In statu confessionis III: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene 9783767571440

Die Beiträge dieses Bandes sind zwischen 1929 und 1944 entstanden und werden hier zum Teil erstmals veröffentlicht. In i

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In statu confessionis III: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene
 9783767571440

Table of contents :
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Zu diesem Heft
Lumina, non Numina
Erkenntnis und Glaube vor dem Wort der heiligen Schrift
Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche
„… und machet zu Jüngern alle Milieus …“

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Zu diesem Heft Liebe Leserin, lieber Leser, das erste Heft des 37. Jahrgangs von Lutherische Theologie und Kirche knüpft an das letzte an. Dort hatte Johann Anselm Steiger einen Blick auf die Predigttheorie Johann Gerhards geworfen. In diesem Heft nun beleuchtet Benjamin T. G. Mayes die Autorität der Kirchenväter bei dem großen lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts. Oft unbeachtet gibt der Catalogus testimoniorum als „Appendix“ des Konkordienbuches Zeugnis vom ökumenischen und im guten Sinne „katholischen“ Anspruch des lutherischen Bekenntnisses. Mit Zitaten von Augustin, Ambrosius und anderen soll darauf hingewiesen werden, dass die lutherische Kirche nichts anderes lehrt als das, was über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg als „gemein christlich“ gilt. Freilich ist diese Kontinuität niemals völlig ungebrochen zu haben, sondern muss in eigener Zeitgenossenschaft angeeignet und bewährt werden. So weist auch Mayes darauf hin, dass Johann Gerhard seine Studenten stets zu einer wohlwollenden, aber kritischen Lektüre der Kirchenväter anleiten wollte. Ein Prinzip, dem auch heute noch akademische Lehrer der Theologie folgen und das sie ihren Studierenden gern vermitteln möchten, nicht nur im Hinblick auf die Kirchenväter. Und so sind die Theologen früherer Zeiten „helle Lichter“, aber auf keinen Fall von göttlicher Autorität, eben Lumina, non Numina. Wir danken Werner Klän für die Übersetzung des Beitrages aus dem Englischen, sowie Daniel Schmidt für Korrekturen. Aus Skandinavien erreicht uns ein Beitrag des Hermann-SassePreisträgers Bengt Hägglund. Der renommierte Kirchen- und Dogmengeschichtler setzt sich unter dem Titel Erkenntnis und Glaube vor dem Wort der heiligen Schrift mit dem Erkenntnisproblem angesichts neuzeitlicher Denkbewegungen in der Theologie auseinander. Noch einmal kommen dabei Positionierungen in der Theologie des 20. Jahrhunderts kritisch in den Blick. Dass dabei die schwedische Theologie besondere Aufmerksamkeit erhält, stellt für hiesige Leser vielleicht eine willkommene Horizonterweiterung dar. Der Text geht übrigens auf einen Vortrag an der Gemeindefakultät Gotenburg zurück, einer noch jungen Einrichtung, die sich insbesondere der bekenntnisgebundenen lutherischen Theologie verpflichtet weiß. Hans-Jörg Voigt widmet sich sodann einem ganz praktischen Thema aus kirchenleitender Perspektive. Seine Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers in der Selbständigen Evangelisch-Luthe-

2 rischen Kirche stellen vor allem eine Problemanzeige dar; denn sie gehen von der sog. Burnout-Problematik aus. Auch Pfarrer fühlen sich ausgebrannt, sind von Antriebsarmut, Kraftlosigkeit und Depressionen betroffen. Das hängt auch mit dem Selbst- und Fremdbild zusammen, das dieser Berufsstand hat. Die damit zusammenhängenden Faktoren sind im Kontext aller Beteiligten vielleicht zum ersten Mal konsequent in den Blick zu nehmen. So verstehe ich den Beitrag des Bischofs der SELK vor allem als eine Gesprächsanregung und als eine Ermutigung zu kritischen (Selbst-)Reflexion. Zu diesem Thema ist jetzt unbedingt zu vergleichen Sibylle Heicke, Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastung bei Pfarren der Selbständigen Ev.-Luth. Kirche (SELK), Diplomarbeit 2011 [http://www.selk.de/download /Heicke-Burnout.pdf]. Eng mit der Frage nach den Herausforderungen des Pfarramtes ist die nach dem Arbeits- und Lebensumfeld christlicher Gemeinden und ihrer Glieder verknüpft. Dem widmet sich Christoph Barnbrock in seiner Sammelrezension zu Büchern, die sich aus unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven mit den Milieus befassen, denen Kirchen und ihrer Gemeinden gegenüberstehen und in denen Christen ja längst leben. So ist diese Rezension weit mehr als eine Buchschau eine Anregung zum Hinsehen in die eigene Nachbarschaft. Anregend ist auch Stefan Försters Rezension über ein Buch zu Film-Predigten. Schon dies – schreiben über ein Buch, das sich mit Filmen befasst, über die gepredigt wurde – ist eine geradezu postmoderne Medienverschränkung. Filme jedenfalls sind heute vielleicht mehr als Bücher Kultur und Stil bildend. Das Visuelle scheint dem Gehörten immer überlegen. So ist es spannend, nach den Möglichkeiten des Mediums Film im gottesdienstlichen Kontext zu fragen. Ob nun Harry Potter der Auserwählte ist, der als einziger den Bösen besiegen kann, ob im Herrn der Ringe die Rückkehr des (messianischen) Königs erwartet wird, ob Aslan in Narnia ganz unverhohlen eine Christusikone eigner Art darstellt – immer spielt das Religiöse eine Rolle. Heute sind die bunten Bilder aus Hollywood vielfach das, was die Buntglasfenster der mittelalterlichen Kathedralen waren. Diesem zu Unrecht immer noch trivialisierten und banalisierten Genre widmet sich die Theorie der Filmpredigt freilich noch nicht. Es bleibt also noch einiges zu tun. Oberursel, im Mai 2013

Prof. Dr. Achim Behrens

BENJAMIN T. G. MAYES

Lumina, non Numina Die Autorität der Kirchenväter nach dem lutherischen ErzTheologen Johann Gerhard Schon eine oberflächliche Lektüre der Schriften des nachreformatorischen „Erz-Theologen“ Johann Gerhard (1582 bis 1637) belegt die außerordentliche Bedeutung, die die altkirchlichen Väter für seine Theologie haben.1 Ihm wird häufig (freilich unzutreffender Weise!) die Prägung des Begriffs „Patrologie“ zugeschrieben, trägt doch sein postum veröffentlichtes Werk von 1653 den Titel „Patrologie“2; gleichwohl waren schon zuvor Bücher mit diesem Titel veröffentlicht worden.3 Diese Legende verweist allerdings auf eine tiefere Wahrheit: Gerhards Ruhm und seine ausführliche Benutzung der Kirchenväter beschleunigten die Verbreitung und Aufnahme des Begriffs „Patrolo1

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Gerhard wurde schon zu Lebzeiten zum „Erz-Theologen“ stilisiert, nämlich von Matthias Hoë von Hoenegg, s. Erdmann Rudolph Fischer, The Life of John Gerhard, übersetzt von Richard J. Dinda und Elmer Hohle, Malone, TX, 2001, 295. Wir benutzen gewöhnlich die Definition, die Johannes Quasten für den Begriff „frühe Kirchenväter“ eingeführt hat, vgl. ders., Patrology 1, Utrecht 1975, 1. An zahllosen Stellen in seinem Locus von der Kirche zitiert Gerhard nicht weniger als 63 Schriften Augustins; von Luther werde dagegen nur 38 Schriften angeführt. Johann Gerhard, Theological Commonplaces: On the Church, übersetzt von Richard J. Dinda, hg. v. Benjamin T. G. Mayes, St. Louis 2010. Richard A. Muller, After Calvin: Studies in the Development of a Theological Tradition, Oxford 2003, 52; Hubertus R. Drobner, The Fathers of the Church. A Comprehensive Introduction, übs. v. Siegfried S. Schatzmann, Peabody, MA 2007, 5; Quasten, Patrology 1 (wie Anm. 1), 1. Vgl. Andreas Merkt (ders., Das patristische Prinzip. Eine Studie zur theologischen Bedeutung der Kirchenväter, Leiden 2001, 147), der die These, dieser Begriff gehe auf Gerhard zurück, qualifiziert. Gerhard, Patrologia sive De Primitivae Ecclesiae Christianae Doctorum Vita ac Lucubrationibus Opusculum posthumum, hg. v. Johann Ernst Gerhard, Jena 1653. Raphael Custos, Πατρολογια, id est Descriptio S. Patrum Graecorum & Latinorum, qui in Augustana Bibliotheca visuntur, Augsburg 1624; Caspar Heunisch, Patrologia Excertis fundamentis Historicis atque Chronologicis accurate deducta, Rotenburg & Leipzig 1639.

