dem klassischen Realismus des 19. Jahrhunderts orientiert, 2. Nobilitierung des „sozialen Gebrauchs“ bildender Kunst und daraus folgende Akademisierung des Kunstbetriebes, 3. staatliches Patronagesystem der Auftragskunst und damit einhergehende ökonomische und konzeptuelle Bindung der Künstler an den Staat,

69 Henckmann, Wolfhart: „Zur Diskussion über Gegenstand und Aufgaben der Ästhetik besonders in den 50er Jahren“, S. 70ff. 106

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4. Ablösung des Kulturkanons der europäischen Moderne durch Setzung eines eigenen: „Parteilichkeit“, „Volksverbundenheit“ und „sozialistischer Ideengehalt“ (sozialistischer Realismus), und 5. Notwendigkeit der Übernahme der sowjetischen Kunstdoktrin unter Beibehaltung des „nationalen Kulturerbes“.70

Die Autonomie des Kunstfeldes löste sich einem staatssozialistischen Auftragsmodell auf, das den Künstlern zugleich hohe Anerkennung und einen herausragenden Status verlieh. Eine Neubestimmung der Produktion und der Rezeption, die als „Popularisierung“ bezeichnet werden könnte, korrelierte mit einer Akademisierung und Nobilitierung der sozialen Position des Künstlers innerhalb der „klassenlosen“ DDR-Gesellschaft. „Von der enormen Aufwertung der Künste im SED-Staat profitierte mit wenigen Ausnahmen ein ganzer Berufsstand, längst nicht nur die sich zu einem Bilderdienst für die Belange des besseren Deutschland verpflichtenden oder auch nur im Interesse des eigenen Machtgewinns handelnden Künstlerfunktionäre,“ bemerkt Kaiser.71 Der soziale Status des Künstlers war der des „freischaffenden Angehörigen der Intelligenz“. Schon die Bezeichnung suggeriert die Existenz einer „nichtintelligenten“ Masse, zu deren kultureller Erziehung Staat und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) sich im Bündnis mit ihren Künstlern verpflichtet sah. Georg Simmel hatte bereits früh geahnt, dass es unter den Bedingungen der Moderne, aus seiner Sicht insbesondere der Geldwirtschaft, kaum möglich sein würde, die Kunstproduzenten aus dem gesellschaftlichen Überbau zu entlassen: „Die Geldwirtschaft zeigt sich auch hier in ihrer formalen Beziehung zu sozialistischen Zuständen: denn die Erlösung von dem individuellen Kampf ums Dasein, die Sicherung der niedrigeren und die leichte Zugänglichkeit der höheren Wirtschaftswerte dürfte gleichfalls die differenzierende Wirkung üben, daß ein gewisser Bruchteil der Gesellschaft sich in eine bisher unerhörte und von allen Gedanken an das Irdische entfernteste Höhe der Geistigkeit erhebt, während ein andrer Bruchteil grade in einem ebenso unerhörten praktischen Materialismus versänke.“72

Für den von Simmel benannten „ersten Bruchteil“ galt hinsichtlich der sozialistischen Zustände in der DDR zunächst, dass das PatronageSystem, ähnlich wie in der Sowjetunion, die révolution permanente, die 70 Vgl. Kaiser, Paul: „Die Aura der Schmelzer“, S. 240. 71 Kaiser, Paul: „‚Hofkünstler‘ im ‚Arbeiter und Bauern-Staat‘? Zur Sozialfigur des bildenden Künstlers in der DDR“, S. 622ff. 72 Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, S. 127ff. 107

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in den Künsten der Bundesrepublik als feldstrukturierendes Phänomen fortbestand, ins Leere laufen ließ. Die ästhetische Leitlinie in Gestalt des sozialistischen Realismus und die vollständige Institutionalisierung des Kunstbetriebes gingen in den Nachkriegsjahren zunächst tatsächlich mit einem Zurücktreten der Autonomieansprüche der Kulturproduzenten einher. Die Euphorie vieler DDR-Bürger über das Ende des Nationalsozialismus und die Hoffnung auf einen realsozialistischen Gegenentwurf zum Kapitalismus ließ die Einschränkung individueller Handlungsoptionen als kleine(re)s Übel erscheinen. Viele Schriftsteller und Künstler entschieden sich ganz bewusst für die Übersiedlung in die „Zone“ und wollten tatkräftig am Aufbau des Sozialismus mittun. Staat und Partei dankten es ihnen mit der Ermöglichung eines komfortablen Lebensstils. Im Gegenzug zum Prestige und der sozialen Absicherung erwarteten sie von den Kulturproduzenten, dass diese sich entsprechend des sowjetischen Vorbildes für die mediale Verbreitung der sozialistischen Politik und Kultur einsetzten. Zugleich fürchteten die Funktionäre die genialische Eigengeltung der Kulturproduzenten, was nach Kaiser dazu führte, dass sich die Machtbalance, die sich aus den jeweiligen Interessen der Partei und der Künstler ergab, in der späten DDR zunehmend zugunsten der Künstler verschob. Die Versuche, deren Eigengeltung durch Kollektivierungsmaßnahmen weg-zu-erziehen, ließen die herausragende gesellschaftliche Stellung der Künstler grundsätzlich unangetastet. Ihr Jahreseinkommen überschritt das jährliche Durchschnittsgehalt des administrativen Mittelbaus.73 Der Status der Freischaffenden – ein für die Planwirtschaft unerhörter Tatbestand – manifestiert gleichwohl den paradoxalen Charakter des staatssozialistischen Repräsentationsmusters in Hinblick auf die gesellschaftliche Rolle der Kunst: Die Selbständigkeit als Professionskategorie der bürgerlichen Moderne wurde gleichsam mit dem höfisch-akademischen Auftragsmodell verbunden. Kaiser unterteilt dieses in Bezug auf die bildende Kunst in vier Segmente: 1. Den Werkvertrag als kulturpolitisch bedeutendste Praxis, 2. den offiziellen Ankauf, 3. ein Netz vertraglicher Sonderformen, das relativ individuelle Aushandlungspraktiken erlaubte, und 4. schließlich deren weitere Ausdifferenzierung in Form des „verdeckten oder simulierten Auftrags“.74

73 Vgl. Kaiser, Paul: „‚Hofkünstler‘ im ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘? Zur Sozialfigur des bildenden Künstlers in der DDR“, S. 630ff. 74 Vgl. Ebd. 108

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Verstehe ich die Segmente „Werkvertrag“ und „Ankauf“ als typische Erscheinungen der Auftragskunst, so erweisen sich die beiden letzteren Segmente als Ausdruck des staatlichen Bestrebens, dem zunehmenden Bedürfnisanspruch der Künstler nachzukommen, die ihre Produktion nicht nach vorgegebenen Maßgaben, sondern entsprechend ihrem individuellen inhaltlichen und zeitlichen Gestaltungswillen ausrichten wollten. Gleichwohl wurde auch der Handschlagvertrag im Nachhinein als „Auftrag“ verbucht. So findet sich auch hier die Verschränkung des Offiziellen und des Inoffiziellen, die offenbar für alle spezifischen Teilbereiche der Kunst galt, d.h. auch innerhalb der staatlich institutionalisierten Auftragskunst selbst praktiziert wurde. Diese Praktiken, die in der Veralltäglichung zum täglich Brot der Künstlerexistenz werden, kondensieren sich in Selbstzuschreibungen wie die des „linientreuen Dissidenten“ (Jürgen Kucynski), die deutlich machen, wie eng beide Ebenen miteinander verknüpft waren. Sind diese Praktiken paradigmatisch für die im Sozialismus typischen Erscheinungen kommunaler Wirklichkeitsorganisation? Manches spricht dafür. Der Staat protegierte seine Künstler durch Arbeits- und Auftragsgarantie, erweiterte Reisefreiheiten und bessere Wohnungen. Er wurde so zum Mäzen der Kunstproduzenten – auch wenn er manchmal mehr versprach, als er hielt, wie Brigitte Reimann, Mitglied des Schriftstellerverbandes in ihrem Tagebucheintrag vom 21. Mai 1961 ironisch feststellte: „Gestern war ich mit Jon in Berlin, um die Manuskripte bei Caspar abzuliefern. Wir haben beim FDGB einen Wagen beantragt, man versprach mit vielen freundlichen Worten, man werde zusehen ... , aber es gab keinen Wagen, und Jon erfuhr, daß unsere netten, vielwortigen FDGB-Mäzene geäußert haben, man dürfe das mit dem Wagen ‚gar nicht erst einreißen lassen‘. Eine hübsche Botschaft.“75 Ein späterer Eintrag verdeutlicht aber auch das Bewusstsein um die sozial ungleiche Privilegierung der Kulturschaffenden: „Wir haben endlich unseren Telefonanschluß. Das bedeutet eine Arbeitserleichterung. In vierzehn Tagen bekommen wir ein Auto. [...] So haben wir denn alles oder fast alles, was wir uns wünschen ... Nächstes Jahr bekommen wir ein Grundstück am See bei Spremberg und ein Wochenendhäuschen. Manchmal bedrückt und ängstigt mich dieser Lebensstandard oder einfach die Tatsache, daß wir uns so viele Wünsche erfüllen können. Gewiß, wir arbeiten hart, dennoch habe ich immer etwas wie ein Schuldbewußtsein gegenüber Leuten, denen es nicht so gut geht. Die Welt ist immer noch ungerecht eingerichtet.“76

75 Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts, S. 184. 76 Ebd., S. 208 ff. 109

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Dieses Empfinden wird sich verstärken und Reimann wird es in der Figur der „Franziska Linkerhand“ ihres gleichnamigen Romans, der, unbeendet, kurz nach ihrem Tod 1974 veröffentlicht wird, in einer deutlichen Kritik an den realsozialistischen Zuständen zuspitzen. In Bezug auf die bildenden Künstler haben Paul Kaiser und Karl Siegbert-Rehberg Pionierarbeit hinsichtlich deren soziologischer Verortung innerhalb des Feldes der Kulturproduktion geleistet. In ihren seit 1997 erscheinenden Veröffentlichungen zu diesem Thema verwehren sie sich nachdrücklich gegen eine eindimensionale Betrachtung, die insbesondere durch den sogenannten „Bilderstreit“ der Nach-Wende zu Tage trat. Darin wurde nicht nur deutlich, wie kontraproduktiv eine pauschale Bewertung der anerkannten Künstler in der DDR als „Marionetten des Systems“ ist, (und nach der die inoffiziellen Künstler post festum zu Widerstandskämpfern erklärt werden) sondern – und das ist viel wichtiger – dass solche Dichotomien mit der tatsächlichen Sozialfigur der Kunstproduzenten nicht viel gemein haben. Denn gerade im Zuge der siebziger und achtziger Jahre wurde immer deutlicher, dass die Kulturfunktionäre zunehmend zu einem demokratischen Zentralismus tendierten, der, zumindest in Hinblick auf die etablierten Künstler, lieber gestalterische Freiräume in Kauf nahm, als das Risiko der programmatischen Abwendung der Künstler. Paul Kaiser schreibt zu dem in der DDR hofierten Künstlertypus: „Dessen Leistung lag [...] gerade in der virtuosen (und unzweifelhaft auch mit abgelieferten Proben einer ‚Höflingskunst‘ erreichten) Balance zwischen Fremdfunktionalisierung und Autonomie, zwischen einem bildpolitischen Engagement für den großmäzenatischen Staat und dem gleichzeitigen Gewinn ästhetischer und lebensweltlicher Freiheitsgrade für die Generierung eines Werkes, das in manchem Fall eben über den Staat, der es stützte und instrumentalisierte, weit hinausreicht, wie man zu erkennen beginnt.“77

Einer ohnehin gefährlichen Übertragung der sozio-kulturellen Position auf Inhalt oder gar die Qualität des künstlerischen Werkes kann nicht entschieden genug widersprochen werden. Kaisers Einwand macht indes deutlich, wie wichtig eine gewisse analytische Tiefenschärfe hinsichtlich der Wirklichkeitsorganisation der Künstler ist, die sich eben nicht in Formeln des Offiziellen oder Inoffiziellen gegeneinander ausspielen lassen, wie bereits am Beispiel der sowjetischen Künstler deutlich wurde. Es war vielmehr die wechselseitige Durchdringung, die das Spezifische dieser Gesellschaften ausmachte, in der die Beherrschung beider Codes den größtmöglichen Erfolg versprach. Für die anerkannten Künstler be77 Kaiser, Paul: „‚Hofkünstler‘ im ‚Arbeiter- und Bauernstaat?“ S. 625. 110

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deutete das, dass die verzweifelte Sehnsucht nach Zustimmung, die Rehberg der politischen Elite attestiert, einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für ihre ästhetischen und persönlichen Freiräume bedeutete, die von ihnen offenbar kräftig ausgeschöpft wurden. Diese relative Autonomie der Künstler erläuterte Pierre Bourdieu am Beispiel der Tradition der monarchischen Auftragskunst der Vormoderne: „Die Verkennung und Anerkennung von Macht und die Produktion jener legitimen Formen von Macht, die das Recht darstellt, setzen folglich den Einsatz von Macht voraus. Die symbolische Wirksamkeit der Legitimationsarbeit ist eng an die Differenzierung dieser Arbeit gebunden, also an das aus ihr resultierende Risiko des Machtmissbrauchs. Der Fürst kann von seinen Dichtern, Malern oder Juristen einen wirklich effizienten symbolischen Dienst nur dann erlangen, wenn er ihnen die (relative) Autonomie einräumt, die die Bedingung eines unabhängigen Urteils darstellt, aber auch die Möglichkeit kritischer Infragestellung zulässt. Denn zwar können eine scheinbare Autonomie oder eine verkannte Abhängigkeit dieselbe Wirkung erzielen wie wirkliche Unabhängigkeit, aber die symbolische Wirksamkeit, die eine gewisse Unabhängigkeit der legitimierenden Instanz gegenüber der legitimierten voraussetzt, bringt fast unvermeidlicherweise ein entsprechendes Risiko mit sich: das Risiko, dass fast jene Instanz die ihr verliehene Legitimationsmacht für eigene Zwecke verwendet.“78

Auf diese Weise erfährt die von Lukács geforderte coincidentia oppositorum eine geradezu ironische Umsetzung – denn die Künstler konnten ihre relative Autonomie insoweit aufrechterhalten, als dass sie sich zwar den strengen sozialistischen Zentralismus unterwerfen mussten, doch zugleich zu ihm in einer Beziehung standen, die einer Machtbalance im Sinne Elias näher kommt als der reinen Hierarchie. Ihr sens pratique richtete sich also auf die Kunst der Aushandlung, die letztlich auch darin bestand, das aus der Sowjetunion übernommene Prinzip der „Kritik durch Affirmation“ zu verfeinern. Heiner Müller gab dafür das wohl umstrittendste und deshalb beste Beispiel. Die Repressalien gegen nicht-institutionengebundene Kunstproduzenten lagen vor allem darin, sie in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen. Auch hier war das von Groys unterstrichene soziale Kapital im Sinne des von Elias analysierten Netzwerkes zugleich höchstes und verletzbarstes Gut, schon weil es von dem allgegenwärtigen Überwachungssystem der Staatssicherheit durchdrungen war. Die Konsensdiktatur verhinderte die Bildung autonomer Enklaven bis in die 1980er Jahre, wo sie konnte. „Erst nach dem ‚Biermann-Schock‘ von 1976 kommt es zur Bil78 Bourdieu, Pierre: Meditationen, S. 133. 111

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dung einer authentischen Gegenkultur. In die (beschränkte) Öffentlichkeit trat eine neue Künstlergeneration [...].“ heißt es im Programmheft zu den 7. Dresdner Schmalfilmtagen „Filmische Subversion in Dresden 1978 bis 1988“.79 Die Kreise der Gegenkultur waren jedoch klein und schwer zugänglich. Die Adelung der nicht-etablierten Künstler durch einen institutionellen Gegenpol blieb insbesondere für die Künstler und Schriftsteller, die nicht zum Hochschulstudium zugelassen wurden, ein gefährlicher und ferner Traum. Umgekehrt legten die Funktionäre großen Wert auf ein konsensuales Verhältnis zu den Vertretern der offiziellen Kunst, das sich unter Honeckers Regierung in Schlagworten wie „Partnerschaft“, der „dialogischen Kunst“ und der nunmehr nicht mehr „selbstkritischen“, sondern „aufbauenden Kritik“ ausdrückte. Die Tolerierung kleiner Nebenszenen in einem Klima der Entideologisierung der Aufträge sprach jedoch weniger für eine substantielle Öffnung als für die Einsicht, dass es geschickter ist, kleine Ventile zur Ausschüttung des zunehmenden Debattendrucks zuzulassen, als ihre Unterbindung zu forcieren und den Kritikern damit neue Nahrung zu geben. Ähnlich wie in der Sowjetunion, doch nahezu gänzlich unverbunden mit ihr, bilden sich in der DDR im Zuge der siebziger Jahre künstlerische Parallelgesellschaften, die in den achtziger Jahren immer selbstbewusster auftreten. Diese „sozialistische Bohème“ sucht ihr Glück vor allem in einer Kultur der Lebensweltlichkeit. Ihr Vernetzungsgrad ist relativ gering. Vielmehr bilden sich in einigen Städten (vor allem in Leipzig, Dresden und Berlin) bedeutende Freundschaftskreise, die auf gegenseitige Sympathie und ähnlichen künstlerischen Interessen beruhen. Die Salonkultur in Privatwohnungen wird für sie zur wichtigsten Institution. Eine ihrer zentralen Figuren, der Ostberliner Künstler und Ausstellungsmacher Jürgen Schweinebraden Frhr. von Wichmann-Eichhorn erläutert die Verbindung zwischen Freundschaft und künstlerischem Interesse: „Man traf sich zu unterschiedlichen Zeiten, um zum Beispiel gemeinsam in der Landschaft zu zeichnen und zu malen. Selbstvergewisserung schaffendes und bindendes Element waren oft kleine autonome Kunstwerke in Form von Briefen und Postkarten: eine Kommunikation besonderer Art, die selbst nach Jahren der Trennung am gleichen Punkt wieder anknüpfen konnte.“80 Als Vorbild galt das Lebensgefühl der westeuropäischen neuen sozialen Bewegungen, weniger bedeutsam waren deren politischen Anliegen. Der „Marsch durch die Institutionen“ der DDR erwies sich für die junge Generation spätestens mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 79 Programmheft zu den 7. Dresdner Schmalfilmtagen vom 26.-28. Januar 2006 im Kulturverein Riesa-Efau. Verfasser unbekannt. 80 In: „Künstlerfreundschaften“, S. 179 112

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1976 als ebenso realitätsfern wie die „Fürstenerziehung“. Während sich die Machtbalance zunehmend zu ihren Gunsten verschob, verlor auch das ritualisierte Prinzip der realsozialistischen questio und disputare an Wirkmächtigkeit. Statt sich mit Staat und Partei auseinanderzusetzen, zogen viele junge Schriftsteller und Künstler, sei es, weil ihnen der Zugang zu den staatlichen Einrichtungen und Universitäten verwehrt war, sei es, weil sich inzwischen auch staatlicherseits geduldete Parallelökonomien etabliert hatten, nichtoffizielle Produktionsformen vor.81 Damit beanspruchte die „sozialistische Bohème“ eine Lebensführung, die sich zwischen den offiziell eingeforderten soziokulturellen Normen und der Gegensatzspannung zum westlichen Vorbild des autonomen Künstlers konstituierte. Castoriadis bemerkt zu solchen selbstrelativierenden Gesellschaftsprozessen: „Das Innere einer Gesellschaft wird ihr selbst äußerlich, und insofern das eine Selbstrelativierung der Gesellschaft bedeutet, ist die faktische und praktische Distanzierung und Kritik des Instituierten ein erster Schritt zur Autonomie […].“82 Paul Kaiser und Claudia Petzold beschreiben in „Diktatur und Boheme“, wie sich diese Parallelgesellschaften schließlich zu Parallelökonomien entwickelten. Zu Beginn der achtziger Jahre war der Status des freischaffenden Künstlers offiziell anerkannt. Er ermöglichte Künstlern, ein eigenes kleines Gewerbe anzumelden und Angestellte ihrer Wahl einzustellen. Dieses bürgerliche Modell der Selbständigkeit wäre zu Ulbrichts Zeiten wohl undenkbar gewesen. Auf diese Weise wurden Kleinkunst, Schneidereien, T-Shirt-Druck, Schmuckvertrieb, Töpfereien und manches mehr zu einer Einnahmequelle im Rahmen eines „Einzelhandels“, der sich angesichts der Mangelwirtschaft durch viel Phantasie einer zunehmenden Beliebtheit erfreute. Es gab aber auch für diejenigen, die aus politischen Gründen selbst von dieser Einnahmequelle ausgeschlossen waren, fast immer Arbeit – auch wenn sich diese nicht im Geringsten mit den künstlerischen Ambitionen deckte. Offiziell gab es kein Berufsverbot in der DDR, doch inoffiziell gehörte es zu den staatlichen Routinehandlungen par excellence – der in Ungnade gefallene Künstler 81 Dieses Lebensgefühl spiegelte sich für viele junge Künstler dieser Generation in dem Film „Solo Sunny“ (1980) von Konrad Wolf wider. In diesem Film geht es um das Leben einer jungen Ostberliner Sängerin, die ihr Glück in verschiedenen Bands sucht, zwischendurch in eine Nervenklinik kommt und in die „normale Produktion“ zurückkehrt, wo sie jedoch scheitert. Die Tristesse dieser Zeit entfaltet sich an der Hauptfigur, für die eine Einbindung in die offiziellen künstlerischen Institutionen keine Perspektive darstellt. Dass dieser Film überhaupt gezeigt wurde (Premiere im Ostberliner Kino International), ist wahrscheinlich der hohen Parteiposition des Vaters von Konrad Wolf, Friedrich Wolf zu verdanken. 82 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 267. 113

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wurde nicht aus der Institution entlassen, sondern er bekam einfach nichts mehr zu tun, sicher auch eine Ursache für eine fatalistische Tristesse, von der die Betroffenen berichten. Nicht wenige warfen „freiwillig“ das Handtuch und ließen sich lieber als Friedhofsgärtner anstellen (was die gern gepflegte Metapher, dass der Rückzug der Künstler den Untergang der DDR ankündigte, auf makabre Weise anzukündigen schien). Auch als Postboten, Hilfsarbeiter oder Techniker verdingte man sich. Das hatte, wie Kaiser und Petzold ausführen, zur Folge, dass man in der Betriebsamkeit der Theater unter den Bühnenarbeitern nicht selten auf scharfsinnigere Köpfe traf als am Regiepult. 1972 ruft Erich Honecker die Ära der „Weite und Vielfalt“ aus, die den entscheidenden Wendepunkt in der Kulturpolitik der DDR markiert. In seiner Rede auf der 6. Tagung des ZK der SED verkündete der Staatschef: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils.“83 Wenn auch die harsche Abgrenzung gegen den „bürgerlichen Modernismus“ und die „Dekadenz“ aufrechterhalten wurde, so ist diese kulturpolitische Öffnung dennoch als offizielles Zugeständnis an die längst zur Realität gewordenen Ausdifferenzierung der künstlerischen Praxis zu verstehen. Hier wurde nur allzu deutlich, dass sich die Kulturproduzenten der DDR im Laufe der sechziger und vor allem zu Beginn der siebziger Jahre von den tradierten Vorstellungen des sozialistischen Realismus verabschiedet hatten. Gleichwohl war diese Öffnung bedingt. Vier Jahre nach Honeckers Rede erfolgte die Ausweisung des Sängers Wolf Biermann, an der sich die Grenzen der „festen Position des Sozialismus“ offenbarten. Nach Biermanns Ausweisung setzte ein Exodus vieler namhafter Künstler ein, deren Glaube an die Fürstenerziehung nunmehr endgültig erschöpft war. Die symbolische Öffnung für einen Kunsthandel am Rande der Auftragskunst und die Etablierung kleiner Gegenfigurationen ermöglichte im Laufe der 1970er Jahre erstmals in der Geschichte der DDR einen – zwar eingeschränkten, doch manifesten – Pluralismus von Orientierungsinstanzen, der sich parallel zum sozialistischen Realismus ausbildete. Hofften seine Protagonisten auf eine Erweiterung dieser Freiräume innerhalb der DDR, so sollten sie zugleich den Anstoß für ihr Ende geben. Aus der Feldperspektive scheint dies nur konsequent: Eine Stabilisierung dieser polymorphen Instituierungen widersprach der gesamten Konstitution des Feldes der Kunstproduktion der DDR, das auf Einheit83 Zitiert nach: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR, S. 134. 114

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lichkeit ausgerichtet war. Der Versuch der Einführung einer Felddynamik, die dem Aushandlungsprinzip demonstrativ den Rücken kehrte und stattdessen die Differenzproduktion durch künstlerische Selbstbestimmung zu etablieren suchte, konnte auf Dauer nicht innerhalb einer Kultur bestehen, in der die Künste nicht autonom, sondern einem gesamtgesellschaftlichen Zentralismus verpflichtet waren. An diesen Strömungen, die bis 1989 relativ unorganisiert waren, wird deutlich, dass innerhalb der gesamtstaatlichen „Institution DDR“ das Gehlensche Bonmot der „Suspendierung der Sinnfrage“ spätestens nach der Ausweisung Biermanns nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Die Widersprüche innerhalb der kulturellen Struktur trugen zunehmend anomische Züge. Auch der von Robert Merton in seiner Schrift über die Anomie beschriebene Typus des Rituals, nach dem weite Kreise der Gesellschaft sich zwar den institutionell vorgegebenen Paradigmen anpassen, ohne jedoch noch deren Inhalte zu teilen, begann zu erodieren.84 Aus heutiger Sicht scheint es nun ein Leichtes, den politischen und institutionellen Legitimationsverlust der „Konsensdiktatur“ schon zu Beginn der siebziger Jahre auszumachen. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass nicht nur die Staatsführung, sondern auch und gerade der Großteil der kulturellen Intelligenz dennoch weiterhin Hoffnungen in einen besseren Sozialismus innerhalb der bestehenden Ordnung setzte. Es waren Hoffnungen, die, mit Blick auf den einsetzenden Reformkurs Michail Gorbatschows sogar noch Mitte der achtziger Jahre durchaus berechtigt schienen. Auch das gehört zur Wirklichkeitsorganisation der Kulturproduzenten der DDR, die, sofern sie die DDR nicht verließen, durch zunehmende Zugeständnisse seitens der herrschenden Elite bestätigt wurden. Der Theaterregisseur B.K. Tragelehn kommentiert rückblickend das Spannungsverhältnis zur Macht: “Die Macht ist immer zurückgewichen. Aber das hieß nicht, daß da irgendeine Einsicht eingekehrt wäre. Die Konflikte waren nicht zu vermeiden [...]. Aber die meisten oder jedenfalls viele haben versucht, den Bruch rauszuschieben, und wenn er unvermeidlich wurde, haben sie zwar die Seite gewechselt, aber deswegen die Idee, daß ein anderes Leben möglich sein müßte als das vom Kapital bestimmte, nicht aufgegeben. Die Idee der Fürstenerziehung, wie sie

84 „[The ritualistic type] involves the abandoning or scaling down of the lofty cultural goals of pecuniary success and social mobility to the point where one’s aspirations can be satisfied. But though one rejects the cultural obligation to attempt ‚to get ahead in this world‘, though one draws in one’s horizons, one continues to abide almost compulsively to institutional norms.“ Merton, Robert K.: „Social structure and Anomie“, p. 146. 115

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grassierte bei den Intellektuellen im Lande, war allerdings immer ein bißchen komisch. Illusionär.“85

2.2.2 Anomie und Utopie im Spätsozialismus Im Zeitalter der Veralltäglichung und der mehr oder minder „fröhlichen Melancholie“ verlieren auch in der DDR die großen politischen Entwürfe an Wirkung. Sie machen einer Lebenshaltung Platz, die das Politische weder im Alltäglichen noch in der Kunst sucht, sondern sich ihm tendenziell entzieht. Die achtziger Jahre entpuppen sich auch in dieser Hinsicht als die richtige Zeit für eine ostdeutsche Bohème-Kultur. Dieser Tatbestand unterstreicht die gegenseitige Durchdringung von offizieller und inoffizieller Kunst sowohl auf der Ebene der Wirklichkeitsorganisation als auch auf der Ebene der ästhetischen Praxis. Im Folgenden werde ich die damit verbundenen Facetten der „anomischen“ spätsozialistischen Kultur in der DDR kurz skizzieren. Auch in der DDR lautet der gesellschaftliche Auftrag der Kunst: Stabilisierung der sozialistischen Idee. In der DDR war dies stark mit einer anti-westlichen Grenzziehung verbunden, die durch den Mauerbau besiegelt wurde. Damit formulierte das staatssozialistische Modell einen Gegenentwurf zur westlichen Polyvalenz der ästhetischen Praxisformen. Während der performative turn im Westen der sechziger Jahre auf den Einbruch der Realität in die Künste und die daraus resultierenden Synergien abzielte, verlief die Bewegung in der „Konsensdiktatur“ DDR in die umgekehrte Richtung: Die Kunst sollte selbst zu einer Massenkultur werden. Das gesellschaftliche Auftragsmodell funktionierte seinerseits auf Basis der Gegensatzspannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang. Sie hielt den Künstler in einem festen institutionellen Rahmenwerk, das im bürokratischen Zentralismus der DDR auf vielfältigen Organisationsebenen, staatlicher Überwachung und Zensur beruhte. Im Gegenzug wurden den Künstlern zugleich Zugeständnisse hinsichtlich ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und ihres Lebensstandards gemacht und ihnen damit eine relative Autonomie zugesichert. Zusammenfassend lassen sich anhand des Feldes der bildenden Kunst folgende allgemeine Unterschiede zwischen den künstlerischen Professionsideologien im Osten und im Westen feststellen:

85 Tragelehn. B. K. in: Mit der Umsiedlerin durch die DDR-Geschichte. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 93. 116

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Feld

Bundesrepublik

DDR

Organisationsform

Freier Kunstmarkt

staatliche Auftragskunst

Institutionalisierung

informell, schwach

organisatorisch, stark

Struktur

co-Existenz von Subsystemen

Verschaltung zwischen offizieller und inoffizieller Kunst

Ästhetik

Polyvalenz

sozialistischer Realismus

Professionsethos

L’art pour l’art, absolute Autonomie

Kunst für alle, relative Autonomie

Praxisorientierung

permanente symbolische Revolution

Avantgarde ist nomos

Figurationen

Interessengemeinschaften

Arbeitskollektive, Freundschaften

wichtigstes Kapital

symbolisches Kapital

soziales Kapital

Strategien

Distinktion und Kooperation, Abweichung

Kritik durch Affirmation, Aushandlung und Abweichung

In der Gegenüberstellung der Felder der Kunstproduktion Ost und West darf natürlich nicht vergessen werden, dass es sich zur Veranschaulichung der Gegensatzspannung zwischen dem westlichen und dem östlichen Kulturrahmen um eine Zuspitzung handelt. Es geht dabei um die Verdeutlichung der strukturellen Repräsentationsmuster, die für die symbolische Wirklichkeitsorganisation der Künstler in Ost und West wichtig waren. Diese Muster treffen mit der Vereinigung aufeinander. An ihnen können, wie ich im ersten Abschnitt zur Bourdieuschen Sozialtheorie ausgeführt habe, sichtbare Praxisformen überprüft werden. Besonders interessant erscheinen mir in Bezug auf den Osten die eklatanten Überschneidungen mit dem Vorstadium der Autonomisierung des Feldes, die zunächst am Akademismus, der Auftragskunst und der Idee der „Fürstenerziehung“ auffallen. Zum anderen jedoch wirken diese Merkmale im staatssozialistischen Kulturrahmen anders, weil ja gerade hier die Avantgarde selbst zum nomos deklariert wurde und damit die Veralltäglichung des Utopischen zum Hauptimpulsgeber symbolischer Wirklichkeitsorganisation erhöhte. Die Veralltäglichung des Utopischen bedingt auch die Herausbildung der sozialistischen Bohème. Sie teilt mit ihren historischen Vorläufern den distanzierten Habitus zu den politischen Institutionen, doch sie ist zugleich durch den Pragmatismus und die kommunale Struktur ihrer Gesellschaft geprägt, die auf der Abgrenzung von der westlichen Lebensführung aufgebaut war. Sie war schon deshalb, ob es ihr gefiel oder nicht, grundsätzlich politischer als ihre französischen Vorbilder. Wer in der DDR blieb, hatte sich auch dafür 117

INSTITUTION UND UTOPIE

entschieden, im Zweifelsfall lieber hier als artiste maudit Beachtung zu finden, als das Risiko einzugehen, auf den Straßen Westberlins als artiste raté zu verkommen. Wer es doch versuchte, wurde oftmals böse überrascht, wie der Schauspieler Henry Hübchen bemerkt: „[D]as war ein Trugschluß von vielen, die meinten, sie würden in der DDR in ihrer künstlerischen Freiheit oder in ihrer Produktivität behindert werden und sie müßten in den Westen gehen. Dann haben sie auf einmal im Westen gemerkt, daß sie selbst die Behinderung waren. Sie konnten die Verantwortung für ihre Karrieren nicht mehr delegieren. [...] Sie wurden nicht mal mehr als Dissidenten oder als aufmüpfige Künstler aufgenommen.“86

Die relativ gesicherte ökonomische Absicherung näherte die artiste maudits der DDR in den achtziger Jahren bereits deutlich an ihr westliches Pendant der freien Künstler an. Die Zwangskollektivierung der künstlerischen Produktionsformen brachte indes unter den institutionell gebundenen Künstlern – und damit der überragenden Mehrheit – einen Habitus hervor, der Nutzerfolg und institutionelle Anerkennung nicht als problematisch, sondern als selbstverständliche alltägliche Bedingung akzeptierte – sofern die politischen Widersprüche nicht zu groß wurden. Doch selbst diese konnten noch lange innerhalb der DDR durch die Verschaltung von offizieller und inoffizieller Kunst absorbiert werden. Die Unterhöhlung des institutionellen und ästhetischen nomos in Gestalt des sozialistischen Realismus wird insbesondere in den achtziger Jahren zunehmend geduldet. Nicht mehr der sozialistische Fortschritt, sondern auch universale Fragestellungen und individuelle Probleme rücken in die Themengebiete der Künste ein – wie etwa der Erfolg des Kinofilms „Paul und Paula“ von Ulrich Plenzdorf zeigt. Diese strukturelle Anomie innerhalb der kulturellen Praxis lässt ahnen, warum es gerade ein Ostberliner Theater war, das nach dem Fall der Mauer wie kein anderes in der Lage war, das Prinzip der institutionnalisation de l’anomie im marktwirtschaftlich grundierten vereinten Theaterfeld zu verkörpern. Aus einer praxeologischen Perspektive ist das nunmehr nachvollziehbar. Das aus der Sowjetunion übernommene Prinzip der Kritik durch Affirmation macht die Produzenten unangreifbarer und bringt spezifische Handlungsformen hervor. Sie speisen sich vor allem aus der Gegensatzspannung Ost-West, die sich im Laufe der neunziger Jahre schließlich in der Institution Volksbühne zu einer permanenten Grenzhandlung verstetigen wird. Um die grundsätzlichen Bedingungen dieser Verstetigung nachzuvollziehen, werde ich, ausgehend von den hier dargelegten histo86 Hübchen, Henry. In: Überraschen, Fragen stellen: Henry Hübchen. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 280ff. 118

DER STAATSSOZIALISTISCHE KULTURRAHMEN

riographischen Bedingungen von Kunstproduktion in Ost und West im folgenden Kapitel dazu übergehen, ihre konkreten Auswirkungen auf die jeweiligen Theaterfelder in Berlin zu beschreiben. Dabei sollen die besonderen Charakteristika von Kunstproduktion am Theater einerseits hervorgehoben, andererseits aber auch auf ihre historischen und gegenwärtigen strukturellen Merkmale zurückgeführt werden. Die Tatsache, dass es den ostdeutschen Akteuren innerhalb der Berliner Volksbühne gelingen konnte, ihren jeweils spezifischen Umgang mit jener „kulturellen Anomie“ in ein performatives Verfahren von Dauer zu konzentrieren, wirft zugleich die Frage nach den besonderen Eigenschaften der Theaterfelder auf. In ihnen kristallisieren sich nicht nur die Gegensätze zwischen Ost- und Westberlin, sondern auch die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kulturen und ihre daran gebundenen stabilisierenden Eigenschaften.

119

3. M E R K M AL E D E R T H E AT E R F E L D E R IN OST- UND WESTBERLIN

3 . 1 K r i t i k u n d Af f i r m a t i o n „In den Demokratien ist der Warenwert des Dramas (‚Marktwert des Autors‘) vorherrschend, während in den Diktaturen der politische Wille die Auswahl beeinflußt.“1 Mit diesen Worten bringt Martha Mierendorff den Unterschied zwischen dem marktwirtschaftlichen und dem staatssozialistischen Theaterfeld zum Ausdruck. Das mag im Kern zutreffen, bedarf gleichwohl einer genaueren Betrachtung. Denn trotz dieser scheinbar fundamentalen Differenz scheinen die strukturellen Parallelen doch zu überwiegen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die DDR keine Diktatur im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Konsensdiktatur war. Zum anderen spielte der politische Wille nicht nur auch in den Inszenierungen westlicher Regisseure (man denke nur an die Arbeiten von Peter Stein, Claus Peymann, Benno Besson, Peter Zadek und Johann Kresnik in den 1970 und 1980er Jahren), sondern auch bei den politischen Entscheidungen für die Intendanzvergaben, die schließlich im städtischen Auftrag erfolg(t)en, ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Im Vergleich zu den meisten anderen Gebieten gelang die Vereinigung der beiden Theaterfelder Berlins relativ reibungslos. Gewiss, es mussten einige Häuser geschlossen werden, was für das jeweilige Stammpublikum als Verlust empfunden wurde. Doch die feldspezifischen Funktionsprinzipien ähnelten sich hier stärker als in den meisten anderen gesellschaftlichen Bereichen, die aus ostdeutscher Sicht mit der 1

Mierendorff, Martha: Soziologie des Theaters, S. 375. 121

INSTITUTION UND UTOPIE

Wende sämtlich von einem fundamentalen Umbruch betroffen waren. Beide hauptstädtischen Theaterfelder waren von einer traditionalistischen Organisationsstruktur geprägt, die sowohl der politisch-ethische nomos des sozialistischen Realismus als auch das Primat der Abweichung nicht grundlegend tangieren konnte. Auch im Westen blieben die Staatstheater der politischen Führung unterstellt, und wenn diese auch einen wesentlich indirekteren Einfluss auf die Ästhetik nahm, so war (und ist) sie Geldgeberin und Hauptsanktionsinstanz – neben dem Publikum und der Kritik. Schon aus diesem Grund muss die Frage erlaubt sein, inwieweit mit den hier praktizierten Formen von Wirklichkeitsorganisation zur symbolischen Entäußerung soziokultureller Reibungsflächen nicht, wie im Osten, die Affirmation genutzt wird, um Gesellschaftskritik zu üben, sondern ob die Vorrichtung des Theaters angesichts des Tatbestandes der staatlichen Subventionierung nicht per se darauf angelegt ist, den gesellschaftlichen sensus communis – was unter demokratischen Bedingungen den Tatbestand seiner Kontingenz einschließt – zu affirmieren: „Affirmation durch Kritik“ statt „Kritik durch Affirmation“. Doch auch hier hängt die Reichweite beider Konstituenten von den gesamtgesellschaftlichen Spannungen und der Kraft der ästhetischen Präzision ab, die selbst noch innerhalb des „Gehäuses“ der kapitalistischen Marktwirtschaft, von dem Max Weber sprach, eben diese strukturelle Redundanz symbolisch aufzubrechen vermag. Zweifellos ist diese Möglichkeit insbesondere zu Zeiten massiver Krisen und Umbruchsituationen wie dem Ausnahmezustand der deutsch-deutschen Vereinigung gegeben. Ausnahmesituationen zeichnen sich dadurch aus, dass die tradierten sozialen und kulturellen Repräsentationsmuster und Handlungsorientierungen an struktureller Wirkmächtigkeit einbüßen. Das führt zu Erosionen und Durchlässigkeiten zwischen ehemals klar voneinander abgegrenzten sozialen Räumen und den ihnen von den gesellschaftlichen Normgeltungen aufgetragenen Sinnzuweisungen. Auch ein Stadttheater kann dann, für diesen spezifischen Zeitraum, einen Bedeutungs- und Handlungsraum eröffnen, der über seine eigentliche Funktion hinausgeht. Aber was unterscheidet das Theater von sonstiger Kunstproduktion? Die Assoziation mit der Weberschen Metapher des „Gehäuses“ deutete es bereits an: Aus soziologischer Sicht sticht das Theaterfeld innerhalb der künstlerischen Felder durch seinen hohen Grad der Institutionalisierung heraus – einer materialen Institutionalisierung des schöpferischen Prinzips. Damit gehen verschiedene Modifikationen der bislang dargelegten Grundlagen einher, die die Felder der Kulturproduktion in Ost und West geprägt haben. Im Vergleich zu den meisten anderen künstlerischen Feldern ist der Prozess der Autonomisierung und der da122

MERKMALE DER THEATERFELDER IN OST- UND W ESTBERLIN

mit einhergehenden Schwächung staatlicher Einflussnahme am Theaterfeld nahezu spurlos vorbeigegangen. Diese Resistenz gegen die finanzielle Unabhängigkeit war gleichwohl von der Ausdifferenzierung der künstlerischen Praktiken und damit auch der Etablierung von symbolischer Differenzproduktion begleitet. Hier spielt die Abkehr der Theaterproduzenten von der Akzeptanz der historischen Vormachtstellung der Literatur als letzte ästhetische Instanz, als nomos, eine entscheidende Rolle. Wie eng die künstlerische Autonomie des Theaterfeldes mit seiner Abkoppelung vom literarischen Feld verbunden war, zeigt Erika Fischer-Lichte: „Solange der Kunstcharakter der Theateraufführung durch den Kunstcharakter des Dramas als eines Werkes der Literatur gegeben und garantiert schien, galt das Inscenesetzen nicht als eine genuin künstlerische Tätigkeit. Dies änderte sich erst, als die historischen Avantgardebewegungen Theater zu einer eigenständigen, von der Literatur unabhängigen Kunstform und die Aufführung zu einem autonomen Kunstwerk erklärten.“2

Die fortschreitende Anerkennung des Regietheaters bezeugte die Bedeutung einer Produktionsautonomie, die sich gegen das Literaturtheater positionierte. Die Prominenz des Regisseurs vor dem Stoff, dessen er sich bedient, ist Ergebnis eines Bruchs mit dem Primat der Werktreue, das von verschiedenen Feldakteuren – Kritikern und manchen Regisseuren – allerdings konjunkturell immer wieder als Orientierungsgröße eingefordert wird. Doch als ästhetische Norm darf die Werktreue seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als überholt betrachtet werden. Der Wegfall einer praxisbezogenen ästhetischen Orientierungsinstanz ist jedoch in die Fortdauer einer traditionalistischen Produktions2

Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“, S. 15. Der Autonomisierungsschub kündigt sich um 1900 homolog in der Beziehung zwischen den noch jungen Theaterwissenschaften und den Literaturwissenschaften an: „Während bis [1900, T.B.] ausschließlich Texte und Artefakte als mögliche und würdige Gegenstände dieser Wissenschaften galten – weswegen Theater nur insofern ein Objekt für sie darstellen konnte, als es sich auf Texte bezog – lässt sich die Hinwendung zur Aufführung, welche die Vertreter des neu zu gründenden Fachs proklamierten – ebenso wie die Vertreter der um die Jahrhundertwende entstehenden Ritualforschung, welche die Priorität des Ritus (der Aufführung) vor dem Mythos (dem Text, dem Dogma, der Lehre) behaupteten – als Hinweis auf eine performative Wende deuten, welche die Geisteswissenschaften, wenn auch nur höchst punktuell und ausgesprochen zaghaft als Reaktion auf den performative turn vollzogen, welcher sich für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der europäischen Kultur konstatieren lässt.“ Fischer-Lichte, Erika: „Vom Theater als Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen“, S. 17. 123

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struktur eingefasst, die das Theaterfeld nach wie vor kennzeichnet. Wurden mit der Loslösung von Staat und Kirche Zweckfreiheit und behauptete Desinteressiertheit an ökonomischem Erfolg für Künstler und Schriftsteller zu notwendigen Attributen, um als Teil der intellektuellen Gemeinschaft zu gelten – eine Umkehrung der Profitorientierung als Signatur relativ schwacher Institutionalisierung – so galt und gilt dies nicht für den Theaterproduzenten: Die Gleichzeitigkeit künstlerischen Erfolgs und klingender Theaterkasse ist unabdingliche Grundlage für staatliche Förderung – und ohne diese gibt es kein Theater. Dies erzeugt auch heute noch einen hohen Produktionsdruck, der zwischen den Anforderungen der Seltenheit, der Originalität und der Erfüllung einer dazu relativ breiten Rezeptionserwartung in beinahe schizophrener Weise oszilliert. Auch im Westen ist der sens pratique der Differenzproduktion immer an die „manifeste“ Institution – das Theaterhaus – zwingend gebunden. Mögen die Theaterschaffenden als Teilfiguration der Künstlerzunft den Utilitarismus verachten, so ist ihre Wirklichkeitsorganisation gleichwohl durch das Streben nach ästhetischem und finanziellem Erfolg gleichermaßen bedingt. Dieses Bedingungsverhältnis erscheint im Feld der Kunstproduktion nirgendwo sonst so virulent. Mierendorff unterscheidet daher in ihrer „Grundlegung einer formalen Soziologie des Theaters“ zwischen formaler Funktion und Zweck: „Das europäische Theater hat institutionellen Charakter, und zwar als operative Institution, in der sich ein spezielles Werk von Personen in einer sozial geordneten Form und unter beständigem sozialen Beistand vollzieht. Als Institution hat es die umgrenzbare formale Funktion, das theatralische Erlebnis durch Willensakte herbeizuführen. Diese Funktion ist vom Zweck zu unterscheiden. Während die Funktion der Institution inhärent ist, kann der Zweck wechseln. In diesem Sinne bleibt die Funktion des Theaters in Demokratien und Diktaturen die gleiche, aber der Zweck ist verschieden. Die Funktion kann der Bereicherung der kulturellen Formen dienen, sie kann aber auch bewußt moralischen oder politischen Zwecken untergeordnet werden.“3

3.1.1 „Fürstenerziehung“? Das Ostberliner Theaterfeld Mit der Orientierung an den Gedanken der Synthese und der Lukácschen coincidentia oppositorum verfolgte die offizielle Kunst in der DDR beide Ansprüche: die Bereicherung der kulturellen Formen und die Vermittlung der Idee vom „neuen Menschen“. Die politische Gegensatzspannung zum Westen war eben auch eine kulturelle und ethische, wie Herfried Münkler erläutert: 3

Mierendorff, Martha: Soziologie des Theaters, S. 377.

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„Vergleicht man etwa die Gründungs- und Orientierungsmythen der Bundesrepublik und der DDR [...] miteinander, stellt man [...] den Mythos des antifaschistischen Widerstandes neben den der Währungsreform und des Wirtschaftswunders [...], so haben in der Bundesrepublik die kommunikativen, weil je individuell erinnerbaren und darum auch in Alltags-Kommunikationen zirkulierenden, in der DDR hingegen die kulturellen Elemente im kollektiven Gedächtnis überwogen, da es ob dessen geringer Breite nur wenige individuelle Erinnerungen an tatsächlich geleisteten antifaschistischen Widerstand gab [...].“4

Der Antifaschismus legte das gesellschaftlich-imaginäre Fundament für die gesamte Kultur des ostdeutschen Staatssozialismus. Münklers Annahme, dass die Selbstlegitimierung eines „Kunststaates“ wie der DDR starker kultureller Repräsentationsmuster benötigte, wird empirisch durch die große Bedeutung der Kultur und dem hohen Ansehen der Kunstproduzenten bestätigt. Lag die Basis des künstlerischen Selbstverständnisses für die Kulturproduzenten der Bundesrepublik nach dem Nationalsozialismus vor allem in der klaren Trennung von Kunst und Staatspolitik, so wurden die Produzenten in der DDR als Partner der Partei betrachtet, wie Rehberg ausführt: „Zu dem [...] Konsenszwang gehörte es, dass Zustimmung zum geschichtsphilosophisch gerechtfertigten Weg der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung eine Grundbedingung war, die sich aus den Ausgangskonstellationen der Arbeiterbewegung und sodann des in der Hegemonie der Sowjetunion entstandenen sozialistischen Staates ergab.“5 In diesem Kontext tritt die soziosymbolische Praxis, die das Theater erzeugt, noch stärker hervor, wie Ralph Hammerthaler ausführt: „Ob nach kulturpolitischen oder künstlerischen Gesichtspunkten, nach organisatorischen, gesellschaftlichen oder kommunikativen, die Position des Theaters schien tief verankert im politischen System der DDR. Nicht nur das Publikum, auch die offiziellen Vertreter von Staat und Partei bedachten die Bühnen des Landes mit hoher Wertschätzung. Zweifelsfrei wurden die Theater politisch überschätzt, sonst hätten sich nicht wiederholt die höchsten Gremien der Partei damit beschäftigt, als stehe die Existenz des Staates auf dem Spiel. [...] Immerhin wirkten Theater und Literatur in der DDR als letzter Zufluchtsort für kritische, partiell oppositionelle Gedanken.“6

4

5 6

Münkler, Herfried: „Politische Mythen und Institutionenwandel. Die Anstrengungen der DDR, sich ein kollektives Gedächtnis zu verschaffen“, S. 126. Rehberg, Karl Siegbert: „Konsensdiktatur“, S. 163. Hammerthaler, Ralph: Die Position des Theaters in der DDR, S. 245ff. 125

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Bildeten Theater und Literatur damit die Quelle der symbolischen Konstitutierung des gesellschaftlich Imaginären, so boten sie zugleich Möglichkeitsräume abweichenden Handelns, die sich gerade mit Hilfe utopistischer Fiktionen an den Grenzen des sozialistischen Alltags Luft zu verschaffen suchte. Angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten größerer Zusammenkünfte außerhalb der staatlich verordneten Öffentlichkeit waren die DDR-Theater deshalb ein wichtiger Ort der ungezwungenen Kommunikation. Doch sind manche Äußerungen der Theaterschaffenden selbst, die das DDR-Theater als außerordentlich „subversive Kraft“7 bezeichnen, ebenso mit Vorsicht zu genießen wie die Behauptungen, es hätte sich hier um „reine Staatskunst“ gehandelt. Die Wirklichkeit ist auch hier komplizierter. In der frühen DDR wurde die politische Übereinstimmung der Theaterschaffenden mit der Kultur der Sowjetunion von Beginn an gesucht, gepflegt und gefördert. Das war allerdings ein schwieriges Unterfangen, insbesondere, was die Überzeugung der Zuschauer von der russischen Kunst betraf. Die Skepsis des Publikums gegenüber der Kultur der sowjetischen Siegermacht war der Reserviertheit der Intelligenz gegenüber ihrer wissenschaftlichen Erzeugnisse vergleichbar, wie Albert Hetterle, langjähriger Intendant und heutiger Ehrenvorsitzender des Berliner Maxim-Gorki-Theaters anhand seiner Erlebnisse aus der Nachkriegszeit zu berichten weiß: „Nach dem Kriegsende sind die Theater sozusagen massenweise – es gab ja in den kleinsten Orten Theater – wiedereröffnet worden, und die Begeisterung war einmalig. Der Hunger nach Theater war ganz gewaltig, durch diese Freiheit, die alle empfanden, eine Freiheit in dem Sinne, daß der Krieg zu Ende war. [...] Dieses Gorki Theater stand noch völlig am Rande der Berliner Theater und man suchte nach einem künstlerischen Gesicht für das Haus. Das war nicht einfach damit getan, daß man nun Gorki oder sowjetische Dramatik spielte. Der Zuschauer war noch nicht bereit, sich das anzugucken, denn sowjetische Dramatik war für den deutschen Zuschauer etwas sehr, sehr Fremdes.“8

Durch die Orientierung an Stanislawski, dessen Methode der vollkommenen Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle aufgegriffen wurde, avanciert das Gorki-Theater zum Vorbild für „realistisches“ Gegenwartstheater. Die Inszenierungen Stanislawskis entsprachen dem 7 8

Vgl.: Schorlemmer, Friedrich: „Was für ein Theater damals in Berlin. Wochenzeitung Freitag“, 18.11.2005. In: Die russische Frage immer wieder anders: Albert Hetterle. In: Irmer et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 22ff.

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sowjetischen Idealtypus des sozialistischen Realismus. Dessen Methode stand dem Theater Bertolt Brechts gegenüber, der kurz nach dem Krieg das Berliner Ensemble übernommen hatte.9 Der Döblin-Bewunderer Brecht beschrieb seinen Realismus-Begriff in Abgrenzung zu Georg Lukács pointiert in dem Satz: „Über literarische Formen muß man die Realität befragen, nicht die Ästhetik, auch nicht die des Realismus.“10 Im Theaterfeld der frühen DDR wurden Brecht und Stanislawski zu den Hauptorientierungsinstanzen des sozialistischen Realismus deklariert. Trotz dieser Vormachtstellung Brechts blieb die von Lukács geforderte „künstlerische Einheit von Wesen und Erscheinung“ der zwar umstrittene, doch unanfechtbare ästhetische nomos innerhalb des Theaterfeldes der DDR, an dem sich die Inszenierungen zu orientieren haben. Man berief sich auf den Typen-Begriff von Friedrich Engels, nach dem „typische Menschen in typischen Situationen“ dargestellt werden sollten. In getreuer Übernahme der Widerspiegelungstheorie sollte das Alltagsleben, erzählerisch verdichtet, auf die Bühne gehoben werden. Gleich einem Leitfaden des gesellschaftlich Imaginären entspannen sich die Themen und Nöte der Gegenwart zu einem dramaturgischen Gesamtbild mit pädagogischer Funktion. Wie aber sahen die mit dem sozialistischen Realismus verbundenen Repräsentationsmuster aus? 1958 formuliert Walter Ulbricht die Grundsätze der sozialistischen Ethik und Moral: „1. Du sollst dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen. 2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter- und Bauern-Macht einzusetzen. 3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen. 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen. 6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.

9

Vgl.: Brecht, Bertold: Über Stanislawski. In Ders. Schriften über Theater, S. 380-390. 10 Brecht, Bertold: Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise. In: ders.: Gesammelte Werke. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1967. Bd. 19, S. 349. Zitiert nach: Müller, Oliver: „Sozialistischer Realismus – allmähliche Auflösung eines Leitbegriffs?“, S. 116. 127

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7. Du sollst stets nach Verbesserungen Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten. 10. Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.“11

Es wäre sicher interessant, Ulbrichts Grundsätze mit denen Benjamin Franklins über die kapitalistische Ethik und Moral zu konfrontieren, die Max Weber für seine Theorie über den Geist des Kapitalismus nutzte, – wenn Ulbrichts Paragraphen dem Leser nur ein paar Details über das sozialistische Arbeitsethos verraten würden. Darüber schwieg sich der Parteivorsitzende jedoch aus, was die Vermutung nahe legt, dass die Abfassung dieser Schrift durch das Bedürfnis motiviert war, eine ausgesprochen „sozialistische“ Lebensführung gegen die kapitalistische in Stellung zu bringen. Im 5. Paragraphen unterstreicht Ulbricht jedoch eine zentrale Kategorie in diesem Distinktionskampf, der sich aus einer ursprünglich antifaschistischen Abgrenzung heraus begründete, nämlich die des Kollektivs. In ihm sollte sich das durch die Moderne entfremdete und das den Nationalsozialismus überlebt habende Individuum solidarisch einbringen. Die utopistisch motivierte Aufhebung der Arbeitsteilung wird durch die institutionelle Erhöhung der Gemeinschaft ersetzt, in dem die Abweichung in der Behauptung des gesellschaftlichen Individuums und seiner relativen Autonomie besteht. Als Grundlage der sozialistischen Wirklichkeitsorganisation baut das Kollektiv auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit auf, in dem der Einzelkämpfer kein Held, sondern ein Außenseiter ist. Die kulturpolitische Zielsetzung konzentrierte sich auf die Umsetzung dieser Leitlinien. Zugleich sollte das Theater, wie an den Beschreibungen Hetterles deutlich wurde, zu einer Massenkultur werden, von der insbesondere die Arbeiter in doppelter Hinsicht profitieren würden: als Zuschauer, die nicht mehr durch ihre soziale Stellung von der Rezeption der „hohen“ Künste ausgeschlossen sind (was in der regelmäßigen Verteilung von günstigen Karten innerhalb der Arbeitsbrigaden und durch eine sehr niedrige Preispolitik auch tatsächlich erreicht werden konnte), und zum anderen dadurch, dass ihre Situation auf der Bühne thematisiert 11 Ulbricht, Walter: „Grundsätze der sozialistischen Ethik und Moral“. In: Protokoll des V. Parteitages der SED, Bd. 1, Berlin/DDR 1959, S. 159161. Zitiert nach Hammerthaler, Ralph: Die Position des Theaters in der DDR, S. 168ff. 128

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wurde. Nunmehr aufgestiegen zur „Avantgarde“ der Bevölkerung, waren die Arbeiter – zumindest in den ersten Jahrzehnten der DDR – damit zugleich zentrales Sujet und offizielle Hauptzielgruppe des darstellenden Spiels. Diese kulturpolitischen Prioritäten wurden mit hohem bürokratischem und institutionellem Aufwand verfolgt. Dabei war die Organisationsstruktur innerhalb der Häuser kaum anders aufgebaut als in der Bundesrepublik, wovon sich der französische Theaterkritiker JeanClaude François beeindruckt zeigt: „D’abord la structure interne des théâtres, richement dotés de part et d’autre, selon une tradition centenaire, avec leur ,Intendanten‘, ,Dramaturgen‘, leurs dizaines des comédiens de tous âges et emplois, leurs équipes techniques très fournis – tous de vrai ,Betriebe‘“12 Die deutsche Betriebsamkeit reihte die Theater der DDR in die Liga der reichsten Bühnen der Welt ein. Die großzügige Ausstattung ermöglichte eine Zeitökonomie, von der man im Westen nur träumen konnte. Die Schauspieler hatten quasi eine Lebensstellung, Kündigungen waren nur in Ausnahmefällen möglich. Mit ökonomischem Kalkül hatte das wenig zu tun. Eine großzügige Subventionspolitik sollte vor allem das Bild eines Kulturstaates stärken. Tatsächlich sorgte sie aber auch für die soziale Verbreiterung der Rezeption. „Das Leseland DDR schien als Theaterland nicht minder bedeutsam. Der Vielfalt kultureller Institutionen stand jedoch die Einfalt offizieller Anschauungen gegenüber. So öffnete die DDR einerseits vielen ihrer Bürger den Zugang zum Theater, suchte aber andererseits den Horizont des Meinens und Denkens zu beschränken,“ stellt Ralph Hammerthaler fest.13 In der zentralistischen Struktur der DDR hatten sich die Bühnen nach dem Ministerium für Kultur einerseits und der Parteiführung der SED andererseits zu richten. Letztere war die eigentlich ausschlaggebende Instanz, da das gesamte Staatssystem auf ihrer führenden Rolle aufbaute. Die SED-Mitgliedschaft der Intendanten war zwingend notwendig – trotz weniger Ausnahmen. Der Dramaturg Siegfried Wilzopolski, der viele Jahre mit Frank Castorf zusammengearbeitet hat, schildert im Rückblick die Zusammensetzung der Kontrollkommissionen: „Es gab durchaus Leute, die kunstbeflissen waren, die Interesse und zum Teil selber eine Ausbildung hatten. Es gab auch Leute, die sich einfach nur über eine Parteistrecke spezialisiert hatten in Richtung sozialistische Kultur und 12 François, Jean-Claude: „Deux théâtres allemands ou un seul?“, in: Connaissance de la République Démocratique de l’Allemagne 16. Heft 28/29. 1989, S. 119. 13 Hammerthaler, Ralph: „Die Position des Theaters in der DDR“, S. 200. 129

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Kunst und die als Funktionäre eingesetzt wurden. Das war ein FunktionärsBeamten-Apparat. Und entsprechend haben die auch reagiert.“14

Das Ministerium für Staatssicherheit setzte innerhalb der Häuser Spitzel ein, die regelmäßig über die Abläufe und das Verhalten der Mitarbeiter Bericht erstatteten. Dieses Überwachungssystem war durch das Ensembleprinzip grundiert, das Verbindlichkeit und Stabilität begünstigte. An ihm wird die Gegensatzspannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang besonders deutlich, unter der die Kunstproduktion am Theater in der DDR litt und die zugleich gegenüber dem Konkurrenzprinzip des Westens auf die von Groys unterstrichene kommunale Lebensführung setzte. Neben Staat, Partei und der Gewerkschaft der Künstler (der allenfalls verwalterische Aufgaben zukam) gehörte das Monopol des Vertriebs von Theatertexten zu den weiteren wichtigen Institutionen des Theaterfeldes der DDR. Dieses lag beim Henschel Verlag, der zugleich als Zensor für neue und unbekannte Texte fungierte. Des Weiteren wurde 1966 der Theaterverband gegründet. Ähnlich dem Schriftsteller- und Künstlerverband versammelten sich unter ihm alle Theaterschaffenden, die ihn offiziell als Diskussionsforum, Nachwuchsförderung und zur Verbesserung der Schaffens- und Lebensbedingungen der Künstler nutzen sollten. Gleichwohl war er auch für die Kontrolle zuständig, wie Wilzopolski ergänzt: „Wenn Kontroll-Kommissionen eingesetzt wurden, um Stücke abzunehmen, gesellte sich oft der Theaterverband mit dazu. Das waren die eigentlichen Fachleute. Die kamen in der Regel aus Theatern, waren aber auch Funktionäre. Aber das war ein anderes System. Diese Theaterverbandssache war etwas anderes.“15 Gegenüber SED und Staat hatte der Verband faktisch kein Machtinstrument in der Hand, sondern war ihnen – entsprechend des zentralistischen Gesamtsystems – unterstellt. Entsprechend der geschilderten Durchdringung zwischen offiziellen und inoffiziellen Aushandlungsformen deckt sich dieser Tatbestand nicht immer mit der Selbstsicht der Akteure, wie an folgendem Wortwechsel zwischen Thomas Irmer, Matthias Schmidt und Hans-Peter Minetti, von 1984-1988 Vorsitzender des Verbandes der Theaterschaffenden, deutlich wird: „Minetti: [W]ir haben uns sehr gefreut darüber, daß wir die Aufführung [„Die Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein am Theater Dresden im Jahre 1989, T.B.] durchgesetzt haben, gerade auch im Verband und gegenüber dem Minister für Kultur, der da sehr oft zu ängstlich war. Wir bildeten uns was darauf 14 Im Gespräch mit mir am 24.1.2006. 15 Ebd. 130

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ein, sage ich jetzt vorsichtig, daß wir im Verband kühner waren als das Ministerium. Das war ja auch die Aufgabe des Theaterverbandes. Minetti: Richtig, richtig. Durfte man erwarten. Minetti: Ja, müßte man erwarten, ja.“16

Minettis zögerliches Einverständnis mit dem Einwand der Fragenden lässt ahnen, wie wenig selbstverständlich es war, von einer Autonomie des Verbandes auszugehen. Ähnliches gilt für die Theaterkritik, deren Funktion vor allem in der Überprüfung der kulturpolitischen Vorgaben lag, auch wenn Minetti auch dies offenbar anders wahrnahm: „[A]uf jeden Fall blieb die Kritik unabhängig, das war ganz, ganz wichtig. Ich kann mich nicht erinnern daran, daß daran gerüttelt worden ist. Die Kritik stand auf einem hohen Niveau.“17 Tatsächlich weisen viele Indizien darauf hin, dass Bündnisse zwischen anerkannten Regisseuren und Kritikern zuweilen auch einmal mit Bedacht gegen die offizielle Linie schwimmen konnten. Wenn künstlerische Kompetenz mit der Nähe zu bestimmten Personen aus den Sanktionsgremien einherging, waren gewisse Freiräume – sowohl für die Regisseure als auch für die Kritiker – möglich. Doch das war eine gefährliche Gradwanderung, die meist eine intime Kenntnis der Vorgänge innerhalb des Machtapparates erforderte. Im allgemeinen trifft wohl eher Gregor Gysis Bemerkung zur Kritik den Nagel auf den Kopf: „Du brauchtest im Neuen Deutschland nur zu schreiben, ein Film sei erstens ideologisch nicht rein, weise zweitens dekadent bürgerliche Szenen und außerdem unmoralische Stellen auf, und schon war er der absolute Renner. Negative Kritik führte nicht dazu, sich einen Film oder ein Stück nicht anzusehen, sondern zu der Vermutung: Sie werden es bald verbieten. Wenn eine Inszenierung im Neuen Deutschland kritisiert wurde, war die automatische Reaktion: Oh, da muß ich sofort hin.“18

16 In: Schauspieler in hohem Amt: Hans-Peter Minetti. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 168. 17 Ebd., S. 172. 18 Gysi, Gregor in: Anwalt und Premierenfeiern in Anklam: Gregor Gysi. In: Irmer et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 266. 131

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Auch hier wird wieder der Bruch innerhalb der kulturellen Struktur deutlich, die zwischen dem staatlich verordneten sensus communis und dem inoffiziellen „Subtext“ auftritt. Die Versuche, an dem nomos festzuhalten, der durch das inhaltlich immer nebulöser werdende Primat des sozialistischen Realismus charakterisiert war, erwiesen sich als zunehmend hilfloser. Die von Gysi beschriebenen Reaktionen darauf lassen zugleich auf eine parallel zur offiziellen Kultur laufende praktische Wirklichkeitsorganisation schließen, die eben jenes Auseinandertreten zum Ausgangspunkt von Handlungsorientierungen nahm und damit anomische Züge trägt. Die Allgemeingültigkeit dieser praktischen Optionen hat zugleich einen nicht zu unterschätzenden sozialen Kohäsionseffekt unter all denen, die ihr Handeln dann, dem Prinzip der „invisible hand“ gleich, ohne große Verabredung an den Optionen orientierten, die Gysi hier beispielhaft beschreibt. Dieser Kohäsionseffekt verstärkt, so vermute ich, die Bindung des Publikums an bestimmte Theaterinstitutionen, eine Bindung, in der sich das entsprechende Theater aufgrund seiner anomischen Praxis als „Bedürfnissynthese“ im Sinne Schelskys erweist. Trotz der zentralistisch-kommunalen Organisationsstruktur des Theaterfeldes der DDR ist daher nicht davon auszugehen, dass die auch hier virulenten Bestrebungen der Künstler nach Eigengeltung vollkommen absorbiert werden konnten. Manch enge Verbindung zwischen anerkannten Theaterproduzenten und Kulturfunktionären spricht vielmehr dafür, dass – ähnlich wie im Feld der bildenden Kunst – eine stetige Durchdringung von offiziell eingeforderten und inoffizell erlaubten Handlungsformen gewirkt hat. Diese Vermutung wird durch die Beobachtung Robert Darntons auch in Bezug auf das literarische Feld der DDR bekräftigt: „Tatsächlich gab es nicht ein System, sondern zwei: eine formale Struktur, in der die Planung an oberster Stelle stand, und ein menschliches Netz, in dem Menschen die Regeln umbogen.“19 Die Bedeutung der kommunalen Lebensführung kommt hier erneut zur Geltung. Es fungiert wie eine Parallelstruktur, die gleichwohl in das staatlich-institutionelle Rahmenwerk eingebunden und mit ihm verwoben ist. Dies konnte auch geradezu realsatirische Blüten treiben, die den ironischen Theaterstücken Majakowskis direkt entsprungen zu sein schienen. Wilzopolski schildert dies anhand seiner Erlebnisse mit dem Anklamer Intendanten Borde, der Wilzopolski zufolge 1983 eingesetzt wurde, um den jungen Co-Intendanten Frank Castorf zu vertreiben:

19 Darnton, Robert: Aus der Sicht des Zensors. Von der Überwachung der Literatur. In: Lettre International 3. Heft 3 1990, S. 9. Zitiert nach: Hammerthaler, Ralph: „Die Position des Theaters in der DDR“, S. 190. 132

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„So eine Doppelherrschaft, fürchterlich. Gerade in der alltäglichen Arbeit, da gab es von Borde immer wieder Störfeuer. Eines Tages hieß es: ‚Wir wissen nicht genau, was ihr da macht, ihr müsst eure Tätigkeiten zu Papier bringen. Ich möchte jede Woche ein Papier haben.‘ Haben wir gesagt, okay. Eigentlich ist Borde Physiker. Er hat Physik studiert, dann Philosophie in Berlin, hat seinen Doktor in Philosophie gemacht und ist dann zum Kulturministerium gegangen und das hat ihn dann anscheinend prädestiniert dafür, Intendant zu werden. Ich will das gar nicht kommentieren. Jedenfalls Physiker. Das brachte uns auf die Idee, da schlagen wir ihn mit seinen eigenen Waffen. Also haben wir etwa hundert Tätigkeiten aufgelistet und mit Nummern versehen. Bei der nächsten Arbeitsbesprechung haben wir gesagt, ‚Herr Doktor Borde, wenn wir das alles aufschreiben müssen, das ist viel zuviel Arbeit. Wir kodieren das einfach.‘ Wir hatten ein zehnseitiges Konvolut angefertigt, das war unsere Liste und haben die mit Code-Nummern versehen. Das fand er irre! ‚Das ist ja ein Neuerervorschlag!‘ Damals gab es diese ‚Neuerervorschläge‘, dafür gab es auch Prämien. ‚Das kann man ja fast prämieren! Eine wunderbare Idee!‘ Das hat er dann eine Weile durchgehalten. Wir haben ihm jede Woche einen Zettel mit Nummern gegeben, er hat nur Codes wiedergekriegt. Da saß er da und verglich minutiös die Nummern. Nach vier Wochen hat er aufgegeben. Da brauchten wir das nicht mehr zu machen.“20

Solche Schildbürgerstreiche waren Ausdruck des permanenten Oszillierens zwischen offiziell geforderten und tatsächlich umgesetzten Leitideen – der Kritik durch Affirmation. In der späten DDR gewinnt diese Parallelstruktur offenbar zunehmend an Relevanz und sie wird von ihrer offiziellen Verfemung zum letzten Legitimationsanker für die kulturpolitischen Instanzen mutieren. Die Idee der „Fürstenerziehung“ hatte durchaus Gewicht, doch sie erklärt nur einen Teil der spezifischen Motivation, von der viele Theaterproduzenten in der DDR angetrieben waren. Der Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor Peter Sodann antwortet auf die Frage, warum er, wie so viele seiner Kollegen, trotz massiver Einschränkungen seiner Arbeit nicht in den Westen ging: „Weil ich mein Recht nicht dort finde, sondern da, wo man mir Unrecht angetan hat. Da konnte ich nicht weg. Außerdem hatte ich immer den Wunsch, das Licht als letzter auszuschalten. Ich habe mich doch nicht ernsthaft mit dem Stalinismus auseinandergesetzt und mit diesen ganzen Dingen, um mich dann abzuseilen, sondern ich wollte mein Recht hier haben. [...] Und da unten vor dem Theater steht ein Spruch: Die edelste Beschäftigung des Menschen ist der Mensch. Ja!“21 20 Im Gespräch mit mir am 24.1.2006. 21 Sodann, Peter in: Dickschädel mit Vision: Peter Sodann. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 198. 133

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Die Behauptung auf Eigengeltung, die das künstlerische Professionsethos im Allgemeinen kennzeichnet, war bei vielen Kunstproduzenten der DDR in der Tat mit dem Beharren auf ihr gesellschaftspolitisch grundiertes Professionsethos verbunden. Manch andere, die darauf weniger vehement bestanden, sahen dennoch in dem Spannungsgefüge zwischen den Mitgliedern ihrer Zunft und der Partei einen Kampf unter Gleichen. Henry Hübchen bemerkt dazu: „Ich glaube, so ein Widerstand und ein Kampf mit der Macht sind eigentlich immer förderlich. Davon bin ich überzeugt, macht doch mehr Spaß. Man hat sicher das Gefühl, daß man behindert wird und so, aber das stimmt nicht.“22 Friedrich Schorlemmer kommentiert in diesem Zusammenhang die kulturelle Gegensatzspannung zum Westen: „Wie sehr tobte der Kampf um Deutungshoheit [...] zwischen Ost und West in der geteilten Stadt, wie sehr wurde bisweilen der Kampf gegen die ideologische Borniertheit durch das Theater im Osten geführt, während man im Westen noch in linken Visionen schwelgte, weil man den verwirklichten sozialistischen Menschen unter dem Dirigat der Partei nicht zu erleiden hatte, sondern in die Unschuld der Utopie fliehen konnte.“23

Im Staatssozialismus hatte die Utopie ihre Unschuld nicht nur verloren; sie verwies vor allem auf die Grenzen einer dialektisch-materialistischen Ordnung, in der Widerspruchsfreiheit und Reflexionsaufhebung zugleich erzwungen wie ausgeschlossen wurde. Zu einer gesamtstaatlichen Institution geworden, in der sich ihre gesellschaftlich imaginären Anteile zur allgemeinen Sollgeltung verstetigt hatten, wurde jedoch offenbar, dass die vergesellschaftete Utopie auf Dauer nicht ohne die Übersetzungsleistungen des Performativen – ohne eine Ontologie des Unbestimmten und des Schöpferischen im Sinne Castoriadis’ also – wird auskommen können. Ihre Institutionalisierung hatte unterdessen weitreichende Folgen für die Lebenswelt der Kulturproduzenten. Im Gegensatz zum Westen schottet man sich grundsätzlich nicht ab gegenüber der Macht. Bis in die achtziger Jahre hinein sucht man den Dialog mit Partei und Staatsführung – ein Entzug war ohnedies kaum möglich. Ein Eingreifen in die Politik, wie Schorlemmer behauptet, allerdings auch nicht.24 22 Hübchen, Henry: Überraschen, Fragen stellen: Henry Hübchen. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 280. 23 Schorlemmer, Friedrich: „Was für ein Theater damals in Berlin“. Wochenzeitung Freitag, 18.11.2005. 24 Schorlemmer behauptet dies: „Theater im Kalten Krieg wurde auch zum Theater gegen den kalten Krieg. Und keinesfalls griff die Staatsmacht nur im Osten in ein Theater ein, das seinerseits in die Politik eingriff.“ Das 134

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Auch wenn die Auffassungen über die politische Bedeutung des Theaters in der DDR auseinandergehen mögen, so sprechen die Haltungen der Produzenten für ein ausgeprägtes Machtbewusstsein, dessen sens pratique sich an spezifischen Handlungsstrategien orientiert. Sie interpretieren den sensus communis ganz im Sinne der quaestio und disputatio mit der gleichen ethischen Überzeugung, wie diejenigen, die sie an dessen ästhetischer Umsetzung – in ihrem Sinne – hindern. Hier wird deutlich, wie sehr sich die Wirklichkeitsorganisationen zwischen Ost und West unterscheiden. Sie unterscheiden sich aber vor allem deshalb, weil sie durch unterschiedliche Felddynamiken gekennzeichnet sind. Die westliche künstlerische Feldautonomie steht dem östlichen künstlerischen Selbstverständnis des staatlich-politischen Auftrags gegenüber. Beides bezeichnet keine absoluten Größen, doch strukturiert die Handlungsorientierungen und das jeweilige Professionsethos. Die wechselseitige Projektion des „Posthistoire“ – hier als „siegreiche“ oder „nie erreichte“ Utopie – begleitet den ebenso misstrauischen wie neugierigen Blick hinter die jeweils andere Seite des Eisernen Vorhangs. Das „Umbiegen der Regeln“ äußert sich im veralltäglichten Theaterfeld der DDR als Methode, die ab den späten sechziger Jahren auch in den Produktionsformen selbst wirksam wird und Erfolge zeitigt, die darin bestehen, den Realismus-Begriff zugleich zu aktualisieren und zu unterlaufen. In den siebziger Jahren wird das experimentelle Theater zu einer wichtigen Quelle namhafter Regisseure, die schließlich für die – auch offiziell – zunehmende Anerkennung des Regietheaters sorgen. Man bezieht sich kritisch auf Brecht, um ihn weiterzuentwickeln – und es scheint sogar möglich. Die dichotome Auffassung der Trennung von Inszenierung und Zuschauern wird mancherorts zugunsten eines „Erlebnis-Theaters“ aufgelöst, dessen bekanntestes Beispiel Benno Bessons „Spektakel“-Tage 1973 und 1974 an der Berliner Volksbühne sind – dem Haus, das noch 1965 von Ulbricht, der die medizinische Metapher liebte, wegen seiner „ungesunden politischen Haltung“ gemaßregelt wurde. Auch Manfred Karge, Matthias Langhoff und B.K. Tragelehn machen sich durch eine selbstbewusste Übertragung klassischer Stoffe auf die Probleme der Gegenwart einen Namen. Tragelehns Inszenierung von Heiner Müllers „Umsiedlerin“ führt zwar faktisch zu einem Berufsverbot für ihn und Müller, doch das hatte weniger eine abschreckende, als eine Initialwirkung, insbesondere für die Folgegeneration der Regis-

Theater thematisierte natürlich tagespolitische Fragen und Stoffe. Doch dass ein Theaterstück konkrete politische Entscheidungen beeinflusste, ist mir nicht bekannt und drückt doch eher die illusio der „Fürstenerziehung“ aus, von der Tragelehen spricht. 135

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seure. Dies gilt auch für die Aufführung von „Fräulein Julie“ (1975) am Deutschen Theater, dessen Wirkung Tragelehn beschreibt: „[B]ei Fräulein Julie beruhte alles auf [der] Zerrissenheit [der Erzählung], die auch das Publikum zerriß. Das Innenleben wurde nach außen gestülpt. Man fragt sich, was diese Geschichte zwischen einer schwedischen Gräfin und ihrem Domestiken mit der DDR zu tun hat. An der Oberfläche, stofflich, überhaupt nichts. Aber das Innenleben von Herr und Knecht nach außen zu stülpen, das war etwas, was den DDR-Bürger mitten ins Herz traf. [...] Danach gab es eine Kampagne und alle haben sich auf die Form gestürzt. Keiner hat gewagt, vom Inhalt zu reden. Der einzige, der das austrompetet hat, war Ernst Schumacher. Der hat in der Berliner Zeitung tatsächlich geschrieben, Herr und Knecht gäbe es nicht mehr in der DDR.“25

Ernst Schumacher war nicht nur Kritiker der Berliner Zeitung, sondern auch Sektionsleiter des Fachbereichs Theaterwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Doch auch hier reicht es nicht hin, aus einem scheinbar konformistischen Kommentar und dem Wissen um die herausgehobene Position seines Autors den vorschnellen Schluss von einer „gleichgeschalteten“ Denkweise zu ziehen. Denn die immer offensichtlicher werdenden Paradoxien, die sich aus der zunehmenden Diskrepanz zwischen offiziellen Verlautbarungen und mehr oder minder geduldeten inoffiziellen Praktiken ergeben, sind in den bewegten 1970er Jahren kaum mehr zu übersehen. In den Beurteilungen der Professoren und Dozenten der Sektion Ästhetik und Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin wird diese Phase als sehr spannungsreich beschrieben. Zu Beginn der siebziger Jahre weht nicht nur durch die Theater, sondern auch durch die Universitäten ein neuer Geist. Der Sektionsleiter Schumacher konzentriert sich in seinen Vorlesungen auf den performativen Charakter von Medien – eine Neuheit, deren Ursprünge nicht mehr auf den sozialistischen Realismus der 60er Jahre zurückzuführen sind. „Unter dem Schutz seiner Egozentrik kann sich am theaterwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität in den frühen siebziger Jahren eine geradezu anarchische Atmosphäre ausbreiten,“ bemerkt Robin Detje.26 Schumacher selbst zeichnet sich in dieser Zeit verantwortlich für ein Papier zur „Profilierungskonzeption für das Institut“: „Die Rolle dieser Kulturwissenschaftler wird in dem Maß wachsen, wie die künstlerische Selbstbetätigung als echtes Lebensbedürfnis emp-

25 Tragelehn, B.K. in: Mit der „Umsiedlerin“ durch die DDR-Geschichte: B.K. Tragelehn. In: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 83ff. 26 Detje, Robin: Castorf. Provokation aus Prinzip, S. 54. 136

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funden wird.“27 Schon die Gegenüberstellung des offiziell geforderten künstlerischen Professionsethos einer „Bekämpfung der Selbstgenügsamkeit“28 mit dieser Betonung auf die individuelle Motivationsleistung eröffnet eine Sollbruchstelle zwischen gesellschaftlicher Pflicht und subjektivem Gestaltungswillen, die Schumachers Studenten sicher nicht unbeeindruckt ließ. Auch die Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach und Rudolf Münz stehen der Doktrin des sozialistischen Realismus distanziert gegenüber, was an ihren thematischen Schwerpunkten ablesbar ist: Die Commedia dell‘ Arte, Antonin Artaud, Erwin Piscator, Wsewolod Meyerhold, Peter Brook und das „Living Theatre“. Unter ihren und Schumachers Studenten befindet sich Mitte der siebziger Jahre auch ein junger Berliner namens Frank Castorf. Der Leitbegriff des sozialistischen Realismus löste sich als praktische Handlungsorientierung zunehmend zugunsten ausdifferenzierter Stile und Formen auf, die der Sublimierung des Politischen im Zuge der Veralltäglichung des „Posthistoire“ immer skeptischer gegenüber auftraten.29 Die von Rehberg unterstrichene „Verinnerlichung entdramatisierter Konsenszwänge“ der siebziger und achtziger Jahre weist nicht nur innerhalb der staatlichen Institutionen, sondern auch in den künstlerischen Produktionsformen in der DDR eine deutliche Parallele zum „postdramatischen“ Theater im Westen auf. Hans-Thies Lehmann bemerkt dazu: „Wenn aber dramatisches Theater so ‚dramatisch‘ an Boden verliert, kann dies ein Anzeichen dafür sein, daß die Erlebnisform in der Realität selbst, der diese Kunstform entspricht, auf dem Rückzug ist. Die Frage nach den Gründen für den Rückgang und das Unselbstverständlichwerden des dramatischen Vorstellens kann hier nicht angegangen, geschweige denn erlöst werden. [...] Eine erste These könnte lauten: Wenn das neuzeitliche Drama den sich im zwischenmenschlichen Bezug entwerfenden Menschen zur Grundlage hat, so das postdramatische Theater einen Menschen, dem, so will es scheinen, auch das Konfliktuöseste nicht mehr als Drama erscheinen will.“30

27 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, KUWI 4562. 28 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, KUWI 4606. 29 Dazu bemerkt Münkler: „In seinen Überlegungen zum Scheitern des Marxismus hat Ernest Gellner als dessen große Schwäche weniger die ‚formale Eliminierung des Transzendenten‘ als vielmehr ‚die übermäßige Sakralisierung des Immanenten‘ (...) gesehen, die schließlich dazu geführt habe, daß die sozialistische Gesellschaft an einem Mangel des Profanen zusammengebrochen sei.“ Münkler, Herfried: „Politische Mythen und Institutionenwandel“, S. 133. 30 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 464. 137

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Die von Lukács geforderte „parteiliche Objektivität“, auf deren Basis die pädagogische Dramaturgie zum wirkungsstrategischen Verfahren erklärt wurde, wird im DDR-Theater der achtziger Jahre durch Praktiken modifiziert, in denen Schlagwörter wie „die Objektivität des Zufalls“ oder der „Demontage von Erwartungshaltungen“ zu wichtigen Leitlinien avancieren. Diese ästhetische Entwicklung greift dem späteren Vereinigungsprozess der beiden Berliner Theaterfelder voraus und wird ihn zugleich entscheidend prägen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die hier entwickelten Anpassungsmodi und Distinktionstechniken als praktisches Angebot zum gesellschaftlichen Dialog innerhalb eines diktatorisch-kommunalen Staatswesens verstanden wurden, das ein utopistisches Projekt verfolgte, ohne es einlösen zu können. Dieser Grundkonflikt spielte sich in einem System des demokratischen Zentralismus ab, das jede Form der Ausdifferenzierung fürchtete – und sie dennoch, im begrenzten Maße, zuließ. Wie stehen dem nun die Protagonisten des demokratischen Pluralismus gegenüber?