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gie“ als Fachausdruck für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Kirchenvätern. Gerhard war jedenfalls ein herausragender Patristiker. Desgleichen endete das Interesse evangelischer Theologie an den Kirchenvätern nicht mit der Reformation. Das ganze 17. Jahrhundert hindurch stand die Erforschung der Kirchenväter und die Publikation ihrer Schriften in Blüte.4 Das reiche Vorkommen der Kirchenväter besonders in Gerhards Schrifttum allerdings wirft die Frage auf: Welche Autorität hatten die frühen Kirchenväter in Gerhards theologischem Werk? Und wie verhält sich die Bezugnahme auf die Kirchenväter überhaupt zu der evangelischen Betonung des „sola scriptura“? Schließlich: Wie sind die Kirchenväter zu bewerten und wie ist mit ihnen umzugehen? Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war es vorherrschende Überzeugung unter den Forschern, dass die Reformation zwei unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zwischen der Schriftautorität und der Autorität der Kirchenväter vorgenommen habe: Biblizismus (vertreten von Luther) und Traditionalismus (vertreten von Philipp Melanchthon).5 Doch Peter Fraenkels Untersuchung über Melanchthon und die Kirchenväter veränderte diese sehr allgemeine Sichtweise, indem Luther und Melanchthon nun ganz auf dieselbe Seite zu stehen kamen.6 Seitdem geht bei Studien zu diesem Komplex die Tendenz dahin, die Reformatoren weithin als Vertreter der4

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Archer Taylor/Frederic John Mosher, The Bibliographical History of Anonyma and Pseudonyma, Chicago 1951, 50; Bengt Hägglund, Das Verständnis der altkirchlichen Tradition in der lutherischen Theologie der Reformationszeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, in: Chemnitz/Gerhard/Arndt/Rudbeckus, Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie, hg. v. Alexander Bitzel/Johann Anselm Steiger, Waltrop 2003, 15-53, hier: 52; Jean-Louis Quantin, Un manuel anti-patristique. Contexte et signification du ,Traité de l’emploi des saints Pères‘ de Jean Daillé (1632), in: Die Patristik in der frühen Neuzeit. Die Relektüre der Kirchenväter in den Wissenschaften des 15. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. Günter Frank u.a., Stuttgart u.a. 2006, 299-325. Otto Ritschl, Dogmengeschichte des Protestantismus: Grundlagen und Grundzüge der theologischen Gedanken- und Lehrbildung in den protestantischen Kirchen 1, Prolegomena. Biblicismus und Traditionalismus in der altprotestantischen Theologie, Leipzig 1908, 400. Peter Fraenkel, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon, Genf 1961; s. auch Hägglund, Verständnis (wie Anm. 4), 23-31.

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selben Auffassung zu sehen: Die Schrift allein ist die offizielle Norm in Glaubensdingen, während die Kirchenväter als sekundäre Quelle herangezogen werden.7 Diese Sichtweise betont tendenziell, dass die Autorität der Kirchenväter für die evangelischen Theologen des 16. Jahrhunderts von geringerem Rang ist. Diese neuere, einheitlich Sicht darf freilich nicht die Bandbreite an Einstellungen verdecken, die unter den Lutheranern der Reformations- und Nachreformationszeit vorhanden war. Ein einschlägiges Beispiel: Johann Gerhard wird normalerweise als einer angesehen, der für die theologische Arbeit strikt am „Sola Scriptura“ festhält, dabei aber von den Kirchenvätern als Quelle für seine Polemik ausgiebig Gebrauch macht.8 So richtig diese Beobachtung auch ist, deckt sie doch nicht alles ab, was Gerhard über die Autorität der Kirchenväter zu sagen hat. Eine Untersuchung seiner „Methodus Studii Theologici“ von 1617,9 die ein ausführliches Kapitel über den Gebrauch der Kirchenväter enthält, weist einige positive Zugangsweisen zur Autorität der Kirchenväter auf, die nicht mit den herr7

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Z. B. Scott H. Hendrix, Deparentifying the Fathers, in: Auctoritas Patrum. Contributions on the reception of the Church Fathers in the 15th and 16th centuries, hg. v. Leif Grane u.a., Mainz 1993, 55-68. S. auch die zahlreichen Studien in Silke-Petra Bergjan/Karla Pollmann (Hg.), Patristic Tradition and Intellectual Paradigms in the 17th Century (Tübingen 2010); Grane u.a., Auctoritas Patrum II: New Contributions on the reception of the Church Fathers in the 15th and 16th centuries, Mainz 1998; Frank, Patristik (wie Anm. 4); Irena Backus, Historical Method and Confessional Identity in the Era of the Reformation (1378-1615), Leiden 2003; dies. (Hg.), The Reception of the Church Fathers in the West. From the Carolingians to the Maurists, 2 Bde., Leiden 1997, ein Werk, das bedauerlicherweise die meisten lutherischen Theologen übersieht; Merkt, Prinzip (wie Anm. 2). Johann Anselm Steiger, Johann Gerhards Tractatus de legitima Scripturae Sacrae interpretatione und die patristische Tradition, in: Patristic Tradition, hg. v. Bergjan/Pollmann (wie Anm. 7), 59-71; Hägglund, Verständnis (wie Anm. 4), 49; ders., Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie Johann Gerhards: Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis, Lund 1951, 175; Ritschl, Dogmengeschichte (wie Anm. 5), 1, 400-402. Gerhard, Methodus Studii Theologici. Publicis, praelectionibus in Academia Jenensi Anno 1617 exposita (Jena 1620); Marcel Niedens, Theologie – Rechtfertigung des Theologen? Anmerkungen zur ‚Methodus studii theologici‘ Johann Gerhards von 1620, in: Zur Rechtfertigungslehre in der Lutherischen Orthodoxie, hg. v. Udo Sträter/Kenneth G. Appold, Leipzig 2003, 55-69, befasst sich nicht mit Gerhards Programm zur Lektüre der Kirchenväter.

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schenden Denkmustern in Übereinstimmung zu bringen sind. Auch wenn Gerhard den Kirchenvätern keine göttliche Autorität zumisst, erkennt er doch an, dass sie eine gewisse positive Autorität bei denen haben und behalten, die sich als ihre Erben verstehen. Sie sind „lumina, non numina“ („Leuchten, nicht Gottheiten“).