3.1.2 Der Westen damals und heute: Nomos und Polyvalenz Im Unterschied etwa zum Feld der bildenden Kunst, in dem die starke Ausdifferenzierung des Kunstmarktes eine Gleichzeitigkeit polyvalenter Distributionssysteme hervorgebracht hat, gab es im Westen zwar eine freie Theaterszene, aber von einem „freien Theatermarkt“ kann auch im vereinigten Berlin der Gegenwart keine Rede sein. Die meisten und bedeutendsten Theater Berlins sind Stadttheater und werden durch öffentliche Mittel finanziert. Die Senatsabteilung für Wissenschaft und Kultur besetzt zugleich die höchsten Posten, die im Theaterfeld möglich sind – die Intendanzen. Das Theaterfeld ist strukturell ein Relikt der Machtverhältnisse, das die höfische Gesellschaft überdauert hat. Zwar ist der König und der Hof durch den Berliner Senat und ein komplexes Geflecht finanzieller Subventionsstrukturen ersetzt, doch das staatliche Sanktionspotential begründet sich nach wie vor auf einem monopolistischen Prinzip. Das bedeutet, dass nicht allein die Kunstproduktion selbst sehr stark institutionalisiert ist, sondern auch, dass die gesamte Struktur des Feldes auf einer relativ traditionalistischen Produktionshierarchie beruht. Dies wird von den Akteuren und Kennern des Metiers auch durchweg positiv gesehen. So antwortet der Publizist und ehemalige Dramaturg des Berliner Ensembles Friedrich Dieckmann auf die Frage, ob die Forderung einiger Politiker nach mehr öffentlichem Mitspracherecht hinsichtlich der Intendanzvergaben berechtigt sei, lachend:

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„Das ist völlig illusorisch. Nicht einmal das Parlament hat einen wirklichen Einfluss darauf. Und es ist gut, dass es das nicht hat. Wenn man Volksabstimmungen machen würde über die Besetzung von Theatern – unvorstellbar! Nein, hier muss schon eine Art Einzelverantwortung Raum greifen. Das setzt natürlich voraus, dass diejenigen, die sie ausüben, kompetent sind.“31

Die Akzeptanz der Einzelverantwortung führt zu einer engen Verbindung von Kunst und Politik. In keinem anderen Kunstfeld ist diese Beziehung so eng, so dass es gerechtfertigt scheint, von „Kunstpolitik“ und damit von der Existenz eines theaterfeldspezifischen nomos im Bourdieuschen Sinn zu sprechen. Er unterscheidet sich von der realsozialistischen Kunstpolitik vor allem in seiner abgeschwächten politischethischen Sollgeltung und in seiner Distanz gegenüber der offenen Maßregelung ästhetischer Produktionsweisen. Diese vollzieht sich gleichwohl indirekt. Durch die Postenvergabe und die finanzielle Subventionierung bleibt der Staat die maßgebende Sanktionsinstanz der künstlerischen Praxis. Doch ist das politische Feld nicht die einzige wichtige Größe, wenn es um die Umwandlung von künstlerischer Anerkennung in ihre institutionelle Stabilisierung geht. Der nomos zeigt im westdeutschen bzw. im vereinigten Berliner Theaterfeld vielmehr ein janusköpfiges Gesicht: Als ökonomisches Machtinstrument ist er im Feld der Politik – in Berlin in der Abteilung Forschung, Wissenschaft und Kultur des Berliner Senats – finanziell und institutionell manifest. Die symbolische Macht liegt hingegen im Feld der Presse, der Theaterkritik. Die Verbindung zwischen Politik und Presse bestimmt die organisatorische Struktur des Theaterfeldes wesentlich.32 Politiker und Kritiker bewerten, beurteilen, legitimieren oder sanktionieren die Aufführungen – etwa durch gute oder schlechte Kommentare, durch die Bewilligung oder Verweigerung von Subventionen oder durch gezielte Kunstpolitik, indem Intendanten ausgelobt, scharf kritisiert, berufen oder abgesetzt werden. Diese beiden Sanktionsinstanzen befinden sich aufgrund ihrer Einflussnahme in einem permanenten Kampf um die Definitionsmacht um legitimierbares – das heißt vor allem: finanzierungswürdiges – Theater untereinander und mit den Akteuren des Feldes selbst, zu denen natürlich auch das Publikum gehört. Insofern ist der nomos zugleich Legitimationsfaktor und Reibungsfläche. 31 Gespräch mit mir am 27.10.2004. 32 Hier genügt schon der Vergleich mit dem Feld der bildenden Kunst, in dem es zweifelsohne neben Galerien und Akademien Formen des nomos gibt, die allerdings wesentlich informeller strukturiert sind, ein höheres Relevanzgefälle hinsichtlich der jeweiligen Strömung ausdifferenziert haben und insofern den Begriff des nomos als feldstrukturierendes Instrument fragwürdig erscheinen lassen. 139

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So widersprüchlich sich die Theaterproduzenten gegenüber den staatlichen Instanzen und der Kritik – also zum nomos – verhalten, so widersprüchlich ist dieser in sich selbst. Ich nehme an, dass diese Ambivalenz auf eine Gegensatzspannung zurückzuführen ist, die sich über die strukturelle Tradition einerseits und die praxisbezogene Ausdifferenzierung andererseits zieht. Die tradierte Form der Subventionierung und Sanktionierung steht der auch im Theaterfeld durchgesetzten formalästhetischen Polyvalenz gegenüber, die Lehmann für das zeitgenössische Theater beschreibt: „Postdramatisches Theater betont das Unabgeschlossene und Unabschließbare [...] so sehr, daß es seine eigene ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ realisiert, die sich durch eine Überwindung der Prinzipien der Mimesis und der Fiktion auszeichnet. Das Spiel als im Moment erzeugtes konkretes Ereignis verändert grundlegend die Logik der Wahrnehmung und den Status des Subjekts dieser Wahrnehmung, das sich nicht mehr auf eine repräsentative Ordnung stützen kann.“33

Weder Produktion noch Rezeption lassen sich auf eine repräsentative Ordnung zurückführen. Hier stößt der Einflussbereich des nomos an Grenzen einer Wirklichkeitsorganisation, die in der Aufführung selbst immer auf ihrer Eigengeltung besteht. Der Ereignischarakter, der heute alle Künste durchzieht, entzieht sich einer normativen Ästhetik, wie sie sich vor der Durchsetzung des Regietheaters noch lange im Theaterfeld zu behaupten versuchte: „In diesem Sinne tritt an die Stelle der organischen überschaubaren Ganzheit der unvermeidliche und gemeinhin „vergessene“ Fragmentcharakter der Wahrnehmung, der im postdramatischen Theater ausdrücklich bewußt gemacht wird. Die kompensatorische Funktion des Dramas, dem Durcheinander der Wirklichkeit eine Ordnung zu supplementieren, findet sich verkehrt, der Wunsch des Zuschauers nach Orientierung desavouiert.“34

Die auch im Ostberliner Theaterfeld in der späten DDR praktizierte Demontage von Erwartungshaltungen greift die tradierten Normgeltungen des bürgerlichen Theaters an und reklamiert für sich künstlerische Legitimation. Damit knüpft sie an die Repräsentationsmuster und die praktische Wirklichkeitsorganisation der Bohème an, und aktualisiert deren Produktionsprinzipien des L’art pour l’art. Die Erfüllung des politischen Auftrags wird nicht mehr als utopistische Aufhebung kapitalistischer 33 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 169ff. 34 Ebd., S. 150. 140

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Entfremdung, sondern als Entmündigung empfunden; gegen diese wird mit Fragmentierung reagiert. Die Zersplitterung der Form und die Weigerung zur Kompensation sind ihrerseits auf das Thema der Entgrenzung zurückzuführen, die Durkheim als Grundlage für anomisches Verhalten in der Moderne definiert hatte. Das stärkt die These, dass auf die Schwächung einer einheitlichen Ästhetik (dem Prinzip einer überschaubaren Ganzheit, vermittelt durch die „Werktreue“ bzw. der Verwirklichung des sozialistischen Realismus) als logische Konsequenz des Industriezeitalters nicht ihre Abschaffung, sondern ihre Umwandlung in den Zwang zur Entgrenzung erfolgte: „La doctrine du progrès est devenue un article de foi,“ hatte Durkheim geschrieben. Die Felder der Künste hatten den Fortschrittsglauben in die „permanente symbolische Revolution“ umgemünzt, die nach dem Ende des kommunistischen Projektes und einer emanzipatorischen Zielvorgabe des „Posthistoire“ nach der deutschen Vereinigung erneut Allgemeingeltung erfährt. Fortschrittsglaube und Innovation bedingen einander, jedoch ist ihr Erfolg „inmitten des brausenden Meeres der Ungewißheiten und völlig unberechenbaren Möglichkeiten“ (Lukács) ungewiss, wie Rüdiger Ortmann anhand Robert K. Mertons Anomietheorie ausführt: „‚Innovation‘ in der Typologie Mertons liegt bei Menschen vor, die durch Akzeptanz der kulturell vorgegebenen Ziele, aber Nicht-Akzeptanz der kulturell als legitim ausgewiesenen Wege zum Ziel beschrieben werden. Dabei ist ‚Innovation‘ ein neuer Weg zum Ziel, „neu“ in Bezug auf den Katalog der durch die Kultur als legitim ausgewiesenen Wege, in dem der neue Weg (bisher) nicht vorkommt. Insofern ist ‚Innovation‘ schöpferisch (und legitim) oder abweichend.“35

An Ortmanns Beschreibung wird der dünne Pfad sichtbar, der das Primat der Abweichung von seinem schöpferischen Charakter im Sinne einer imaginären, utopistischen Institutierung scheidet. Er kommt gleichsam in der Entkopplung zwischen den Sozialfiguren des artiste maudit und des artiste raté zum Ausdruck, die über ihr symbolisches Kapital und damit über ihren gesellschaftlichen Erfolg entscheidet. In einer Stadt wie Berlin, die viele Theater hat, sind der Erfolgsdruck und der damit verbundene Profilierungszwang der Produzenten besonders hoch. 2004 schreibt der Berliner Kultursenator Thomas Flierl in einem Positionspapier zur turnusmäßigen Evaluation der freien Theaterszene Berlins: „Kulturpolitisch geht es insbesondere darum, wie in Berlin das Spannungsverhältnis zwischen Erbe und Innovation, das zugleich die kulturelle Vielfalt, Dynamik und Anziehungskraft der Stadt aus35 Ortmann, Rüdiger: Abweichendes Verhalten und Anomie, S. 82. 141

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macht, künftig ausgehalten und produktiv gestaltet werden kann.“36 Das bietet einen guten Nährboden für die beschriebene ästhetische Fragmentierung von Repräsentationsmustern. Deren institutionellen Charakteristika beschreibt M. Rainer Lepsius: „Zwischen Institutionen besteht ein erhebliches Konfliktpotential. Die in ihnen ausgebildeten Rationalistätskriterien stehen zueinander in Opposition, die von ihnen beanspruchten Geltungsbereiche überschneiden sich. Die Wertvorstellungen und Leitideen, auf die sie sich beziehen, sind inkompatibel, sonst würden sie nicht differenziert sein.“37 In diesem System ist das jeweilige ästhetische Profil des Hauses das immer wieder neu zu profilierende Faustpfand im Kampf um Anerkennung. Auch darin entspricht die Struktur des Theaterfeldes den Anforderungen der gegenwärtigen Gesellschaften: „In einer differenzierten Gesellschaft, in der es nicht nur darum geht, sich vom Gewöhnlichen zu unterscheiden, sondern sich auf unterschiedliche Weise zu unterscheiden, zieht die Logik der Umkehrungen des Pro und Contra ebenso Umkehrungen zwischen der einfachen Einfachheit und ‚Einfachen‘ und der gesuchten Einfachheit der ‚Raffinierten‘ nach sich,“38 stellte Bourdieu fest. Daher gibt es kein größeres Problem als die ästhetische Nivellierung, denn damit sind die Eigengeltung und der gesellschaftliche Nutzwert eines Hauses in Frage gestellt. Die daraus resultierenden Reibungspunkte werden in einer Bemerkung Barbara Essers, der Theaterbeauftragten der Stadt Berlin deutlich: „Ausgehend von den großen Bühnen ist neben der eigenen Profilschärfung auch die eine oder andere Profilüberschneidung etwas, worüber man in der Entwicklung nachdenken muss. Wir wollen die Vielfalt fördern und nicht das gleiche Programm und die gleichen Ästhetiken an allen Stellen.“39 Ich lese „Förderung der Vielfalt“ als Metapher für den Auftrag zur performativen Differenzproduktion. Die strukturelle Diskrepanz zwischen organisatorischem Zentralismus und ästhetischer Polyvalenz konturiert die Handlungsorientierungen der maßgebenden Akteure im Berliner Theaterfeld. Auch sie befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation, das auf den ersten Blick widersprüchliche Einstellungen hervorbringt. In sich bilden die staatlichen Träger, die mit der Aufgabe betraut sind „Kultur zu fördern“, und die Figuration der Kritiker sehr heterogene Zu-

36 Flierl, Thomas: Perspektive durch Kultur, S. 8. K.v.m. 37 Lepsius, M. Rainer: „Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien“, S. 61. 38 Bourdieu, Pierre: Soziologie der symbolischen Formen, S. 70. 39 Gespräch mit mir am 24.2.2005. K.v.m. 142

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sammenschlüsse hinsichtlich ihrer Positionen und ihrer ästhetischen Präferenzen. Die staatlichen Vertreter kulturpolitischer Entscheidungen stehen – schon aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit – immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den politischen und wirtschaftlichen Instanzen. Sie nehmen dementsprechend innerhalb der staatlichen Institutionen untergeordnete Positionen ein. Dies führt zu einem kulturpolitischen Habitus, der erstaunlich durchgängig zu beobachten ist; einem Habitus, der zwischen einer großen Affinität zu den Theaterproduzenten einerseits und Selbstdistanzierung gegenüber dem (eigenen) politischen Feld andererseits schwankt. Während die Theaterschaffenden und Kritiker den Vertretern kulturpolitischer Entscheidungen häufig vorwerfen, „nichts von Kunst zu verstehen“40, unterstreichen diese ihrerseits ihre Nähe zu den Künstlern und verorten sich in eine Expertenposition, in der sie sich selbst als „Entwicklungsbeschleunigerin“41 oder als „Vermittler“42 sehen. Diese Selbstsicht, „support“ zu sein, schwächt die weniger ehrenhafte Bezeichnung der Sanktionsinstanz ab, als die sich die Vertreter der Kulturpolitik schon deshalb nicht sehen können, weil sie mit den stetigen Zwängen der politischen und wirtschaftlichen Verwaltung zu kämpfen haben – und zu kämpfen heißt insbesondere, ihre Autonomie als Teilbehörde zu bewahren. Man könnte ihre Position nach Bourdieu als die der dominants-Dominés bezeichnen. Sie bilden den beherrschten Teil der herrschenden politischen Institutionen, da sie abhängig sind von den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen der jeweiligen Regierung, der sie unterstehen und die sie zugleich bilden. Ich vermute, dass diese Position zu dem skizzierten distinktiven Habitus führt. Zugleich befinden sich die Mitarbeiter der Kulturbehörde in einer paradoxen Beziehung zu den Theaterschaffenden. Von der Existenz der Theaterzunft hängt schließlich ihre eigene Profession ab. Gleichwohl sanktionieren sie deren Produktionen, indem sie sie finanzieren oder ihnen Subventionen verweigern. Der symbolische Zwang zur Differenzproduktion geht, wie ich bereits erwähnte, für die Institution Theater mit dem ökonomischen Zwang zum Erfolg Hand in Hand. Über den Erfolg entscheidet neben den potentiellen Geldgebern und dem Publikum eine zwar kleine, doch 40 Peter Rauhe, Vorsitzender des Vereins der „Freunde der Nationalgalerie“ während der Diskussionsveranstaltung „Pleite oder Perspektive – Kulturstreit in Berlin“ am 25.10.2004 in der Akademie der Künste Berlin. 41 Adrienne Goehler, seinerzeit Vorsitzende des Hauptstadtkulturfonds Berlin im Gespräch mit mir vom 10.11.04. 42 Barbara Esser, Theaterreferat der Stadt Berlin im Gespräch am 24.2.05 mit mir. 143

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mächtige Öffentlichkeit. Es ist die Theaterkritik – namentlich die Presse, deren Urteil über die Qualität der Produktionen am Besetzungskarussell der jeweiligen Intendanzen kräftig mit-dreht. Der erstaunlich große Einfluss des Theaterkritikers auf kulturpolitische Entscheidungen erscheint im Zeitalter der Massenmedien wie ein Relikt aus weit zurückliegenden Epochen. Dies scheint auch ein Cartoon zu bestätigen, den der Theaterredakteur des Berliner Tagesspiegel, Rüdiger Schaper mir nach einem Gespräch gab: „The world’s first critic“. Dort sind Steinzeitmenschen in einer primitiven Arena sitzend abgebildet, während einer von ihnen – eine Art Ur-Schauspieler – in der Mitte steht und offensichtlich etwas deklamiert. Einer der Zuschauer, ein besonders rabiat aussehender Geselle mit einer dicken Keule bewaffnet, wendet sich an seinen Nachbarn und fragt ihn: „Should I applaud politely or kill him?“ Die Figuration der Kritiker als Teil des Pressefeldes ist in sich noch heterogener als die Figuration der kulturellen Administration. Als Teilfiguration des intellektuellen Feldes steht das Feld der Presse den allgemeinen Feldern der Kunstproduktion prinzipiell näher als dem der Politik.43 Das Pressefeld ist entsprechend seiner politischen und kulturellen Komplexität reich an grundverschiedenen Repräsentationsmustern. Gerade hier lassen sich die ästhetischen Legitimationskämpfe um das, was „gutes“, bzw. „interessantes“ Theater sein soll, ab-lesen; Legitimationskämpfe, die sich, so scheint es zuweilen, direkt an dem überschaubaren Personenkreis relevanter Kritiker ausmachen lassen – also der Kritiker, die am längsten, am häufigsten und in den bedeutendsten Zeitungen schreiben. Die Kritiker bewegen sich an den Nahtstellen zwischen Bühnen, Publikum und Behörden. Damit tragen sie wesentlich zur Feldkonstituierung bei und beeinflussen die Felddynamik. Sie sind jedoch letztlich abhängig von den Produzenten, deren Arbeit ihr eigenes Tun rechtfertigt. Da verwundert es kaum, dass sich die Kritiker selbst – vergleichbar der relativen Machtposition der Kulturpolitiker – als eher passive Beobachter und „Helfer“ der Theaterproduzenten betrachten. Zugleich ist das Bewusstsein über die Feldposition und dem damit verbundenen Machtpotential klar vorhanden und wird als solches artikuliert, im Zweifelsfall 43 Rüdiger Schaper: „Wir sind hier keine kalten Leute, die einfach nur draufblicken. Man versucht schon da, wo Theater funktioniert, wo es neu beginnt, wo es lebendig ist, publizistisch dabei zu sein, auch im eigenen Interesse. Dann kann man da auch helfen. Wenn Theater kulturpolitisch schlecht behandelt wird, wenn ein eklatanter Angriff vorliegt oder eine Ungerechtigkeit oder irgendwas läuft richtig schief, dann stehen wir doch eher auf der Seite der Theater. So ganz unparteiisch ist man da nicht. Da muß ein Kritiker ehrlich sein – wir sind keine Kulturpolitiker. Aber die Nähe zum Theater ist stärker.“ Gespräch mit mir am 22.10.04. 144

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sogar eingeklagt. Auch dies ist vergleichbar mit den Äußerungen der Vertreter der Kulturbehörde.44 Die Akteure, die dem nomos assoziiert sind, verhehlen kaum ihren Anspruch, auf die Felddynamik einen steuernden Einfluss zu nehmen. Und auch die Kritiker sind sich ihrer immanenten Positionen als Sanktionsinstanzen bewusst. Das Verhältnis zwischen Politikern und Kritikern schwankt zwischen Abgrenzung und Kooperation. Meine Beobachtung des Feldes hat die Aussagen von Kennern des Metiers bestätigt, nach denen politische Instanzen sich häufig bei ihren Entscheidungsfindungen an bestimmten Kritikern orientieren oder sie auch direkt in die Findungsprozesse für Intendanzbesetzungen einbeziehen. Im Fachjargon heißt das zum Beispiel „eine Inszenierung hoch-schreiben“, um einen Regisseur oder Intendanten vor dem Verlust seines Prestiges, seines symbolischen Kapitals zu schützen und damit seine institutionelle Position zu sichern. Die Interdependenz zwischen dem Feld der Politik und dem Feld der Presse offenbart zugleich ein multipolares Spannungsgefüge, dessen Empfindlichkeit sich immer dort offenbart, wo die Suspendierung des Nutzerfolges aufgehoben ist. Der Nutzerfolg wird von den hier beobachteten Figurationen jedoch weniger suspendiert, sondern vielmehr sublimiert und kann in der Krise hier politische Interessen offenlegen, dort an die journalistische Meinungsfreiheit appellieren, und schließlich in ein Pathos künstlerischer Eigengeltung umschlagen, das in den Äußerungen aller Feldakteure zu finden ist. Es ist ein Indiz für ihre wechselseitige Interdependenz. In der Spielzeit 2004/ 2005 war das am Fall Christoph Hein und der damit verbundenen „Ost-West“-Debatte zu beobachten. Die durch den Berliner Kultursenator geplanten Neubesetzungen der Intendanzen des Deutschen Theaters und des Gorki Theaters mit zwei aus dem Osten stammenden (Christoph Hein, Schriftsteller, für das Deutsche Theater und Armin Petras, Regisseur, für das Gorki Theater) zukünftigen Intendanten löst in den Feuilletons eine höchst polemische Diskussion über Bevorzugungen von Ost-Kandidaten aus, was sich maßgeblich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Spiegel und dem Berliner Tagesspiegel niederschlägt. „Ost-West Konflikt“ betitelt das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung diese Auseinandersetzung: „Seither tobt in Berlin ein Kulturkampf, in dem Begriffe wie ‚Apartheid‘, ‚Rassismus‘ und ‚Roll-back‘ fallen und es wieder eine Rolle spielt, ob jemand eine Ost-

44 „In so einer Stadt wie Berlin, beim Tagesspiegel, das gilt sicher auch für die Berliner Zeitung, man positioniert sich [...]. Das ist übrigens im Interesse des Publikums, wir haben ja auch Publikum zu bedienen: unsere Leser.“ Schaper, ebd. 145

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oder eine West-Biographie vorzuweisen hat.“45 Verschiedene Intendanten anderer Berliner Häuser beziehen ebenfalls Stellung. Die Berliner Zeitung übertitelt ihrerseits eine Flut von Leserbriefen: „Die Mauer in den Köpfen der Theaterkritiker“. Ein Leser schreibt: „Theater ist kein stumpfes Unterhaltungsmedium, sondern ein Spiegel der Gesellschaft. Daran sollten auch Theaterkritiker interessiert sein. Solange Ostdeutsche aufgrund ihrer Herkunft eine Welle der Empörung auslösen, tritt eine Ost-West-Integration in weite Ferne.“46 Die Art und Weise, wie der Kultursenator zudem relativ zeitgleich die Neubesetzung der Leitung der Berliner Staatsoper vorbereitete – das Treffen des Kulturredakteurs des Berliner Tagesspiegels mit einem offensichtlich unerwünschten Anwärter, der keine Kenntnis davon hatte, dass es sich um ein Sondierungstreffen handelte – machte Skandal und warf nicht nur ein schlechtes Licht auf die Kulturpolitik des Senats, sondern führte kurz darauf auch zum Rückzug des Kulturredakteurs von seinem Posten. Der Kultursenator gestand ein, dass dieser Vorgang „ein Fehler gewesen [ist], der die Grenzen zwischen der Politik und Fachjournalisten unzulässig verwischte.47“ Dort, wo die immanente Interdependenz zwischen den beiden Polen des nomos zutage tritt, ist eine Grenzüberschreitung manifest geworden, die das Implizite, ist es öffentlich und skandalisiert, nicht mehr legitimierbar macht – wenngleich die ihm zugrundeliegende Struktur im Theaterfeld angelegt und als solche von den Feldakteuren akzeptiert ist. Dies verdeutlicht der Kommentar des Kritikers Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die Instrumentalisierungsfalle schnappt dann zu, wenn sich der Feuilletonist zuvor in die Verantwortungsfalle begeben hat. Die Interessen einer Stadt müssen nicht die Interessen des Feuilletons sein. Aber die Interessen des Feuilletons könnten die Interessen einer Stadt sein.“48 Zum einen wird hier auf das Berufsethos des Journalisten, d.h. auf die Autonomie der Figuration bestanden, zu der Stadelmaier selbst gehört – die der Kritiker. Schließlich wird die Sichtbarkeit jener Interdependenzen skandalisiert, indem der Kritiker mit der klassischen Metapher der Prostitution49 sucht, 45 Dössel, Christine: Das Ganze hat überhaupt nichts Konspiratives. Süddeutsche Zeitung, 8.11.04 46 Berliner Zeitung vom 23./24.10.04 47 Hertel, Ralf: Ein Fehler. Süddeutsche Zeitung, 12.11.04 48 Stadelmaier, Gerhard: Korrumpel und Kurtisane. Was der Macher merkt: Wenn der Merker Politik macht. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.04 49 Eine im Kunst- und Theaterfeld im übrigen sehr beliebte Metapher, die sich spätestens mit der Theatralitätskritik bei Rousseau etabliert hat (vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, S. 69 ff.) 146

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seinen Berufsstand vor dessen ehrenrührigen Mißbrauch durch die Politik zu brandmarken und zugleich zu retten: „Kritik ist eine eigene Kunst. Kurtisanen haben eine andere.“50 Ende Dezember 2004 zieht Christoph Hein seine Anwärterschaft als zukünftiger Intendant des Deutschen Theaters überraschend zurück. Hein begründet seinen Schritt mit dem „absichtsvoll vergifteten, feindseligen Klima“51, das die Medien, insbesondere die FAZ, gegen ihn aufgebaut hatten. Die Bedeutung der Presse für die Verschiebung von (Macht-)Positionen innerhalb des Feldes wurde am Fall Hein besonders virulent. Auf die Frage, welche Bedeutung die Presse im Theaterfeld habe, antwortet Friedrich Dieckmann: „Vielleicht dieselbe wie früher das Zentralkomitee. Der Einfluss der Presse und namentlich der Überregionalen ist groß. In vieler Hinsicht vielleicht sogar entscheidend. Eine lenkende Macht im Getriebe der Politik.“52 Die weit harmloser scheinende Form der Vergabe von Gutachten ist ein anderes Beispiel. Hier werden – zwar nicht immer, aber sehr häufig – Publizisten, die sich im Laufe ihrer Tätigkeit als Kritiker einen Namen gemacht haben, von der Kulturbehörde beauftragt, Evaluationen hinsichtlich einer Form der Qualitätssicherung der Theater durchzuführen. Von diesen Evaluationen hängt wesentlich ab, ob staatliche Förderung aufgenommen, fortgesetzt oder beendet werden soll. Hier handelt es sich meist um kleine Gruppen von etwa vier Personen. Diese relativ informelle Beziehung zwischen dem politischen Feld und den Kritikern ist ein Phänomen der Moderne. Es hat seinen Ursprung in der strukturellen Loslösung der Kritiker von den staatlichen Institutionen und in der damit verbundenen Ausdifferenzierung der formal-ästhetischen Orientierungen. Ich verstehe diese informelle Beziehung daher als erhärtendes Indiz für die Autonomisierung der allgemeinen Felder der Kunst, die im Westen ungebrochen fortbestand. Blieb die strukturelle Abhängigkeit der Bühnen von diesen Entwicklungen zwar relativ ausgenommen, so beeinflussten die Kritiker gleichwohl auch die Dynamik des Theaterfeldes. Bourdieu verbindet die veränderten Repräsentationsmuster, die sich einer allgemeingültigen Bewertung mehr und mehr entzogen, mit einem Deutungswandel der Aufgabe des Kritikers. Er hat nicht mehr die Funktion einer Legitimationsinstanz, die das künstlerische Produkt auf seine Nähe zu einem formal-ästhetisch durchgesetzten nomos, der durch die Akademien repräsentiert wurde, überprüft. Vielmehr rückt das künstlerische Werk in seiner Eigengeltung in den Mittelpunkt des Urteils. Die veränderte Rolle des Kritikers, die sich 50 Stadelmaier, Gerhard: Ebd. 51 In: Detje, Robin: Adel verzichtet. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2004. 52 Im Gespräch mit mir am 27.10.2004. 147

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fortan zwischen einer komplizenhaften Verbündung mit bestimmten Künstlern, notfalls auch gegen die staatlichen Förderer, und der Kooperation mit Letzteren (wie in Form von Gutachten) bewegt, hat nach Bourdieu zum Prozess der institutionnalisation de l‘anomie beigetragen: „Diese radikal neue Definition der Rolle des Kritikers (der bislang auf die allenfalls kritische Paraphrase des vornehmlich historischen Informationsgehalts des Bildes beschränkt war) fügt sich ganz logisch in den Institutionalisierungsprozeß der Anomie ein, der mit der Bildung eines Feldes einhergeht, in dem jeder künstlerisch Schaffende ermächtigt ist, seinen eigenen nomos in einem Werk zu stiften, welches das (völlig beispiellose) Prinzip seiner Wahrnehmung in sich selbst trägt.“53

In diesem Sinne bestimmt die Figuration der Kritiker die Dynamik des Feldes aktiv mit. Der Versuch der Einflussnahme auf bestimmte ästhetische Formen scheitert dagegen regelmäßig. Dies erklärt sich zum einen aus dem unabdingbaren Autonomiebestreben der Theaterproduzenten selbst und zum anderen schon aus der Tatsache, dass das Tun des Kritikers stets den Charakter des post festum trägt: schickt er doch dem bereits abgeschlossenen Prozess einen Kommentar hinterher. Die Vertreter der Kulturbehörde sehen sich hier in einer ähnlichen Beobachterposition, wie Barbara Esser formuliert: „Was wir nicht machen, ist unmittelbar eingreifen in künstlerische Planungen und Spielplanungen.“ Gleichwohl bleibt das staatliche Entscheidungmonopol der Geldvergabe und der Postenvergabe unangetastet. Das ist die deutlichste Form der Sanktionierung der ästhetischen Praxisformen und damit das, was man Kunstpolitik nennt: „Unsere Aufgabe ist es nicht nur, Rahmenkonzepte zu entwickeln, die dann konkret auszufüllen sind von den jeweiligen Künstlern. Diese Rahmensetzungen sind struktureller wie finanzieller Natur. Bei den großen Häusern, den Staatstheatern, beobachten wir auch die Entwicklung. Man kann auch gegensteuern dadurch, dass man personelle Entscheidungen trifft. Das ist unsere Form der ‚Evaluierung‘.“54 Von der Wertschätzung der Kulturpolitiker und der Kritiker hängt die materielle Existenz des Theaterproduzenten ab. Seine Produktionspraxis ist durch die Gegensatzspannung zwischen diesem nomos und der Polyvalenz ästhetischer Orientierungen durchdrungen, zu der er sich immer in ein Verhältnis setzen muss. Im Rahmen der konkreten Produktionspraxis fächert sich diese Gegensatzspannung immer weiter auf und verdichtet sich zu einem komplexen Gefüge. Dies kommt dem höfischen Charakter der Wirklichkeitsorganisation am Theater durchaus entgegen. 53 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 114. 54 Im Gespräch mit mir am 24.2.2005. 148

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3.1.3 Simul et Singulis: Produktionspraxis Im Jahre 1680 beschloss Louis XIV. ganz im Sinne seines zentralistischen Großprojekts, die beiden ehemaligen Theatertruppen des verstorbenen Molière zusammenzuführen und unter königlichen Vertrag zu nehmen. Die Künstler waren wenig begeistert von der Order, doch sie hatten keine Wahl: Es hieß, entweder sie akzeptierten die Bindung an die Comédie-Française oder es gäbe keine Möglichkeit für sie, in Paris aufzutreten. Von nun an unterstanden sie dem König und seinem Hofstaat. Auf dem Eintrittsbillet der Comédie-Française von 1681 ist die Parole simul et singulis eingraviert. Das bedeutet soviel wie „Zusammen und jeder Einzigartig“. Sie rahmt das Bild eines brummenden Bienenhauses ein.55 In diesem alten Fundstück kristallisiert sich das Ethos einer künstlerischen Praxis, die sich nie von ihrem utilitaristischen Grundprinzip lösen konnte. Der Selbstzweck der Honigproduktion als Symbol für das Theater mag aus heutiger Sicht profan, vielleicht auch pittoresk erscheinen. Doch birgt das Bild, wie die meisten alten Symbole, einen wahrhaftigen Kern: Diese Form der Kunstproduktion, so wird sich der Betrachter gewahr, hat durchaus einen Nutzerfolg. Sie kann ihren utilitaristischen Charakter – die Unterhaltung und Erhaltung der eigenen Institution – einfach nicht leugnen, und daher bleibt ihr nur noch eins: Die Sublimierung des Zweckhaften. Sie liegt in der Sollgeltung weitgehender Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums im Rahmen des Kollektivs. Und schließlich: von dem Honig profitieren nicht nur das Publikum, sondern auch die Bienen selbst – sie bauen sich daraus ihr Haus. Eine blumigere Metapher dafür, was Bourdieu als „symbolisches Kapital“ bezeichnete, lässt sich für das Professionsethos im Theaterfeld kaum denken. Dieses Professionsethos ist untrennbar mit dem Tatbestand der institutionsgebundenen Kunstproduktion verbunden. Das Theater bildet damit einen Forschungsgegenstand, in dem der Zwang zur Koppelung raum-zeitlicher Stabilität mit dem grenzüberschreitenden Experiment herrscht. Wo der individuelle Gestaltungswille zum kollektiven Gestaltungszwang wird, ist der Kunstproduzent dazu aufgerufen, dem impliziten Antagonismus dieser beiden Pole eine Leerstelle abzutrotzen, die sein abweichendes Potenzial zu vergrößern vermag. Für den Soziologen bedeutet das, den institutionellen Charakter dieser Leerstelle zu bezeichnen. Damit komme ich zur Praxis der Theaterproduktion. Im Gegensatz zum Maler arbeitet der Regisseur mit einem tableau vivant, das von echten Menschen bevölkert und durch das Zusammen55 Vgl.: Broussky, Salomé: La Comédie Française, S. 13ff. 149

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spiel zwischen seiner Inszenierungs- und ihrer Schauspielkunst in eine Form gebracht wird. Simul et singulis ist oberstes Gebot. Die Darstellung des Ensembles ist nicht endgültig, denn sie lebt und daher ist ihre Stabilisierungsleistung in Hinblick auf die Ideen des Regisseurs nicht in der Endgültigkeit der Darstellung, sondern vielmehr in der Einigung zwischen Regie und Ensemble auf Text, Dramaturgie und szenischer Abfolge zu finden. Die gegenseitige Anreicherung ist ein Prozess der Gegenseitigkeit, nicht zwischen dem Produzenten und seinem Gegenstand, sondern zwischen Produzenten als Figuration – Regisseur, Bühnenbildner, Techniker und Ensemble – und den Zuschauern. Das Primat der Einzigartigkeit wird nicht am Werk als Objekt erfüllt, sondern an Form und Inhalt der Inszenierung, der Spannungsdichte und den schauspielerischen Leistungen, die jene Präzisierung der Emotionen verkörpern. Erika Fischer-Lichte bezieht die ästhetische und anthropologische Dimension der Inszenierung daher auf einen spezifischen Vorgang von Reziprozität: „Wenn man mit Plessner die conditio humana als Abständigkeit des Menschen von sich selbst begreift, als seine exzentrische Position, so erscheint die These plausibel, daß mit der conditio humana zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit von Inszenierung gesetzt ist: Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt, bzw. in den Augen eines Anderen reflektiert sieht.“56

Die Hauptarbeit des Regisseurs kann psychologisch zwar auch als Suche nach Stabilisierung seiner Empfindungen gedeutet werden, doch seine Produktionspraxis konzentriert sich konkret auf deren Verbalisierung und Vermittlung in die Körper der Schauspieler, deren Eigenheiten gleich Substraten die auf ihren Körper gesetzte neuen Gesten immer mit beeinflussen.57 Gleich einem gesellschaftlichen „Mikrokosmos“ kann gerade hier – im Gegensatz auch zu Lukács‘ holistischer Auffassung – keine Rede sein von einer absoluten, sondern nur von einer relativen Autonomie der Beteiligten. In dieser Steigerung der wechselseitigen 56 Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und Inszenierung, S. 20. 57 Der Substratbegriff ist der Soziolinguistik entlehnt, aus dem sich u.a. die Vielfältigkeit etwa der romanischen Sprachen in den einst von den Römern eroberten Gebieten erklärt. Die entsprechende Mundart unterlegte die Verkehrs- und Rechtssprache des Vulgärlateinischen mit einem je spezifischen, kulturell und geographisch bedingten ethnischen Stratum, das je nach Region entsprechend distinkte Sprechweisen, Morphologien und Grammatiken in der Romania erzeugt hat. Vgl.: Renzi, Lorenzo: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. Tübingen 1980. 150

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Vermittlung wird die Theaterproduktion zu einem reziproken Objektivierungsprozess. Auf der institutionellen Ebene führen die organisatorischen Rahmenbedingungen des Produktionsprozesses zu ihrer Habitualisierung im Sinne Gehlens und damit zur Entlastung des Produzenten.58 Die Entlastung besteht darin, dass dort, wo der bildende Künstler höchst komplizierte Wege beschreiten muss, um sein fertiges Werk einem Publikum zugänglich zu machen, der Regisseur an einer Bühne kraft der in dieser Institution verankerten Öffentlichkeitsmaschinerie von diesen Aufgaben freigehalten wird. Die institutionelle Gebundenheit erzeugt aber auch eine ausdifferenzierte Arbeitsteilung und eine entsprechend starke Hierarchisierung. Die Metapher des Hofstaates der Bienen scheint auch hier kein Zufall: Hierarchie und Interdependenz bilden die zentrale Grundstruktur, auf denen die Produktions- und Rezeptionsprozesse am Theater basieren. Die symbolische Auffüllung der Kunstproduktion kann jetzt mit anderen symbolischen Kapitalien und den mit ihnen verflochtenen Reflexionen angereichert werden. Die Projektion nicht-stabilisierter Gestaltungsformen in das tableau vivant eines Theaterensembles ist jedoch insofern nur eine bedingte Stabilisierung, als dass jede Aufführung zwar einem Rahmen folgt, doch sich immer von der vorherigen und der folgenden unterscheidet. Dies gilt für das postdramatische Theater umso mehr und erst recht, wenn man den Einwand Fischer-Lichtes berücksichtigt, dass die Aufführung immer ein gemeinsames Produkt von Spielern und Zuschauern ist.59 Doch gehe ich von der Inszenierung aus, die in einer Institution regelmäßig gespielt wird, so ist die Stabilisierung unzweifelhaft gegeben. Sie befindet sich innerhalb des „Theaterrahmens“, um einen Goffmanschen Begriff zu benutzen, allerdings immer im modus vivendi der in ihm interagierenden Gruppen Ensemble und Zuschauer. Dazu gehört auch der Verpflichtungsgehalt, der beide Gruppen dazu bringt, pünktlich zum Vorstellungsbeginn zu erscheinen, sich den Normen gemäß zu verhalten, ihre Rollen zu spielen – im Falle des Zuschau58 „Wir haben noch einen besonderen Grund, die Handlung in ihrer Einheit, also vom Antrieb oder Motiv über das Verhalten zum Gegenstand, als stabiles Element einzusetzen und dieses Ganze unter den Begriff der ‘verselbständigten Gewohnheiten’ zu fassen, nämlich den, daß gerade sie die Elemente der Institutionen sind, die sich als Beziehungsnetze solcher Gewohnheiten ebenfalls verselbständigen. Gerade hier liegt, wie sich zeigen wird, die Chance unmittelbar erlebbarer Freiheit, nämlich in dem Motivzuwachs, der Motivanreicherung und Sachanreicherung, die sich unter dieser Voraussetzung der ‚Entlastung durch Stabilität‘ erst herstellen.“ Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 30. 59 Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 240ff. 151

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ers die des „Mitwirkenden an der Nichtwirklichkeit“, wie Goffman ihn charakterisierte60. Die Selbstverständlichkeit des Theaterereignisses benötigt die Voraussetzung eines Rationalisierungsschubes, der den Handlungseffekt vor seine Motivation stellt.61 Auch dies ist ein Merkmal der Entlastung, die ohne die Fähigkeit des Ausblendens der Interdependenzen und der fundamentalen Abhängigkeit von den Bedingungen der Außenwelt – damit auch seiner sozialen Determinanden – nicht möglich wäre. So kann sich ganz dem „zweckfreien“, spielerischen Handeln gewidmet werden. Wird aber dieses Handeln im Selbstzweck überhöht, besteht die Gefahr der gesellschaftlichen Isolation, die Gehlen in der Subjektivierung sieht. So mag es fast scheinen, als ob der kommunale Charakter von (Theater-)Institutionen damit nicht nur das Prinzip des simul et singulis, sondern auch das der coincidentia oppositorum begünstigt, für das die offizielle staatssozialistische Kultur stand. Doch im Gegensatz zum Lukácschen Syntheseprinzip hören die Kunstproduzenten nicht auf, permanent gegen ihre Vereinnahmung und zugleich gegen die Gefahr der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit zu rebellieren. Kunstproduktion am Theater kommt deshalb nicht umhin, die multipolaren Spannungen der Gesamtfiguration innerhalb einer Bühne soweit aufrechtzuerhalten, dass ihr kreatives Potential entfaltet und ihre organisatorische Hintergrunderfüllung zugleich gewährleistet werden können. Die Domestizierung theatraler Arbeit in einem sozialen Raum stützt und beschränkt sie zugleich. Dies verweist auf eine strukturelle Parallele zum allgemeinen Kunstsystem in der DDR en miniature. Aus der systematischen Verbindung der drei Orientierungspunkte Anomie, Utopie und Institution wurde bereits deutlich, dass sich die systematische Leerstelle, die schöpferisches Handeln überhaupt ermöglicht, an der Grenze zwischen Anomie und Utopie befindet. Deren symbolische Manifestation wird nunmehr in der Theaterinstitution durch das Performative evident, d.h. durch performative, schöpferische Praktiken, die den gegebe60 Goffman, Erving: Rahmen-Analyse, S. 156. 61 Hier drängt sich ein Kommentar zu Mertons Anomie-Theorie auf, denn Merton sah ja eben in dieser Trennung das Signum von Anomie. Gerade an der Verbindung der Feldtheorie Bourdieus mit einem dynamischen Institutionenbegriff konnte jedoch gezeigt werden, dass sie eine immanente Logik marktwirtschaftlicher Gesellschaften darstellt, der die Kulturproduktion ihre besondere Stellung verdankt. Hier bemerkt Castoriadis kritisch zu Weber: „Es besteht ein Abstand zwischen dem tatsächlichen Handlungsverlauf und der jeweiligen ‚positiven Rationalität’ […] und es besteht ein weiterer Abstand zwischen dieser ‚positiven Rationalität’ und der Rationalität schlechthin dieses [gesellschaftlichen, T.B.] Institutionensystems.“ Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 210. Das Theaterereignis scheint in eben diese Abstände hinein zu intervenieren. 152

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nen Zustand fiktional überschreiten. Diese praktische Form der Modifikation des Möglichkeitsraumes beruhte in der Konsensdiktatur auf Bedürfnissen, die durch die Gegensatzspannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang hervorgetrieben wurden. Der sens pratique hatte sich dabei an zweierlei Varianten des gesellschaftlich Imaginären zu orientieren: an den offiziellen Sollgeltungen der zum Staat geronnenen Utopie, der Posthistoire, und den inoffiziellen, an der französischen Bohème orientierten utopistischen Abgrenzungsbestrebungen gegen den Konformismus und die classe normative – auch die sozialistische – sowie gegen ihre ästhetische und persönliche Einverleibung. Gerade hier gewinnen künstlerische Strategien der Fragmentierung einerseits und der Montage andererseits eine besondere Bedeutung, weil sie die Öffnung jener Leerstellen technisch und methodisch ermöglichen und in ihnen symbolische Grenzexistenzen unterzubringen erlaubt, die sich im Zweifelsfall auf beide Seiten schlagen können – auf die offizielle wie auf die inoffizielle Utopie. Wie ich zeigen werde, war das Montageprinzip aus diesem Grunde ein besonders beliebtes Mittel der institutionalisierten Kulturproduktion und insbesondere am Theater der späten DDR. Dabei kam das Prinzip des simul et singulis der staatssozialistischen Bedürfnisproduktion im Sinne eines kollektiven Imaginären durchaus entgegen. Die institutionellen Sollgeltungen scheint manchen Kunstproduzenten in der gegenwärtig scheinbar zunehmenden Auflösung der Grenzen von künstlerischen Subfeldern als Indiz dafür zu gelten, dass das Theater seine ästhetische Funktion immer mehr verliere, weil es sich qua Institution nicht genügend auf diese neuen Bedingungen einstellen kann. Doch das Theater ist ein symbolischer Raum, welcher der gegenwärtig immer weiter zunehmenden Ausdifferenzierung der Reflexionsbedürfnisse einen ritualisierten – und damit legitimierten – Standort gibt. In diesem Sinne repräsentieren die Theater-Institutionen spezifische kulturelle und soziale Bedürfnissynthesen.

3.1.4 Das Theater als Bedürfnissynthese Helmut Schelsky hatte in seiner Schrift „Zur Theorie der Institution“ Gehlens Postulat der „stabilisierten Spannung“ funktionstheoretisch erweitert. Es sind die Bedürfnisse nach symbolischer Wirklichkeitsorganisation, mittels derer grundlegende bedeutungskonstitutierende Konzeptualisierungsleistungen realisiert werden können. Schelsky bezeichnete Institutionen als „Bedürfnis- und das heißt auch Funktionssynthesen“62. Er postulierte ausgehend von der Kategorie der Bewusstseinsstrukturen 62 Schelsky, Helmut: „Zur soziologischen Theorie der Institution“, S. 19. 153

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damit eine weitere anthropologische Kategorie, die für die Stabilität von Institutionen wichtig ist. Es handelt sich um die Kategorie der Bewusstseinsansprüche, die das Bedürfnis nach Institutionen in der Gegenwart begründen. Dazu gehört insbesondere das Bedürfnis nach Selbstreflexion: „Als Bedürfnisse ‚letzten Grades‘, also höchster Aktualität und gegenwärtigster Dringlichkeit, wird eben jene reflexionskritische und analytische Bewußtheit der Subjektivität des modernen Individuums begriffen.“63 Spätestens hier wird deutlich, dass der substantialistisch grundierte Synthesecharakter der ästhetischen Philosophie Lukács keine Antwort auf die dergestalt dringlich gewordenen Fragestellungen der Spätmoderne mehr sein konnte. Dazu passt folgende Bemerkung von Castoriadis: „Drittens haben die Bedürfnisse, an denen allein ein Mangelzustand bemessen werden könnte, nichts Festes, sondern drücken selbst eine geschichtliche Stufe aus.“64 Es scheint zur Ironie der Geschichte selbst zu gehören, dass es gerade ein konservativer Soziologe wie Schelsky war, der das Reflexionsstreben in so hellsichtiger Weise erkannt und auf den Begriff der „Bedürfnissynthese“ gebracht hatte. Die innerhalb einer Bühne etablierte Bedürfnissynthese kann sich als praktische Wirklichkeitsorganisation nur dort stabilisieren, wo das Theaterereignis ein spezifisches Publikum ausbildet und in diesem Sinne „Erfolg“ hat. Die institutionelle Geltungsdauer der einzelnen Bühne hängt aus Sicht ihrer städtischen Geldgeber vor allem von der Stabilität ihres Publikums ab, das im Berliner Theaterfeld nicht nur den Aufführungen beiwohnt, sondern auf vielfältigste Weise an die Institution gebunden wird – im zeitgenössischen Theater geschieht das durch Lesungen, Konzerte, Tagungen, Workshops, Tanzveranstaltungen, künstlerische Performances usw. Dies verweist auf den triadischen Charakter der Theaterproduktion. Er besteht aus der Wechselbeziehung zwischen den feldtypischen Machtinstanzen (bestehend aus städtischen Geldgebern und den Theaterkritikern), den Produzenten und den Besuchern. Diese Triade konstituiert nicht nur die Aufführung selbst, sondern die gesamte Profilbildung der einzelnen Bühne. Hier ist die interdependente Struktur zwischen der Figuration des Publikums und der Figuration der Presse ebenso von Bedeutung wie die Dialektik der Differenzproduktion als Professionsethos, das für die Schärfung eines genuinen – einzigartigen – Profils sorgt und die so gefürchteten „Überschneidungen“ zu verhindern sucht.

63 Ebd., S. 21. 64 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 228. 154

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Wenngleich die Presse den Häusern ihre jeweiligen Profile zuschreibt, die von den potenziellen Besuchern, Fans, Geldgebern und Konkurrenten rezipiert werden, bedeutet das natürlich nicht, dass die Presse Erfolg oder Misserfolg – also den Publikumsgeschmack – tatsächlich widerspiegelt oder gar steuert. So stellt ein Journalist in einem Artikel der Berliner Morgenpost, der sich mit dem Berliner Theaterpublikum befasst, nüchtern fest: „Die jährlich etwa drei Millionen Berliner Theaterbesucher sind längst nicht so risikoscheu, wie sich das manche Kritiker wünschen, die ihre eigene Borniertheit hinter dem Popanz eines angeblichen Publikumsgeschmacks verstecken. Für die Zuschauer gilt eher, was ein kluger Intendant mal gesagt hat: ‚Wenn wir den Leuten das Theater zeigen, das sie sich angeblich wünschen, dann langweilen sie sich zu Tode.‘“65 Silvia Fehrmann, Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der Volksbühne, bestätigt dieses Bonmot: „Sowohl die Besucherbefragung als auch die Empirie zeigt, dass die Zuschauer sich nicht primär nach den Kritiken richten, sondern nach persönlichen Empfehlungen. Das hängt nicht von den Kritiken ab, sondern davon, wie die Peers in der eigenen Gruppe ein Stück beurteilen. Denn sonst würde man ja auch nicht erklären können, wieso das Berliner Ensemble, das zum Beispiel sehr schlecht wegkommt in der Kritik, publikumsmäßig so erfolgreich ist.“66

Jedes Haus, sofern es sich einigermaßen etabliert hat, kann mit einem Stammpublikum aufwarten, dessen Mundpropaganda – auch ein Relikt alter Zeiten – auch dann noch wirksam wird, wenn die Kritiken schlecht sind. „[Der echte Theaterbesucher] probiert gern mal was Neues aus, wenn sein vertrauter Partner, das Theater, ihn dazu überredet. Auch darin ähnelt das Verhältnis einer Liebesbeziehung. So wäre Thomas Kommer vielleicht niemals auf die Idee gekommen, sich Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Heiner Müllers Germania – Stücke im Deutschen Theater anzusehen, ‚wenn ich mich dem Haus nicht so verbunden fühlen würde.‘“67 Die Semantik der „Liebesbeziehung“ bestätigt die Beobachtung, dass das entsprechende Haus für das jeweilige Stammpublikum häufig so etwas wie eine soziale Heimat darstellt, was spezifische Formen sozialer Kohäsionen und Figurationen auszubilden scheint. Im Berliner Theaterfeld ist das empirisch leicht erkennbar. Es genügt, eine Woche lang jeden Abend eine Veranstaltung in einem anderen Haus zu besuchen, das jeweilige Publikum, das Verhalten, den Altersdurchschnitt, den Kleidungsstil etc. zu beobachten und ein paar Gespräche zu belau65 Heine, Matthias: Liebe in Reihe sieben. Berliner Morgenpost, 10.10.2004. 66 Gespräch mit ihr am 22.4.2005. 67 Heine, Matthias Ebd. 155

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schen.68 Fast immer ist eine gewisse familiäre Stimmung zu spüren, man kennt sich und das Ensemble häufig schon sehr lange und ein Geist des sensus communis beherrscht die Räumlichkeiten. Je ausdifferenzierter sowohl Programmangebot als auch die spezifische Ästhetik des Hauses, desto größer, so vermute ich, ist die Wahrscheinlichkeit auf die Bildung von stabilen Figurationen, die sich in den und um die jeweiligen Bühnen bilden. Hans-Thies Lehmann erläutert in diesem Kontext den Begriff der „sozio-symbolischen Praxis“: „Kunst und wie sehr erst Theater, das vielfältig in Gesellschaft eingelassen ist, – vom geselligen Charakter der Produktion über die öffentliche Finanzierung bis zur gemeinschaftlichen Rezeptionsweise –, steht im Feld realer soziosymbolischer Praxis. Bleibt die geläufige Reduktion des Ästhetischen auf gesellschaftliche Positionen und Aussagen leer, so ist umgekehrt jede theaterästhetische Fagestellung blind, die in der künstlerischen Praxis nicht die Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensnormen erkennt.“69

Der Gedanke der ästhetischen Reflexion von Verhaltensnormen erinnert an das Goffmansche Postulat der Verwirklichung kultureller Normen, die möglicherweise eher im Reiche der Erfindung als in der Wirklichkeit aufzufinden seien.70 Als Reflexion ist sie aber auch sozio-symbolische Praxis in Hinblick auf die Bildung von Bedürfnissynthesen. Je nach Bühne und Profil unterliegt die Kohäsion zwischen Bühnenangebot und Peer-Group spezifischen kulturellen Figurationen, die ihrerseits bestimmte Praxisformen legitimieren. Die Stabilität dieser Figurationen bürgt zugleich für die dauerhafte finanzielle Absicherung des einzelnen Hauses. Durch die Größe und die Zusammensetzung des Publikums und durch das Presseecho wird die „öffentliche Bedeutung“ des Hauses zu einem „Ruf“ aufgebaut, der zu einem symbolischen Kapital wird, das im Erfolgsfall die jeweilige Institution mit einer bestimmten Aura der Attraktivität ausstattet. Karl-Siegbert Rehberg begründet aus der Mischung 68 Das mag ungehörig scheinen, doch ein Soziologe muss immer auch ein bißchen Spion sein, will er möglichst ungefilterte Informationen von seiner wichtigsten Quelle, den Menschen, erhalten. Man muss vielleicht nicht so weit gehen wie Bourdieu, über den es die immer wieder gern erzählte Anekdote gibt, dass er als junger Soziologe nichts mehr liebte, als Unterhaltungen in der Pariser Metro zu belauschen, sich im Stillen zu überlegen, ob seine Lebensstilanalysen auf die Personen zutreffen (Themen, Habitus, Kleidung, Wohngegend) und diesen Personen dann häufig weit bis zu ihren Häusern folgte, um herauszufinden, ob seine Analyse zutrifft. Sein Kollege Patric Champagne berichtet, dass Bourdieu stolz berichtete, dass dies fast immer der Fall war. 69 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 16. 70 Vgl. Goffmann, Erving: Rahmen-Analyse, S. 604. 156

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von Symbolizität und verstetigter Spannung die spezifische Wirkmächtigkeit von Institutionen. Darin ist nach Rehberg „die These leitend, daß auch im Zeitalter der Dezentralisierungen und Virtualisierungen und in einer medial vermittelten ‚Institutionen‘-Welt auratische Beziehungen noch funktionsbedeutsam sind [...], weil Institutionen nicht bloß Reste von vormodernen Ordnungsstrukturen aus einer ‚stratifizierten‘ Welt sind [...].“71 Die Konkurrenz mit den Massenmedien, die eine Pluralisierung der Rezeptionsmöglichkeiten erzeugt hat, trug nicht unerheblich dazu bei, dass die Selbstbezüglichkeit der Künste und ihre gattungsspezifische Auffächerung im Laufe des 20. Jahrhunderts angestiegen sind. Die Künste werden zu einem medialen Sonderfall und müssen ihre gesellschaftliche Verortung neu definieren. Lehmann erläutert dies am Beispiel des zeitgenössischen Theaters. Er bezeichnet die Selbstreflexivität als zentrales Paradigma des postdramatischen Theaters: „Unter dem Eindruck neuer Medien werden die älteren selbstreflexiv. [...] Auch wenn diese Veränderung nur in einer ersten Phase der Reaktion alles andere überstrahlt, so bleibt von da an das Selbstreflexive eine dauernde Potenzialität und Notwendigkeit, das durch das Nebeneinander und den Wettbewerb (Paragone) der Künste erzwungen wird.“72 In der sich damit verstetigenden Praxisorientierung konstituiert sich zugleich das künstlerische Professionsethos der Moderne, das sich in der unbedingten Sachhingabe ausdrückt. In diesem Sinne ist die theatrale Institution ein symbolisches Kompendium derartig gesellschaftlich hervorgebrachter Bedürfnisansprüche. Innerhalb des Theaterfeldes schlagen sich diese Bedürfnisansprüche in dreifacher Weise als inter-subjektive Praxis nieder: auf der Ebene der Inszenierung, auf der Ebene der Aufführung und schließlich in der feldspezifischen Gegensatzspannung zwischen ästhetischer Polyvalenz und funktionalem nomos, die ich im letzten Abschnitt beschrieben habe. Diese Gegensatzspannung ist ein politisch-systemische und eine strukturelle zugleich und sie kondensiert sich fast gleichermaßen in den Theaterinstitutionen in Ost und West. Das anthropologische Bedürfnis nach Reziprozität verwandelt sich auf den genannten drei Ebenen in eine inter-subjektive professionelle Sollgeltung. Dies ist im vereinten Berliner Theaterfeld ein umso komplexerer Vorgang, als der Glaubenssatz des künstlerischen Fortschritts durch die ästhetische Polyvalenz seines gleichwohl zentralistisch gelenkten staatlichen Auftrags geprägt ist. Im Theaterfeld existieren – wie in allen Kunstfeldern – parallele Repräsen71 Rehberg, Karl-Siegbert: „Weltrepräsentanz und Verkörperung,“ S. 34. 72 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 82. 157

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tationsmuster, deren Gleichzeitigkeit eine Normierbarkeit gerade auszuschließen scheint. Das wirkt sich auf die Bildung der Profile der einzelnen Bühnen und auf die Praxisorientierungen der Produzenten aus. Diese Orientierungen sind zugleich im hohen Maße interdependent; sie sind immer relativ positioniert durch ihre Nähe und Ferne zu den jeweils anderen Feldpositionen und befinden sich in stetiger Bewegung. „Stabilisierte Spannung“ bedeutet im Theaterfeld also: Gleichzeitigkeit eines hohen Grades von Reziprozität und eines ebenso hohen Grades von Differenzierung. Damit ist im Theaterfeld selbst schon eine strukturelle Vereinigung der beiden wichtigsten Prinzipien von Kunstproduktion in Ost und West angelegt: die Abweichung und die Aushandlung. Für die Praktiken der Aushandlung ist der reziproke Charakter des sozialen Kapitals, also des Beziehungsnetzes innerhalb der Figuration der Theaterproduzenten von entscheidender Bedeutung. Die transitorischen Produktionsbedingungen und die zeitlich begrenzten Produktionszusammenhänge führen im Theaterfeld dazu, dass das Beziehungsnetz sehr empfindlich ist. Auch der künstlerische Leiter einer etablierten Bühne hat einen Zeitvertrag und muss bei Misserfolg mit seiner Absetzung rechnen. Die französische Soziologin Nathalie Heinich betont in ihren kunstsoziologischen Untersuchungen die Fragilität der Interdependenzen innerhalb des Feldes der Kunstproduktion, nach dem auch ein relativ anerkannter Künstler seine Einsätze stets mit Bedacht zu wählen hat, da die erreichte Anerkennung sich bei einem eklatanten Misserfolg rasch wieder in ihren Verlust verwandeln kann. Je weiter die Akteure und Figurationen von den anerkannten und einkommenskonstanten Positionen entfernt sind, desto wichtiger und zugleich angreifbarer wird auch ihr soziales und symbolisches Kapital. Das interdependente Geflecht, innerhalb dessen sich der Kunstproduzent bewegt, ist deshalb immer in Bewegung. Die damit einhergehenden raschen Wechsel von ästhetischen Orientierungen bezeichnen die mehrdimensionale Seite der Produktionsbedingungen, die Heinich in ihren kunstsoziologischen Arbeiten unterstreicht: „So wird diese andere Eigenschaft der Kunst zu einer soziologischen Fragestellung: Die Erklärung der Pluralität von Werteschemata, die nicht nur innerhalb einer einzigen Gesellschaft, sondern bei den Akteuren selbst gleichermaßen existieren.“73 Und sie erläutert weiter: „[…] [U]nd zwar so, dass das, was für die einen legitim ist – Verteidiger einer zeitgenössischen Kunst, die die Avantgarde re-inkarniert – nicht für die anderen ist – Verächter einer Kunst, die als Synonym für Snobismus und der Nach-

73 Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S. 42. Ü.v.m. 158

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ahmerei gilt – während zugleich diejenigen, deren berufliche oder institutionelle Macht ihnen eine einflussreiche Position verleiht, von denen, die sie beherrschen, verachtet werden. Das ist die seltsame Lage, die dem ‚différend‘ – dem ‚Widerstreit‘ im Sinne Jean François Lyotards – eigen ist, die nicht nur die Meinungen auseinandertreten lässt, sondern auch die Weise, wie die Problemstellungen formuliert werden, so dass sich auch die Hierarchie umkehrt, sobald man von einem in das andere Lager wechselt.“74

Die Kämpfe innerhalb des Theaterfeldes bilden sich an den scharfen Auseinandersetzungen ab, die sich in der Presse niederschlagen. Die Ordnungsprinzipien, von denen Rehberg spricht, drücken sich im Theaterfeld durch die hohe Zahl der unterschiedlichsten Bühnen aus, von denen ausgehend permanent neue Angebote zur Befriedung und Erweiterung der ausdifferenzierten Kulturbedürfnisse gemacht werden. Die Breite des Theaterangebots in Berlin entspricht der Vielschichtigkeit sozialer und künstlerischer Figurationen, deren je eigene Bewusstseinsansprüche sich in den unterschiedlichen Profilen der Häuser einerseits wiederfinden, andererseits eingeklagt werden. Dabei tritt eine generationenbedingte permanente symbolische Revolution gegen etablierte Produktionsprinzipien auf den Plan, deren utopistischen Mobilisierungsressourcen und grenzüberschreitenden Formgebungen für die Aufrechterhaltung der Felddynamik sorgen.75 Daran orientieren sich die Anerkennungsleistungen und Objektivierungsprozesse innerhalb des Feldes, die sich in der Verknüpfung von Abweichung und Aushandlung ausdrücken. 74 Ebd., S. 44. Ü.v.m. Zum Begriff des Widerstreits bei Lyotard nach Kant schreibt Lyotard in „Der Widerstreit“ (dt. 1987): „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Widerstreit ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. […] Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu […]. Ein Unrecht resultiert daraus, dass die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursarten abweichen.“ Zitiert nach Münkler, Stefan/Roesler, Alexander: Poststrukturalismus. Stuttgart: J.B. Metzler 2000, S. 63. 75 Dies wird etwa deutlich im Werdegang zunächst freischaffender Produzenten, die nur zum Teil in städtisch subventionierten Häusern und unter relativ großem finanziellen Risiko arbeiten, indem sie außerästhetische Formen mit traditionellen Methoden verschalten und damit jene unter Zugzwang setzen, die inzwischen als „traditionell“ gelten – dies gilt im Übrigen, zumindest in Berlin, sowohl für das Tanz- als auch für das Sprechtheater und erklärt die hohe Bedeutung einer nicht-städtischen, aber sehr jungen und innovativen Bühne wie den Sophiensaelen in BerlinMitte, die als eine Impulsgeberin der permanenten Revolution gilt. 159

INSTITUTION UND UTOPIE

All dies spricht dafür, dass sich das Theaterfeld besonders gut für eine Analyse der strukturellen Funktionsprinzipien eignet, die in den jeweiligen politischen Systemen in Ost und West für spezifische Techniken von symbolischer Wirklichkeitsorganisation geltend gemacht werden können. Die Differenzen sind ebenso offensichtlich wie die Gemeinsamkeiten – schon die Formel des simul et singulis drückt die gleichberechtigte Notwendigkeit einer auf Einzigartigkeit und Interdependenz ausgerichteten Kunstproduktion aus, die zwar nicht gleichermaßen ästhetische Polyvalenz forderte, doch deren Nutzerfolg gleichwohl durch eine staatlich-zentralistische Struktur gelenkt war und ist. Die Tatsache der „kulturellen Anomie“ bot in der DDR in den Jahren vor der Wende die Voraussetzung, jene ästhetische Polyvalenz durch eine Wirklichkeitsorganisation einzuholen, die auf der Basis einer handlungsorientierenden Parallelstruktur zum nomos Praktiken der Abweichung und damit eine relative Autonomie der Produzenten verwirklichte. Diese strukturelle Annäherung an das westliche Professionsethos der Differenzproduktion blieb gleichwohl innerhalb der institutionellen Geltungen des Realsozialismus ein stetiger Reibungspunkt. Abweichung fand nicht in Abgrenzung vom politischen Feld statt, sondern im Rahmen komplexer Aushandlungsprozesse in ihm. Darin liegt die besondere Eigenschaft der Bedürfnisproduktion staatssozialistischer Provenienz. Mit ihr war die strukturelle Voraussetzung für eine erfolgreiche Positionierung im vereinigten Theaterfeld gerade solcher Kunstproduzenten gegeben, die sich auf jene institutionell und politisch gebundenen Techniken der Abweichung spezialisiert hatten. Seit der Wende ist Frank Castorf, Spielleiter der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der einzige Intendant Berlins, der eine DDRBiographie hat. Die Westberliner hingegen mussten nach 1990 die geographische Verschiebung der bedeutenden Theaterstandorte vom Kurfürstendamm in die Mitte der Stadt hinnehmen. Die Virulenz dieses Tatbestandes wird in einem Kommentar von Robin Detje aus dem Jahr 2004 anläßlich einer öffentlichen Diskussion mit dem Berliner Kultursenator deutlich: „Nicht zufällig kam aus dem Publikum das Wort Schiller-Theater ins Spiel. Die Schließung des Schiller-Theaters am 22. Juni 1993, das ist die Dolchstoßlegende des alten Westberlin. [...] Sind die Westberliner nicht die eigentlichen Verlierer der Wende? Manche sehen es so.“76

76 Detje, Robin: Ganz klare Ansage. Süddeutsche Zeitung, 22.11.04. 160

4. D I E V O L K S B Ü H N E

4.1

AL S S T AB I L I S I E R T E

LEITIDEE

Au f t r a g z u r p e r f o r m a t i ve n Differenzproduktion

Friedrich Dieckmann schreibt 1990 zur Debatte über das Ende der Utopie: „Die Neigung, ein neues Land Utopia mit der Seele zu suchen, um es in Wirklichkeit wieder zu verfehlen, genauer: um die Wirklichkeit wieder zu verfehlen, ist um so größer, als die wirkliche Aufgabe eine ganz andere ist: es gilt, dem Utopia standzuhalten, in dem wir mitteninne sind.“1 Aus dieser Perspektive scheint es einleuchtend, dass eine sehr eigentümliche, utopistisch grundierte symbolische Welterzeugung gerade in einem Ostberliner Stadttheater auf Dauer gestellt werden konnte. Denn es waren vor allem die ehemaligen Protagonisten der staatssozialistischen künstlerischen Einrichtungen, die die Grenzen ihres Kulturrahmens längst ausgelotet hatten. Theoretisch waren sie von allen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung am besten auf die Wende vorbereitet. Ihre symbolischen Grenzgänge schufen eine wichtige Grundlage für die politische Opposition, die erst dem realen Sozialismus seine eigenen Ideale vorhalten konnte. Sie hatten längst mit dem symbolischen „Umpflügen“ der Feldmorphologie eines „Kunststaates“ begonnen, in dem das „Inoffizielle“ zunehmend in den Geltungsbereich des „Offiziellen“ diffundiert war und Letzterem so seine Daseinsberechtigung entzogen hatte. Doch der Schritt in die Politik selbst erfolgte spät – zu spät, wie sich zeigen sollte. „Bekannt geworden ist die Erklärung des Ensembles vom Staatsschauspiel Dresden, verlesen nach jeder Vorstellung im Oktober 1989 1

Dieckmann, Friedrich: In der Utopie bestehen. In ders.: Vom Einbringen, S. 73ff. 161

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und zum Anlass genommen für Diskussionen im Foyer: ‚Wir treten aus unseren Rollen heraus. Die Situation in unserem Land zwingt uns dazu.‘2 Als die Erosion des maroden Staatsgefüges unübersehbar wurde, bekannten sich die etablierten Künstler zu ihrer ‚Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.‘“3 Ralph Hammerthaler sieht in diesem Dokument und in dem Aufruf „Für unser Land“, der von namhaften Intellektuellen der DDR unterzeichnet wurde, retrospektive Zeugnisse für die eklatanten Unterschiede, die das Gros der Kulturproduzenten von der breiten Bevölkerung trennte. Forderten Erstere mehr Demokratie innerhalb des Staatssozialismus, sehnten sich Zweitere nach seiner Abschaffung; auch wenn diese dann andere Konsequenzen zeitigen sollte, als man im Überschwang des Mauerfalls erahnen konnte. Das Theaterfeld der DDR war maßgeblich an der Organisation der Demonstration vom 4. November 1989 in Ostberlin beteiligt, die, wenn auch ungewollt, den Niedergang der DDR offiziell einläuten sollte. Dieckmann beschreibt dieses Ereignis bei einem Stadtrundgang über den Alexanderplatz: „Es begab sich am 4. November eine gigantische Demonstration zugunsten der Verfassungsrechte, zum Einklagen von Verfassungsrechten, die in der Verfassung der DDR standen, die aber faktisch von Anfang an suspendiert waren. Also Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit. Diese Versammlung war polizeilich genehmigt worden, offenbar von den Behörden in der stillen Hoffnung, dass die nach Honeckers Rücktritt neu gebildete Führung der SED sich hier profilieren könne. Sie hatten sie genehmigt und dann bemerkten sie, dass die Zahl derer, die kommen würden, jedes Maß überstiege. Und es waren dann tatsächlich eine Million Menschen auf diesem Platz. Es war eine grandiose politische Veranstaltung, die mit größter Disziplin vonstatten ging, auch mit einem Witz und einem Humor geladen. Die Spruchbänder, die Transparente waren wirklich mit einem Siegesbewusstsein derer durchdrungen, die da erschienen waren. Das war das größte politische Erlebnis meines Lebens, muss ich sagen. Es war organisiert von der Bürgerbewegung, die sehr vielseitig zusammengesetzt war – ein großer Anteil von Künstlern und von Schauspielern [...]. Es war die Voraussetzung für den 9. November. Die Erschütterung der SED-Führung, die sich schon umgebildet hatte, durch dieses Volksvotum saß so tief, dass dann diese Verwirrung eintrat, die zur jähen Grenzöffnung führte.“4 2 3 4

DDR-Journal 1989, S. 45. Zitiert nach Hammerthaler, Ralph: Die Position des Theaters in der DDR, S. 155. Ebd. Tonbandaufzeichnung der Tour mit Friedrich Dieckmann: „Von der feudalistischen zur sozialistischen Moderne“ am 14.09.04 während der „Mo-

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Der – von dem Arbeiteraufstand 1953 abgesehen – erstmalig massenhaft politisch formulierte Einspruch war hier noch von der Hoffnung getragen, dass dieses Votum innerhalb des Staatssystems der DDR durchzusetzen sei. Die Bewegung der Kulturproduzenten appellierte – ganz im Sinne der „Kritik durch Affirmation“ – an die Leitideen der staatlichen Institutionen, ohne sie abschaffen zu wollen. Der von Dieckmann beschriebene Optimismus vom 4. November 1989 wich jedoch bald der Resignation gegenüber den Folgen, die er verursacht hatte. Für manche Kulturproduzenten wurde die Wende eine traurige Revolution, die mit Karl Marx‘ Worten zum „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ in das Paris des 19. Jahrhunderts versetzt schien: „Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist, so ist es dieser. Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, als Schatten, denen ihr Körper abhanden gekommen ist. Die Revolution selbst paralysiert ihre eigenen Träger und stattet nur ihre Gegner mit leidenschaftlicher Gewaltsamkeit aus.“5 Wenn sich auch die Gewaltsamkeit derjenigen, die das Ende der DDR herbeiführten, in Grenzen hielt, waren die Impulsgeber der Wende alsbald mit der symbolischen Gewalt der Entwertung einer ganzen Staatsgeschichte konfrontiert, deren Zeichensystem sie selbst einst geprägt hatten. In diesem politischen Klima löste sich die realsozialistische Figuration der Künstler und Theaterproduzenten auf. Ihre längst überfällige Intervention in das politische Feld leitete das Ende ihrer zentralen gesellschaftlichen Bedeutung ein. Das deutlichste Signum ihrer Autonomie – das Wörtlichnehmen ihrer politischen Verantwortung als Kulturproduzenten – konnte innerhalb des erstarrten Systems nur noch als Delegitimierung seiner eigenen Leitideen wahrgenommen werden – eine plötzliche Flexibilisierung hin zu den Prinzipien der Abgrenzung unter der Bedingung von Kooperation schien unmöglich. Zu weit klafften Repräsentationsmuster und Wirklichkeitsorganisation auseinander, zu sehr war das „Inoffizielle“ schon zur allgemeinen Handlungsorientierung geworden. Die politische Autonomie der Künstler war innerhalb des „Kunststaates“ DDR nicht vorgesehen. Dies ist eine logische, vielleicht tragische, in jedem Fall aber auch paradoxe Konsequenz, von Terry Eagleton mit der Frage kommentiert: „Bedeutete der Fall der Berliner Mauer, dass Georg Lukács‘ Bemerkungen über Balzac nun wertlos waren?“6 Für die Herausforderungen, denen sich Ostberlin in der Transformation vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft zu stellen hatte, würde sich

5 6

bilen Akademie: Fakelore – Konstruktionen und Erfindungen urbaner Folklore/ Touren, Wege, Führungen.“ Marx, Karl: „Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, S. 136. Eagleton, Terry: „Marxismus und Kultur. Eine Einführung“, S. 4. 163

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innerhalb des vereinigten Theaterfeldes nur bedingt ein Kunstbegriff behaupten können, der sich weiterhin am Lukácschen Paradigma der coincidentia oppositorum und der Synthese orientierte. Wenn die ostdeutschen Künstler die Wende mental und ästhetisch überleben wollten, dann nur mit Hilfe einer Wirklichkeitsorganisation, die ihnen eine relative Autonomie gegenüber den Wirkmechanismen des nunmehr vereinten Feldes der Kunstproduktion ermöglichte; ein Feld, das fortan durch das westliche Professionsethos bestimmt sein würde. Angesichts der raschen Abwicklung der DDR unter der Vormachtstellung der alten Bundesrepublik befanden sich die ostdeutschen Künstler in einer Situation des Umbruchs, die historisch einmalig war. Der einst siegreiche Utopismus erlebte seine zweite „Ankunft im Alltag“. Es war die Ankunft in der Gegenwart einer sozialen Marktwirtschaft und einer Kultur, deren radikale Fremdheit erst nach und nach offenbar wurde. Mit der Ernüchterung, die nach der Vereinigungseuphorie einsetzte, blieb das Gespenst des Kommunismus als kommunikatives Rätsel zurück – als „Mauer in den Köpfen“. In dieser Metapher der wechselseitigen Verständnislosigkeit zwischen Ost und West wird zugleich die Spaltung zwischen der sozialen Struktur und der kulturellen Struktur offenkundig, die die Wende hervorgebracht hatte. Für die ostdeutschen Bürger markierte diese gesellschaftliche Gesamtsituation einen tiefen biographischen Bruch. Die Grenze war weg und damit schien plötzlich auch der über viele Jahrzehnte inkorporierte sens pratique obsolet, der innerhalb des staatssozialistischen Kulturrahmens gegolten hatte. Hinzu kam die allgegenwärtig spürbare Siegermentalität des Westens. Lepenies kommentierte die Stimmung dieser Zeit: „Die Folgenlosigkeit der Vereinigung beider Staaten ist im Bereich der Politik schmerzlich spürbar. Die politische Klasse der alten Bundesrepublik hat, mit wenigen Ausnahmen, aus der Vereinigung und ihren Folgen ein Festival der Selbstbestätigung gemacht.“7 Die mentalen Folgen, die daraus für die ehemalige Bevölkerung der DDR erwachsen sollten, waren kaum abzusehen. Denn der Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems ging mit der Tatsache einher, dass die in ihm erlernten Handlungsorientierungen in den Menschen selbst fortexistierten. Sein Ende führte für die ostdeutsche Bevölkerung einerseits in die Befreiung von einem System, das sie politisch entmündigt und ihnen wenig Chancen zur Verwirklichung ihres Rechts auf Selbstbestimmung gelassen hatte. Zum anderen ging die Abwicklung der Kultur dieses Landes so brutal vonstatten, dass kaum Zeit blieb, ihre auch erhaltenswerten Errungenschaften auf ihre Tauglichkeit zur 7

Lepenies, Wolf: Folgen einer unerhörten Begebenheit, S. 31.

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Demokratisierung zu testen. So glich die Vereinigung eher einem Anschluss. Schließlich – und darin besteht der deutlichste Unterschied und zugleich der tiefste Riß in der kulturellen Mentalität zwischen Ost- und Westdeutschland – beruhte die DDR auf einer engen Verzahnung zwischen Berufswelt und kulturellen Einrichtungen. Bei allen Vorzügen, die die Vereinigung zweifellos mit sich brachte, waren viele ostdeutsche Bürger plötzlich und unvorbereitet in einer gesellschaftliche Lage, die mit Durkheim als „progressive Anomie“ bezeichnet werden kann. Leider wandelte sich diese in bestimmten Teilen Ostdeutschlands um in eine „regressive Anomie“. Noch nie waren in der Geschichte des Okzidents soziale Struktur und kulturelle Struktur so weit voneinander entkoppelt wie im Ostdeutschland der Nach-Wende-Zeit. In der DDR war die Kultur Teil des Sozialwesens und der hochgelobten Arbeitswelt; als das Sozialwesen mit dem Ende des Staatssozialismus einbrach und das unbekannte Wesen Arbeitslosigkeit zum schockierenden Massenphänomen wurde, wurde offenkundig, dass auch die sozial verankerte Massenkultur nichts mehr zu lachen haben würde. Betriebseigene kulturelle Einrichtungen verschwanden über Nacht und wurden nicht ersetzt. Sozialstruktur und Kultur, zuvor immer eine fast monolithische Einheit bildend, brachen auseinander und verstanden ihre Sprachen und damit sich selbst nicht mehr. Die durch die DDR geprägte Wirklichkeitsorganisation war nun durch eine marktwirtschaftliche Lebensführung gerahmt, deren Repräsentationsmuster neu erlernt werden mussten. Die kulturelle Anomie, die zuvor noch durch die Prinzipien des Realsozialismus gerahmt und partiell utopistische Züge trug, trat nun in ein Vakuum der Desillusion. Auch viele inoffizielle Parallelstrukturen fielen auseinander, denn ihre Wirkmächtigkeit hatte den notwendigen Reibungspunkt verloren. Die erlernten Praktiken der Abweichung schienen über Nacht obsolet. Das führte für viele ostdeutsche Bürger zu tiefgreifenden Desorientierungen, die rasch in oppositionelle Haltungen mündeten. Zu ihren traurigsten Höhepunkten gehörten die pogromartigen Ausschreitungen gegen Asylsuchende in Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992). In diesem Sinne war die Zeit nach der Wende eine Krisenzeit – und damit eine Phase, in der die Politik besonders bevorzugt nach kultureller Kompensation greift. Auf die politische Vereinigung, die der neuen alten Hauptstadt Berlin das Gesicht des neuen Deutschlands aufprägen sollte, folgt nunmehr auch die Vereinigung der kulturellen Institutionen. Doch die Stadt ist am Rande ihrer wirtschaftlichen Kapazitäten. Die angespannte Lage ist Ausdruck der sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West. Die wirtschaftlichen Probleme schaffen die Basis für wechselseitige Ressenti165

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ments, die die „Mauer in den Köpfen“ auf Dauer zu festigen droht. In diesem gesellschaftlichen Klima wird die institutionelle und rasche Zusammenführung der kulturellen Einrichtungen zu einer besonders dringlichen Aufgabe. Dies gilt umso mehr, als sich das vereinigte Deutschland auf dem internationalen Parkett alsbald zu bewähren hat, wie folgende Passage aus dem Einigungsvertrag von 1990 zeigt: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklungen der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.“8

1991 gibt die Stadt Berlin ein Gutachten über die Situation der Berliner Theater in Auftrag. Die Bedeutung der Kultur für die Vereinigung und für die Stellung Deutschlands in Europa sollte aus Sicht der Berliner Kulturpolitiker durch eine Fusion der ehemals getrennten Theatersysteme unterstrichen werden. Zweifellos sollte die ostdeutsche Kulturproduktion ebenso den westdeutschen Organisationen einverleibt werden, wie dies auch innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Strukturen geschehen war. Doch man ist sich schnell darüber im Klaren, dass die Künste in der DDR aufgrund ihres herausragenden Status einen Bereich darstellen, dessen spezifische Kompetenz genutzt werden kann und muss. Die Grenzauflösung und der Einbruch der DDR-Kultur in den Westen treiben die kulturelle Dynamik der Stadt an und stellen sie vor neue Herausforderungen. Aus Westberliner Perspektive kommt ein solcher Innovationsschub gerade recht. Das „Gutachten zur Situation der Berliner Theater“, das von den Theaterexperten Friedrich Dieckmann, Michael Merschmeier, Ivan Nagel und Henning Rischbieter im April 1991 vorgelegt wird, soll organisatorische und inhaltliche Anregungen zur Vereinigung der Theaterfelder Ost- und Westberlins geben. Dieckmann ist der einzige Gutachter mit DDR-Biographie. Die Stellungnahmen der Gruppe zur Finanzierung der insgesamt 20 staatlich subventionierten Häuser orientieren sich er8

Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung. Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.08.1990. Bonn: 1990, Artikel 35/1. Zitiert nach: Guckeisen, Anne: Wieder vereint und doch getrennt – Hauptstadttheater nach der Wende. Eine Untersuchung der Profilentwicklung Berliner Sprechtheater zwischen 1989 und 2000, S. 16.

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wartungsgemäß an der Frage der ästhetischen Polyvalenz, den jeweiligen Profilschärfen der Bühnen, der Gefahr von Profilüberschneidungen, der Förderung der Vielfalt und des Neuen. Die Gutachter erläutern ihre Orientierungslinien: „Im Schauspiel entspringen Profilunterschiede nicht den Titeln im Spielplan, nicht der Vorliebe fürs Komische oder Tragische – sondern dem Zusammenspiel schwer definierbarer Elemente: den Grundhaltungen und -fähigkeiten (manchmal: dem Generationsflair) des Ensembles, der politischen Neugier oder Verzagtheit seiner Regisseure, der Bildungswürde oder Aggression ihrer Ästhetik usw. Kurz: Wenn zwei Schauspieltruppen gut sind, werden sie sich unübersehbar voneinander unterscheiden. Aber diesen Unterschied kann auch die strengste kulturpolitische Regulierung nicht ertrotzen.“9

Man appelliert an das westliche Professionsethos der künstlerischen Autonomie und des Pluralismus, deren Gültigkeit in das vereinte Theaterfeld überführt wird. Innerhalb dieses eindeutig marktwirtschaftlich dominierten Rahmens erscheinen bestimmte Produktionsformen des einst eher stiefmütterlich belächelten „grauen Ostens“ plötzlich attraktiv. Der Auftrag zur performativen Differenzproduktion wird nirgendwo so offensichtlich erteilt wie in dem Kommentar zur Frage der Zukunft der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ivan Nagel formuliert diesen Auftrag mit den Worten: „Das Gebäude ist von schlagender Häßlichkeit. [...] Wir schlagen vor, daß das Land Berlin die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einer jungen Truppe, vermutlich mit Ex-DDR-Kern, gibt: einer Truppe, die ihr Theater machen will. Die sozialen, kulturellen Schocks und Wirrnisse unserer Lage könnten sich gerade in Berlin umsetzen: in einen neuen, erhellenden und verstörenden Blick des Theaters. Die Truppe der Volksbühne Ost würde ungefähr so viel Geld brauchen wie die Volksbühne West zuletzt bekam, vielleicht weniger im ersten und zweiten Jahr. Bis zum Beginn des dritten Jahres könnte sie entweder berühmt oder tot sein; in beiden Fällen wäre die weitere Subventionierung unproblematisch.“10

„Entweder berühmt oder tot“ – ein treffenderes Bonmot für den Einstieg in das gesamtdeutsche Theaterfeld konnte der Truppe der Volksbühne „Ost“ nicht mit auf den Weg gegeben werden. Die Aufgabe ist klar umrissen. Die durch die zwei deutschen Geschichten geprägte neue alte Hauptstadt sollte ein Theater bekommen, das die Handschrift des Ostens 9

Nagel, Ivan: Gutachten zur Situation der Berliner Theater. Berlin 1991, S. 11. 10 Nagel, Ivan: Gutachten zur Situation der Berliner Theater, S. 15ff. 167

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trägt. Doch man wünscht kein zweites Berliner Ensemble. Es sind die „angepassten und die jungen Autonomen“11 des Ostens, von denen man sich einen speziellen Blick auf die sich beständig umwälzende Stadt erhofft, und im Ruf nach dem Verstörenden hallt schon der Auftrag zur Provokation mit. Die „junge Truppe mit Ex-DDR-Kern“ soll in dem „Gebäude von schlagender Häßlichkeit“ „ihr Theater machen“; das heißt ein Theater, dessen Ursprung durch die Grenze bestimmt war und durch das, was hinter dieser Grenze als Wirklichkeitsorganisation mit und gegen die sozialistische Auftragskunst in die ästhetische Praxis eingegangen war. „[I]hr Theater machen“ bedeutet also nichts anderes als eine klare Grenzziehung, die nun im pluralistischen Gewand der künstlerischen Autonomie auftreten soll. Der Ruf nach der Neubildung symbolischer Grenzen, erhält seine spezifische Brisanz durch den Tatbestand des Zusammenbruchs der tatsächlichen, der politischen Grenze. Michail Ryklin bezeichnet die Reaktion der Intellektuellen in Ost und West darauf als „Grenznostalgie“: „Die Grenze löste sich also auf beiden Seiten auf, aber wie kann man sich eine Welt ohne Grenzen denken? Ohne ein dauerhaftes Bild des Anderen hat noch niemand die Welt gekannt – bis heute.“12 Die Grenznostalgie legt eine Spur für die Erklärung der „Mauer in den Köpfen“. Die Evidenz dieses kommunikativen Rätsels beruht auf den einverleibten Repräsentationsmustern und ihrer Wirklichkeitsorganisation auf beiden Seiten der Mauer. Ihr Wegfall grundiert ein spezifisches Bedürfnis nach den von Schelsky definierten Funktionssynthesen, die für den Bestand von Institutionen so wichtig ist. Dieses Bedürfnis wird an der Institution Volksbühne schließlich durch eine Ästhetik des Performativen 11 Rehberg unterscheidet in seinem „Versuch einer Künstler-Typologie“ für die DDR u.a. die „angepaßten“ von den „jungen Autonomen“: „Die meisten [Künstler] waren vielleicht aber eher solche, die man als ‚angepaßte Autonome‘ bezeichnen könnte. Angepasst waren diese Künstler – wie die meisten Menschen in jedem gesellschaftlichen System – insofern sie [...] eine Kunsthochschule besucht und die Verbandsaufnahme erreicht hatten. [...] Aber keine oder keiner von ihnen sah die eigene künstlerische Arbeit und Stellung durch diese Voraussetzungen definiert. All das erschien lediglich als hinzunehmende Rahmenbedingung eines eigenen Schaffens, das aus sich heraus verstanden werden soll. Insofern verstanden sich diese Künstlerinnen und Künstler zumeist als ‚autonom‘. [...] Die ‚jungen Autonomen‘ nenne ich Künstler, die in den mittleren oder späten achtziger Jahren ihre Ausbildung gemacht und sehr oft als freie Künstler begonnen haben, die festgefügte, sozusagen klassizistisch gruppierte Genregrenzen zu relativieren suchten [..]. Viele von ihnen wollten gar nicht mehr provozieren, Partei und Staat verändern, sondern in Rückzugswelten leben, die in jeder Gesellschaft als subversiv und anstößig gelten. [...]“ Rehberg, KarlSiegbert: „Vom Kulturfeudalismus zum Marktchaos?“, S. 275ff. 12 Ryklin, Michail: „Grenznostalgie“, S. 275 168

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aktualisiert, in denen die Prinzipien des postdramatischen Theaters nach Fischer-Lichte folgendermaßen zugespitzt werden: „Eine Ästhetik des Performativen zielt auf diese Kunst der Grenzüberschreitung. Sie arbeitet unablässig daran, Grenzen, die, historisch gesehen, im ausgehenden 18. Jahrhundert errichtet wurden und seitdem als ebenso unverrückbar wie unüberwindbar und in diesem Sinne als quasi natürliche, das heißt von der Natur gesetzte Grenzen galten – wie die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Hochkultur und populärer Kultur, zwischen der Kunst der westlichen und derjenigen anderer Kulturen, denen das Konzept der Autonomie von Kunst fremd ist –, zu überschreiten und so den Begriff der Grenze zu redefinieren. [...] Die Grenze wird zur Schwelle, die nicht voneinander trennt, sondern miteinander verbindet.“13

Vor dem Hintergrund des Mauerfalls erhält eine ästhetische Wirklichkeitsorganisation, in der die Mauer – die Grenze – sich in eine Schwelle verwandelt, zu deren Neudefinition im gemeinsam erlebten Theaterereignis eingeladen wird, eine spezifische Funktion. Sie kann sich innerhalb einer Institution wie der Volksbühne zu einer Geltungsbehauptung verdichten, während sie in fast allen anderen gesellschaftlichen Bereichen durch ein westliches Professionsethos aufgesogen wurde. In dieser sublimierten Form wird die staatssozialistisch geprägte Grenzziehung nicht nur geduldet, sie ist sogar erwünscht und das aus zweierlei Gründen: 1. Weil sie fremd und damit potenziell neu und innovativ ist, und 2. weil sie unberechenbar ist und damit das Primat der Abweichung unter der Bedingung ihrer Institutionalisierung einlöst. Insbesondere auf der politischen Ebene wird der symbolische Grenzgang zu einer bedeutenden Integrationsleistung umdefiniert. Kulturproduktion als Inklusionsfaktor und symbolischer Mehrwert für die Anerkennung des „neuen Deutschland“ ist aus ostdeutscher Perspektive keine Neuheit – waren doch die Künste in der DDR mehr noch als im Westen „Staatssache“. Gleichwohl wird das Ostberliner Feld der Kulturproduktion zwangsläufig von seinen – scheinbar – verschwundenen politischen Auftraggebern abgetrennt. Die Künstler erhalten somit den marktwirtschaftlichen Status einer relativen Autonomie. Diese Veränderungen sind im Theaterfeld auf der institutionellen Ebene allerdings vergleichsweise weniger einschneidend als in den meisten anderen Teilfeldern der Kunstproduktion. Kulturpolitik ist – ob in der sozialen Marktwirtschaft oder in der Planwirtschaft – immer und vor allem Politik. Daran hat sich 13 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 356. 169

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auch über fünfzehn Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung nichts geändert. In diesem Sinne lassen sich die Leitlinien des im Jahre 2005 amtierenden Senators für Wissenschaft, Kultur und Forschung, Thomas Flierl verstehen: „Kulturelle Kompetenz und kulturelle Vielfalt als Basis von Innovation und nachhaltiger Entwicklung sowie Kultur als Faktor sozialer Kohäsion [...] bilden zentrale Argumente zur Bedeutung der Künste und der Kultur sowohl im städtischen Entwicklungszusammenhang Berlins als auch im Wettbewerb der Stadt mit anderen Kulturmetropolen.“14 Den Zweck eines gesellschaftlichen Nutzerfolges als soziales Bindemittel ist ein Anliegen, das Flierl mit geopolitischen Argumenten auffüllt: „Berlin hat als Metropole Mittel-Ost-Europas spezifische Austausch- und Integrationsleistungen im Sinne eines ‚gateaway‘ Richtung Osteuropa zu erfüllen.“15 Sein früherer Vorgänger zu WendeZeiten, Ulrich Roloff-Mommin, wird dies ähnlich gesehen haben. Die Sehnsucht nach einer performativen Ästhetisierung von Grenzziehungen spült den Ostberliner Regisseur Frank Castorf an die Spitze eines Theaters, dessen Tradition über die Volksbühnen-Bewegung und den berühmten Inszenierungen mit Benno Besson und Heiner Müller bewiesen hatte, dass nicht nur vor, sondern auch nach Bertolt Brecht sozialistische Theaterkunst auf hohem Niveau möglich ist. 1991, in einem von der Vereinigung aufgewühlten Berlin, in dem die Ressentiments zwischen Ost und West toben, wird ein gewisser Druck hinsichtlich der politischen Integrationsbedürfnisse die Entscheidung, die Volksbühne dem zwar ästhetisch unberechenbaren, doch eben darin verlässlichen Ostberliner Spielleiter wie Castorf zu überlassen, beeinflusst haben. So wird die Krise, die das Aufeinandertreffen der sozialen Systeme aus Ost und West auslöst, in den Bereich des Symbolischen verschoben und damit in einen Raum, in dem die Verfeinerung von Grenzziehungen geradezu erwünscht ist. Zu DDR-Zeiten artikulierte sich diese Verfeinerung über den Umweg der „Kritik durch Affirmation“ und der mit ihr verbundenen Verschaltung von offiziell anerkannten und inoffiziell praktizierten Techniken. Im vereinigten Theaterfeld sind diese Grenzziehungen neu, weil sie aus Westdeutscher Sicht durch die kulturpolitischen Leitlinien der DDR geprägt waren und damit eine für sie neue Färbung des „Abweichenden“ erhalten. Gerade deshalb sind die dort angeeigneten Produktionsformen anschlussfähig an eine Felddynamik, die aus der permanenten Revolution ihren Selbstzweck schöpft. Doch – und darin unterscheidet sich das Feld der Kulturproduktion von dem der Politik – 14 Flierl, Thomas: Berlin: Perspektiven durch Kultur. Kulturpolitische Positionen und Handlungsorientierungen zu einer Berliner Agenda 21 für Kultur. August 2004, S. 4. Kursiv von mir. 15 Ebd., S. 11 170

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bleibt die „permanente Revolution“ symbolisch und damit politisch relativ wirkungslos. Ob illusorisch oder nicht – für einen Kunstproduzenten wie Frank Castorf, der zu DDR-Zeiten zwar zeitweilig zu den artistes maudits gehörte (was einer Auszeichnung gleichkam), jedoch mit Unterbrechungen immer in den staatlichen Institutionen arbeitete, war der politische Auftrag gleichwohl auch nach der Wende längst nicht abgegolten. Er wird immer wieder in dem Professionsethos aufblitzen, das die Leitidee der Volksbühne von nun an konturieren sollte. Das Bonmot Arnold Gehlens verdreifachend, nach dem „eine Persönlichkeit eine Institution in einem Fall“ ist, verspricht die biographische Auseinandersetzung mit vier zentralen Volksbühnen-Produzenten dort einen spezifischen Erkenntnisgewinn, wo sie systematisch mit den Rahmenbedingungen der staatssozialistischen Kultur zusammengeführt werden. Johannes Weiß bemerkt in seinem Aufsatz „Institution, Repräsentation, Persönlichkeit“: „Außerordentliche Persönlichkeiten sind dann von sehr großer, ja unersetzlicher allgemeiner Bedeutung und Wirksamkeit, wenn sie ‚in einem Fall‘, ungewohnte und übernormale Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten erschließen und in ihrer Existenz verwirklichen. Und es ist nicht widersinnig zu behaupten, die besondere Wirksamkeit dieser Möglichkeiten liege genau darin, dass sie sich dem Selbstverwirklichungsinteresse der vielen nicht fügt, sondern ihm – als Ärgernis, besser aber als Herausforderung – entgegensteht.“16

Man muss nicht zwangsläufig einer Soziologie der Singularität das Wort reden, um mit Weiß dahingehend übereinzustimmen, dass es eben doch die Personen selbst sind, die die sozialen Räume und deren Dynamik bestimmen. Ohne ein Verständnis für ihre Eigenheiten, Motivationen und Handlungsorientierungen kann die Leitidee einer Institution wie der Volksbühne nicht erfasst werden. In einer „Gesellschaft von Individuen“ (Elias) kommt es allerdings darauf an, die Struktur nicht aus dem Blick zu verlieren, innerhalb derer sich die Handlungen der Einzelnen abspielen; ja diese gleichfalls erst ermöglichen. Das ist aus einer praxeologischen Perspektive möglich.

16 Weiß, Johannes: „Institution, Repräsentation, Persönlichkeit“, S. 168. 171

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4.2

S t r u k t u r u n d P r a x i s : d i e Ak t e u r e

4.2.1 Abweichende Linienführung: Frank Castorf Frank Castorf wird 1951 in Ostberlin geboren. Sein Vater ist selbständiger Eisenwarenhändler, seine Mutter Hausfrau. Castorfs Lehrer wachen stets über die Gefahr bürgerlicher Einflüsse aus seinem näheren und weiteren Verwandtschaftskreis, die man für den Sohn eines Selbständigen fürchtet.17 Berufliche Selbständigkeit gilt in der jungen Planwirtschaft als Makel, der nur ungern geduldet wird. Castorfs Mutter wird in den einschlägigen Castorf-Biographien als kulturell weltläufige Frau beschrieben, die den Abbruch ihrer eigenen Karriere als Modezeichnerin dadurch kompensierte, dass sie dem kleinen „Fränkie“ schicke Westkleidung schneiderte. Der Vater, als Kleinunternehmer von den Behörden mit Misstrauen beobachtet, befindet sich schon durch seinen Beruf in einer Position, die sowohl Kooperation mit als auch Distanz zu den staatlichen Instanzen verlangt. Dieses von Kooperation und Distanz zugleich bestimmte Grundverhältnis zum Staatssozialismus sollte auch den jungen Castorf prägen. Ihm wird neben seiner schulischen Begabung auch während seines Militärdienstes als Grenzsoldat und während des Studiums eine hohe Identifikation mit den Zielen des Sozialismus bescheinigt. Zugleich wird stets seine Eigenwilligkeit moniert, die als Arroganz oder Blasiertheit kritisiert wird. Inwieweit diesen Einschätzungen Wahrheitsgehalt zuzubilligen ist, soll hier nicht zur Diskussion stehen. Wichtig ist, dass sie einen Hinweis darauf geben, dass Castorf schon frühzeitig bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden, die ihn – gleich, ob er sie strategisch einsetzte oder nicht – mit legitimierten Verhaltensweisen ausstatteten, deren Kontrapunkt – die Eigenwilligkeit – dem idealtypischen Bild des zukünftigen Kulturproduzenten entspricht. Schon in der Klassenlage seines Elternhauses wird eine Sollbruchstelle offenbar, die in dem Beruf und der offenbar nie versiegenden Sehnsucht des Vaters nach westlichen Freiheiten deutlich wird, die Castorf vermutlich schon früh prägen.18 Mit dem Abitur absolviert er auch einen Facharbeiterabschluss bei der Deutschen Reichsbahn. Eher zufällig fällt seine Entscheidung für das Studium der Theaterwissenschaft. Hier werden dem ehemaligen Eisenbahnerlehrling die Weichen für seine spätere Karriere als Theaterregisseur gelegt. Er wird sie für seine Praxis der „Abweichenden Linienführung“ später zu nutzen wissen.

17 Vgl. Detje, Robin: Castorf, S. 24. 18 Ebd., S. 22ff. 172

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Für die meisten jungen Erwachsenen der DDR ist es schwer, einen der wenigen und begehrten Studienplätze an den Universitäten zu bekommen, die zu künstlerischen Berufen ausbilden. Offizielle Voraussetzung hierfür ist eine überdurchschnittliche Begabung und vor allem ein fester Parteistandpunkt. Frank Castorf absolviert von 1972 bis 1976 an der Humboldt-Universität zu Berlin das Studium der Theaterwissenschaft. Er bleibt parteilos. Die jährlichen Beurteilungen zur „Bewusstseinsbildung“ der Studenten der Theaterwissenschaft belegen die Intensität und Sorgfalt, mit welcher der Staat über seine zukünftige Intelligenz wacht. Die Theaterwissenschaftler haben dabei offenbar mehr Spielraum als die zukünftigen Schriftsteller, jedoch weniger als die bildenden Künstler. Immerhin gilt das geschriebene und gesprochene Wort doch noch als gefährlicher; entsprechend scharf werden die künftigen Produzenten auf ihre Aufgaben verwiesen. Bei aller Strenge wird in den zahlreichen und umfangreichen Papieren aber auch der überpädagogische Zug der institutionellen Sanktionsinstanzen erkennbar: im Bemühen, die Schützlinge nicht zu drangsalieren, sondern zu überzeugen. Auch hier findet sich Rehbergs Begriff der „Konsensdiktatur“ bestätigt: „Ziel der zentralistischen und zukunftsplanenden Politik im ‚Realsozialismus‘ war die Vermehrung von Gleichheit. Das machte zumindest das Versprechen von Partizipationschancen unausweichlich. [...] Ein solches Projekt setzt aber den Wunsch, schließlich die verzweifelte Sehnsucht nach Zustimmung voraus. In dieser Hinsicht sind veralltäglichte post-totalitäre Systeme ‚demokratisch‘.“19

Doch trotz der durch Staatschef Erich Honecker ausgerufenen Ära der „Weite und Vielfalt“ lässt die Sektion Theaterwissenschaft am Fachbereich Ästhetik und Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität in ihren offiziellen Richtlinien von 1972 keinen Zweifel darüber, dass die Künste in der DDR als Gesellschaftswissenschaften verstanden werden. So formuliert ein Papier zur „Übung Entwicklungsdramaturgie“ die Zielsetzung der Lehrveranstaltung. Diese Übung verfolgt das Ziel, die „gesellschaftliche Funktion [des Theaters, T.B.] im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus in der DDR“ zu lehren. Den Studenten sollen hier „die Stellung des Teilsystems Künste im entwickelten gesellschaftlichem System des Sozialismus [und] die Stellung des Theaters im System der Künste unter besonderer Berücksichtigung der Spezi-

19 Rehberg, Karl-Siegbert: „Vom ‚Kulturfeudalismus’ zum ‚Marktchaos’?“, S. 257. 173

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fica und Wechselwirkung der darstellenden Künste aus Sicht des Theaters“ vermittelt werden.20 Während Castorfs Hauptstudium wird vom Direktorat für Erziehung und Ausbildung mit Blick auf die „Bewusstseinsentwicklung der Studenten“ das „geringe [...] Interesse am aktuell-politischen Geschehen festgestellt“.21 Im Vergleich zu den Studenten der Kunsterziehung lobt das Direktorat hingegen die „gute politische Information“ der Studenten der Theaterwissenschaft. 1974 wird im Studienplan dennoch die „Verstärkung der marxistisch-leninistischen Grundausbildung, insbesondere der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen Kommunismus, der Philosophie und Kulturtheorie“ in der Sektion Theaterwissenschaft für nötig gehalten. Eine Vorlage des Kollegiums von 1975 begründet diese Maßnahmen: „Ausgehend vom Charakter unserer Epoche und den daraus resultierenden politisch-moralischen Handlungskonsequenzen zeigt sich die politische Studienmotivation in der Bereitschaft, seine [die des Studenten, T.B.] Anlagen und Fähigkeiten uneingeschränkt zum Nutzen der Gesellschaft und seiner Selbst zu entwickeln und jede Genügsamkeit dabei energisch zu bekämpfen.“22 Der Student soll „im Verlaufe des Studiums ein der gesellschaftlichen Rolle des künftigen Berufs gemäßes Ethos entwickeln bzw. festigen.“23 Das Professionsethos der zukünftigen Regisseure, auf welches das Studium einstimmt, ist ein nutzorientiertes – ganz im Sinne des simul et singulis. Es begrenzt die Reichweite der Selbstentfaltung an der Lebensführung der sozialistischen Gesellschaft, dem Kollektiv, dem sich das eigene Handeln letztlich unterzuordnen hat. Wie ich im dritten Kapitel gezeigt habe, ist die Theaterproduktion schon durch ihre Struktur und ihren Zweck nutzorientierter als die meisten der anderen künstlerischen Disziplinen. Im Staatssozialismus gilt sie darüber hinaus als Trägerin eines ethischen Mehrwerts, der durch eine Haltung zur Produktionsweise postuliert wird, die aus dem kollektiven Gemeinsinn resultiert. Eine solche Haltung soll den Kunstproduzenten in ständiger Bereitschaft halten, gesellschaftliche Aufträge anzunehmen und sie entsprechend auszufüllen, ohne indes ganz von seinen persönlichen Neigungen ablassen zu müssen. Im Idealfall entspräche die hier evozierte Vorstellung eines sozialistischen Professionsethos dem Lukácschen Modell der harmonia praestabilita, die erst den Sprung von Erlebnis auf die ästhetische Technik und von dieser auf das Erlebnis erlauben sollte. Durch die bekämpfte Selbstgenügsamkeit, die Lukács in die Formel der Zurückdrängung des Abs20 21 22 23

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4595a. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. Kursiv von mir.

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trakten brachte, soll der Kunstproduzent in die Lage kommen, mimetische Zeugnisse von der sozialistischen Alltagswelt abzugeben. Die „Bekämpfung der Genügsamkeit“, die auch als Antipathie gegen die Philosophie des L’art pour l’art gelesen werden kann, ist durch die Gegensatzspannung zum Westen motiviert. Der „Charakter unserer Epoche“ und die „daraus resultierenden politisch-moralischen Handlungskonsequenzen“ meint nichts anderes als die unterstellte drohende Gefahr des westlichen Imperialismus, die immer wieder betont wird. Gefahr oder Konkurrenz aus dem Westen droht gleichwohl nicht nur auf der politischen Weltbühne. So verzeichnet das Direktorat für Erziehung und Ausbildung 1974 den Unwillen der Studenten der Theaterwissenschaft über eine gescheiterte Exkursion in die Sowjetunion: „Demgegenüber verweisen unsere Studenten auf umfangreiche Exkursionen durch die SU von Studenten der BRD.“24 Selbst der Klassenfeind bereist den Bruderstaat – das könnte Irritationen der Repräsentationsmuster hervorrufen, gegen die die kulturpolitische Erziehung sich zu wappnen gezwungen sieht. Das hilflos wirkende Mittel der „Bekämpfung der Selbstgenügsamkeit“ steht aber auch gegen die Konsumorientierung des Westens. Es ist das moralische Hauptargument gegen die Bedürfnisse, die offenbar aus den eigenen Studentenreihen formuliert werden. Die kulturpolitische Abgrenzung vom Westen entfaltet sich auf allen erdenklichen Ebenen und sie durchzieht den pädagogischen Auftrag der niedergelegten Lehrkonzepte. Im Rahmen des kunstwissenschaftlichen Grundstudiums, in dem die Studenten drei Inszenierungen ansehen und diskutieren sollen, wird erwartet, dass sie neben der gesellschaftlichen Funktion des Theaters aus marxistisch-leninistischer Perspektive „[p]rinzipielle Unterschiede zum Theater in antagonistischen Klassengesellschaften, insbesondere [zum] Imperialismus“25 darstellen. Als Gegenmodell zum westlichen Theater wird ein DDR-spezifischer GenreKanon entwickelt, den die Studenten anhand der betrachteten Inszenierungen nachvollziehen sollen, wie es in der stichwortartigen Aufgabenstellung heißt: „Besonderheiten der historischen Entwicklung. Die Entwicklung von unterschiedlichen Theatergenres und ihre voraussichtlichen Perspektiven in der sozialistischen DDR. Widersprüchliches Verhältnis von Literatur – Theater, Schriftsteller – Regisseur – Schauspieler aufgrund der Entfaltung der Arbeitsteilung im Kapitalismus und produktive Lösungen dieses Verhältnisses im sozialistischen Theater.“26 Die Profilierungskonzeption für das Institut Theaterwissenschaft für den Zeitraum 1968 bis 1971 geht über die Differenzsetzung zum Westen 24 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. 25 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. 26 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. 175

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hinaus und unterstreicht vielmehr ein Sendungsbewusstsein, das sich nach Ernst Schumacher aus „der besonderen Bedeutung dieses sozialistischen Theaters für die Entstehung eines sozialistischen Nationaltheaters für die Entwicklung einer fortschrittlichen Theaterkunst in Westdeutschland und Westberlin“27 rechtfertigt. Das Ostberliner Institut ist das älteste deutschsprachige der Theaterwissenschaft, daher, so heißt es weiter, haben seine Organe die „Aufgabe, [die] Überlegenheit der sozialistischen Theaterkunst [...] zu demonstrieren.“28 Die Sollgeltung kultureller Überlegenheit speist sich aus der ökonomischen Rückständigkeit gegenüber der Bundesrepublik, die trotz aller teleologischen Fortschrittsbekundungen unübersehbar ist. Das Postulat des ethisch-politischen Auftrags ist aber auch Ausdruck der Hoffnung, das zunehmende Konsumbedürfnis in den eigenen Reihen kompensieren zu können. Die einmalige historische Rolle, die der sozialistischen Lebensführung nicht nur als politische, sondern vor allem als kulturelle Sinnstifterin zukommt, könnte vielleicht auch ohne die permanente Abgrenzung zum Westen auskommen. Doch dafür scheint das Leben dahinter zu nah, die “Verlockungen“ zu greifbar. Allein durch Fernsehen, Radio, Jeanshosen und Rockmusik ist die westliche Lebensführung spätestens zu Beginn der siebziger Jahre in die Haushalte der DDR vorgedrungen. Der weltpolitische Ernst, der die zukünftigen Kunstproduzenten hingegen im Staatssozialismus kennzeichnen sollte, ist aus Sicht der Lehrenden von der Frage getragen, welche gesellschaftliche Funktion die Kunst einnehmen sollte. Die hier vermittelten Repräsentationsmuster begründen sich aus der herausragenden beruflichen Position, auf die das Studium vorbereitet: „Der Regisseur ist politischer Funktionär, Künstler, Wissenschaftler und Pädagoge in einer Person. Er ist nicht nur Inszenator, sondern ideologischer und künstlerischer Leiter, Lehrer und Erzieher des Ensembles, in dem er arbeitet.“29 Innerhalb der Institution Theater reflektiert die Lebensführung, die mit dem gesellschaftlichen Auftrag in eins gesetzt wird, die Ost-West-Gegensatzspannung. Die berufliche Multifunktionalität des Regisseurs versetzt ihn gleichwohl in die paradoxe Situation, Auftraggeber und Auftragnehmer in einer Person zu sein – worin er sich im Übrigen von seinen westlichen Kollegen kaum unterscheidet. In der DDR wird dieser Chiasmus noch dadurch verstärkt, dass die Kulturproduktion – so wollen es wenigstens die Funktionäre – zugleich mit einer Phänomenologie politischen Handelns aufgeladen wird, die eine antizipatorische Wirkmächtigkeit entfalten soll. Die daran geknüpfte professionelle Polyvalenz (Regisseur soll zugleich Künstler, 27 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4562. 28 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4562. 29 Archiv der Humboldt Universität zu Berlin: KUWI 4562. 176

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Wissenschaftler, Lehrer und Funktionär sein) erklärt den Glauben der Kulturproduzenten an politischem Einfluss – der illusio der „Fürstenerziehung“. Sie soll jedoch nicht zu dem Pluralismus ästhetischer Formen führen, die im Westen zu beobachten ist. Die unkritische Übernahme der kapitalistischen Arbeitsteilung zwischen Autor, Regisseur und Ensemble bereitet den staatssozialistischen Kulturfunktionären zwar Anlass zur Sorge. Doch der ethisch-politische Auftrag, der diese Teilung zu überwinden verspricht, konzentriert sich allein auf die Person des Spielleiters. Damit bleibt die tradierte Grundstruktur der Theaterproduktion als simul et singulis und die Predominanz des sozialistischen Realismus offiziell unangefochten, obwohl dieser schon längst zum „Begriffsgespenst“ geronnen ist, wie Oliver Müller feststellt: „Entsprechend der jeweils gerade herrschenden Großwetterlage ließ man [...] gewisse Abweichungen von der Norm zu, ohne das man diese ganz preisgab. Mithin wurde der sozialistische Realismusbegriff immer unbegreiflicher und immer unbestimmter. [...] So verblieb vom einstigen Leitbegriff [S]ozialistischer Realismus mit der Zeit zwar nur wenig mehr als ein ‚Begriffsgespenst‘, doch galt er immer noch als willkommenes Argumentationsinstrument der Zensoren [...].“30

Siegfried Wilzopolski, der zu Beginn der achtziger Jahre mit Frank Castorf in Anklam bei Berlin zusammenarbeitete, bestätigt Müllers Feststellung und erläutert das sozialistische Menschenbild, das in der DDR vermittelt wurde: „Wesentlich für die Kunstideologie in der DDR war das so genannte Menschenbild. Der sozialistische Realismus sollte ein bestimmtes Menschenbild vermitteln, was er zum Teil auch getan hat. Produktionsgrundierte Stücke waren mit Sicherheit ein Erfolg; so schlecht, wie sie auch oftmals waren.“31 In den offiziellen Ausbildungskonzeptionen wird die hohe Kompetenzerwartung durch eine ästhetische Starre absorbiert, mit der vermutlich weder Marx noch der Piano- und Violinen-Liebhaber Lenin glücklich geworden wären. Der kanonartige Rekurs auf die Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit und des sozialistischen Realismus führt zu institutionalisierten Diskussionsritualen, deren Ergebnis längst festzustehen scheinen. Denn die marxistisch-leninistische Theorie der Bildenden Kunst „konzentriert sich auf die gesellschaftlichen Kunstprozesse im entwickelten Sozialismus und weist die historisch neue Qualität der

30 Müller, Oliver: „Sozialistischer Realismus – allmähliche Lösung eines Leitbegriffs?“ S. 123. 31 Im Gespräch mit mir am 24.1.2006. 177

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sozialistisch-realistischen Kunst nach.“32 Selbst in der wissenschaftlichen Reflexion schimmert der Auftrag zur erwartungsgemäßen Ergebnisproduktion durch. Die Reflexion läuft auf eine Tautologie hinaus: Der Gegenstand wird nicht befragt, sondern sein symbolischer Mehrwert – in diesem Fall seine „historisch neue Qualität“ – bestätigt.33 Das ist der alte Kanon. Der Student Castorf wird jedoch auch zu einem Zeitpunkt und an einem Ort ausgebildet, in dem sich diese Tautologien zunehmend als Papiertiger erweisen. Zu Beginn der siebziger Jahre konstatieren die Leitungskader des Instituts für Theaterwissenschaft einen „Tempoverlust“34, der die Kunstgeschichte der DDR gegenüber ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sonstigen kulturellen Fortschritten ins Hintertreffen gebracht habe. Dies würde auch in der Studienhaltung von Castorfs Kommilitonen deutlich, die zeige, „daß das Studium noch nicht wirklich als Auftrag der Arbeiterklasse begriffen und praktiziert wird.“35 Diese konstruktive Selbstkritik widerspricht zwar den Thesen des permanenten Fortschritts, doch der Anspruch auf Partizipationschancen zwingt zumindest innerhalb der akademischen Institutionen zu einer Annäherung an die Wirklichkeit. Erst diese Annäherung vermag schließlich die Loyalität der zukünftigen Intelligenz sicherzustellen. Dieser Prozess geht mit einer ästhetischen Öffnung einher, die bis dato nicht möglich war. Die „Veralltäglichung des Posthistoire“ erlaubt es nun, die Ideen der Kunstlinken in den Ausbildungskanon zu integrieren.36 Die Produktionskunst der rehabilitierten russischen Avantgarde bietet hier einen Weg, der gewisse Erweiterungen der ästhetischen Praxis innerhalb des nomos erlaubt. So heißt es: „Die sozialistische Revolution hat die sozial-ökonomische Grundlage der Entfremdung und der ge32 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4086. 33 Gleichwohl zeigt Matei Chihaia anhand von vier Konfliktlinien, dass die Frage des Neutralitätsanspruchs der Wissenschaft schon zu Beginn der sechziger Jahre heftig diskutiert wurde. Sie betrafen nach Chihaia den „Umgang mit Parteitagsbeschlüssen, das entspricht dem Konflikt zwischen Parteiauftrag und Professionalisierung“, die „institutionelle Bindung, das entspricht dem Konflikt zwischen Parteilichkeit und Wissenschaftlichkeit,“ den „Umgang mit den Klassikern des Marxismus, und hier würde ich einen Konflikt zwischen einer passiv-kanonisierenden und aktiv interpretierenden Rezeption ansetzen“, und die „Möglichkeit zu Kontroversen, die dogmatisch oder dialektisch verlaufen können.“ Chihaia, Matei: „Die Theorie der ästhetischen Aneignung 1961-1979“, S. 100. 34 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4562. 35 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4608. 36 Bekanntlich greifen die Bildungsinstitutionen die Entwicklungen im Feld immer mit einer Verzögerung von wenigstens einigen Jahren, wenn nicht einer ganzen Generation auf. 178

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sellschaftlichen Isolierung des Künstlers beseitigt. Die Interessen der Künstler stimmen objektiv mit denen der Arbeiterklasse überein. [...] Parteilichkeit, enge Verbundenheit des Künstlers mit der Arbeiterklasse ist seit dem Niedergang der Bourgeoisie im 19. Jahrhundert Voraussetzung für den Kunstfortschritt, wie die Kunstgeschichte von den Anfängen der sozialistischen Kunst über die proletarisch-revolutionäre Kunst bis zur entwickelten sozialistisch-realistischen Kunst der Gegenwart beweist.“37 Die proletarisch-revolutionäre Kunst bietet den Bezugsrahmen für ästhetische Techniken, die bis dato verfemt waren. Dies hängt offenbar mit einem zunehmenden Legitimationsverlust des synthetischen Weltbildes zusammen, das viele Künstler nicht mehr bereit sind, zu reproduzieren. Als „wesentliche Triebkraft des Kunstfortschritts“ werden nun zentrale Elemente der russischen Produktionskunst aufgegriffen, die nach Ansicht des einflussreichen russischen Theoretikers Moissej Kagans auf folgenden Aspekten beruhen: – „Tiefe der künstlerischen Erkenntnis der Wirklichkeit, – formal-technische Möglichkeiten, – Breite und Tiefe der gesellschaftlichen Rezeption. Durch die soziale Determiniertheit verändern sich in der künstlerischen Entwicklung – das Objekt der künstlerischen Aneignung, – das Subjekt des künstlerischen Schaffens, – der Gegenstand der Kunst, – die Methode des künstlerischen Schaffens, – der künstlerische Inhalt, – die künstlerische Form, – die Produktionsbedingungen, – die Rezeptions- und Distributionsbedingungen.“38

Der Fortschrittsgedanke wird nunmehr mit einer grundsätzlichen Integration von begrenzten doch möglichen Wandel verbunden, deren Auslegung relativ offen scheint. Zugleich drücken Kagans Prämissen eine eigentümliche Schwellenbewegung aus, die einerseits an den Idealen der Abbildungskunst festhält (Spezifik der künstlerischen Wirklichkeitsorganisation und der Rezeption, die an die Lukácsche „Subjektivation“ erinnert); die aber andererseits Form und Methode als veränderbare Größen einstuft, die durch soziale Determinanten beeinflussbar sind. Für die 37 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4505. 38 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4605. 179

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späteren Kunsterzieher des Teillehrgebietes Gestaltungstheorie formuliert das Kulturministerium 1972 eine ästhetische Orientierung, die, wörtlich genommen, ebenfalls wie ein Konglomerat der Lukácschen Philosophie der coincidentia oppositorum und den utilitaristischen Produktionsprinzipien der sowjetischen Avantgarde erscheint: „Kunst als Gleichnis – gesellschaftliche Bedingtheit der künstlerischen Gestaltung“ und „Verflechtung von Gebrauchswert und ästhetisch-künstlerischen Aspekten, von Zweckform und ästhetisch-künstlerischer Form“.39 An der Humboldt-Universität wird in den Lehrprogrammen für Kulturwissenschaft bereits 1969 die „Popularisierung der Kunst“40 gefordert. Damit wird die Ausdifferenzierung der Kulturproduktion, die sich außerhalb der kulturellen Bildungsinstitutionen längst artikuliert und breite Sympathie erfährt, zumindest teilweise auch offiziell legitimiert. Frank Castorf wird dieses offizielle Eingeständnis nutzen, um seinerseits an der Umbruchsituation, die an den Bühnen der DDR stattfindet, anzuknüpfen. An den DDR-Theatern gewinnt die Idee des Regie-Theaters zunehmend an Bedeutung und Beliebtheit: „Spiel, Grenzen und Offenheit – das sind in den siebziger Jahren die entscheidenden Begriffe im DDRTheater. Der Regisseur rückt immer mehr ins künstlerische Zentrum einer Inszenierung, und die öffentliche Wirkung – eine Wirkung von Assoziationen und Anspielungen – entwickelt sich fruchtbringend.“41 Das Assoziationstheater wird Castorfs spätere Inszenierungspraxis grundieren. Siegfried Wilzopolski erläutert die damit verbundene Erweiterung von Freiheitsgraden, die er in den achtziger Jahren mit Castorf am Theater Anklam anstrebte: „Das Assoziationstheater war ein Arbeitsbegriff. Wir wollten uns eine Arbeitsgrundlage schaffen. Wir suchten nach einem Begriff, der unsere Eigenständigkeit verdeutlichte. Wir kamen auf das assoziative Theater. Als Grundlage haben wir Karl Jaspers genommen, dessen Definition von Assoziation. Haben wir aber umgebaut. Denn er sagte, das ist ein unbewusster Prozess; wir sagten, nein, das ist ein bewusster Prozess. Wir sind uns der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum bewusst. Assoziation ist eine ganz bestimmte Technik, eine Methode, mit dem Zuschauer zu kommunizieren, hinsichtlich der Langzeitwirkung. Nicht die unmittelbare Wirkung.“42

39 40 41 42

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4606. Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4562. Irmer, Thomas/Schmidt, Matthias: Die Bühnenrepublik, S. 136ff. Im Gespräch mit mir am 24.1.2006.

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Für die langfristige Etablierung von experimentellen und utilitaristischen Produktionsformen stehen am Institut für Theaterwissenschaften der Humboldt-Universität zu Beginn der siebziger Jahre insbesondere diejenigen Professoren und Dozenten, bei denen Frank Castorf studiert: Ernst Schumacher, Joachim Fiebach und Rudolf Münz: „Im akademischen Sektor nimmt die Sektion Ästhetik und [Kultur]wissenschaften der HU bei der Aufweichung des klassischen Theaterbegriffs eine Frontstellung ein. Professor Schumacher will in einer ‚Theorie der darstellenden Künste‘ das Performative in allen Medien und Lebensbereichen dingfest machen. [...] Castorfs Lehrer Rudolf Münz und Joachim Fiebach begleichen mit ihrer Verteidigung des nicht-illusionistischen Theaters alte Rechnungen; für den Schüler ist es selbstverständlich, sich mit diesem Forschungsgegenstand auseinandersetzen zu können. [...] Castorf findet die theaterhistorischen Abrisse seiner Professoren bei allem Kampfesmut eher harmlos; er wirft sich auf verfemtes Schriftgut aus den Tagen vor Stalins Säuberungen. Originalquellen, sonst unerreichbar in den Giftschränken der Bibliotheken weggeschlossen, sind am Institut ganz selbstverständlich zugänglich.“43

Castorf wird zu seinem Studienabschluss den „Proletkult“ der russischen Avantgarde als eines der Prüfungsthemen wählen. Die Legitimation ihrer Stilmittel eröffnet zugleich Handlungsoptionen, die als performative Reflexion des Begriffgespenstes ‚sozialistischer Realismus‘ denkbar sind. Sie bietet aber auch ein willkommenes Ventil für eine weitere Ebene der Gegensatzspannung, über derer die Wirklichkeitsorganisation der DDR reichlich zu verfügen scheint: dem Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit, über das auch die Loyalitätswünsche der staatlichen Ausbilder nicht hinweghelfen. Hatte nicht Boris Arvatov auf die Gefahren eben dieses Gefälles hingewiesen, als er sich für die Transformation des Alltags und damit gegen die später von Lukács postulierte „Widerspiegelungstheorie“ durch das Theater aussprach? „Die Kunst spiegelt das Leben nicht wider, wie man gewöhnlich meint, sondern sie ergänzt es. Der Künstler harmonisiert mit verschiedenen Kunstgriffen das in der Wirklichkeit nicht Harmonisierte, d.h. jegliche abbildende Kunst stellt ihrer sozialen Aufgabe nach eine Umgestaltung der Wirklichkeit, deren Transformation dar. Folglich besteht die Tätigkeit jedes abbildenden Künstlers darin, daß er Elemente des Lebens nimmt und sie in seinem Sinn verändert, sie aus der Ebene des gewöhnlichen Lebens herausführt, so daß man sie auf neue Art empfindet. Folglich ist echter Naturalismus, “Wahrhaftigkeit“ in der Kunst ein Mythos, den es niemals gegeben hat und niemals geben wird. Eine ‚real‘

43 Detje, Robin. Castorf, S. 54ff. 181

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abbildende Kunst ist eine contradictio in adjecto, und der sog. ‚Realismus‘ ist nur eine besondere Weise der künstlerischen Umgestaltung der Wirklichkeit, und dazu noch eine unbewußt angewandte.“44

Dieses kühle Urteil über den Realismus ist deutlich. Es differenziert sich bereits durch die Tonlage, die nach aktiver Umgestaltung der Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst drängt, statt ihre passive Rezeption zu bestätigen. Gleichwohl war der Realismusbegriff auch in der DDR durchaus umstritten – er umfasste das Populistische ebenso wie jene komplexen Prozesse der Aneignung der Wirklichkeit, die in der Phänomenologie Lukács’ verteidigt wurden. Die jeweilige Auslegung bzw. das Geschick, die Auslegung so zu gestalten, dass sie dem eigentlichen humanistischen Auftrag – der Bildung einer sozialistischen Persönlichkeit – Gültigkeit versprach, war die eigentlich zu bewältigende Aufgabe. Zwischen offiziellen und inoffiziellen Stilmitteln und deren jeweiliger Legitimation schweifend, ergaben sich für die Theaterproduzenten häufig bizarre Wirklichkeitsorganisationen. Während seines Studiums wendet sich Castorf dem Absurden zu und macht es schließlich zum Thema seiner Abschlussarbeit. In Ionescos „Die Nashörner“ verwandelt sich eine ganze Gesellschaft in eben diese Tiere, woran außer dem Erzähler selbst niemand Anstoß zu nehmen scheint: „‚Was ist mit Ihrer Haut? Wie Leder ... ‘ Dann sah ich ihn starr an: ‚Wissen Sie, was dem Kollegen Ochs widerfahren ist? Er ist zum Nashorn geworden.‘ ‚Na und? Das ist doch gar nicht so übel! Schließlich sind die Nashörner doch Geschöpfe wie wir, die ebenso ein Recht haben zu leben ... ‘ ‚Unter der Voraussetzung, daß sie das unsere nicht zerstören. Sie sind sich doch bewußt, daß wir uns von ihnen im Geiste unterscheiden?‘ ‚Glauben Sie denn, daß der unsere besser ist?‘ ‚Wie dem auch sei, wir haben unsere Sitten, die ich für unvereinbar mit denen der Tiere halte. Wir haben eine Philosophie, ein unvertauschbares Wertsystem ... ‘ ‚Der Humanismus ist veraltet! Sie sind ein alter, lächerlicher Schwärmer. Sie reden Unsinn.‘ ‚Ich bin erstaunt, Sie so sprechen zu hören, mein lieber Jean! Sie verlieren wohl den Kopf?‘ Er schien ihn wirklich zu verlieren. [...]“45

Kann ein werdendes Nashorn den Wert des Humanismus beurteilen? Oder spricht die Tatsache seiner Entfernung vom Mensch-Sein dafür,

44 Arvatov, Boris: Kunst und Produktion, S. 33. 45 Ionesco, Eugène: Die Nashörner, S. 24ff. 182

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dass ihm kein Urteil mehr erlaubt ist? Castorfs Diplomarbeit trägt den Titel: „Grundlinien der ‚Entwicklung‘ der weltanschaulich-ideologischen und künstlerisch-ästhetischen Positionen Ionescos zur Wirklichkeit“. Das Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihre symbolische Organisation wird das Hauptthema seiner Produktionspraxis bleiben. Castorf schließt sein Studium 1976 mit einer hervorragenden Note ab und beginnt im Anschluss seine Theaterlaufbahn. 1989 beschreibt er rückblickend seine damalige Haltung: „Ich bin, was meine Theatererziehung betrifft, groß geworden in der Zeit, als [Benno, T.B.] Besson die Volksbühne leitete. Auf seine Art wurden da die 20er Jahre fortgeführt. Sowjetrußland, Piscator, auch weil Besson seine eigene Macht als Leiter in Frage stellte durch solche Kämpfer wie Karge/Langhoff oder Marquardt. Das war ein spannender sozialer Prozeß. [...] Für mich wurde damals die Räuber-Inszenierung von Karge/Langhoff zur Initialzündung. Ich habe gesehen, wie das funktioniert und damit hatte sich die Frage nach der Werktreue erledigt.“46

Als junger Dramaturg im Bergarbeiter-Theater in Senftenberg gerät Castorf wegen seiner „Disziplinlosigkeit“ in Konflikt mit den Theaterkadern: „Hier kollidierte erstmals sein Theaterverständnis mit der Theaterpraxis insofern, als ihm die geübte Verfahrensweise der personellen Trennung von Dramaturgie und Regie wenig sinnvoll erschien. Er begann, beide Funktionen in seiner Person zu vereinigen und startete erste Inszenierungsversuche – bezeichnenderweise mit Stückfragmenten des frühen Brecht, die er als eine Collage bearbeitete und als Programm vorstellte. Seine Arbeit stieß bei der Theaterleitung auf wenig Gegenliebe, wie das in der Folgezeit so häufig geschehen sollte.“47

Noch nicht Regisseur, nimmt Castorf das Ausbildungsziel beim Wort, künstlerischer Leiter, politischer Funktionär, Lehrer und Erzieher des Ensembles, in dem er arbeitet, sein zu wollen. In Brandenburg, wohin Castorf daraufhin wechselte, kommt es zu einem weiteren Eklat. Mit der Inszenierung von Karl Grünbergs Golden fließt der Stahl treibt Castorf das Prinzip der Kritik durch Affirmation mit einem kabarettistischen Bilderbogen auf die Spitze, „der von einer schlagenden unfreiwilligen 46 Castorf, Frank in: Alte Stücke – neu gelesen. Frank Castorfs Bemerkungen in einem Rundtischgespräch, geleitet von Dieter Görne (1989). In: Wilzoploski, Siegfried: Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs, S. 146. 47 Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 13. 183

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Komik [war], [das] hatte etwas ganz Naives.“48 Die Reaktion der Spielleitung ist gemischt – das Stück wird zunächst abgesetzt, dann wieder in den Spielplan aufgenommen. „Uns wurden [...] handwerkliche Fehler vorgeworfen, daß wir keine richtige Schauspieler-Menschenführung hätten, daß wir uns als Ideenfinder und nicht als Menschen- oder Figurengestalter empfinden würden.“49 Castorf wird mit der fristlosen Entlassung gedroht; mit Hilfe seines Anwalts Gregor Gysi gewinnt er jedoch 1980 den Prozess vor dem Arbeitsgericht in Brandenburg. Er bleibt offiziell angestellt, doch inoffiziell wird ihm die Arbeitsmöglichkeit entzogen – eine Praxis, die im Feld der Kulturproduktion der DDR üblich war. In Anklam, wo Castorf 1981 bis 1985 als zweiter Spielleiter arbeitet, systematisiert er die Produktionsprinzipien, die er zuvor erprobt hatte und stößt auf heftige Gegenreaktionen seitens der Kulturinstanzen, die schließlich in seine fristlose Entlassung münden. Sein damaliger Bühnenbildner Hartmut Meyer fasst die Arbeitsphilosophie zusammen: „Künstlerische Produktivität [...] zum Durchstarten als Plattform war uns wichtiger als ein irgendwie gearteter DDR-Realismus.“50 Der Produktivitätsgedanke erlaubte Praxisformen jedoch mit und gegen den Realismus. Castorf sammelte eine Truppe „verfemter Künstler“ in der Provinz Anklam, um mit ihnen weitere Grenzgänge zu üben: „Welcher Student geht schon gern nach Anklam? Ich habe dann versucht, die Schauspieler zu überreden und mir – immer nach dem Modell von Fassbinder, also diesem merkwürdigen Team – Menschen für solch eine Lebens- und Arbeitseinheit zusammenzuholen, für ein sehr vitalistisches Prinzip eine schlagfertige künstlerische Einheit mit der Aussicht auf Erfolge zu schaffen. Erfolge waren natürlich – wie soll ich das sagen – wenn man von Anklam in den Westen fährt. [...] Mal in den Westen gehen, großmäulig sein zu dürfen, Erfolg zu haben.“51

Später wird Castorf dieses Erfolgsmodell mit Hilfe von Kollegen aus dem Westen in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz systematisieren, was seinen Chefbühnenbildner Bert Neumann in einem Interview dazu veranlasst, einen Kritiker zu zitieren, der das VolksbühnenEnsemble als das „extremste seit Fassbinder“ bezeichnet. Neumann fügt hinzu: „Und das stimmt auch.“52 48 49 50 51 52

Castorf, Frank in: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 244. Ebd., S. 246. In: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 318. Castorf, Frank in: Irmer, Thomas et. al.: Die Bühnenrepublik, S. 252ff. Neumann, Bert in: Nioduschewski, Anja: „Imitation of life“. Theater der Zeit 10/01. Berlin 2001.

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In Anklam stehen viele Ensemble-Mitglieder und Mitarbeiter unter faktischem Berufsverbot oder kurz vor der Ausreise. Den temporären Ausnahmezustand einer sich konstituierenden sozialistischen KleinBohème in der Provinz Anklam verbindet Castorf nach eigenen Aussagen mit einem „Solidaritätsprinzip“. Er nutzt seinen Machtzuwachs, der ihm als Arbeitgeber und zweiten Spielleiter in Anklam zukommt, zur Mythenbildung. Das Anklamer Publikum, gewöhnt an Klassik und soliden Realismus, ist wenig begeistert von seinen Abenden; dafür wächst seine Berliner Fangemeinde, die regelmäßig zu den Premieren kommt und ausgelassen feiert. Trotz der Eigengeltung, die Castorf in seinen Inszenierungen beansprucht, ist das Anklamer Professionsethos immer auch durch einen ethisch-politischen Erziehungswillen motiviert, wie sein Dramaturg Wilzopolski betont: „Wenn man Castorf mehr Zeit gegeben hätte und das Ganze unter demokratischeren Umständen gelaufen wäre, hätte man den vorhandenen Erziehungseffekt ausbauen können. Erziehung im Brechtschen Sinne – das Publikum von der Bühne herunter zu erziehen.“53 Andererseits distanziert sich Castorf selbst von einem Erziehungsbild, das auf Konsens ausgerichtet ist – ein Tatbestand, der in der veralltäglichten „Konsensdiktatur“ unerhört scheint, und doch geduldet wird: „Das Schöne in Anklam war, wir mußten keinen Konsens beachten. Wir hatten zwar die kompakte Majorität gegen uns; Leute, die sagten: ‚Das ist schmuddelig, das ist doch kein Theater!‘, aber da war die Partei. Die Partei hat lange verkündet: Kunst hat einen besonderen Stellenwert, die schützen wir auch gegen das, was sich sofort in einem Vertreter der kompakten Majorität regt. Insofern hat uns derjenige, der später als der imposanteste Feind in Erscheinung trat, die SED, lange Zeit vor den staatlichen Einrichtungen geschützt.“54

Doch es ist nicht allein die Partei, die Castorfs Aufstieg innerhalb des Theaterfeldes der DDR duldet. Er versteht es ebenso, die für die Dynamik des Feldes der Kulturproduktion so wichtige Größe der Generationskämpfe für sich zu nutzen. Er wählt – natürlich – nicht den längst verstorbenen Brecht, sondern Heiner Müller zu seinem Alter Ego und Antipoden. Beharrte Müller, der ehemalige Wehrmachtssoldat noch auf seinem „Aufenthalt in dem Material DDR“55 im Sinne einer antifaschis53 Im Gespräch mit mir am 26.1.2006. 54 Castorf, Frank in: Irmer, Thomas et.al.: Die Bühnenrepublik, S. 257. 55 „Spätestens 1961 hatte Müller ja erfahren müssen, daß seine Stücke zwar zum Teil in bekannten und beachteten Zeitschriften wie ‚Sinn und Form‘ gedruckt, jedoch generell angefeindet und unterdrückt werden. Als man seine Manuskripte beschlagnahmte und Müller aus dem Schriftstellerver185

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tischen Verpflichtung, so wird der ehemalige Grenzsoldat Castorf die Versteinerungen der heroischen Nachkriegsphase symbolisch attackieren und eben dazu Müller benutzen. 1986 inszeniert Castorf Heiner Müllers Stück „Der Bau“ in Karl-Marx-Stadt. Es ist in Castorfs Inszenierung an Motive von Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“ angelehnt, dessen gleichnamige DEFA-Verfilmung mit Manfred Krug in der Hauptrolle zwanzig Jahre zuvor verboten worden war. In „Der Bau“ wird die Kommunikation zwischen den alten Kadern der Aufbauzeit und den jungen, die enttäuscht sind von den leeren Phrasen, immer unmöglicher. Die Jungen fliehen in seltsame Liebesbeziehungen, zwanghafte Übersprungshandlungen, bizarre Tänze (Castorf beschäftigt sich in dieser Zeit mit Pina Bausch) und in die Musik: „Sie erleiden Ausbrüche, finden nur in Ausbrüchen zueinander und verkünden dem Publikum musikalisch, wo sie ihre Träume vom selbstverwirklichten Ich-Leben umzusetzen hoffen (oder wo sie den Sozialismus sich zum Kommunismus vervollkommnen sehen).“56 In einer Diskussionsrunde nach der Premiere kommentiert Erika Stephan Castorfs Inszenierungspraxis mit den Worten: „[D]ieses Prinzip des Aufbauens, des Behauptens eines großen idealen Impulses und seiner ironischen Brechung scheint mir eine Grundlinie in der Organisation dieses Spiels zu sein, und ich glaube, das hat sehr viel mit den widersprüchlichen Erfahrungen dieser jungen Generation zu tun, die mit ihrer eigenen Sehnsucht nach einer Orientierung, nach einem konstruktiven Ziel und der Diskrepanz zwischen oft so deprimierenden Erfahrungen sehr oft nicht fertig wird. Mir scheint, daß die Inszenierung ein Versuch ist, durch das Spiel auf der Bühne zumindest für den Zeitraum des Spiels diesen Widerspruch zu lösen für die Beteiligten.“57

Peter Ullrich, Mitglied des Theaterverbandes, überrascht vor allem Castorfs Umgang mit der Vorlage: „Meine Entdeckung ist, daß Heiner Müller ein Klassiker geworden ist, in dem Sinn, daß man sich ihm gegenband flog, wußte er anderserseits, daß er zwar verboten, aber sehr ernstgenommen wird. Es war so einfach wie unmöglich: Die Diktatur erwies sich für den Dramatiker als viel aufregender als die Demokratie: ‚Der Aufenthalt in der DDR war in erster Linie Aufenthalt in einem Material,‘ erklärt er viel später (FAZ vom 3.9.1994).“ Tschapke, Reinhard: Heiner Müller, S. 40ff. 56 So wird der Schlager „Kauf dir einen bunten Luftballon“ gesungen: „Kauf dir einen bunten Luftballon/und mit etwas Phantasie/fliegst du in das Land der Illusion/und bist glücklich wie noch nie.“ Detje, Robin: Castorf, S. 120. 57 Stephan, Erika in: Nachdenken über Kunst und Leben. Theater der Zeit 3/1987. 186

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über verhalten kann, wie man sich Schiller gegenüber verhält.“58 An dem Kolloquium nimmt auch Castorfs ehemaliger Lehrer, Professor Joachim Fiebach teil, der Castorf durch eine sehr vorsichtig formulierte politische Kritik unterstützt: „Das Problem ist doch, daß wir, und nicht nur in der DDR, sondern im gesamten europäischen Kulturbereich, seit dem 16. Jahrhundert den Text als etwas Heiliges betrachten. Wir sitzen da fest in einer bestimmten Tradition, daß wir gar nicht imstande sind, anders zu denken. Aber grundsätzlich müßte man es [...].“59 An den Kommentaren der Kolloquiumsteilnehmer werden die Repräsentationsmuster deutlich, die Castorfs Professionsethos legitimierten. Das Theaterfeld der DDR bildet selbst die institutionelle Basis einer stabilisierten Spannung, die angesichts der Sollgeltung des historischen und gesellschaftlichen Auftrages mit einer Selbstreflexion verbunden ist, die in der Diskussion um die „Widerspiegelungstheorie“ ihr semantisches und inhaltliches Pendant findet. Fiebachs Appell an eine gleichwohl kritische Selbstreflexion kann mit Helmut Schelsky als ein „Bedürfnis letzten Grades“ bezeichnet werden, das Schelsky im Rahmen seiner Institutionentheorie folgendermaßen erläutert: „Das sind z.B. die Bedürfnisse der Reflexionssubjektivität des Individuums. Daß wir auch Bewußtseinsansprüche als ‚Bedürfnisse‘ auffassen dürfen, ist bereits bei Malinowski ausgesprochen [...]. So ist etwa das Bedürfnis des Menschen, zu sich und der Welt Stellung zu nehmen, ein kulturelles Grundbedürfnis, das in alle Institutionen mit eingeht und damit auch historische Entwicklungen erfährt.“60

Die von Schelsky postulierten Bewusstseinsansprüche sind innerhalb des Theaterfeldes der DDR schon in dem Ausbildungskanon formuliert, der sich der Fortschrittsteleologie der Nachkriegszeit ungebrochen verschreibt. Das damit verbundene Kontinuitätsversprechen erhöht den verfemten Müller zu einer Orientierungsinstanz, weil er durch sein Ausreizen des Primats der coincidentia oppositorum das Diktum eines distinkten sozialistischen Kanons gewährleistet. In seiner Redefinition des Müllerschen Erbes praktiziert Castorf damit ein wesentliches Gesetz des Feldes der Kunstproduktion, das offenbar auch in der späten DDR gilt: Der Grenzgang durch die disputatio verläuft immer über die Berufung 58 Ullrich, Peter in: Nachdenken über Kunst und Leben. Theater der Zeit 3/1987. 59 Fiebach, Joachim in: Nachdenken über Kunst und Leben. Theater der Zeit 3/1987. 60 Schelsky, Helmut: Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 21. 187

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auf spezifische Orientierungsinstanzen. Sie bilden die historischen Konstanten, aus deren Neuvariation der Angriff auf das Etablierte seine Berechtigung zieht. Das enthält natürlich in einem geschlossenen System wie der DDR einen besonderen Zündstoff, weil der Kunstproduzent durch die Enge des Kunstbegriffes besonders scharfsinnige Strategien entwickeln muss, um nicht als artiste raté in der Provinz zu enden. Er muss sich also innerhalb der Institutionen zum Spezialisten für die symbolische Reproduktion von Bewusstseinsansprüchen machen. Mit der anomisch grundierten Sollgeltung der Lebensnähe ermöglichen Castorfs Techniken des assoziativen Theaters, der Produktionskunst und der Montage im offeneren Klima der achtziger Jahre zugleich den Einbruch der Realität selbst, dessen ethisch-politische Phänomenologie gleichwohl durch die beruhigende Geste der „Kritik durch Affirmation“ entschärft werden kann. Castorfs utopistische Antizipation gewährleistet die kritische Affirmation der politischen Auftragskunst und bedient sich dabei den veralltäglichten Formen einer abgekärten Aufklärung, die sich zwischen Instituierung und Institution bewegt. Dies ist eine innerhalb der Theaterinstitutionen der DDR, die als gesellschaftliche Bedürfnissynthesen auftreten, mögliche Praxis. Schelsky fasst die gemeinsame Interessenlage der an Institutionen Mitwirkenden zusammen: „Das Individuum, gefaßt als Bewußtseinssubjektivität, erhält seinen bestimmenden Bezug zu den Institutionen über die Tatsache, daß das subjektive Bewußtsein Schöpfer und Träger von Ideen ist. Daß es sich dabei jeweils um das Bewußtsein individueller Subjekte handelt, veranlaßt [dazu] gegen jede Behauptung eines Kollektiv- oder Volksgeistes, an dem der einzelne nur ‚partizipiert‘, entschieden Stellung zu nehmen. Daß institutionelle Ideen von mehreren Subjekten gleicherweise gedacht und damit zur Kommunikation und sozialen Bindung unter ihnen werden, ist ein ganz anderer Tatbestand, der die Leistung und Rolle einer Idee für eine Institution erst begründet.“61

Die von Stephan als „konstruktiv“ bezeichnete Suchbewegung adelt Castorf nach den Mühen der Ebene, die ihn durch die Provinztheater der DDR geführt hatten. Als Kunstproduzent, dessen „abweichende Linienführung“ konstitutiven Einfluss auf die ethisch-politische (Dauer-)Reflexion innerhalb des staatssozialistischen Theaterfeldes gewinnt, trägt er zu dessen institutioneller Aktualisierung bei. Auf welche Art und Weise Frank Castorf diese spezifische Kompetenz in das vereinigte Theaterfeld trägt und ihm sein nunmehr post-sozialistisches Signum gibt, wird in einer Rezension von Friedrich Dieckmann aus dem Jahr 61 Ebd., S. 17. 188

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1990 dokumentiert. In Castorfs „John Gabriel Borkmann – nach Ibsen“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin wird offenbar ein modus operandi deutlich, der sich von den Theaterformen seiner Vorgänger in der DDR absetzt: „Kein Zweifel: Man kann in der Kunst dieses Landes, das, so gut (und so schlecht) es gelang, das Seine getan hat, nicht zuletzt, indem (und wie) es sich auflöste, zwischen strafverschärfenden und -erleichternden Hervorbringungen unterscheiden. Die letzteren konnten dies nicht sein, ohne die Wirklichkeit, die sie umstand, intentionell zu übersteigen. Es gibt aber verschiedene Arten des Übersteigens: die Konstruktion der gelingenden und die Dekonstruktion der gegebenen Welt. Zwischen diesen beiden Arten und Tendenzen des Überschreitens verläuft [...] die Grenzlinie zwischen der ersten jungen KunstGeneration der DDR, die in den sechziger, und der zweiten, die in den achtziger Jahren antrat. [...] Die ältere Generation bestimmte sich intentionell noch, wie skeptisch immer (und wie widerlegt im Wirklichen), von der Idee der Synthese: die jüngere hatte den Trugschluß gesellschaftlicher Selbsterlösung des Menschen durch den Menschen hinter sich gelassen. Das hing mit der vollends undurchdringlich gewordenen, komplett synthetisierten Erfahrungswelt zusammen, in die sie hineingeboren war: gegen die half nur noch die Gebärde der Zertrümmerung.“62

Dieckmann rekurriert hier kritisch auf eine DDR-Ästhetik, die der Synthese den Vorzug gegenüber dem Fragmentcharakter gab – Manifestation statt Signifikation. Eine mögliche Technik des Übersteigens der Welt, die das künstlerische Produkt umgibt, ist die Aufspaltung der linearen Erzählstruktur und die Montage. Das Aufbrechen der literarischen Vorlage ermöglicht die zeitliche und inhaltliche Kontingenzaufladung einzelner Sequenzen des „komplett synthetisierten“ Zusammenhangs. Diese Techniken sollten fortan Castorfs modus operandi prägen. Sie ist als Distinktionsmittel eine innerhalb des DDR-Theaterfeldes mögliche und, historisch und politisch gesehen, spezifische Produktionsform. Castorfs Praxis bestand deshalb eben nicht in der Aufkündigung der Solidarität mit der sozialistischen Kunstdoktrin. Der symbolische Widerstand gegen den sozialistischen Realismus konnte immer noch als ein dialektischer begriffen werden, und mit diesem Argument verteidigte Castorf auch seine Produktionsweise innerhalb des staatssozialistischen Rahmens.63 Dieckmanns Metapher der Zertrümmerung ist daher irreführend. Sie umgeht die strukturelle Kontinuität der theatergeschichtlichen

62 Dieckmann, Friedrich in: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks. S. 278 ff. 63 ... und heute gegen die Sanktionsinstanzen, die Werktreue verlangen. 189

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Konstante, die in der von Robin Detje treffend bezeichneten „Sehnsucht nach Entgrenzung und ihrer Rationalisierung“64 besteht. Diese Sehnsucht bezeichnet die utopistische Motivation aller Kunstproduktion. Es ist jene Konstante, die sich auch im Theaterfeld der DDR institutionell verstetigt und die Bühnen zu Orten „stabilisierter Spannung“ macht. Pierre Bourdieu bezeichnet in „Soziologie der symbolischen Formen“ das Verhältnis der Kulturproduzenten zu den Praktiken ihrer jeweiligen Vorgänger als wirklichkeitskonstituierend für ihre spätere Praxis: „Je nach seiner Stellung im kulturellen Feld ist jeder Intellektuelle dazu bestimmt, seine Aktivität diesem oder jenen Bereich des Feldes, Bestandteil der von den vergangenen Generationen überkommenen, von den Zeitgenossen revitalisierten, aufs neue interpretierten und anverwandelten Hinterlassenschaft zuzuwenden und ein mehr oder weniger lässiges, mühsames, ausgeglichenes oder eher dramatisches Verhältnis zu den Traditionsbeständen zu finden, die, mehr oder minder nebensächlich, mehr oder minder originell, diesem Teil des Feldes seine Gestalt verleihen.“65

„Ich gehe nicht in den Untergrund!“ ruft der Castorf der achtziger Jahre. Die Gründung einer eigenen Theatertruppe außerhalb der Staatstheater liegt ihm fern, lieber lässt er sich in die „Provinz“ schicken, um von dort aus sein symbolisches Kapital aufzubauen. Seine Orientierungsinstanzen wie Heiner Müller gehören zu den zwar umstrittenen, doch gerade deshalb relevantesten DDR-Kulturproduzenten. Castorfs Professionsethos bildete sich im Theaterfeld der DDR damit im Rahmen einer stabilisierten Spannung aus, die angesichts der Sollgeltung des historischen und gesellschaftlichen Auftrages mit einer Dauerreflexion verbunden ist, die auf das gesamte Theaterfeld einwirkte. Er bewegte sich in einem institutionalisierten Komplex der Veralltäglichung des siegreichen Utopismus. Sein modus operandi war zwar durch den symbolischen Grenzgang geprägt, doch dieser orientierte sich immer an offiziellen Sollgeltungen. Diese waren in der DDR der siebziger und achtziger Jahre zum einen durch einen starken nomos gelenkt, der jedoch zum anderen stets nach Anerkennung seitens der Künstler strebte und ihnen die Definitionsmacht der legitimen Kunst teilweise überließ. Das heißt, Castorfs sens pratique bildete sich zu DDR-Zeiten an einer symbolischen Verflechtung des offiziellen und inoffiziellen Kunstverständnisses im Staatssozialismus aus. Seine Orientierungsinstanz Heiner Müller hatte diesen Weg bereits vorgezeichnet. Castorf systematisiert seine Methode der „abweichenden Linienführung“ nur knapp drei Jahre 64 Detje, Robin: Castorf, S. 55. 65 Bourdieu, Pierre: Soziologie der symbolischen Formen, S. 107ff. 190

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vor dem Ende des Staatssozialismus – mit Erfolg. Die Kenntnis abweichender Techniken innerhalb eines Systems, in dem die Aushandlung an erster Stelle steht und das zugleich eine hohe politische Verantwortung vom Kunstproduzenten erwartet, verschaffte ihm den Status einer relativen Autonomie, der für DDR-Verhältnisse außergewöhnlich war. Er war damit bestens auf den Ausnahmezustand der Wende eingestellt. Die symbolische Verarbeitung der Brüche innerhalb der kulturellen Struktur der DDR konnte auch den Schock des zusätzlichen Bruches mit der sozialen Struktur – die Anomie – in ein konstitutives Merkmal der eigenen ästhetischen Praxis verwandeln. Die „abweichende Linienführung“ war damit bestens kompatibel mit dem marktwirtschaftlichen Professionsethos. Auf der konkreten Ebene der Inszenierung bedarf die „abweichende Linienführung“ eines szenographischen Settings, das die symbolischen Grenzgänge mit-erzeugt und sie zugleich praktizierbar macht. Der Bühnenbildner Hartmut Meyer, mit dem Frank Castorf seit Mitte der achtziger Jahre zusammen arbeitete, erläutert die Bedeutung der szenographischen Anordnung für Castorfs Inszenierungspraxis: „Wenn man eine Welt schafft, einen Bühnenraum macht, der die Rahmenbedingungen für das, was da passieren soll, abgeben kann, ist das erst mal was ganz Eigenständiges, etwas, was einen Gegendruck erzeugt. Castorf spricht auch oft davon, daß ihn etwas in einer bestimmten Art und Weise reizen muß; daß er erst mal gegen etwas stößt, daß ihm fast unangenehm ist, aber wo er sieht, daß räumliche Dinge aufgelöst sind. Die Originalität eines Raumes, und das ist sehr wichtig, der vielleicht aus dem Original des Theaterraumes kommt. Der Bühnenraum selber – fast ein eigenes Individuum.“66

Bert Neumann, der spätere Chefszenograph der Volksbühne, hat sich ebenfalls und auf seine Weise zum Spezialisten für die Erzeugung eines solchen räumlichen Gegendrucks gemacht.