Wie die Kirchenväter zu lesen sind Kurz nachdem er im Jahr 1617 Professor der Theologie an der Universität zu Jena geworden war, veröffentlichte Gerhard ein vollständiges Studienprogramm für Studenten der Theologie, die „Methodus Studii Theologici“.10 Gerhard setzte voraus, dass die Studienanfänger die nötigen Kenntnisse in Latein, Griechisch, Hebräisch und Philosophie (evtl. auch Syrisch und Aramäisch) bereits mitbrächten.11 Danach sah Gerhard ein fünfjähriges Theologiestudium vor. Die ersten beiden Jahre waren dem Studium der Heiligen Schrift, der loci communes (Dogmatik) und der Teilnahme an Disputationen gewidmet.12 Im dritten Jahr war die Auseinandersetzung mit der römischkatholischen Theologie vorgesehen. Das vierte Jahr war für die Auseinandersetzung mit den Calvinisten und Photinianern (d.h. Unitariern) und für Homiletik bestimmt.13 Für das letzte Studienjahr schließlich entwarf Gerhard ein Programm der Lektüre kirchengeschichtlicher Texte im Allgemeinen und von Lutherschriften, der frühen Kirchenväter und der Scholastiker im Besonderen.14

10 Zu ähnlichen Studienprogrammen aus der Feder von Wittenberger Theologen vgl. Nieden, Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung, Tübingen 2006. 11 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 38–138. 12 Zur Übung der Disputation in der theologischen Ausbildung bei den Lutheranern vgl. Kenneth G. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710, Tübingen 2004. 13 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 138–236. 14 A.a.O., 236–321; eben diese vier Gruppen historisch-theologischer Schriften wurden von Johann Förster empfohlen, vgl. Nieden, Erfindung (wie Anm. 10), 170, 235 und Backus, Historical Method (wie Anm. 7), 270–275 für andere Programme zur Lektüre der Kirchenväter.

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Gerhards Abschnitt über Luther ist verhältnismäßig kurz, nur drei ganze Seiten, wohingegen der Abschnitt über die frühen Kirchenväter ziemlich lang ist, insgesamt 54 Seiten. (Der Abschnitt über die Scholastiker kommt auf 23 Seiten.)15 Gerhard stellt seine Anleitungen zur Lektüre der Väter in vier Teilen (membra) vor.

Erster Teil: Kritische Betrachtung der Kirchenväter Im ersten Teil unterstreicht Gerhard, dass die Kirchenväter nicht maßstäblich sind für das, was als Wahrheit in der Kirche Geltung hat. D.h., die Schrift allein ist Maßstab und Wahrheitsregel in Glaubensangelegenheiten, nicht aber die Schriften der Kirchenväter. Diese Beurteilung des Verhältnisses zwischen Schriftautorität und Kirchenvätern beruht auf der Lehre, dass die Schrift in sich vollkommen und klar ist. Der Heilige Geist messe den Ehrentitel „Maßstab und Richter“ allein der Schrift zu; Gott rufe sein Volk zurück, und zwar zu seinem Wort allein; Christus und die Apostel berufen sich einzig und allein auf die Schrift. Andererseits bestreiten die Kirchenväter selbst, dass ihre Schriften der kanonischen Schrift gleichrangig seien; sie verweisen uns an die Schrift als den einzigen Maßstab und gestatten es allen Lesern, ihre Schriften auf dieser Grundlage zu beurteilen.16 Der Maßstab in Glaubensangelegenheiten, so Gerhard, 15 Bei der Besprechung von Luther (Methodus, 241–244) leitet Gerhard die Studenten an, nicht mit dem jungen Luther zu beginnen – dem im 20. und 21. Jahrhundert so viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde –, sondern die deutschen Schriften seit dem Reichstag zu Augsburg und der Confessio Augustana (1530) bis zu seinem Tod zu studieren. Erst dann sollten sie sich den früheren Schriften zuwenden. Derselbe Zugang kann in der Behandlung seiner lateinischen Schriften beobachtet werden; die Studenten sollten mit der Genesisvorlesung (1535– 1545) beginnen und erst danach die anderen lateinischen Schriften Luthers zur Kenntnis nehmen. Das Kapitel über die Lektüre der Scholastiker (a.a.O., 298– 320) ist zum großen Teil eine Bewertung ihrer Irrtümer. Die Scholastiker können in der Polemik Verwendung finden, da viele Argumente gegen die zeitgenössischen römisch-katholischen Lehren in ihnen zu finden sind. Die Studenten werden angehalten, nur die Sentenzen des Petrus Lombardus, die Summa Theologica des Thomas von Aquin und die Sentenzenkommentare von Bonaventura und Gabriel Biel zu lesen. 16 Hier verweist Gerhard seine Leser auf seinen Locus über die Kirche (de ecclesia), s. Methodus (wie Anm. 9), 1022; dem entspricht Theological Commonplaces (Loci communes), On the church (de ecclesia), §204,411 in der Concordia-Ausgabe.

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muss „in sich selbst glaubwürdig“ (αὐτόπιστος) sein, dauerhaft, unveränderlich, irrtumslos und in sich stimmig (ἀκλινής). Die Heilige Schrift habe all diese Eigenschaften, die Schriften der Kirchenväter nicht. Gerhard untermauert jeden dieser Punkte mit reichhaltigen Zitaten der Kirchenväter selbst.17 Dieser erste Teil stellt also eine kritische Betrachtung der Kirchenväter dar, indem festgestellt wird, was sie nicht sind, verbunden mit der Anschauung, dass ihre Autorität der Schrift nachgeordnet ist.

Zweiter Teil: Würdigung der Kirchenväter Der zweite Teil bietet eine positive Würdigung der Kirchenväter; dabei stellt Gerhard heraus, auf welche Weise sie nützlich und förderlich für lutherische Theologie sein können. Dieser Teil beginnt mit der Feststellung, dass sie nicht aus der theologischen Arbeit der Kirche verdrängt werden sollen, auch wenn ihre Autorität derjenigen der Heiligen Schrift nicht gleich zu achten ist.18 Gerhard untertreibt normalerweise in seiner Argumentation. Was er hier herausarbeiten will ist ihr tatsächlicher, großer Wert, und dass es einen großen Verlust für die Kirche bedeuten würde, sie zu übergehen. Er besteht darauf, dass sie tatsächlich eine gewisse, wenn auch nicht göttliche Autorität habe.19 So schreibt er: „Es ist nicht so, dass, wenn ihnen göttliche Autorität abgesprochen wird, den Schriften der Kirchenväter gar keine Autorität geschuldet würde. Sie sind nicht Richter des Glaubens, aber sie sind Zeugen und Lehrer. Sie sind nicht Gottheiten, aber helle Lichter [Non sunt Numina, praeclara tamen lumina] …“20 Anschließend teilt er die patristischen Schriften in drei allgemeine Kategorien ein: exegetische, beweisführende (elenctica) und verkündigende (demegorica) Schriften.

Patristische Exegese Darüber lehrt Gerhard, dass die exegetischen Schriften der Kirchenväter hilfreich für uns sein können, wenn sie in folgender Weise genutzt werden: Erstens: der wahre und eigentliche Sinn eines bibli17 18 19 20

Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 244–252. A.a.O., 255. A.a.O., 256. Ebd. Alle Übersetzungen im Englischen vom Verfasser; hier ins Deutsche übersetzt.