4.2.2 Autonome Raumkontrolle: Bert Neumann Die Grenzgänge des Bühnenbildners unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von denen des Regisseurs. Das hängt nicht nur mir den unterschiedlichen Aufgabenstellungen zusammen. Schon die Ausbildung zum Szenographen findet nicht am Theaterwissenschaftlichen Institut, sondern an der Kunsthochschule statt. In der DDR wurde die solide Grund66 Meyer, Hartmut in: „Gegendruck erzeugen. Peter Ullrich und Siegfried Wilzopolski im Gespräch mit dem Bühnenbildner Hartmut Meyer (30. April 1992).“ In: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 320. 191

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ausbildung an der Kunsthochschule durch ein knapp einjähriges Praktikum an einem Theater ergänzt. Der Bühnenbildner befand sich damit an der Nahtstelle zwischen den Feldern der bildenden Kunst und des Theaters. Seine Produktionsstrategien waren gegenüber denen des Theaterregisseurs in einer vorteilhafteren Ausgangslage, denn er konnte auf beiden Gebieten sein Glück versuchen. Dies ist innerhalb des Spannungsgefüges, das insbesondere in den achtziger Jahren eine Ausdifferenzierung des Feldes der Kulturproduktion der DDR hervorbringt, von besonderer Bedeutung. Das Lehrprogramm an der Ostberliner Kunsthochschule Weißensee (KHB) zeichnete sich durch ein breites Fachangebot aus. Es umfasste neben dem Studium im Hauptfach die Vermittlung von Grundkenntnissen in: Dramaturgie, Schauspiel- und Opernregie, Kostümgestaltung, Schnittkonstruktion, Maskengestaltung, Technisches Zeichnen, Bühnenbau, Theatertechnik, Beleuchtungstechnik, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Ästhetik. Zentrales Kompetenzkriterium war die Handwerklichkeit, wie Gunter Eisermann, schon zu DDR-Zeiten Assistent für Bühnenbild, unterstreicht: „Handwerk war immer Maßstab. Nicht im Sinne von Kunsthandwerk, dass jemand besonders artifiziell Dinge hinkriegt, die aber weitgehend sinnfrei sind, sondern die Überzeugung war da, wenn man gedanklich Größeres vorhat, im Sinne von Kunst, wird das alleine nicht weiterhelfen. Wenn man nicht über die nötige Handwerklichkeit verfügt, das auch zu materialisieren, was man vorhat, egal, was es ist, dann ist das Ganze nichts. Das, was heute eher den Schwerpunkt bildet, nämlich die Idee, das Konzept etc., das gab es damals natürlich auch, es ist nur so, dass dazu nicht nur die Geistesleistung gehörte, sondern auch das Vermögen, es selber herzustellen. Man kann in diesem Beruf nicht mit Dilettantismus bestehen.“67

Selbst wenn die handwerkliche Kompetenz möglicherweise eine Größe darstellt, die für das Professionsethos jedes Bühnenbildners wichtig ist, so war sie in der DDR doch durch die herausgehobene Anerkennung grundiert, die der handwerklichen Arbeit und dem Arbeiter überhaupt zugesprochen wurde. Schließlich war der Arbeiter nicht nur das herausgehobene ästhetische Sujet – und das noch bis weit in die achtziger Jahre hinein – sondern auch offizielle Zielgruppe im avantgardistischen Projekt der Popularisierung der Künste. Der „Bitterfelder Weg“ Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre, in dem man die wechselseitige Zusammenarbeit von Künstlern, Schriftstellern und Arbeitern erprobt hatte, war nur ein Beispiel, wie Paul Kaiser erläutert: „Die Tatsache, daß aus den 67 Im Gespräch mit mir am 8.11.2005. 192

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‚Volkskunstschaffenden‘ letztendlich keine Konkurrenten der Berufskünstler erwuchsen, täuscht indes nicht über den Versuch hinweg, die Künstlerschaft permanent an ihre Trägerklasse rückzubinden.“68 Die offizielle bildende Kunst blieb wichtigstes Sprachrohr des „Arbeiter- und Bauernstaates“ – auch wenn der „heroische Arbeiter“ im Zuge der siebziger und achtziger Jahre zum ins Bild gesetzten Zeugen seiner eigenen Veralltäglichung wurde. Gemälde von Werktätigen, die, bei einem Feierabendbier allein zu Haus, eher erschöpft als optimistisch auf den Betrachter blicken, erweitern die Palette der Brigadethemen.69 Mit dem Ziel, die Maler langfristig an die staatlichen Einrichtungen zu binden, erteilten die Kulturinstanzen Aufträge an die Kunsthochschulen. Doch der zunehmende Unwille, gestalterischen Vorgaben entsprechen zu müssen, die Möglichkeit des „Handschlagvertrages“ und die Etablierung eines relativ lukrativen Parallelmarktes, der vielen Künstlern den Status der Selbständigkeit verlieh, ließ diese institutionellen Anbindungsversuche in der späten DDR zunehmend ins Leere laufen. Gleichwohl blieben sie in den Bildungsinstitutionen symbolisch wirksam in dem Sinne, als dass die damit verbundenen Leitideen – die gesellschaftliche Einbindung der Künstler, die Popularisierung der Künste und die Achtung vor dem Handwerk – ihre zentrale Bedeutung beibehielten. Das hohe handwerkliche Niveau blieb eines der Hauptkriterien für die Aufnahme an der Hochschule und für den beruflichen Erfolg. Der berufliche Erfolg aber war ein permanenter Grenzgang zwischen den staatlich gesetzten Erfüllungszwängen und den sich daran brechenden Autonomiebestrebungen der Künstler. Die Künstler entwickelten sich zu Spezialisten dieses Grenzganges. Die Multipolarität von offiziell anerkannten und inoffiziell geduldeten Praxisformen produzierte organisatorische und ästhetische Freiräume. Sie stellten eine Feldstruktur, die prinzipiell auf hierarchische Erfüllungszwänge ausgerichtet war, zunehmend auf die Probe. Wo die individuelle Handlungsorientierung sich immer weniger auf ethisch-politische Erfüllungszwänge, sondern auf Differenzproduktion konzentriert, tritt die Eigengeltung des gesellschaftlichen Auftrags in den Hintergrund – und das selbst dann, wenn dieser Auftrag als symbolische Rahmung fortbesteht. Bert Neumann wird 1960 in Magdeburg geboren und wächst in Ostberlin auf. Sein Vater ist Architekt, seine Mutter Möbeldesignerin. Da liegt es nahe, dem Sohn das Studium des Bühnenbildners vorzuschlagen. Er fand das „eine gute Idee“, wie er später sagt.70 1980 beginnt Neu68 Kaiser, Paul: „Die Aura der Schmelzer“, S. 242. 69 Vgl. Kaiser, Paul: „Die Aura der Schmelzer“. 70 Vgl.: Mustroph, Tom: „Neumanns Stadt“ Zitty Berlin 21/02 Oktober 2002. 193

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mann seine Ausbildung zum Szenographen an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Er studiert in eben der Phase, in der das Spannungsverhältnis zwischen den immer wieder auf Teilautonomie beharrenden Künstlern und dem Staat als Förderer und Lenker des vorgezeichneten Lebensweges zu einem Machtzuwachs auf Seiten der Künstler führt: „Die Herrschenden wußten eben, daß sie es mit einer Gruppe zu tun haben, deren seit der Renaissance erwachsene Selbstbilder und Autonomieansprüche, deren genialische Professionsideologien und zum Rollenmerkmal gewordener Eigensinn auch im Sozialismus nicht auflösbar waren,“ bemerkt Rehberg.71 An der Berliner Kunsthochschule Weißensee (im Folgenden KHB) beharren gleichwohl nicht nur viele Studenten, sondern auch weite Teile der Leitungsebene offenbar recht selbstbewusst auf ihrem „Eigensinn“. Die Haltung der Lehrenden zum sozialistischen Realismus war hier ohnehin noch nie sehr gefestigt, wie schon der entsetzte Bericht einer Arbeitsgruppe von 1963 zeigt: „In der Abteilung Malerei werden einander widersprechende Kunstauffassungen gelehrt, die die Studenten verwirren müssen. Eine einheitliche Konzeption des sozialistischen Realismus, die sie begeistert und an die interessanten Probleme unseres Lebens heranführt, wurde bisher von den Lehrkräften nicht erarbeitet [...], und das, obwohl unter ihnen mit den Genossen Womacka und Brendel zwei junge Künstler tätig sind, die sich in ihrem eigenen Schaffen erfolgreich um die realistische Gestaltung des neuen Lebens bemühen. [...] Genosse Professor Robbel steht selbst nicht auf der Position des sozialistischen Realismus. Er glaubt, realistisch zu sein, weil seine Malerei gegenständlich ist. Sie ist jedoch mit modernistischen Formauffassungen belastet und geht an der Hauptaufgabe unserer Kunst, die neuen Beziehungen der Menschen zum Leben zu gestalten, weitgehend vorbei.“72

Manch Lehrender scheint gar von den Praktiken der inoffiziellen Kunst angetan zu sein: „Ja, es gibt Erscheinungen, daß einige Lehrkräfte in der Schule ‚Realismus‘ lehren, aber privat zuhause abstrakt malen oder abstrakte Bilder besitzen und anpreisen (so der Dozent Behrens-Hangeler).“73

71 Rehberg, Karl-Siegbert: „Vom ‚Kulturfeudalismus’ zum ‚Marktchaos’?“, S. 261. 72 Bericht der Arbeitsgruppe über die Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee/ 1963. Zitiert nach: Semrau, Jens (Hg.): Was ist dann Kunst? Die Kunsthochschule Weißensee 1946-1989 in Zeitzeugengesprächen, S. 329. 73 Ebd., S.330. 194

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Spuren der Behauptung einer Eigengeltung der Lehrenden gegenüber den offiziellen Vorgaben durchziehen die gesamte Geschichte der Kunsthochschule. Im Sommer 1980 geht in der KHB ein Schreiben des staatlichen Leiters der Abteilung Wissenschaft ein. Demnach hält das Kulturministerium es für „notwendig, [einen] Überblick über alle in der DDR existierenden Formen der Aus- und Weiterbildung zu Fragen der marxistisch-leninistischen Ästhetik, der Kulturtheorie und der Kulturpolitik an den Hoch- und Fachschulen, in den Parteien und Organisationen zu erarbeiten.“74 Das Prorektorat für Gesellschaftswissenschaften der KHB schickt zwei Monate später einen Bericht und fügt hinzu: „Wir möchten jedoch darauf hinweisen, daß an unserer Hochschule nicht Kulturfunktionäre, sondern Künstler der Fachrichtungen Architektur, Formgestaltung, Grafik, Mode- und Textilgestaltung, Malerei, Keramik und Szenographie ausgebildet werden.“75 Ein deutlicher Hinweis auf den Wunsch nach institutioneller Unabhängigkeit, der sich als Feinabstufung zu den geisteswissenschaftlichen Studiengängen interpretieren lässt. Diese bereiten nämlich tatsächlich auf spätere politische Funktionen vor, wenn auch nicht ausschließlich. Doch offiziell verlangt der hochgeschätzte Künstlerstatus die von der Partei ängstlich überwachte politische Verlässlichkeit. So heißt es im Studienplan Kunstwissenschaft dieser Jahre: „Das Ziel der Erziehung und Ausbildung ist ein Absolvent, – der eine hohe marxistisch-leninistische Bildung und einen festen sozialistischen Klassenstandpunkt besitzt; – dessen Denken und Handeln von sozialistischem Patriotismus, vom proletarischen Internationalismus und von einer tiefen Freundschaft zur Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern durchdrungen ist und der die Beiträge aller Völker zum humanistischen Erbe der Menschheit und besonders zur Herausbildung einer sozialistisch-kommunistischen Weltkunst achtet und verbreiten hilft; – der sich in seiner Tätigkeit stets von den Beschlüssen der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung und den sich daraus ergebenden Anforderungen der sozialistischen Praxis und der internationalen Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus leiten läßt [...].“76

Im Gründungsdokument für die Sektion Szenographie wird unterstrichen, dass ein fester Klassenstandpunkt von herausragender Bedeutung ist, da die „Künstler und Gestalter in den Berufen mit Tätigkeitsberei-

74 Landesarchiv Berlin: C Rep711 D 29. 75 Landesarchiv Berlin: C Rep711 D 29. Kursiv von mir. 76 Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin: KUWI 4086. 195

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chen, für die wir ausbilden, [...] ständig auf Millionen Menschen ein[wirken].“77 Die marxistisch-leninistische Grundausbildung und ihre Anwendung auf das Feld der Kunstproduktion gehören wie in allen anderen Studiengängen auch zum Ausbildungskanon. Die Disziplinen der theoretischen Abschlussprüfungen an der KHB umfassen die Fächer Politische Ökonomie, Russisch, Englisch, Philosophie, Wissenschaft und Kommunikation, Ästhetik sowie Kunstgeschichte und Kulturtheorie. Es werden Vorlesungen mit den Themen „Der Marxismus-Leninismus und der revolutionäre Weltprozeß der Gegenwart“, sowie „Probleme der Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens der Gegenwart“ abgehalten. Gunter Eisermann, der die Kunsthochschule Weißensee seit 1974 kennt, berichtet, dass mangelndes politisches Sendungsbewusstsein der Ausbilder zwar ihren beruflichen Aufstieg gefährden konnte. Andererseits kam es nicht mehr zwangsläufig zum offenen Eklat mit den Studenten: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ideologische Dinge im Sinne von Staat und Partei in der Ausbildung im Fachbereich Szenographie eine Rolle gespielt hätten. Eben das hat dazu geführt, dass der Fachgebietsleiter erst 1986 oder 1987 Professor wurde. Er hat seit 1976 die Fachrichtung geleitet, war SEDMitglied, aber er hat diese Dinge aus der Ausbildung herausgehalten und ist dann durch die Strukturen im Hause mehr oder weniger sanft darauf hingewiesen worden, sich da zu profilieren. Er hat das unterlassen. Das führte dazu, dass er nicht befördert wurde. Zu Zeiten, als es längst üblich war, neue Professoren direkt in das Professorenamt an das Haus zu berufen, da war er immer noch Dozent, dem Dienstgrad nach.“78

Die politische Eignung schien nach Meinung Eisermanns in den siebziger und achtziger Jahren eher zweitrangig für die Chance, einen der nur 5 Studienplätze im Jahr zu bekommen: „Auf das Fachgebiet Szenographie bezogen war Weißensee in dieser Beziehung moderat. Als ich hier studiert habe, habe ich keine direkt auf mich wirkende Einflussnahme verspürt. Jedenfalls nicht über das hinausgehend, sondern eher weniger, als das, was ich vorher aus der Schule kannte. Ich hatte, als ich hier studiert habe, in den Siebzigern, sehr schnell raus, mit welchen Lehrern man vergleichsweise offen reden kann und mit welchen nicht. Das waren die Dinge, die man natürlich erst einmal lernen musste. Wenn man sich dann entsprechend seinen Kenntnissen verhalten hat, war das eigentlich eine relativ

77 Landesarchiv Berlin: CRep711 D9. 78 Im Gespräch mit mir am 8.11.2005. 196

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entspannte Sache. Nur Grenzüberschreitungen, die provokativ wahrgenommen wurden, die waren etwas schwierig. Man weiß ja in der Regel selber, wann man sich provokativ verhält und dann weiß man auch, was das für Folgen haben kann. Und dann wägt man ab, ob es das wert ist oder nicht.“79

An der Kunsthochschule Weißensee spiegelt sich dieses Spannungsverhältnis in den wiederholten Klagen der Gesellschaftswissenschaftler über den Mangel an politischer Festigkeit ihrer Studenten, die mit teleologischen Fortschrittsbekundungen alternieren. Im Studienjahr 1982 heißt es im Arbeitsprogramm des Bereichs Gesellschaftswissenschaften unter der Rubrik „Maßnahmen zur Erhöhung der Qualität und weltanschaulichen Wirksamkeit des Studiums und der kommunistischen Erziehung“: „Dabei ist für die Bedeutung des künstlerischen Schaffens herauszuarbeiten, daß [der Student, T.B.] für den Sozialismus und den antiimperialistischen Kampf, für den Kampf um die Sicherung des Friedens und das erfolgreiche Voranschreiten des realen Sozialismus in der DDR Partei ergreift und in der gestalterischen Arbeit ökonomisch und ästhetisch wirkungsvolle Lösungen erreicht.“80

Man erwartet „höhere Maßstäbe an die bewußte Disziplin und schöpferische Eigenaktivität der Studenten, an Fleiß, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. [...] Diese Realisierung von Normen kommunistischer Moral ist eine Kernfrage zur Erhöhung des Leistungsvermögens der Studenten und des Niveaus im gesellschaftswissenschaftlichen und künstlerischen Studium.“81 Hier schimmern noch Ulbrichts zehn Grundsätze der sozialistischen Ethik und Moral von 1959 durch. Auch in den Studienjahresanalysen der KHB sind die Bemühungen, die Studenten zu einer gefestigten sozialistischen Grundhaltung zu bewegen, deutlich. Diese Haltung wird mit einem idealistischen Selbstverständnis verknüpft: „Im allgemeinen stellen die Studenten an sich hohe künstlerische und zugleich gesellschaftliche Anforderungen. Die Hinwendung zum gesellschaftlichen Auftraggeber, das Bedürfnis, Nützliches zu liefern, gebraucht und anerkannt zu werden, ist gut entwickelt.“82 Doch im Unterschied zu den siebziger Jahren staunen die Lehrenden über die mangelnde Beteiligung an Streitgesprächen und die eher „emotionale als analytische Reaktion“ auf das politische Tagesgesche79 80 81 82

Im Gespräch mit mir am 8.11.2005. Landesarchiv Berlin: C Rep711 O15. Landesarchiv Berlin: C Rep711 O15. Kursiv von mir. Landesarchiv Berlin: C Rep711 D28. 197

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hen wie den Nato-Doppelbeschluss und das atomare Bedrohungsszenario. Als besonders emotional unterlegte Bereiche werden „Reisemöglichkeiten in sozialistische und kapitalistische Länder,“ sowie die „Ausstellungs-, Auszeichnungs-, und d[ie] Auftragspolitik im Bereich der Kultur“83 benannt. Es wird eine „Resignation bezüglich des Voranschreitens des revolutionären Weltprozesses“ konstatiert.84 Hier ist eine Entwicklung spürbar, die sich deutlich von Frank Castorfs Studienzeit unterscheidet. Sie spricht für die Tendenz der Abwendung und des Entzugs, die Neumanns Generation prägen wird. Hier wird keine Hoffnung mehr in die ritualisierte Kritik der Verhältnisse gesetzt. Für viele Studenten dieser Zeit ergibt sich aus der institutionellen und geistigen Stagnation die Notwendigkeit, sich auf die Suche nach Produktionsfeldern außerhalb der staatlichen Einrichtungen zu begeben. Die Abweichung wird zunehmend systematisiert und nimmt Züge der Verselbständigung an, die die Kunstproduktion als unabhängiges Gebiet verstanden wissen wollen. Die „dritte Figur“ einer „sozialistischen Bohème“, bildet sich vorsichtig heraus, ohne institutionellen Charakter anzunehmen. Sie bleibt weitgehend fragmentarisch. Die Genossen Szenographen, die in den achtziger Jahren an der KHB lehren und studieren, wollen sich im Zweifelsfall nicht als Auftragsarbeiter, sondern als Künstler verstanden wissen. Die Handwerklichkeit gehört immer zum beruflichen Ethos, das sich mit ihrer Positionierung innerhalb der Theater deckt – hier werden sie mitunter auch eher als Handwerker denn als Künstler betrachtet. Bert Neumann, der vor seinem Studium bereits als Bühnentechniker an der Berliner Volksbühne gearbeitet hatte, gehörte offenbar zu den Studenten, deren Talent früh sichtbar wurde, wie Eisermann sich erinnert: „Bert Neumann hat, während er hier studiert hat, Dinge gemacht, die nicht üblich waren. Er gehörte zu denen, die die Grenzsteine immer ein bisschen weiter hinausgesetzt haben. Einfach durch seine Arbeitsweise. Man konnte im Prinzip sagen, was man wollte. Worte, die waren flüchtig, wenn es nicht gerade jemand mitgeschrieben oder aufgezeichnet hat, waren die dann irgendwann wieder weg. Das, was blieb waren Blätter, Arbeiten. Künstlerische Arbeiten waren diskussionswürdig, weil sie da waren, das konnten sich verschiedene Leute anschauen und sich ihre Meinung dazu bilden und dann konnte man drüber reden. Es war so, und ist auch heute noch so, dass hier im Fachgebiet jeweils zum Semester-Ende Präsentationen stattfinden, wo man seine Entwürfe zu Bühnenbildern zeigt. Da war unter anderem Bert Neumann einer, der einfach formal herausragte. Ich will nicht unbedingt sagen, dass das immer 83 Landesarchiv Berlin: C Rep711 D28. 84 Landesarchiv Berlin: CRep711 D28. 198

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besser war. Es war so, dass damit ein Alleinstellungsmerkmal sichtbar wurde. Eine Art und Weise, zu zeichnen und mit Farbe umzugehen, die sich von dem Üblichen abhob. Das konnten auch Leute erkennen, die nicht unbedingt mit dem Fach etwas zu tun hatten.“85

Eisermanns Zeugnis spricht für Neumanns frühe Aneignung einer relativen künstlerischen Autonomie. Diese relative Autonomie wird auch seine späteren beruflichen Entscheidungen prägen. Sie ist durch die zeitgenössische Fragmentarisierung der staatssozialistischen Kunstproduktion gerahmt und durch eine Zunahme an Techniken, die sich dem Prinzip der Aushandlung zwar nicht vollständig verschließen, sich ihm jedoch entziehen. Für das einjährige Praktikum an einem Theater wird als wichtiges Ausbildungsziel die arbeitsorganisatorische „Partnerschaft zwischen Künstler und Techniker“ hervorgehoben.86 Der Titel der Vorlesung „Erkenntnisse und Probleme bei der Entwicklung und Nutzung von Wissenschaft und Technik für eine höhere Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualität der Produktion“ verdeutlicht, woran sich der erweiternde Gestaltungswille des späteren Szenographen Neumann ausbilden konnte: in einem deutlich gebrauchsorientierten künstlerischen Berufsethos. Hier finden sich erste Überschneidungen mit der auch von Frank Castorf geschätzten Produktionskunst, als deren Vorbild die russische Kunstlinke galt. Wie Castorfs Erfahrungen zeigten, ist das Spiel mit dem sozialistischen Realismus an den Theatern der DDR der achtziger Jahre allerdings nur schwer durchsetzbar. Das gilt nicht nur für die Inszenierung, sondern auch für das Bühnenbild. So wird in einem Papier über die Absolventeinsätze der Kunsthochschulen Berlin und Dresden (1983) von der Ablehnung junger Szenographen berichtet. Eine Reihe von Bühnen- und Kostümbildnern erhalten Absagen seitens der Theaterkader, weil ihre Arbeiten „als schwer entschlüsselbare Collage[n] von Zeiten und Stilen aufgefaßt“ werden.87 Die Collage als Hinweis auf das Montageprinzip reproduziert keine synthetisierten Selbstverständlichkeiten, sondern stellt sie in Frage. Deshalb gelten diese Produktionsformen aus Sicht der DDR-Kulturinstanzen – auch noch in der Ära „Weite und Vielfalt“ – als illegitime Kunst. Heißt das, dass anhand der Frage „Collage/Montage oder Realismus“ seitens der Absolventen ein „genialischer“ Distinktionskampf geführt wurde? Ein Blick auf die profanen Alltagsdaten genügt, um diese Vermutung weitgehend auszuschließen. Denn wer einen der wenigen Studienplätze an der Hochschule ergattern 85 Im Gespräch mit mir am 8.11.2005. 86 Landesarchiv Berlin: C Rep711 O15. 87 Landesarchiv Berlin: C Rep711 B17. 199

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konnte, dem war der Berufseinstieg nicht nur sicher, sondern vorgezeichnet. So kam es zur Zusammenarbeit zwischen Frank Castorf und seinem Bühnebildner Hartmut Meyer in Anklam, wie Wilzopolski berichtet: „Ich weiß, dass Hartmut Meyer, der auch in Weißensee studiert hatte, zum Fernsehen sollte. Er wollte aber nicht. Er sagte, nee, das mache ich nicht. Und dann haben sie ihm gesagt, gut, wenn du das nicht machst, dann gehst du in die finsterste Provinz und das Schlimmste, was wir uns vorstellen können, ist Anklam. So kam er mit Castorf zusammen.“88 Es gab also zunächst keine Möglichkeit, sich selbst eine Arbeit zu suchen. Schon in der Endphase des Studiums lud das Ministerium für Kultur Vertreter verschiedener Bühnen aus der Republik ein, um die Absolventen vorsprechen zu lassen und ihre Arbeiten zu begutachten. Eine Kommission entschied daraufhin, welche Absolventen nach dem Diplom an welche Theater gehen sollten. Dies waren zumeist Theater in der „Provinz“, also außerhalb Berlins, was für die Absolventen wenig attraktiv war. So wurden Strategien entwickelt, die dazu dienten, dieser Lenkung zu entkommen. Eine dieser Strategien, die häufig von den Theaterkollegen unterstützt wurde, bestand darin, seine Produktionspraxis so unmöglich erscheinen zu lassen, dass sie nach den Maßstäben des sozialistischen Realismus nicht tragbar schien. Dies war die einzige Möglichkeit, eine Kündigung zu erreichen und damit den Status des freiberuflichen Künstlers zu erlangen. Dieses Beispiel verdeutlicht den Charakter der Handlungsspielräume, innerhalb derer sich offizielle und inoffizielle Praktiken ergänzten. Es wirft ein Licht auf die Schwelle, die zwischen den offiziellen Motivbildungen und den darunter liegenden, nicht weniger wirkmächtigen Gegenstrategien liegt. Es spricht auch dafür, dass die Collagepraxis einerseits zum Signum verfemter Kunst wurde, das gleichwohl nicht zwangsläufig den Grad der offenen Provokation erreichte, so dass man die Desertion von der Zwangsrekrutierung offenbar riskieren konnte. Dies deckt sich auch mit der These, dass der freiberufliche künstlerische Markt in den achtziger Jahren bereits eine attraktive Alternative zu den institutionellen Arbeitsmöglichkeiten bot. Bert Neumann beschreibt rückblickend seine Reaktion auf diese Bedingungen: „Es gibt bestimmte Situationen oder Ideen, mit denen man nicht so viel zu tun haben will, weil man da nicht hin will, dann ergibt sich daraus automatisch ein Weg, den man geht. Als ich Mitte der achtziger Jahre direkt nach dem Studium am Stadttheater Potsdam anfing zu arbeiten, habe ich gemerkt, dass das

88 Im Gespräch mit mir am 21.1.2006. 200

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überhaupt nicht das war, was mich interessierte. Ich habe dann damit aufgehört, habe mit meiner Frau zusammen Klamotten genäht und verkauft, Überlebensstrategien im real existierenden Sozialismus praktiziert und die Freiräume, die da waren, auszuloten versucht. Wir haben damals auch außerhalb des Stadttheaters gesucht, in anderen Kontexten: Installationen, Raum, etc.“89

Neumanns szenographische Suche nach autonomer Raumkontrolle war durch eine allgemeine Tendenz zur Dezentralisierung und Entpolitisierung der Produktionsbedingungen begleitet, die schon fast ein Jahrzehnt vor seiner Ausbildung eingesetzt hatte. Ein Blick auf die gemeinsam verabschiedete Konzeption vom Ministerium für Kultur und dem Verband der Bildenden Künstler für den Zeitraum 1976 bis 1980 zeigt, wie groß die Bereitschaft von Staat und Partei inzwischen war, den Künstlern sowohl ästhetische als auch arbeitsorganisatorische Freiräume zuzugestehen. Dort heißt es: „Das vom gegenseitigen Vertrauen und wechselseitig hohem geistigen Anspruch getragene Zusammenwirken zwischen Künstler und Auftraggeber soll allen schöpferischen individuellen künstlerischen Äußerungen Existenz und Verbreitung sichern und den zunehmenden persönlichen Bedürfnissen nach künstlerischen und ästhetischen Genuß entsprechen. Die Förderung gestalterischer Möglichkeiten des sozialistischen Realismus verbinden wir mit dem Verständnis, der Geduld und Risikobereitschaft gegenüber Schwierigkeiten und möglichen Irrtümern auf dem Wege künstlerischer Entdeckungen.“90

In einem Klima, in dem der gesellschaftliche Auftraggeber ideologisch zunehmend ermattete,91 verstärkten sich die Konsensbestrebungen der staatlichen Sanktionsinstanzen gegenüber den Künstlern. Eisermann erläutert diese relativ priveligierte Lage: „Das ist aus heutiger Sicht eine sehr luxuriöse Sache. Man musste eigentlich wirklich nur aufpassen, dass die Leistung stimmt. Wenn das nicht gegeben war, konnte man nicht unbedingt mit Wohlwollen rechnen. Denn bei allen ideologischen Dingen, die häufig in den Vordergrund getreten sind, war es doch so,

89 Neumann, Bert in: Richter, Angela: Bühnenstrahlen. Texte zur Kunst Nr. 56. Dezember 2004. 90 In: SadK, VBK-Archiv, ZV, o.A. Langfristige Konzeption des MfK und des VBK-DDR für die Weiterentwicklung und Förderung der bildenden und angewandten Kunst 1976/ 1980, internes Arbeitsmaterial, 11. Zitiert nach Kaiser, Paul: Die Grenzen der Verständigung. Künstlerstrategien und individuelle Handlungsräume im staatlichen Auftragswesen der DDR, S. 466. 91 Diese Redewendung habe ich von Paul Kaiser übernommen. Vgl. ders.: Die Grenzen der Verständigung, S. 466. 201

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dass Partei und Staat ein Interesse daran hatten, dass die Arbeit qualitativ hochwertig erledigt wurde.“92 Im ereignisreichen Jahr 1989 wird der politischen Führung klar, dass ihre verzweifelte Sehnsucht nach Zustimmung und die konsensuale Beziehung zu „ihren“ Künstlern einen Riss verzeichnet, der nicht mehr zu kitten ist. Günther Schabowski bezeichnet die Berliner Kunsthochschule Weißensee, an der so renommierte Mitglieder des Künstlerverbandes wie Walter Womacka einst studiert hatten, nunmehr als „Hort der Konterrevolution“93. In etwas abgemildeterer Form wird dieses Bild auch aus postsozialistischer Perspektive bestätigt. So heißt es im Vorwort von „Was ist dann Kunst? Die Kunsthochschule Weißensee 1946-1989 in Zeitzeugengesprächen.“: „Die Hochschule in Weißensee war nie ein akademischer Ort, wo ein ungebrochener Kunstbegriff vermittelt worden wäre. Intentionen dazu gab es natürlich immer. Sie wirkten sich – aus inneren, künstlerischen und äußeren, gesellschaftlichen Gründen – aber nie widerspruchslos und gradlinig aus. Der individuelle Künstleranspruch der Lehrkräfte und der studentischen Jugend brach sich – in zeitenweise unterschiedlichem Maße – an den kulturpolitischen Verhältnissen der DDR.“ 94

Das Maß an Autonomie, das der Hochschule hier zugesprochen wird, ist mit Blick auf die Bedeutung der Akademisierung des Kunstwesens der DDR von Bedeutung. Doch ist es aus soziologischer Perspektive kritisch zu betrachten. Die bloße Übernahme von (Selbst-)Zuschreibungen verkennt die Virulenz der Regeln der Kunst, die natürlich auch im Staatssozialismus und mehr noch im Rückblick auf sein Scheitern immer wieder aufs neue aktualisiert werden: das Streben nach und der Glaube an die eigene Autonomie, die die Bedingungen ihrer Daseinsform verkennt und zur interesselosen “Eigenschaft“ macht. Dies hat sich insbesondere in den hitzigen Nach-Wende-Diskussionen gezeigt, in denen nicht wenige Künstler sich im Nachhinein als verkappte „Widerständler“ präsentierten. Das mag ein für politische Umbruchsituationen typisches Phänomen sein, das auch auf die anfängliche Entwertung der Kulturproduktion der DDR zurückzuführen ist. Dieses Phänomen erschwert allerdings den nüchternen Blick auf die tatsächlichen Spannungen. Denn die unterstellte Autonomie einer staatlichen Institution ist nur unter dem Gesichtspunkt ihrer organisatorischen, materiellen und ideologischen Gebundenheit auf der einen Seite und einer sich damit brechenden Fortführung 92 Im Gespräch mit mir am 26.11.2005. 93 So berichtete mir Gunther Eisermann im Gespräch am 26.11.2005. 94 Semrau, Jens (Hg.): Was ist dann Kunst? S. 7. 202

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symbolischer Machtzuschreibung, die den Künstlerstatus in der DDR in eine Ausnahmerolle brachte, zu fassen. In diesem feldbedingten immanenten Raum liegt die potentielle, die mögliche Leerstelle, auf der Grenzgänge und die damit verbundene Neubestimmung von Grenzen überhaupt denk- und umsetzbar sind. Bert Neumann füllte diese Leerstelle auf seine Weise. Er nimmt zwar nach seinem Studium 1986 eine Stelle als Bühnenbildner an, ist aber sehr schnell unzufrieden mit der nach eigener Aussage „langweiligen Abbildungskunst, die da erwartet wurde“. Er löst nach einem knappen Jahr seinen Vertrag mit dem Potsdamer Hans-Otto-Theater und widmet sich als freiberuflicher Künstler vor allem der Gebrauchsgrafik und der Bekleidungs-, insbesondere der T-Shirt-Produktion. Die Gebrauchsgrafik gehörte zu seiner Ausbildung. Wie viele andere Berliner Künstler dieser Zeit verkauft Neumann seine Produkte am Berliner Ostbahnhof und verfügt damit über eine recht einträgliche Einkommensquelle. Die Abwendung von der Auftragskunst im Theaterfeld durch die relativ freie Bebilderung von T-Shirts macht Neumann zum Spezialisten für ästhetische Distinktion. Zugleich findet er eine produktive und ökonomische Nische, in der er weitgehend unabhängig – und ökonomisch einigermaßen abgesichert – seinen Stil weiterentwickeln kann. Zusammen mit seiner Frau Lenore Blievernicht schneidert er u.a. aus Funktionsstoffen für Arbeitskleidung Mode. Er beschreibt seine Vorbereitungen für eine Modenschau in der Berliner Galerie „Weißer Elephant“ im Rückblick: „Der Stoff für unsere Modelle wurde normalerweise für Arbeitshemden benutzt, war also bekannt und ideologisch besetzt. Genau jene Sorte Stoff, die mich interessierte: Viskose, was ja kein schlechtes Material ist, und gemustert wie ein von Majakowski entworfenes Bonbonpapier. Die russischen Konstruktivisten haben ja auch in den angewandten Kunstbereichen gearbeitet, und während die Künstler längst in den Lagern verschwanden oder umkamen, haben ihre Entwürfe, geschützt durch den Gebrauchswert, die Zeit überdauert. Eine Frauenbrigade aus dem VEB VOWETEX, Werk III in Werda im Vogtland hat mir dann viele Ballen Stoff geschenkt.“95

Mit der ideologischen Aufladung des Gebrauchswerts von Materialien hatte sich auch das Konzept der „Kritik durch Affirmation“ von Künstlern der UdSSR wie Wladimir Sorokin bis in das Berlin der VorWendezeit unter den „autonomen“ Künstlern zum Stilmittel etabliert: Auf einem Foto zur selbigen Modenschau aus dem Jahre 1989 posiert Blievernicht in einem Berliner Hinterhof in einem Zweiteiler: Oben ein 95 Neumann, Bert in: Hurtzig, Hanna (Hg.): Imitation of life, S. 192. 203

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handgemaltes Shirt, unten ein Minirock aus der DDR-Fahne. Dazu trägt sie eine strenge Funktionärinnen-Hornbrille. Die Strategie des Entzugs von den staatlichen Institutionen bei gleichzeitiger hoher Eigeninitiative und das Spiel mit den offiziellen Bildern ist typisch für bestimmte künstlerische Gruppen der späten DDR. Rehberg bezeichnet sie als „junge Autonome“: „Hier wurden Eigenwelten entworfen, die zuweilen mit einer verächtlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚Realitätsprinzip‘ verbunden waren. Heute führt das zu einer entsprechenden Distanziertheit gegenüber den neuen Verhältnissen, also wiederum zu einer Spannung, die – bei oftmals konzentriertem Können – als Kritikpotential, als nicht leicht vereinbar gelten kann. [...] Solche Alternativ-Existenzen mögen – auch nach 1989 – Potentiale kritischer Distanz zu den Gegebenheiten mit einer lange eingeübten Unvereinnahmbarkeit verbinden.“96

Bert Neumann nutzt die sich etablierenden künstlerischen Gegenszenen, um sich der Überpädagogik der Kulturpolitik zu entziehen. Der „Marsch durch die Institutionen“ konnte für Neumanns Generation nur noch bedingt Impulse freisetzen. Zu Hilfe kam ihr der Tatbestand, dass das Feld der Kunstproduktion der DDR in den achtziger Jahren ohnehin an den Punkt einer sowohl ästhetischen als auch institutionellen Eigenwertsättigung gekommen war, die trotz schwieriger Bedingungen die Bildung kleiner autonomer Gruppierungen und Produktionsformen tolerierte. Wo Kunstproduzenten sich in den siebziger Jahren noch zu Spezialisten machen mussten, um eigenständige Produktionsformen innerhalb der Institutionen zu behaupten, bot der Ausstieg aus den Institutionen die Chance der Radikalisierung dieses Weges. Hier lag das vakante Praxisfeld der Generation Bert Neumanns. Es erlaubte die Zuspitzung von Kommunikationsformen, die eine Verunsicherung der Grenzverhältnisse auslösten. Gegen die Überpädagogik der realsozialistischen Kunstdoktrin vermittelte sich die Spezialisierung seiner Generation in der Schaffung halbautonomer Freiräume. Sie wappneten den Szenographen für die neuen Verhältnisse. Denn die politischen und materiellen Einschränkungen konnten für junge Künstler wie Neumann zu Reibungsflächen werden, auf denen spezifische Formen von Produktionsautonomie ausgelotet werden konnten. Diese Praxis schützte Neumann vor der allzu eilfertigen Annahme neuer Techniken und den damit verbundenen Legitimationskriterien. 96 Rehberg, Karl-Siegbert: Vom Kulturfeudalismus zum Marktchaos? Funktionswandel der bildenden Künste nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, S. 275ff. 204

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Erst die späte DDR und mit ihr Frank Castorf vermögen den Bühnenbildner wieder für die Institution Theater zu gewinnen. 1988, ein Jahr nach der Kündigung am Potsdamer Theater und ein Jahr vor der Wende bekommt Neumann den ersten Auftrag für Frank Castorf, der im dritten Stock der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz „Das trunkene Schiff“ nach Arthur Rimbaud inszeniert. Castorfs damaliger Regieassistent Ralph Reichel notiert in seinen Erinnerungen über die Produktion: „[Castorf] bevorzugt die Guckkastenbühne, die auch nach oben hin durch einen Plafond abgeschlossen ist. Die Bühne als Kiste, als artifizieller Raum, der erst durchs Spiel konkretisiert, zu einem Schauplatz wird. Der Kunstraum wird demonstrativ als künstlich gezeigt. Der Bühnenbildner Bert Neumann, der bei dieser Inszenierung erstmalig mit Castorf arbeitet, versuchte nun in diesem abgesteckten Rahmen neue, eigene Ideen zu verwirklichen. So hat er Castorf eine Kiste gebaut, aber die Rückwand mit fünf Öffnungen versehen. Diese Durchbrüche sind zum einen Auftrittsmöglichkeiten, aber sie geben auch den Blick in den dahinterliegenden Gang frei und machen ihn so bespielbar, schaffen neben der Kiste einen weiteren Spielraum. [...] Dieser ungewöhnliche Raum mit siebzehn Metern Breite und dreieinhalb Metern Tiefe, vor dem der Zuschauer sitzt wie in der ersten Reihe eines Breitwandkinos, stellt natürlich auch besondere Anforderungen an die Schauspieler.“97

Die Guckkastenbühne als systemische Rahmung, aus der Castorf seine Inszenierungsform entwickelte, wird durch Neumann aufgebrochen – die Suche nach Spielorten außerhalb der gegebenen Bühneninstitution spiegelt Neumanns Reflex auf seine Zeit. Kurz vor dem Ende des Staatssozialismus setzt Bert Neumann damit sein Signum auf das DDRTheater. Es wird zu seinem Markenzeichen werden. Die Erfahrungen, die Neumann in der Zwischenzeit außerhalb der etablierten Kulturbetriebe gewonnen hat, ermöglichten ihm die Kenntnis verschiedener kultureller Systeme. Sein Autonomiebestreben, das sich bereits vor der Wende in der Abkehr von der staatlichen Auftragskunst manifestierte, wird auch mit seinem Arbeitsbeginn an der Volksbühne nicht obsolet. Er macht sich selbständig und gründet mit Lenore Blievernicht das Grafikbüro Last Second Design (LSD). Hier werden u.a. die Plakate und Accessoires für die Volksbühne hergestellt. Die Verwendung ehemaliger DDR-Papierbestände und der einfache und klare Stil, der ironisch auf die propagandistische Symbolik des Staatssozialismus anspielt, ist ein unübersehbares „Alleinstellungsmerkmal“, das nun als medialer Verstärker der Volksbühne in den Berliner Stadtraum 97 Reichel, Ralph in: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 155 ff. 205

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greift. Trotz der engen Zusammenarbeit mit der Volksbühne unterstreichen Neumann und seine Frau jedoch von Beginn an ihre arbeitsorganisatorische Unabhängigkeit: “Der Freibrief in der Tasche war ganz wichtig – diese Autonomie – wir haben uns ja ganz lange Autonomes Grafikbüro LSD genannt,“98 betont Lenore Blievernicht. Das Postulat der Autonomie bot die wohl wichtigste Voraussetzung für die Bildung einer Interessengemeinschaft Ost-West, die die kurze Phase nach dem Mauerfall für sich zu nutzen verstand. Es war eine Phase der Krise, in der das Scheitern ebenso möglich schien wie der Erfolg.

4.2.3 Scheitern als Chance: Christoph Schlingensief Die Vereinigung von artistes maudits aus Ost und West in der Institution Volksbühne ist wohl maßgeblich das Verdienst des Westberliner Dramaturgen Matthias Lilienthal. Als Co-Intendant und Chefdramaturg begründete er 1992 zusammen mit Frank Castorf das VolksbühnenProfil. Der heutige Intendant des Hebbel-am-Ufer Theaters (HAU 1,2,3) holte Christoph Schlingensief 1993 an die Volksbühne. Neben Schlingensief gewann Lilienthal auch den österreichischen Tanzchoreographen Johann Kresnik und den schweizer Regisseur Christoph Marthaler für das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz. Die „Inszenierung von Theater als öffentlichen Raum,“ wie Lilienthal es nennt, kam dem Prinzip des „Kulturhauses“ ostdeutscher Provenienz entgegen, das Castorf verwirklichen wollte. Die Figur Christoph Schlingensief steht paradigmatisch für den westlichen Teil einer Vereinigung, die selbst einer Montage glich; allerdings einer eher knirschenden Verschraubung zweier Aggregate, die nicht wirklich zusammenzupassen schienen. Doch gerade das sorgt nach dem Mauerfall für die nötige Reibung, die die „permanente symbolische Revolution“ zu befeuern imstande ist. Schlingensief unterzieht das Postulat Schelskys der impliziten Affirmation von Institutionen einer nicht nur symbolischen, sondern sehr handfesten und dauerhaften Belastungsprobe. Er gewinnt aus eben dieser Belastungsprobe die Spannungshöhe, die sein Professionsethos antreibt. Er wird wenige Jahre nach der Wende der Hausregisseur der Volksbühne, der die Grenzen der Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion am deutlichsten markieren wird. Diese Grenzen werden entweder dem Publikum, dem Intendanten oder dem Aktionskünstler selbst zum Anlass, wahlweise das Theater an und für sich, die Volksbühne oder Schlingensief in Frage zu stellen. Er wird die 98 Blievernicht, Lenore in: „Wir haben einfach versucht, das zu machen, was uns Spaß macht.“ Ein LSD-Selbstgespräch. In Blievernicht, Lenore et. al. (Hg.): LSD Berlin. Gebrauchsgrafik und Fotografie, S. 20. 206

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Realität viel radikaler in das Theater hineinholen und sich ihr selbst als Person aussetzen, als es alle sonstigen Akteure des Hauses tun. 1993, kurz vor Schlingensiefs erster Bühnenarbeit an der Volksbühne,99 kommentiert Frank Castorf den Tenor ihrer Zusammenarbeit in betont lässiger Manier: „Ick hab Schlingensief jesagt, wenn es kein Erfolg wird, en halben Flop kann ick mir nicht leisten. Wenn’s ein richtiger Flop wird, dann isses wieder jut. Schlingensief sagt, ‚ja, kann ich garantieren‘.“100 Es geht um Erfolg und um die Chance, die darin liegen kann, zu scheitern. Bourdieu hatte das Scheitern als konstitutiven Bestandteil der subjektiven Wirklichkeitsorganisation in dem Begriff der amor fati (Liebe zum Schicksal) auf den Punkt gebracht. Für die Kulturproduzenten, die Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen den Lebensführungen des höfischen savoir-vivre und der marktwirtschaftlichen Massenproduktion auftraten, ging die Kunst des Scheiterns ihrer Autonomie voran. Das Scheitern in und an den Institutionen brachte seinerseits nach Bourdieu die Dynamik der „Institutionalisierung der Anomie“ hervor, die aus seiner Sicht das Feld der Kulturproduktion in der westlichen Hemisphäre seither strukturierte – das Feld also, aus dem Schlingensief kommt. Schlingensief bemerkt rückblickend in einem Interview: „Für mich war das Theater lebensrettend. Ich muss eigentlich dankbar sein. Ich war damals, als mich Lilienthal an die Volksbühne geholt hat, mit meinen Filmen in die Bewegungslosigkeit geraten, das hatte sich totgelaufen.“101 Anders als Castorf und Neumann hat Christoph Schlingensief keinen Hochschulabschluss. Der Sohn eines Apothekers, der seine katholischen Wurzeln immer wieder unterstreicht, ist 1960 – im gleichen Jahr wie Neumann und am anderen Ende Deutschlands – in Oberhausen – geboren. Er studierte in München Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Mit Anfang zwanzig drehte er seine ersten Kurzfilme. Seine Kurzbiographien berichten dann sprungartig von ersten Lehraufträgen an den Kunsthochschulen in Offenbach und Düsseldorf. Von da an scheint sich seine Karriere stetig aufzubauen. Das ist möglich innerhalb eines Feldes der Kulturproduktion, in dem der akademische Abschluss eine vergleichsweise geringe Rolle spielt; dafür aber die Bildung von Interessengemeinschaften, die künstlerische Autonomie und der rasche Aufbau symbolischen Kapitals ausschlaggebend sind. Daher kann sich Schlingensiefs Professionsethos weniger an seinem akademischen Bildungsweg, sondern vor allem an den allgemeinen Feldbedingungen und 99

„100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“, Uraufführung am 23.4.1993.

100 Castorf, Frank in: Seidenfaden, Ingrid: Permanente Revolution ist ein bißchen anstrengend. Abendzeitung vom 19.3.1993. 101 Schlingensief, Christoph in: Laudenbach, Peter: Baut Theater in Kreuzform. Tip Berlin/Bühne 10/05, S. 71. 207

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den gesamtgesellschaftlichen Rahmungen ausbilden. Bekannt wird Schlingensief durch den Film „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990). Er wird als „einziger Nachfolger Fassbinders“ gehandelt. Schon dieser Adelstitel der westdeutschen Untergrund-Kulturszene scheint ihn für eine Zusammenarbeit mit dem Fassbinder-Verehrer Castorf zu prädestinieren, dessen Ensemble mit dem des früh verstorbenen Altmeisters verglichen wird. Trotz seiner immer wiederkehrenden Ausflüge in Film und Fernsehen orientiert sich Schlingensiefs Praxis stark an den Entwicklungen im Feld der Kunst. Am deutlichsten wird dieser Bezug wohl in der Inszenierung „Atta-Atta – die Kunst ist ausgebrochen“, die im Januar 2003 in der Volksbühne Premiere hatte. Sie blieb bis Anfang 2006 mit 16 Aufführungen von all seinen Produktionen am längsten im Spielplan. In „Atta-Atta“ lässt Schlingensief den ehemaligen Herbert Achternbusch-Schauspieler Josef Bierbichler und die ehemalige FassbinderSchauspielerin Irm Herrmann als seine Eltern auftreten: „Der Sohn ist zugleich aber Künstler und als solcher auch ein Kind der Avantgarden der vergangenen 40 Jahre. Deshalb sind außer Mama und Papa auch Beuys, Nitsch, McCarthy, Hirst und Barney anwesend – in Form von wiederbelebten Bildern, die sie, ihre Arbeit und die kunstästhetischen Diskurse, die durch sie in Gang gesetzt wurden, in Quintessenz repräsentieren,“102 kommentiert Sandra Umathum die bunte Szenerie. Diese Bezugsgrößen markieren Schlingensiefs Orientierungsinstanzen, die mit dem performative turn in den westlichen Künsten Mitte des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Differenzierungsschub der polyvalenten Praxisformen bewirkt hatten. Die Strömung der Aktionskünstler begann in den fünfziger Jahren, insbesondere durch den Action Painter Jackson Pollock, weite Kreise von der US-amerikanischen in die europäische Kunstszene zu ziehen. Hans Namuth, der Pollock bei der Arbeit filmte, fasst das Prinzip des Action Painting folgendermaßen zusammen: „Ab einem bestimmten Moment wurde die Leinwand für einen amerikanischen Künstler nach dem anderen zum Schauplatz einer Handlung – statt ein Leerfeld zu sein, in dem ein Objekt, echt oder fiktiv, reproduziert, neu gestaltet, analysiert oder ‚zum Ausdruck‘ gebracht wird. Was auf die Leinwand sollte, war kein Bild, sondern ein Ereignis.“103 Kunst als Ereignis markiert die performative Wende, die die Künste im Westen im Zuge der sechziger Jahre nachhaltig beeinflussen wird. Diese Wende machte es sich zur Aufgabe, die traditionellen Dichotomien zwischen dem Künstlichen und dem Wirklichen zu durchbrechen. Dafür bediente 102 Umathum, Sandra: Christoph Schlingensief. Regisseur der schnellen Reaktion, S. 150ff. 103 Namuth, Hans zitiert nach: Knapstein, Gabriele: Aktionen, Happenings, Activities und Events, S. 163. 208

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sie sich zahlreicher Methoden. Erika Fischer-Lichte folgert aus der Ereignishaftigkeit, die sie als Transmission von theatralen Mitteln in die Kunstfelder deutet, dass die analytische Trennung zwischen Werk und Rezipient von nun an einer Überprüfung bedarf: „Denn wenn es nicht mehr ein Kunstwerk gibt, das über eine vom Produzenten und Rezipienten unabhängige Existenz verfügt, wenn wir es stattdessen mit einem Ereignis zu tun haben, in das alle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Funktion – involviert sind, ‚Produktion‘ und ‚Rezeption‘ also in diesem Sinne im selben Raum und zur selben Zeit vollzogen werden, erscheint es höchst problematisch, weiter mit Parametern, Kategorien und Kriterien zu operieren, die in separierenden Produktions-, Werk-, und Rezeptionsästhetiken entwickelt wurden.“104

Der Einzug des Ereignishaften in die Kunst fand in einer Zeit statt, als die politischen Ereignisse in der westlichen Hemisphäre – insbesondere der Vietnamkrieg und die linke außerparlamentarische Opposition – die Praxis einer Kunst als Selbstzweck in Frage stellte. L’art pour l’art erfuhr angesichts der Bilder von Napalmbomben und dem gleichzeitigen Aufbegehren einer ganzen Generation einen weiteren Legitimationsverlust, deren kulturelle Wirkmächtigkeit ein ethisch-politisches Professionsethos auf die Tagesordnung setzte. In der Bundesrepublik entwickelt dieses spezifische Reflexionsbedürfnis eine besondere Schärfe. In den sechziger Jahren wird die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ebenso unausweichlich wie das Einklagen von gesellschaftlicher Verantwortung. Das, was in der DDR zur veralltäglichten Formel eines sozialistischen Gestaltungszwanges geworden war, avanciert in der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre zum Impulsgeber einer Kunst und Literatur, die zwar auf Autonomie beharrt, doch sich ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zunehmend bewusster und damit durchlässiger wird.105 Diese Zäsur konzentrierte sich im Feld der bildenden Kunst am deutlichsten in der Person Joseph Beuys‘. Es ist kein Zufall, das Beuys nicht nur innerhalb des westdeutschen Feldes, sondern auch für die Autoperforationskünstler der DDR eine bedeutende Orientierungsinstanz war. Beuys, der die Parolen des „Jeder ist ein Künstler“ und der „sozialen Skulptur“ ausgerufen hatte, machte seine Kunstproduktionen zu einem 104 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 21ff. 105 Für das Feld der Literatur verweise ich auf den Artikel von Ingrid Gilcher-Holtey: „Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47.“ In: Berliner Journal für Soziologie 2/04. Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.). Berlin 2004, S. 207-232. 209

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sowohl öffentlichen wie politischen Ereignis. Er schien damit eine neue Dimension der politischen Popularisierung der Kunst zu eröffnen, die ja auch zu den obersten Zielen des sozialistischen Realismus zählte. Doch hinter der Mauer stieß man an die Grenzen des staatssozialistischen nomos. Karl-Siegbert Rehberg beschreibt die Unverträglichkeit des ostdeutschen Kunstsystems mit der westlichen Interpretation eines „sozial[istisch]en Realismus“106: „Als unterminierend wurde vor allem die Forderung nach einem ‚erweiterten Kunstbegriff‘ beargwöhnt. Joseph Beuys, sein Verkünder, durfte deshalb auch nicht in die DDR reisen, als Erhard Monden und Eugen Blume 1984 mit ihm gemeinsam in Berlin eine Kunstaktion durchführen wollten. [...] Als Monden den Antrag stellt, zur Beerdigung seines großen Vorbildes nach Düsseldorf fahren zu können, schrieb er in die Rubrik ‚Verwandtschaftsgrad‘: ‚Geistige Verwandtschaft ersten Grades‘“.107

Eine Wahlverwandtschaft, die der Oberhausener Schlingensief in der Ostberliner Volksbühne fast zwanzig Jahre später verlebendigen wird. Schlingensief entwickelt seine „Montage der Attraktionen“108 im Zuge der achtziger Jahre in einem Westdeutschland, dass sich nach dem Ende der außerparlamentarischen Bewegung zu konsolidieren scheint. Der erfolgreiche, doch glanzlose „Marsch durch die Institutionen“ der ehemaligen 68er kann das allgemeine Lebensgefühl der politischen und kulturellen Sättigung kaum erschüttern. Zwar existieren immer noch außerparlamentarische Bewegungen und Gruppen wie die Atomkraftgegner, die Autonomen und die Rote Armee Fraktion, die mit Demonstrationen und Anschlägen für Schlagzeilen sorgen. Auch müsste das Wiedererstarken rechtsradikaler Parteien alarmierend wirken. Doch im Gegensatz zur Nachkriegsphase beansprucht kaum eine dieser Strömungen mehr ernsthaft, eine gesamtgesellschaftliche Stellvertreter-Position einnehmen zu können. Die einstigen Wortführer der Studentenbewegung machen nun Parteipolitik und institutionalisieren auf diese Weise ihre politische Opposition. Die radikale Linke besetzt Häuser und entwickelt sich zur Spezialistin für Subkultur. Eine breite Palette von parallelen Lebenswelten und Anschauungen verdampft zugleich unter der Glasglocke des Wohlstands, von der ein immer breiterer Mittelstand profitiert. Die allgemeine Zufriedenheit mit der sozialen Marktwirtschaft findet in 106 Eugen Blume bezeichnet Beuys als Vertreter eines „wirklichen sozialen Realismus“. Vgl. Blume, Eugen: Beuys macht Licht, S. 170. 107 Rehberg, Karl-Siegbert: „Verkörperungs-Konkurrenzen“, S. 117ff. 108 So lautet der Titel eines programmatischen Textes des sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein aus dem Jahre 1923. 210

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der stetigen Wiederwahl des Bundeskanzlers Helmut Kohl seinen paradigmatischen Ausdruck. Es sind diese gegensätzlichen Pole von Wirklichkeitsorganisationen in der Bundesrepublik, die Christoph Schlingensiefs Praxis antreiben werden.109 Er tritt in diesem Sinne die Nachfolge Fassbinders an, der diese Parallelwelten in den siebziger Jahren auf die Leinwand brachte und ihnen eine eigentümlich-tragische Poesie verlieh. In der Gleichzeitigkeit verschiedener Anschauungen und Lebensführungen westdeutscher Couleur zeichnen sich Koordinaten ab, die eine hohe Dichte an multipolaren Spannungen aufweisen. Ihre Thematisierung scheint – zumindest zu Beginn der neunziger Jahre – nur an einem Ort wie der Volksbühne möglich zu sein. Die Volksbühne ist zwar eine Institution, doch sie ist eine, die nicht durch die Erfahrungen der westdeutschen Linken gegangen ist. Ihre dauerhafte Etablierung ist zu Schlingensiefs Arbeitsbeginn mehr als ungewiss. Das Beharren des Ostberliner Intendanten auf dem Inkommensurablen kommt dem westdeutschen Aktionskünstler entgegen, weil es das Versprechen von Autonomie mit sich führt. Das ist für einen Protagonisten des Feldes des experimentellen Filmes und der Performance-Kunst, für den das Theater zwar organisatorische Entlastung heißt, doch auch die Gefahr der produktiven Zähmung birgt, von besonderer Bedeutung. Schlingensiefs Hauptbezüge rekurrieren vor allem auf das Prinzip der Neukonstituierung des Verhältnisses von Fiktion, Imagination und Wirklichkeit, ebenfalls ein Erbe der Aktionskünstler der sechziger und siebziger Jahre. Er lädt diese Fragmente symbolisch auf, indem er sie mit gesellschaftlichen und tagespolitischen Ereignissen verschaltet. Dieses Konglomerat, das er in einem Interview 1993 als Mittel zur „Selbstprovokation“ bezeichnet, hat sich gleichwohl weniger der dezidiert politischen Kritik, als der Duplizierung von medialer Repräsention verschrieben, die den von ihm postulierten permanenten gesellschaftlichen Ausnahmezustand durch Irritation von Sehgewohnheiten freilegt. Diesen Ausnahmezustand, der das „zivile Kämpfer-Individuum“110 hervorbringt, materialisiert Schlingensief in seinen Inszenierungen. In einem Interview über die Produktion “Kühnen ‘94“, in der die letzten Wochen des aidskranken homosexuellen Neonazis Michael Kühnen thematisiert

109 Diese Koordinaten kondensieren sich am deutlichsten in dem einzigen von Schlingensief verfassten Theaterstück „Rosebud“ (Uraufführung 2001 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz). 110 Diesen Ausdruck verwendet nicht Schlingensief, sondern Marie-Louise Syring in ihrem Kommentar zu Mark Terkessidis Buch: „Entsichert“. Vgl. Syring, Marie-Louise: Antitautoritär und Emanzipatorisch. Was wurde aus dem Traum von der Herrschaftslosigkeit der Sprache?, S. 160. 211

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werden, erklärt er: „[E]in passender Begriff ist Feldforschung. Ich will ja niemanden reinigen, sondern mit Kräften spielen, die von solchen Phänomenen wie Michael Kühnen ausgehen.“ Es geht ihm um „Rezeptionshaltungen“.111 Der Schauspieler Bernhard Schütz, der viele Jahre mit Schlingensief zusammengearbeitet hat, beschreibt diese Ausrichtung: „Mit Christoph war der Stillstand immer einer der größten Momente. Gerade, wenn Leute dazwischen gerufen haben ‚ach, das ist doch nicht neu‘, dann hat Christoph immer die große Fähigkeit, im Gegensatz zu mir, nicht aggressiv zu werden, sondern das ernst zu nehmen. Er hat das Stück angehalten und dann ist er hingegangen und hat gefragt: ‚Was sind denn die neuen Bilder?‘. Und kam natürlich dazu, dass man mit den alten Bildern hereinkommt und die sehen will. Eine These von Christoph war: ‚Der Raum überprüft dich.‘“112

Das Spiel mit Rezeptionshaltungen gehört zu den zentralen Paradigmen der Aktions- und Performance-Kunst. Es bewegt sich immer auf mindestens zwei Ebenen: Der Ebene der Aufführung, indem Personen oder Inhalte sichtbar werden, die den Besucher zu einer Infragestellung seiner Betrachtungshaltung zwingen – wie in den Lammzerreißaktionen von Hermann Nitsch oder den selbstzerstörerischen Körperperformances von Marina Abramovic – und auf der damit verbundenen Aushandlungsebene zwischen Akteuren und Zuschauern. Zugleich führt das spezifisch Symbolhafte, das immer an diese Aktionen gebunden ist, zu einer Erhöhung der Selbstreferentialität der künstlerischen Praxis. Das bewirkt nach Fischer-Lichte nicht nur eine weitere Pluralisierung des Bedeutungsangebots, sondern vor allem die Produktion spezifisch emergenter Phänomene: „Aufführungen seit den sechziger Jahren lösen die einzelnen verwendeten theatralen Mittel immer wieder aus übergeordneten Kontexten heraus. Sie ordnen sich nicht nur nicht länger einer Handlungs- und Psychologik unter, sondern suchen sie aus jeder Art von kausaler Verkettung zu befreien. Spezifischen geometrischen und rhythmischen Patterns folgend oder gar durch Zufallsorganisationen ermittelt, tauchen die Elemente im Raum auf, stabilisieren sich für eine Weile – von je unterschiedlicher Dauer –, teilweise bei ständiger Transformation, und verschwinden irgendwann wieder, ohne daß sich für Erscheinen und Verschwinden eine nachvollziehbare Begründung oder eine spezifische Motivation angeben ließen. Es scheint sich bei den jeweils auftau-

111 Schlingensief, Christoph in: Voss, Christiane: Diesen pubertären Luxus leiste ich mir. Taz vom 7.2.1994. 112 Im Gespräch mit mir am 29.10.2005. 212

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chenden Elementen überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, um emergente Phänomene zu handeln.“113

Was bedeutet nun die Produktion von Emergenz in ihrer Ereignishaftigkeit, in ihrem „In-der-Welt-sein“ (Lukács) für die Konstituierung von Wirklichkeitsorganisation, die aus soziologischer Perspektive von Bedeutung ist? Zunächst suggeriert die Tatsache der Auflösung der Grenze zwischen Produzent und Rezipient einen deutlichen Demokratisierungsschub hinsichtlich der Möglichkeit, Kunst produzieren und wahrnehmen zu können. Auf der Produzentenseite ist die akademische Ausbildung nicht mehr der Hauptmaßstab für die Möglichkeit der Akkumulation symbolischen Kapitals – wenngleich die Klassenlage der erfolgreichen Künstler nach wie vor selten unter den sozial schwachen Schichten zu finden ist. Viele dieser Künstler stammen vielmehr aus dem mittleren Bürgertum. Die Legitimierung einer Haltung des „Jeder ist ein Künstler“ musste und muss sich gleichwohl gegen den Vorwurf des Dilettantismus behaupten, der auch als ein sozialer Kampf verschiedener künstlerischer Interessengemeinschaften und legitimer Formen von Wirklichkeitsorganisation zu verstehen ist. In den neunziger Jahren verfestigt sich die symbolische Anerkennung dieser Anschauung jedoch deutlich – durch ihre Integration in die anerkannte Kultur und in den Kanon der akademischen Ausbildung, und schließlich durch die Erhöhung ihrer Vertreter zu Objekten der (kultur-)wissenschaftlichen Analyse. Gleichwohl blieben diese Entwicklungen – mit wenigen Ausnahmen und trotz ihrer zahlreichen räumlichen Ausflüge außerhalb gesicherter Orte wie Museen und Galerien – auf das Feld der Kulturproduktion und auf die Akteure, die sich in ihm bewegen, beschränkt. Der Diskurs um den Performativierungsschub blieb ein Diskurs unter Gleichen. Daran änderte auch der zeitweilig sehr hoch gehandelte politische Anspruch nichts. Dem sogenannten “Normalbürger“ blieben die Filzaktionen eines Beuys ebenso fremd und unerreichbar wie die hybriden Skulpturen eines Paul McCarthy. Auch das Zurücktreten einer offensichtlichen und einheitlichen Defintionsmacht bedeutet nicht, dass Kunstproduktion tatsächlich zu einem egalitären Vermittler anschauender Erkenntnis konfiguriert wäre. Alle Popularisierungsschübe können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sozialen Differenzen zwischen den Rezipienten heute ebenso tief sind wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass der Performativierungsschub in dem Sinne demokratisch sei, dass jeder, der nur will, an Kunst partizipieren könne, scheint gleichwohl in

113 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 243. 213

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der gegenwärtigen ästhetischen Theorie weit verbreitet.114 Im Gegenzug dazu zieht sich gerade die anerkannteste Kunst der zeitgenössischen Aufsteiger auf erhöhte Selbstreferenz zurück – eine Selbstreferenz, die den Rezipienten zwar für die Bildung der künstlerischen Ästhetik braucht, aber doch meist nur den (vor-)gebildeten Rezipienten und niemanden sonst. Juliane Rebentisch beschreibt dieses Phänomen beispielhaft anhand der Installationskunst Daniel Burens: „Indem Burens Arbeiten an die spezifische Kontextreflexivität ästhetisch Erfahrener appellieren, um ihr kritisches Potenzial entfalten zu können, zeigen sie nicht, daß die ästhetische Definitionsmacht nach Duchamp an die Kunstinstitutionen übergegangen ist, sondern sie demonstrieren einmal mehr, daß sich die künstlerischen Avantgarden zunehmend explizit an die kulturelle Informiertheit und Reflexionsfähigkeit sowie -bereitschaft der Rezipienten anlehnen.“115

An diesem Tatbestand wird deutlich: Der Rezeptionsappell wird zwar nach wie vor durch die Institutionen gewährleistet, doch die damit einhergehende Urteilsfähigkeit ist auf der konkreten Rezeptionsebene von den Institutionen in das Bildungsvolumen der Betrachter oder Zuschauer ausgelagert, also auf das, was Rebentisch als die kulturelle Informiertheit ästhetisch Erfahrener bezeichnet. Das ist für sich genommen, kein Novum, doch es scheint mir angesichts der scheinbaren Demokratisierung der Kunstrezeption ein erinnerungswürdiger Sachverhalt zu sein, wie sich an seiner Ausblendung in den meisten zeitgenössischen Theorien der Ästhetik zeigt. Die scheinbare Demokratisierung verleiht der symbolischen Differenzierung eine um so wesentlichere Bedeutung. Für die Inszenierung schließe ich daraus, dass der künstlerische Produktionsprozess zwar mit jeder Aufführung (ob als Kunstaktion oder im Theater) neu aufgelegt wird, doch dass dies zugleich innerhalb eines sozialen Raumes stattfindet, in dem die Inszenierung als solche erst ihre Eigengeltung zugewiesen bekommt: Das ist die künstlerische Institution. In seiner Arbeit über die Malerei der Moderne kommentiert Arnold Gehlen die Bedürfnisansprüche, die letztlich für die Außenstabilisierung der künstlerischen Institution sorgen, mit leiser Ironie: „Nein, diese Kunst lebt davon, daß sie die chronische Reflexion, die jedermanns Zustand geworden ist, ins Optische vorschiebt, so wird sie zu dem, was der Historiker Lamprecht schon vor sechzig Jahren voraussah, zur Kunst der

114 Vgl. stellvertretend Groys, Boris: Topologie der Kunst, bes. S. 231. 115 Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, S. 272. 214

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„Reizsamkeit“, aber sie fand den Weg, das Auge zugleich von außen und von innen zu reizen. Damit wird sie auch auf der Affektseite autonom, und Autonomie bedeutet immer: Abtrennung vom Bedingunglosen. Die Affekte organisieren sich um das Bilderlebnis, sie bekommen selbst Zunge und Augen, werden rhetorisch und reflexiv und endlich ihrerseits zu Kunstmitteln. [...] Und die Werke sagen das alles ganz schlicht und wahr aus, es sind nur immer wieder die Kommentare, die den Künstlern ansinnen, moralisch und geistig über ihre Verhältnisse und über das hinaus zu leben, was die Zeit zuläßt und was der Zeitgenosse verlangt, und der verlangt vor allem: Die Kunst soll ihn an genau umgrenzter, erwarteter Stelle beunruhigen.“116

Es ist diese Selbstreferentialität, die wirklichkeitskonstituierend wirkt, und die das Postulat der autopoietischen feed-back-Schleife einerseits bestätigt, andererseits in Frage stellt. Die Aktionskunst zieht den Zuschauer an erwarteter Stelle in das Geschehen hinein, nämlich innerhalb der Institution, in der sie stattfindet. Damit reproduziert, ja festigt sie sogar die Abgeschlossenheit des künstlerischen Feldes, denn das Einlassen auf die Aktion setzt ja genau das implizite Wissen um ihre Bedeutung voraus, das erst zum Besuch animiert. Der Inklusionsfaktor, den das gemeinsame ästhetische Erlebnis produziert, ist nicht zu unterschätzen. Dennoch bietet der Anspruch, Kunst und Leben zusammenzuführen, der ein Anspruch der historischen Avantgarden ist, die potenzielle Möglichkeit, Öffnungen zuzulassen, die jene Vorhersehbarkeit ebenso auf die Probe stellen wie die damit verbundene Frage der Verstetigung von Dauerreflexion. Christoph Schlingensiefs Arbeiten sind hierfür beispielhaft. In „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ (1993) bringt Schlingensief seine „Vision eines faschistoiden Irrenhauses Deutschland“ auf die (Volks-)Bühne, in dem gleich einer nicht enden wollenden Game-Show Politik, Glaube, Spaßgesellschaft und „hohe Kultur“ akkordartig verschaltet werden. Der Theaterabend wird zu einer schockierenden Konfrontation mit den alltäglichen Sehgewohnheiten: „Richard von Weizsäcker singt, ausstaffiert mit Schaftstiefeln, Epauletten und einem Schäferhund, ein Lied vom schönen Schloß Bellevue und vom blöden Berlin; ein UNO-Offizier wettet, er schaffe es, einen Davidstern an die Scheibe eines türkischen Lebensmittelladens in Kreuzberg zu malen und in zehn Minuten wieder im Studio zu sein; die Mölln-Opfer Leo und Pitty trällern ‚Ein Herz für Kinder‘.“117 In einem Interview erläutert Schlingen116 Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder, S. 224. 117 Umathum, Sandra: Christoph Schlingensief. Regisseur der schnellen Reaktion, S. 145. 215

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sief seine Vorgehensweise: „Ich gehe tatsächlich so vor, wie sich Strömungen bilden. Weil etwas gerade gesellschaftlich aktuell ist, kriegt meine Arbeit diese Dimension; eine Parallelität zwischen Wirklichkeit und Kunst ist mir wichtig. Van Gogh hat auch Sommerlandschaften gemalt, als es wirklich Sommer war; und er hat Herbststimmungen gemalt, als es wirklich Herbst war.“118 Weniger dem Impressionismus als der LEF-Methodik der „Montage der Attraktionen“ zuneigend, entwickelte Schlingensief innerhalb und außerhalb der Volksbühne das Produktionsprinzip des Einbruchs der Realität in die Kunst. Das bundesrepublikanische Erbe der performativen Wende trifft sich in seinen Produktionen mit dem Versuch der Popularisierung von Kunst, der sich als kompatibel mit dem staatssozialistischen Erbe erweist. Seine „Montage der Attraktionen“ verlässt den Kunstraum, und wo sie in ihm agiert, holt sie die Bilder des Alltäglichen, des Nicht-Sublimen in die Institution. Das muss zwangsläufig zu Irritationen führen. Boris Arvatovs vernichtende Absage an den Abbildungscharakter des Theaters, von der auch die Arbeiten Frank Castorfs geprägt sind, verweist auf einen möglichen, diese beiden Akteure verbindenden Subtext, der sich in der Volksbühne etablieren konnte. Sie liest sich zugleich wie eine Replik auf Gehlen: „Die Absage an den literarischen Charakter, das ‚Schauspielhafte‘, das ‚Dramatische‘ und die Bühne auf dem Weg über deren Deformation und völlige Vernichtung ist für das Theater genauso notwendig, wie es in der Malerei war. Notwendig deshalb, weil man das Leben nur aus realem Material gestalten kann, gereinigt von ihm fremden, seine realen Eigenschaften vergewaltigenden und verdunkelnden ästhetischen Hüllen. (Diese Arbeit wurde in der Malerei von Cézanne begonnen und vollendet von Tatlin.) Das Material des Theaters ist der handelnde Mensch. Nicht der Schauspieler, denn der Schauspieler ist nur eine ästhetische Form. Der handelnde Mensch aber, das ist der Mensch in seiner Orientierung in Zeit und Raum, der Mensch in seiner sozialen Funktion.“119

Nicht erst mit Beginn seiner Regietätigkeit an der Volksbühne konzentriert sich Schlingensief auf die Einbeziehung des realen Materials, was auch bei ihm vornehmlich heißt: der Mensch. Doch der Mensch, oder besser: Die Menschen können keinem substanzialistischen Ideal mehr folgen, das sich dem Humanismus verpflichtet fühlt. Das war schon in der Bundesrepublik kein Ideal mehr und kann nun, nach dem gescheiter118 Schlingensief, Christoph in: Weber, Martin: Der Pharmazeut des Pop. World of Music Journal 1/ 2003. 119 Arvatov, Boris: Kunst und Produktion, S. 87. 216

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ten Experiment des Staatssozialismus erst recht keines mehr sein. Doch Schlingensief setzt, im Gegensatz zu den meisten anderen Kulturproduzenten, gerade jetzt nicht auf den Rückzug aus der Tagespolitik in immer sublimere Differenzproduktion. Sein Arbeitsmotto: „Scheitern als Chance“ ist von dem Willen getragen, die schlecht ausgeleuchteten Bereiche der Gesellschaft gewaltsam ans Licht zu zerren. Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hatte nach der Wende in dieser Hinsicht eine ganze Menge unbearbeitetes Material vorzuliegen und sie hatte immerhin den Arbeitsauftrag, „[d]ie sozialen, kulturellen Schocks und Wirrnisse unserer Lage [...] gerade in Berlin um[zu]setzen: in einem neuen, erhellenden und verstörendem Blick des Theaters.“120 Dass der Auftrag also über die Unterstellung eines „Zertrümmerer-Theaters“ hinaus die Frage der Funktion, der Wirkungsintention für den Erfolg des Hauses eine unabdingbare Messgröße bezeichnete, stand von Beginn an außer Zweifel. Schlingensiefs Montagetechnik, von den Kritikern verfemt und vom Publikum geschätzt, hatte hier seine adäquate institutionelle Rahmung gefunden.

4.2.4 Homologien als Stabilisierungsfaktoren? Ich habe versucht zu zeigen, woher drei der meiner Ansicht nach wichtigsten Volksbühnenproduzenten kamen, bevor sie das Volksbühnenprofil prägten. Ihre Lebenswege und Entscheidungslinien sind in vivo natürlich komplexer, komplizierter und von vielen weiteren Einflüssen geprägt, die ich in diesem Rahmen nur andeuten konnte. Als Soziologin muss ich mir vor allem die Frage nach den unsichtbaren Verbindungslinien stellen, die dazu geführt haben, dass gerade sie in diese Institution kamen und trotz aller Verschiedenheit eine gemeinsame Intention der ästhetischen Praxis, einer idée directrice also, etablieren konnten. Das ist angesichts der doch sehr unterschiedlichen Ansätze kaum selbstverständlich. Es ist ebensowenig selbstverständlich, wie überhaupt die Kontinuität von Institutionen eine Selbstverständlichkeit ist, sondern das zu Erklärende. Schon deshalb sollte die Untersuchung der symbolischen Darstellung von Ordnungsprinzipien durch Institutionen weniger von starren und unumstößlichen Tatbeständen, sondern von einer prozessualen Dynamik ausgehen. In der Betrachtung einer Institution wie der Volksbühne, eines Theaters, das spezifische Bedürfnisse nach Reflexion bündelt, spiegelt und produziert, ist der institutionelle Aspekt zur Erfassung dieser disparaten Praktiken daher sehr hilfreich. Die Institutionentheorie ist es, die diese auf den Aktionsraum, in dem sie sich entfalten, 120 Nagel, Ivan et. al.: Gutachten zur Situation der Berliner Theater, S. 16. 217

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zurückzuführen imstande ist, weil die Institution – im Sinne Gehlens – eine stabilisierte Spannung ist. Doch wovon ist die Spannung in der Volksbühne getragen? Und wodurch wird sie stabilisiert? Zur Beantwortung dieser Frage benenne ich im Folgenden thesenartige Strukturmerkmale, die sich aus den vorangegangenen Beschreibungen von Castorf, Neumann und Schlingensief ergeben. Darauf aufbauend wird es möglich sein, das für die Volksbühne spezifische Professionsethos und die damit verbundene symbolische Wirklichkeitsorganisation herauszuarbeiten. Die Auswahl der drei Produzenten legt nahe, zunächst eine Kontrastierung vorzunehmen, die sich aus der einstigen politisch-geographischen Gegensatzspannung zwischen der DDR und der Bundesrepublik ergibt. In diesem Sinne zeigen die Wege von Frank Castorf und Bert Neumann in der DDR einerseits und der Weg von Christoph Schlingensief in der Bundesrepublik andererseits jeweils „typische“ Optionen. Sie sind typisch in dem Sinne, dass sie im Rahmen der Feldbedingungen möglich waren. Während Castorf und Neumann sich zum nomos des sozialistischen Realismus ins Verhältnis setzen mussten, war Schlingensief mit der Polyvalenz unterschiedlicher Stile und Formen konfrontiert und entsprechend zu deren weiterer Ausdifferenzierung getrieben. War das Professionsethos in den Ausbildungen von Castorf und Neumann durch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Kunst und ihrer Popularisierung gelenkt, so leitete sich das Professionsethos von Schlingensief maßgeblich aus einer Eigengeltung ab, deren Autonomiebedürfnis sich von jeglicher Lenkung abzuheben suchte. Die Akkumulation symbolischen Kapitals war zunächst durch den Rückzug aus den Institutionen bei gleichzeitiger Re-Aktualisierung des Politischen in der Kunst möglich. Suchte vor allem Castorf nach strategischen Anknüpfungspunkten zwischen offizieller und inoffizieller Kunst innerhalb des Theaterfeldes (eine Suche, die bei Neumann generationenbedingt zunächst zum Rückzug aus den Kulturinstitutionen führte), dehnte Schlingensief seinen Aktionsradius auf verschiedene Felder aus (Universitäten, Film, Fernsehen, Bildende Kunst). Schlossen sich Castorf und Neumann in Arbeitskollektiven oder Freundeskreisen mit anderen zusammen, bildete Schlingensief Interessensgemeinschaften zur Durchsetzung seiner Vorstellungen von Kunstproduktion. Das symbolische Kapital, die Anerkennung durch maßgebliche Feldakteure verhalf sicherlich allen zu ihren späteren Positionen und ist nur schwerlich zu trennen von der Bedeutung des sozialen Kapitals, das für jede künstlerische Karriere unerlässlich ist. Es mag dennoch graduelle Unterschiede im Habitus der Künstler aus Ost und West geben, die ich nicht belegen kann. Schließlich unterscheiden sich die Strategien deutlich voneinander: Während für Castorf das Mittel der Kritik durch Affirmation entscheidend zur Etablierung seiner Ästhetik 218

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beigetragen hat (was auf Neumann ebenfalls nur noch bedingt zutrifft, woran deutlich wird, wie stark sich diese beiden Generationen voneinander unterscheiden), durchzieht das stetige Wechselspiel aus Abgrenzung und Kooperation mit den staatlichen Institutionen unter erhöhter ästhetischer Differenzproduktion die Praxis von Schlingensief. Diese Tatbestände bestätigen meine Vermutung, dass die jeweiligen Rahmungen, insbesondere die Phase der Ausbildung, aber auch die allgemeinen Feldbedingungen wichtige Hinweise auf die Mobilisierungsressourcen der späteren Praktiken dieser Produzenten geben. Zugleich aber, und das ist das eigentlich Entscheidende, sind auch Überschneidungen „über die Mauer hinweg“ zu verzeichnen. Sie sind entscheidend in Hinblick auf den Eindruck der Wahlverwandtschaft, den diese so verschiedenen Handlungsorientierungen dennoch wecken. Die Biographien und Praktiken von Castorf, Neumann und Schlingensief verweisen auf strukturelle Grundlagen, die zur Stabilisierung der Volksbühne geführt haben. Jeder der drei Produzenten verkörpert eine spezifische Handlungsorientierung, aus deren Kombination sich der Charakter der Leitidee der Volksbühne erschließen lässt. Ich habe diese Prinzipien bereits in den Kapitelüberschriften schlagwortartig zusammengefasst und sie dann anhand der jeweiligen Biographien und Praktiken der Produzenten erläutert. Castorf ist Spielleiter und Neumann Chefszenograph der Volksbühne. Christoph Schlingensief ist nicht fest am Haus angestellt und arbeitet(e) daher weitgehend unabhängig. Diese arbeitsorganisatorischen Differenzen sind jedoch meiner Ansicht nach zweitrangig hinsichtlich der Frage nach dem Charakter der Leitidee, die sich in der Volksbühne etabliert hat. Diese orientiert sich weniger an einer getreuen Abbildung der Institutionenhierarchie, sondern vielmehr an den von Rehberg benannten symbolischen Ordnungsprinzipien, die in die Institution eingehen und schließlich von ihr verkörpert werden. Zur Gründungsphase des Hauses lauten diese Prinzipien: „Abweichende Linienführung“ – „Autonome Raumkontrolle“ und „Scheitern als Chance“. Sie drücken praxisorientierte Übereinstimmungen oder, um den Bourdieuschen Begriff zu nennen, Homologien aus – Ähnlichkeiten in der Verschiedenheit. Bourdieu schreibt zum Begriff der Homologie: „Der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft vom Kunstwerk ist daher die Beziehung zwischen zwei Strukturen: der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionen innerhalb des Produktionsfeldes (und den sie einnehmenden Produzenten) und der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionierungen im Raum der Werke. Gerüstet mit der Hypothese der Homologie zwischen beiden Strukturen kann die Forschung zwischen den 219

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beiden Räumen und den dort unterschiedlich ausgewiesenen, aber gleichen Informationen hin und her wechseln und die gleichzeitig von den in ihrer gegenseitigen Beziehung verstandenen Werken und den ebenfalls in ihren objektiven Beziehungen erfassten Eigenschaften oder Positionen der Akteure gelieferten Hinweise kumulieren: So kann eine bestimmte stilistische Strategie den Ausgangspunkt dafür bieten, dem Werdegang ihres Urhebers nachzuforschen, und eine biographische Information mag Anlaß geben, diese oder jene formale Eigenheit des Werkes oder Besonderheit seiner Struktur anders zu lesen.“121

Verstehe ich die Volksbühne selbst als Kunstwerk im hier gemeinten Sinne, das gleich einer Matroschka in sich weitere Kunstwerke birgt, nämlich die der genannten Produzenten, so geben ihre jeweiligen Praktiken in den entsprechenden Feldern Aufschluss über die Homologien, die Bourdieu hier benennt. Sie weisen im “Fall Volksbühne“ hinsichtlich der beiden Ebenen Felder/Werke strukturelle Homologien auf, und damit insbesondere Homologien in Bezug auf die praktische Wirklichkeitsorganisation, die die Genannten miteinander verbindet. Die Verbindung der Handlungsorientierungen der „Abweichenden Linienführung“ und der „Autonomen Raumkontrolle“ erscheint auf den ersten Blick paradox. Dies lässt sich damit erklären, dass sie zwar auf zwei verschiedenen Gebieten – dem Theater und der bildenden Kunst –, doch beide innerhalb des Staatssozialismus entwickelt wurden. Dieses politische System war insbesondere durch die Verkopplung von „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Praktiken geprägt. Das Theaterfeld zwang den Produzenten zu einer spezifischen Praxis, die zwischen institutioneller Anpassung und ästhetischer Distinktion oszillierte. In der DDR entsprach dies der Idee des „angepassten Dissidenten“, als den sich auch der Auftragskünstler bezeichnen konnte. Die „abweichende Linienführung“ ist der Weg, der weitestgehende Freiheitsgrade innerhalb des gesellschaftlichen Auftragsmodells der DDR erlaubte. Zugleich verweist sie auf die mögliche Option einer leitenden Position, die durch jenes Handeln legitimiert wird. Ist die Leitungsposition erst erreicht, kann sie in die Eigengeltung einer autonomen Raumkontrolle münden, die die Institution innerhalb eines bestimmten Teils des Kulturraumes ausübt. Das Alleinstellungsmerkmal der relativen Autonomie wird von nun an entscheidend für die Anerkennung der künstlerischen Leistung. Das spricht dafür, dass die Handlungsorientierung Bert Neumanns eine wichtige strukturelle Basis für das Bestehen der Volksbühne im gesamtdeutschen Theaterfeld bildete. Andererseits gehört der Wille zur Macht zur Leitung eines Theaters und ermöglicht seinerseits erst die langfristige Versteti-

121 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 369ff. 220

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gung dieser Eigengeltung. Auf diesen Voraussetzungen konnte sich das künstlerische Talent dieser Produzenten voll entfalten. Die Verbindung des „Scheiterns als Chance“ und der „Abweichenden Linienführung“ legt eine Haltung der Abgrenzung nahe, die zugleich auf positive Resonanz bedacht ist. Die praktischen Wirklichkeitsorganisationen von Frank Castorf und Christoph Schlingensief könnten dennoch unterschiedlicher kaum sein. Während Castorf sich fast ausschließlich innerhalb des ostdeutschen Theaterfeldes und den entsprechenden Institutionen bewegt hat, suchte Schlingensief in der Praxis zwar in Kooperation mit, doch räumlich vornehmlich außerhalb der etablierten Institutionen nach Tätigkeits- und Themenfeldern und Mitstreitern. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Schlingensief 2005 mit seiner Produktion „Theater ALS Krankheit“ zum Theatertreffen eingeladen wurde – im Gegenteil. Sie spricht vielmehr dafür, dass Schlingensiefs Arbeitsweise inzwischen auch innerhalb des Theaterfeldes anerkannt ist, weil sie Innovationspotenzial verspricht. In diesem Sinne entspricht auch sie der „abweichenden Linienführung“, die nun nicht mehr durch das staatssozialistische Modell der Auftragskunst, sondern von dem marktwirtschaftlichen Modell der révolution permanente repräsentiert wird. Umgekehrt ergibt sich aber auch eine Verbindung hinsichtlich der gemeinsamen Orientierungsinstanz Fassbinder und des für den langfristigen künstlerischen Erfolg offenbar so notwendigen Scheiterns. Das ist der Mythos der Bohème zwischen Auftragskunst und Marktwirtschaft, der auch in Castorfs Biographie für Legendenbildung gesorgt hat. Sein „Scheitern“ in Anklam, das er selbst in intuitiver Kenntnis der Feldmechanismen auch gar nicht mehr als Scheitern bewertet, war verbunden mit dem Wunsch, eine eigene Truppe von „Verfemten“ zu gründen. Doch während das „Asoziale“122 bei Castorf vor allem als gelungene Pose zur Profilierung seines neugegründeten Stadttheaters wirkt, arbeitet Schlingensief tatsächlich mit Obdachlosen, Insassen aus Nervenheilanstalten, ehemaligen Neonazis und dem „gemeinen Volk“. Schlingensief verwirklicht die Castorfsche Pose und verleiht ihr damit Glaubwürdigkeit. Die Verbindung der „Autonome Raumkontrolle“ und des „Scheiterns als Chance“ erschließt sich vor allem durch die Kenntnis der Biographien der Produzenten und ihrer jeweiligen Beziehung zu den Institutionen: Sowohl Bert Neumann als auch Christoph Schlingensief haben im Laufe ihrer Arbeiten immer wieder die Zusammenführung von Kunst und Leben im öffentlichen Raum angestrebt. Während Neumann dieses 122 Castorf, Frank in: Hakker, Doja et. al.: Wir sind asozial. Theatermacher Frank Castorf über Spaß, Provokation und Kunst. Der Spiegel 52/ 1993. 221

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Bedürfnis zunächst durch den Verkauf selbstbedruckter T-Shirts am Berliner Ostbahnhof, später mit der Verbreitung der Volksbühnen-Plakate und schließlich mit der Rollenden Road Schau am Berliner Stadtrand verwirklichte,123 ging der Aktionskünstler Schlingensief an den Hamburger Hauptbahnhof, und richtete dort eine künstlerische „Bahnhofsmission“ mit Obdachlosen ein. Er gründete die Partei „Chance 2000“ (die natürlich im Wahlkampf scheiterte) und installierte für die Aktion „Ausländer raus! Bitte liebt Österreich“ in der Wiener Innenstadt einen Container mit Asylsuchenden. Die relative Riskiertheit des öffentlichen Raumes galt Schlingensief als Ansporn, die künstlerische Institution, in der jeder künstlerische Wagemut doch durch die Sicherheit der zu erwartenden Handlungen abgefedert ist, immer wieder zu verlassen. Viele seiner Straßenaktionen waren zwar offiziell an die künstlerische Institution gebunden, doch das war weder in Bezug auf die Teilnehmer, noch auf die Zuschauer immer offensichtlich. Die Aufregung der Wiener Passanten über die Asylanten bzw. über Schlingensiefs Aktion war echt und nicht inszeniert. Gleich einem Eulenspiegel lässt Schlingensief ihren Emotionen freien Lauf. Denn der öffentliche Raum überprüft nicht nur den Künstler, sondern je nach Setting auch alle, die ihn nutzen. Zugleich spiegelt die dieser Erkenntnis vorausgegangene autonome Aneignung des öffentlichen Raumes den Wunsch nach seiner Kontrolle wider, so unkontrolliert sich diese Aneignung auch gebärden mag. Das Scheitern dieses Vorhabens ist also vorprogrammiert; es wird zur Probehandlung. Bert Neumanns Entscheidung, die Theaterinstitution zu verlassen und sich auf das Experiment des Ausschöpfens von Freiräumen im real existierenden Sozialismus einzulassen, kann auch als ein Scheitern an den Institutionen interpretiert werden. Doch in eben diesem „Scheitern“ lag erst die Chance, die „autonome Raumkontrolle“ zu entwickeln und zu festigen – und dies erst recht, wenn der Leiter des zukünftigen Aktionsraumes selbst ein Spezialist für „Abweichende Linienführung“ ist.