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schen Textes müsse aus dem Aussageziel (Scopus) des Textes, seinem Zusammenhang, den Ursprachen und der analogia fidei usw. erhoben werden.21 Erst dann dürfen die damit übereinstimmenden Auslegungen der Kirchenväter herangezogen werden, um zu zeigen, dass unsere Auslegung nicht neu ist. Manchmal liefern uns die Schriften der Kirchenväter auch eine Bedeutung der Schriftstelle, die wir mit eigenem Bemühen nicht gefunden hätten. Philipp Melanchthon beschreibt diese Vorgehensweise mit Bezug auf Richter 14,18: „Wenn ihr nicht mit meinem Kalb gepflügt hättet, so hättet ihr mein Rätsel nicht getroffen.“22 An dieser Stelle gibt Gerhard Gründe an, weshalb die Studenten die Auslegungen der Kirchenväter zur Kenntnis nehmen sollten. Wenn Gott Mose durch den Midianiter Jethro ermahnen wollte, dann sollte es uns umso mehr gestattet sein, von den Schriften so vieler herausragender Männer zu lernen.23 Zudem: „Wenn auch die Auslegungen der Alten nicht als ‚maßgebend‘ anzusehen sind oder den kanonischen Schriften gleich geachtet werden dürfen, so sollten doch ihre Anstrengungen gewürdigt und mit dankbarem und frommem Sinn bekannt gemacht werden, waren sie doch besondere Werkzeuge des Heiligen Geistes und widmeten ihren ganzen Einsatz der Kirche, die seinerzeit zu Christus gesammelt war“.24 (In Bezug auf die Annahme, dass die Kirchenväter „besondere Werkzeuge des Heiligen Geistes seien, zitiert Gerhard I Thess 5,19–21.) Wiederum, argumentiert Gerhard, wenn wir die exegetischen Schriften jüngerer Autoren benutzen und davon Nutzen haben, dann sollten wir sicherlich nicht die exegetischen Schriften der Alten verwerfen.25 Und „es ist allerdings wahr, dass die meisten von ihnen die heilige Sprache (Hebräisch) nicht beherrschten und demzufolge in der Auslegung der Heiligen Schrift manchmal stolpern und vom eigentlichen und echten Sinn des Abschnitts abweichen, und doch gilt von sehr vielen, dass ‚sie recht handelten nach der Wahrheit‘ (Gal 2,14) und den rechten Weg wandelten.“26 Zusammenfassend sagt Gerhard über die 21 Hägglund, Glaubensregel und Tradition bei Martin Chemnitz, in: Chemnitz u.a., Aufsätze (wie Anm. 4), 55–64. 22 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 257–258; zu Melanchthons Verwendung von Jdc 14,18 vgl. Fraenkel, Testimonia Patrum (wie Anm. 6), 234–238. 23 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 258. 24 Ebd. 25 A.a.O., 258–259. 26 A.a.O., 259.

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patristische Exegese: „Deshalb sollten wir denken, dass Gott die Schriften des reineren Altertums nicht vergeblich bewahrt hat, sondern vielmehr, dass sie eine Hilfe seien, um die Aussagen der Schrift zu untersuchen und dass, wenn die wahre Bedeutung aus der Schrift erhoben worden ist, der Geist der Frommen noch mehr gestärkt werde.“27 So hebt Gerhard in diesem Abschnitt noch einmal hervor, dass die Autorität der Kirchenväter derjenigen der Schrift nachgeordnet ist; zugleich betont er aber hier nicht bloß ihren Nutzen als exegetische Quelle, sondern schreibt ihnen ein gewisses Maß an Autorität zu und verpflichtet die Studenten, sich mit ihnen vertraut zu machen und von ihnen zu lernen.

Patristische Kontroversliteratur und katechetisches Schrifttum Die nächste Kategorie von Kirchenväterschriften, die beweisführenden, enthält auch katechetische Werke.28 Dieser Abschnitt ist beachtenswert, weil Gerhard hier die die „Übereinstimmung der Alten Kirche“ („consensus antiquitatis“) erörtert; diesen scheint er als Übereinstimmung der evangelisch-lutherischen Lehre mit der Alten Kirche zu verstehen. Es geht ihm nicht nur darum, die Übereinstimmung mit der Schrift (also der weitaus älteren Propheten und Apostel) einzufordern, sondern um Übereinstimmung mit einigen, wenn nicht der Mehrzahl der Kirchenväter, die nach der Zeit der Apostel lebten. Dabei nimmt er nicht an, dass es so etwas wie eine vollständige Einmütigkeit und Übereinstimmung unter allen Christen in der Alten Kirche gab; doch indem die „Übereinstimmung der Alten Kirche“29 dazu dient, neue Lehren auszuschließen, muss man in den Schriften der Kirchenväter nichtsdestoweniger richtig und falsch unterscheiden.30 Gerhard schreibt, dass „katechetische Schriften“ („didactica“) solche seien, in denen die Kirchenväter „die Artikel des Glaubens“ erläutern und bekräftigen und uns die fortwährende Übereinstimmung der katholischen Kirche in den Grundartikeln belegen. Weiterhin begrenzt er die Autorität der Kirchenväter und rühmt sie zugleich: „Wir behaupten nicht, wie die Papisten, das die Schriften der Kirchenväter der Maßstab der Wahrheit in Glaubensangelegen27 Ebd. 28 Ebd. 29 Der lateinische Ausdruck umfasst beides, den Konsens in der Alten Kirche selbst und die Übereinstimmung mit ihr. 30 Ebd.

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heiten seien. Doch ist es nicht gering zu schätzen, dass wir mit dem christlichen Altertum übereinstimmen; denn was kann für einen frommen Sinn erfreulicher sein als auf die nahe Verwandtschaft in der Lehre zu schauen, die unsere Kirchen mit der Alten Kirche teilen, wie Tertullian (de praescript.) diese Übereinstimmung nennt?“31 Daher, so Gerhard, ist es, wenn die Papisten uns der Neuheit unserer Lehre bezichtigen, nicht nur angebracht, auf „den, der uralt war“ (Dan 7,13) zu verweisen und die viel älteren Schriften der Propheten und Apostel, vielmehr ist es auch angemessen, die Übereinstimmung unserer Lehre mit der der altkirchlichen Väter aufzuzeigen, besonders derer, die der Zeit der Apostel am nächsten waren. Unsere Kirche, so Gerhard, hat das immer getan. Gerhard stützt seine Gründe mit Belegen aus Augustin und vielen andern Kirchenvätern.32 Diese doppelte Zugangsweise zu den Kirchenvätern – manchmal kritisch, indem ihre Autorität bestritten wird, manchmal aber auch positiv, in dem ihre Autorität und Unterstützung in Anspruch genommen wird – ist nach Gerhard in der Heiligen Schrift selbst zu finden: „Daher, wenn die Zeugnisse der Kirchenväter mit den Aussagen der Schrift übereinstimmen, greift diese Ermahnung Platz: ‚Gedenke der vorigen Zeiten (…) Frage deinen Vater, der wird dir’s verkünden, deine Ältesten, die werden dir’s sagen“ (Dtn 32,7). „Verrücke nicht die uralten Grenzen, die deine Väter gemacht haben“ (Spr 22 [28]). „Lass dich nicht klüger dünken als die Alten, denn sie haben es auch von ihren Vätern gelernt. Denn von ihnen kannst du lernen“ (Sirach 8 [11.12a]). „So spricht der Herr: Tretet hin an die Wege und schaut und fragt nach den Wegen der Vorzeit, welches der gute Weg sei; und wandelt darin, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele“ (Jer 6,16).33

Aber wenn die Kirchenväter vom Weg der Schrift abweichen, dann gilt Hes 20,18f.; Mt 23,9f. und I Kor 7,23. Gerhard führt Athanasius (De sent. Dionysii) an, der gegen die Arianer schrieb: „Da sie sehen, dass sie für ihre Häresie nichts aus der Schrift anführen können, so wenden sie sich den Kirchenvätern zu, wie Plünderer. Weil sie Schlechtes über ihr Bestreben hören, bilden sie sich ein, aufrechte und bescheidene Mitstreiter zu haben, ganz wie die Juden, die Zuflucht zu ihrem Vater Abraham nehmen, wenn sie mit der Schrift 31 A.a.O., 259–260. 32 A.a.O., 260. 33 A.a.O., 261–263.

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überwunden werden.“34 Nicht nur Gerhard mindert die Autorität der Kirchenväter; das tun seine römisch-katholischen Gegner auch, wenn sie die Autorität der Kirchenväter derjenigen des Papstes unterordnen, wie die Expurgatorii indices belegen.35 Aber was er in diesem Abschnitt betont, sind der Nutzen und die Autorität der Kirchenväter, die der Schrift allerdings nachgeordnet bleiben. Ein weiterer Grund, die Kirchenväter zur Kenntnis zu nehmen, verfolgt einen polemischen Zweck, nämlich die Phasen zu erkennen, in deren Verlauf der Bischof von Rom die Gestalt antichristischer Tyrannei annahm.36 Schließlich kommt Gerhard mit einem langen Zitat aus Aegidius Hunnius, dessen Werke er gründlich studiert hatte,37 auf die Auffassung zurück, dass alle Grundartikel lutherischer Lehre schon bei den Kirchenvätern zu finden sind, und daher die Schriften der Kirchenväter dazu gebraucht werden können, neue und also falsche Lehren zu bestimmen. Er schreibt: „Als Folgerung über die Untersuchung der Übereinstimmung mit der Alten Kirche in Glaubensartikeln gebe ich diese Passage aus Dr. Aegidius Hunnius in seinen Quaest. & respons. De paedest., Bd. 1 der Werke, Kolumne 901.“38 Dann folgt das Zitat: 34 A.a.O., 263. 35 Ebd., mit Bezugnahme auf Werke wie Index Expvrgatorivs Librorvm Qvi Hoc Saecvlo Prodiervnt, vel doctrinae non sanae erroribus inspersis, vel inutilis & offensivae maledicentiae fellibus permixtis, iuxta sacri Concilij Tridentini decretum, Straßburg 1599; Index librorvm prohibitorvm, Bologna 1564; sowie Index expurgatorius librorum qui hoc saeculo prodierunt vel doctrinae non sanae erroribus inspersis, vel inutilis et offensivae maledicentia fellibus permixtis, juxta sacri Concilii Tridenti decretum Philippi II Regis … jussu … atque Albani Ducis consilio … in Belgia concinnatur anno MDLXXI: Acc. Excerpta ex indice librorum expurgatorum, qui in indice hoc Belgico desiderabantur; Ex Jndice Hispanico … Gasparis Quiroga … jussu edito; Juxta Exemplar quod typis mandatum Madriti 1584, Straßburg 1609. 36 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 264. 37 Steiger, Johann Gerhards Bibliothek – ein neuer Fund, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005), 243–246. 38 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 265; mit Bezug auf Aegidius Hunnius, Articvlvs De Providentia Dei; Et Aeterna Praedestinatione Sev Electione filiorum Dei ad salutem. Per Qvaestiones Et Responsiones … pertractatus. Refvtatvr … dogma Caluinisticum, praesertim D. Danielis Tossani Theses de Pelagianismo … Cvi … Adiecta est Epistola Rostochiensium, ad Theologos Vitebergenses exarata;

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„Ich leugne nicht, dass die Kirchenväter oder kirchlichen Schriftsteller auf unterschiedliche Weise über unterschiedliche Artikel geschrieben haben. Doch es ist gewiss, dass, wenn es darum geht, alle Glaubensartikel der christlichen Religion zu bekräftigen, einige klare Stellungnahmen und Zeugnisse aus ihrem Schriftgut angeführt werden können. Sollte nun das Dogma (der Huberianer von der universalen Erwählung)39 tatsächlich in der Heiligen Schrift offenbart sein, wie kommt es dann, dass so viele Jahrhunderte, ja die gesamte Geschichte der Christenheit hindurch nichts davon überliefert wurde? Wir wissen, dass die Kirchenväter oder kirchlichen Schriftsteller ihre Mängel und Irrtümer in verschiedenen Artikeln haben, doch dies bleibt fest und gewiss: Kein Artikel in der gesamten Theologie kann nachgewiesen werden, von dem nicht ausdrückliche Zeugnisse in diesem gelehrten Altertum zu finden wären – wenn nicht bei einem Kirchenvater , dann doch bei einem anderen, wenn nicht bei allen, so doch bei manchen –, noch ist ein Fall gegeben, der dieser Versicherung widerspräche oder sie schwächte.“40

Mit seiner vorbehaltlosen Zustimmung zu dem Zitat aus Hunnius beweist Gerhard seine Billigung für diesen Zugang zu und Umgang mit der Autorität der Kirchenväter; deren Zeugnis spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, neue, unerhörte Lehren auszuschließen. Wenn die Kirchenväter sie nicht lehrten, ist eine solche Lehre falsch; das bedeutet umgekehrt nicht, dass alles, was sie lehrten, richtig ist. Dieser Zugang, den man „praescriptio novitatis“41 oder „Argument aus dem Schweigen der Kirchenväter zur Abweisung neuer Lehren“, nennen könnte, wird tatsächlich von Gerhard in polemischem Zusammenhang gebraucht, um römisch-katholische Lehren abzuweisen.42 Allerdings habe ich in seinen Loci Theologici bisher nur Stellen gefunden, an denen er dieses Argument in polemischem Zusammenhang gegen römisch-katholische Theologen an-

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ad retundendam D. Samuelis Huberi de suo cum Rostochiensibus consensu extremae vanitatis iactantiam (Frankfurt a.M. 1596), wie auch zu finden in Tomvs Primus Opervm Latinorvm, Wittenberg 1607, 901. Vgl. Gottfried Adam, Der Streit um die Prädestination im ausgehenden 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung zu den Entwürfen von Samuel Huber und Aegidius Hunnius, Neukirchen-Vluyn 1970. Gerhard, Methodus, 265–266, Zitat aus Hunnius, Articvlvs (wie Anm. 38). Fraenkel, Testimonia Patrum (wie Anm. 6), 281–282. Gerhard, Loci (wie Anm. 16; Art. De ecclesia, §205–206), 414–423.

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führt, wenn diese den Kirchenvätern aus seiner Sicht ein Zuviel an Autorität zuschrieben. Demnach erhält dieses Argument vor allem auf der Grundlage von Grundannahmen, die seine Gegnern machen, sein Gewicht. Aber wirkt es auch außerhalb dieses Zusammenhangs? Das „Argument aus dem Schweigen der Kirchenväter“ kann nur durchschlagkräftig sein, wenn man annimmt, dass in den überlieferten Schriften der Kirchenväter wirklich jede in der Schrift (d.h. von Gott) offenbarte Lehre erörtert würde. Man müsste folglich so etwas wie eine Lehre von der Suffizienz der Kirchenväter annehmen. Gerhard jedenfalls glaubt daran nicht.43 Wenn er gegen seine römisch-katholischen Gegenspieler das Argument vom „Schweigen der Väter“ ins Feld führt, betont er immer ausdrücklich, dass Richter und Maßstab der Wahrheit nicht die Väter sind, sondern die Heilige Schrift allein.44 Allerdings macht er von diesem Argument im Regelfall keinen Gebrauch. Vielmehr erhebt er den Anspruch, dass seine eigene Lehre sich in Übereinstimmung mit der der frühen Kirchenväter befinde. In seinem Locus „Über die Kirche“, der zu derselben Zeit verfasst wurde wie die Methodus, behauptet er, dass alle lutherischen Lehren durch die Alte Kirche bestätigt werden: „Sind die Evangelischen Kirchen mit der Alten Kirche, die der Zeit der Apostel am nächsten steht, verbunden durch eine Verwandtschaft in der Lehre? Wir behaupten das unentwegt und beweisen diese Lehrübereinstimmung in den jeweiligen Auseinandersetzungen.“45

Patristische Verkündigung Gerhards dritte Kategorie patristischer Literatur nennt er „verkündigende“ (demegorica); diese unterteilt er wiederum in „ermahnende“ (παραινετικά), „tröstende“ (παραμυθητικά) und „lehrende“ (νουθετικά) Aspekte. Die Studenten sollten die Kirchenväter lesen und Exzerpte von Abschnitten anlegen, die diese praktischen Themen berühren. Gerhard legt ein deutliches Interesse an praktischer 43 Vgl. Gerhard, Tractatus De Legitima Scripturae Sacrae Interpretatione (1610) Lateinisch-deutsch, hg. v. Anselm Steiger/Vanessa von der Lieth, Stuttgart-Bad Canstatt 2007 (§90, 92), 142, 146; Theological Commonplaces: On the Church (wie Anm. 1; §203 Punkt 5 und 6), 410; a.a.O., On the Nature of Theology and on Scripture (§463 Punkt 4), 419. 44 Z.B. a.a.O., On the Church, 415, 417. 45 Z.B a.a.O., (§207), 423.