123 Die „Rollende Road Schau“ ist ein Format, das Bert Neumann Mitte der 1990er Jahre erstmalig ausprobierte und das seither jede Spielzeit der Volksbühne begleitet. In vier containerartigen Waggons begibt sich ein Teil der Volksbühne an Berliner Rand- oder Außenbezirke und veranstaltet dort für ein paar Tage oder Wochen ein Spektakel aus Aufführungen, Kleinkunst, Kino, Musikveranstaltungen u.v.m. Zuletzt begab sich die „Rollende Road Schau“ außerhalb von Berlin nach Schwedt, in das Plattenbauviertel „Am Waldrand“. Die Idee dabei ist, das Theater an Orte zu bringen, wo es sonst nicht hinkommt, bzw. Zuschauern, die nie ein Theater besuchen würden, mit der Volksbühne vertraut zu machen und soziokulturelle Hemmschwellen abzubauen. Dabei wünscht man sich Synergieeffekte mit der jeweiligen Umgebung, die unterschiedlich wirkungsvoll sind. 222

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In diesem Sinne sind alle drei Praxisformen dazu angetan, innerhalb einer Institution, die den städtischen Auftrag zur performativen Differenzproduktion zu erfüllen hat, eine stabile Synthese von Dauer einzugehen, die man mit Lukács in der Tat als coincidentia oppositorum bezeichnen kann. Diese Synthese konnte zu einer institutionellen Leitdiee avancieren, die ihrerseits eine Komplexitätssteigerung innerhalb des Theaterfeldes hervorgebracht hat. Auf diese Weise gelang es den Produzenten, eine relative künstlerische Autonomie in Ost und West mit der Erzeugung von Bewusstseinsbedürfnissen zu verbinden, die sich gerade in einem Theater auf Dauer stellen konnten. Matthias Lilienthal bemerkt rückblickend: „Der Fragmentarisierung in den Inszenierungen stand die Inszenierung des Hauses Volksbühne als Identifikationsangebot gegenüber. Durch die Brechung der Aura mittels Rockmusik und Videoclips, durch die billigen Eintrittspreise [...] wurde das Haus ein Ort der Ostdeutschen [...] und plötzlich fiel einem auf, daß nicht nur Ostberlin alle seine Arbeitsplätze verloren hatte, sondern daß die postindustrielle Gesellschaft das Thema Westdeutschlands wurde.“124 Daraus gewann das Haus Reflexionsansprüche in zweierlei Hinsicht: Die Reflexion über die Neudefinition der „Mauer in den Köpfen“ und die damit verbundene Reflexion über die Frage, welches praktische Innovationspotenzial die Verschaltung der politischen mit der performativen Wende entfalten kann. Der Bedeutungsgrad der performativen Differenzproduktion und der symbolischen Wirklichkeitsorganisation wird insbesondere an der Figur René Polleschs deutlich. Um diesen Gedanken in Hinblick auf die Volksbühnen-Leitidee deutlicher zu machen, erlaube ich mir an dieser Stelle einen zeitlichen und räumlichen Exkurs – knapp zehn Jahre nach dem Intendanzantritt von Frank Castorf und in die Volksbühnen-Nebenspielstätte „Prater“.

4.2.5 Exkurs: René Pollesch Der Regisseur René Pollesch ist seit der Spielzeit 2001/2002 künstlerischer Leiter der Volksbühnen-Nebenstelle „Prater“. Er ist damit zu einer Zeit zur Volksbühne gekommen, als diese unter Castorfs Intendanz innerhalb des Theaterfeldes und der Berliner Kulturszene längst etabliert war. Was prädestinierte ihn für die Leitung des Praters, die er mit großem Erfolg meisterte, zu einer Zeit, in der die Bedeutung der Volksbühne bereits ihren Sättigungpunkt erreicht zu haben schien? Welche Veränderungen innerhalb des Theaterfeldes ermöglichten zugleich die Er-

124 Lilienthal, Matthias in: Schütt, Hans-Dieter et. al.: Castorfs Volksbühne. Schöne Bilder vom häßlichen Leben, S. 37. 223

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zeugung und die Reflexion von Bewusstseinsbedürfnissen, die seiner Praxis Geltung verschafften? René Pollesch gehört der gleichen Generation an wie Bert Neumann und Christoph Schlingensief. Er wurde 1962 in Dorheim/Friedberg als Sohn eines Hausmeisters und dessen Frau geboren. Im Vergleich zu seiner Herkunft ist sein Ausbildungsweg ungewöhnlich. Von 1983 bis 1989 studiert Pollesch Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und damit an dem Institut, das zu den bekanntesten und umstrittensten in der Bundesrepublik gehörte. Bis Andrzej Wirth zu Beginn der achtziger Jahre nach Gießen kam, vertrat die Gießener Hochschule wie die meisten anderen im Land eine rein theoretische Lehre. Wirth wurde nach Gießen berufen, um das neugegründete „Institut für angewandte Theaterwissenschaften“ nach dem Vorbild der amerikanischen Drama Departments zu leiten. Till Briegleb beschreibt den Geist des Instituts und den Studienaufbau: „Gemäß Wirths Motto, ‚Die Philosophie der Ausbildung heißt Ausdifferenzierung‘, besteht der von ihm entwickelte Studiengang [...] aus diversen Komponenten. Sogenannte Bausteinfächer – das heißt Seminare in nahezu allen geisteswissenschaftlichen Fächern, die in Gießen im Angebot sind – sorgen für ein aufwändiges Panorama an Einflüssen. Dazu vermitteln die Seminar-eigenen Lehrkräfte die theoretischen Grundlagen der Theaterwissenschaft – in Wirths Vorstellung im Sinne einer ‚Praxeologie‘, die nie den Kontakt zum künstlerischen Vorgang verlieren sollte. Und schließlich – als die entscheidende Neuerung, die dem Studium seine spezielle Energie verleiht – prüft die Probebühne mit den dazugehörigen harten Kritikergesprächen Motivation und Talent.“125

Die Leitidee der Ausdifferenzierung wird innerhalb des westdeutschen Theaterfeldes in den achtziger Jahren erstmalig für die Ausbildung systematisiert. Damit wird die Polyvalenz zur ästhetischen Orientierungsinstanz einer ganzen Bildungsinstitution erhoben. Blieben die neuen Methoden, die mit der performativen Wende in die Theaterpraktiken einflossen, zunächst auf den ausgeübten Beruf und auf einzelne Köpfe innerhalb der Universitäten beschränkt, wird nun einer ganzen Generation ermöglicht, jene Techniken zu erlernen. Diese Techniken müssen nicht mehr allein im beruflichen Distinktionskampf erobert werden, sondern gelten von nun an als prinzipiell legitime Praxisformen, deren Gegner sich auf massiven Widerstand gegenüber dem Primat der Werktreue einzustellen haben. Die Ausbildung konzentriert sich nicht mehr auf den Kanon der Dramentheorie, sondern auf besonders eigenwillige zeitge125 Briegleb, Till: Angewandt heißt mit dem Kopf durch die Wand. In: Theater heute 01/03. 224

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nössische Ansätze. Ein Blick auf die Liste der Gastprofessoren spricht für sich. Zu ihnen zählen Heiner Müller, Adolf Dresen, George Tabori, Robert Wilson und John Jesurun. Ein Kanon einstiger artistes maudits aus Ost und West trägt zur Durchsetzung der Differenzproduktion bei, die ihrerseits zum Leitmotiv der Ausbildung avanciert. Hans-Thies Lehmann, der wohl bedeutendste Theoretiker des postdramatischen Theaters, hat zusammen mit Wirth für die Etablierung der „Gießener Schule“, wie sie innerhalb des Feldes genannt wird, gesorgt. Lehmann steht für den Ansatz, fundiertes Wissen und Mut zum Experiment gleichermaßen zu vermitteln. Kritiker monieren am Gießener Modell die Vernachlässigung der Klassiker und die Beliebigkeit der Schwerpunkte. Lehmann hält dagegen: „Es schadet natürlich nicht, die antiken Tragödien zu kennen, man sollte es sogar, aber dann muß man sich vor allem fragen: Wie kann man heute damit umgehen? Und nicht: Wer spielt den Kreon?“126 Das Alltägliche, der vielzitierte Einbruch des Realen in das Theater erst verleiht der Arbeit mit klassischen Stoffen Berechtigung. Der Auftrag lautet: Differenzproduktion und Erkenntnisgewinn; dabei hat die Praxis Vorrang vor der Theorie, die „Fragehaltung“ ist wichtiger als das profunde Theoriewissen.127 Der herausgehobene Status der Hochschule versieht ihre Studenten mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, das ihre Wirklichkeitsorganisation mit der Zuschreibung einer zugleich außergewöhnlichen und legitimen Künstlerexistenz profiliert. Vielen ihrer Absolventen gelingt die Verlängerung des hier erlernten Professionsethos in das Berufsleben.128 Es beruht maßgeblich auf der radikalen Abwehr tradierter und der Erfindung bislang unerprobter Praktiken. Mir liegen keine Daten über die Herkunft des durchschnittlichen Gießener Absolventen vor. Doch die Tatsache, dass René Pollesch aus einem kleinbürgerlich-proletarischen Elternhaus kommt, legt die Vermutung nahe, dass er besonders prädestiniert ist für die von dem Institut vermittelte Abwehr der Klassik. Einige Untersuchungen, die sich mit der 126 In: Briegleb, Till: Angewandt heißt mit dem Kopf durch die Wand. In: Theater heute 01/03. 127 Hier noch einmal Lehmann: „Dem Mangel an bestimmten Grundkenntnissen – was ich bei der Betreuung der Abschlußarbeiten gelegentlich schon bemerken mußte – stand ein ausgebildetes eigenes Interesse und eine wirkliche Fragehaltung gegenüber. Und das finde ich nicht nur künstlerisch, sondern auch beim wissenschaftlichen Studium im Grunde viel wichtiger.“ In: Briegleb, Till: Angewandt heißt mit dem Kopf durch die Wand. In: Theater heute 01/03. 128 Zu ihnen gehören außer Pollesch u.a. Hans-Werner Kroesinger, Moritz Rinke, Bettina Masuch, Jens Roselt, She She Pop, Showcase Beat le Mot, Rimini Protokoll und Gob Squad. 225

INSTITUTION UND UTOPIE

Beziehung zwischen der Herkunft und den späteren ästhetischen Präferenzen von Schriftstellern und Künstlern beschäftigt haben, konnten diesbezügliche Homologien feststellen, die auch auf Pollesch zutreffen könnten.129 Es ist anzunehmen, dass das Gießener Institut der achtziger Jahre aufgrund seines „aggressiven“130 Praxisbezugs ein guter Ort für diejenigen Studenten gewesen sein musste, deren geringeres Bildungsvolumen anderswo als Manko empfunden und missbilligt worden wäre. In einem Elternhaus, in dem weder Racine noch Shakespeare im Bücherschrank stehen, ist es schwer, wenn nicht unmöglich, Interesse für das klassische Bildungskapital aufzubringen, geschweige denn als kulturelle Ressource aufzubauen. Das lässt sich im Studium nachholen – sofern es hier für nötig erachtet wird. Ist es das nicht, wird sich die Konzentration auf anderes lenken. In einem Feld, in dem die Bildungsressource zu den wichtigsten Zugangsvoraussetzungen überhaupt zählt, kann der erschwerte Zugang zu ihr zweierlei auslösen: das Gefühl der Minderwertigkeit und der Resignation oder das der Herausforderung. Ist diese erkannt und gemeistert – etwa durch den Sprung in eine andere soziale Schicht, ermöglicht durch das Studium – so vergessen die Akteure dennoch nie ihre Herkunft. Sie können es gar nicht, weil sie doch immer die Ausnahme bleiben; die Ausnahme von der Regel, nach der die Protagonisten der herrschenden Bildungsschichten zum überwiegenden Teil aus eben diesen stammen. Pierre Bourdieu hat sich mit diesem Tatbestand intensiv beschäftigt – und dies sicher nicht zuletzt, weil er selbst zu dieser Ausnahme gehörte. René Pollesch schildert seine Studienzeit: „Ich bin kein Literaturwissenschaftler. Ich wurde in meinem Studium gezwungen, auch Germanistik, Anglistik und Slawistik zu studieren. Wir von der Angewandten Theaterwissenschaft, uns hat das nicht interessiert. Wir hatten ein großes Selbstbewusstsein. Wir haben gelehrt bekommen und auch begriffen, dass es um eine Theatergeschichte geht, die praktisch ist, die von den Regisseuren ausgeht, von den Bühnenbildnern, und nicht von der Dramenliteratur.“131

129 Vgl. dazu Ponton, Remy: Traditions littéraires et tradition scolaire. In: Lendemains 36. Pahl Rugenstein Verlag. Köln 1984, S. 53-63; Bandier, Norbert: Sociologie du surréalisme (1924-1929). La dispute. Paris 1999. 130 „Dieser Zwang zur kreativen Improvisation förderte allerdings den Sinn für das Unorthodoxe sowie ein ‚aggressives Familiengefühl‘ (Staffel) und hat sich bei den Absolventen dieser Zeit bis heute bewahrt.“ Briegleb, Till: Angewandt heißt mit dem Kopf durch die Wand. In: Theater heute 01/03. 131 Im Gespräch mit mir am 13.7.2005. 226

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Einer seiner wichtigsten Lehrer, der US-Amerikaner John Jesurun, prägte Polleschs Inszenierungsstil nachhaltig. Jesurun, der ursprünglich vom Fernsehen kam – er hatte in den siebziger Jahren in der Fernsehforschung für den CBS gearbeitet und wurde später Produktionsassistent der Dick Cavett Show – kam Mitte der achtziger Jahre nach Gießen. Jesurun hatte nach seinem Studium der Bildhauerei, der Tätigkeit beim Fernsehen und der Produktion von Kurzfilmen den Weg zum Theater eingeschlagen. Er selbst bezeichnet seine intensive Auseinandersetzung mit dem Fernsehen als maßgeblich. Mit „Chang in a void moon“ schuf Jesurun ein wöchentliches Theaterformat, in dem es keine chronologische Abfolge gibt. Jesurun erläutert seine Vorgehensweise: „Manche Szenen hatten nur zwei Worte Text, wie bei einem sehr kurzem Schnitt. Deswegen war es eben auch kein Theater im herkömmlichen Sinn – woran ich mich auch gar nicht orientierte. Die Szenen waren hart aneinander geschnitten, allein dem Ablauf folgend, den ich mir vorstellte. Surrealistisch, mit sehr schnell gesprochenem Text – nicht dramatisch, sondern filmisch. Es sollte klar sein, dass es hier um ein Medium geht, das weder Film noch Fernsehen ist. Dazu ungewöhnliche Perspektiven mit einem scheinbar senkrecht geklappten Bühnenboden, so dass man alles wie von oben sah.“132

Andrzej Wirth ist begeistert und lädt Jesurun nach Gießen ein: „Gießen war für mich ein Ort, an dem man Dinge anregen konnte, alles Mögliche machen konnte, was gerade auszuprobieren war. Meine Schreibtechnik für Stücke schien besonderen Eindruck zu machen: kurz und knapp, keine unnötigen Worte. Einige meinten, das wäre nur als Skizze hingeworfen, eben nur Text. Mit der Tradition des amerikanischen Dramas hat das absolut nichts zu tun. Ich komme ja mehr vom Film. Die Erzähltechnik meiner Stücke ist sprunghaft. Und manchmal ist ein rein linearer Zusammenhang gar nicht angelegt. Den muß man selbst herstellen. Nicht anders als in manchen Filmen. Vielleicht sogar noch abstrakter. Aber gerade das hat die jungen Leute sehr interessiert.“133

Wie sehr René Pollesch am Erlernen der schnellen Schnitttechnik interessiert war, wird in einem seiner frühen Texte geradezu schmerzlich spürbar:

132 Jesurun, John in: Irmer, Thomas: Erfinder einer neuen Theatersprache. Gespräch mit John Jesurun. Programmheft “Spielzeiteuropa – Internationales Theater im Haus der Berliner Festspiele“ Nr. 3 04/ 05 Dezember 2004. 133 Ebd. 227

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„(Natascha in einer Schlinge, auf einem Hocker, an einem Fleischerhaken, hochhackige Schuhe) NATASCHA: Ich hab’s gelernt, Jack! Ich hab’s gelernt! KETTENSÄGEN NATASCHA: Johnny! Hilfeee!! Hört mich denn niemand!! Oh Gott! Ich werde zersägt von einem unmenschlichen Stumpf!! KETTENSÄGEN NATASCHAS KREISCHEN (Jones mit Maske von links mit Kettensäge und an seinem Bein den bewußtlosen Johnny.) NATASCHA: Johnny!!! Oh mein Gott!!! Geschieht das alles hier wirklich??!! KETTENSÄGEN NATASCHAS KREISCHEN (Jones sägt Johnnys linkes Bein ab. Johnny erwacht, schreit. Jones links ab.) NATASCHA: Johnniiee!! Oh mein Gott!! JOHNNY: Natascha!“134

„Ich schneide schneller“ (1993) endet in einem blutigen Massaker, in dem die zerschnittenen Darsteller nur noch als entleibte Überreste über die Bühne robben. Wenn Hans-Thies Lehmann von der Fragmentierung der Erzählstruktur spricht, die für das postmoderne Theater so typisch ist, so wird davon bei Pollesch auch das Subjekt selbst nicht verschont. Es wird zum Material. Das ist die Form. Der Fragmentcharakter trifft aber noch viel mehr auf die Inszenierung selbst zu. Das Gießener Professionsethos der Differenzproduktion basiert entsprechend dem postdramatischen Paradigma auf erhöhter Selbstreflexion. Diese Selbstreflexion betrifft nicht nur die Frage der medialen Techniken und der Erzählstruktur, sondern vor allem das spezifisch-subjektive Erleben des Autors, dessen Eigengeltung in eine Produktionsressource umgedeutet wird. Damit ist ein weiterer Autonomisierungsschub vollzogen, den Lehmann verteidigt: „Die Autonomisierung des Theaters ist nicht, als was man sie gern bagatellisiert, das Resultat der Selbstüberschätzung geltungssüchtiger (post)moderner Regisseure. Die Entstehung des Regietheaters war vielmehr potentiell in der ästhetischen Dialektik des dramatischen Theaters selbst angelegt, das bei der Entwicklung als ‚Darbietungsform‘ immer mehr die Mittel entdeckte, die ihm auch ohne Rücksicht auf den Text innewohnen.“135 Diese Dialektik findet Lehmann bereits bei Hegel:

134 Pollesch, René: Ich schneide schneller, S. 66. 135 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 80. 228

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„Zum Drama gehört für Hegel essentiell und nicht (wie bei Aristoteles) als bloße Äußerlichkeit, daß die ‚Personen‘ von wirklichen Menschen mit deren eigener Stimme, Körperlichkeit und Gestik verkörpert werden. Damit ist eine eigentümliche ‚performative Selbstreflexion des Dramas‘ gegeben, die [...] in die gleiche Richtung weist wie der latente Bruch in der schönen Kunst aufgrund der ‚Defizienz ihrer Versöhnungsleistung‘. Indem nicht mehr die eine Stimme des Erzählers oder Rhapsoden die Realisierung leistet, sondern ein notwendige Pluralität von Stimmen, gewinnen die partikularen, ‚einzelnen‘ Subjekte eine solche autonome Berechtigung, daß es unmöglich wird, ihr je einzelnes Recht zugunsten einer dialektischen Synthese zu relativieren.“136

Polleschs Arbeiten im Prater der Volksbühne sind ganz auf dieses Prinzip ausgerichtet. Und mehr noch – sie konzentrieren sich auf die Problematik des permanenten Bruchs – der Schnitte, der Erzähllinien, der Musikeinlagen in eine Produktionsweise, die von den Produzenten ausgeht und dennoch über sie hinausreichen will, wie Pollesch im Gespräch erläutert: „Ich konstruiere nicht. Das ist nicht meine Hausarbeit als Regisseur. Ich bin nicht so ein Regisseur, der eine Oper plant, der sich semantisch beschäftigt und dann Zeichen setzt, das ist mir zu konsumentenorientiert. Ich kann nichts für den Leser machen. Ich kann nur etwas für den Leser machen, indem ich mich, ohne mir etwas vorzumachen, mit einem Thema beschäftige, weil ich es brauche. Nicht als Luxus. Den Luxus muss sich jeder gönnen, mit Theorien, die es ja gibt, seinen Alltag zu reflektieren und eine Liebesbeziehung nicht nur mit einem romantischen Vokabular und mit einem Austausch von Gedichten zu verbinden. Im Grunde ziele ich auf mein spezielles Leben. Nicht in der Hoffnung, dass ich es allgemein mache, so konsumieren kann, sondern ich bleibe bei dem Speziellen. Das ist genau der Vorgang: wir [an der Volksbühne, T.B.] beharren auf dem Speziellen unseres Lebens. Das ist keine Selbstbezüglichkeit, sondern es ist der Wunsch, dass wir etwas konstruieren können, was sich mit dem Speziellen jedes einzelnen Zuschauers beschäftigt. Nicht, damit wir die Trefferquote erhöhen, sondern einen Apparat zur Verfügung stellen. Wenn ich ‚Stadt als Beute‘ mache und daraus für mich einen Apparat mache, mit dem ich mein Leben denken kann, dass vielleicht dieser Apparat das spezielle Leben eines Zuschauers im Publikum denken kann. Der aber nicht verpflichtet ist, sein Leben allgemeiner zu machen.“137

Der Vorgang, den Pollesch beschreibt, könnte auf das Lukácsche Postulat der „Subjektivation“ zugespitzt werden, wenngleich Lukács vermutlich weit davon entfernt wäre, sich mit den Methoden von Pollesch an136 Ebd., S. 68. 137 Im Gespräch mit mir am 13.7.2005. 229

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freunden zu können. In seinem Aufsatz über die „Subjekt-ObjektBeziehung in der Ästhetik“ bemerkte Lukács: „Die Objektivität des Werkes hebt also seine vollendete Selbstgenügsamkeit teilweise auf, es ist nunmehr als ‚utopische Wirklichkeit‘, als immanente Erlebniserfüllung, als Ziel der künstlerischen Tätigkeit da [...].“138 Polleschs Anspruch, dem Zuschauer einen „Denkapparat“ von Wirklichkeitsorganisation zur Verfügung zu stellen, erhält schließlich in folgendem Satz Lukács den Charakter der Sollgeltung: „Der Charakter des Werks als reine Subjektivation wird infolgedessen nicht nur durch sein Objekt-Sein für die normativ zugeordneten Subjekte verdunkelt, sondern erhält auch eine Geltungsqualität des ‚Allgemeinen‘, die dem an sich betrachtetem Werte noch fremd war: Das Werk erscheint nunmehr, statt Selbsterfüllung zu sein, als das vollendete Schemata der erlebbaren Erfüllung überhaupt.“139

Das Postulat der Subjektivation erhält innerhalb einer künstlerischen Institution wie dem Theater die Kontur des Repräsentativen – als allgemeine Geltungsqualität. Polleschs Techniken zielen mithin auf eben die Unterminierung dieses Postulats, doch der Vollzug gilt auch ihm offenbar als Erlebniserfüllung im Sinne einer Verlebendigung von Bewusstseinsansprüchen. Als Protagonist des „postmodernen Theaters“ verkörpert Pollesch eine Haltung des réfus, die den tradierten theatralen Repräsentationsmustern ein Scheitern attestiert. Auf diese Weise konnte es Pollesch gelingen, zu einer Neubestimmung seiner ästhetischen Praxis innerhalb des Theaterfeldes zu kommen. Seine Spezialisierung war durch die feldbedingte Öffnung zu einer Anerkennung der performativen Wende gestützt, die schließlich in der Berliner Volksbühne einen praktischen Aktionsraum etabliert hatte. Innerhalb der Institution Volksbühne trugen diese Praxisformen gleichwohl zur Allgemeingültigkeit spezifischer und individuell rezipierbarer Reflexionsbedürfnisse bei. Helmut Schelsky bemerkt zu der Wechselwirkung aus subjektiver Reflexion – als Moment von Innovation – und der Bildung institutionenspezifischer Leitbilder – als Moment der Stabilisierung: „Jede Institution ist in sich selbst ein technischer Apparat und ein informatives Kommunikationssystem; beide Subsysteme sind institutionell zwar primär auf die Funktionen und das Leitbild der jeweiligen Institution bezogen, können sich aber in ihrer Entwicklung und Veränderung auch verselbständigen. [...] Dies liegt daran, daß das Leitbild jeder Institution vor allem in der intersubjek138 Lukács, Georg: Der Subjekt-Objekt-Charakter in der Ästhetik, S. 178. 139 Lukács, Georg: Der Subjekt-Objekt-Charakter in der Ästhetik, S. 179. 230

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

tiven Kommunikation lebt und daher jede Verstärkung oder Erneuerung der informatorischen, also sprachlichen und symbolischen Interaktion in einer Institution die normativen Ansprüche des Leitbildes verlebendigt und damit den Wandel der Institution in Richtung auf ihre ideelle Vervollkomung induziert.“140

In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, dass der stabilisierende Faktor jener intersubjektiven Kommunikation innerhalb der Volksbühne, die schon durch die Existenz von vier141 sehr unterschiedlich motivierten Formen von praktischer Wirklichkeitsorganisation evident ist, eben darin besteht, einen jeweils hohen Grad an Subjektivierungs- und Reflexionsansprüchen anzumelden. In der Ausdifferenziertheit der jeweiligen Repräsentationsmuster, die sich durch die systemischen und biographischen Rahmenbedingungen stark unterscheiden, liegt eben das Moment der Spannung, die sich in multipolarer Form über die gesamte Institution zieht und diese Kunstproduzenten gleichwohl eint. Damit ist eine fast idealtypische Voraussetzung für eine erfolgreiche „Institutionalisierung des Abweichenden“ geschaffen, die sich in einem gesellschaftlichen Zustandes der Anomie, d.h. innerhalb des Bruchs zwischen sozialer Struktur und kultureller Struktur verstetigen kann. Dies kann um so besser gelingen, als dass die Leitidee maßgeblich von den Protagonisten geprägt wird, aus deren Perspektive überhaupt von „Anomie“ gesprochen werden kann. Das sind die Produzenten aus Ostberlin. Sie sind es zu Beginn der 1990er Jahre aufgrund ihrer Kenntnis eines Systems, in dem die „kulturelle Anomie“ zum Alltag gehörte und aufgrund einer in diesem System erworbenen ästhetischen und handwerklichen Präzision, die es ihnen erlaubt, den Auftrag zur performativen Differenzproduktion mit einer Lässigkeit zu übernehmen, die im Westen schon längst verloren schien.

4.3

Instituierung und Institution

Ich habe in der ersten Hälfte des 4. Kapitels versucht, die symbolischen Wirklichkeitsorganisationen, die sich in den beiden Kultursystemen Ost und West ausgebildet hatten, mit den beruflichen Ausbildungswegen von vier zentralen späteren Volksbühnen-Akteuren zusammenzuführen. Ich wollte daran deutlich machen, wie es dazu kam, dass sie in ihren 140 Schelsky, Helmut: „Zur Theorie der Institution“, S. 25ff. 141 Es sind mehr; ich beschränke mich der Erleichterung der Analyse wegen auf diese vier Personen. 231

INSTITUTION UND UTOPIE

späteren Berufsleben bestimmte Entscheidungen trafen, die für die Leitidee der Volksbühne grundlegend sind. Um die Stabilisierungseffekte der idée directrice, die sich in der Volksbühne etabliert hat, nunmehr zu konkretisieren, werde ich mich im Folgenden genauer mit dem strukturellen Verhältnis zwischen Instituierung und Institution und dessen Wirken in der Volksbühne befassen. Dabei ist die These leitend, dass die beschriebenen Abweichungsbewegungen, die in Ost- und Westdeutschland vor der Vereinigung vollzogen wurden, als projektive Praktiken der Instituierung von Grenzexistenzen zu verstehen sind, deren anomische Intentionen im Zuge ihrer Institutionalisierung transformiert wurden. Der Begriff der Transformation soll maßgeblich einen Deutungswandel jener Anomien bezeichnen, deren Differenzpotential zum einen politisch neu ausgelotet werden musste, zum anderen durch den Tatbestand der Institutionalisierung auf einer gesellschaftlichen und offiziellen Anerkennung der formulierten Bewusstseinsansprüche beruhte. Gerade der Erfolg der Volksbühne steht beispielhaft für die Anpassungsfähigkeit des künstlerischen Professionsethos an eine neue Gesellschaftsformation: In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich konnten die kulturellen Anomien aus Ost und West nach dem Mauerfall so wirkungsvoll institutionalisiert werden und ihre utopistischen Möglichkeitsräume auf Dauer stellen wie in dem Theater am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Im ersten Kapitel hatte ich das Phänomen der Instituierung in Anlehnung an Bourdieu und Castoriadis als einen symbolischen Möglichkeitsraum beschrieben, der sich vermittels eines bestimmten Habitus, der im Feld der Kulturproduktion auf Abweichung und Differenzsetzung zielt, als Bewusstseinsanspruch manifestiert. Dieser Anspruch kann insbesondere in Phasen gesellschaftlicher Krisen, in denen tradierte Ordnungsprinzipien in Frage gestellt werden, spezifische soziale Verkehrsformen hervorbringen und identitätsstiftend wirken. Die soziale Wirkmächtigkeit dieser zunächst maßgeblich symbolischen Sollgeltungen liegt in der Kompetenz der Akteure, ihre abweichenden Zielvorstellungen utopistisch zu wenden und dadurch transformierende Bestrebungen kenntlich zu machen. Dabei werden, häufig eher implizit als explizit, Stabilisierungseffekte erzeugt. Der Prozess der Instituierung abweichenden Verhaltens wird durch einen Bruch innerhalb der sozialen und kulturellen Gefüge ausgelöst, demzufolge vormals gefestigte Positionen grundlegend erschüttert oder auch abgeschafft werden. Im Fall der französischen Bohème konstituierte sich dieser Bruch durch das Auseinandertreten zwischen der höfisch-universalistischen und der bürgerlichzweckorientierten Lebensführung, das eine Neudefinition des Künstlers ermöglichte. Die Bohème konnte an das zweckfremde Ethos anknüpfen, 232

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

doch der damit verbundene Sozialstatus war ihr bis auf weiteres verwehrt.142 Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz als künstlerische Gesamtfiguration befand sich in einer historisch vergleichbaren Situation, weil sie zum einen an der Sublimierung des staatssozialistischen Professionsethos einer immer auch politischen Kunst festhielt, ohne gleichwohl deren soziale Bedingungen in das vereinte Theaterfeld in realiter übertragen zu können: Diese war von nun an durch das marktwirtschaftlich geprägte Professionsethos bestimmt, das eine Desakralisierung des Politischen – und insofern eine Rationalisierung der Lebenswelt – erzwang. In ihrer inneren Dynamik behauptet die westliche künstlerische Handlungsorientierung gleichwohl das tradierte Ethos der scheinbar interesselosen Kunst und damit eine Überhöhung der Künste über die „prosaische Tätigkeit“. Hier ist ein Spannungsverhältnis zwischen der Rationalisierung des politischen Auftrages und der – vom Feld nunmehr erwarteten – Bedeutungsverschiebung hin zu einem kulturellen Selbstverständnis, das maßgeblich auf Eigengeltung beruht. Beide Komponenten sind zugleich feldstrukturierend für das Funktionieren des Theaterfeldes, das sich ohnehin – im Westen stärker noch als in der DDR – im Spannungsverhältnis des simul et singulis bewegt, wie ich im zweiten Kapitel gezeigt habe. Die besondere Prädestiniertheit des Theaterfeldes, nach dem Fall der Mauer eine Vorreiterrolle für die Vereinigung der beiden deutschen Kulturen – hier: der kulturellen Anomien, die sie je hervorgebracht hatten, zu spielen, wird an diesen strukturellen Überschneidungen deutlich. Das betrifft auch das historische Moment. Sowohl im Fall der Bohème als auch im Fall der Volksbühne war die politische Situation durch eine allgemeine Empfänglichkeit für Konzeptualisierungsleistungen gekennzeichnet, die mit dem Außerkraftsetzen von tradierten Handlungsorientierungen besonders dringlich erschienen. Es ist dieses Moment von Rationalität der Kunstproduktion, dem Bourdieu mit seinem Appell, eine differenzielle Anthropologie der symbolischen Formen zu etablieren, auf die Spur kommen wollte. Die kulturellen Anomien in Ost und West und der Utopieverlust der Nach-Wende-Zeit setzte, so meine Vermutung, die Bedingungen für eine symbolische Zuspitzung der gesellschaftlichen Folgen des Mauerfalls, die nicht nur in der Abwicklung der sozialen Struktur der „Konsensdiktatur“ lagen, son142 Die ‚sozialistische Bohème’ befand sich in einer anderen Lage, denn ihre Herausbildung basierte auf einer Inkongruenz innerhalb der kulturellen Struktur der DDR, die gleichwohl in der Logik ihres Verzahnungsprinzips von ‚offizieller’ und ‚inoffizieller’ Kunstproduktion lag. Ihr Sozialstatus war trotz aller Schwierigkeiten weitgehend staatlich abgesichert und überformt. 233

INSTITUTION UND UTOPIE

dern auch in dem zugleich stattfindenden Vereinigungsprozess mit dem Westen. Waren die Abweichungen innerhalb der zwei politischen Systeme noch in deren jeweiliger immanenter Logik verhaftet, so hatten sie sich im vereinten Feld der Kulturproduktion unter veränderten Bedingungen zu behaupten. Wollten sie als ernstzunehmende Bewusstseinansprüche auf der Höhe der Zeit operieren, bedurften sie einer idée directrice, die diese neue Lage auszudrücken versteht. Am Theater wird der praxeologische Charakter einer solchermaßen herbeigesehnten Leitidee besonders augenfällig, weil in ihm die Vorteile der Verdichtung, die jede Kunstproduktion aufweist, mit dem Konstruktionscharakter ihrer narrativen und szenographischen Praxis verknüpft und in einen institutionellen Rahmen eingepasst wird. Hier wird gleich einem Mikrokosmos der ganz konkrete wechselseitige Prozess der Aufnahme gesellschaftlicher Tatbestände und ihrer performativen AufDauer-Stellung sichtbar, der indes nur unter der Voraussetzung einer relativen Autonomie der Produzenten selbst und einem sens pratique bestehen kann, der seinen Erfolgsbedingungen stets versucht, einen kleinen Schritt voraus zu sein. Das ist, mit dem entsprechenden ästhetischen Können, deshalb einfacher für die Produzenten aus Ostberlin, weil sie den nicht zu unterschätzenden Erfahrungsvorsprung hatten, eine gänzlich andere Gesellschaft erlebt zu haben, deren Untergang ihnen auch das Wissen um die Relativität politischer Rahmenbedingungen und unumstößlich geltender Normvorstellungen in ihre Biographie geschrieben hat. Das Ethos der Ostberliner Produzenten war aber auch und vor allem gegen seine westliche Konkurrenz gewappnet, weil es schon zur Kunstideologie der DDR ein distanziertes Verhältnis hatte. Castorf und Neumann wussten sehr gut, was relative Autonomie unter der Ägide der überpädagogischen Umklammerung der Partei bedeutete. Sie würden sich auch innerhalb einer staatlich geförderten Theaterinstitution kein Quentchen der durch den krisenhaften Ausnahmezustand nach dem Mauerfall neugewonnenen Freiheiten nehmen lassen. Stattdessen werden sie vielmehr auch deren Relativität rasch erkennen, sie als Bestandteil ihrer nunmehr institutionalisierten symbolischen Wirklichkeitsorganisation akzeptieren und auf ein bisher ungekanntes ästhetisches Spannungsniveau treiben. Ihre Suche ging daher nach einem neuen Realismus, den sie in der Rettung eines in Ost und West instituierten Utopismus anwendeten. Selten in der Geschichte war eine solche Suche derart illusionslos und ideologieresistent wie im letzten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts. Es war der Schritt zur Institutionalisierung des Instituierten; eine doppelte Institutionalisierung auch deshalb, weil es sich um eine bedingte Neugründung handelte – diese erwuchs nicht aus dem Nukleus ost- und westdeutscher autonomer Künstler, sondern erfolgte 234

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

im städtischen Auftrag, der gleichwohl ohne das unbewusste Wissen um die transformierende Wirkmächtigkeit solcher Autonomien niemals hätte erteilt werden können. Damit bestätigt sich die These von Castoriadis, nach der das gesellschaftlich Imaginäre – womit die allgemeinen Zielsetzungen gemeint sind, die das Gebilde eines staatlichen Systems konturieren – sich zeitlich vor ihrer konkreten Funktionalität konstituiert; dass also Institutionen ohne das zuvor Instituierte nicht denkbar sind. Auf die Volksbühne übertragen, ließe sich dieser Gedanke in folgendes Schaubild übersetzen:

INSTITUIERUNG

INSTITUTION

anomische Praxis und Figurationsbildungen (DDR/BRD 1980er Jahre)

Volksbühne (ab 1992)

UTOPIE/-VERLUST TRANSFORMATION

Der Utopieverlust bedingte die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft und zugleich die Verstetigung ihres abweichenden Moments im kulturellen Raum – hier: in der Volksbühne. Die Übernahme der Volksbühne durch eine Figuration, deren innerer Zusammenhalt vor allem in der Thematisierung symbolischer und gesellschaftlicher Grenzen liegt, die in Schwellen umgewandelt werden, stößt nach dem Verschwinden der deutsch-deutschen Grenze auf ein grenzübergreifendes Echo. Doch die institutionelle Verstetigung dieser Praxis markiert auch den Beginn jener von Dieckmann beschriebenen bangen Neuorientierung. Die relative Riskiertheit der Posten wird schon in Ivan Nagels Empfehlung deutlich – entweder die Truppe wird „berühmt oder tot“ sein, damit erledige sich die Frage der Subventionierung ganz von selbst. Zudem stammte die „Truppe Ost“, die sich mit westlichen Kollegen verbündete, aus einem Feld, das sich maßgeblich aus der Gegensatzspannung zum Westen konstituiert hatte. Parallel zur Übernahme des Theaters steht zu Beginn der neunziger Jahre damit auch die Möglichkeit einer Neubestimmung der alten Feldstruktur Westberlins auf der Tagesordnung. Diese spannungsreiche Gesamtlage, in der sich das Berliner Theaterfeld Anfang der neunziger Jah235

INSTITUTION UND UTOPIE

re befindet, markiert eine Ausnahmesituation, die zeitlich begrenzt ist und deren krisenhafte Züge unübersehbar sind. Von ihnen ist der Prozess der Institutionalisierung der Volksbühne als Kulturhaus im Herzen der Stadt deutlich geprägt. Die Krise verleiht dem Haus dabei eine besonders prominente Position in der frühen Vereinigungsphase Berlins. Die Vereinigung zweier Kultursysteme ist in vollem Gang. Die Auflösung der Gegensatzspannung zwischen Ost und West, so wollen es Politik und Wirtschaft, aber auch weite Teile der Gesellschaft, soll mit einem Schlag vollzogen werden. Erst allmählich wird klar, dass ein langwieriger und komplizierter Prozess bevorsteht. Die Metapher der „Mauer in den Köpfen“ taucht auf – und bleibt. Die CDU lehnt die „Truppe Ost“ im Berliner Senat ab, man plädiert stattdessen für ein Musical-Theater am Rosa-Luxemburg-Platz, dessen Namensgeberin nun auch nicht mehr wohlgelitten ist, was aus Sicht der Abgeordneten die Umbenennung des Platzes erfordert. Dieses multipolare Kräfteverhältnis grundiert eine Gemengelage, in dem die Eigengeltung des Feldes der Kulturproduktion an Bedeutung gewinnt und neu befeuert wird. Es ist aus Sicht der Volksbühnen-Produzenten zugleich konstitutiv für eine Wirklichkeitsorganisation, die nach Gehlen – als „Selbstwert im absoluten Sinne“ – Institutionalisierungsprozesse erst ermöglicht. Die Befürworter Frank Castorfs werden sich schließlich durchsetzen: die „Truppe Ost“ soll „ihr Theater machen“, sich also selbst repräsentieren, und sie wird eben diese Sollgeltung gegen einen Zeitfluss verteidigen, der sich anschickt, sie zur Makulatur zu erklären. Castorfs Professionsethos der „abweichenden Linienführung“ klingt ein halbes Jahr vor seinem Intendanzantritt so: „Ich denke, es könnte Spaß machen, ein Programm vorzustellen in einer Zeit, die, abgesehen von der Programmhaftigkeit des Marktes und des Geldes, kein Programm mehr hat. Über Utopien nachdenken zu dürfen, die jetzt als Gesellschaftsmodell verlorengegangen sind. Das kann man nur dann wirklich praktizieren, wenn man ein Steuer in der Hand hält.“ Der durch die Spielleitung des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz geadelte angepasste Dissident wird gefragt, ob der Berliner Kultursenator sein Konzept kenne: „Ja. Und er will es auch. Er will, glaube ich, nicht nur Schönheit, sondern so etwas wie politisches Beharrungsvermögen. Der Senat von Berlin hat Interesse bekundet, daß wir einen solchen Akzent setzen.“ Der zukünftige Intendant fügt hinzu: „Wir machen ja doch nur Theater.“143

143 Castorf, Frank in: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 314. 236

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

Basiert künstlerische Innovation, wie im Falle der VolksbühnenAkteure, auf Repräsentationsmustern, die aus einer untergegangenen Kultur kommen, können (künstlerische) Fiktion und (postsozialistische) Lebensführung auf besondere Weise zusammengeführt werden. In der symbolischen Wirklichkeitsorganisation, die Castorfs Theater hervorzubringen angetreten ist, wird die Idee mitgeführt, dass die Repräsentationsmuster der DDR auf eine bestimmte Weise erhalten und aktualisiert werden müssen. Denn die Repräsentationsmuster waren nichts anderes als die Grundlage einer Lebensführung, die einmal gegen den Kapitalismus entworfen wurde und nun, scheinbar überflüssig im marktwirtschaftlichen Alltag, genügend Stoff für sublimierte Differenzproduktion hergibt. Dieser Stoff und die mit ihm verbundene Praxis seiner Aktualisierung ist, gerade weil er nicht mehr Teil eines politischen Systems von Bedeutung ist („Wir machen ja doch nur Theater“), anschlussfähig an das marktwirtschaftliche Professionsethos, das den künstlerischen Beruf zum Selbstzweck erklärt hat. Diese grundsätzliche Anschlussfähigkeit schafft in einer Situation, in der die Feldpositionen neu gemischt werden, eine wichtige Basis für individuelle, für neue Handlungsorientierungen, wie Bourdieu sie schildert: „Die wahrscheinliche Zukunft des Feldes ist stets in der Struktur des Feldes schon enthalten, aber jeder Akteur gestaltet seine eigene Zukunft – mit der er zur Zukunft des Feldes beiträgt – durch das Realisieren objektiver Potentialitäten, über die in der Beziehung zwischen seinen eigenen Kräften und den im Feld objektiv enthaltenen Möglichkeiten entschieden wird.“144

Bourdieu beschreibt hier exakt den Moment des Überganges von der Instituierung zur Institution. Die mögliche Neubestimmung der praktischen Orientierungen innerhalb des Berliner Theaterfeldes hing für die neue Figuration, die die Volksbühne übernehmen sollte, von zweierlei ab: von ihrem Geschick, den gesellschaftlichen Ausnahmezustand in eine Plattform für ihre Interessen umzudeuten, und von ihrer relativen Autonomie gegenüber den Kräften, denen sie ihre neue Position verdankten. In der künstlerischen Praxis äußert sich dieses Bedürfnis in der Suche nach symbolischen Grenzen und der Rationalisierung dieser Suche. „Und dann hat Theater auch die Aufgabe, etwas zu tun, was in der Gesellschaft nicht gewünscht wird: nämlich unbequeme Wahrheiten zu sagen und damit zu einer provokativen Haltung zu finden,“145 kommentiert Castorf 1992 sein Verständnis von der symbolischen Revolution. 144 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 430. 145 Castorf, Frank in: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 316. 237

INSTITUTION UND UTOPIE

4.4

S ym b o l i s c h e W i r k l i c h k e i t s o r g a n i s a t i o n

Es lag in der Logik der Berliner Felddynamik nach dem Mauerfall, dass die hier wirkenden und widerstrebenden Kräfte einer knirschenden Vereinigung nach symbolischer Entäußerung strebten. Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um den Nutzwert einer solchen Kanalisierung aus Sicht der städtischen Instanzen nachvollziehen zu können. Für die „Truppe Ost“ hatte sich formal also eigentlich nichts geändert. Auftrag bleibt Auftrag. Die Instituierung und Transformation anomischer Kulturen vollziehen sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Geist eines staatssozialistisch grundierten kommunalen Pragmatismus. Dessen Orientierungen, die sich zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang ausgebildet hatten, drücken sich durch eine symbolische Verkoppelung spezifischer Wirklichkeitsorganisationen aus. Die damit verbundene künstlerische Praxis grundiert die normative Leitidee als chronische Herausforderung, die sich an der Volksbühne zur Dauerreflexion stabilisieren wird. Diese Dauerreflexion ist von vier Kontexturen durchzogen: 1. „Nordamerikanischer Zynismus“ 2. Relative Autonomie 3. Ästhetischer Empirismus 4. Modellfall freie Arbeit

4.4.1 „Nordamerikanischer Zynismus“ Erving Goffman, der Dramatologe unter den Soziologen, merkt in „Wir alle spielen Theater“ zur Institutionenanalyse an: „Mir scheint es, als sei der dramaturgische Ansatzpunkt eine fünfte Perspektive neben der technischen, der politischen, der strukturellen und der kulturellen Perspektive. Die dramaturgische Perspektive kann ebenso wie jede der anderen vier als Ziel der Analyse, als ein endgültiges Ordnungsprinzip verwendet werden. Sie führt uns dazu, die Techniken der Eindrucksmanipulation, die in einer bestimmten Institution angewandt werden, die wesentlichen Probleme der Eindrucksmanipulation und die Identität und das Beziehungsnetz der verschiedenen Vorstellungsensembles einer Institution zu beschreiben.“146

Wir haben es also, folge ich Goffman, an der Volksbühne mit zwei Darstellungsebenen zu tun: der Darstellung im Prozess der Kunstproduktion selbst, d.h. der theatralen Aufführung, des Konzertes usw.; und der Selbstdarstellung der Volksbühne als kollektiver Handlungsakteur. In 146 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater, S. 219. 238

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der wechselseitigen Anwendung der Feldtheorie Bourdieus und den Institutionentheorien lässt sich die Volksbühne auch als „kollektiver Handlungsakteur“ bezeichnen. Die Selbstdarstellung – als Verhaltenskodex – ist innerhalb des Theaterfeldes eine unübersehbare Größe. Doch mir geht es hier weniger um den Habitus der einzelnen Akteure oder Gruppen (etwa den Schauspielerhabitus), sondern vielmehr um die Gesamtdarstellung des Hauses, die ein spezifisches Selbstverständnis praktiziert und ritualisiert. Die neue Leitung der Volksbühne-Ost sieht sich mit der Abwicklung der DDR und dem Einstieg in die freie Marktwirtschaft geradezu zu einem zynischen Habitus herausgefordert. Als Frank Castorf 1994 gefragt wird, was er unter Wiedervereinigung versteht, lautet seine Antwort: „Eine Form sublimer Kolonialisierung, gegen die ich mich wehren werde.“147 Zu der Parole „berühmt oder tot“ äußert er sich 1995 in einem Gespräch: „Das ist einfach die Fragestellung der Zeit. Dieser Nordamerikanische Zynismus ist mir wichtig, weil er sagt ‚entweder oder‘. [...] Man muß kämpfen um sein Daseinsrecht. [...] Wenn ich sage, dann lieber ein Schwimmbad aus der Volksbühne machen, das meine ich auch. Wenn man nicht gebraucht wird, wenn man nicht gemocht wird, warum soll man sich aufdrängen.“148 Zu diesem Zeitpunkt ist Castorf Leiter einer Institution, die inzwischen so erfolgreich ist, dass Ivan Nagels ambivalentes Prophezeiungspendel schon deutlich in Richtung „berühmt“ ausschlägt. Sein Habitus weist zugleich die von Norbert Elias betonte Präferenz nicht-utilitaristischer Prinzipien auf: Was Elias in seiner großen Studie über die höfische Gesellschaft am Beispiel der aufsteigenden, dem Adel folgenden Finanziers beschrieb und auf das Verhalten der Bohème übertragbar ist, ist ein Ehrenkodex, der vor den wirtschaftlichen Ertrag kommt. Wie üblich taucht Castorf mit ironischem Wellenschlag unter der heroischen Geste weg, ohne sie gleichwohl vollständig in Frage zu stellen. Dazu passt das Bild des Schwimmbades. Castorfs Antworten sind soziologisch interessant, weil sie einen zentralen Punkt berühren: In einer Sektion der Kunstproduktion, die so stark von öffentlichen Geldern und der Platzauslastung des Publikums abhängig ist wie das Theater, ist dauerhafte Stabilität – das heißt dauerhafter Erfolg – nur durch erfolgreiche Bedürfnisproduktion möglich. Die Ansprüche des Publikums wurden nach dem Fall der Mauer insbesondere durch die Reflexion über die damit verbundene Verschiebung der einsti147 Castorf, Frank in: Schütt, Hans-Dieter: Die Erotik des Verrats. Gespräche mit Frank Castorf, S. 18. 148 Transkription eines Gespräches der Tageszeitung Junge Welt mit Frank Castorf vom Januar 1995/ Archiv der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz. 239

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gen Repräsentationsmuster bestimmt – und damit auch einer Reflexion über die abweichenden und je utopistischen Effekte dieser Repräsentationsmuster. Nach Schelskys religionssoziologischen Studien über Institutionen tragen nun die Bewusstseinsansprüche auch gerade dann entscheidend zur Verankerung von Institutionen bei, wenn sich das Reflexionsbedürfnis zeitnah und institutionenkritisch gibt. Er beschreibt die Phase der Institutionalisierung als stetigen Appell zur „chronischen Herausforderung, die sich als „institutionalisierte Dauerreflexion“ manifestiert. „Wendet sich aber der schöpferische Geist […] den Aufgaben zu, die als Gegenwart vor ihm stehen, so befindet er sich in seiner Lebendigkeit oberhalb der Institutionen.“149 Schelsky beantwortet die Frage, ob sich die Dauerreflexion, die dem Grad ihrer Selbstbezüglichkeit nach sowohl im religiösen wie im künstlerischen Feld enorm hoch ist, institutionalisierbar ist, positiv; diese Dauerreflexion lebt beim Kulturproduzenten gerade von der Gegensatzspannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang. „[Der schöpferische Geist, T.B.] verkennt, ja verachtet, dass [die Aufgaben der Gegenwart, T.B.] sich aus dem Absterben jenes Lebensschwunges, aus der ‚Selbstentfremdung‘ des lebendigen Geistes, aufbauen.“150 Schelskys Postulat einer derart „formalisierten Grundlage der Erlebnis- und Bewußtseinsform“, die sich an Außenweltdaten orientiert, verstehe ich auf der Akteursebene als symbolische Wirklichkeitsorganisation (als Kunstproduktion), die sich innerhalb der Institution auf Dauer zu stellen sucht. In diesem Sinne ist die Stellungnahme des Intendanten ein Indiz für die Leitidee der Volksbühne, die durch die symbolische Konfrontation eines „Nordamerikanischen Zynismus“ mit dem staatssozialistischen Kulturrahmen bestimmt wird. Erhard Stölting bemerkt zum Wandel und zur Kontinuität von Institutionen in Russland und ihrem Zusammenhang mit den Leitideen, in denen der „Zynismus“ eine besondere Rolle spielt: „Die Differenz zwischen der Leitidee von Institutionen und ihrem Funktionieren ist mithin konstitutiv für institutionalisierte soziale Realität. [...] Das ‚Wirkliche‘ am Funktionieren der Institutionen erhält seine Bedeutung erst im Kontrast zu den idealisierenden Beschreibungen und bleibt damit auf sie verwiesen. [...] Im Zusammenspiel aber wird das Begriffspaar heuristisch fruchtbar. Die normative kontrafaktische Beschreibung einer Institution kann zu deren Legitimation eingesetzt werden. Immer geht dann ein Druck auf die Beteiligten aus, die Institution als das zu akzeptieren, was die Selbstbeschreibung behauptet. Dieser Druck kann bis zur Zensur gehen, er kann von bestimmten Individuen verinnerlicht werden, er kann aber auch in zynischer Form akzep149 Schelsky, Helmut: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?“ S. 287. 150 Ebd. 240

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tiert werden. Man glaubt nicht an die normative Beschreibung, gibt aber aus anderen Gründen zumindest öffentlich vor, sie zu akzeptieren. Diese Form des Umgangs mit der Differenz von normativen Anspruch und Realisierung war gerade für sozialistische Gesellschaften charakteristisch: Man nahm die Differenz wahr und leugnete sie öffentlich. [...] Der Loyalitätsbruch, der geahndet wurde, bestand nicht in der zynischen Distanz zu den Werten, sondern darin, diese zynische Distanz öffentlich zu machen.“151

Im postsozialistischen Berlin genießt Castorf ganz offensichtlich den Tatbestand, dass sein scheinbarer Loyalitätsbruch gegenüber der Eigengeltung der Theaterkunst nicht nur nicht geahndet wird, sondern ohne Umwege in die Leitidee der „abweichenden Linienführung“ – als neugegründetes Volksbühnen-Profil – einfließt. Er macht sich dabei den von Stölting beschriebenen Zynismus zunutze und eröffnet damit einen symbolischen Ort der Differenz. Als er einmal gefragt wird, was er unter Zynismus verstehe, lautet seine Antwort: „Das zu sagen, was man sieht. Wenn Ivan Nagel sagt: In zwei Jahren ist die Volksbühne entweder berühmt oder tot – das ist zynisch. Aber sehr wahr. Abwicklung oder Sieg. Den Kampf haben wir aufgenommen.“152 In der für den langfristigen Bestand von Institutionen so wichtigen chronischen Herausforderung bezeichnet Castorfs Appell nach oben die Leitidee des symbolischen Widerstands gegen die „sublime Kolonialisierung“ des ostdeutschen Kulturrahmens. Es geht um die Neudefinition der politischen Grenze, deren Wegfall aus Ostdeutscher Sicht eine anomische Gesellschaftsstruktur hinterlassen hat, und es geht darum, mit dieser Neudefinition Erfolg zu haben; vielleicht auch darum, „einmal großmäulig sein“ zu dürfen, so wie einst der westdeutsche Filmemacher Fassbinder mit seiner seltsamen Truppe. Zynismus ist durch die Pose der Überlegenheit charakterisiert, hinter der sich Skepsis, vielleicht auch Melancholie verbirgt. Erving Goffman charakterisierte den „zynischen“ Darsteller anhand der Frage, inwieweit dieser selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, die zu organisieren er vorgibt. Der „zynische“ Darsteller ist nach Goffman gekennzeichnet durch die Befriedigung an der Effektivität seiner Maskerade, durch eine belebende geistige Aggression, die häufig durch die Suche nach Antworten auf die (impliziten oder offen formulierten) Bedürfnisse des Publikums motiviert ist. Goffman fügt hinzu: „In Berufen, die von der 151 Stölting, Erhard: „Wandel und Kontinuität von Institutionen: Rußland – Sowjetunion – Russland“, S.182. 152 Castorf, Frank Castorf in: Paar Sicherungen können da schon durchknallen. Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt. Neues Deutschland 19./20.3.1994. 241

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Öffentlichkeit mit religiöser Ehrfurcht betrachtet werden, geht der Nachwuchs oft in diese Richtung, und dies häufig [...] deswegen, [...] weil der Zynismus als Mittel zur Isolierung des inneren Selbst gegen den Kontakt mit dem Publikum verwendet werden kann.“153 Im Theaterfeld ist diese Selbst-Immunisierung besonders augenscheinlich, und das um so mehr, als wir es hier nicht mit einer soziologischen Metapher, sondern mit einem realen Publikum zu tun haben, das zugleich Sanktionsinstanz ist. Von ihr ist die neue Volksbühnen-Figuration und an ihrer Spitze Castorf in jeder Hinsicht abhängig. Zugleich ermöglicht der zynische Blick nach außen die Verlagerung der Spannung, die durch die Bedürfnisse eines zunächst vornehmlich Ostberliner Zielpublikums erzeugt werden, in die Gruppe der Volksbühnenproduzenten, also nach innen. Diese Spannungsverlagerung nach innen ist wichtig für die performative Differenzproduktion, die sich letztlich von den Publikumserwartungen abgrenzen muss, wenn sie Neues hervorbringen will. Sie schafft den symbolischen Raum innerhalb der Institution, in dem die Selbstreflexion stattfindet und damit die Voraussetzungen zur „autonomen Raumkontrolle“. Der Bezug auf den „Nordamerikanischen Zynismus“ greift das Paradigma der Grenzziehung auf, das nach der Wende zum Faustpfand im Kampf um Eigengeltung wurde: Die DDR-typische gesellschaftliche Gebundenheit der künstlerischen Produktion, welche die Produktionsautonomie der Künstler einst beschränkte, wandelt sich im marktwirtschaftlich gerahmten Theaterfeld in eine Bedürfnisproduktion, in der die Affirmation eines „Nordamerikanischen Zynismus“ zur nur scheinbar paradoxen Spielregel erklärt wird. Arbeitete der Theatermann in der DDR im Auftrag der Partei, so arbeitet er nun im Auftrag der klingenden Theaterkasse. Aus Castorfs Mund klingt allerdings auch das immer noch eher nach Demokratisierung als nach echtem Zynismus – wieder geht es um „den neuen Menschen“, in diesem Fall um das Publikum, das er sich „verdienen“ will. Das Ende der DDR bedeutet das Ende der sozialistischen Auftragskunst und für Castorf gilt die Setzung des Kapitalertrages als „ehrlicher“ als die ethischen Sollgeltungen eines Walter Ulbricht, die sich mit der Feststellung begnügt hatten, dass der Sozialismus nun einmal einfach die bessere Gesellschaft sei. Die antiaufklärerische tiefe Abneigung gegen jegliches Ethos und Moral findet sich in vielen Äußerungen von Frank Castorf und Bert Neumann und sie ist immer mit dem Wunsch verbunden, den Abnehmern ihrer Kunst alles mögliche an Assoziationen und Gedankenketten zu ermöglichen – oder zuzumuten. Neumann erklärt in einem Gespräch: 153 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater, S. 21 ff. 242

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„Die Lust an der Überforderung hat mit unserer DDR-Biographie zu tun. Wir sind in einem Land aufgewachsen, in dem alles wahnsinnig pädagogisch war, dauernd wurde einem gesagt, wie alles sein soll. Darauf hatten wir keine Lust mehr. Das gilt für unsere Plakate genauso. Ich halte eine bestimmte Form von Geheimnis bei der Kunstproduktion für notwendig. Die forcierte Verständlichkeit von etwas hat mich noch nie interessiert. Das bedeutet, die Leute für blöder zu halten, als sie sind und das finde ich immer unehrlich.“154

Ob Überforderung (als polyvalente symbolische Wirklichkeitsorganisation) oder „Nordamerikanischer Zynismus“ (als Profanierung des Sublimen): beide Haltungen gewinnen ihren Sinn und ihre Virulenz an der Volksbühne erst durch den Tatbestand der untergegangenen DDR. In der feinen Distanz, die diese Akteure zugleich vor einer allzu eilfertigen Annahme westlicher Repräsentationsmuster schützt, wird ihre relative Autonomie, die sie zu DDR-Zeiten entwickelt hatten, zu einem wertvollen kulturellen Kapital. Es setzt sich aus einer Wirklichkeitsorganisation zusammen, in der die Distanz zum staatssozialistischen Kulturrahmen immer wieder durch den deutlichen Bezug auf diesen gekontert wird. Der Bezug liegt zum einen in einem gebrauchsorientierten Kunstverständnis und zum anderen in einem modus operandi, der unübersehbare Affinitäten zur Idee der Populärkultur aufweist, die beansprucht, dass Kunst und gesellschaftliche Wirklichkeit zusammengehören. Sie findet ihre Wurzeln in der Produktionskunst des LEF, der seine Fortschrittsideologie in der Säkularisierung der Kunst nach dem Vorbild einer „urbanistischen, amerikanisierten Kunst“ gegen die „Staffeleikunst“ positioniert hatte. Der „Nordamerikanische Zynismus“ kannte sein ursprünglich staatssozialistisches Pendant und Castorf kann mit ihm kann auf alte Bezugsgrößen zurückgreifen, die ihm seit seinem Studium vertraut sind. Neumann, der nach der Wende feststellte, wie sehr er und sein Umfeld plötzlich zu den DDR-Bürgern wurden, die sie vorher nie waren, wird die Vorteile eines künstlerischen Pragmatismus, der auch auf einer Mangelwirtschaft beruhte, nicht nur in der neu gegründeten Firma für Gebrauchsgrafik nutzen, sondern ebenso in seinen Bühnenbildern ironisch reformulieren. Castorfs Warnung vor westlichen Überlegenheitsphantasien – („Es wird sich rächen, wenn wir nicht kapieren, wie zum Beispiel dieses Osteuropa funktioniert: daß man den Russen nicht einfach die Würde einer Großmacht wegnehmen und dafür eine Büchse Pepsi hinstellen kann.“155) setzt Neumann bühnenwirksam um. In Castorfs Inszenierung „Die Weber“ (1997) verwandelt Bert Neumann die 154 In: Brand eins. Wirtschaftsmagazin. 2/05 März 2005, S. 115. 155 Castorf, Frank in: Schütt, Hans-Dieter et. al.: Castorfs Volksbühne. Schöne Bilder vom häßlichen Leben, S. 102. 243

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Metapher der Pepsi-Büchse in Gestalt des umgedrehten McDonaldsEmblems zum bissig-ironischen Gegenstück einer im Zuge der DDRAbwicklung ausrangierten Webmaschine. Neumann erinnert sich: „Solche Maschinen stehen sicherlich noch in irgendwelchen Freihandelszonen herum, auf den Philippinen vielleicht. Wir haben sie aus einem abgewickelten DDR-Betrieb aus dem Vogtland. Das Theaterstück spielt zu einer Zeit, als die Maschine die Weber arbeitslos machte, und heute ist nun auch die Maschine arbeitslos geworden und war billig zu haben.“156

Solcherart in Materie eingegangene Geschichte wurde in den Inszenierungen als dezidiert postsozialistische Positionierung auf die neuen Verhältnisse eingesetzt – einer Positionierung, die ohne die vertränte Rückschau auf vergangene Zeiten auskam, weil sie der Gegenwart zu viel zu sagen hatte. Die Institution Volksbühne griff, wo es ihr gefiel, nach den Klischees des „freien Westens“ und montierte sie mal als affirmatives Symbol, mal als Störsender in staatssozialistisch geprägte Materialien ein. Oliver Zander bezeichnete dieses Vorgehen als „ästhetische Amerikanisierung spezifischer DDR-Gehalte“.157 Mit einer Montagetechnik, die den „Einbruch des Realen“ auf die Szene ermöglichte, überführten Castorf und Neumann die politische Abwicklung der DDR – das gesellschaftlich Reale – in die symbolische Wirklichkeitsorganisation der szenischen Darstellung. Boris Arvatovs Plädoyer für eine gesellschaftsnahe Produktionskunst findet hier ihr spätes Echo. Die sogenannte „Staffeleikunst“ war sowohl für die russische Kunstlinke als auch für die französische Bohème die Abgrenzungskategorie par excellence. Aus ihrer Sicht war es die Kunst der „siegreichen Bourgeois“, der Hochkultur und ihrem „neuen Versailles“. Mit der neuen feinen Berliner Gesellschaft will man auch an der postsozialistischen Volksbühne nichts zu schaffen haben, wie Castorf in einem Interview gen Westen ruft: „Ich hoffe, daß uns noch lange dieses Steglitzer Lachen erspart bleibt, das ja ausgerechnet auch ins Berliner Ensemble einzuziehen begann.“158 Der Intendant hat seinen Auftrag zur Grenzziehung richtig erfasst: Er aktualisiert die ehemals politische Gegensatzspannung zum Westen mit einer Prise Ulbrichtschem Anti-Humor. Im vereinigten Berliner Theaterfeld ist es kein Widerspruch, am Gegensatz zwischen

156 Neumann, Bert in: Hurtzig, Hannah (Hg.): Imitation of life, S. 196. 157 Vgl. Zander, Oliver: Marketing im Theater. Eine Untersuchung am Beispiel der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, S. 67. 158 Castorf, Frank in: Schütt, Hans-Dieter: Paar Sicherungen können da schon durchknallen. Gespräch mit Frank Castorf. Neues Deutschland vom 19./20.3.1994. 244

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Ost und West festzuhalten und sich zugleich positiv auf einen „Nordamerikanischen Zynismus“ zu berufen. Gerade jetzt ist es möglich, diese Melange aus gebrochenen Repräsentationsmustern gezielt zu thematisieren und sie als Basis für symbolische Grenzziehungen zu nutzen, die in der nun offengelegten Möglichkeit ihrer Überschreitung liegen. In der Phase der Institutionalisierung wird die öffentliche Überschreibung dieses Möglichkeitsraumes mit einer idée directrice zum Gebot der Stunde deklariert. Es ist die Zeit der Probehandlung, in der der Abschied von der Konsensdiktaktur in den vereinten Kulturrahmen hinübergezogen wird. Auch der demokratische Konsens büßt angesichts der offensichtlichen Ungleichheiten zwischen Bürgern ost- und westdeutscher Herkunft an Glaubwürdigkeit ein. Die ostdeutsche Anomie verlässt ihre kulturelle Nische – sie begibt sich auf das politische, nunmehr utopiefremde Feld. „Gebt mir ein Leitbild“ fordern Plakate im Volksbühnen-Foyer zur Eröffnung von Frank Castorfs erster Spielzeit im Jahre 1993. Die brutalen Anschläge auf Flüchtlingsheime in Ostdeutschland reißen nicht ab. Der Dramaturg Carl Hegemann kommentiert die Forderung und zitiert ihren Urheber, die slowenische Rockgruppe Laibach, die auch von rechtsradikalen Jugendlichen gehört wird und in der Volksbühne ein Konzert gibt: „Die an der Volksbühne geplante Auseinandersetzung mit totalitären Denk- und Verhaltensmustern, die offenbar solche Unsicherheiten zeitweise neutralisieren können, wird keinen ‚freiheitlichdemokratischen‘ Konsens in schönen unwirklichen Bildern beschwören [...]. Die Bühne ist vielleicht der einzige soziale Ort, wo es richtig ist, das Falsche zu tun, wo regelmäßig Dinge geschehen, die im ‚Leben‘ Gefängnis, Irrenanstalt oder Tod nach sich ziehen würden.“ Oliver Zander bemerkt zu diesem Programm: „Ein totalitäres System ist grundsätzlich darauf angelegt, kollektiv verbindliche Leitbilder dem einzelnen autoritär vorzugeben. Totalitarismen entlasten daher bereichsweise das sich diesen Leitbildern unterwerfende Individuum von einer Verantwortlichkeit für sich selbst. Pluralismus hingegen führt zur Notwendigkeit des Individuums, eigenverantwortlich Leitbilder zu wählen. Dies erfordert Auswahlkriterien und als verbindlich empfundene Wertvorstellungen. Die Verbindlichkeit von Wertvorstellungen wird aber gerade für jene zweifelhaft, die durch den Zusammenbruch nicht nur eines Staates, sondern eines gesamten ideologisierten Wertekanons die Relativität aller Werte eindrucksvoll erfahren haben. ‚Gebt mir ein Leitbild‘ bezeichnet daher ein Werteund Orientierungsvakuum und verweist auf das Lebensgefühl vieler ehemaliger DDR-Bürger, die durch die Übernahme des westlichen Staatssystems vor eine Vielzahl von Entscheidungen gestellt worden sind, ohne daß sie ausreichend Klarheit über die Entscheidungskriterien in der Kürze der Zeit haben gewinnen können. Durch den [...] neofaschistischen Gehalt des Liedes [Geburt 245

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einer Nation (ohne Vision) von Laibach, dem der Slogan Gebt mir ein Leitbild entnommen ist, T.B.] verweist der Slogan auch auf die Gefahr neofaschistischer Tendenzen, die durch das Werte- und Orientierungsvakuum gefördert werden können.“159

Die Entlastung, die Zander in Bezug auf die autoritäre Vorgabe von Leitbildern konstatiert, lässt sich gleichfalls mit der Entlastung – als Hintergrunderfüllung – im Sinne Gehlens in Hinblick auf Institutionen zusammenführen. Diese Parallelität verweist auf den Gehalt der sich stabilisierenden Leitidee, die als „Leitbild“ im appellativen Gestus durch die Volksbühnen-Produzenten gleichsam gefordert wird. Dieses Leitbild eröffnet einen Zwischenraum, der sich als solcher punktgenau innerhalb des gesellschaftlichen Umbruchs behauptet. In diesem Zwischenraum werden jene Entlastungsbedürfnisse in eine Bedürfnissynthese umgewandelt, deren Implikationen nur innerhalb der tradierten politischen Repräsentationsmuster radikal widersprüchlich scheinen. Die Absurdität dieser Synthese wird nicht analytisch zu klären (und damit zu nivellieren) versucht, sondern sie wird nur noch deutlicher herausgestellt. Laibach: „Der kalkulierende Mensch ist feige. [...] Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn du schon scheitern mußt, scheitere glanzvoll. Jage zwei Tiger!“160 Tiger oder Schwimmbad – das glanzvolle Scheitern evoziert in der Volksbühnenpraxis und in den Stellungnahmen ihres Intendanten eine Form der Dauerreflexion, die den sozial-funktionalen Charakter des staatlich subventionierten Stadttheaters auf seine Austauschbarkeit zu reduzieren scheint – und sich zynisch gibt. Schlingensiefs Parole des Scheiterns als Chance und seine apokalyptischen Feldforschungen über die Neonazis entäussern das ungewollte gesellschaftliche Imaginäre der Transformationsleistungen, das gegen den Utopieverlust eingetauscht wurde. Innerhalb des politischen und kulturellen Vereinigungsprozesses der beiden Teile Berlins kann die Volksbühne-Ost durch die radikale Formulierung auch dieser Möglichkeitsräume einen Autonomiegewinn verzeichnen, weil sie die Totalität des gesellschaftlichen Umbruchs ungeachtet ihrer politischen Riskiertheit in ihr Programm aufnimmt.