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Frömmigkeit an den Tag, wenn er schreibt: „Ich denke, es besteht kein Streit darüber, dass in der Kirche der frühen Zeit, die der Zeit der Apostel am nächsten war, mehr Frömmigkeit, Gewissenhaftigkeit und Eifer vorhanden waren als in dem erschöpften und erkalteten Alter dieser letzten Zeit.46

Dritter und vierter Teil: Anweisungen für die Lektüre der Kirchenväter Der dritte Teil dieser Abteilung der Methodus enthält allgemeine Anweisungen zur Lektüre der Kirchenväter; der vierte Teil hingegen enthält besondere Anweisungen. Fast alle diese Anweisungen leiten die Studenten an, die Kirchenväter kritisch zu lesen; denn nur so werde ihre Lektüre „fruchtbar“ sein.47 Im dritten Teil legt Gerhard folgende Regeln fest: 1. Gemäß den Vorgaben der heiligen Schrift sind die Kirchenväter einer kritischen Beurteilung zuzuführen (I Thess. 5,21). 2. Ein Abriss wahrer Lehre sollte als Leitlinie im Voraus bedacht sein. Aus diesem Grund wurden die patristischen Studien auf das fünfte Studienjahr verlegt.48 3. Die echten Schriften der Kirchenväter sind von den verderbten und/oder gefälschten zu unterscheiden. Hier liefert Gerhard eine längere Erörterung über wissenschaftliche Kriterien zur Unterscheidung pseudepigraphischer von echten Texten.49 Die Ergebnisse seiner lebenslangen Beschäftigung mit diesem Bereich wurden postum unter dem Titel „Patrologia“ veröffentlicht.50 4. Philosophische Schriften sind von theologischen zu unterscheiden. An dieser Stelle stellt Gerhard eine Liste von Irrtümern zusammen, die durch die Anwendung platonischer oder aristotelischer Philosophie auf die Theologie zustande kommen.51 46 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 266. Zu Gerhards Betonung der Frömmigkeit in der Methodus vgl. Nieden, Theologie (wie Anm. 9). 47 A.a.O., 266. 48 A.a.O., 138–139. 49 A.a.O., 268–277. 50 Gerhard, Patrologia (wie Anm. 2). 51 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 277. Gerhard erörtert auch die Einführung heidnischer Rituale in die Kirche; gleiche Erwägungen finden sich in ders., Theological Commonplaces: On the Church (wie Anm. 1; §227–228), 451–457.

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5. Auch wenn die frühen Väter einigen irrigen Anschauungen anhängen, sind sie jedenfalls den späteren vorzuziehen. Je weiter er sich von der Zeit der Apostel entfernt, desto mehr Verunreinigungen finden sich im Strom der Tradition. In diesem Zusammenhang erörtert Gerhard unterschiedliche Ansichten über die Frage, wann die patristische Ära ende. Einige nehmen dafür die Zeit Gregors des Großen, also etwa das Jahr 600 an (denn damals wurde der antichristische römische Ponifex durch Phokas geweiht, wie Gerhard sagt). Einige weiten die patristische Epoche bis zum Jahr 1000 aus, dem Beginn der Herrschaft scholastischer Theologie in der Kirche. Wenn aber die Abgrenzung von der vollständigen Lehrreinheit abhängt, so Gerhard, dann endete diese Ära bald nach der Zeit der Apostel. Statt eine solche Abgrenzung vorzunehmen, unterscheidet Gerhard lieber drei Gruppen von Kirchenvätern (mit diesem Titel, um sie von den Scholastikern zu unterscheiden). Die erste Gruppe umfasst die nachapostolischen Väter bis zum Konzil von Nicäa (325). Die zweite Gruppe reicht von Nicäa bis zum Konzil von Konstantinopel (681). Die dritte Gruppe rechnet von da ab bis zum Jahr 1172, der Zeit von Petrus Lombardus, dem „Magister Sententiarum“. Gerhard stellt, bevor er fortfährt, für jedes Jahrhundert, vom ersten bis zum zwölften, eine Liste kirchlicher Schriftsteller zusammen und versieht seine Studenten so mit den Anfangsgründen einer Patrologie, hier innerhalb des Rahmens seiner Methodus.52 6. In welcher Reihenfolge sollen die Studenten die Kirchenväter studieren? Wie immer, stellt Gerhard zunächst die Meinung anderer zusammen: zuerst eine chronologische Reihenfolge, oder der Vorzug wird Ambrosius bzw. Augustin gegeben. Dann kommt Gerhard auf seinen eigenen Vorschlag (in aller Bescheidenheit auch als die Meinung „anderer“ ausgegeben): „Andere schlagen eine andere Reihenfolge der Kirchenväterlektüre vor. Es scheint äußerst angemessen, im fünften Studienjahr sich den Briefen von Ignatius zuzuwenden, die Apologien Justins und seinen Dialog mit Tryphon, Irenäus‘ Adversus haereses, Tertullians Apologie, De praescriptione haereticorum, Die Auferstehung des Fleisches und Contra Marcionem, Cyprians Briefe, die Predigten Gregors von Nazianz, Cyrills (von Jerusalem) katechetische Schriften, die didaktischen und polemischen Schriften Augustins in den Bänden drei bis sieben,53 52 A.a.O., 277–283. 53 Eine vollständige Zusammenstellung aller einzelnen Titel findet sich bei Ge-

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Damascenus‘ De fide orthodoxa, usw. Danach, wenn jemand Zeit und Lust hat (scheint es angemessen,) in der zeitlichen Reihenfolge den anderen Autoren Aufmerksamkeit zu schenken, ausgenommen einzig Bernhard (von Clairvaux), dem nach Augustin vor allen anderen der Vorzug gegeben werde – wie Augustin nach den Aposteln.“54