159 Zander, Oliver: Marketing am Theater. Eine Untersuchung am Beispiel der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, S. 46ff. 160 Hegemann, Carl: Gebt mit ein Leitbild. Totalitäre Strategien an der Volksbühne (März 1993). In: Umathum, Sandra (Hg.): Carl Hegemann. Plädoyer für die unglückliche Liebe. Text über die Paradoxien des Theaters, S. 57. 246

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4.4.2 Relative Autonomie Relative Autonomie bezeichnet im Theaterfeld nicht nur ein Strukturmerkmal der künstlerischen Praxis, sondern zugleich auch das Selbstverständnis der ostdeutschen Produzenten, das seinerseits zur Strukturierung des Feldes beiträgt. Dieses Selbstverständnis wird am deutlichsten durch den Leitungsstil des Intendanten kenntlich, d.h. in der Beobachtung seiner Regiepraxis. Frank Castorf wusste schon zu DDR-Zeiten, dass der Beruf des Regisseurs auf einer Form der Menschenführung beruht, die hochkomplex ist. In der Zusammenstellung eines Ensembles kann die Besetzung der Rollen zu einem Konfliktherd werden, der die Eitelkeiten und Unberechenbarkeiten der Schauspieler befeuert. In der Inszenierung „Der Bau“ aus dem Jahre 1986 am städtischen Theater in Karl-Marx-Stadt hatte Castorf die 30-köpfige Brigade, die in Müllers Vorlage angelegt war, auf acht Darsteller zusammengeschrumpft, was in dem öffentlichen Gespräch nach der Aufführung allgemeines Erstaunen hervorrief. Auf die Frage, wie er zu dieser Entscheidung gekommen war, antwortete der Regisseur: „Ich hatte kurz zuvor Tragelehns UMSIEDLERIN in Dresden gesehen. Mir hat das gefallen. [...] Aber ein Problem hatte er und das kenne ich auch von Fritz Marquardt und dessen Arbeit an BAU wie an BAUERN: es gibt ein paar Schauspieler, die Müller-Texte gern spielen, und dann gibt es wegen der vielen kleinen Rollen die, die schlicht und einfach beleidigt sind, wenn sie die BrigadeStaffage machen müssen. Marquardt hatte ein Jahr und ich weiß, wie schwer das war und daß die Brigade ein ständiger Unruheherd war für den Regisseur. Da mache ich es lieber gleich mit nur acht Schauspielern, mit denen ich gut auskomme, statt so viele zu beleidigen. Ich kann die kleinen Rollen größer machen, das hat auch mit meinem Demokratieverständnis zu tun. Wenn ich schon jemanden auf die Bühne scheuche, will ich auch, daß er gesehen wird. Ich habe es als Produzent leichter und habe auch glücklichere Arbeiter.“161

Castorfs Praxis der Ensemblebildung verband sich offenbar mit seinem Talent, die Schauspieler zu außergewöhnlichen Leistungen zu treiben. In den vielen Jahren seiner Regietätigkeit vor der Wende, in denen er an den unterschiedlichsten Häusern arbeitete, konnte er dieses Kapital ausbauen. Es ist eine Kompetenz, die jede moderne Führungsposition verlangt, will sie Dauergeltung erreichen. Nach Norbert Elias hat sie ihren systematischen Ursprung in der Führungsstrategie des absolutistischen Herrschers. Elias verfolgte entgegen dem verbreiteten Urteil, dass der Absolutismus eine willkürliche Herrschaftsform gewesen sei, die These, 161 In: Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks, S. 109 ff. 247

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dass gerade der König für die Vereinbarkeit der verschiedenen Positionen seiner Höflinge sorgen musste. Er musste dies, damit sich das multipolare Kräfteverhältnis innerhalb des Hofes nicht gegen ihn richtete. Die langfristige Machtposition des Sonnenkönigs konnte nicht ohne das besondere Geschick aufrechterhalten werden, das in dem taktischen Ausloten der Spannungen lag, die sich zwischen seinen Untergebenen entfalteten: „Der konservierende Einherrscher wird gewissermaßen von der Eifersucht, den Gegensätzen und Spannungen in dem sozialen Felde, das seine Funktion schuf, getragen und in seiner Stellung gehalten; er braucht nur regulierend in diese Spannungen einzugreifen und Organisationen zu schaffen, welche die Spannungen und Unterschiede aufrechterhalten und den Überblick über sie erleichtern.“162

So schafft sich der Patron „eine Apparatur [...], welche sein Risiko und den Zwang zu persönlichen außergewöhnlichen Einsatz weitgehend herabmindert.“163 Es ist diese Apparatur, die auch dem künstlerischen Leiter einer Theaterinstitution die relative Autonomie seiner Position sichert. In der überpädagogischen Umklammerung der DDR war es allerdings klüger, diese Positionierung mit einer Prise Humor zu würzen, wollte der Aspirant seinen möglichen Gegnern keine allzu offene Angriffsfläche bieten. Nicht die Verklärung der künstlerischen Existenz, sondern ihre ironische Brechung war es, die Castorf in der DDR zu einer Spezialität ausbaute und deren listige Note ihn zu einem Sympathieträger gemacht hat. Seine schwer zu fassenden Distinktionsstrategien nahmen seinen Feinden den Wind aus den Segeln und sublimierten seinen Kampf um künstlerische Autonomie, in dem der Zuschauer zum wohlgesonnenen Kronzeugen erzogen wurde. Der Castorf, der die Volksbühne übernimmt, triumphiert nicht nur über die Arroganz der neuen Machthaber des Westens, die in seiner Kunst bloß ein seltsames Relikt überholter Zeiten sehen wollen, sondern auch über seine alten Feinde aus dem Osten. Er will kein Theater, sondern ein „Kulturhaus“ schaffen.164 Der drohenden Zähmung seiner Eigengeltung durch die Institu-

162 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft, S. 197. Kursiv im Original. 163 Ebd. 164 „Das ist das Volksbühnen-Programm. Es ist sehr schwer zu fassen, weil es so viele Facetten hat. Ob das die Videoschnipsel sind, die ganzen Musikabende, Kleinkunst, Bildende Kunst ist da zuhause, eigentlich alles. Castorf hat immer behauptet, das ist wie ein Kulturhaus früher in der DDR, wo es alles gibt.“ Siegfried Wilzopolski im Gespräch mit mir am 24.1.2006. 248

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tion wirft er entgegen: „Das Konzept bin ich.“165 L’État c’est moi. In dieser Formel konzentriert sich die von Lukács und Simmel hervorgehobene Totalität des künstlerischen Paradigmas, der aus postsozialistischer Sicht zur Ironie geradezu herausfordert. Zugleich lässt die Königsposition des Intendanten eine solche Sublimierung der Totalität – wenigstens symbolisch – in kongenialer Ergänzung zum „Nordamerikanischen Zynismus“ zu. Bedingt durch den Tatbestand der relativen Autonomie verspricht die Geste dem für die Institutionalisierung so wichtigen Selbstwert im absoluten Sinne. Im Berlin des Jahres 1992, wo der gesellschaftliche Unterbau durch die Vereinigung auf schwankendem Boden steht, sehen sich Castorf und seine Truppe in guter avantgardistischer Tradition auf den Plan gerufen. Als Castorf von der Stadt Berlin den Auftrag bekommt, die Volksbühne zu übernehmen, begreift er das als Aufforderung zu einem Feldzug. Das durch die Vereinigung aufgewühlte Berlin bildet die krisenhafte Kulisse für ein Verhalten, das Elias, in Anlehnung an Max Weber, als Voraussetzung für das Auftreten des Charismatikers versteht: „D[ie] Transformation und d[er] Balanceverlust gibt dem, welcher dann als Träger des Charisma erscheint, die entscheidende Chance; und sie gibt seinem Emporkommen zugleich jenen Charakter, den Max Weber so sehr betont, den ‚Charakter des Außeralltäglichen‘. Die charismatische Herrschaft ist eine Krisenherrschaft.“166 Die Dauer der Führungsposition als Unterscheidungsmerkmal zwischen dem absolutistischen und dem charismatischen Herrscher einzusetzen, war für eine Soziologie der höfischen Gesellschaft sicher von Vorteil; für ein Verständnis der Volksbühne ist sie allerdings irreführend. Denn im Gegensatz zum Sonnenkönig ist der Intendant kein Herrscher auf Lebenszeit. Er ist viel mehr dazu verpflichtet, ein auf Dauer gestellter Charismatiker zu sein. Der Posten des Intendanten der Volksbühne war nicht ohne die besonderen Techniken des Charismatikers zu erreichen und zu konsolidieren; er sollte allerdings auf Dauer nicht ohne die Beherrschung des Spannungsgefüges, das sich hier etablierte, zu halten sein. Elias bringt die Janusköpfigkeit des Führungsauftrags selbst auf den Punkt: „Wie der höfische Herrscher die Menschen seiner Kerngruppe kraft ihres Distanzierungsbedürfnisses und der damit zusammenhängenden Prestige- und Gunstkonkurrenz hin- und hersteuert, so steuert der charismatische Herrscher seine Kerngruppe im Aufstieg auf Grund des Bedürfnisses nach Aufstieg bei

165 Castorf, Frank in: Detje, Robin: Castorf, S. 193. 166 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft, S. 184. 249

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gleichzeitiger Verdeckung des Risikos und der oft Schwindel erregenden Aufstiegsangst.“167

Das Schwindelerregende dokumentiert der frisch auf Dauer gestellte Charismatiker Castorf nicht allein durch fulminante theatrale Schüsse Richtung Westen aus dem Schützengraben seines „Panzerkreuzers“ am Rosa-Luxemburg-Platz. In der Stille seines neu eingerichteten Intendanzbüros hängt er das Portrait eines Mannes auf, dessen totalitäres Charisma ebenfalls auf einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand aufgebaut war: Josif W. Stalin. Castorf bemerkt später dazu: „Natürlich ist die russische, die kommunistische Geschichte ein Teil meines eigenen Stalinismus. Ich bin ja im Umfeld ostdeutscher Prägung vom Stalinismus konditioniert. Und nur, wenn man weiß, dass man diesen Stalin irgendwo in sich hat, kann man ihn vielleicht auch abarbeiten.“168

4.4.3 Ästhetischer Empirismus Das „Reale“ hatte in Ost und West auf je besondere Art und Weise Einzug in die kulturtechnischen Entwicklungen der Kunstproduktion gehalten. In den Reaktionen auf diese Rahmenbedingungen hatten die späteren Volksbühnen-Produzenten Formen der symbolischen Wirklichkeitsorganisation entwickelt, die sich alle auf ihre Weise mit der Frage befassten, wie sich die Themenstellungen der Gegenwart künstlerisch verarbeiten lassen – wobei sich keiner von ihnen in die Kategorie „politisches Theater“ im Sinne eines pädagogischen Angebots einordnen ließe. Die allgemeine Entwicklung des westlichen Theaterfeldes wies schon vor 1992 auf eine klare Öffnung zum „Realen“ hin, die sich zugleich von dem moralisierenden Duktus der politischen 68er-Generation deutlich abgrenzte. Diese Entwicklung schien gleichwohl immer mehr Produzenten dazu zu drängen, das Nicht-Ästhetische in das Theater hereinzuholen oder das Theater im Aufbau kleiner Satellitenstationen den urbanen Strukturen auszusetzen und damit durchlässiger zu machen. Hans-Thies Lehmann bezeichnet diese Auseinandersetzung als selbstreflexiven Grenzgang: „Es liegt in der Verfassung des Theaters begründet, daß in ihm das im theatralen Schein buchstäblich überspielte Reale jederzeit wieder auftauchen kann. Ohne Reales kein Inszeniertes. […] Das Ästhetische ist durch keine inhaltliche Bestimmung zu erfassen (Schönheit, Wahrheit, Gefühl, anthropomorphisie167 Ebd., S. 189 ff. 168 Castorf, Frank: Nicht Realismus, sondern Realität. In: Hegemann, Carl (Hg.): Einbruch der Realität, S. 73. 250

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rende Widerspiegelung usw.), sondern, wie es das Theater des Realen erweist, allein als Grenzgang, als fortwährendes Umschlagen nicht von Form und Inhalt, sondern von ‚realer‘ Kontiguität (Zusammenhang mit der Realität) und „inszeniertem“ Konstrukt ineinander. In diesem Sinne heißt postdramatisches Theater: Theater des Realen. Ihm geht es um die Entwicklung einer Wahrnehmung, die auf eigener Rechnung das ‚va et vient‘ zwischen Strukturwahrnehmung und sinnlich Realem durchmacht.“169

Wenn das Außerästhetische einen zentralen Platz innerhalb des Ästhetischen selbst einnimmt und das Ästhetische damit nicht mehr allein durch tradierte Kriterien definierbar ist, die bislang den Paradigmen der Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaften angehörten, so gibt das Anlass zur Vermutung, dass das Ästhetische – im Sinne des Grenzganges – auch als eine spezifische soziale Praxis begriffen werden kann. Ich verstehe Lehmanns Rekurs auf die stetige Wechselbeziehung zwischen „Strukturwahrnehmung“ und „sinnlich Realem“ deshalb als theaterwissenschaftliche Lesart der Aktualisierung spezifischer Repräsentationsmuster – an der Volksbühne als strukturelle Einschreibungen der jeweiligen Felddynamiken in Ost und West – durch die ästhetische Praxis. Die Pointe in Lehmanns Ausführungen – das fortwährende Umschlagen von ästhetischer und außerästhetischer Kontiguität – verweist zugleich auf die von Bourdieu postulierte Wechselbeziehung zwischen Struktur und Praxis. In diesem Sinne erscheint das postdramatische Theater, in das sich die Volksbühne einreiht, weniger als „Verwirklichung der Ideale“, von der Erving Goffman vermutete, dass sie „vielleicht eher im Reiche der Erfindung als in der Wirklichkeit“ zu finden sei (Goffman), sondern als Ort der Übertragung von praktischer hin zu symbolischer Wirklichkeitsorganisation. Fischer Lichte bemerkt zu den damit verbundenen Prozessen der Wahrnehmung: „Je öfter die Wahrnehmung zwischen der Ordnung der Präsenz und der Ordnung der Repräsentation umspringt, also zwischen eher ‚zufälligen‘ und eher zielgerichteten Prozessen der Wahrnehmung und Bedeutungserzeugung, desto größer erscheint das Maß an Unvorhersehbarkeit insgesamt und desto stärker richtet sich die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden auf den Prozeß der Wahrnehmung selbst. Es wird ihm zunehmend bewußt, daß ihm nicht Bedeutungen übermittelt werden, sondern daß er es ist, der sie hervorbringt, und daß er auch ganz andere Bedeutungen hätte hervorbringen können, wenn zum Beispiel das Umspringen von einer Ordnung zu einer anderen später oder weniger häufig eingetreten wäre.“170

169 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 176. 170 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 261. 251

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Als symbolische Wirklichkeitsorganisation erzählt die ästhetische Handlung von empirischen Tatbeständen und ver-„fremdet“ sie zugleich; entfernt sie also – im Benjaminschen Sinne – vom alltäglichen Blick und macht sie damit reflektierbar. Dabei bleibt der Orientierungspunkt fast ausschließlich innerhalb der stabilisierten Spannung, die die Theaterinstitution zugrunde legt – er bleibt in der Hauptsache selbstreferentiell.171 Schelskys Frage, ob die (durch Selbstreferentialität grundierte) Dauerreflexion institutionalisierbar sei,172 kann also auch aus „postdramatischer“ Perspektive positiv beantwortet werden, denn das spezifische Professionsethos einer Bühne hängt auf das engste mit dem Grad seiner außerästhetischen Bedingtheit und Öffnung zusammen. Auf diese Weise grundiert das institutionelle „Gehäuse“ sowohl den Gestaltungswillen als auch den Gestaltungszwang der Produzenten Der institutionalisierten Dauerreflexion scheint damit keine Grenze gesetzt zu sein, was wiederum die Verfeinerung der Techniken des Grenzganges als dringlichste Aufgabe erscheinen lässt. Der ästhetische Empirismus, der an der Berliner Volksbühne zu einer verstetigten Probehandlung des Experiments wurde, steht in einer engen Beziehung zum Produktionsprinzip der Montage. Die künstlerische Montage zeichnet sich durch eine Kombination verschiedener Medien wie Literatur, Video, Spielfilm, Fernsehen, Kunstwerke und Musik aus. Irina O. Rajewski, die das Montageprinzip in einen Intermedialitätsbegriff überführt, schreibt zur Praxis der Medienkombination: „Rekursverfahren dieser Art sind für die Bedeutungskonstitution und somit für die konkrete Analyse von Texten, Filmen, Theaterstücken usw. relevant, wobei besonderes Augenmerk auf die Funktionalisierung der Verfahren im jeweiligen Werkganzen zu richten ist. So können intermediale Bezugnahmen im Sinne von Authentisierungs- oder Ambiguisierungsstrategien genutzt werden. Ebenso können mit ihrer Hilfe etwa synästhetische Wirkungen erzielt oder

171 Es gibt natürlich zahlreiche Beispiele dafür, den Theaterraum zu verlassen, um eben dieses Problem der Selbstreferentialität zu überwinden. Gerade die Produktionen an der Volksbühne und viel mehr noch am Berliner HAU weisen zahlreiche Beispiele in dieser Richtung auf (z.B. Volksbühne: „Rollende Road Schau“/HAU: „Mobile Akademie“). Dennoch ist das Problem nicht von der Hand zu weisen, dass auch diese Ausflüge eher als Versuch der Komplexitätssteigerung der eigenen künstlerischen Praxis denn als tatsächliches Aufgeben der Institution und den mit ihr verbundenen Hintergrunderfüllungen und Stabilisierungsfaktoren einzuschätzen sind. 172 Vgl.: Schelsky, Helmut: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?“ Schelsky bejaht die Frage in Hinblick auf Institutionen im Allgemeinen (vgl. S. 287). 252

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auch komplexe selbstbezügliche, metafiktionale bzw. metamediale Reflexionsräume geschaffen werden.“173

Damit scheint sich diese Technik besonders gut für die „Institutionalisierung der Dauerreflexion“ und die Verstetigung der Bedürfnissynthese zu eignen, die in der Volksbühne etabliert wurde. Hier ist die Montage ein wichtiges Mittel der symbolischen Bedeutungskonstitution und sie markiert zugleich eine bestimmte Produktionsweise. In ihr wird eine grenzübergreifende praktische Wahlverwandtschaft deutlich, die eine wechselseitige Anschlussfähigkeit der Praktiken aus Ost und West ermöglicht. Frank Castorf, Christoph Schlingensief, Bert Neumann und René Pollesch bedienen sich alle des Montageprinzips. Es ermöglicht die Übertragung der Repräsentationsmuster, die durch die Kunstsysteme in Ost und West hervorgebracht wurden, in spezifische Techniken der Wirklichkeitsorganisation. Mit seinem Intendanzantritt bauen Frank Castorf und seine Truppe, die schon bald nicht mehr nur mit dem Emblem „Ost“ zu fassen ist, sowohl in der gesamten Programmgestaltung als auch in der Inszenierungspraxis auf das Prinzip der Medienkombination, ein Prinzip, das Castorf bereits mit und gegen den sozialistischen Realismus einzusetzen verstand und das nun durch die politische Montage der beiden deutschen Länder gerahmt wird.174 Zu DDR-Zeiten war dieses Prinzip durch Castorfs Verbindung von „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Praxisformen geprägt. Am Rosa-Luxemburg-Platz setzt er diese Praxis fort, verfeinert und etabliert sie. Das Volksbühnen-Ensemble wird im Laufe der neunziger Jahre vor allem aufgrund einer Montagetechnik berühmt, in der „Hochkultur“ und „niedere Kunst“ hemmungslos zusammengefügt werden. Bei Castorf sind die Hinterlassenschaften seines Vorbildes und Antipoden Heiner Müller deutlich erkennbar. Norbert Otto Eke kommentiert Müllers Verhältnis zur Form: „Die nahezu ausschließliche Beschäftigung mit Inhalten: Heiner Müller hat darin einmal den Grundirrtum der Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung kritisiert. Er sah darin

173 Rajewski, Irina O.: „Intermedialität – eine Begriffsbestimmung“, S. 24. 174 Matthias Lilienthal und Kirsten Hehmeyer (beide aus Westdeutschland) übernahmen als Co-Intendant und Öffentlichkeitsarbeiterin in den ersten Spielzeiten zentrale Funktionen für die Profilbildung des Hauses, vgl. dazu und zur Montage als konzeptuelles Prinzip der Programmgestaltung: Zander, Oliver: Das Gesamtkonzept der Volksbühne in Berlin in der Spielzeit 1992/93. Und ders.: Marketing im Theater. Eine Untersuchung am Beispiel der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf. 253

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ein grundlegendes Missverständnis, weil das ‚utopische Moment [...] ja auch in der Form liegen‘ könne, oder auch ‚in der Formulierung‘.“175 Frank Castorf kommuniziert die utopischen Momente seiner symbolischen Wirklichkeitsorganisation durch die mediale und textuelle Verschaltung grundverschiedener Stoffe. Zu diesem Zweck verbindet er etwa in seiner Inszenierung von Fjodor Dostojewskis Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ russische Dramatik mit Bruce Springsteens Hit „Born in the USA“ auf eine Weise, die, seltsam anrührend, die erstaunlichsten Synergieeffekte produziert. Die Voraussetzungen für diesen eingeschlagenen Weg bringt Eke treffend auf den Punkt: „Als Gegen-Schrift zur autorisierten Rede des Sozialistischen Realismus auf dem Theater schließen [die Entgrenzungsstrategien im Drama der DDR seit den 70er Jahren, T.B.] im negatorischen Bezug der Dekonstruktionen und des Spiels mit den Grundlagen konventioneller Theatralität das Weiterwirken älterer Ästhetiken und Dramaturgien ein, behaupten in deren Ablösung aber die Voraussetzung der (Re-)Konstruktion eines lebendigen Theaterverhältnisses, das kreative Freiräume erschließt.“176

Die Inszenierungsarbeit von Frank Castorf beruht auf dem Sammeln von textuellen und szenischen Versatzstücken, innerhalb derer die Schauspieler durch assoziative Einsätze Schritt für Schritt zu ihrer Rolle finden. Castorf lässt sich viel Zeit damit, eine Beziehung zwischen dem Thema und den Schauspielerpersonen aufzubauen, was den Spielern tatsächlich viel Freiraum lässt. Zugleich gibt es auch starke Restriktionen, und zwar immer dann, wenn der Regisseur vermutet, dass in den Text etwas hineingelegt wird, was weder zum Ton der Erzählung noch zur Person des Schauspielers passt: „Prägnant, nicht zu literarisch“ sollen die Texte gesprochen werden. Alles, was nach „regulärem Theater riecht“, wird kategorisch gestrichen oder so lange geprobt, bis es aus den Körpern getrieben ist; „es muß eine Funktion“ haben. Das trifft besonders auf den Einsatz von Musikeinlagen zu, die „man sich verdienen muss.“177 Aus diesen über Wochen angesammelten Fragmenten montiert Castorf schließlich – meist relativ kurz vor der Premiere – die Inszenierung zusammen, die in ihrer Gesamtheit fast immer erst am Premierenabend erstmalig durchgängig gespielt wird – was die Schauspieler vor das Problem stellt, ihre Texte erst kurz vorher komplett zu haben und 175 Eke, Norbert Otto: „Text und/im Theater. Entgrenzungsstrategien im Drama der DDR seit den 70er Jahren. Eine Erinnerung und ein Plädoyer für einen Wechsel der Forschungsperspektive“, S. 243. 176 Ebda., S. 253. 177 Alle Zitate stammen aus meinen Probennotizen zur Inszenierung „Der Marterpfahl“, die am 5.2.2005 Premiere hatte. 254

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lernen zu können. Neulinge werden mit dem Satz eingeweiht: „Am Anfang, da scheint alles immer chaotisch, aber kurz vor der Premiere heißt es Text pauken, dann will er, dass wir das draufhaben!“178 Eben diese Spur von Riskiertheit aber, darauf scheint Castorf zu setzen, zwingt die Akteure zu einer Verinnerlichung ihrer Rolle, so dass die Gestochenheit des „richtigen“ Satzes letztlich zur Nebensache wird. Wilzopolski erläutert dieses Vorgehen anhand seiner Erinnerungen: „So behält er eine Spannung drin. Die Schauspieler sind, wenn sie verunsichert sind, natürlich um Präzision bemüht, gerade in der Endprobenphase. Da hat er psychologisch etwas ganz Interessantes gemacht. Er hat die bohrenden Fragen, die sie hatten, offen gelassen und so haben sie das auf der Bühne praktisch erledigt.“179 Castorfs Inszenierungspraxis aktualisiert die von Eke unterstrichene Rekonstruktion eines lebendigen Theaterverhältnisses, die für Castorf ihren Ausgangspunkt in der späten DDR nahm. Die selbstreflexive Verwendung des „Realen“ und seine absolute Gleichberechtigung mit der Fiktion ist ein zentrales Merkmal der Volksbühne, dass sich in der szenographischen Montage unter der Leitung von Bert Neumann materialisiert. Das Wechselverhältnis zwischen vorgefundenen Stoffen des Alltagslebens und seine implizite ideologische Aufladung ist ein Thema, das in der staatssozialistischen Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker zum ethischen Leitbild erhoben wurde. Eine solche „Sublimierung des Alltags“ kann als postsozialistische symbolische Wirklichkeitsorganisation eine besondere Schärfe erhalten, wenn sie sich auf Gegenstände richtet, die scheinbar jeglicher ideologischer Botschaft entbehren. Aus soziologischer – in diesem Falle kulturtechnischer – Perspektive lässt sich dieser modus operandi besonders deutlich anhand von Neumanns Bühnenbildinstallationen nachvollziehen. Die Bedeutung der Arbeiten des Chefszenographen für die Grundierung der Wirklichkeitsdeutung an der Volksbühne bringt René Pollesch auf den Punkt: „Bert ist mit seinem Raum der erste Autor, der unser Terrain betritt, der den Raum schreibt.“180 Für den Russen-Zyklus, den Castorf 1999 mit Fjodor Dostojewskis „Dämonen“ eröffnet, stellt Neumann eine bungalowartige Datsche auf der Szene. Im Gespräch erläutert Neumann diese Entscheidung in Hinblick auf die Aktualität des Krieges im ehemaligen Jugoslawien:

178 So erklärte ein älteres Ensemblemitglied einem jungen Schauspieler die Verfahrensweise auf einem gemeinsamen Nachhauseweg von einer Probe zu „Der Marterpfahl“, bei der ich hospitierte. 179 Im Gespräch mit mir am 24.1.2006. 180 Im Gespräch mit mir am 13.7.2005. 255

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„Dostojewski Dämonen ist ja ein Roman. Wenn man einen Roman auf die Bühne bringt und den in seiner Komplexität auch erhalten will, wenn es eben nicht die Einheit des Raumes, oder was eben für Theater normalerweise üblich ist, gibt, muss man einen Trick finden, wie man das erzählen kann. In dem konkreten Falle handelte es sich um einen Bungalow. Die Idee war, dass man einen Bungalow als „Heim“-Ort mit Schornstein, wo’s raucht, zeigt. Die Geschichte fängt an und man denkt, alles wird gut und irgendwann gab es den Punkt, wo die Wände dieses Behälters abfielen. Die waren auch nur aus Pappe. Und man sieht die Konstruktion und auch die Fragilität letztlich dieser Konstruktion. Das Projekt, das wir gemacht haben, fand zeitgleich zu dem Krieg in Ex-Jugoslawien statt, wo die Problematik der scheinbaren Sicherheit unserer Existenz oder unserer Lebenspläne sehr stark in Frage gestellt war, weil da plötzlich ein Konflikt vor der Haustür auftauchte, wo man nach vielen Jahren Frieden der Meinung war, dass soetwas hier nicht passieren könnte. Das kann nur ganz woanders passieren. Das war für diese Arbeit ein interessanter Aspekt, auch für diese Abgründe, die unter der Zivilisationsdecke liegen.“181

In dem Textbuch, das zur Premiere von „Dämonen“ herausgegeben wird, in dem u.a. Texte von Albert Camus, Michael Bakunin, der Roten Armee Fraktion (Auflösungserklärung) und Dirk Baecker erscheinen, ist ein offener Brief von Christoph Schlingensief an die Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag abgedruckt. Schlingensief berichtet aus Skopje von seinem Besuch in den Flüchtlingslagern Stenkovac I und Stenkovac II. Er bezeichnet die Lage dort als „Mord auf Raten“. Während die Westmächte aus der Luft bombardieren, würden die 600000 Flüchtlinge in unmenschlichen Zuständen ihrem Schicksal überlassen. Schlingensief zitiert den ungarischen Schriftsteller Péter Nadás: „Die Frage ist, warum die führenden Denker in Europa nicht endlich aufschreien, warum sie es weiterhin versäumen, einen Menschen verständlichen, der Realität angemessenen Satz schön laut auszusprechen. Der Satz lautet: Ich kann dir nicht helfen, weil mich die Funktionsprinzipien meines Systems daran hindern. Aber ich werde seine funktionellen Mängel untersuchen.“182 In der für ihn ungewöhnlichen Rolle des humanistischen Helfers stellt sich für Schlingensief das Problem, ein ausländischer „Spezialist“ zu sein, offenbar weit weniger als für Sartres vermeintlichen Widerstandskämpfer Hugo oder für die russischen Intellektuellen der 1930er Jahre, mit denen Walter Benjamin sich in seiner programmatischen 181 Gespräch mit mir am 19.7.2005. 182 Schlingensief, Christoph: „Mord auf Raten. Offener Brief an die Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag. Außenminister Joschka Fischer und Innenminister Otto Schily zur Kenntnis“, S. 145ff. 256

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Schrift „Der Autor als Produzent“ befasst hatte.183 Schlingensiefs Brief richtet sich an zwei der ehemals herausragendsten linken Protagonisten in der Geschichte der alten Bundesrepublik, die den politischen Marsch durch die Institutionen gegangen sind: den Außenminister Joschka Fischer und den Innenminister Otto Schily. Im Grunde übernimmt der Volksbühnen-Aktionskünstler hier die klassische Rolle des „Spezialisten“ westlicher Couleur – die des politisch intervenierenden, Kraft seines Bekanntheitsgrades Missstände artikulierenden Intellektuellen, den es in der alten Bundesrepublik noch gab; der in der DDR erst auferstand, als sie am Ende war, und der in der Gegenwart fast gänzlich verschwunden zu sein scheint. Diese sehr vielschichtigen Formen, sich mit politischen Tatbeständen auseinanderzusetzen, finden innerhalb des vereinigten Berliner Kulturraums in der Volksbühne einen Ort, in dem sie sich sammeln und weiter „spezialisieren“ können. Als künstlerische Institution genießt das Haus zugleich Aufmerksamkeit wie „Narrenfreiheit“. Es ermöglicht damit spezifische Formen der Reflexion darüber, wie die außerästhetische Realität in symbolische Formen gebracht und damit verhandelbar gemacht wird. Neumanns Vorliebe für die Materialisierung der vierten Wand und die damit verbundene Vielheit von Räumen im Raum hängt eng mit einer bestimmten Haltung zusammen, die er aus den Materialien, die er einsetzt, gewinnt und die sich bereits in seinem früheren Produktionen angekündigt hatte. Bei Neumann wird das signifikante Merkmal der künstlerischen Montage – die Überführung von praktischer zu symbolischer Welterzeugung – auf eine Weise aktualisiert, die die genannten Techniken der Integration des „Realen“ immer wieder zu erneuern versteht. Im Gespräch erläutert Neumann seine Vorliebe für standardisierte Materialien: „Was mich an diesen standardisierten Teilen – eben auch dem Baumarkt und an diesen [weißen Monoblock-]Stühlen interessiert, ist ja, dass sie ganz konsequent eine bestimmte Entwicklung auf den Punkt bringen. Und wenn ich den Stuhl sehe, dann sehe ich als Schattenbild immer noch den handwerklich gemachten Stuhl daneben stehen. Der ist zwar nicht da, aber er wird als Verlust sichtbar. Oder wenn ich im Baumarkt bin und gucke mir die ganzen gefakten Materialien an, dann wird einem schlecht, man wird traurig dabei und ich versuche, die dann aber hinzustellen, eben um diesen Verlust auch kenntlich zu machen. Der ist zwar wahrscheinlich nicht aufzuhalten, doch zumindest darf man das ja denken. Es gibt da zwei Möglichkeiten: entweder sage ich: Gut, ich habe ja am Theater auch Manufaktur-Werkstätten, die könnte ich jetzt auch beauftragen, Hand183 Vgl. Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“, S. 371. 257

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werk im hochqualifizierten Sinne, zu dem die ja auch in der Lage sind, produzieren zu lassen. Ich finde es aber interessanter, dann wirklich diese standardisierte Fläche zu nehmen, die Leute damit zu konfrontieren und damit eventuell eine Fragestellung aufzuwerfen. Das hat auch damit zu tun – weil hier ja auch viele von den Pollesch-Abenden stattfinden, wo es auch immer darum geht, was ist Fake, was ist echt, wie echt sind wir denn überhaupt noch als Menschen, die kriegen auch eine Plastizität vor so einem Fake. Was diese Oberflächen betrifft, Oberflächen, die eigentlich nicht mehr in unsere Zeit gehören, wie die Schindeln oder Ziegelsteine, das sind nostalgische Referenzen, an eine Zeit die längst vorbei ist, die jetzt in Plastik gepresst worden sind. Es gibt offensichtlich ein großes Bedürfnis nach dieser romantischen Lüge über sich selbst oder über die Zeit, in der man existiert. Das finde ich ein spannendes Thema an diesen Materialien.“184

Für Neumann sind die Materialien gesellschaftlich kontingent und sie erscheinen zugleich als Modell und als Zeugnis der Gegenwart, dessen immanente Tragik sich gleichwohl blitzschnell in einen gebrauchsorientierten Pragmatismus verflüchtigt. In der Doppelung des Künstlichen, das dem Zuschauer gleichwohl als alltäglicher Gebrauchsstoff, als „reelles“ Baumaterial vertraut ist, durch seine Ausstellung im theatralen Kunstraum, wirken die schauspielerischen Subjekte wie hinein-montiert, sie heben sich scharf gegen die flachen Oberflächen ab und gewinnen dadurch zusätzlich an Konsistenz. Das standardisierte schwedische Fertighaus mit den Kunststoffschindeln birgt das Versprechen nach einer Natürlichkeit, die nur noch über den Umweg des Künstlichen einlösbar scheint. Auf der Szene installiert, gewinnt dieser Kontrast eine besondere Spannung, die durch die Vergleichzeitigung von standardisierten Materialien und den sich entäußernden Schauspielern aufgebaut wird. Diese Spannung wächst insbesondere in den Inszenierungen von Frank Castorf meist zu einer Unerträglichkeit, die sich irgendwann laut und brutal entlädt. Dabei wendet sich die Aggression immer auch gegen die standardisierten Materialien. Neumann ist fasziniert von deren scheinbarer Verhältnislosigkeit gegenüber tradierten ästhetischen Kriterien: „Ich könnte auf eine Bühne nicht Sachen hinstellen, die mir nicht gefallen, die ich nicht auf eine Art schön finde. Und ich finde eben Sachen schön, die eine bestimmte Konsequenz haben oder eine Ehrlichkeit, in dem Sinne, dass sie eben das sind, was sie sind. Deswegen auch der Monoblock-Stuhl, der in vielen meiner Bühnenbilder vorkommt. Der steht für diese merkwürdige Form der Globalisierung und andererseits benutzen wir ihn, eben weil er mittlerweile auch so ein Synonym für Stuhl ist. Wenn ich den sehe, überlege ich nicht

184 Im Gespräch mit mir am 19.7.2005. 258

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mehr, warum ist das der oder der Stuhl, sondern es ist ein Stuhl. Er hat den großen Vorteil, dass er billig ist und wenn er kaputt geht, ist man nicht traurig. Das ist auch ein Vorteil.“185

An der Volksbühne wird dieser stofflich gebundene Pragmatismus, der sich auch als Aktualisierung eines Professionsethos auffassen lässt, der durch das Primat der Wiedererkennung gekennzeichnet war, die Friedrich Engels einst in den Begriff des „Typischen“ brachte (nachdem „typische Menschen“ in „typischen Situationen“ gezeigt werden sollten),186 besonders manifest durch die Installation des Containers auf der Bühne. Die im Container vergegenständlichte Standardisierung als soziotechnologische Erscheinung der Gegenwart wird an der Volksbühne zum Mittel dramaturgischer Grenzüberschreitung. Indem der Container als vierte Wand sichtbar gemacht wird, unterläuft er Erwartungshaltungen der Zuschauer und erlaubt zugleich das Spiel mit dem Privaten und dem Öffentlichen. Der in die Bühne eingefügte Container als Raum im Raum, als optische Doppelung verdeutlicht die Innovationskapazität des von Lehmann postulierten „Theater des Realen“ mit Hilfe des Montageprinzips. In einem Interview erklärt Neumann, wie er darauf kam, Wohncontainer auf die Bühne zu stellen, nämlich: „beim Autofahren: Wenn man abends durch die Gegend fährt, sieht man die erleuchteten Fenster, und alles sieht sehr heimelig aus in der Dämmerung. Trotzdem hat man immer das Gefühl, dass in den Häusern was Schreckliches passieren könnte. Ich fand es ganz spannend, wenn man aus so einem Behälter heraus entwickelt, in dem das, was da drin ist, nach draußen explodiert.“187 Der im urbanen Stadtbild allgegenwärtige Container wird auf der Bühne zur Fassade, hinter der mit Emotionen gehandelt wird. Er fungiert wie ein Bindeglied zwischen weltumspannender Standardisierung und der Fragmentierung des Sozialen und des Symbolischen. Als Behälter des Sozialen – als Wohncontainer – bespielen die Schauspieler hier einen Ort, in dem die dramaturgische Zurschaustellung zwanghafter Gemeinschaftlichkeit die Ausschüttung von Inklusions- und Exklusionsritualen legitimiert – gleich einem „offenen Versteck“ – und so die Funktion der Bühne auf die Spitze treibt. Neumann beschreibt den Kontrast zwischen Mensch und Material im Bespielen des Wohncontainers: 185 Im Gespräch mit mir am 19.7.2005. 186 Jeanette Fabian bemerkt dazu in ihrem Lukács-Text: „Um zu dieser Gestaltung typischer Charaktere oder typischer Situationen zu kommen, bedarf es selbstverständlich eines Abstraktionsprozesses [...].“ Fabian, Jeanette: Lukács’ Widerspiegelungstheorie und der Revisionismusvorwurf, S. 91. 187 Neumann, Bert in: Laudenbach, Peter: Ich schau dir in die Augen, Baumarkt. Theater der Zeit. Jahrbuch 2002. 259

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„Wenn man Berlin Alexanderplatz gesehen hat, dann sieht man auch, was ein schöner Effekt eigentlich ist, wie Menschen, die ja eigentlich nicht standardisiert sind, jedenfalls hofft man das ja immer, wie die dort mit diesen Containern kämpfen, aus ihnen heraus explodieren, Geschichten, Exzesse stattfinden. Vor dem Hintergrund dieser Container entsteht da noch mal ein ganz anderer Bedeutungsraum, weil eben auch das Problem Regel oder Standard und Biographie auftaucht. Wie jemand – wie im Falle des Romans, die Hauptfigur – versucht, ein guter Mensch zu sein und wie das nicht gelingt. Und dafür sind die standardisierten Teile als Hintergrund gut. Davor sieht man Menschen kämpfen. Das ist ein schöner Aspekt.“188

Der Wohncontainer – ob als postsozialistische Datsche, texanisches Fertig- oder schwedisches Landhaus – macht die szenische Gleichzeitigkeit disparater Zustände möglich und zwingt damit zugleich zu einer dramaturgischen, aber auch kognitiven Strategie der Montage. Neumann erklärt seine Vorliebe für das Hochziehen der vierten Wand durch den Wohncontainer: „Auf der [Volks-]Bühne findet Leben hinter der vierten, realen Wand statt. Die Verweigerung d[er] Bühnenkonvention machte mir als Gedanke Spaß, und außerdem ähnelt die Bühnensituation so dem Leben außerhalb des Theaters, wo man auch nur Ausschnitte fremden Lebens sieht, nur Teile von Geschichten erfährt, die man dann selber weiterdenken muß.“189 In den „Wohnbühnen“ Neumanns, die er in der VolksbühnenNebenstätte „Prater“ baut, wird hingegen das Private öffentlich gemacht, indem es per Videokamera in den Zuschauerraum übertragen wird. Das korreliert insbesondere mit dem Subtext, den René Pollesch in seinen Stücken thematisiert: Pollesch interessiert sich ebenfalls für die Aufhebung der Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft, insbesondere für die Zurichtung einer Mikroökonomie des Handels mit symbolischen Gütern, allen voran die Sprache und die Liebe. Das Aufreißen des privaten, intimen Raumes wird in den Inszenierungen von Pollesch häufig mit der Geschlossenheit der Bungalows verbunden, wo der Zuschauer angesichts der tatsächlichen Existenz der vierten Wand von Bühnenhandlungen ausgeschlossen wird. Der Spannungsbogen seiner Inszenierungen im Prater der Volksbühne besteht vornehmlich darin, eine Revue von Kontinuitäten zu zeigen, die in der Montage von Romanvorlagen, Textfragmenten, Musik und Improvisationen kleine Dauerschocks auslösen. Zur hochgezogenen vierten Wand gehört an der Volksbühne die filmische Übertragung des Geschehens, die sich mit der physischen Prä188 Im Gespräch mit mir am 19.7.2005. 189 Neumann, Bert in: Hurtzig, Hannah (Hg.): Imitation of life, S. 199. 260

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senz der Schauspieler vor den Kulissen abwechselt. Diese ziehen sich oft über lange Zeiträume in ihre Kisten zurück und entwickeln dort ein Eigenleben, das die Bezeichnung des Wohncontainers nicht übertrieben erscheinen lässt. In der Steigerung des Montageprinzips durch die Integration des Live-Videos wird die Hochburg künstlerischer Montagestrategien – der Film – zum funktionswirksamen Dispositiv der gesamten Inszenierung. Die Ritualisierung der Entäußerung von Individuen, die in alltägliche, „typische“ Materialien und Objekte eingebaut wird, verdeckt ihren Konstruktionscharakter nicht (wie von Lukács gefordert), sondern stellt diesen durch den Einsatz der filmischen Montage demonstrativ in den Vordergrund. Das entspricht der von Neumann unterstrichenen Abwehr gegen die überpädagogische Botschaft, die in der Verdeckung ihrer Mobilisierungsressourcen vorgibt, „mehr zu wissen“, ohne dieses „Mehr“ für das Gegenüber tatsächlich greifbar zu machen. Zugleich fügt sich diese Technik in die von Castorf verfolgte Verschaltung unterschiedlicher Reflexionsebenen und Deutungsräume ein – dem „Offiziellen“ der scheinbaren Haupthandlung und dem „Inoffiziellen“ der Nebenerzählung, was auch die Schauspieler selbst einschließt. Tatsächlich beginnt Frank Castorfs ästhetischer Empirismus bei der Wahl der Stoffe, die im Zuge der institutionellen Verstetigung der Volksbühne vor allem auf Romanliteratur beruht, also Quellen, die nicht für die szenische Verarbeitung gedacht waren und in diesem Sinne zugeschnitten werden müssen. In seinen „Russen-Zyklen“, in denen Castorf im Laufe der 1990er Jahre vor allem Werke von Dostojewski verarbeitete, verschaltet er die Lage des vorrevolutionären Russland mit der postsozialistischen Gegenwart. Auf diese Weise erzeugt er spezifische Synergien, dessen Bezug zum „Theater des Realen“ Friedrich Dieckmann schon in den früheren Volksbühnen-Inszenierungen kenntnisreich schildert: „Der sprudelnde Castorf zeigt sich [...] als der Hypernaturalist, der die Redeschwälle des Expressionisten immer wieder durch die Übermacht der Alltäglichkeit aufbricht. [...] Eruption einer aus sich selbst und der Realität bestehenden Spiel- und Deutungslust, die sich in Lazzi und Intermezzi und Extempores verströmt.“190 In diesen Inszenierungen wirken die diskongruenten Bühnenbilder Bert Neumanns wie installierte Lebensimitate, in denen die Kulisse für ein Patchwork-Leben geltend gemacht wird. Man könnte auch von Anordnungen mehrerer Tableaux, oder auch mentaler Räume sprechen, die, wie im Roman, Hintergrund, Haupt- und Nebenschauplätze zu einem Ganzen fügen. Damit es nicht zu gemütlich wird, werden die Romanvor-

190 Dieckmann, Friedrich: Europa am Ende des zweiten Jahrtausends, S. 25ff. 261

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lagen jedoch immer wieder durchbrochen von verschiedenen Versatzstücken, häufig politischen Bezügen oder Zitaten aus anderen Medien, die den Zuschauer immer wieder zwingen, an der Montage mitzudenken. In dem in dieser Hinsicht komplexesten Bühnenbild, der „NeuStadt“, referiert der extrem eingeschränkte Zuschauerblick auf den Wahrnehmungsappell der Inszenierung, die ihrerseits als Kunstwerk von einer Distanz – im Benjaminschen Sinne – geprägt ist, deren Eigengeltung ihr der Blick erst zuweist – Ferne durch Nähe. Fischer-Lichtes Argument gegen das von manchen Kritikern behauptete Verschwinden der Aufführung selbst durch den temporären leiblichen Rückzug der Schauspieler nimmt das Prinzip der Unterbrechung zum Merkmal: „Da hier [...] den Zuschauern mit den Monitoren ein anderer Fokus für ihre Aufmerksamkeit gegeben war, ist doch eher von einer Unterbrechung auszugehen.“191 Die Unterbrechung hatte Walter Benjamin als zentrale Wirkmächtigkeit des Montageprinzips bezeichnet, die den Zuschauer erst auf die Situation, auf die Zustände verweist und ihn damit zu einer eigenen Stellungnahme zum Handlungsablauf zwingt.192 In dieser Emanzipation des Rezipienten liegt nach Lehmann der mögliche politische Charakter des postmodernen Theaters: „Als Öffnung des logozentrischen Procedere, in dem das Identifizieren überwiegt, zugunsten einer Praxis, die das Aussetzen der Bezeichnungsfunktion, ihre Unterbrechung und Suspendierung nicht fürchtet, kann Theater politisch sein. Diese These beinhaltet das nur scheinbare Paradox, daß Theater politisch in dem Maße ist wie es auch die Kategorie des Politischen selbst unterbricht und ‚absetzt‘ statt auf sei’s noch so gut gemeinte neue Gesetze zu setzen.“193 Ganz ähnlich argumentiert auch Juliane Rebentisch: „Gesellschaftlich relevant ist Kunst nur ihrem eigenen – autonomen – Prinzip nach: indem die für sie konstitutive Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem alle Gehalte reflexiv so unter Strom setzt, daß deren vermeintliche Selbstevidenz von der prozessualen Logik der ästhetisch erfahrenen Werke noch dort aufgezehrt wird, wo sie ihren Produzenten als das Wesentliche erscheinen. Eben darin, daß sie die unmittelbare ‚praktische Zündung‘ zugunsten einer reflexiven Distanzierung unterbricht, liegt, wie ich meine, das gesellschaftliche Potential von Kunst, nicht im ästhetisch wie zumeist eben auch politisch blinden Versuch, durch sie politisch ‚einzugreifen‘.“194

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Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 126. Vgl.: Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“, S. 368. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 459. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, S. 278.

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Der ästhetische Empirismus der Volksbühne ist durch die offene Auseinandersetzung mit totalitären Herrschaftsprinzipien geprägt, deren Energien aus einem antiaufklärerisches Aufklärungsprinzip gespeist sind, die ein befreites Aufatmen nach dem Ende der Konsensdiktatur dokumentieren. Freiheit aber, so haben zahlreiche Sozialtheorien gezeigt, ist im westlichen Demokratieverständnis nur mit beschränkter Haftung denkbar, dies gilt auch für die Anomietheorien von Durkheim und Merton. Guyaus subjektzentrierte Anomie kündigte hingegen die existenzphilosophische Autopoiesis kultureller Mikrokosmen an, gegen deren Entfremdung Lukács die coincidentia oppositorum gesetzt hatte. Doch im Gegensatz zum Syntheseprinzip, das Lukács vertrat, setzt Castorf auf die Montage, auf die Verschaltung und auf die Wiederholung performativer Darstellungen in denen die Schauspieler das Ende des Staatssozialismus in überfreudigen Orgien ebenso feiern wie in der Wiederholung eingeübter Sinn- und Deutungsmuster. Die Wiederholung wird zu einer Übersprungshandlung der Orientierungslosigkeit, die sich standhaft weigert, eine Position zu behaupten. Der empirische Charakter der Regiearbeit Castorfs wird in seiner Nähe zur Wiederholung bei Gilles Deleuze deutlich, die Robert Seyfert folgendermaßen beschreibt: „Deleuze [erweist sich als] Empirist [...], denn er versteht Wiederholung als ein Wechselspiel von aktiven und passiven Synthesen der Zeit, der Reflexion und Kontemplation – die im Denken Erinnerungs- und Gewohnheitsbilder erzeugen. Aber auch hier ist es [...] die Differenz, die den Ausschlag gibt: Da die Wiederholung Vergangenheit und Gegenwart überbrückt, operiert sie zugleich im Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart.“195 Im Rahmen der performativen Differenzproduktion, die sich an der Volksbühne auf der zeitlichen und räumlichen Nahtstelle eines historischen Umbruchs befindet, wird nicht nur im Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart operiert. Auch die daran gebundenen Dichotomien werden systematisch aufgebrochen; man könnte auch sagen: dysfunktionalisiert. Es ist eine Technik, die Castorf und Neumann über die 1990er Jahre hinaus beibehalten. „Ich habe in der Arbeit, die ich gemacht habe, in der DDR, auch immer an den Aufbruch des neuen Menschen gedacht,“ sagt Frank Castorf 1995.196 Es ist deutlich: Das hier bekundete Professionsethos einer sympathetischen, pädagogischen Gegenaufklärung ist weit entfernt von der Idee der „Zertrümmerung“. Auch hier noch schimmert das Ritual der questio und disputare durch, doch sein Konstruktionscharakter ist so gut verdeckt, 195 Seyfert, Robert: „Grenze und Differenz“. Differenztheoretisches Denken bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze, S. 19. 196 Castorf, Frank: Interview mit der Tageszeitung Junge Welt. Archiv der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. 263

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dass es sogar in der – nur scheinbar zynischen – Formel des „Stalinismus“ verdichtet werden kann. In einem Interview von 1995 behauptet Castorf: „Wir sind ein altes DDR-Theater, zutiefst stalinistischdemokratisch organisiert.“197 Das hat nichts Naives an sich. Vielmehr geht es immer wieder um einen katharsischen Effekt, der Castorfs Figuren auf ein unbestimmtes Ziel hinführt und die zugleich immer mit der von Merton unterstrichenen Umwandlung von Legitimitätsdeutungen zwischen Anomie und Utopie kämpfen. Die ästhetische Übersetzung einer solchen gesellschaftlichen Lage wurde deutlicher noch als in Durkheims Beispiel von Chateaubriands „Réné“ mit unnachahmlicher Intensität in den Romanen Fjodor Dostojewski beschrieben. Der Student „Raskolnikoff“, der einen Mord als acte gratuit begeht, betont das „Naturgesetz des Menschen“ und wird moralisch von seinem Freund Rasumichin bestärkt, der gegen die Meinung der Sozialisten, dass „das Verbrechen der Protest gegen die Anomalie [sic!] der gesellschaftlichen Struktur [sei]“ wettert: „‚Das Milieu ist schuld‘! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus folgt ihrer Meinung nach schnurstracks, daß, wenn die Gesellschaft erst einmal normal eingerichtet sein wird, dann mit einem Schlag auch alle Verbrechen verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, wogegen zu protestieren wäre, und alle Menschen werden sich dann im Handumdrehen in lauter Gerechte verwandeln. Die menschliche Natur wird von ihnen überhaupt nicht in Betracht gezogen, die wird hinausgejagt, die wird ignoriert!“198

Rasumichin hätte die Zunft der Soziologen meinen können und wäre umso überraschter gewesen über die Stellungnahme des von den Sozialisten erst verachteten, dann geschätzten Durkheim199 zum Mord. Denn aus Durkheims Sicht gehörte nicht nur der Selbstmord, sondern auch der Mord zu einem Tatbestand, der „nicht außerhalb der Bedingungen des normalen Lebens steht. Eben weil ein gewisses Maß an leidenschaftlicher Aktivität stets notwendig ist, gibt es auch stets Verbrechen. [...] Eine Gesellschaft ohne Mörder ist nicht reiner als eine Gesellschaft ohne Leidenschaften.“200 Der Mord, den Raskolnikoff an der alten Wucherin begeht, war kühl geplant und durch ein apokalyptisch-illusionäres Programm des Übermenschtums motiviert. Mit Durkheim könnte man da197 Castorf, Frank: Interview mit der Jungen Welt, Transkription vom 16.1.1995, Archiv der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. 198 Dostojewski, Fjodor: Raskolnikow. Schuld und Sühne, S. 341. 199 Vgl.: Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen, S. 84ff. 200 Durkheim, Émile: Zehnte Vorlesung. Allgemeine, von jeder sozialen Gruppierung unabhängigen Pflichten. Mord. In: Ders.: Physik der Sitten und des Rechts. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1999, S. 169ff. 264

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

von ausgehen, dass die Figur Raskolnikoff einen typischen Vetreter der „progressiven Anomie“ verkörpert. Denn aus Durkheims Sicht ist die „progressive Anomie“ Auslöser für den Aufbau illusionär-genialistischer Weltdeutungen. Diese geben sich in Castorfs Inszenierungen auch 15 Jahre nach dem Mauerfall besonders zynisch, wenn Castorfs Raskolnikow in der Inszenierung von Dostojewskis gleichnamigen Roman vom nietzscheanischen Herrenmenschentum schwärmt und die ohnehin zwielichtige Figur Swidrigajlow einen Text des Vorsitzenden der linksfaschistischen National-Bolschewistischen Partei (NBP), Eduard Limonow, spricht, dessen totalitärer Ton unverkennbar ist: „Die Gegenelite ist eine natürliche Antwort auf die intellektuelle Entartung der Machthaber und die teilnahmslose Idiotie der Massen. Die Gegenelite bildet sich in der Ablehnung, im Hass gegen das Zentrum heraus. Und obwohl um sie immer auch ein Pulk von Versagern und Amokläufern herumschleicht, wird der Grundstock der Gegenelite von denjenigen geformt, die gelernt haben, frei und selbständig zu leben und zu denken, die ihre Ansichten ohne Rücksicht auf allgemein übliche Banalitäten formuliert haben, die für sich eine autonome und authentische Welt der Ideen und Vorstellungen geschaffen haben, die in den Zeiten der Verfolgung, der Repression und der Hetzjagd durchgehalten haben.“201

Hier wird an die frühen Arbeiten angeknüpft, die in der Forderung „Gebt mir ein Leitbild“ zu Beginn der neuen Intendanz instituiert wurden. Leise Töne sind ebenso wenig Sache der Volksbühne wie eine Politik der kleinen Schritte. Die Nähe zum Bergsonschen Prinzip des acte gratuit, den André Breton im Second Manifeste du Surréalisme (1929) feierte, ist unübersehbar. Sie fällt schon in einer der frühen Arbeiten von Castorf auf: in seinem „Clavigo“ nach Goethe 1987 in Gera, den Jochen Gleiß zweifelnd kommentierte: „Alles Agieren bzw. (Nicht-)Handeln schien mir wie von der irrationalistischen Lebensphilosophie Henri Bergsons (1859-1941) inspiriert, mit der der Franzose wahres Leben und tieferen Sinn der Entwicklung nur durch Intuition zu erfahren meinte und deshalb jeglich logisch begründete Erkenntnistheorie ablehnte. Dieser Philosoph pries seinen ‚élan vital‘ bereits als ‚Tat‘. Derartiges ‚Besinnen‘ auf solche Wurzeln des Expressionismus wirkt auf mich wie der verschleiernde, untaugliche Versuch, mit heutiger Wirklichkeit künstlerisch

201 Programmheft zur Aufführung: Schuld und Sühne. Nach Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“. Wiener Premiere am 25. Mai 2005, Berliner Premiere am 6. Oktober 2005. Der Text hat zur Überschrift: „Ausweitung der Ostzone“. 265

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umzugehen. Klassisches Erbe degradiert zum Ventil für individualistische Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer Realität?“202

Der in Lukácscher Färbung gehaltene Expressionismus-Vorwurf vereint sich hier mit einer impliziten Forderung nach Werktreue, die ungeachtet der guten oder schlechten Qualität der Aufführung Castorfs Inszenierungspraxis begleiten und konturieren – auch und gerade im Westen. Aus ganz anderen Gründen kritisierte Ernst Cassirer die dichotome Polarisierung der Philosophie Bergsons, die aus seiner Sicht entgegen ihrem Anschein auf dem Prinzip der Passivität beruhte: „Bergson hat eine Theorie des Schönen entwickelt, die den letzten und schlüssigsten Beweis seiner allgemeinen metaphysischen Prinzipien liefern sollte. Für ihn veranschaulicht nichts besser den grundsätzlichen Dualismus, die Unvereinbarkeit von Intuition und Vernunft, als das Kunstwerk. Was wir als rationale oder wissenschaftliche Wahrheit bezeichnen, bleibt oberflächlich und konventionell. Die Kunst bietet die Ausflucht aus dieser seichten, engen Welt der Konventionen. Sie führt uns zurück an die eigentlichen Quellen der Wirklichkeit. Wenn die Wirklichkeit ‚schöpferische Evolution‘ ist, dann müssen wir im Schöpferischen der Kunst nach den Zeugnissen für das Schöpferische des Lebens und nach den elementaren Manifestationen dieses schöpferischen suchen. Auf den ersten Blick erscheint dies wie eine wahrhaft dynamische oder energetische Philosophie der Schönheit. Aber die Intuition ist für Bergson kein wirklich aktives Prinzip. Sie ist ein Modus von Rezeptivität, nicht von Spontaneität. Auch die ästhetische Intuition wird von Bergson als passives Vermögen gefaßt.“203

An Cassirers Ausführungen lässt sich die Differenz zwischen der Philosphie Bergsons und dem ästhetischen Empirismus von Castorf erkennen: Zwar befinden sich seine Schauspieler in „Schuld und Sühne“ ganz offensichtlich in einer permanenten Suche nach dem moi profond, dessen Gesicht zuweilen eine ziemlich hässliche Fratze ziehen kann. Aber Castorfs Figuren verabscheuen das Passive ebenso wie das Vorhersehbare und ihr modus operandi, der innerhalb der szenischen Handlung zu einem fiktiven, doch realitätsgewissen sens pratique wird, ist durch Spontaneität gekennzeichnet – was vor allem in seiner Probenpraxis deutlich wird. Hinzu kommt ein weiteres Moment – das von Boris Groys hervorgehobene postkommunistische Erbe einer zutiefst kommunalen Wirklichkeitsorganisation. Denn Castorfs Menschenbild bleibt auch noch in der bis zur Unerträglichkeit heraufgesteigerten Wiederholung 202 Gleiß, Jochen: Clinch mit Clavigo. In: Theater der Zeit 3/1987. 203 Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, S. 247ff. 266

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stets ein mitleidiges. Er schätzt Bulgakow und Dostojewski wegen ihrer Gabe, die wahnhafte Entgrenzung zu zeigen, um dann Trost im Kollektiv zu finden – eine wichtige Grundlinie, die der Regisseur mit seiner Ensembleauffassung verbindet. Die Aufhebung der individuellen Schuld am eigenen Schicksal scheint überhaupt ein Merkmal der staatssozialistischen Erziehung zu sein. Die Objektivierung der Schuld und der Trost durch die Gemeinschaft gehört sicher zu den freundlichsten Wesenszügen der Volksbühnen-Ästhetik.

4.4.4 Modellfall freie Arbeit Die reibungsvolle Auseinandersetzung mit totalitären Prinzipien und Stoffen wird nun ihrerseits innerhalb der Produktionsprozesse selbst programmatisch durch den „Modellfall freie Arbeit“ gekontert. Damit komme ich zur letzten wichtigen Mobilisierungsressource für die von mir angenommene Leitidee der Volksbühne. Sie bezeichnet die zentrale Handlungsorientierung des hier vertretenen und auf Dauer gestellten künstlerischen Professionsethos, das die gesamte Volksbühnen-Figuration wie eine symbolische Klammer umfasst. Hier schließt sich der Kreis zu der allerersten Fragestellung meiner Studie: zum Verhältnis zwischen „prosaischer Arbeit“ und Kunstproduktion. Cassirer hatte nicht ohne Grund auf die Gefahren hingewiesen, die in der Gegenüberstellung eines scheinbar rationellen Handelns und eines als antirationalistisch deklarierten Individualismus liegt, die Bergson vertrat. Sie enthebt das Individuum sowohl von seiner Fähigkeit, seine Welt zu konstruieren als auch von dem Tatbestand seiner reziproken Beziehung zur Gesellschaft – seiner relativen Autonomie. Der sechsundzwanzigjährige Karl Marx war 1844 im Pariser Exil gegen die Spaltung zwischen Individuum und Gesellschaft in seinen „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte[n]“ leidenschaftlich zu Felde gezogen. Ihre Lektüre war in der DDR unter Ulbricht zunächst beschränkt, da man den hier unterstellten Idealismus des jungen Marx für schwer vereinbar mit den hölzernen Sollgeltungen des realexistierenden Sozialismus hielt. Der vollständige Text war erst im Ost-West-Aufbruchsjahr 1968 auch in der DDR zugänglich. An Passagen wie der Folgenden wird deutlich, warum sich der junge Marx durchaus mit einer affirmativen Kritik an der Konsensdiktatur vereinbaren ließ – hier wird umgekehrt die Eigengeltung des Individuums (noch) nicht geleugnet: „Es ist vor allem zu vermeiden, die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung – erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren 267

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Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung – ist daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch – und dies notwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles Leben ist.“204

Das Zugeständnis der Differenz zwischen einer „besonderen“ und „allgemeinen“ individuellen Daseinsweise, die letztlich auch die relative Autonomie des Menschen in seiner historischen Wesenheit begründet, lässt sich durchaus als Ablehnung des „Entweder-Oder“ verstehen, das zwar als gültiges Repräsentationsmuster im Staatssozialismus zählte, doch weder in der praktischen noch in der symbolischen Wirklichkeitsorganisation aufrechtzuerhalten war. Schon die Verzahnung von „offizieller“ und „inoffizieller“ Kunst machte dies deutlich. Die Manuskripte sollten sowohl für eine „Kritik durch Affirmation“ im Osten als auch für die unorthodoxe westliche Linke zu einer wichtigen Grundlage werden, der den stalinistischen Despotismus in einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ theoretisch zu überwinden versprach.205 Auf der künstlerischen Produktionsebene lief das auf die Formel „Modellfall freie Arbeit“ hinaus. Der „Modellfall freie Arbeit“, den Frank Castorf als Leitmotiv seiner Inszenierungspraxis bezeichnet, scheint auf einen wichtigen Motivationskern für die Gesamtfiguration der Volksbühne hinzuweisen. Karl Marx bezeichnete diesen Modellfall als einen Zustand, den zu erreichen der Kommunismus angetreten sei. Rund zwanzig Jahre bevor Émile Durkheim den wirtschaftlichen Fortschrittszwang in seiner Dissertation über die soziale Arbeitsteilung zum „Glaubensartikel“ deklariert und in diesem Zusammenhang erstmalig die Anomie als soziologisches Paradigma benennt, formuliert Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programmes“ die Utopie einer Arbeit, die auf persönlicher Entfaltung und Freiwilligkeit beruht: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht mehr nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Le-

204 Marx, Karl: „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“, S. 538. 205 Vgl. Zehnpfennig, Barbara: Einleitung zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von Karl Marx. In: dies. (Hg.): Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. Xff. 268

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bensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!‘“206

Das spezifische Bedürfnis des in der Gemeinschaft aufgehenden und zugleich zu sich selbst findenden Individuums wird als künstlerisches Professionsethos von den Volksbühnen-Produzenten – insbesondere von den Schauspielern – aus Ost und West immer wieder betont. Es konturiert das Profil des Ensembles. Friedrich Dieckmann kommentiert Castorfs Regiearbeit: „[W]as Castorf macht, ist nichts weniger als Regietheater. Er dressiert nicht, er fördert zutage, er lockt heraus; Schauspieler freisetzend zu der Fülle ihrer Möglichkeiten, schafft er Figuren, die ganz kunsthaft und völlig natürlich sind.“207 So erklärt das langjährige Ensemblemitglied Sophie Rois: „Einerseits fackeln sich die Schauspieler jeden Abend auf der Bühne ab, andererseits hat es eine große Lässigkeit. Ich bin zum Theater gegangen, weil ich nicht arbeiten möchte.“208 Hier kommt die von Georg Simmel bezeichnete subjektive Seeleneinheit zum Ausdruck, die dem Künstler erlaubt, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse weitgehend fernab von den Zwängen zu formulieren, die die nutzorientierte Arbeit von ihm verlangen würde. Damit schafft die im künstlerischen Professionsethos angelegte Ablehnung der prosaischen Arbeitsteilung aus Sicht der Produzenten den Raum für eine Eigengeltung, in der die Persönlichkeit mit Simmel mehr ist als „eine Provinz mit eingeschränkter Autonomie“209 – und das auch gerade dann, wenn es zum Ethos des Hauses gehört, diese spezifische Produktivkraft jeden Abend „abzufackeln“. Diese Haltung der Schauspieler führt in der Zusammenarbeit mit externen Regisseuren oft zu Konflikten, in denen um die Deutungshoheit einer hier für legitim befundenen Produktionsweise gestritten wird. Bernhard Schütz, der seit 1995 am Haus engagiert ist, wendet diese höchst aktive Form der Arbeitsverweigerung in ein Volksbühnentypisches Professionsethos:

206 Marx, Karl: „Kritik des Gothaer Programmes“, S. 21. 207 Dieckmann, Friedrich in: Irmer, Thomas et. al.: Volksbühne. Zehn Jahre Intendanz Castorf, S. 33. 208 Rois, Sophie in: Laudenbach, Peter: Stadt der Frauen. Tip Stadtmagazin 18/04, S. 64. 209 Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“, S. 105. 269

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„Man arbeitet an bestimmten anderen Theatern nicht, weil man da nicht arbeiten will, weil man diese Art von Theater nicht produzieren will. Weil das nicht Teil von unserem Leben sein soll. Ich bin aus Hamburg weggegangen, weil ich gemerkt habe, dass ich das als zutiefst zynisch empfinde, diese Art von Beliebigkeiten und Leidensdarstellung. Das finde ich einfach nicht ehrlich. Das will ich nicht produzieren, deshalb bin ich an der Volksbühne. Mit Regisseuren, die das wollen, hier an der Volksbühne zu arbeiten, ist einfach absurd! Wenn man in München oder Zürich gastiert, kann man sagen okay, man verrät sich selbst und nimmt die Kohle. Das weiß man ja, dass man sich in solche Systeme einbinden muss. Man kann ja nicht einfach alles zum Explodieren bringen. Dann kann man es lassen. Man kann nicht nach Zürich gehen und sagen, ich will jetzt die Volksbühne da haben. Aber hier an der Volksbühne muss man das nicht tun. Deshalb ist es mit dem ‚Wegbeißen‘ so eine Sache. Es ist auch eine Art von Auseinandersetzung, die hier stattfindet und der man standhalten muss. Deshalb ist mir die Volksbühne auch so wichtig, Systeme wie Christoph [Schlingensief, T.B.] oder Pollesch. Weil es für mich die einzige Form von würdevollem Leben ist, dass man die Räume, die man hat, mit der Kraft so auffüllt, wie man das wünscht. Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, sondern dass man mit der Person vorkommt, die man ist. Und den Raum dafür kriegt. Und auch den Raum nehmen muss, das ist zugleich eine Forderung. Auf der Bühne ist es so, wenn du da nicht spielst, da hilft dir keiner. Aber du kriegst von den anderen Kollegen eine Kraft, auf die kannst du antworten. Das ist eine Form von Leben, die ich erfüllend finde. Ich kann nur beschreiben, wie hier gearbeitet wird und was ich daran schätze. Ich finde Streit, Auseinandersetzung und Diskurs super.“210

Bert Neumann veranschaulicht den politischen Charakter dieses Professionsethos anhand seiner Beobachtungen in der Ausstattungspraxis: „Die politische Dimension der Bühnenarbeit ist es nicht, politische Stoffe zu behandeln, sondern eine bestimmte Form von Zusammenarbeit oder von Existenz auf der Bühne zu leben. Man sagt nicht – ich nehme mir jetzt ein brisantes Thema und stelle das hin, sondern ich versuche, eine bestimmte Arbeitsweise, also wie man miteinander arbeitet – was nicht nur heißt, dass man sich immer nur freundlich behandelt, man kann sich auch auseinandersetzen, muss man sogar auch – so eine Form von nicht-entfremdeter Arbeit auf der Bühne zu vollziehen. Daraus entsteht dann irgendwann auch ein Moment von Utopie. Was ich an Theater immer interessant finde, wenn ich merke, dass Leute autonom funktionieren, und nicht so reguliert funktionieren, wie wir meistens funktionieren. Da entsteht so ein Moment von Hoffnung auf einer Bühne, wenn man sieht, die Leute entäußern sich, kommen in andere Zustände, die

210 Im Gespräch mit mir am 29.10.2005. 270

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nicht mehr der Kontrolle unterliegen. Immer dann, wenn man Schauspielern ansieht, dass sie im Auftrag eines Regisseurs unterwegs sind, wird es ja langweilig, denn das ist so wie immer überall, was einen umgibt. Jeder ist im Auftrag von irgendetwas unterwegs. Diese Möglichkeit, auf einer Bühne anders zu existieren, das finde ich an Theater oder an Kunst politisch, dass man eine andere Form von Sein praktizieren kann.“211

Neumann spricht hier drei Bedeutungsebenen an: Den Wunsch nach nicht-kontrollierter, nicht-entfremdeter Arbeit, die sich durch die künstlerische Praxis als politisches Handeln erweisen kann; die Autonomie der Künstler, und schließlich die Absage an einen konkreten, sei es gesellschaftlichen oder ästhetischen, Auftrag. Die Kunst wird verlebendigt, indem den Künstlern weitestgehende Autonomie zugestanden wird. Hierin begründet sich das Festhalten dieser Theaterschaffenden an der Autonomie und ihre Ablehnung des Auftrags, der dem Produzenten ebenso wie dem Zuschauer eine Pädagogik des Politischen aufoktruieren will. Doch es ist alles andere als die pure Individualität, die hier eingefordert wird, ihr Bezugspunkt ist nicht L’art pour l’art. Gegen die politische Entmündigung durch die Politisierung der Künste setzt sie die Freisetzung des „Menschlichen“ in der tröstlichen Überzeugung, dass der Mensch ohnehin ein Gesellschaftstier ist. Im Vergesellschaftungscharakter der Kunstproduktion überführen die Volksbühnen-Akteure eine zentrale utopistische Grundannahme des staatssozialistischen Kulturrahmens in die Gegenwart. Das Ende der DDR gab aus ihrer Sicht keinen Anlass, diese Annahme aufzugeben. Doch darf nicht übersehen werden, dass der „Modellfall freie Arbeit“ eine Selbstzuschreibung ist, die nicht nur auf das Ausdruckspotenzial, sondern auch auf die „Zensur“, bzw. die Grenzen hinweist, die sich an der Volksbühne als Rahmenbedingungen der hier praktizierten symbolischen Wirklichkeitsorganisation manifestieren. Neben den häufigen öffentlichen Vorwürfen des „Wegbeißens“ von Produzenten, die sich diesem Professionsethos verweigern, ist diese relative Autonomie insbesondere der Schauspieler, die der disputatio den Vorzug gibt gegenüber der questio zugleich mit einem hohen Anforderungsdruck zur Selbstbehauptung verbunden, dessen widersprüchliche Konsequenzen das langjährige ehemalige Ensemblemitglied Matthias Matschke beschreibt: „Andererseits funktioniert auch das wie eine Droge, von der man nicht mehr loskommt. [...] Aber dieses Format, das man bei der Arbeit hier notgedrungen an den Tag legen muss, würde mir in einem anderen Zusammenhang als Rei211 Im Gespräch mit mir am 19.7.2005. 271

INSTITUTION UND UTOPIE

bungsverlust fehlen. [...] Neben Schlingensief, der eine Sonderposition einnimmt und seine eigenen Schauspieler hat, gab es Marthaler, der sozusagen das andere Ende der Welt beschrieb. Im Moment gibt es einen solchen Gegenpol nicht mehr oder noch nicht, und damit zentriert sich alles auf Castorf. Das ist fatal, weil er wirklich gut ist und man als Schauspieler deswegen immer fürchtet, dass einem, wenn man anderswo mitmacht, der Erfolg bei Castorf genommen wird. Und weil man nicht weiß, wie man von dieser Ästhetik wieder zu etwas anderem findet. Wenn sich diese Zentralisierung auf den Regisseur Frank Castorf nicht durch eine starke Alternative brechen läßt, hat die Volksbühne wirklich ein Problem.“

Zum anderen stellt Matschke fest: „[An der Volksbühne] hätte [ich] große Probleme gehabt, z.B. bei Thomas Bischoff mitzuarbeiten, weil mir eine Grundthese wie das ‚Dogma des Worts‘ in seiner Arbeit völlig abstrakt bleibt.“212 Hier wird der Bogen, der sich in der institutionalisierten Kunstproduktion am Theater zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang aufspannt, aus Sicht der Schauspieler sehr deutlich. Der „Modellfall freie Arbeit“ spricht für den von mir definierten Tatbestand der „Anomie“ als symbolische Wirklichkeitsorganisation, in der die als Befreiung empfundene Entlastung von einst vorgegebenen normativen Handlungsoptionen ritualisiert wird. Ihre performative Systematisierung kann von den Produzenten selbst ebenso die Funktion einer Entlastung wie die einer praktischen Handlungsorientierung, wenn nicht Sollgeltung einnehmen. Verstetigt sie sich, und treten die sie einst hervorgebrachten Rahmenbedingungen in den Hintergrund, so gewinnt eine Veralltäglichung dieser Praxis an Raum, und das temporäre Charakteristikum der „Anomie“ tritt in Kraft – ihr Konstruktionscharakter wird offenbar, ihre Funktion verliert an Eigengeltung und die symbolische Wirklichkeitsorganisation institutionalisiert sich zu einem Professionsethos, das schon wegen seiner Allgemeingeltung nicht mehr „anomisch“ sein kann. Dies wird spätestens dann offenkundig, wenn die „Anomie“ zum „Erfolgsfaktor“ wird. Dieser Tatbestand führt offenbar an der Volksbühne, deren symbolische Wirklichkeitsorganisation maßgeblich durch das Produktionsprinzip der Montage verwirklicht wird – als gesellschaftsbezogene Intervention in die künstlerische Produktionsweise – zu einer besonders engen Verzahnung der beiden von mir genannten Ebenen: Der allgemeinen Struktur des Feldes – in diesem Fall der Institution – und dem individuellen sens pratique der Produzenten. Er wird besonders deutlich in der szenischen Zusammenarbeit zwischen Frank Castorf und Bert Neumann, 212 Matschke, Matthias in: Engelhard, Barbara: Am Abgrund tanzen. Kursiv von mir. 272

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

denn hier vereinen sich sinnliche Intuition und praktische Intention in einer Klarheit, die die Übertragung des Bonmots von Josef Beuys – die Volksbühne als „soziale Plastik“ – ganz im Sinne des hier vertretenen Professionsethos zur Anschauung bringen. Die hier verstetigte Leitidee setzt sich aus historiographischen und kulturtechnischen Elementen zusammen, die eine komplexistätssteigernde stabilisierte Spannung hervorgebracht haben. Auf dieser stabilisierten Spannung beruht die herausragende Stellung der Volksbühne im Berliner Kulturgeschehen.