Die außerordentliche Bedeutung Augustin wird hieraus unmittelbar ersichtig, verbunden mit der Auffassung, dass Bernhard gleich an zweiter Stelle kommt. Im Blick auf Bernhard ist das eine bemerkenswerte Sicht, da Gerhard in seinen Loci Theologici andere Kirchenväter, wie Johannes Chrysostomus oder Athanasius, durchaus öfter anführt als ihn.55 Aber die herausragende Bedeutung Augustins für Gerhards Theologie ist auch für einen gelegentlichen Leser nicht zu übersehen.56 Er zitiert Erasmus und dessen Lob für Augustin mit unübersehbarer Zustimmung: „Bei Athanasius bewundern wir die geheiligte und sorgfältige Klarheit der Lehren. Bei Basilius küssen wir zärtlich, über seine Feinheiten hinaus, seine fromme und vornehme Ausdrucksweise. Bei Chrysostomus sind wir angetan von dem Reichtum seiner frei strömenden Rede. Bei Cyprian verehren wir seinen Geist, des Martyriums würdig. Bei Hilarius sind wir erstaunt über die Großartigkeit seiner Sprache, ein herausragender Stil, der Größe seines Gegenstands entsprechend. Bei Ambrosius lieben wir manchen süßen Stachel und seine Bescheidenheit, eines Bischofs würdig. Bei Hieronymus preisen wir zu Recht den

rhard, Patrologia (wie Anm. 2), dritte Ausgabe, Jena 1673, 359–393. 54 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 286–287. Vgl. Nieden, Erfindung (wie Anm. 10), 172. 55 Beispiele in Gerhard, Theological Commonplaces (wie Anm. 1) und ders., Theological Commonplaces. On the Nature of Theology and on Scripture, übsetzt von Dinda, überarbeitete Ausg., hg. v. Mayes (St. Louis 2009). 56 Dasselbe gilt für die meisten Reformatoren, s. Christoph Burger, Erasmus’ Auseinandersetzung mit Augustin im Streit mit Luther, in: Auctoritas Patrum (wie Anm. 7), 1–13, hier: 13; Robert Kolb, The Fathers in the Service of Lutheran Teaching: Andreas Musculus’ Use of Patristic Sources, in: Auctoritas Patrum II (wie Anm. 7), 105–23, hier: 123; Anthony N. S. Lane, „Justification in SixteenthCentury Anthologies“, in Auctoritas Patrum (wie Anm. 7), 69–95, hier: 95; Hägglund, Verständnis (wie Anm. 4), 17, 21, 40.

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Reichtum seiner Berücksichtigung der Schrift. Bei Gregor erkennen wir reine Heiligkeit, die durch keinen falschen Ehrgeiz verbrämt ist. Bei Augustin finden wir all das.“57

7. Exegetische, dogmatische und ethische Bemerkungen sollten in den Loci-Büchern der Studenten notiert werden (leere Bücher, die von den Studenten je nach Thema gestaltet wurden).58 Der vierte Teil führt die Liste der Anleitungen fort, nach denen die Kirchenväter mit Gewinn gelesen werden könnten. In diesen Anleitungen legt Gerhard die Sorge an den Tag, dass der genaue, authentische Sinn der Schrift erkannt werde. Er ist ja von Grund auf ein exegetischer Theologe. Die besonderen Anleitungen, meist in der Form von Warnungen vorgebracht, sind im Einzelnen: 1. In den verkündigungs- und predigtbezogenen Schriften gehen die Kirchenväter sehr frei mit ihrer Rhetorik um; daher dürfen nicht alle ihre Aussagen zu eng aufgefasst werden. 2. In polemischen und dogmatischen Schriften greifen sie manchmal etwas auf und wenden es zu arg gegen ihre Gegner. 3. In exegetischen Schriften sind ihre Gemütsbewegungen etwas bedachter; alle aber, mit Ausnahme von Hieronymus, konnten kein Hebräisch. Aufgrund ihrer ungenauen biblischen Vorlage „phantasieren“ („hallucinantur“) sie nicht selten und weichen vom eigentlichen Sinn der Schriftstelle ab, und manchmal geben sie zu sehr ihrem Kopf („ingenio suo“) nach. 4. In homiletischen, exegetischen und katechetischen Schriften übergehen sie manchmal den wörtlichen Sinn einer Schriftstelle oder rühren nur eben an ihn, verfallen dann aber sofort auf grobe, gezwungene und unpassende Allegorien. 5. In dichterischen Werken frönen sie ganz frei ihrem Kopf und verfolgen eher die Eleganz eines Verses als die genaue Wiedergabe der Schrift. 6. Vor dem Aufkommen von Auseinandersetzungen äußern sie sich eher ungeschützt. 7. Manchmal geben sie den Gepflogenheiten ihrer Zeit nach. 8. Manchmal geben sie zu viel auf ungewisses Gerede („rumoribus“) und bedienen sich der Redensarten des Volkes. In geschichtlichen Angelegenheiten folgen sie den Versicherungen und der Autorität ihrer Vorgänger ohne umsichtige Prüfung und Urteil. 9. Man muss genau zusehen, ob sie ein Dogma vorstellen und bekräftigen „ex professo et in propria sede“, oder ob sie es nur nebenbei erwähnen. Außerdem ist zu be57 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 284–285. 58 A.a.O., 287. Zum Gebrauch der Loci-Bücher vgl. Ann Moss, Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought, Oxford 1996.

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achten, ob sie von ihrer eigenen Position aus argumentieren oder von der eines anderen her, und ob sie etwas als gewiss hinstellen, oder nur als wahrscheinlich.59

Zusammenfassung In seiner Methodus studii theologici lehrt Gerhard seine Studenten, wie die Kirchenväter mit Gewinn zu lesen sind. Er bringt ihnen nahe, wie wichtig es ist, die besten verfügbaren wissenschaftlichen Hilfsmittel anzuwenden. Gefälschte Werke sind von echten zu unterscheiden. Die Kirchenväter müssen im Zusammenhang ihrer Zeit und der Auseinandersetzungen ihrer Zeit gelesen werden, d.h., die Kirchenväter müssen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang aufgesucht werden; sonst werden sie leicht missverstanden. Gerhard hat detailliert herausgearbeitet, was die Kirchenväter nicht sind, nämlich Wahrheitsnorm in der Kirche. Aber neben dieser eher negativ bestimmten Zugangsweise, gewinnt er auch einen sehr positiven Zugang. Gerhard erkennt, dass ohne die Schriften der Kirchenväter, viele exegetische Einsichten verloren wären, und integriert diese Erkenntnis in evangelische Theologie. So können die Kirchenväter nicht einfach durch eine Berufung auf das „sola scriptura“ übergangen werden. Die Kirchenväter sind unersetzlich, denn ohne sie würde die Schriftkenntnis der Kirche geschmälert. Außerdem spielen die Kirchenväter für Gerhard eine erhebliche Rolle in der Polemik. Denn sie sind trotz allem, das gemeinsame Erbe der getrennten Konfessionen, und die Berufung auf ihre Schriften war wichtig und wirkungsvoll, gerade unter Diskussionspartnern, die jeweils die Nachfolger jener verehrten Kirchenväter sein wollten. In seiner Methodus nimmt Gerhard auch das Argument vom Schweigen der Väter auf und wendet es gegen neue Lehren, auch wenn sein polemischer Gebrauch der Kirchenväter öfter dazu dient, die Übereinstimmung zwischen seiner Lehrweise und der einiger, wenn nicht aller Kirchenväter zu erweisen. Die Kirchenväter sind eben „lumina, non numina“, „Lichter, nicht Gottheiten“. Gerhard will sie nicht der Vergessenheit anheimfallen lassen. Wenn seine vielfältigen Anleitungen geeignet scheinen, die Autorität der Kirchenväter zu mindern und die Studenten eher daran zu hindern zu glauben, was sie bei ihnen lesen, so zeigt doch die jeweilige Umgang mit den Kirchenvätern, welch außerordentliche 59 Gerhard, Methodus (wie Anm. 9), 288–298.