4.5

Stabilisierte Spannung

Helmut Schelsky befand die „chronische ‚Herausforderung‘“ als treibenden Faktor für die Aufrechterhaltung der inneren Spannung von Institutionen, die er als „‚Appell nach oben‘, der jeder Institution als normative Leitidee in Spannung zu ihrer trivialen Stabilität innewohnt,“ bezeichnete. Für die Volksbühne bestand die chronische Herausforderung, die sie im Zuge ihrer Stabilisierung zu ihrem Markenzeichen machte, in der dauerhaften Verstetigung eines Einbruchs der Realität in die Kunst, die in dem Fall der Mauer und dem damit verbundenen Utopieverlust ihren Ausgangspunkt genommen hatte. Es ist diese Besonderheit, die das Haus am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz von allen anderen Theatern der Bundesrepublik unterscheidet. Dieses Theater konnte sich nur deshalb so aus der sonstigen Theaterlandschaft abheben, weil die Produzenten, die das Haus nach der Wende übernommen und geprägt haben, das Faktum der Wende auf eine Weise herausstellten, die künstlerisches Können mit politischem Spürsinn zu vereinen wusste. Das war möglich, weil die Künstler, die sich hier dauerhaft niederließen, vor 1989 jeweils sehr spezifische Formen der symbolischen Wirklichkeitsorganisation praktiziert hatten, die sich alle in einer relativen Autonomie gegenüber den jeweiligen offiziellen Sanktionsinstanzen bewegt hatten. Sie hatten sich zu Spezialisten für den Aufbau kultureller Gegensatzspannungen gemacht, in denen bestimmte Repräsentationsmuster in der jeweiligen eigenen gesellschaftlichen Hemisphäre sowohl gegeneinander ausgespielt als auch synthetisiert wurden.214 In der Volksbühne konnte sich dadurch ein multipolares Span213

213 Schelsky, Helmut: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?“ S. 288. Kursiv von mir. 214 ‚Spezialisten‘ im dreifach benannten Sinne des Wortes: Als „Konsultanten des Lebens“ (Groys), als widersprüchliche Figuren der revolutionären Intelligenz (Benjamin/de Beauvoir/Sartre) und als Experten für ihre eigene Praxis. 273

INSTITUTION UND UTOPIE

nungsgefüge etablieren, das sich anderswo auf wesentlich einseitigere Weise darstellte. Es setzte sich – im Falle von Frank Castorf und Bert Neumann – nicht etwa durch eine einheitliche Form des Umgangs mit der staatssozialistischen Vergangenheit um, was es um so schwerer machte, in diesem Theater einfach eine Begegnungsstätte für „Ostalgiker“ zu wähnen. Viel zu unterschiedlich sind die Umgangsweisen und damit verbundenen Wirklichkeitsorganisationen, mit denen Castorf und Neumann sich jeweils innerhalb der DDR bewegt hatten. Ähnliches gilt auch für die Profile von Christoph Schlingensief und René Pollesch. Die „chronische Herausforderung“, die sich in ihren Praktiken ausdrückt, gehört zu den zentralen Selbstbezeugungen der VolksbühnenProduzenten. Auch acht Jahre nach seiner Intendanzübernahme erklärt Frank Castorf den staunenden Zuhörern bei einer Pressekonferenz in Paris: „An der Volksbühne hat sich historisch alles niedergelassen, was von Bedeutung war in Deutschland. Die Kommunisten, die Nationalsozialisten, wieder die Kommunisten mit ihrem Stalinismus und nun der Kapitalismus. Das merkt man dem Theater, was wir machen, immer noch an. Und das soll auch so sein.“ Die aus Österreich stammende Schauspielerin Sophie Rois wird gefragt, was es für sie bedeute, an der Volksbühne zu spielen. Sie antwortet sinngemäß: „Theater muss die Leute aufrütteln. Wie so ein ...“ sie zögert „ ... so ein Blitzkrieg soll das über die Zuschauer hinüberfegen“.215 Leichtes Raunen unter den Franzosen. René Pollesch kommentiert Rois’ Worte: „Es geht nicht um eine Provokation. Es geht bei uns um das Scharf-Stellen und um eine Form von Ambivalenz, die nicht so einfach verträglich ist. Man kann sich auch da vorne hinsetzen und es wird so gemütlich. Die Energie der Schauspieler ist so wie dieser Satz. Auch Sophies Energie ist so. Es geht eher um einen Versuch. Mit diesem Wort „Blitzkrieg“ hat sie etwas versucht. Das ist eine Aktion. Das ist nicht einfach der Wunsch, diese Leute zu informieren, diese geladene Pressekonferenz zu bestätigen, sondern da einen Versuch zu starten. [...] Das bleibt nicht ein Wort, was man da hinstellt, sondern sie ist tatsächlich in den Blitzkrieg envolviert. Die Proben [zu Dämonen nach Dostojewski, T.B.] waren wahrscheinlich ein Blitzkrieg. Da gibt es eine Differenz, die ich an den Leuten von der Volksbühne interessant finde. Deshalb empfinde ich sie auch als autonome Schauspieler. Nicht als welche, die irgendeine Vision des Regisseurs verinnerlicht haben, sondern die immer das vertreten, was sie auch sagen wollen. Bernhard Schütz geht auf die Bühne, um etwas zu sagen, nicht um das,

215 Nach Notizen von mir während der Pressekonferenz am 16.1. 2001 im Pariser Goethe-Institut am Vorabend des Volksbühnen-Gastspiels „Dämonen“ nach Fjodor Dostojewski im Théâtre de Chaillot. 274

DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

was Castorf sagt, nachzuplappern. Die sind alle beteiligt am Material, die interessieren sich dafür, die interessieren sich nicht an einem braven, logischen Zugang, sondern an einer Spekulation, die vielleicht unmenschlich ist oder böse.“216

Die Spekulation über das Unmenschliche als chronische und dezidiert postsozialistische Suche nach dem „Aufbruch des neuen Menschen“ brachte an der Volksbühne die auf Dauer gestellte Probehandlung hervor. Deren Erfolg beruhte auf einem nicht enden wollenden Strom von Aktualisierungsprozessen dieser Suche, in die sich die mit ihr verbundenen Erfahrungen des westlichen Kulturrahmens reibungsvoll einfügten. Aus Sicht der Volksbühnen-Produzenten ist der ästhetische Empirismus ein wichtiger Anhaltspunkt für die Hintergrunderfüllung einer Spezifizität, die für die stabilisierte Spannung einer künstlerisch erfolgreichen Institution so wichtig ist: die Nicht-Vereinbarkeit eines Alleinstellungsmerkmals mit den sonstigen Paradigmen der ästhetischen Differenzproduktion. Sie erlaubte es, den Sättigungsprozess, der die künstlerische Institution auf Dauer auf ihre stadtpolitisch relevante Hauptfunktion einer sozialen Bedürfnissynthese zu reduzieren droht, über einen langen Zeitraum hinauszuzögern. Die Etablierung der Dauerreflexion, an dessen Sollgeltung sich in der Volksbühne spezifische selbstreferentielle Formen der symbolischen Wirklichkeitsorganisation abbildeten, war zu Beginn der neuen Intendanz sowohl durch ein spätsozialistisches anomisches Professionsethos als auch durch das Diktum der Polyvalenz ästhetischer Praxis angetrieben. Vom Theaterraum ausgehend wollte man sich vor allem als Stadttheater im wörtlichen Sinn positionieren, wie Bert Neumann im Rückblick auf die Anfangsphase bestätigt: „Den Ansatz, in den Stadtraum hineinzuwirken, gab es in der Volksbühne von Anfang an. Das hat auch damit zu tun, dass wir in einer Situation angefangen haben, in der wir beweisen mussten, dass wir etwas Wichtiges tun. Das ist eine DDR-Prägung. Wenn der Arbeiter- und Bauern-Staat Dich studieren lässt, dann sollst Du auch beweisen, dass das wichtig ist.“217 Wichtig war im Arbeiter- und Bauern-Staat alle Kunstproduktion, die sich – zumindest programmatisch – für das Projekt der sozialistischen Moderne als Avantgarde verwerten ließ. Kunstproduktion am Theater sollte sich in das „Gesamtkunstwerk“ des Sozialismus einfügen. 216 Im Gespräch mit mir am 13.7.2005. 217 Neumann, Bert in: Hoffen, dass das Geld nicht reicht. Ein Gespräch mit Bert Neumann über die Fassaden der Republik. In: Programmheft zu „Ersatzstadt. Repräsentationen des Urbanen. Vom 20.-22. Mai 2005.“ Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. LSD. Berlin 2005. 275

INSTITUTION UND UTOPIE

Die postsozialistische Antwort auf den Auftrag zur Differenzproduktion konnte an der Institution Volksbühne daher auf eben diese Weise erfolgen: der Etablierung eines eigenen, eines mit der Marxschen Einschränkung versehenen relativ „autonomen Gesamtkunstwerkes“. Für Neumann und Castorf, aber auch für Schlingensief und Pollesch sollte die Probehandlung zwischen „realer Konstruktion“ und „inszenierter Kontiguität“ zu einer Haltung werden, die sie zunehmend perfektionierten und auf eine spezifische Spannungshöhe zu halten vermochten. Der „Einbruch des Realen“ spielt dabei eine entscheidende Rolle, weil er es überhaupt möglich machte, die Krise einer Gesellschaft im Umbruch in sowohl ästhetische wie auch „typische“, d.h. gebrauchsorientierte Formen zu bringen – und gerade dadurch eine spezifische Ästhetik hervorzutreiben. Die Formulierung dieser Ästhetik gelang insbesondere Frank Castorf und Bert Neumann durch ein Professionsethos, das den „Modellfall freie Arbeit“ als symbolische Wirklichkeitsorganisation postuliert. Als solches formuliert dieses Ethos sowohl die Basis des Ausdruckspotentials als auch die Grenze der ästhetischen Praxis. Diese Basis hat sich in der Institution Volksbühne in der Spannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang auf Dauer gestellt. Damit stellt der „Modellfall freie Arbeit“ die praktische Umsetzung der Handlungsorientierungen der „Abweichenden Linienführung“, der „Autonomen Raumkontrolle“ und des „Scheiterns als Chance“ dar, die ihrerseits in eine normative Geltung umgeschlagen ist. Die strukturelle Kontingenz der damit verbundenen symbolischen Wirklichkeitsorganisation bleibt von diesem Tatbestand unberührt; ja sie konnte sich auf dieser Grundlage erst entfalten und symbolische Zwecktransformationen hervorbringen. Arnold Gehlen schlussfolgert in „Urmensch und Spätkultur“: „Man [darf, T.B.] das unmittelbare Leben in den Institutionen, in den normierten Handlungen, Ideen, Sollgefühlen und stabilisierten Spannungen, die sich meist nur langfristig verändern, mit nichts anderem vermengen. Diese „selbstverständlichen“ Inhalte machen als subjektive Erlebnisse überhaupt nur solche möglich, die in ihrem Rahmen (oder im Gegensatz zu ihnen) in Erscheinung treten können. Hier liegen Kausalitäten, die kaum zu durchschauen und noch weniger zur Anerkennung zu bringen sind. Aber wir halten die These Schumpeters [...] für wahr, daß die rationalistisch-kapitalistische Gesellschaft den „kritischen Intellektuellen“ selbst erzeugt hat: sie hat ihm nicht nur die Ausdrucksmittel bereitgestellt, sondern seine Seelenlage informierter Unzufriedenheit, und sogar noch sein Bewußtsein, als „freies Individuum“ zu kritisieren. Ähnlich ist die Soziologie in der Lage, den modernen Persönlichkeitskult,

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DIE VOLKSBÜHNE ALS STABILISIERTE LEITIDEE

die Einmaligkeit als Rolle und mühsame Verpflichtung, auf das Institutionssystem zu beziehen, das allein diese Möglichkeiten zuläßt.“218

Die Institution ermöglicht die Dauerreflexion, die ihrerseits als künstlerische Praxis allerdings nicht ohne gesellschaftliche Kontingenz auskommt. Der ästhetische Empirismus vollzog sich an der Volksbühne in zwei Etappen: zu Beginn des Intendanzantrittes von Frank Castorf als zweigesichtiges Repräsentationsmuster (grundiert durch den staatssozialistischen Kulturrahmen und seinen Untergang), und im Zuge der Etablierung der Volksbühne als bedeutender kultureller Ort Berlins, in dem sich die Ereignisproduktionen, insbesondere die Inszenierungen, von Beginn an als konzises Signum des postmodernen politischen Stadttheaters – als „Theater des Realen“ – auswiesen. Dessen von Neumann beschriebenes Charakteristikum bestätigt die Definition Lehmanns: „Politisch wird Theater kaum mehr durch die direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise. [...] Theater stellt, nicht als These, sondern als Praxis, exemplarisch eine Verknüpfung des Heterogenen dar, die die Utopien eines „anderen Lebens“ symbolisiert: geistige, künstlerische und körperliche Arbeit, individuelle und kollektive Tätigkeit sind hier vermittelt. So kann es eine widerständige Praxisform schon darin behaupten, daß es die Verdinglichung von Handlungen und Arbeiten zu Produkten, Objekten und Informationen auslöst. Indem Theater seinen Ereignischarakter forciert, manifestiert es die Seele des toten Produkts, die lebendige künstlerische Arbeit, für die alles unvorhersehbar und morgen zu erfinden bleibt. Theater ist also der Verfassung seiner Praxis nach virtuell politisch.“219

Dies trifft in außergewöhnlicher Weise auf die Volksbühne zu. Das Haus formulierte seine profilbildende Bedürfnissynthese allerdings nicht durch die Sublimierung des bürgerlichen Traumes von einem „anderen Leben“, sondern machte sich die Erfahrungswerte der realexistierenden „anderen Leben“ auf beiden Seiten der Mauer zunutze. „Abwicklung oder Sieg“, hatte Castorf diese Herausforderung genannt, und die aus dem staatssozialistischen Paradigma des Posthistoire geronnene Utopie mitsamt der in ihr generierten kulturellen Anomie in die marktwirtschaftliche Gegenwart transponiert. Stölting bemerkt zu der Transformation dieser gesellschaftlichen Leitideen in institutionelle Mechanismen am Beispiel der Sowjetunion:

218 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 97ff. 219 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 456ff. 277

INSTITUTION UND UTOPIE

„Die Differenz von Leitideen und institutionellem Funktionieren kann mithin ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie kann Institutionen eine ‚Elastizität‘ verleihen, die immer wieder Anpassung an veränderte Umstände ermöglicht. Sie kann eine brüchige Stabilität bewirken, und schließlich sogar zu Destabilisierung beitragen. Die Selbstbeschreibungen ihrerseits lassen sich auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen differenzieren. Sie können bestimmten Formmechanismen folgen, die eine höhere Konstanz besitzen als die aktuellen konkreten Selbstbeschreibungen und erst recht als die organisatorischen Formen, die ihnen zugeordnet sind. Ein Beispiel dafür war die normativ aufgeladene Ost-West-Dichotomie, bei der sich hinter der sichtbaren sowjetischen Diskontinuität weitgehend eine begriffliche Grundstruktur durchgehalten hat, die heute reformuliert wird.“220

Damit kann der von Rehberg unterstrichene dynamische Charakter des Institutionenwandels auf das Innere einer künstlerischen Institution wie der Volksbühne übertragen werden, denn eben ihre anomische Ausgangsbedingung fand in der von Stölting benannten höheren Konstanz von Formmechanismen ihre erfolgreiche Verstetigung. Es gelang, eben diese Formen der Wirklichkeitsorganisation durch performative Differenzproduktion als „siegreichen Utopismus“ innerhalb des vereinigten Theaterfeldes durchzusetzen. Die damit verbundene Fähigkeit der Volksbühnen-Produzenten, das Zutagetreten des marktwirtschaftlich bedingten latenten Bruches zwischen der sozialen Struktur und der kulturellen Struktur, das die Wende hervorgebracht hatte, ästhetisch auf Dauer zu stellen, führte gleichzeitig zur Auf-Dauer-Stellung einer spezifischen Bedürfnissynthese innerhalb des Berliner Theaterfeldes. An dieser Bedürfnissynthese haben neben dem Haus all diejenigen Feldakteure teil, aus dem eine stabile Triade aus staatlichen Sanktionsinstanzen, dem „Volksbühnen-Publikum“ und mit ihm einer Reihe von Kritikern entstand. Dieses institutionell begründete Einvernehmen konnte jedoch im Rahmen der Kunstproduktion selbst nur durch die Aufrechterhaltung der Gegensatzspannung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang erreicht werden. Im Fall der Volksbühne bedeutet das, die unausweichliche Verstetigung der „Anomie“ für die Zeit nach der Wende auf einer für den Erfolg notwendigen Spannungshöhe zu halten, in der die Veralltäglichung der Wende an Wirkmächtigkeit zunimmt. Damit konnte die hier etablierte sozio-symbolische Praxis den Charakter einer spezifischen Extrahierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben, weil sie

220 Stölting, Erhard: Wandel und Kontinuität der Institutionen: Rußland – Sowjetunion – Rußland, S. 183. 278

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als künstlerische Praxis in dem Herausstellen der Ausnahme des Regelhaften deren normative Kraft – ob als staatssozialistisches Erbe oder als Auftrag zur performativen Differenzproduktion – erst aufzuzeigen vermochte.

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5. S C H L U S S : I N S T I T U T I O N

UND

UTOPIE

„Die Kulturgebilde steigen aus dem gesellschaftlichen Leben auf und kehren in dieses zurück; sie sind eine der Funktionen der Gesellschaft, zugleich aber ist es eine ihrer Funktionen, vergesellschaftend zu wirken. In dieser letzteren Hinsicht sind sie Gegenstand der Soziologie als Gesellschaftslehre.“

Karl Mannheim Karl Mannheim hatte die Utopie als eine transformierende Kraft beschrieben, die die gesellschaftliche Gegenwart sowohl ideativ als auch praktisch zu überwinden beansprucht. Ihre Bedeutung als Mobilisierungsressource für künstlerisches Handeln bildet sich an ihrer instituierenden Wirkung ab, die spezifische Figurationen zusammenführt und ihnen eine dauerhafte symbolische Bedeutung verleiht. Sie wird zu einem gesellschaftlichen Imaginären, das gleich einer anomischen Teilmenge der Gesamtheit gesellschaftlicher Zielvorstellungen deren aktuale Sollgeltungen überschreitet. Wie aber wirken sich diese Tatbestände aus, wenn die Utopie verlorengeht; wenn also das, was in der Okzidentalen Welt der Kultivierung des Abweichenden als Innovationsquelle gilt, mit einem weltweiten Utopieverlust konfrontiert ist, dessen gleichwohl befreienden Effekte von bislang ungekannter Heterogenität sind? Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob wir es nach 1989 mit einem Ideologie- oder mit einem Utopieverlust zu tun hatten. Das ist eine Frage der Perspektive und des Utopiebegriffes und wäre eine Dis-

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INSTITUTION UND UTOPIE

kussion für sich.1 Das Ende des Staatssozialismus mit dem Ende der politischen Utopien zu assoziieren nimmt das gesellschaftliche Imaginäre zum Ausgangspunkt – was bei weitem nicht voraussetzt, in diesen politischen Systemen die vollendete Utopie gesehen zu haben. Dies käme – sowohl auf Seiten ihrer Verfechter, wie auf Seiten ihrer Gegner – einer idealistischen Überschätzung gleich, die mit einer unterkomplexen Vorstellung von Utopie einhergeht. Mannheim unterschied zur Schärfung seiner Wissenssoziologie zwischen Ideologie und Utopie: „Während der Untergang des Ideologischen nur für bestimmte Schichten eine Krise darstellt und die durch Ideologieenthüllung entstehende Sachlichkeit für die Gesamtheit immer eine Selbsterklärung bedeutet, würde das völlige Verschwinden des Utopischen die Gestalt der gesamten Menschwerdung transformieren.“2 Nicht nur entworfenen und imaginierten Utopien, sondern auch ihrem Ende maß Mannheim eine transformierende Wirkung zu. Welcher Art sind aber die Transformationen, die das Ende des Staatssozialismus und die mit ihm verbundene Freisetzung eines Zeitgeistes des „anything goes“ auf die kulturelle Gestalt der Menschwerdung auslösen? Die ‚Ontologie der Unbestimmtheit‘, die Cornelius Castoriadis in Anlehnung an Henri Bergson als Voraussetzung des Schöpferischen bezeichnete, bedurfte nach 1989 einer Selbstvergewisserung besonderer Natur. Ihre permanente Schwellenbewegung zwischen Instituierung und Institution, die bereits vor dem Mauerfall als organisierte Anomie auf die beiden deutschen Felder der Kulturproduktion gewirkt hatte, konnte sich in der Berliner Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz geradezu beispielhaft auf Dauer stellen. Utopie und Institution konnten einerseits als Verlust, andererseits als öffentliche Legitimierung ehemals abweichender Bedürfnisansprüche verbucht werden, deren zeitgeschichtlichen Wurzeln eine passgenaue ästhetische Praxis hervorbrachten. Der gesellschaftliche Ausnahmezustand der Wende brachte die latente Anomie einer westlichen Gesellschaft zu Tage, die auf einer Abspaltung der Kulturproduktion und –Rezeption beruht. Den ostdeutschen Bürgern wurde diese Eigenschaft auf besonders einschneidende Weise deutlich. Das kulturelle Netz war im Staatssozialismus, anders als im Westen, viel dichter mit dem sozialen Netz und der Arbeitswelt verwoben. Die plötzliche Prädominanz des Ökonomischen führte hier zu einer Erosion des Kulturellen, das seinerseits bereits zuvor anomische Züge trug – doch es trug diese im vollen Bewußtsein seiner realsozialistischen Rahmung. Schon deshalb kann die durch Robert Merton postulierte sys1 2

Vgl. Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum, S. 62ff. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, S. 225.

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SCHLUSS

temische Trennung von Kultur und Sozialem nicht greifen: Die ostdeutschen Volksbühnen-Produzenten kamen aus einer Gesellschaft, in der, anders als im Westen, von einer Autonomie der Kulturproduktion keine Rede sein konnte – sie war ganz und gar in das staatssozialistische Gesamtprojekt einverleibt. Hierauf begründete sich auch ein anderes Verhältnis zu den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Kunstproduktion nach 1989. Die praxeologische Analyse hat gezeigt, dass hier zwei Anomie-Komplexe aufeinandertrafen: Die kulturelle Anomie, die in der schwindenden Bedeutung der offiziellen Staatskultur der DDR bestand, traf auf eine Situation der sozialen Anomie im vereinten Berlin. Die aus beiden Tatbeständen resultierenden Abweichungen grundierten die Praxis einer symbolischen Wirklichkeitsorganisation, die auf der relativen Autonomie gegenüber den jeweiligen offiziellen Anforderungen bestanden. Nach dem Ende des Staatssozialismus und in Angesicht des strukturellen Gefälles, das sich plötzlich innerhalb der Ostberliner Gesellschaft im Prozess der Vereinigung herauskristallisierte, lautete der Auftrag an die Ostberliner Produzenten, „ein verstörendes Theater“; „ihr“ Theater zu machen. Hier wurde das sich längst innerhalb des westlichen Theaterfeldes durchgesetzte Primat der fragmentarischen Polyvalenz, das das postdramatische Theater kennzeichnete, gefordert. Das, was sich im Laufe der neunziger Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz verstetigte, war eine soziale Bedürfnissynthese, die vielleicht nicht gerade die „Mauer in den Köpfen“, doch den Zustand des Utopieverlustes symbolisch auf Dauer gestellt – institutionalisiert – sehen wollte. Ohne den gesellschaftlichen Ausnahmezustand der politischen Wende, die durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus hervorgerufen wurde, hätte die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz – ungeachtet der zweifellos außergewöhnlichen künstlerischen Fähigkeiten ihrer Leitung – nicht diese herausragende Bedeutung für das Berliner Kulturleben erlangen können. Ohne die Krise des Utopieverlustes und die besondere Kompetenz der Produzenten, diese Krise zur Grundlage ihrer Arbeit zu machen, wäre der Erfolg dieser Institution nicht so überragend gewesen. Die Volksbühne wurde auf diese Weise zu dem, was so viele andere kulturelle Einrichtungen gerne sein wollen: zu einer „sozialen Plastik“. Das Kollektivbewusstsein derer, die diese Bedürfnissynthese schufen, stellte sich gerade nicht gegen den Utopieverlust, sondern schlug sich auf seine Seite und feierte ihn. Eine heimliche Sehnsucht nach der von Boris Groys beschriebenen kommunalen „fröhlichen Melancholie“, die das inoffizielle Künstlerleben im späten Staatssozialismus gekennzeichnet hatte, mochte hier eine Mobilisierungsressource bieten, die sowohl die kommunistische Utopie wie die konservative Resignation als ein Sich-Dreinfinden im Posthistoire begleitet hatte. Das 283

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Posthistoire, das Castorfs und Neumanns Professionsethos einst rahmte, wurde am Rosa-Luxemburg-Platz zu einem normativen Bezugsrahmen, dessen aus der DDR kommender teleologischer Impetus hier ebenso radikal entsorgt wurde wie der realexistierende Sozialismus auf der politischen Ebene. Der kommunale Charakter der Volksbühnen-Figuration verwandelte ihre Distinktionstechniken gegen die nunmehr untergegangene Kulturpädagogik in die effektivsten Mittel, die der Berliner Kulturraum nach 1989 hervorbringen konnte. Auf dieser Basis konnte der Ausnahmezustand aus östlicher Perspektive eine folgenreiche Allianz mit Kunstproduzenten eingehen, die als bildungsbürgerliche Verlängerung einer subversiven Westlinken selbst nach Geltungsräumen suchten. Die Ost-West-Transformationen beschränkten sich an der Volksbühne damit also nicht allein auf die neuen Möglichkeitsräume, die der Utopieverlust hervorgebracht hatte. Die jeweiligen Abweichungstechniken konnten vielmehr gerade durch ihre Institutionalisierung in der Berliner Volksbühne einen Deutungswandel sinnhaft strukturieren, der sich aus ihrem Differenzpotential zu den politischen Systemen, aus denen sie kamen und aus dem Differenzpotential, das ihre Zusammenführung hervorbrachte, notwendig ergeben musste. Es war der ästhetische Empirismus, der die Produktionsprinzipien der „abweichenden Linienführung“, der „autonomen Raumkontrolle“ und des „Scheiterns als Chance“ soweit überlagerte, dass deren Urheberschaften immer ungewisser wurden; ihre Vergesellschaftung hingegen zu ihrer Transformation führte, weil sie nunmehr in die Ordnung einer künstlerischen Institution eingekehrt waren. Die Einsichten in die Felder der Kulturproduktion in Ost und West und in die jeweiligen praktischen Aktualisierungen ihrer Strukturen durch Frank Castorf, Bert Neumann, Christoph Schlingensief und René Pollesch haben die praxistheoretische Annahme bestätigt, dass Sozialstruktur und Praxis sehr dicht miteinander zusammenhängen. Zugleich musste beachtet werden, dass beide Ebenen keine statischen Zustände beschreiben, sondern dynamische Beziehungen hervorbringen, die sie erst konstituieren und die sich gegenseitig durchdringen. Die Struktur des Feldes der Kulturproduktion bestimmt sich aus den Koordinaten, aus denen es sich zusammensetzt; auch diese sind beweglich. Denn sie hängen unabdingbar mit den Dispositionen der jeweiligen Akteure zusammen. Die wechselseitige Einflussnahme beider Ebenen wurde innerhalb des staatssozialistischen Kulturrahmens besonders deutlich an der Verschiebung der Machtbalance zugunsten der künstlerischen Autonomie in der späten DDR; aber auch an den systembedingten Spuren die in den Inszenierungen zu finden sind. Der künstlerische Empirismus wurde zu einer konstruierten Wirklichkeit, die in der ästhetischen Erfahrung etwas 284

SCHLUSS

greifbar machte, das Politiker und Soziologen erst viel später begonnen haben, wahrzunehmen: dass das Ende der DDR noch längst nicht das Ende ihrer Kultur – und das heißt auch: ihrer Gegenkultur – ist und nicht sein kann. Es ist diese Entdeckung, die der historischen Zeugenschaft des Vereinigungsprozesses an unerwarteter Stelle eine überzeitliche Bedeutung verlieh. Dass es eine Institution der Gegenwart war, die jene sehr unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen verstand, bestätigt das Argument Karl-Siegbert Rehbergs, nach dem „auch in einem Zeitalter der Dezentralisierungen und Virtualisierungen und in einer medial vermittelten ‚Institutionen‘-Welt auratische Beziehungen noch funktionsbedeutsam sind [...].“3 Der auf Dauer gestellte Charismatiker Castorf hatte mit seiner Truppe erreicht, was er erreichen konnte. Der im Westen etablierte postdramatische, schon zum formalen Mainstream geronnene „Einbruch der Realität“ in das Theater wurde unter seiner Intendanz nicht nur ästhetisch-abstrakt, sondern entsprechend der staatssozialistischen Grundierung vor allem ethisch-politisch ernst genommen. An der neugegründeten Volksbühne wurde von Beginn an die Etablierung eines Ortes der sozio-symbolischen Praxis angestrebt, dessen zentrale Merkmale Lehmann definiert: „Das sozio-symbolische Gesetz ist das gemeinsame Maß, das Politische der Bereich von dessen Bestätigung, Bekräftigung, Sicherung, Anpassung an den wandelbaren Lauf der Dinge, Abschaffung oder Modifizierung. Es existiert daher eine unaufhebbare Kluft zwischen dem Politischen, das die Regel gibt, und der Kunst, die, sagen wir einfach, immer die Ausnahme ist: Ausnahme zu jeder Regel, Affirmation des Nichtregelhaften sogar noch in der Regel selbst. Theater als ästhetisches Verhalten ist undenkbar ohne das Moment der Übertretung der Vorschrift, der Überschreitung.“4

Die sozio-symbolische Praxis, die Castorf und Neumann in das vereinte Theaterfeld einbrachten, musste in einer Zeit, in der sich die Feldstruktur der DDR auflöste, während die verinnerlichten Repräsentationsmuster in der ostdeutschen Bevölkerung fortlebten, anomische Züge im Sinne einer Praxis der symbolischen Entgrenzung tragen. Auf der anderen Seite konnte sich diese Praxis, die in der Volksbühne zunächst maßgeblich durch die „Truppe Ost“ bestimmt wurde, mit einer performativen Praxis vereinen, die sich inzwischen im Westen durchgesetzt hatte. Deren utopistischer Charakter war gleichwohl bereits in der Phase seiner Verstetigung, denn er hatte sich als Sollgeltung der institutionnalisation de 3 4

Rehberg, Karl-Siegbert: „Weltrepräsentanz und Verkörperung“, S. 34. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 457. 285

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l’anomie vor allem innerhalb des Feldes der Kunstproduktion durchgesetzt. Wie alle Künste der westlichen Hemisphäre war das Theater vom Phänomen der Selbstreflexivität geprägt, das die von Durkheim postulierte Suche nach Grenzen zum zentralen Paradigma machte. Das Postulat der fiktiven Wirklichkeitsorganisation wich einem zunehmenden „Einbruch der Realität“ in die Fiktion, wie Hans-Thies Lehmann unterstreicht: „Theater wird als Situation akzentuiert, nicht als Fiktion,“5 – eine Formel, die insbesondere für die Performance-Praxis von Christoph Schlingensief gilt. Als Situation ist die zeitgenössische Aufführung ein Emergenzprozess zwischen Inszenierung und Zuschauern, in der die selbstreflexive Verwendung nicht-ästhetischer Mittel den Charakter einer Probehandlung annimmt. Damit wird die Aufführung selbst zu einem symbolischen Grenzgang. In der experimentierenden Überschreitung noch nicht differenzierbarer Grenzen trägt diese Form der Wirklichkeitsorganisation Züge des Experiments. Arnold Gehlen beschreibt die Stationen des symbolischen Grenzgangs aus einer anthropologischen Perspektive: „Eine experimentierende […] Handlung, die auf Hindernisse, auf Sachwiderstand stößt und gehemmt wird, entlastet sich ihrerseits durch das jetzt vorspringende Überlegen, das man als Probehandlung auffassen kann. Es erfolgt eine geführte Phantasiebewegung des ‚Sichversetzens‘, in der die ganz nach außen gewendete praktische Intelligenz mögliche Handlungen und mögliche Dingantworten vor sich hin entwirft. Das Verfahren besteht in eingebildeten Verlagerungen der Dinge selbst, in Vorentwürfen von Dekompositionen und Neuzusammensetzungen.“6

Ohne die Volksbühne meinen zu können, hat Gehlen wichtige Komponenten der hier vollzogenen Praktiken und der damit verbundenen Wirklichkeitsorganisation angesprochen: Die vorspringende Überlegung als Entgrenzung, als ephemere Überschussproduktion scheinbar ungültig gewordener Symbole, restlose Überforderung der Sinne, eine Kultivierung des Irrationalen durch anti-aufklärerische Praktiken, ihrerseits immer wieder überleitend zu anspruchsvollen (Selbst-)Reflexionen über den Standort der gesellschaftlichen Mentalitätslage, doch auch diesen nur temporär festhalten wollend. Als symbolische Wirklichkeitsorganisation (hier: als ästhetische Fixierung) systematisierten die Volksbühnen-Produzenten die – im Feld der Kulturproduktion ohnehin zur Normgeltung erhobene – „Entgrenzung“ im doppelten Sinne, indem sie den politischen Grenzverlust zum Bezugspunkt ihrer performativen Praxis 5 6

Ebd., S. 231. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 12ff.

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SCHLUSS

machten. Diese Praxis fand ihren Ursprung eben nicht in einer „Grenznostalgie“, sondern vielmehr in der klugen Parodie eines „siegreichen Utopismus“ der, soeben gescheitert, gerade die Renitenz der Sehnsucht nach einem emanzipatorischen Gesellschaftsprojekt ausschöpfte und unerbittlich verteidigte. Ihre fast luhmanianisch anmutende „abgeklärte Aufklärung“7 instituierte Gehlens Postulat des Posthistoire als „Beweglichkeit auf stationärer Basis“8 indes nicht kulturpessimistisch, sondern als selbstironischen Nachhall neuer selbstbezüglicher Möglichkeitsräume, die man in der DDR vor 1989 auszuloten begonnen hatte. Das düstere monumentale Gebäude, das, freistehend auf dem Rosa-LuxemburgPlatz, einer Trutzburg ähnlich, zugleich Offenheit und Hermetik ausstrahlt, trug das Seine dazu bei, jene stationäre Beweglichkeit optisch und atmosphärisch zu verdichten.9 In seiner institutionellen Gebundenheit, seiner Architektur des strengen, abweisenden Modernismus und seiner geographischen Position implantierte das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz eine paradoxe Kultur, deren Verstetigung kein Nachteil zu sein schien, sondern ihrem Stoizismus erstaunlich gut zu Gesicht stand. Dieser Stoizismus kontrastierte mit Inszenierungen und Musikveranstaltungen, deren treibende Kraft die Überforderung war. Die offenbar nimmermüden Volksbühnen-Produzenten eigneten sich die Komplexitätssteigerung, die nach der Wende über Ostberlin hereinbrach, durch den Einsatz einer Unmenge von Zeichen an, deren symbolische Montage ihrerseits fast nie beliebig wirkte – sozusagen pädagogisch-antiaufklärerisch in dem Sinne, dass, wie Bert Neumann feststellte, „eine forcierte Verständlichkeit“ als unehrlich empfunden wurde. Die Riskiertheit, in 7 8

9

Gebhard, Gunther et. al: „Kritik der Gesellschaft. Anschlüsse bei Luhmann und Foucault“, S. 8. Gehlen, Arnold: Post-Histoire. In: Klages, Helmut/Quaritsch, Helmut (Hg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Schriftenreihe der Hochschule Speyer. Duncker und Humblot Berlin 1994, S. 46. Das Gebäude hatte während des Zweiten Weltkrieges viel von seinem früheren leichten Jugenstil-Einfluss eingebüßt. Sein Architekt, Oskar Kaufmann, wurde übrigens in seinen jungen Jahren als „leichtsinniger Bohémien“ bezeichnet – eine weitere Koinzidenz mit den späteren Volksbühnen-„Bewohnern“. Weil er Jude war, musste er Berlin 1933 verlassen. „[A]m 21. April 1954 feierte man die Einweihung der wiederaufgebauten Volksbühne. Sie war 1943 bei einem Bombenangriff schwer beschädigt worden und am Ende des zweiten Weltkriegs völlig ausgebrannt. Nicht eingeladen zu den Feierlichkeiten wurde der Architekt Oskar Kaufmann, der das Gebäude kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichtet hatte. Auf die Frage, warum man ihn nicht eingeladen habe, antwortete er: ‚Die wussten wohl nichts mehr von mir.‘“ Hansen, Antje: Vertriebener Tempelherr. Die Volksbühne und ihr Architekt Oskar Kaufmann, S. 140. 287

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der die Volksbühne mit Bert Neumanns Bühnenbildern und Plakaten und mit dem Auftreten ihres Intendanten Frank Castorf eine Semiotik der Totalität in das vereinte Berliner Theaterfeld lancierte, beruhte auf einer ästhetischen Systematisierung der gesellschaftlichen Widersprüche, die der Mauerfall hervorgetrieben hatte. Die Lukácsche „Totalität“, in der die Kunst als Für-sich-Sein des Werkes wieder in Anspruch genommen wird, verlief ihrerseits an der Volksbühne quer zum Paradigma einer harmonia praestabilita, in der sich die Hegelschen Prinzipien des tollere und conservare in zuweilen apokalyptischen Visionen aufzuheben schienen. Denn die harmonia praestabilita war schon im Zuge der Veralltäglichung des staatssozialistischen Projekts zur sinnentleerten Hülle geworden; das Ende ihre entmündigenden pädagogischen „Widerspiegelung“ nach der Wende eben das ontologisch unbestimmte Moment der Befreiung, aus dem Castorf und Neumann ihre schöpferische Energie zogen. Dass Lukács’ paradigmatischer Entwurf einer transzendenten Kunst ausgerechnet von den postindustriellen Nachfolgern des von ihm verhassten Expressionismus in das vereinte Berlin der Gegenwart – nunmehr als „Zerrspiegel“ – transponiert werden konnte, ist dazu kein Widerspruch. Denn es war gerade die kluge Verschaltung jener staatssozialistisch gerahmten avantgardistischen Ambitionen und ihrem Scheitern mit der Institutionalisierung des „Dagegenseins“ – dem westlichen Pendant der „Kritik durch Affirmation“ –, die das Profil der Volksbühne kennzeichnete. Ihre Produzenten erkannten die institutionelle Rahmung ihrer Praxis nicht nur an, sondern nahmen sie zur Grundlage einer permanenten Schwellenbewegung zwischen Gestaltungswillen und Gestaltungszwang, der zwischen scheinbar schrankenlosem Individualismus und kommunaler Popularität oszillierte. Der verkrampften Ethik einer „unabhängigen“ Kunst westlicher Couleur hielten sie ihre Gewohnheit entgegen, aus der Nähe zur politischen Macht, von der sie finanziell abhängen, ein weniger genialisches als pragmatisches Professionsethos zu formulieren – als städtischen oder auch „kommunalen“ Auftrag. Damit verlor die Avantgarde-Pädagogik seinen totalitären Schrecken und holte symbolisch die historische Option nach, die man einst in Ost- und Westdeutschland in Marx‘ „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ zu finden glaubte: die Sehnsucht nach einem demokratischen Sozialismus, in dem Individuum und Gesellschaft keine einander widersprechenden Größen mehr sind. Im „Modellfall freie Arbeit“ wurde dieser Anspruch in ein künstlerisches Professionsethos umgedeutet, das zugleich zu einer Sollgeltung erhoben wurde. Das bedeutete aber auch und gerade: keine Negation der Widersprüche mehr, kein Beschweigen unangenehmer Realitäten. Auch das ist eine west- wie ostdeutsche Mobilisierungsressource unterschiedlicher Prägung, die ihrerseits unterschiedliche Tole288

SCHLUSS

ranzgrenzen sichtbar machte, wie der Umgang mit der stalinistischen und der neonazististischen Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz gezeigt hat. Das Selbstverständnis Castorfs und Neumanns, mit der Leitung des Hauses auch eine gesellschaftliche Aufgabe zu übernehmen, die diese Toleranzgrenzen zugleich bezeichnet wie überschreitet, steht einer solchen Perspektive durchaus nicht entgegen, wie an folgendem Kommentar von Lepenies zu Gehlen deutlich wird: „Es ist […] die Veränderbarkeit der Ausgangssituation Legitimationsmöglichkeit für die Institutionen – ihre negative Konstanz jedoch und die immer gleiche Notwendigkeit der stabilisierenden Instanz erst Legitimationsgarantie.“10 Die Veralltäglichung einer solche Praxis, ihr „soziales Altern“, wie Bourdieu das nannte, entspricht einer Halbwertszeit, die im Fall der Volksbühne mit der Normalisierung der „Mauer in den Köpfen“ einsetzte. Ihre bundesweite und internationale Bedeutung wuchs im Takt jenes sich zur Normalität emanzipierenden Ausnahmezustandes, der nun in den Begriff des „Transformationsprozesses“ umgetauft wurde. Die hier einmal etablierte kommunale Erlebniswelt kann daher über eine Zeit gerettet werden, die sie eigentlich längst hinter sich gelassen hat, wie Gehlen in seiner institutionentheoretischen Einleitung in „Urmensch und Spätkultur“ zeigte: „Dieselben Einrichtungen also, die die Menschen in ihrem Denken und Handeln untereinander hervorgehen lassen, verselbständigen sich ihnen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihre Herzen hinein geltend macht [...]. Schließlich noch wird alles, was der nun abgelebte und konventionell gewordene Idealismus unter ‚Idee‘ verstand, nur dann von bloßen Meinungen unterscheidbar, wenn man es auf die zugeordneten Institutionen bezieht, die allein eine ‚Idee‘ verkörperten und in der Welt festmachen, so wie die Institutionen ihrerseits die in sie eingegangenen Leitideen umgekehrt erst präzisieren, stabilisieren, in den Zustand der Geltung erheben und über die Zeit hinweg retten.“11

Bedeutet das nicht, dass die anomische gesellschaftliche Situation und ihre Institutionalisierung eben den „Umweg der Invarianzen des Außen“ (Lepenies) bezeichneten, die historische Phänomene wie die Bohème und die Bildung einer Interessengemeinschaft wie die am RosaLuxemburg-Platz erst möglich machten? Liegt nicht eben hier die Differenz zwischen Utopie und Ordnung, die in der künstlerischen Institution

10 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1988, S. 249. 11 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 6ff. 289

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– ob als „Gehäuse“ oder als prozessuale Figurationsbildung – sichtbar gemacht wird? Aus dieser Perspektive wird offenkundig, an welcher Stelle sich die Verbindung von Anomie und Utopie mit einer dynamischen Institutionentheorie in Bezug auf die Volksbühne als stabilisierte Leitidee stark machen lassen: in ihrer Entlastungsfunktion durch die symbolische Wiedereinführung von Repräsentationsmustern, die das Vakuum des Mauerfalls hinterlassen hatte. Die utopistische Sehnsucht nach einer transzendenten Erfahrung durch die sozio-symbolische Praxis der Kunst, die dem Menschen sein gesellschaftliches In-der-Welt-sein offenbart, korrelliert mit der Stabilisierungsleistung der Institution. Die Veränderbarkeit einer Ausgangssituation, die in einer gesellschaftlichen Zäsur begründet liegt, lag für die Produzenten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz darin, diesem Ausnahmezustand jene spezifischen Handlungsorientierungen abzutrotzen, die als Eigengeltungen einer relativen Autonomie zu Bedürfnisansprüchen wurden. Die daraus erwachsene Leitidee verweigerte sich einer einfachen Anpassung an die neue Ordnung ebenso wie dem selbstmitleidigen Versuch der Wiederbelebung einer untergegangenen Kultur. Ihre Kultur war nicht untergegangen, sondern war durch den Ausnahmezustand der Vereinigung dazu aufgefordert, die Tragfähigkeit ihrer relativen Autonomie unter dem Umstand ihrer Institutionalisierung zu testen. Zum Abschluss meiner Studie stellt sich die Frage: Wie wirkt sich der Erfolg auf eine Institution wie die Volksbühne aus? Heute, nachdem sich die Volksbühne an ihren Erfolg gewöhnt hat, befindet sich das Theater selbst in einer Phase der Veralltäglichung. Bert Neumann stellt in einem Interview von 2005 fest: „Ich glaube schon, dass das eine ganz bewusste Entscheidung der Stadtpolitik war, den Platz vor der Volksbühne jetzt aufzuwerten, Galerien anzusiedeln, den Platz zu verschönern, eben daraus einen kulturellen Standort zu machen. Die Verhältnisse drehen sich. Vorher war es ringsherum rau. Jetzt wird domestiziert.“12 Der Erfolg hat auch in anderer Hinsicht längst begonnen, seine „Schattenseiten“ auf das schwere „Gebäude von schlagender Häßlichkeit“ zu werfen. Denn er löste zugleich einen Erfolgsdruck aus, dem jede künstlerische Institution ausgesetzt ist, die einmal so vieles versprach und auch noch imstande war, das meiste davon nicht nur einzulösen, sondern auch noch zu überbieten. Das „Kulturhaus“ am Rosa-Luxem12 Neumann, Bert in: Hoffen, dass das Geld nicht reicht. Interview mit Bert Neumann. Heft zur „ErsatzStadt. Repräsentationen des Urbanen. Vom 20.22. Mai 2005.“ Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. LSD Berlin 2005, S. 15. 290

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burg-Platz hat seinen festen, inzwischen nicht mehr wegzudenkenden Platz im Herzen der deutschen Hauptstadt und es gibt keinen Anlass zur Annahme, dass ihre omnipräsente Position als Hauptorientierungsinstanz mindestens innerhalb des Berliner Theaterfeldes, wenn nicht darüber hinaus, in absehbarer Zeit gefährdet ist. Das hat einen einfachen Grund: Die Volksbühne ist außer Konkurrenz. Der Nimbus der „Anomie“, der sie bis heute umstreift, könnte wohl nur durch einen ähnlich grundlegenden Ausnahmezustand gebrochen werden, aus dem sie selbst einst hervortrat. Die sich mit der Außeralltäglichkeit verstetigten Bedürfnisansprüche ihres Publikums aus Ost und West haben sich noch nicht überholt, auch wenn die damit einhergehende „Zwecktransformation“, die Gehlen im Prozess der Verstetigung von Institutionen beobachtete, längst eingetreten ist. Es ist indes gerade jene Zwecktransformation, die die Volksbühnen-Produzenten gegenwärtig in Legitimationsprobleme stürzt. Dabei ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen der Felddynamik, die jene Legitimationsprobleme aufwirft und dem spezifisch institutionengebundenem „Eigenleben“ des Hauses, dessen Dauer, wie ich annehme, weit davon entfernt ist, ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Die Tatsache, dass sich die Volksbühne aus einer gesellschaftlichen Umbruchsituation heraus etablierte, schien den Spielraum ihrer relativen Autonomie immer mehr zu vergrößern. Der Erschöpfungsgrad des ästhetischen Empirismus wäre ohne diesen Erfolg kaum messbar. Heute ist es das Wort „Krise“, das am häufigsten im Zusammenhang mit der Volksbühne zu hören und zu lesen ist: Peter Laudenbach titelt 2005 im Stadtmagazin „Tip“: „Frankie allein zu Hause“, stellt das Volksbühnen-Logo auf den Kopf und klagt: „Die Volksbühne bietet in den letzten Jahren einen deprimierenden Anblick. [...] Die Wurstigkeit, mit der eine missglückte Premiere nach der anderen lustlos runtergespielt wird, hat nicht mehr den Charme der frühen Jahre. Sie wirkt nur noch muffig.“13 Die Tageszeitung konstatiert etwas milder: „[J]etzt zeigt das Haus Ermüdungserscheinungen und leidet unter dem eigenen Ruhm.“14 Die Berliner Morgenpost wähnt das Haus mitsamt seinem Intendanten schon nicht mehr unter den Lebenden: „Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz versinkt in Autismus, Mobbing und Selbstgerechtigkeit. [...] Es scheint, als habe man sich mit Castorfscher Autonomie zu Tode gesiegt“15. Totgesagte leben länger, denkt man am Haus und schießt zurück – wenn schon Krise, dann selbstbestimmt und -antizipiert: „Wenn die Volksbühne jetzt eine Krise hat, 13 Laudenbach, Peter: Frankie allein zu Haus. Tip Nr. 6/ März 2005. 14 Müller, Katrin Bettina: Auf der Suche nach neuen Suchtmitteln. Tageszeitung vom 10. Januar 2005. 15 Wengierek, Reinhard: Der letzte Kick. Morgenpost vom 5. März 2005. 291

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dann wollen wir mal drei Jahre warten, wie es dann woanders aussieht, wenn alle anderen Theater die Krise nachmachen,“16 stellt etwa Jürgen Kuttner fest. Er betont in einem Interview, dass die Krise gut sei für die Volksbühne, denn sie zwinge das Haus zu eingehender Reflexion und radikaler Neuerung des Profils, eine Äußerung, die sehr häufig am Haus zu hören ist.17 „Konstruktive Selbstkritik“ nannte man diese positive Haltung gegenüber der Nicht-Erfüllung des Plansolls im Realsozialismus, notwendige Rezession zur Einleitung einer neuen Konjunkturphase im Kapitalismus. Die Zunahme selbstreferentieller Formen und Inhalte wird im ersten Satz des Spielplans vom September 2004 deutlich: „Die neue Spielzeit beginnt fast so wie vor zwei Jahren. Das Publikum wollte es so. [...] Dieses Spiel mit den Theaterregeln und deren teilweise Substitution durch moderne Medientechnologie war als Experiment gedacht. Es ist aber ‚immer noch Stadttheater‘, meint Castorf.“ Chefdramaturg Carl Hegemann, bis einschließlich 2005 hauptverantwortlich für die Spielplantexte, treibt das Krisenthema selbstironisch auf die Spitze: Titel wie „Zwischen Allmacht und Ohnmacht“ oder ein Zitat Marc Conrads über die aktuellen Probleme des Fernsehsenders RTL: „Die Fortune von einst wird nun zum Problem“, lesen sich wie Metaphern, in denen das Postulat der Krisensemantik geradezu überbetont wird. Meine Frage nach einem Interview beantwortet Christoph Schlingensief mehrfach mit dem Ausruf: „Die Volksbühne ist doch längst tot!“ – was ihn nicht davon abhält, weiter am Haus zu inszenieren. Selbstironisch wie immer hängt man zur Spielzeitpause 2006 ein Transparent mit der Aufschrift „Body-Aging“ über die oberste Balustrade des Hauses. Ist die Volksbühne der Logik der “permanenten symbolischen Revolution“ und damit dem „sozialen Altern“ ihrer tonangebenden Produktionsformen aufgesessen? In den „Regeln der Kunst“ hatte Bourdieu die Felddynamik der Kulturproduktion als Kämpfe um die künstlerische Autonomie einerseits 16 Kuttner, Jürgen in: Laudenbach, Peter: Mao meets Monroe. Interview mit Jürgen Kuttner. Tip 07/05. Berlin 2005. 17 „Eine bestimmte Form von Krisenhaftigkeit ist ganz gut, weil das auf allen Seiten – Schauspieler, Regisseure, Intendant, Dramaturgen – zu einer notwendigen Neuerfindung der Volksbühne führt, die ohne Zweifel ansteht.“ Kuttner, ebd. “In Bezug auf diese Krisensemantik war es natürlich ein Diskussionspunkt im Haus, ob man selbst dazu Bezug nimmt oder nicht. Ich finde eine Institution ist um so demokratischer, um so lebendiger, wenn sie sich selbst thematisiert.“ Silvia Fehrmann, Leiterin der Presseund Öffentlichkeitsarbeit der Volksbühne im Gespräch mit mir am 22.4.2005. “Theater, und das Theater von Frank Castorf im Besonderen, interessiert sich für die Übergänge. [...] Der Übergang ist aber dann interessant, wenn in seinem notwendigen Scheitern etwas Neues geschieht.“ Spielplan Volksbühne Dezember 2004. 292

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und um Anerkennung andererseits beschrieben. Auch im Theaterfeld wird um diese so wertvollen symbolischen Güter gerungen und seine Protagonisten setzen so viel kulturelles, soziales und symbolisches Kapital wie möglich ein, um innerhalb des Paradoxons einen Weg zu finden, ästhetische Differenz zu produzieren und sich andererseits staatlicher Subventionen durch stabile Besucherzahlen zu versichern. Doch mehr als die meisten anderen künstlerischen Institutionen generiert das Theater im Geist des simul et singulis regelrechte stabile Bedürfnissynthesen. Schon dieser Tatbestand führt langfristig zu einem weitaus geringeren Innovationsdruck als in anderen künstlerischen Bereichen, insbesondere der bildenden Kunst. Das Theater, jenes traditionalistisch organisierte und damit geradezu randständige Medium profitiert zugleich von dem zentralen Phänomen der Gegenwartsgesellschaft: der Ausdifferenzierung. Berlin braucht nicht das „Nationaltheater“, auch wenn manches Haus dies gerne sein will. Niemand stört sich daran, wenn Berlin über mehrere unterschiedliche Theater verfügt. Wie ich im dritten Kapitel (Merkmale der Theaterfelder) zeigte, geht auch das Interesse der subventionierenden Stadtpolitiker in diese Richtung, was seinerseits zwar einen gewissen Differenzierungsdruck mit sich bringt. Doch reduziert sich dieser, sobald jene Profilbildung sich nur scharf genug von den jeweils anderen staatlich geförderten Häusern abhebt. Angesichts des Status quo trifft dies für die wichtigsten Bühnen Berlins ohne Vorbehalt zu. Wer Klassiker sehen möchte, geht ins Deutsche Theater, für das Experiment sind maßgeblich das Hebbel-am-Ufer-Theater (HAU) und die Sophiensaele zuständig; Tanz und eine westlich geprägte Stilart des von Heinz Bude konstatierten „integrierten Dagegenseins“ findet der Besucher maßgeblich in der Schaubühne am Lehniner Platz, aber auch im HAU und in den Sophiensaelen; Brecht- und Müller-Inszenierungen im Berliner Ensemble und deutsche und russische Klassiker am Maxim Gorki-Theater. Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, stimmt jedoch im Kern mit der Sicht der Kulturpolitiker und Geldgeber überein. Ohne an dieser Stelle näher auf die künstlerische Gestaltung der einzelnen Häuser einzugehen, wird deutlich, dass innerhalb des Berliner Theaterfeldes deshalb von einer spezifischen Felddynamik gesprochen werden kann, die nicht zyklisch zu fassen ist. Schon das spricht für eine relativ lange „Halbwertszeit“ des sozialen Alterungsprozesses, den die Volksbühne seit einigen Jahren angetreten zu haben scheint, nimmt man die Äußerungen ihrer Freunde und Feinde beim Wort. Als Mikrokosmos eines spezifischen sozialen Raumes hat die Volksbühne einen Autonomiestatus erlangt, der so weit fortgeschritten ist, dass er ohne weiteres in Bourdieus Überlegungen zur Messhöhe von Autonomie bezüglich eines spezifischen Feldes einzupassen scheint: 293

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„Mit den Epochen und nationalen Traditionen schwankt das Ausmaß an Autonomie eines Feldes (und damit der Zustand des hier wirksamen Kräfteverhältnisses) beträchtlich. Dieses Ausmaß ist durch das symbolische Kapital bestimmt, das durch das Handeln aufeinander folgender Generationen im Laufe der Zeit akkumuliert wurde […]. Im Namen dieses kollektiven Kapitals fühlen sich die Produzenten berechtigt oder verpflichtet, Ansprüche oder Forderungen weltlicher Mächte zu übergehen, ja sie im Namen ihrer eigenen Grundsätze und Werte zu bekämpfen: Wenn sie als objektive Möglichkeit oder sogar Forderung der spezifischen Vernunft des entsprechenden Feldes immanent sind, werden Freiheiten und Kühnheiten, die bei einem anderen Zustand des Feldes oder in einem anderen Feld unvernünftig oder ganz einfach undenkbar wären, normal, ja banal.“18

Auf den Geltungswillen zu Eigengesetzlichkeiten der VolksbühnenPraxis habe ich bereits mehrfach hingewiesen. Doch auch von außen betrachtet, wird deutlich, dass selbst das Ausrufen der Krise der spezifischen Eigenlogik entspricht, die von Beginn an zur Volksbühne gehörte und nunmehr als Sprungbrett für einen neuen Impuls der Dauerreflexion genutzt wird. Denn bei aller konstruktiven Selbstkritik behalten Castorf und seine Truppe die übliche „nordamerikanisch-zynische“ Lässigkeit bei, wenn es um eine entsprechende Bestandsaufnahme in der Öffentlichkeit geht: „Jeder in diesem System befindet sich in der Gefährdung des Restaurativen. Es ist allerdings ganz gut, wenn man das weiß und versucht, ohnmächtige Ausbruchsversuche zu organisieren.“19 Die von Castorf evozierte Zwecktransformation – von der Schaffung eines Kulturhauses hin zur Organisation „ohnmächtiger Ausbruchsversuche“ gegen die immerwährenden Gesetzesmäßigkeiten der Kunstproduktion – der permanenten Revolution, die sich schließlich überlebt – verweist auf die Verluste, die der Erfolg mit sich bringt.20 Der damit verbundene Sättigungsprozess mag – weil er in einer Institution stattfindet und durch sie zugleich bedingt ist – noch eine Weile anhalten; der Versuch, ihn aufzuhalten, indem die „Dauerreflexion“ zur reinen Selbstreflexion mutiert, bleibt mithin eine Gefahr, auf die Gehlen hingewiesen hat: „Erklärt sich aber ein Kulturgebiet völlig zum Selbstzweck, so ist die gefährliche Entwicklung möglich, und schon eingetreten, daß die Gesellschaft ihn zwar noch sustendiert, aber nichts mehr von ihm erwartet. Diesen Zustand haben die Philosophie und die bildenden Künste heute nahezu erreicht. Solche Bereiche werden dann genötigt, entweder laut zu werden und aus dem Erre18 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 349ff. 19 Castorf, Frank in: Dössel, Christine: Aufbruch West. Interview mit Frank Castorf. Süddeutsche Zeitung, 29.4.2004. 20 Vgl. Bourdieu, Pierre: Les règles de l‘art, p. 358. 294

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gungsbestand der öffentlichen Meinung zu leben, womit die Expressionisten und Existenzialisten anfingen; oder leise zu werden und zu vereinsamen, ihre Motive aus sich selbst ziehend. Dies ist nicht aus polemischen Gründen gesagt, sondern weil auch hier eine Kategorie liegt: die der Subjektivierung. Bei äußerlich intakter Organisation und großer Fülle der Produktion wird das Ganze dann noch entleert und folglich mit Subjektivität nachgeladen, die sich zu dem Anspruch ausweiten muß, allgemein zu interessieren. Wenn nichts Sehenswertes mehr überdauert oder das Sichtbare das Wesentliche abdeckt, bleibt dem Künstler wohl nichts anderes übrig, als ‚sich auszudrücken‘. Gerade das Unbedingte dieses Anspruchs kann als tiefsinnig erscheinen: wenn gelebte Innenzustände nicht in der Außenwelt festgemacht werden können, weil diese zu versachlicht sind, oder weil man nicht handeln kann, oder weil die Identifizierung nicht gelingt, und nicht herauszubekommen ist, womit man es zu tun hat, dann müssen diese Innenzustände ihre eigenen Chiffren suchen, die notwendig flüssig und labil bleiben, wie die Inventionen unserer Künstler und Denker. Doch tragen solche Symbole immer noch etwas wie die vorweggenommene Antwort der Anderen in sich und sind, ins Leere hinein, ein Angebot, sich zu verpflichten.“21

Es ist möglicherweise dieses Angebot, das neben der Resistenz gegen eine wirkliche „Neuerfindung“ den Niedergang der Anerkennung und des hohen symbolischen Kapitals der Volksbühne länger ausbremsen wird, als es den Anschein hat. In ihm wirkt die permanente Aktualisierung des Außeralltäglichen nach, das die Konkurrenzlosigkeit der Volksbühne grundiert und die nur schwerlich aufzubrechen sein wird. Matthias Lilienthal, der ehemalige Ko-Intendant aus der Gründerzeit, brachte dies in einer Podiumsdiskussion über die Situation der Berliner Theater auf die Formel: „Die Volksbühne ist schon längst die Zukunft“22. Sie ist es, weil sie sich auf eine Vergangenheit bezog und dabei so gegenwärtig war, wie sie es heute nicht mehr sein kann. Aus der historischen Einmaligkeit des Aufstiegs, der Existenz und des Niederganges des Staatssozialismus sogen die Volksbühnen-Produzenten sämtliche symbolische Kraft, die ebenso fröhlich-melancholisch wie zerstörerisch sein musste. Heute ist der subversive Schein, der die „Kritik durch Affirmation“ dem westdeutschen „Dagegensein“ ein – vorerst letztes – Strahlen verlieh, nahezu erloschen. Auch hier hat die Integrationskraft des Westens gewonnen. Doch die Volksbühne ist schon deshalb Zukunft, weil sie ihre Kunst an die soziokulturellen Rahmenbedingungen 21 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, S. 73. 22 Lilienthal, Matthias während der Podiumsdiskussion „Pleite oder Perspektive – Kulturstreit in Berlin“. Organisiert vom Deutschlandradio und vom Tagesspiegel Berlin in der Akademie der Künste am 25.10.2004. Tonmitschnitt im Privatbesitz. 295

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ihres „In-der-Welt-seins“ in einer Konsequenz gebunden hat, dessen Angebot, sich zu verpflichten nicht nur die Beklemmungen eines staatlich-pädagogischen Auftrages, sondern ebenso die selbstgenügsame Distinktion hinter sich gelassen hat. Darin liegt das sozio-symbolische Potential der langfristigen Eigengeltung dieses Kulturhauses in der Mitte Berlins.

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POST SCRIPTUM: RISIKEN, NEBENWIRKUNGEN U N D E I N M I S S V E R S T ÄN D N I S

Meine Studie über die Volksbühne war nicht nur eine theoretische, sondern auch eine empirische. Meine Aktivitäten als Feldforscherin in der Berliner Theaterwelt erstreckten sich über insgesamt rund vier Jahre (2003-2006) und sie begleiteten den hier dargelegten Reflexionsprozess kontinuierlich. Die teilnehmende Beobachtung als Komparsin, Hospitantin und Ausstattungsassistentin an der Volksbühne und an anderen Berliner Bühnen war intensiv genug, um ein Post scriptum zu verdienen. Vieles, das meiste davon ist natürlich in den Forschungsprozess eingeflossen, von dem meine Arbeit Zeugnis abgibt. Doch will ich den Lesern nicht vorenthalten, welcher Art die damit verbundenen ethnographischen Erfahrungen waren. In dem Versuch, die mit der Empirie verbundenen Risiken und Nebenwirkungen in einen wissenssoziologischen Kontext zu stellen, möchte ich ihnen hier einige abschließende Betrachtungen widmen. Um die Ausgangsbedingungen kunstsoziologischer Feldforschung nachzuvollziehen, beginne ich mit einem kurzen historischen Rückblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Soziologie, komme dann zur gegenwärtigen Lage und gehe dann über zu den spezifischen Problemstellungen, die mich im Laufe meiner Studie begleiteten. Das Post scriptum ist ein Essay im wörtlich gemeinten Sinn. Es soll vor allem dazu anregen, die hier aufgeworfenen Fragen für ähnliche Vorhaben kritisch aufzugreifen.

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Soziologie und Kunst Claude Lévi-Strauss unterschied den Ethnologen vom Soziologen anhand der unterschiedlichen Anforderungen, die das Feld ihnen je abverlangt: Demnach hat es der Ethnologe als Wissenschaftler leichter als der Soziologe, da er ihm fremde Kulturen untersucht, während der Soziologe im Regelfall die ihn selbst umgebende, somit vertraute Gesellschaft betrachtet. Diese Vertrautheit kann unterschiedlich groß sein – so befasst sich die Europäische Ethnologie mit dem ‚Fremden‘ innerhalb der eigenen Kultur und gewinnt gegenüber der Soziologie einen gewissen Vorsprung hinsichtlich des für notwendig erachteten Verfremdungszuwachses, der die kühle Analyse erleichtert. Zuviel Verstehen, so wissen wir seit der Mead-Freeman-Kontroverse, kann das Ergebnis verfälschen, zum ‚going native‘ – der Überidentifizierung des Forschers mit seinem Feld – führen. Der insbesondere von der positivistisch geprägten französischen Ethnologie und Soziologie verfolgte wissenschaftliche Neutralitätsanspruch erscheint unterdessen spätestens in der Gegenwärtigkeit der ‚Post-Utopie‘, die nicht nur das Gesellschaftsleben, sondern auch die Geisteswissenshaften und nicht zuletzt die Kultursoziologie in die Hybridisierung individualbetonter Differenz führte, ein für allemal überholt. Gleichwohl hat Durkheims Prämisse, soziale Tatsachen wie Dinge zu behandeln, hinsichtlich der konkreten Gegenständlichkeit der sozialen Felder kaum an Aktualität eingebüßt, was sich durch die zunehmende Beliebtheit der Europäischen Ethnologie verdeutlicht. In der deutschen Soziologie, d.h. auch in der Kultursoziologie bleibt die Tendenz, die teilnehmende Beobachtung der datensammelnden qualitativen Sozialforschung zuzuordnen, weitgehend vorherrschend. Daran ändern auch einige begrüßenswerte Kooperationen zwischen Theoretikern und Empirikern und die mancherorts konstatierte Wiederentdeckung der Chicagoer Schule nur wenig. Die Ursachen für diese Entwicklung, die in den einschlägigen soziologischen Fachzeitschriften durch ausgedehnte Methodendiskussionen überdeckt wird, wäre eine eigene Untersuchung wert – hier soll zunächst der Hinweis genügen. Die von Lévi-Strauss thematisierte Implementierung des Forschers verweist auf tradierte Vermeidungsstrategien hinsichtlich möglicher Überwindungstechniken dieser Vereinseitigungen. Der Balanceakt zwischen Fremdheit und Nähe betrifft den ethnographisch arbeitenden Kultursoziologen sehr direkt. Er ist zugleich untrennbar mit der gesellschaftlichen Stellung der Kunst verbunden. Es wird den Leser nicht überraschen, dass es ausgerechnet der Soziologe und Kunstkenner Georg Simmel war, der diese auf die Kunst bezogene Problematik zuerst erfasste und in aller Klarheit formulierte. Simmel betrachtete die Kunst als ein gesellschaftliches Phänomen von sozialer Tragik: 298

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„Nur auf einem Gebiet, das sogar zugänglicher als jene anderen erscheint, zeigt sich das Urteil der Allgemeinheit als sozusagen von allen Göttern verlassen, gerade im Fundamentalen schlechthin unzulänglich: auf dem Gebiete der Kunst. Hier trennt ein brückenloser Abgrund die Meinung der Majorität von aller Einsicht in das Wesentliche, und in ihm wohnt die tiefe soziale Tragik der Kunst.“1

Simmel benennt hier das Kernproblem der Kunstrezeption, das für jede kultursoziologische Studie von Bedeutung ist, die sich der Empirie nicht verschließt: Das Dilemma zwischen der Eigengeltung der künstlerischen Produktion und seiner Objektivierung, d.h. seiner Bewertung und Verortung im sozialen Raum. Den brückenlosen Abgrund, der sich zwischen der scheinbaren Allgemeinzugänglichkeit künstlerischer Werke und dem Spezifikum des Feldes der Kunstproduktion auftut, sieht Simmel in der Schwierigkeit, die Meinung, die das ästhetische Erleben im Betrachter evoziert, in Erkenntnis zu überführen. Als ich begann, mich mit der Volksbühne zu beschäftigen, fiel mir rasch die Diskrepanz zwischen einer Flut von Besprechungen, Texten und Artikeln über die Volksbühne und der Seltenheit soziologischer Betrachtungen dieses Phänomens auf. Während meiner Recherchearbeiten traf ich auf eine Unzahl an „Meinungen“ über das Haus, deren Erkenntniswert gleichwohl im Allgemeinen recht hoch war. Sie waren jedoch mit wenigen Ausnahmen gerade durch ihre distanzierte Intimität, also ihrer tatsächlichen oder scheinbaren Nähe zur Volksbühne gekennzeichnet, die einen Habitus von Volksbühnen-Expertentum hervorbrachte. Eben jenes Expertentum habe ich als Erkenntnishindernis wahrgenommen, weil es meistens von gebildeten und reflektierten Akteuren ausging und ich schon deshalb instinktiv Gefahr lief, jene Meinungen mit sozialen Tatsachen zu verwechseln. So war die Berühmtheit der Volksbühne mein Glück und Fluch zugleich, denn diese Lage zwang mich dazu, mich eines Instrumentariums zu bedienen, das Meinung und Erkenntnis systematisch zueinander ins Verhältnis zu setzen versteht. Damit näherte ich mich zwangsläufig der Kernproblematik der soziologischen Empirie. Als empirisches Datenmaterial ist die Meinung wichtig und hilfreich; sie in Erkenntnis zu verwandeln, hingegen mit einem komplexen Analyseverfahren verbunden. Hinzu kommt ein Problem, das in den zeitgenössischen Diskussionen innerhalb des Feldes der Kunstproduktion häufig übergangen wird: Die versprochene Vertrautheit ist trügerisch. Sind alle Betrachter vor dem Werk oder der Bühne scheinbar gleich, so wird ihre tatsächliche Ungleichheit in der unterschiedlichen Höhe der kulturellen Kapitalien zu einem sozialen Tatbestand, der im 1

Simmel, Georg: „Der Schauspieler und die Wirklichkeit“, S. 153. 299

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ästhetischen Erleben als ungleich eingelagerte Erkenntnisressource wirksam wird. Unabhängig von jener trügerischen Vertrautheit fürchtete ich ein weiteres Problem: die traditionellen Vorbehalte von Kunstproduzenten gegen die Arbeit des Soziologen. Die Annahme, dass eine Soziologie der Kunst nicht den Künsten zur reflexiven Anschauung verhilft, sondern ihre ‚Entzauberung‘ anstrebt, ist ein Verdacht, mit dem die Soziologie seit ihrer Entstehung zu kämpfen hat – und das nicht ohne Grund. Max Weber brachte dieses Bonmot in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ (1919) auf, in dem Simmels Gedanke noch durch den virulenten Widerspruch zwischen dem „glanzvollen Schaffen“ der Künstler und dem scheinbar dazu entgegengesetzten Tun der Wissenschaftler, „die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen“,2 gesteigert wird. Wie sehr Weber von diesem Konflikt ergriffen war, hat Wolf Lepenies in seinem Werk „Die drei Kulturen“ anhand des Konglomerats Weber, Georg Simmel und dem Dichter Stefan George anschaulich gezeigt. Der diese drei Figuren zusammenbringende und zugleich auseinandertreibende Reibungspunkt, der in ihren zwiespältigen Haltungen zu Kunst und Wissenschaft seinen Ausdruck findet, ist ein Konflikt der Moderne. , Er kristallisiert sich in Lepenies Spurensuche zum Faszinosum, das dem Soziologen aus dem Versuch erwächst, künstlerische Produktion zum Anhaltspunkt allgemeingültiger d.h. auch gesellschaftlicher Entwicklungen zu machen. Simmels Haltung des kühlen détachement hielt ihn nicht davon ab, emphatisch in der Sache zu bleiben, wenn es um die Kunst ging.3 Doch auch die Kehrseite der Allianz zwischen Kunst und Soziologie wird hier deutlich: in Webers zurückschreckender Bewegung vor der schier unlösbaren Aufgabe, das soziale Wesen des Menschen in seinem künstlerischem Ausdruck zu suchen, ja nachzuweisen. Hinter dieser Bewegung verbarg sich Webers tiefe Ehrfurcht gegenüber den Künsten, allen voran die Literatur und die Musik, über die er eine Studie verfasste.4 Umgekehrt wird an Webers Gegenpol George die ambivalente Be2 3

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Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“, S. 10. „Als Philosoph und Soziologe Künstler, sah Simmel in jedem Kunstwerk ein Stück Soziologie und Philosophie, und wie jeder Autor, der Wissenschaftler war und Künstler dazu, setzte er sich damit einer doppelten Kritik aus.“ Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen, S. 294. Dieser Respekt vor der Kunst, die schon beinahe mit einem Gefühl der Unterlegenheit einhergeht, ist unter Soziologen auch heute noch sehr lebendig. So reagierten viele Kollegen auf mein Vorhaben mit Respekt und der wiederholten Betonung, dass für den Feldzugang ein „starkes Selbstbewusstsein“ nötig sei, um in dieser Welt der Selbstdarstellung zu bestehen. Das gewünschte Selbstbewusstsein stellte sich im buchstäblichen

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ziehung der Künstler bzw. Dichter und Schriftsteller zur Soziologie, die George öffentlich verachtete und die er dennoch für sein Schaffen zu nutzen verstand, paradigmatisch deutlich. Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ hatte gegenüber Simmels sympathetisches détachement, Webers Beklemmungen und Georges übergenialischem Gestus den großen Vorteil der Königsdisziplin, die zwar in Gestalt seines Zeitgenossen Henri Bergson jene Lehre auf eine Dichotomie zuspitzte, die auf dem Widerspruch zwischen dem moi profond und dem moi de surface beruhte, doch im breiten Strom ihrer langen Geschichte eine Tradition weiterführen konnte, die jenen Widerspruch zu überwinden versprach – den Neukantianismus. In seinem „Versuch über den Menschen“ vermittelte Cassirer eine Einsicht, deren versöhnlichen Grundklang man angesichts der lauteren Töne eines scheinbar asketischen Wissenschaftsethos oder einer egozentrischen Selbstbezogenheit oft zu überhören geneigt war. Sie wandte sich gleichermaßen gegen den Weberschen Reflex gegenüber der unterstellten Trockenheit und Lebensferne von Wissenschaft, wie auch gegen die Vorstellung von der reinen Sinnlichkeit des künstlerischen Schaffens, das im Widerspruch zur Reflexion stehen würde.5 Die von Cassirer verteidigte Verdichtung der Konzentrationsleistung von Kunst und Wissenschaft; beide „auf der Suche nach Wirklichkeit“6 angetreten, sich die Welt zur Anschauung zu bringen, bezeichnet das Bindeglied in einer ontologischen Handlungsreihe, die aus Cassirers Sicht immer auf Symboltätigkeit angelegt ist. So kann Cassirer auch in der Herstellung logischer Systeme den „Werk-Charakter“ der wissenschaftlichen Arbeit erkennen: „Jedes System ist ein ‚Kunstwerk‘ – Ergebnis eines bewussten, schöpferischen Aktes.“7 Eine solche kontemplative Sicht auf die Wissenschaft war Weber nicht möglich; eine Haltung, die sich auch in seinem sprachlichen Ausdruck verdeutlichte. Webers kühle Wortwahl deutet Lepenies als Ergebnis eines Gewissenskonflikts, in dem sich Weber für eine bestimmte Vorstellung von „Wissenschaftlichkeit“ entschieden hatte. Friedrich Meineckes Vermutung, dass Webers trockener, ja asketischer Stil kein Indiz für mangelndes Talent, sondern unbewusste Strategie war, wertet Lepenies als hohen Preis, den „Weber dafür zahlen mußte, daß er sich

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Sinne glücklicherweise zunehmend her, je deutlicher das eigene Vorhaben sich als wachsendes Gebilde – als eigenes „Werk“ – zu konturieren begann. Vgl. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, S. 261. Titel einer Textsammlung von Helmut Schelsky aus dem Jahre 1979 (siehe Quellenverzeichnis). Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, S. 319. 301

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jeder ‚Romantik des intellektuell Interessanten‘ so entschieden versagte, ja deren Bekämpfung zu seiner Maxime machte. In jedem ästhetischen Phänomen schien diese Interessantheit zu drohen [...].“8 Émile Durkheims Postulat, „de traiter les faits sociaux comme des choses“, schien Webers Credo nur zu bestätigen. Dass die Soziologen nichts von stilistischer Raffinesse zu verstehen schienen, war für ihre Gegner ein nur allzu willkommenes Indiz für die Annahme, dass sie damit letztlich auch von künstlerischen Kompositionen nicht allzu viel begreifen würden. Zugleich rührt dieses Detail aber auch von einer formalen Vorstellung von „Objektivität“ her, die die Begründer der Soziologie gegen die anderen Wissenschaften vom Menschen abzuheben suchten, um damit ihr Abstraktionsvermögen unter Beweis zu stellen. Ob die wissenschaftliche Produktion ebenso schöpferisch ist wie die künstlerische, blieb ein umstrittenes Thema unter Künstlern und Intellektuellen. In Webers Rede über die „Wissenschaft als Beruf“ wird noch das Ringen des Wissenschaftlers um diese Frage deutlich: „Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig wie die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn. Aber er kommt, wenn es ihm, nicht, wenn es uns beliebt.“9 Doch damit nicht genug: Sowohl Kunst als auch Wissenschaft sind für Weber: „Rausch (im Sinne von Platons ‚Mania‘ und ‚Eingebung‘“10. Sie gelten ihm als ethischer Beleg gegen den Vorwurf der „Entzauberung“. Der Vorwurf der Entzauberung hängt eng mit der Verteidigung eines Professionsethos der nicht von persönlichem materiellen Profitinteresse motivierten Handlung zusammen, das gleichwohl in der Wissenschaft kaum weniger verbreitet ist als in der Kunstproduktion. Bourdieu, der sich auf Cassirers neukantianische Linie bezog, „entzauberte“ die Welt der Kunst insofern, als dass er den empirisch-analytischen Nachweis erbrachte, dass sie, ebenso wie jedes andere soziale Milieu, von bestimmten Geltungsbehauptungen geleitet ist, die das Handeln der in ihr wirkenden Menschen orientiert. Kunstproduktion ist nicht mehr und nicht weniger „interessegeleitet“ als jede andere menschliche Tätigkeit – es sind die Inhalte der Interessen, die sich unterscheiden. Sie unterscheiden sich allerdings so stark, dass man innerhalb des gesamten sozialen Raumes von relativ autonomen Feldern sprechen kann – die gleichwohl in ihrer jeweiligen „relativen Autonomie“ Wahlverwandtschaften aufzeigen. Kunst und Wissenschaft gehören beide zu 8

Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen, S. 298 und vgl.: Tarr, Zoltán: „Lukàcs und Weber. Utopia versus Realpolitik“ und ders.: “Sozialismus, Revolution und Ethik. Einige Bemerkungen zur Weber-Lukács-Beziehung“. 9 Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“, S. 3. 10 Ebd. 302

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den Tätigkeiten, die am stärksten auf das Professionsethos der Uneigennützlichkeit bestehen. Robert K. Merton brachte das in Hinblick auf die scientific community in seiner Schrift „The ethos of science“ (1942) folgendermaßen zum Ausdruck: „Science, as it is the case with the professionals in general, includes distinterestedness as a basic institutional element. Disinterestedness is not to be equated with altruism nor interested action with egoism. Such equivalences confuse institutional and motivational levels of analysis. A passion for knowledge, idle curiosity, altruistic concern with the benefit of humanity, and a host of other special motives have been attributed to the scientists. The quest of distinctive motives appears to have been misdirected. It is rather a distinctive pattern of institutional control of a wide range of motives which characterizes the behavior of scientists.“11

Darin mag der entscheidende Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion liegen: In der Wissenschaft ist das Professionsethos der Uneigennützigkeit institutionell gerahmt und klaren Vorgaben unterzogen.12 Das bedeutet indes nicht, dass Wissenschaft zweckfrei wäre; sie kann es schon deshalb nicht sein, weil sie ergebnisorientiert ist. Sie unterscheidet sich aber auch, und das macht Mertons These interessant, von der „Uneigennützigkeit“ des künstlerischen Professionsethos hinsichtlich der institutionellen Normgeltungen und der damit verbundenen Anerkennungswege. Nathalie Heinich sieht in dem Vergleich zwischen den institutionellen Aufstiegsformen, die Künstler vorfinden und wählen, und den Etappen der Anerkennung anderer Berufe den deutlichsten Unterschied zwischen Kunstproduktion und anderen Berufen.13 Während Künstler, so Heinich, meistens zunächst eine lange Phase des langsamen Aufstiegs bewältigen müssen, die mit einer Akkumulation kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals bei geringer Anerkennung und entsprechend geringem finanziellen Ertrag ein11 Merton, Robert K.: „The Ethos of science“, p. 274. 12 Als weitere Merkmale benennt Merton „universalism, communism, organized scepticism“. „Communism“ meint nicht das politische System, sondern die innere Verpflichtung zur Kollektivierung des Wissens und der Ressourcen, aus denen geschöpft wird: „,Communism‘ is the nontechnical and extended sens of common ownership of goods [...].“ Merton, Robert K.: The ethos of science, S. 271. Er geht sogar so weit, diesen Tatbestand als Sollgeltung von wissenschaftlicher Praxis zu bezeichnen, die sie zumindest theoretisch diametral von dem marktwirtschaftlichen Eigentumsprinzip unterscheidet: „The communism of the scientific ethos is abstractly incompatible with the definition of technology as ‚private property‘ in a capitalistic economy.“ Ebd., p. 273. 13 Vgl. Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S. 19. 303

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her geht, bauen die „normalen“ Berufe auf dem institutionell vorgezeichneten Aufstieg auf, dem erst nach und nach auch die entsprechende soziale Anerkennung folgt. Doch erfolgreiche Kunstproduktion und wissenschaftliche Karriere ähneln sich auch in dieser Hinsicht immer mehr. Dies hat für die Beziehung zwischen dem Feld der Kunstproduktion und dem Feld der Wissenschaft einschneidende Folgen. Sie bilden den Hintergrund jeder empirischen Untersuchung von Kunstproduktion, die insbesondere für den Feldzugang von Bedeutung ist. So wie die Kunst gegenwärtig sowohl staatlich als auch vom freien Markt gefördert, subventioniert und gesponsert wird, nimmt auch die wissenschaftliche Förderung zunehmend Ressourcen des freien Marktes in Anspruch. Auch sind junge Wissenschaftler inzwischen ebenso vom Phänomen der „Generation Praktikum“ betroffen (unbezahlte Arbeit bei hoher Qualifikation), ganz so wie junge Künstler es seit der Autonomisierung des Feldes in den westlichen Industrieländern schon immer waren. Das symbolische Kapital beginnt auch hier, eine immer größere Bedeutung in dem Sinne zu bekommen, dass die Reputation in der Wissenschaft zwar schon immer einen hohen Stellenwert hatte (was bereits die Bedeutung der Titelvergabe zeigt), doch ist die wissenschaftliche Reputation heute von einer eklatanten Deregulierung der sie einst flankierenden beruflichen und damit institutionellen Absicherung und Anerkennung betroffen. Fast hundert Jahre nach Webers Rede über die „Wissenschaft als Beruf“ hat sich das Professionsethos der „Uneigennützigkeit“ durch einen Rückzug der staatlichen Institutionen aus der beruflichen Rekrutierungsverantwortung in einen marktwirtschaftlich orientierten Imperativ verwandelt. Insofern ist Heinichs Behauptung, die Künstler seien die einzige soziale Gruppe, deren berufliche Laufbahn in der von ihr beschriebenen Weise verläuft, längst überholt. Man kann sich eher mit Armin Chodzinski fragen, inwieweit die Flexibilität der Künstler nicht eben zu der allgemeinen Verfestigung eines solchen „uneigennützigen“ Ethos in den anderen Berufsleben beigetragen hat und was hinter der Lüge steckt, die es mit sich führt: „Wir sind eben noch nicht neoliberal, wir sind in einem Übergangsstadium der Verwirrung und halten an dem fest, was Status generiert.“14 Chodzinski zufolge wird das daran sichtbar, dass sich die tradierten, einkommensabhängigen Schichtdifferenzen heute – nach der New Economy in der True Economy15 – anhand anderer Kriterien ausdrücken:

14 Chodzinski, Armin: Es darf nicht getanzt werden, S. 8. 15 Ebd., S. 9. 304

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„Das prekäre Beschäftigungsverhältnis und das in ihm geforderte kulturelle Kapital macht deutlich, das in dieser Übergangsphase in der wir uns befinden die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht die wirklich entscheidenden sind. Wissen/Nicht-Wissen, Vernetzt/Einzeln, Kommunikativ/Autistisch sind Begriffspaare, die heute Klassen konstituieren und diese sind weit schwerer aufzulösen. Es macht eben einen zentralen Unterschied ob ich – wie Max Goldt es so treffend beschrieb – das ‚Flugzeug nach Amerika‘ nehme oder die ‚Mittagsmaschine in die Staaten‘.“16

Es sind diese immer feiner werdenden Unterschiede, die Pierre Bourdieu 1979 in seiner großen Studie über das Geschmacksurteil bereits als Indizien für jene strukturellen Verschiebungen benannte und die er in sein Theoriemodell überführte. „Die Soziologie,“ bemerkt er dort, „befindet sich hier auf dem eigentlichen Boden der Verleugnung des Sozialen.“17 Ein (selbst-)mitleidiger Blick auf die Prekarisierung Kulturschaffender und Wissenschaftler verkennt in der Tat ihre nach wie vor privilegierte Position im sozialen Raum – gerade weil sie es sind, die prinzipiell über den höchsten Grad der von Chodzinski benannten Ressourcen verfügen. Zugleich wird angesichts dieses Strukturwandels nicht nur im Zusammenhang mit den Bedingungen soziologischer Forschung, sondern auch mit Blick auf die aktuelle Bildungsdiskussion in Deutschland und der mit ihr verbundenen Erhebungen deutlich, wie eng die kulturelle Struktur (im Sinne von kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital) nicht nur mit der sozio-ökonomischen Struktur verbunden, sondern durch diese geprägt ist und sie ihrerseits mit-konstituiert – indem das, was Chodzinski beschreibt, sozial wirksam wird. Die gegenwärtige Situation legt deshalb vielmehr den Gedanken nahe, dass die von Bourdieu beschriebene Eigengesetzlichkeit und Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Felder – insbesondere die des Feldes der Kulturproduktion – sich zwar nicht auflöst, doch durchlässiger wird. Dieses Thema beschäftigt systemkritische Künstler in Deutschland bereits seit den neunziger Jahren. Denn mit den grundlegenden Umstrukturierungen, die den Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft markieren, steht nicht zuletzt auch die vielzitierte Autonomie der Kunst auf dem Prüfstein.18 An die Tradition der 16 Chodzinski, Armin: Ebd., S. 15. 17 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 31. 18 Das scheint im Übrigen eine typische Diskussion zu sein, die von westdeutschen und weniger von Künstlern, die aus der DDR oder den ehemaligen Ostblockstaaten stammen, geführt wird. Es wäre in Hinblick auf die von mir gezeigten strukturellen Unterschiede zwischen den jeweiligen Feldern in Ost und West hinsichtlich der Autonomie-Frage zumindest nicht abwegig. Gestützt wird diese Vermutung etwa an den Panelüber305

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gesellschaftskritischen Kunst anknüpfend, haben sich zahlreiche Gruppen und Initiativen gebildet, die eine „Re-Politisierung“ der Kunst auf den Plan gerufen haben. Sie wird als moralischer Schutzschild gegen die befürchtete sinkende Autonomie des Feldes der Kunstproduktion eingesetzt. So lautete der Titel zum Abschlusspanel der Tagung „Klartext – Der Status des Politischen in aktueller Kunst und Kultur“, die 2005 im Großen Haus der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stattfand, fast beschwörerisch: „KünstlerInnen und KulturproduzentInnen als politische Subjekte. Opposition, Intervention, Partizipation, Emanzipation in Zeiten neoliberaler Globalisierung.“ Auf dem Podium sitzen Roger M. Buergel, der Leiter der Kasseler Documenta 2007, Holger Kube Ventura, Chantal Mouffe, Iris Rogoff und Jacques Rancière. Rancière zufolge liegt die politische Funktion von Kunst darin, „Gleichheit in ungleiche gesellschaftliche Strukturen einzuführen“. Dieser Rückgriff auf das tradierte Modell der Kulturproduktion als herrschaftsfreie Zone ist so alt wie die Moderne selbst und ruft reflexartig die scheinbaren Garanten für die Autonomie des okzidenten künstlerischen Feldes auf. Es ist vor allem die symbolische Kraft, die einer solchen Haltung nach wie vor eine charismatische Ausstrahlung verleiht. Ohne ihre Intention abwerten zu wollen, sehe ich den gegenwärtigen gesellschaftlichen Status von Kunst jedoch in einer Lage, die eher der nüchternen Betrachtung Chodzinskis entspricht. Als „interesselose“ und in diesem Sinne immaterielle Arbeit, die sich in der Dienstleistungsgesellschaft tatsächlich zunehmend dematerialisiert, haben die künstlerischen Produktionsbedingungen – die immer entscheidender sind als ein wie auch schön formuliertes hehres Ziel – vielmehr den Charakter einer arbeitsorganisatorischen Vorbildschriften zur Tagung „Klartext – Der Status des Politischen in aktueller Kunst und Kultur“, die im Januar 2005 in Berlin stattfand. In nahezu allen Panels wurde „das Politische“ als Stütze künstlerischer Autonomie herangezogen und diskutiert. Das einzige genuin „postsozialistisch“ besetzte Panel thematisierte hingegen „Taktische Medienkonzepte in postsozialistischen Staaten“ (Russland und Kosovo). Schon der Begriff der „Taktik“ suggeriert eine höhere Bereitschaft, die „Autonomie“ zugunsten einer bestimmten Wirkung aufzugeben; eventuell auch das Bedürfnis, sich gegenüber den westlichen Kollegen rechtfertigen zu wollen. Die Bereitschaft der osteuropäischen Kulturproduzenten, weniger auf Autonomie zu insistieren, um öffentlich sichtbar sein zu können, wurde in der Diskussion und vor allem der Suche westdeutscher Anwesender nach einer „klaren Linie“ in dieser Frage deutlich. Das bestätigt die Untrennbarkeit der offiziellen und inoffiziellen Medienkunst, die durch die lange Geschichte des Ostblocks den Status einer Tradition erlangt hat, die sich offenbar nach wie vor in einer „Gegensatzspannung“ zu den anerkannten Praktiken westlicher Künstler zu befinden scheint. 306

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funktion. Was ihre sogenannte gesellschaftliche Interventionskraft anbelangt, so liegt sie auf der Ebene der Sozialstruktur vor allem darin: „Immaterielle Arbeit konstituiert sich in sozialen Netzen. Die Arbeitsstruktur der Künstler oder kulturellen ProduzentInnen addiert hierzu die Vokabel temporär [...]. Hier entwickeln sich Ökonomie und Kunst aufeinander zu. Beide Bereiche, die sich natürlich heute gar nicht mehr wirklich gegeneinander abgrenzen lassen, lernen voneinander und widmen sich der Beschleunigung des Übergangsprozesses. Genauso wie sich die Ökonomie kulturalisiert, so ökonomisiert sich die Kunst und radikalisiert die seit jeher bestehenden Charakteristika der Produktion.“19

Das Sich-Aufeinander-Zu-Bewegen von Kunst (als ‚rein interesselose‘ Tätigkeit) und Ökonomie (als ‚rein zweckorientierte‘ Tätigkeit) verändert nicht nur die Struktur dieser beiden Felder, sondern wirkt sich auch auf das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft aus. Hatte die Wissenschaft zuvor noch eine Mittlerrolle zwischen Kunst und Ökonomie in dem Sinne, dass sie zwar ein Ethos der persönlichen Desinteressiertheit, aber doch der mehr oder minder handfesten Ergebnisorientierung vertrat, sind Künstler und Kulturproduzenten zunehmend daran interessiert, soziologische Erkenntnisse in ihre Arbeit einzubeziehen. Das ist deshalb bedeutsam, weil es die Bedingungen der empirischen Untersuchung grundsätzlich zu verbessern scheint: Der Feldzugang ist leichter. Das hängt damit zusammen, dass die Abwehrhaltung auf Seiten der kritischen Kunstproduzenten gegen einen drohenden Autonomieverlust, der mit der Furcht vor allgemeinem Bedeutungsverlust einhergeht, die Akzeptanz für soziologische Studien verstärkt. Sie werden zugleich immer häufiger als Legitimationsgrößen zur Komplexitätssteigerung in die Ästhetik selbst mit einbezogen. Auf der anderen Seite führt die höhere Anerkennung des Kulturellen als erkenntnisbringendes gesellschaftliches Phänomen innerhalb der Soziologie zwar zu einem Aufschwung soziologischer Untersuchungen über kulturelle Phänomene, der indes nicht bedeutet, dass ihr Prestige innerhalb der scientific community der Soziologen im gleichen Takt stiege. Diese Voraussetzungen schaffen innerhalb der gesamtgesellschaftlichen berufsspezifischen Nivellierungstendenzen ein Klima, das die objektive Annäherung zwischen kritischen Kulturproduzenten und Kultursoziologen begünstigt. An der Volksbühne suchen kooperierende Künstler und Theaterschaffende den Kontakt zu Soziologen und Politikwissenschaftlern, aber auch zu Architekten und Raumplanern. 2006 tritt die Rollende Road Schau von Bert Neumann sogar erstmalig im kulturellen Rahmenpro19 Chodzinski, Armin: Es darf nicht getanzt werden, S.13. 307

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gramm des Deutschen Soziologenkongresses auf und visualisiert die soziale Problematik der vergessenen Randgebiete in Ostdeutschland. Die Volksbühnen-Produzenten bauen manche soziologischen Analysen in ihre Projekte ein oder ziehen Soziologen als Berater hinzu. Auch wenn Kooperationen mit etwas ganz anderes sind als die Untersuchung von künstlerischen Institutionen, so ist der Gewöhnungseffekt, der diese Annäherung bewirkt, nicht zu unterschätzen. Die Volksbühne steht für eine Praxis, die hier Synergien sucht und herstellt und sie steht damit nicht allein. Es ist also heute weniger ungewöhnlich, Soziologen im künstlerischen Feld anzutreffen; jene Berührungsängste aus den Zeiten Webers haben sich zwar nicht aufgelöst, doch sie scheinen weniger vordergründig. Es tut der Kultursoziologie gut, nicht mit dem Weberschen Szenario konfrontiert zu werden. Gestaltet sich der Feldzugang dadurch zwar grundsätzlich leichter, so wirft diese Annäherung gleichwohl Probleme ganz anderer Art auf. Diese scheinbare Nähe erfordert eine besonders hohe Wachsamkeit im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung; eine Wachsamkeit, die sowohl im Kontext der Methodologie – der Konstruktion des Gegenstandes – geboten ist, als auch in Hinblick auf die eigene Positionierung innerhalb des Forschungskontextes. Trügerische Vertrautheit Zu dem von mir verfolgten praxeologischen Vorgehen zwischen der Beobachtung der Handlungsformen der Volksbühnen-Produzenten und der Analyse der strukturellen, zeitgeschichtlichen und kulturellen Mobilisierungsressourcen des spezifischen Vereinigungsprozesses, der sich an der Volksbühne verstetigte, gehörte neben der Aneignung von Vorkenntnissen über die Geschichte(n) des Berliner Theaterfeldes auch eine persönliche Teilhabe an seiner lebendigen Gegenwart – schon deshalb, weil nur hier das praktische Wissen seiner Akteure zu finden sein würde. Dieses Eintauchen war mit einem Risiko verbunden. Denn es erforderte einerseits, sich auf jene inneren Gesetze dieser Welt einzulassen, denn sonst würde ich nichts von ihr und damit über sie erfahren. Und es erfordert andererseits und zugleich die große Anstrengung, zwischen dem immer umfassender werdenden Alltagswissen und der wissenschaftlichen Analyse im Sinne einer dynamischen Reflexion zu unterscheiden. Die reflexions-entlastende Entfremdung vom Gegenstand wurde durch die teilnehmende Beobachtung erwartungsgemäß nicht erleichtert, sondern zusätzlich erschwert. Bourdieu formuliert einen Ausweg aus diesem Dilemma in „Soziologie als Beruf“: „Genau das ist das Metier des Soziologen: Eine in Habitus verwandelte Theorie der soziologischen Konstruktion. Dieses Metier beherrschen, daß heißt all 308

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das, was in den Grundbegriffen Habitus, Feld usw. steckt, praktisch beherrschen. Das heißt beispielsweise wissen, daß man, will man überhaupt eine Chance haben, das Objekt zu konstruieren, die Voraussetzungen explizit machen muß, daß man die Prä-Konstruktionen des Objekts soziologisch konstruieren muß; es heißt auch wissen, daß das Reale relational ist, was existiert, sind die Relationen, also etwas, was man nicht sieht, anders als Einzelpersonen oder Gruppen.“20

Nachdem ich mir einen Überblick über die allgemeine Beziehung zwischen dem Feld der Kulturproduktion und der Soziologie verschafft hatte, musste nun der zweite Schritt erfolgen. Um den unsichtbaren Relationen, von denen Bourdieu spricht, innerhalb des Theaterfeldes auf die Spur zu kommen, bot die Beobachtung der feldspezifischen Interaktionsformen eine erste wichtige Spur, weil sie sich, im Gegensatz zur teilnehmenden Beobachtung zunächst erlaubt, aus einer gewissen Distanz einen allgemeinen Überblick über die besonderen Merkmale dieses Feldes zu verschaffen. Anhand dieses Überblicks ist es später in der teilnehmenden Beobachtung selbst leichter, diese Merkmale als primäre Datengeber mit den je tatsächlichen Verhaltensformen, Aussagen und Eigenheiten der Feldakteure in Relation zu setzen, um so ihre trügerische Vertrautheit in eine Quelle der Erkenntnis zu verwandeln. Der Begriff der Interaktion als verhaltensstrukturierendes Moment eröffnete zugleich den Blick auf die strukturellen Interdependenzen, die gerade im Feld der Kunst, „lieu par excellence de l’inégalité“ (Heinich),21 von großer Bedeutung sind. Diese Interdependenzen beziehen sich nicht allein auf Figurationen, die sich als Interessengemeinschaften etablieren, sondern sie sind, wie Norbert Elias in seinem Werk über die höfische Gesellschaft gezeigt hat, struktureller Natur. Das bestätigte sich auch im Berliner Theaterfeld. Innerhalb der hier etablierten Figurationen formieren sich in vivo ästhetische, soziale und ökonomische wechselseitige Abhängigkeiten. Keine Premierenfeier, die ohne „networking“ auskommt, wie der in der Sprache der Kulturarbeiter inzwischen etablierte englische Begriff jene Struktur so treffend auf den Punkt bringt. „Networking“ bedeutet hier: Kontakte knüpfen, die sich früher oder später in symbolischen und finanziellen Ertrag niederschlagen sollen.22 Die her20 Bourdieu, Pierre im Gespräch mit Beate Krais. In: Bourdieu, Pierre et. al: Soziologie als Beruf, S. 276. 21 Heinich, Nathalie: Être écrivain, S. 341. 22 „Kaum ein sozialer Kontakt, der nicht unter Verwertungsaspekten zu lesen ist, kaum eine Idee, die nicht mindestens strategisch verbreitet wird, kein Café, der nicht auch perspektivisch getrunken wird, kaum eine Veranstaltung, die nicht Referenzpunkt ist, kaum eine Handlung, die nicht trennen würde zwischen Innen und Außen. Kunst, die auf Existenzsicherung ange309

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ausragende Bedeutung sozialen Kapitals ist konstitutiver Bestandteil der Produktionsbedingungen im Theaterfeld. Weil dieses Gut so kostbar ist, ist es niemals unerheblich oder gar zufällig, wie die Beziehungen innerhalb jener Interessengemeinschaften ausgestaltet werden; nichts ist weniger zweckfrei als der Gruß während einer Premierenfeier oder das sich gegenseitige Vorstellen in scheinbar zwangloser Unterhaltung. Premierenfeiern und Vernissagen sind soziale Börsen, auf denen mit Kontakten gehandelt wird. Der Schauspieler stellt sich die Frage, ob er die Investition des Sich-Präsentierens bei dem Regisseur X für lohnenswert hält, oder doch lieber den Umweg über jenen Kollegen nimmt, der gerade für den Regisseur arbeitet. Private und berufliche Sphäre lösen sich ineinander auf. Die Mitarbeiter der „Factory“ Andy Warhols beklagten sich Ende der 1960er Jahre häufig darüber, dass der Job auch nach Arbeitsende noch längst nicht vorbei war, weil Warhol von ihnen erwartete, dass sie ihn auf die anschließenden Partys, Premieren und Eröffnungen begleiteten. Warhol hat als einer der ersten Künstler eine innere Logik der künstlerischen Interessengemeinschaft offen propagiert: Durch die Pflege und den Einsatz sozialen Kapitals sollten sowohl Ideen gesammelt als auch potentielle Abnehmer der Projektideen gewonnen werden. Soweit ich es beobachten konnte, kann im Berliner Theaterfeld eine potenzielle Aufwertung der ästhetischen Autonomie gegenüber der sich allgemein gesellschaftlich vollziehenden Omnipräsenz ehemals feldtypischer, differenzproduzierender Kategorien wie der „Subjektivation“ festgestellt werden. Die Bedeutung der Volksbühne im Berliner Kulturraum wurde auch daran sichtbar, wie eng dieses Autonomiebestreben mit einer Fülle

legt ist, kommt [...] nicht ohne die Mikroökonomisierung der Gefühle aus.“ Chodzinski, Armin: Es darf nicht getanzt werden, S. 14. Dass dieser im künstlerischen Feld verbreitete Habitus der Verbindung symbolischen und ökonomischen Profits ein Erbe der höfischen Gesellschaft ist, hat Norbert Elias gezeigt: „Unter der schwächlichen Regierung Ludwigs XVI. und mit dem Anwachsen des bürgerlichen Reichtums verlor der Hof als gesellschaftliches Zentrum [...] an Bedeutung. Die gute Gesellschaft lockerte sich [...] auf, ohne daß sich im übrigen ihre Grenzen nach unten völlig verwischten. Sie werden für den Rückblickenden nur immer schwerer faßbar. Daß sie noch da sind, spürt man z.B. an Äußerungen wie der folgenden, die zugleich auch als Bestätigung für manches, was oben über die Wertachtungen und Motivationen der ‚monde‘ gesagt wurde, charakteristisch ist. Necker gibt als Minister ein glänzendes Fest. ‚Il se trouve,‘ sagt ein Bericht der Zeit, ‚que cette fête lui a valu plus de crédit de faveur et de stabilité que toutes ses opérations financières. On n’a parlé qu’un jour de sa dernière disposition concernant le vingtième tandis qu’on parle encore en ce moment de la fête qu’il a donné.‘ Corresp. Secrète V 277, zit. Taine I, Kap. 2, 2, S. 108.“ In: Die höfische Gesellschaft, S. 121. 310

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von Legitimationsstrategien verbunden ist, die sich an den dort institutionalisierten Figurationsbildungen orientierten. Teilnehmende Beobachtung im Berliner Theaterfeld Der positionsneutrale Posten der nichtteilnehmenden Beobachtung ermöglichte die Entwicklung und Planung des Forschungsvorhabens und musste früher oder später aufgegeben werden. Um die teilnehmende Beobachtung und die Interviews durchführen zu können, war es zuallererst notwendig, dass ich meine persönliche Meinung über die Situation der Volksbühne im Theaterfeld Berlins, ihre spezifische Ästhetik und schließlich ihr in den Medien und in der Öffentlichkeit stark diskutiertes Professionsethos möglichst umgehend in eine kühle Hypothese überführen musste. Die öffentliche Omnipräsenz und Bedeutung dieses Kulturhauses machte dies zur dringlichsten Aufgabe. Das wurde mir besonders dann bewusst, wenn ich mit Personen aus der Berliner Kulturszene über mein Projekt sprach. Ich hatte den Eindruck, dass vor allem diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in bzw. mit der Institution am Rosa-Luxemburg-Platz arbeiten, erwarteten, dass meine Arbeit zu einem Ergebnis in ihrem Sinne führt (etwa: den Nachweis für die „patriarchale und unflexible Struktur“ des Hauses zu erbringen; den „Niedergang seiner ästhetischen Innovationskraft“ „wissenschaftlich“ zu untermauern; oder auch „Interna“ ans Licht zu bringen). Von Seiten des Hauses wurde hingegen die Hoffnung geäußert, meine Analyse könne dazu beitragen, ihm aus der „Krise“ zu verhelfen und „Missverständnisse“ auszuräumen. In einigen Interviews stellte ich fest, wie schwer es ist, das Gespräch in einer Weise zu führen, die solcherlei Interessen ausschließt. Schließlich entschied ich mich für den wesentlich gewinnbringenderen Weg, eben diese Interessen als konstitutive Merkmale des Feldes aufzugreifen und zu systematisieren. Je nachdem, mit wem ich sprach (die elf Interviews bilden den geringsten Teil) und in welcher Beziehung die Person zum Haus stand, wurde die Frage der Deutungskompetenz und der Deutungsmacht zum fließenden Subtext der Reaktionen. Mir wurde immer klarer, dass die Volksbühne ein Gegenstand ist, zu dem eine ganze Menge Leute etwas „meinen“, und dass die damit verbundenen konkurrierenden Legitimierungs- bzw. Delegitimierungsstrategien meine Arbeit deutlich beeinflussen würden. Wo das Symbolische und das Imaginäre sich mit dem Utopischen vereinen, erreicht ihre Versprachlichung einen Grad an Sublimation, deren Artikulationsweise zugleich auf das engste mit der Position des fragenden Soziologen zusammenhängt. Nathalie Heinich bemerkt zu diesem Spezifikum der Kunstsoziologie:

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„Als Sammelbecken, in dem sich die widersprüchlichsten Haltungen vereinen, wird die soziologische Beschreibung von ihren Nutzern maßgeblich als Trägerin von Werturteilen eingesetzt und damit in ihrer Behauptung von Neutralität um so verdächtiger, wie der fragliche Untersuchungsbereich von der Polemik erfasst und der Soziologe als Argumentationsträger wahrgenommen wird.“23

Ich musste also Techniken wahrnehmen und ausbauen, die mir helfen würden, in diesem Stimmengewirr zu einer eigenständigen Haltung zu finden. Es ist das Moment, das in der qualitativen Sozialforschung als Konstruierung des Gegenstandes bezeichnet wird; eine ebenso schwierige wie unausweichliche Aufgabe – insbesondere bei einem so gegenwärtigen und lebendigen Gegenstand wie der Volksbühne. Meine zunehmende Vertrautheit mit dem Haus galt es also, durch sowohl intuitive wie methodologische Konstruktionsverfahren ‚fremd‘ werden zu lassen, mich von ihm buchstäblich zu ‚entfremden‘ – während ich die in ihm wirkenden Menschen immer besser kennenlernte und mit den jeweiligen Produktionsabläufen, an denen ich teilhatte, zunehmend verschmolz. Eine solcherart erlebte Forschung bewegt sich in dem permanenten Paradoxon dieser Verschaltung von Fremdheit und Nähe und sie muss stets aufs Neue nach Mechanismen suchen, die deren Entkoppelung ermöglichen. Es zeigte sich rasch, dass diese Konstruktionsarbeit ein ebenso unerlässlicher Bestandteil der gesamten Forschung sein würde wie das Paradigma des „Verstehens“. Letzteres beinhaltet in einer empirisch grundierten kultursoziologischen Untersuchung die Anerkennung der Tatsache, dass die hohe Bedeutung, die der Einzigartigkeit des Produzenten und seiner Werke hier zuerkannt wird, zunächst im diametralen Gegensatz zum Verallgemeinerungsprinzip soziologischer Theorie steht. Die spezifische Kontur des Gegenstandes wird also hier noch durch den Tatbestand radikalisiert, dass der Soziologe mit diesem Anspruch auf Eigengeltung umgehen muss. Weil das Feld der Kunstproduktion als Spezifikum des intellektuellen Feldes ein Gebiet ist, das sich permanent selbst reflektiert, plädiert Heinich dafür, die damit verbundenen Repräsentationsmuster in die Konstruktion des Forschungsgegenstandes einzubeziehen. Sie wendet sich damit gegen einen Soziologismus, der diese Selbstreflexionen als Indiz für eine „Selbsttäuschung“ (oder der Bourdieuschen illusio) nimmt, und der letztlich dem Vorwurf der „Entzauberung“ nur neue Nahrung gibt. Heinich bringt das von ihr vorgeschlagene Vorgehen auf die Formel einer „pluralistischen Soziologie“. „Verstehen“ bedeutet für Heinich weder ein Sich-Herausstellen des Soziologen als einen Mehr-Wissenden, sondern meint eine Praxis, die

23 Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S.74ff. Ü.v.m. 312

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sich von Spezialisten und Experten (des Kunstfeldes) durch das spezifisch soziologische Wissen unterscheidet, das darin besteht, verschiedene feldspezifische Gesichtspunkte und Paradigmen methodologisch zu ordnen und zueinander ins Verhältnis setzen zu können.24 Die Mehrfachpräsenz des Soziologen bildet das Spezifikum seines Metiers gegenüber den genuinen Feldakteuren und sie macht, wenn ich das an dieser Stelle bemerken darf, auch die besondere Faszination dieses Berufes aus. In der teilnehmenden Beobachtung ist der Soziologe nicht nur an mehreren Orten, sondern auch selbst mehrere Personen zugleich: in Gesprächen mit Journalisten, Kulturpolitikern, Theaterexperten; im Archiv, als Teilnehmer an Diskussionsveranstaltungen, als Besucher oder Mitarbeiter an anderen Bühnen und als Mitarbeiter innerhalb der untersuchten Institution. Von allen Bereichen ist die teilnehmende Beobachtung der wohl intensivste Teil der Feldrecherche. Ich werde dazu abschließend im Zusammenhang mit meinen Erfahrungen an der Volksbühne noch einige Gedanken formulieren. Meine Feldforschung begann mit einem halben Zufall: Im Januar 2003 suchte Christoph Schlingensief dringend Komparsen für seine Aufführungs-Performance „Atta-Atta – Die Kunst ist ausgebrochen“ an der Volksbühne. Ich bewarb mich aus Neugier – und aus der Ahnung, dass ich irgendwann einmal etwas über dieses Haus machen wollte. Meine Aufgabe bestand darin, einen nackt in einer Holztonne stehenden Schauspieler mit Abtönfarbe zu bemalen, während dieser ein Gedicht rezitierte, von dem ich mich nur an den Anfang erinnere: „Es schwamm der Mond in mein Gemach hinein …“. Zum Ende der Aufführung gab es zusammen mit anderen Komparsen noch einen kurzen Auftritt in KuKlux-Klan-Gewändern, in denen wir die zuvor auf der Leinwand zu sehenden Schauspieler Herbert Fritsch, Hannelore Elstner und Hannelore Hoger reinkarnierten. Wir sollten uns am Schluss immer zusammen mit den anderen Schauspielern verbeugen, darauf bestand Schlingensief und ich war bei den 13 Abenden, an denen ich dabei war, jedes Mal hin- und hergerissen zwischen einer peinlichen Berührtheit und dem Spaß, im Rampenlicht zu stehen. Ich machte mir regelmäßig Notizen; war jedoch noch weit entfernt von meinem Promotionsvorhaben. Als dieses begonnen und fortgeschritten war, gab ich die Tätigkeit auf – ich war in einen echten ‚Rollenkonflikt‘ geraten und wollte mich nunmehr am Haus als Soziologin verstanden wissen. Die zweite Tätigkeit als Hospitantin in der Dramaturgie ließ beides zu. Man wusste inzwischen um mein Vorhaben. Über die Eigendynamik der Produktion und meine Stellung wurde dies schnell vergessen – was sich als Vorteil erwies. 24 Vgl.: Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S. 53. 313

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Am Theater stehen die Praktikanten, Komparsen und Hospitanten am Ende der Produktionshierarchie. Die leitenden Positionen sind im Allgemeinen männlich dominiert. Die Produktionshierarchie bildet nicht zwangsläufig die allgemeine soziale Stellung der Akteure ab. Für die meisten Hospitanten ist ihre Tätigkeit die Eintrittskarte zu einer eigenen beruflichen Karriere am Theater. Aufgrund ihrer Bildung verfügen viele Praktikanten am Theater – und die über sie stehenden Assistenten – außerhalb der Institution über höhere gesellschaftliche Anerkennung und Chancen als etwa die Bühnenarbeiter. Sie studieren oder haben ein abgeschlossenes Studium hinter sich. In der internen Produktionshierarchie ist diese soziale Position jedoch so gut wie obsolet, da sie nur dann wirksam werden kann, wenn die daran geknüpften Wissensbestände auf eine Weise eingebracht werden, die dem modus operandi des Hauses entspricht und ihm nützt. In der alltäglichen Arbeit kommt hinzu, dass die Tätigkeiten der Techniker und Bühnenarbeiter klar ausgewiesen sind, was auf die Hospitanten häufig weniger zutrifft. Dies erfordert für die nur temporär und prekär Beschäftigten einen Habitus der Zurückhaltung, der zugleich stets in Anspannung ist und immer Bereitschaft zeigen muss, bei plötzlichen Einfällen des Regisseurs oder des Dramaturgen für die entsprechenden Materialien zu sorgen und gegebenenfalls das eigene kulturelle Kapital einzusetzen. Erving Goffman hat den Außenseiterstatus des Gehilfen, der in der teilnehmenden Beobachtung wohl als Normalfall anzusehen ist, gleichwohl zu Recht als „besondere Rolle“ von Vorteil aufgefasst: „Man darf erwarten, daß diese besondere Rolle immer da auftreten wird, wo es auffällige Machtdifferenzen, aber kein Verbot des gesellschaftlichen Verkehrs zwischen dem Machtlosen und dem Mächtigen gibt.“25 Dies trifft auf die Arbeitsorganisation am Theater eindeutig zu. Der Umgang mit den Regisseuren, dem Intendanten und den Mitarbeitern der Volksbühne gestaltete sich für mich zwar grundsätzlich als ein distanzierter, konnte aber nach Ende der Probe beim Feierabendbier in der Kantine plötzlich auch sehr persönlich und ungezwungen sein. Mein Privileg der Mehrfachpräsenz erwies sich in der teilnehmenden Beobachtung darin, als Gehilfin den Außenseiterstatus der ‚Unperson‘ zu haben und zugleich Forscherin sein zu können, die weder in Konkurrenz zu den Akteuren steht, noch über ein besonders hohes Maß an Verantwortung verfügt. Diese Erfahrung bestätigte folgende Feststellung Goffmans: „Es scheint, als sei die Rolle der Unperson im allgemeinen mit einem gewissen Maß an Subordination und Respektmangel verbunden, aber wir dürfen

25 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater, S. 172. 314

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nicht vergessen, in welchem Maße eine Person, der eine solche Rolle übertragen wird, [...] diese Rolle als Schutz verwenden kann. Hinzu kommt, daß Situationen eintreten können, in denen Untergebene einen Vorgesetzten nur dann richtig behandeln können, wenn sie ihn so behandeln, als sei er nicht anwesend.“26

Mit dieser Einsicht geht in der teilnehmenden Beobachtung der Vorteil einher, Zugang zu Informationen zu erhalten, die für die Forschung höchst wertvoll sein können. Oberstes Gebot bleibt allerdings die Diskretion – innerhalb der teilnehmenden Beobachtung, doch viel mehr noch außerhalb der Institution. Es handelt sich im seltensten Fall um brisante Informationen, sondern vielmehr um kleine Randbemerkungen, Gesten, Nachrichten, Anekdoten etc., die Aufschluss etwa über ein bestimmtes Professionsethos geben, über eine Schwierigkeit, oder die bestimmte Affinitäten offenlegen. Die teilnehmende Beobachtung als Komparsin bzw. Hospitantin an der Volksbühne lief in der Tat auf ein zweigesichtiges ‚Rollenspiel‘ hinaus: So war ich einerseits Unperson, die einfach ihren Job zu erledigen hat und andererseits lebendige versteckte Kamera, Beobachterin, möglichst nichts für bare Münze nehmend, was sich mir darbot, immer im Versuch der Abstrahierung dessen, was sich zwischenmenschlich und arbeitsorganisatorisch vor meinen Augen und zugleich mit mir abspielte. Ein guter Soziologe lässt sich nicht anmerken, dass er Soziologe ist. Die Beobachtungsarbeit verlagert sich nach innen, man macht sich innerlich Notizen, die zu Hause hastig, und wieder von späteren Eindrücken überlagert, in das angelegte Forschungstagebuch notiert werden. „Wissende“ Kommentare will am Theater ohnehin niemand hören – das kann sogar gefährlich sein, wie Heinich ausführt: „[D]ie einfache Tatsache, nicht die von den Akteuren bewerteten Dinge, sondern die Bewertungen dieser Dinge zu thematisieren, kann als Infragestellung der Richtigkeit dieser Bewertungen empfunden werden, denn es geht nicht mehr darum, sie zu teilen, sondern sie zu analysieren.“27 Damit kann der Status des institutionellen Außenseiters, den der teilnehmende Soziologe innehat, plötzlich aufgehoben sein; die ungefährliche Konkurrenz, die seine Präsenz vor Ort bedingt, wandelt sich in eine konkurrierende Geltungsbehauptung und das Vertrauen der Akteure, das eben auch auf jener Außenseiterposition beruht, ist im Nu zerstört. Dennoch kann es sinnvoll und sehr erhellend sein, kleine Schlagworte in das Gespräch oder in die Runde zu werfen und ihre Effekte zu

26 Ebd., S. 139. 27 Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S. 73ff. Ü.v.m. 315

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testen.28 Die Herausbildung eines dezidiert empirischen sens pratique zwischen der Anerkennung der arbeitsorganisatorischen Hierarchie und der Eigenpositionierung als selbständig denkende Person, deren Ideen je nach Situation und Disposition der Spielleitung, Dramaturgie oder der Regieassistenz als interessant bewertet werden, erfordert spezifische Strategien. Auf diese Weise macht sich der Soziologe, bewusst oder nicht, fast selbst zu einem Schauspieler – er spielt vor seiner Umgebung den Mitarbeiter, obwohl er Soziologe ist, und er spielt vor sich selbst den Soziologen, obwohl er Mitarbeiter ist. Die reflexive Konturierung des Untersuchungsgegenstandes wird in der teilnehmenden Beobachtung damit zu einer Doppelgeltung, die sich nicht allein auf den beruflichen Mehrfachstatus beschränkt, sondern direkte Konsequenzen für das Selbstbild und Fremdbild hat, das sich dem Forschenden im Feld offenbart. „Verstehen“ heißt – anders als in der Interviewsituation, die zeitlich und räumlich begrenzt ist – voller, d.h. auch leiblicher Einsatz, der sich ununterbrochen zwischen intensivem Engagement für die Tätigkeit und kühler Distanz zu ihr bewegt. Heinich beschreibt dieses Vorgehen: „Die Einbindung des Forschers in das, was die Akteure zum Handeln bringt ist ebenso notwendig wie seine Distanzierung – im Sinne der gleichnamigen Opposition, die Norbert Elias meint – hinsichtlich den der eigentlichen Welt eigenen Spielregeln. Die Kompetenz des Soziologen liegt genau in der Verbindung dieser beiden Positionen, die zunächst unvereinbar sind. Diese Kompetenz beruht einerseits auf dem Engagement in einer Welt, die er mit den Akteuren teilt, was ihm erlaubt, die Empathie und die Intuition nachzuvollziehen, um die Spielregeln zu verstehen. Andererseits beruht sie auf der Distanzierung von den Akteuren, die den Ortswechsel in die Vielfältigkeit der Welten erleichtert, die Vervielfachung der Standpunkte und die Wahrnehmung des gesamten Raumes ermöglicht.“29

Um die Repräsentationsmuster zu erkennen, die die praktische Wirklichkeitsorganisation der jeweiligen Akteure grundieren; ihre Beziehungen zueinander und ihre allgemeine innere Logik, ist es unerlässlich, selbst für eine gewisse Zeit an dieser Wirklichkeitsorganisation praktisch teilzuhaben. Erst in der – und sei sie noch so prekär und unbedeutend für die gesamte Produktion – Mitgestaltung dieser Wirklichkeit werden die spezifischen Vorstellungen, Geltungsbehauptungen, Sorgen, Ängste, 28 Wie z.B. die Anekdote, die eine Kenntnis des Feldes und eine gewisse Position offenbart, die den Status stärken kann im Sinne einer Anerkennung – und die sich eben aus der Empirie speist, die den Soziologen zu einem Experten dieses Feldes gemacht hat. 29 Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie, S. 84. Ü.v.m. 316

POST SCRIPTUM

Konkurrenzen, Freiheiten und Zwänge offenbar, weil man sie buchstäblich mit-erlebt und empfindet und zugleich den unschätzbaren Vorteil der prinzipiellen Entlastetheit genießt, der jegliche Verantwortung für das gesamte Werk letztlich von sich weisen kann.30 Es ist jene Zwischenposition, die, mit einem gewissen Geschick genutzt, den Rahmen bietet, Meinung und Erkenntnis am premier jet, also am Gegenstand selbst in eine systematische Beziehung zueinander zu setzen. Wohl darf die teilnehmende Beobachtung hinsichtlich ihrer heuristischen Bedeutung nicht überschätzt werden. Doch ihre Kontrollfunktion hinsichtlich der Überprüfung von Hypothesen kann den bereits eingeschlagenen Weg der Betrachtung bestätigen oder in Frage stellen und damit zur Konstruktion des Gegenstandes beitragen. Das ist nicht wenig. Die für ein praxeologisches Vorgehen unerlässliche Empirie vermindert die Gefahr, eine einmal für überzeugend befundene Theorie einfach über den Gegenstand zu ziehen und einer eitlen self fullfilling prophecy anheim zu fallen. Das von dem Volksbühnen-Schauspieler Bernhard Schütz zitierte Bonmot „Der Raum überprüft dich“ trifft in diesem Sinne das Thema und die Bedeutung der empirischen Feldforschung punktgenau. Doch sie darf dabei nicht stehenbleiben. Die Frage der Entwicklung einer Methodologie, die jene Implikation und Distanz auf der analytischen Ebene in eine systematische – wohlgemerkt nicht schematische – Beziehung zwischen Struktur und Praxis zu übersetzen versteht, kann erst im Rückzug aus dem Feld erfolgen – in der theoretischen Reflexion, beim Schreiben darüber und im besten Fall in der regelmäßigen Auseinandersetzung mit anderen Mitgliedern der eigenen Zunft. Um so vorteilhafter ist es dann aber, wenn die empirischen Ergebnisse die entwickelten Grundannahmen nicht nur stützen, sondern auch gegen die vielfältigen Interessen und mögliche Angriffe von außen – die meist die Eigenschaft haben, mehr Meinung als Erkenntnis zu sein – zu wappnen. Ist der tiefe Abgrund zwischen Meinung und Erkenntnis einmal überwunden, bleibt dem Soziologen im Prozess der reflexiven Anschauung nur noch der letzte Schritt: Die Kunst, seine Erkenntnisse zu verteidigen. Epilog Als ich im März 2001 ein Interview mit Pierre Bourdieu führte, kam gerade der von Pierre Carles gedrehte Film über ihn mit dem Titel „La sociologie est un sport de combat“ heraus. Am Ende unseres Gespräches stellte ich ihm eine Frage zu dem Filmtitel. Ich war überrascht über sei30 Ein Umstand, der allerdings inmitten der Tätigkeit selbst kaum von Bedeutung ist. Das Empfinden der Mitarbeiter von Warhol ist da präsenter; der Genuss der Entlastetheit tritt im Produktionsalltag, sofern er mit vollem Einsatz wahrgenommen wird, in den Hintergrund. 317

INSTITUTION UND UTOPIE

ne defensive Antwort und hakte noch einmal nach. Mit dem darauffolgenden „Missverständnis“, das nur im französischen Original nachvollziehbar ist, will ich das Post scriptum schließen:

„Pourquoi la sociologie est-elle un sport de combat? Enfin, vous connaissez le judo? Moi, je vois là des ressemblances, la sociologie et le judo, c’est l’art de se défendre sans violence. Mais ce n’est pas seulement la défense; vous, vous attaquez quand même très souvent, n’est-ce pas? Face aux influences dominantes au niveau économique et symbolique, je n’ose pas de dire d’avoir la puissance d’attaquer d’une manière vraiment efficace. Peut-être vous avez raison, mais finalement je le fais pour défendre, défendre une sociologie très avancé et, par cela, très attaqué. En revanche, vos thèses se discutent beaucoup, ce qui est déjà une réussite ... Ici, en France, vous ne gagneriez rien si vous faites une thèse avec Bourdieu ...“

318

L I T E R AT U R -

UND

QUELLENVERZEICHNIS

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INSTITUTION UND UTOPIE

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

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323

INSTITUTION UND UTOPIE

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

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INSTITUTION UND UTOPIE

Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Geisteswissenschaft und Öffentlichkeit. Versuch eines Dialogs. Dokumentation des Forum Junge Wissenschaft I vom 16.-22. November 2005 in Dresden. Dresden: Efau Verlag 2006. Gebhard, Gunther/Meißner, Stefan/Schröter, Steffen: „Kritik der Gesellschaft? Anschlüsse bei Luhmann und Foucault“. In: Zeitschrift für Soziologie. Heft 4/2006, S. 269-285. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2004. Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt am Main/Bonn: Athenäum Verlag 1965. Gleber, Klaus: Theater und Öffentlichkeit. Produktions- und Rezeptionsbedingungen politischen Theaters am Beispiel Piscator 19201966. Frankfurt am Main: Peter Lang 1979. Göbel, Andreas: „Institution und System“. In: Fischer, Joachim/Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 185-197. Göhler, Gerhard/Speth, Rudolf: „Symbolische Macht. Zur institutionentheoretischen Bedeutung von Pierre Bourdieu“. In: Blänkner, Reinhard/Jussen, Bernhard: Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1998, S. 17-48. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. München: Piper Verlag 1988. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. Gorbatschow, Michail: „Deutschlands Vereinigung als weltgeschichtliches Ereignis“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Chronik 19502000. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 40-41. Grätzel, Stephan: „Theatralität als anthropologische Kategorie“. In: Balme, Christopher/Fischer-Lichte, Erika/Grätzel, Stefan (Hg.): Das Theater als Paradigma der Moderne. Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen/Basel: Francke 2003, S. 34-42. 328

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München: Carl Hanser Verlag 1988. Groys, Boris: Topologie der Kunst. München/Wien: Carl Hanser Verlag 2003. Groys, Boris: „Paradise revisited. Die Ästhetik des Spätkommunismus“. In: Choroschilow, Pawel et. al. (Hg.): Chronik 1950-2000. BerlinMoskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 138-142. Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Guckeisen, Anne: „Wieder vereint und doch getrennt – Hauptstadttheater nach der Wende. Eine Untersuchung der Profilentwicklung Berliner Sprechtheater zwischen 1989 und 2000“. Diplomarbeit Kulturwissenschaft und Ästhetische Praxis. Universität Hildesheim 2000. Habermas, Jürgen: „Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Cassirer und Gehlen“. In: Melville, Gert (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2001, S. 54-67. Hacking, Ian: Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt am Main: Fischer 2002. Hänsgen, Sabine/Witte, Georg: „Die sichtbar unsichtbare Schrift des Samisdat“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Chronik 19502000. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH. 2003, S. 244-249. Hammertaler, Ralph: „Die Position des Theaters in der DDR“. In: Hasche, Christa/Schölling, Traute/Fiebach, Joachim: Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin: Henschel Verlag 1994, S. 151-261. Hansen, Antje: „Vertriebener Tempelherr. Die Volksbühne und ihr Architekt Oskar Kaufmann“. In: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 140-147. Hasche, Christa/Schölling, Traute/Fiebach, Joachim: Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin: Henschel Verlag 1994. Haslinger, Josef: „Das Paradigmatische der Kunst. Der junge Georg Lukács“. In: Georg Lukács – Ersehnte Totalität. Band I des BlochLukàcs-Symposiums 1985 in Dubrovnik. Hg.: Flwgo, Gvoz329

INSTITUTION UND UTOPIE

den/Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich. Bochum: Germinal-Verlag 1986, S. 19-29. Haupt, Heinz-Gerhard: Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. Heinich, Nathalie: Ce que l’art fait à la sociologie. Paris: Éditions de Minuit 1998. Heinich, Nathalie: Être écrivain. Paris: La découverte 2000. Heinich, Nathalie: „Sociologie de l’art: avec et sans Bourdieu“. In: Sciences Humaines Dossier Bourdieu No 105, Dossier Bourdieu. Auxerre Mai 2000, p. 34-36. Henckmann, Wolfhart: „Zur Diskussion über Gegenstand und Aufgaben der Ästhetik besonders in den 50er Jahren“. In: ders./Schandera, Gunther (Hg.): Ästhetik in der DDR 1949-1990. Beiträge zu ihrer Geschichte. Berlin: Berlin Verlag 2001, S. 57-84. Henckmann, Wolfhart/Schandera, Gunther (Hg.): Ästhetik in der DDR 1949-1990. Beiträge zu ihrer Geschichte. Berlin: Berlin Verlag 2001. Hetmann, Frederik: Rosa Luxemburg. Ein Leben für die Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 1990. Heym, Stefan: Radek. München: Bertelsmann 1995. Hickethier, Knut (Hg.): Schauspielen und Montage. Schauspielkunst im Film. Zweites Symposium (1998). St. Augustin: Gardez! Verlag 1999. Hofmann, Michael: „Struktur- und Milieuwandel in Ostdeutschland“. In: Fischer, Joachim/Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 242-256. Hugo, Victor: Préface de Cromwell (1824). Slatkine Reprints 1973. Hurtzig, Hannah (Hg.) „Imitation of life“ Bert Neumann Bühnenbilder. Berlin: Theater der Zeit 2001. Ionesco, Eugène: Die Nashörner. Erzählungen. Darmstadt: Luchterhand 1988. Irmer, Thomas: Leitbild, Glauben, Depression und Erniedrigung, In: ders.: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 46-52. Irmer, Thomas/Schmidt, Matthias: Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR. Ein kurzer Abriß mit längeren Interviews. Herausgegeben von Wolfgang Bergmann. Berlin: Alexander Verlag 2003. Irmer, Thomas/Müller, Harald: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Berlin: Theater der Zeit 2003.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. Jeggle, Utz (Hg.): Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V. Schloss 1984. Joas, Hans: „Institutionalisierung als kreativer Prozeß – zur politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis“. In: Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 339-363. Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. Johnson, Mark: „Philosophical implications of cognitive semantics“. In: Cognitive Linguistics 3/1992, S. 345-366. Jung, Werner: „Von der Utopie zur Ontologie. Das Leben und Werk Georg Lukács“. In: Jung, Werner (Hg.): Diskursüberschneidungen. Georg Lukács und andere. Akten des Internationalen Georg-LukácsSymposiums „Perspektiven der Forschung“. Essen/Bern: Peter Lang 1993, S. 9-26. Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 1995. Kaiser, Paul: „Die Grenzen der Verständigung. Künstlerstrategien und individuelle Handlungsräume im staatlichen Auftragswesen der DDR“. In: Kaiser, Paul/Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Hamburg: Junius Verlag 1999, S. 447-476. Kaiser, Paul: „Alltag ohne Epoche. Das künstlerische Bildprogramm als spätes Dokument einer Veralltäglichung“. In: Beutelschmidt, Thomas/Novak, Julia M. (Hg.): Ein Palast und seine Republik. Ort – Architektur – Programm. Berlin: Verlag für Bauwesen 2001, S. 132145. Kaiser, Paul: „Die Aura der Schmelzer. Zum Paradoxon einer destabilisierenden Stabilisierung am Beispiel der Arbeiterdarstellung in der bildenden Kunst der DDR“. In: Müller, Stefan/Schaal, Gary S./ Tiersch, Claudia (Hg.): Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation. Köln/Wiemar/Wien: Böhlau Verlag 2003, S. 237-253. Kaiser, Paul: „‚Hofkünstler’“ im ‚Arbeiter- und Bauernstaat’? Zur Sozialfigur des bildenden Künstlers in der DDR“. In: Fischer, Joachim/Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultur-

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INSTITUTION UND UTOPIE

soziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 622-639. Kaiser, Paul/Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere. 1971 bis 1989 [Katalog der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin]. Bohème: Fannei & Walz 1997. Karstein, Uta: Ferner Osten? Biographische Zugänge zur ostdeutschen Sozialkultur. Potsdam: Verlag Soziolkultur 2001. Kil, Wolfgang: „Soziale Genauigkeit in der beiläufigen Impression. Fotografie im DDR-Alltag der sechziger und siebziger Jahre“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/MoskauBerlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 108-109. King, Vera: „Das Denkbare und das Ausgeschlossene. Potenziale und Grenzen von Bourdieus Konzeptionen der ‚Reflexivität‘ und des ‚Verstehens‘ aus der Perspektive hermeneutischer Sozialforschung“. In: Sozialer Sinn. Heft 1/ 2004. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S.49-71. Kluge, Alexander: „Verfallserscheinungen der Macht“. In: ders.: Chronik der Gefühle. Band I Basisgeschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 147-305. Kluge, Alexander/Müller, Heiner: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche mit Heiner Müller. Hamburg: Rotbuch 1996. Knapstein, Gabriele: „Aktionen, Happenings, Activities und Events“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/MoskauBerlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH. 2003, S. 163-165. Kohse, Petra: „Vom Spektakel bis zur Wohnfront. Der Prater als Innovationslabor“. In: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 122-128. Kreuzer, Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchandlung 1968. Latour, Bruno: „Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie“. In: Rammert, Werner Technik und Sozialtheorie. Frankfurt am Main /New York: Campus 1998, S. 29-81. Lawrentjew, Alexander: „Annäherung an die Wirklichkeit.“ In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. Sep332

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

tember 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 109-110. Lazarsfeld, Paul F.: „Wissenschaftslogik und empirische Sozialforschung“. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1965, S. 37-49. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999. Lepenies, Wolf: Soziologische Anthropologie (1971). Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1977. Lepenies, Wolf: Normalität und Anormalitat. Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert. In: ders. (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 227-251. Lepenies, Wolf: (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. Suhrkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Lepenies, Wolf: Sainte-Beuve. An der Schwelle zur Moderne. München: Carl Hanser Verlag 1997. Lepenies, Wolf: Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung. Berlin: Corso bei Siedler 1992. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft ( 1969). Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft (1985). Frankfurt am Main: Fischer 2002. Lepsius, M. Rainer: „Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien“. In: Göhler, Gerhard (Hg.): Institutionenwandel. Leviathan Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 70-93 Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Gegenalogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Lilienthal, Matthias: „Die Chance des Scheiterns der Betonarbeiterbrigade“. In: Schütt, Hans-Dieter: Castorfs Volksbühne. Schöne Bilder vom häßlichen Leben. Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf 1999, S. 36-39. Linhart, Danièle: „Le taylorisme n’est pas mort“. Les cahiers de l’Anvie. Sciences Humaines No. 38. Avril 1994. Löser, Claus: „Königskinder in der Schmuddelecke. Filmische Subkulter von heute aus“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin333

INSTITUTION UND UTOPIE

Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 184-185. Lüders, Christian: „Beobachten im Feld und Ethnographie“. In: Flick/von Kardoff/Steinke: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 384-401. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Luhmann, Niklas: „Doppelte Kontingenz, Struktur, Konflikt“. In: ders.: Einführung in die Systemtheorie. Hg.: Baecker, Dirk. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 2002. Lukács, Georg: „Bürgerlichkeit und L’art pour l’art. Theodor Storm“. In: ders.: Über die Vernunft in der Kultur. Ausgewählte Schriften 1909-1969. Sebastian Kleinschmidt (Hg.). Leipzig: Philipp Reclam Junior 1985, S.35-66. Lukács, Georg: „Phänomenologische Skizze des schöpferischen und rezeptiven Verhaltens“. In: Lukàcs, Georg: Über die Vernunft in der Kultur. Ausgewählte Schriften 1909-1969. Sebastian Kleinschmidt (Hg.). Leipzig: Philipp Reclam Junior 1985, S. 66-91. Lukács, Georg: „Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik“. In: Lukàcs, Georg: Über die Vernunft in der Kultur. Ausgewählte Schriften 1909-1969. Sebastian Kleinschmidt (Hg.). Leipzig: Philipp Reclam Junior 1985, S. 146-192. Majakowski, Wladimir: Schwitzbad. Leipzig: Phillip Reclam Junior 1982. Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens (1922). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie (1925). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann (1995). Marcus, Judith: „The Artist and his philosopher. Reflections on the relationship between Thomas Mann and Georg Lukàcs“. In: Georg Lukàcs – Ersehnte Totalität. Band I des Bloch-Lukàcs-Symposiums 1985 in Dubrovnik. Hg.: Flwgo, Gvozden/Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich. Bochum: Germinal-Verlag 1986, S. 45-59. Marx, Karl: „Zur Judenfrage“. In: ders./Engels, Friedrich: Werke. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz Verlag 1987/MEW Bd. 1, S. 347-377. Marx, Karl: „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“. In: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Werke. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz Verlag 1987/MEW Bd. 8, S. 111-207.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

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INSTITUTION UND UTOPIE

des Internationalen Georg-Lukács-Symposiums „Perspektiven der Forschung“. Essen: Peter Lang, S. 37-44. Michael, Klaus: „Ex oriente Lux. Die Sowjetunion im Spiegel der DDROpposition und kritischer Kunst“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Chronik 1950-2000. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 76-84. Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000. Müller, Hans-Peter: „Die Moralökonomie moderner Gesellschaften. Durkheims ‚Physik der Sitten und des Rechts‘“. Nachwort in: Durkheim, Emile: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 307-341. Müller, Hans-Peter: „Handeln und Struktur. Pierre Bourdieus Praxeologie“. In: Colliot-Thélène et. al.: Pierre Bourdieu: Deutsch- französische Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 21-42. Müller, Heiner: „Deutscher sein, heißt Indianer sein“. In: Der Marterpfahl. Romanzeitung. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2005, S. 46-50. Müller, Heiner: „Eigentlich hat Hitler den Krieg gewonnen“. In: Der Marterpfahl. Romanzeitung. Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz. Berlin: Alexander Verlag 2005, S. 51-55. Müller, Heiner: „Ausschwitz kein Ende“. In: Der Marterpfahl. Romanzeitung. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2005, S. 56-63. Müller, Oliver: „Sozialistischer Realismus – allmähliche Auflösung eines Leitbegriffs?“ In: Henckmann, Wolfhart/Schandera. Gunther (Hg.): Ästhetik in der DDR 1949-1990. Beiträge zu ihrer Geschichte. Berlin: Berlin Verlag 2001, S. 111-123. Münkler, Herfried: „Politische Mythen und Institutionenwandel. Die Anstrengungen der DDR, sich ein eigenes kollektives Gedächtnis zu schaffen“. In: Göhler, Gerhard (Hg.): Institutionenwandel. Leviathan Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 121-142. Nagel, Ivan: Streitschriften. Politik, Kulturpolitik, Theaterpolitik 19572001. Berlin: Siedler Verlag 2001. Neumaier, Holger/Penzel, Joachim: Schöne Arbeit. Zur ökonomischen Situation von Bildender Kunst. Tagungsband „Schöne Arbeit“ der Schriftenreihe Burg Giebichenstein. Halle: Hochschule für Kunst und Design 2006.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

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INSTITUTION UND UTOPIE

Rehberg, Karl-Siegbert: „Instrumentalität und Entlastung. Motive Arnold Gehlens im Werk von Georg Lukács“. In: Jung, Werner (Hg.): Diskursüberschneidungen. Georg Lukács und andere. Akten des Internationalen Georg-Lukács-Symposiums „Perspektiven der Forschung“. Essen/Bern: Peter Lang 1993, S. 101-125. Rehberg, Karl-Siegbert: „Institutionenwandel und die Funktionsveränderung des Symbolischen“. In: Göhler, Gerhard (Hg.): Institutionenwandel. Leviathan Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 94-118. Rehberg, Karl-Siegbert: „Vom ‚Kulturfeudalismus‘ zum ‚Marktchaos‘? Funktionswandel der bildenden Künste nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus“. In: Barlösius, Eva (Hg.): Distanzierte Verstrickungen. Die ambivalente Bindung soziologisch Forschender an ihren Gegenstand. Festschrift für Peter Gleichmann zum 65. Geburtstag. Berlin: Edition Sigma 1997, S. 253-278. Rehberg, Karl-Siegbert: „‚Denkende Malerei‘ und konstruktivistische Moderne. Arnold Gehlens ambivalente Kunstsoziologie“. In: Gerda Breuer (Hg.): Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1997, S. 73-99. Rehberg, Karl-Siegbert: „Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung“. In: Blänkner, Reinhard/Jussen, Bernhard: Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1998, S. 381-407. Rehberg, Karl-Siegbert: „Freiheit und Anomie. Kommunikationsprobleme und gesellschaftliche Ambivalenzen nach der ‚Wende‘“. In: Diekmannshenke, Hajo/Meißner, Iris: Politische Kommunikation im historischen Wandel. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2001, S. 361372. Rehberg, Karl-Siegbert: „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht“. In: Melville, Gert (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2001, S.3-49. Rehberg, Karl-Siegbert: „Bildinszenierungen. Institutionenanalytische Anmerkungen zu Kunstausstellungen – am Beispiel der Präsentation von Kunstwerken in und aus der DDR“. In: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFGSymposium 1999. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 198-225.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Rehberg, Karl-Siegbert: Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte. Thesen zu den „Eigengeschichten“ der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. In: Melville, Gert/Vorländer, Hans (Hg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Berlag 2002, S. 319-347. Rehberg, Karl-Siegbert: „Verkörperungs-Konkurrenzen. Aktionskunst in der DDR zwischen Revolte und ‚Kristallisation‘“. In: Janecke, Christian (Hg.): Performance und Bild/Performance als Bild. Berlin/Dresden: Philo Fine Arts/Verlag der Kunst. 2003, S. 115-161. Rehberg, Karl-Siegbert: „‚Konsensdiktatur‘. Zu Wandlungen der DDR(Kultur-)Politik in der Honecker-Ära“. In: Bröckling, Ulrich/T. Paul, Axel T./Kaufmann, Stefan (Hg.): Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach. München: Fink 2004, S. 139-164. Reif, Adelbert (Hg.): Antworten der Strukturalisten: Roland Barthes, Michel Foucault, François Jacob, Roman Jakobson, Claude L´viStrauss. Hamburg: Hofmann und Campe 1973 Reimann, Brigitte: Ankunft im Alltag. Berlin: Verlag Neues Leben 1961. Reimann, Brigitte: Franziska Linkerhand. Berlin: Verlag Neues Leben 1974. Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955-1963. Hg.: Drescher, Angela. Berlin: Aufbau-Verlag 2001. Reimann, Brigitte: Eine Biographie in Bildern. Hg.: Bircken, Margrid/Hampel, Heide. Berlin: Aufbau-Verlag 2004. Reuter, Jule: „Geteilte Erinnerung – unterschiedliche Bildauffassungen. Fotografien von Demonstrationen in Ost und West“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 214-215. Riemann, Gerd: „Narratives Interview“. In: Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske und Budrich 2003, S. 120-122. Ruppert, Wolfgang (Hg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank – zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Frankfurt am Main: Fischer 1993. Ryklin, Michail: „Grenznostalgie“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH. 2003, S. 275-276.

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INSTITUTION UND UTOPIE

Sartre, Jean-Paul: Die Fliegen/Die schmutzigen Hände. Zwei Dramen. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1961. Schelsky, Helmut: „Zur soziologischen Theorie der Institution“. In: ders. (Hg.): Zur Theorie der Institution. Reihe Interdisziplinäre Studien/ Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1970, S. 9-26. Schelsky, Helmut: „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie“. In: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München: Goldmann 1979, S. 268-297. Schrage, Dominik: „Das Ritual als Verfahren. Zur performativen Herstellung intangibler Ordnung“. In: Fischer, Joachim/Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 198-208. Schütt, Hans-Dieter: Die Erotik des Verrats. Gespräche mit Frank Castorf. Berlin: Dietz Verlag 1996. Schütt, Hans-Dieter/Hehmeyer, Kirsten (Hg.): Castorfs Volksbühne. Schöne Bilder vom häßlichen Leben. Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf 1999. Schultz, Joachim: „Das literarische Manifest“. In: Lendemains 36. Köln: Pahl Rugenstein Verlag 1984 S. 47-53. Schuster, Klaus: „Das Kunstwerk am Ende aller Utopien. Sieg der Sonne von Gerhard Merz“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 44-45. Schweinebraden, Jürgen Frhr. von Wichmann-Eichhorn: „Künstlerfreundschaften“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. BerlinMoskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 179-180. Schweppenhäuser, Hermann: „Reale Vergesellschaftung und soziale Utopie. Ernst Bloch als Sozialphilosoph“. In: Arnold, HeinzLudwig: Ernst Bloch. München: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1985, S. 165-174. Seier, Andrea: „Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster“. In: Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Diskursanalyse Foucaults, 1999. Frankfurt am Main: Campus 1999, S. 75-86. Seifert, Oliver: „Identität – eine Stilfrage. Werner Tübke und Wolfgang Petrick“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. BerlinMoskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 212-214. Semrau, Jens: Was ist dann Kunst? Die Kunsthochschule Weißensee 1946-1989 in Zeitzeugengesprächen. Berlin: Lukas Verlag 2004. Seyfert, Robert: Grenze und Differenz. Differenztheoretisches Denken bei Helmuth Plessner und Gilles Deleuze. Magisterarbeit Philosophie. Technische Universität Dresden/Institut für Philosophie und Institut für Soziologie. Dresden 2005. Simmel, Georg: Schriften zur Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. Simmel, Georg: „Das Gebiet der Soziologie“. In: ders.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 37-50 Simmel, Georg: „Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur“. In: ders.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 95-128. Simmel, Georg: Das Individuum und die Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 1993. Simmel, Georg: „Der Schauspieler und die Wirklichkeit“. In: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 153-159. Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“. In: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 192-211 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (1900). Suhrkamp: Frankfurt am Main 1995. Soeffner, Hans-Georg: „Sozialwissenschaftliche Hermeneutik“. In: Flick/von Kardoff/Steinke: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 164-175. Soeffner, Hans-Georg: „Authentizitätsfallen und mediale Verspiegelungen. Inszenierungen im 20. Jahrhundert“. In: Fischer/Joas: Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 659-670. Soeffner, Hans-Georg: „Die Wirklichkeit der Theatralität“. In: FischerLichte, Erika/Horn, Christian/Umathum, Sandra/Warstadt, Matthias: 341

INSTITUTION UND UTOPIE

Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Tübingen/ Basel: Francke 2004, S. 235-247. Stäheli, Urs: Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld: Transcript 2000. Stallybrass, Peter: „Boundary and Transgression: Body, Text, Language. In: Boundary and transgression in the medieval culture“. Stanford French Review. Spring-Fall 1990, p. 9-23 Stölting, Erhard: „Wandel und Kontinuität der Institutionen: Rußland – Sowjetunion – Russland“. In: Göhler, Gerhard (Hg.): Institutionenwandel. Leviathan Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 181-203. Syring, Marie Louise: „Antitautoritär und Emanzipatorisch. Was wurde aus dem Traum von der Herrschaftslosigkeit der Sprache?“ In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 160-162. Tarr, Zoltán: „Lukàcs und Weber. Utopia versus Realpolitik“. In: Georg Lukács – Ersehnte Totalität. Band I des Bloch-Lukàcs-Symposiums 1985 in Dubrovnik. Hg.: Flwgo, Gvozden/Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich. Bochum: Germinal-Verlag 1986, S. 69-82. Tarr, Zoltán: „Sozialismus, Revolution und Ethik. Einige Bemerkungen zur Weber-Lukács-Beziehung“. In: Jung, Werner (Hg.): Diskursüberschneidungen. Georg Lukács und andere. Akten des Internationalen Georg-Lukács-Symposiums „Perspektiven der Forschung“. Essen/Bern: Peter Lang 1993, S. 59-69. Tannert, Christoph: „Arbeit am Verständnis. Kulturaustausch im geteilten Deutschland“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Chronik 1950-2000. Berlin-Moskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 150-154. Teschke, Henning: „Keine Wahl: Bourdieu und Deleuze“. In: Rehbein, Boike et. al.: Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003, S. 67-76. Treibel, Annette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 5. Auflage. Opladen: Leske und Budrich 2000. Tschapke, Reinhard: Heiner Müller. Berlin: Morgenbuch 1996. Tschernomorski, Pawel: „Auf der Suche nach dem russischem Sinn. Nationale Identität in Russland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun342

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

derts“. In: Choroschilow, Pawel et. al (Hg.): Kunst. BerlinMoskau/Moskau-Berlin Katalog zur Ausstellung im MartinGropius-Bau, Berlin 28. September 2003 bis 5. Januar 2004 – Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, 21. März bis 15. Juli 2004. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2003, S. 209-211. Umathum, Sandra (Hg.): Carl Hegemann. Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theater 1980-2005. Berlin: Theater der Zeit 2005. Waehner, Joerg: Einstrich-Keinstrich. NVA-Tagebuch. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2006. Wagner, Hans-Josef: „Kultur – Sozialität – Subjektivität. Konstitutionstheoretische Defizite im Werk Pierre Bourdieus“. In: Rehbein, Boike et. al.: Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003, S. 203-230. Walter, Michael: Die Oper ist ein Irrenhaus. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997. Weber, Max: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920). Tübingen: Mohr Siebeck UTB 1988. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit einem Anhang: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. Vierte, neu herausgegebene Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann. 1. Halbband. Tübingen: Paul Siebeck 1956. Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“. In: ders.: Schriften zur theoretischen Soziologie, zur Soziologie der Politik und Verfassung. Frankfurt am Main: Georg Kurt Schauer 1947, S. 1-32. Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988. Weiß, Johannes: „Institution, Repräsentation, Persönlichkeit“. In: Fischer, Joachim/Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 161-169. Willems, Herbert: „Inszenierungsgesellschaft? Zum Theater als Modell, zur Theatralität von Praxis“. In: Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 23-80. Wilzopolski, Siegfried: Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs. Eine Dokumentation. Zentrum für Theaterdokumentation und -information. Berlin: 1992.

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INSTITUTION UND UTOPIE

Witzler, Anja von: „Meister linken Furors. Wo Kresnik draufsteht, ist auch Kresnik drin“. In: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 86-91. Wohlrab-Sahr, Monika: „Objektive Hermeneutik“. In: Bohnsack, Ralf/ Marotzki, Winfried/Meuser, Michael: Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske und Budrich, S. 123-128. Zander, Oliver: Das Gesamtkonzept der Volksbühne in Berlin in der Spielzeit 1992/93. Magisterarbeit Kommunikationswissenschaften. Freie Universität Berlin 1994. Zander, Oliver: Marketing im Theater. Eine Untersuchung am Beispiel der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf. Egelsbach: Verlag Dr. Hänsel-Hohenhausen 1997. Zehnpfennig, Barbara (Hg.): Karl Marx. Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005.

Zeitungsartikel/Theaterkritiken/Dokumente ( Au s w a h l ) Badiou, Alain: Abenteurer des Begriffs. Über die Einzigartigkeit der jüngeren französischen Philosophie. In: Lettre International. Winter 2005, S. 88-91. Balzer, Jens: Wann kommt endlich das jüngste Gericht? Berliner Zeitung, 26.5.2005. Bardonnie, Mathilde la: Realpolitik. Libération, 10.4.2002. Baur, Detlev/Brandenburg, Detlef: An die Grenzen gehen. Interview mit Frank Castorf. Die Deutsche Bühne 5/2004. Becker, Roberto: Can Can im Schützengraben. Neues Deutschland, 11.10.2004. Benyahia-Kouider, Odile: Au théâtre jusqu’au sang. Libération, 7.7.2004. Berger, Jürgen: Erlaubt ist, was zerfällt. Gespräch mit Armin Petras und René Pollesch. Süddeutsche Zeitung, 8.1.2005. Berliner Journal für Sozialforschung Nr. 2/04. Das literarische Feld. Verlag für Sozialwissenschaften. Band 14. Berlin 2004. Bisky, Jens: Letzte Aufwallung. Süddeutsche Zeitung, 13./14.11.2004. Bisky, Jens: Ein Traumjob? Süddeutsche Zeitung, 4./5.12.2004. Bogusz, Tanja: Soziologie ist die Kunst der Verteidigung. Interview mit Pierre Bourdieu. Jungle World, 23.5.2001. Bogusz, Tanja: Glaube das Unglaubliche. Jungle World, 20.11.2002. Bogusz, Tanja: Im Schwitzkasten. Jungle World, 5.11.2003

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Bogusz, Tanja: Die Visualisierung des Immateriellen. www.zfvk.de/ presse/sophiensaele.pdf, Hamburg 2004. Briegleb, Till: Angewandt heißt mit dem Kopf durch die Wand. Theater heute 01/2003. Castorf, Frank: Interview mit der Tageszeitung Junge Welt. Interviewer Unbekannt Transkriptionsfassung aus dem Archiv der Volksbühne. Fax vom 16.1.1995. Castorf, Frank: Lügen lernen. Berliner Zeitung, 11./12.12.2004. Detje, Robin: Ganz klare Ansage. Süddeutsche Zeitung, 22.11.2004. Detje, Robin: Auf Elvis bis zum Nordpol reiten. Süddeutsche Zeitung, 27.12.2004. Detje, Robin: Adel verzichtet. Süddeutsche Zeitung, 30.12.2004. Detje, Robin/Kümmel, Peter: Unsere traurigen Berserker. Die Zeit, 15.7.2004. Dieckmann, Christoph: Hinter der Zeitmauer. Die Zeit, 14.6.2000. Diederichsen, Diedrich: Warum Castorf loben? In: Dramaturg 1/04. Resumé des Symposiums „Schnittstelle Theater“ – Die Bühne und die Medien vom 9.-11.1.2004 in der Volksbühne Berlin. Berlin 2004, S. 35-38. Dössel, Christine: Aufbruch West. Interview mit Frank Castorf. Süddeutsche Zeitung, 29.4.2004 Dössel, Christine: Im Prosarausch. Süddeutsche Zeitung, 6.9.2004. Dössel, Christine: Das Ganze hat überhaupt nichts Konspiratives. Süddeutsche Zeitung, 9.11.2004. Dössel, Christine: Das Arbeitslos. Süddeutsche Zeitung, 17.1.2005. Engelhardt, Barbara: Am Abgrund tanzen. Interview mit Matthias Matschke. Theater der Zeit. Januar 2000. Fischer, Eva-Elisabeth: Pina Bausch über Lust. Interview mit Pina Bausch. Süddeutsche Zeitung/Wochenende, 25./26.9.2004. Flierl, Thomas: Berlin: Perspektiven durch Kultur. Kulturpolitische Positionen und Handlungsorientierungen zu einer Berliner Agenda 21 für Kultur. August 2004. Foerster, Heinz von: Wirklichkeit entsteht im Dialog. Interview, Tageszeitung 7.10.2002. Gurk, Christoph: Hoffen, dass das Geld nicht reicht. Ein Gespräch mit Bert Neumann über die Fassaden der Republik. In: Programmheft zu „Ersatzstadt. Repräsentationen des Urbanen. Vom 20.-22. Mai 2005.“ Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: LSD 2005, S. 14-17. Hakker, Doja/Jenny, Urs: Wir sind asozial. Theatermacher Frank Castorf über Spaß, Provokation und Kunst. Der Spiegel 52/1993.

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INSTITUTION UND UTOPIE

Hegemann, Carl (Hg.): Glück ohne Ende. Kapitalismus und Depression II. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2000. Hegemann, Carl (Hg.): Einbruch der Realität. Politik und Verbrechen. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2002. Hegemann, Carl (Hg.): Ausbruch der Kunst. Politik und Verbrechen II. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2003. Hegemann, Carl (Hg.): Theater ALS Krankheit. Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz. Berlin: Alexander Verlag 2004. Heine, Matthias: Mit Schlingensief auf Fitzcarraldos Spur. Die Welt, 4.12.1998. Heine, Matthias: Liebe in Reihe sieben. Berliner Morgenpost, 10.10. 2004. Infratest Kulturforschung und Kulturberatung: Zur Situation der Theater in Deutschland. München 2000. Irmer, Thomas: Erfinder einer neuen Theatersprache. Gespräch mit John Jesurun. Programmheft „Spielzeiteuropa“ – Internationales Theater im Haus der Berliner Festspiele. Nr. 3 04/05 Dezember 2004. Kager, Reinhard: Die Welt im Container. Die Deutsche Bühne 9/2001. Kohse, Petra: Aus dem, was da ist, die Welt erfinden. Frankfurter Rundschau, 23.5.2003. Kümmel, Peter: Kampfspiele im Treibsand. Die Zeit, 3.3.2005. Kuhlbrot, Detlev: Allerlei Affektiertheiten und ein Affront. Taz, 2.5.2005. Lau, Peter: Bands. In: Brand Eins – Wirtschaftsmagazin. Schwerpunkt: Kooperation Netzwerke, 4. Jahrgang, Heft 01, Februar 2002. Laudenbach, Peter: Ich schau dir in die Augen, Baumarkt. Theater heute. Jahrbuch 2002. Laudenbach, Peter: „Wer Kunst macht, wird so leicht kein Terrorist“. Interview mit Christoph Schlingensief. Tagesspiegel, 23.1.2003. Laudenbach, Peter: Stadt der Frauen. Tip Stadtmagazin 18/04. Berlin 2004. Laudenbach, Peter: „Der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ist Penetranz“. Brand Eins. Wirtschaftsmagazin. 02/05 Berlin 2005. Laudenbach, Peter: Mao meets Monroe. Interview mit Jürgen Kuttner. Tip 07/05. Berlin 2005. Laudenbach, Peter: Frankie allein zuhaus. Tip Nr. 06/05 März 2005. Berlin 2005. Laudenbach, Peter: Baut Theater in Kreuzform. Interview mit Christoph Schlingensief. Tip Berlin 10/05. Berlin 2005. 346

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Lehmann, Barbara: Theater ohne Revolte. Interview mit Peter Stein. Die Zeit, 15.7.2004. Lehmann, Jörg: Der unsichtbare Tod. Faz, 27.4.2005. Lengers, Birgit: Ein PS im Medienzeitalter. Dramaturg, 1/2005. Lepenies, Wolf: Nimm das! Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung, 29./30.6.2002. Lilienthal, Matthias: Postpostpostmoderne. Theater der Zeit, 1/2000. Merck, Nikolaus: Willkommen zurück im Politischen. Theater der Zeit, Mai/Juni 1998. Michalzik, Peter: Der letzte Glaube. Interview mit Andrea Breth. Frankfurter Rundschau, 4./5.5.2005. Müller, Christa: Pressemitteilung. Theaterpreis Berlin 2003 an Bert Neumann. Stiftung Preußische Seehandlung. Berlin, 18.3.2003. Müller, Katrin Bettina: Auf der Suche nach neuen Suchtmitteln Taz, 10.1.2005. Mustroph, Tom: „Neumanns Stadt“. Zitty Berlin 21/02 Oktober 2002. Nioduschewski, Anja: Imitation of life. Theater der Zeit 10/01. Berlin 2001. Oberender, Thomas: Das Drama des Sehens. Dramaturg, 1/2004. Pascaud, Fabienne: Danse avec les rouges. Télérama, mercredi 3 avril 2002. Peters, Nina/Pilz, Dirk: Auf das ihr klug werdet. Interview mit Frank Castorf. Theater der Zeit, Mai 2004. Pollesch, René: Ich schneide schneller. In: Theaterschrift Nr. 3. Grenzverletzungen – Border violations – Violations de frontières – Grensschendingen. Brüssel 1993, S. 66-73. Pollesch, René: Freedom, beauty, truth and love. Das revolutionäre Unternehmen. Beilage Jungle World, März 2003. Pollesch, René: Die eigentlichen Katastrophen. Berliner Zeitung, 4./5.11.2004. Pollesch, René: Was es bedeutet, kein Material zu sein. Im Gespräch mit Jochen Becker, Stefan Lanz und Aenne Quinonis. Programmheft Salzburger Festspiele, Spielzeit 2005/2006, S. 9-18. Rebentisch, Juliane: Übung in Spaltung. Taz, 5.12.2005. Regiebuch zur Produktion Der Marterpfahl (erstellt von Helga Angarano). Regie: Frank Castorf. Choreographie: Meg Stuart. Premiere in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am 5.2.2005 (in Eigenbesitz). Richter, Angela: Bühnenstrahlen. Interview mit Bert Neumann. In: Texte zur Kunst Nr. 56, Dezember 2004. Rebhandl, Bert: Verführer und Sadist. Berliner Zeitung, 30.5.2005.

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INSTITUTION UND UTOPIE

Schäfer, Andreas: Man muss sich immer wieder neu erfinden. Eventpartner Magazin 1/2001. Scharper, Rüdiger: Ja ja ja, nä nä nä. Tagesspiegel, 25.1.2003. Schlingensief, Christoph: Mord auf Raten. Offener Brief an die Fraktion der Grünen im Deutschen Bundestag. Außenminister Joschka Fischer und Innenminister Otto Schily zur Kenntnis. In: Dämonen. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berlin: LSD 1999, S. 144146. Schlingensief, Christoph: Theater Ihres Vertrauens. Theater heute, 1/2003. Schmidt, Christopher: Trauer to go. Süddeutsche Zeitung, 13./14.11. 2004. Schorlemmer, Friedrich: Was für ein Theater damals in Berlin. Freitag, 18.11.2005. Schütt, Hans-Dieter: Paar Sicherungen können da schon durchknallen. Interview mit Frank Castorf. Neues Deutschland, 19./20.3.1994. Seidenfaden, Ingrid: Permanente Revolution ist ein bißchen anstrengend. Abendzeitung, 19.3.1993. Seidler, Ulrich: Der äußere Schweinehund. Berliner Zeitung, 31.3./1.4. 2001. Seidler, Ulrich: Zocken oder spielen. Interview mit Frank Castorf und Johan Simons. Berliner Zeitung, 23./24.10.2004. Seidler, Ulrich: Vorsicht, Stufe! Berliner Zeitung, 13.12.2004. Stadelmaier, Gerhard: Wohin treibt das Theater? Faz, 21.10.2004. Stadelmaier, Gerhard: Dramatische Post. Faz, 25.10.2004. Stadelmaier, Gerhard: Korrumpel und Kurtisane. Faz, 12.11.2004. Stadelmaier, Gerhard: Kitschbombe explodiert! Faz, 13.11.2004. Theater der Zeit 1/1987 Theater der Zeit 2/1987 Theater der Zeit 3/1987 Theater der Zeit 4/1987 Theater der Zeit 5/1987 Theater der Zeit 6/1987 Theater der Zeit 7/1987 Tieringer, Thomas: Die Welt muß neu gestaltet werden. Zum Tod des Regisseurs und Theaterleiters Peter Palitzsch. Süddeutsche Zeitung, 20.12.2004. Umathum, Sandra: Christoph Schlingensief. Regisseur der schnellen Reaktion. In: Theater der Zeit 2003. Arbeitsbuch. Berlin 2003. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hg.): 3 Schwestern. Berlin 1997.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hg.): Dämonen. Berlin: LSD 1998. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hg.): Gespenster. Berlin 1999. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hg.): Gnade. Überschreitung und Zurechtweisung. Berlin: Alexander Verlag 2005. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Hg.): Prärie. Ein Benutzerhandbuch. Berlin: Alexander Verlag 2006. Voss, Christiane: Diesen pubertären Luxus leiste ich mir. Interview mit Christoph Schlingensief. Taz, 7.2.1994. Weber, Martin: Der Pharmazeut des Pop. Interview mit Christoph Schlingensief. WOM Journal, 1/2003. Wengierek, Reinhard: Der letzte Kick. Berliner Morgenpost, 5.3.2005.

Filme Aufzeichnung von „Der Bau“. Regie: Frank Castorf. Aufführung aus dem Jahre 1986 in Karl-Marx-Stadt. Aufzeichnung von „Das trunkene Schiff“. (nach Arthur Rimbaud) Regie: Frank Castorf. Aufführung aus dem Jahre 1989 in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Aufzeichnung von „Sojas Wohnung – Paris, Paris“. (nach Michail Bulgakow) Regie: Frank Castorf. Aufführung aus dem Jahre 1990 im Deutschen Theater Berlin. Aufzeichnung von „Die Räuber“. (nach Friedrich von Schiller) Regie: Frank Castorf. Aufführung aus dem Jahre 1992 in der Berliner Volkbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Aufzeichnung von „Atta-Atta – die Kunst ist ausgebrochen“. Regie: Christoph Schlingensief. Zusammenschnitt mehrerer Aktionen 20032005 in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Gesichtet mit freundlicher Genehmigung von Elke Becker, Intendanzbüro der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Berger, Frank: Spur der Steine. DEFA. DDR 1966. Klein, Gerhard: Berlin Ecke Schönhauser. DEFA. DDR 1956/1957. Plenzdorf, Ulrich: Die Legende von Paul und Paula. DEFA. DDR 1973. Poet, Paul/Schlingensief, Christoph: Ausländer raus! Österreich 2001. Schmidt, Evelyn: Das Fahrrad. DEFA. DDR 1982. Vogel, Frank: Denk bloß nicht, ich heule. DEFA. DDR 1965. Wolf, Konrad: Der nackte Mann auf dem Sportplatz. DEFA. DDR 1974. Wolf, Konrad: Solo Sunny. DEFA. DDR 1980.

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INSTITUTION UND UTOPIE

Zschoche, Herrmann/Plenzdorf, Ulrich: Karla. DEFA. DDR 1965-66/ 1990.

Ar c h i v a l i e n Über den Ausbildungsgang Theaterwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin im Zeitraum 1969-1976: Archiv der HumboldtUniversität zu Berlin. Sektion Ästhetik und Kulturwissenschaften: KUWI 4086 KUWI 4505 KUWI 4558 KUWI 4562 KUWI 4595a KUWI 4605 KUWI 4606 KUWI 4608 Über die Ausbildungsgänge Szenographie/Gebrauchsgrafik/Bildende Kunst/Kunsterziehung an der Kunsthochschule Weißensee Berlin im Zeitraum 1980-1988: Landesarchiv Berlin: C Rep 711 B17 C Rep 711 D9 C Rep 711 D28 C Rep 711 D29 C Rep 711 015 Über die Aufführung von „Der Bau“ nach Heiner Müller (Regie: Frank Castorf) am Theater Karl-Marx-Stadt im Jahre 1986: Archiv der Akademie der Künste Berlin. Heinrich Mann Archiv Nr. 420. Sammlung Inszenierungsdokumentation: D 535a KMST 1986

Tonträger Willemsen, Roger: Das Bühnengespräch mit Ivan Nagel. Live aus dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Hamburg: Hoffmann und Campe Hörbücher 2001.

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LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Von mir geführte und transkribierte Interviews Rüdiger Scharper (Theaterkritiker Berliner Tagesspiegel) am 22.10. 2004. Friedrich Dieckmann (Kritiker und Publizist) am 27.10.2004. Adrienne Goehler (Vorsitzende des Hauptstadtkulturfonds) am 10.11. 2004. Ivan Nagel (Kritiker und Publizist) am 16.12.2004. Barbara Esser (Theaterreferat der Stadt Berlin) am 24.2.2005. Silvia Fehrmann (Presse- und Öffentlichkeitssprecherin der Volksbühne) am 22.4.2005. Bert Neumann (Chefbühnenbildner der Volksbühne) am 19.6.2005. René Pollesch (Spielleiter des Praters der Volksbühne) am 13.7.2005. Bernhard Schütz (Schauspieler im Ensemble der Volksbühne) am 29.10.2005. Gunther Eisermann (Dozent Kunsthochschule Berlin Weißensee/ Bühnenbild) am 8.11.2005. Siegfried Wilzopolski (ehemaliger Dramaturg Frank Castorfs) am 24.1. 2006. Jens Balzer (Musikredakteur Berliner Zeitung) am 10.8.2006.

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Sozialtheorie Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault Dezember 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven November 2007, ca. 160 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich Oktober 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne Oktober 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus Oktober 2007, 432 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung Oktober 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften Oktober 2007, 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 September 2007, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert September 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie September 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen August 2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie August 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien Juli 2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Zizek Mai 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht März 2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman Februar 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität

Juni 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Februar 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

Mai 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Februar 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de