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Bedeutung sie sein ganzes Leben lang für seine Theologie hatten. Was auch immer er an ihnen zu kritisieren hatte, er kritisierte sie als einer, der in eben dieser christlichen Tradition stand. Zudem kritisierte er nicht alles, was die Kirchenväter geschrieben hatten, sondern nur einzelnes; er kritisierte sie nicht von außen, sondern von innen heraus; er kritisierte sie nicht aus einer subjektiven Laune heraus oder aus dem Zeitgeist, vielmehr auf der Grundlage der Heiligen Schrift. Seine Theologie war bleibend durch die Kirchenväter geprägt; denn die Tradition der Alten Kirche war ihm nicht nur Geschichte, sondern Teil seiner Gegenwart.60 (Übersetzung: Werner Klän)

60 Vgl. Hägglund, Verständnis (wie Anm. 4), 53.

BENGT HÄGGLUND

Erkenntnis und Glaube vor dem Wort der heiligen Schrift1 Die Frage, die im Titel hinzugedacht ist, war im klassischen Luthertum sehr leicht zu beantworten. Man betonte „den Glauben allein“ bei der Zueignung der evangelischen Botschaft aber ebenso klar, dass dieser Glaube eine Erkenntnis und ein Fürwahrhalten des Wortes der heiligen Schrift voraussetzte und darauf aufgebaut war. Als Beispiel können wir sehen, was der bekannte Tübinger Theologe Matthias Hafenreffer in seinem „Compendium doctrinae coelestis“ davon sagt.2 In dem Abschnitt über die Wiederherstellung des gefallenen Menschen heißt es, dass die Erwählung des Menschen drei Dinge voraussetzt, zuerst die Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu den Menschen, zum anderen der vollkommene Verdienst Christi. Was ist dann das dritte? Es ist der Glaube. Und was ist der Glaube? Er ist nicht nur ein historisches Wissen vom Inhalt des göttlichen Wortes und eine Beistimmung dazu sondern auch ein gewisses und besonderes Vertrauen an Christus, das in unseren Herzen durch die Verheißungen der Gnade entzündet wird und durch den heiligen Geist und den Gebrauch der Sakramente bestätigt wird.3 Er unterscheidet also zwischen dem historischen und dem heilenden Glauben. Der historische Glaube ist die Erkenntnis des göttlichen Wortes und ein Beifall zu seiner Wahrheit. Dieser Glaube ist aber 1 2

3

Vortrag bei einem Symposium an der Gemeindefakultät in Göteburg 19.11.2010, hier übersetzt ins Deutsche und für den Druck bearbeitet. Matthias Hafenreffer (1561–1619) publizierte eine umfangreiche Dogmatik, „Loci theologici“, Tübingen 1600 und dann in mehreren Auflagen. In Schweden wurde ein Auszug aus dieser Arbeit, „Compendium doctrinae coelestis“ für Verwendung als Textbuch in den Schulen herausgegeben, wie Leonhard Hutters Kompendium in derselben Weise in Deutschland verwendet wurde (Neuausgabe Stuttgart 2006). Hafenreffers Kompendium ist in einer neuen Ausgabe mit schwedischer Übersetzung und Kommentaren ediert (hg. von Bengt Hägglund und Cajsa Sjöberg, Skara 2010). Die Erstausgabe erschien in Stockholm 1612. Die Arbeit wurde bis 1734 in den schwedischen Schulen verwendet. Die Auflage Stockholmiae 1612, 105f., die Neuedition, Skara 2010, 175.

LuThK 37 (2013), 21–30

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nicht zureichend. Er kann auch bei Heuchler vorhanden sein, sogar bei den Dämonen, die an Gottes Vorhandensein glauben und zittern (Jak 2,19). Aber zum heilenden Glauben ist auch die Erkenntnis des historischen Glaubens und das Beistimmen erforderlich. „Maxime requiritur“ heißt es, „im höchsten Grade erforderlich“.4 Der heilende Glaube hat also sein Fundament im Worte der heiligen Schrift. Er ist nicht ein Werk des Menschen sondern eine Gabe Gottes, die durch die schöpferische Kraft des Wortes geschenkt wird und durch den heiligen Geist in den Herzen der Gläubigen bestätigt wird. Es ist ein Glaube an Christus. Er allein ist der Heilende, dem Wort gemäß: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“(Joh 14,6). Dazu kommt, dass es ein „einzigartiger“ Glaube ist, ein „singularis fiducia“.5 Es ist nicht ein Glaube an allgemeinen Wahrheiten, z.B. dass Gott barmherzig ist oder dass Christus der Versöhner für die Sünden der Welt ist. Sondern „jeder Christ eignet alles dieses sich selbst als Individuum an“, wie es in Gal 2,20 heißt: „Ich lebe aber; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir – der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben.“ Eine Folgerung wird, dass der Glaube sich immer auf das Wort Gottes bezieht. Der Glaube kommt vom Hören, „fides ex auditu“ (Rom 10,17). Soweit Hafenreffer zu diesem Thema. Ist es nicht ganz klar gesagt? So dass unsere Darstellung hier beendigt werden und Hafenreffer das erste und das letzte Wort erhalten könnte? Doch, wenn es nicht so wäre, dass heute, 400 Jahre später, andere Voraussetzungen vorhanden sind, so dass Vieles, was damals selbstverständlich war, jetzt erklärt werden muss. Was damals selbstverständliche Voraussetzungen für alle, die zu einer christlichen Tradition gehörten, waren, ist in unseren Tagen umstritten, verneint oder zur Unkenntlichkeit verändert. Die entscheidende Frage bezieht sich auf die Erkenntnis, aber damit indirekt auch auf den Glauben. „Fides historica“ bedeutete damals, dass das Wort der heiligen Schrift als historische Wahrheit verstanden wurde, nicht nur als religiöse Ideen sondern als Worte von einer offenbarten Wirklichkeit in unserer Geschichte, d.h. in der Geschichte der Menschheit. Damit ist 4 5

A.a.O., 176. Ebd.

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es eine Wirklichkeit vor und außerhalb unserer Erfahrung, unserem Bewusstsein. Sie ist für uns in der Sprache der Schrift, in der Verkündigung zugänglich. Durch unser Gehör und Sehen fassen wir diese Wirklichkeit auf, wie wir durch die fünf Sinne die Wirklichkeit um uns her auffassen. Das war das Weltbild und die Auffassung des Erkenntnisses in älterer Tradition bis in moderne Zeit. Es waren vor allem zwei Faktoren wodurch dieser einfache Realismus in Frage gestellt wurde. Er wurde oft als kindische Bauernvernunft verachtet und als veraltet angesehen. Der eine Faktor war die idealistische Erkenntnistheorie, die durch Kant und seine Schüler entwickelt wurde, deshalb oft als „der deutsche Idealismus“ bezeichnet. Er kann vereinfacht in folgender Weise definiert werden: „Das einzige wovon wir Erkenntnis haben sind unsere eigene mentale Erlebnisse, die in unserem Bewusstsein vorhanden sind. Die Erkenntnis kommt also nicht von einer Außenwelt, die unabhängig von unserem Bewusstsein vorhanden sei. Sie wird von diesem Bewusstsein geschöpft.“ Dies war, was Kant als eine kopernikanische Wendung bezeichnete, d.h. dass die Erkenntnis von unserem Intellekt geschöpft wird, nicht von dem Zeugnis der fünf Sinne. Es ist ein Standpunkt, der in den Naturwissenschaften nunmehr unbekannt ist. Er entspricht auch nicht unser alltägliches Erlebnis der Umwelt. Auf dem Gebiet der Religion und des christlichen Glaubens bedeutet diese Denkweise, dass man voraussetzt, dass alles in unserem Bewusstsein als Gedanken und Vorstellungen in unseren Inneren vorhanden ist. Die Religion bildet hier ein eigenes Gebiet. Eine Annahme, dass sie zu einer äußeren, von uns unabhängigen Wirklichkeit Referenz hat, wurde als Metaphysik und deshalb als unwissenschaftlich betrachtet, etwas, was man in der Wissenschaft nicht annehmen konnte. In dieser Weise lebte der deutsche Idealismus in der Theologie weiter, auch wenn er in anderen Wissenschaften nicht mehr aktuell war. Er wurde z.B. in der sogenannten LunderTheologie so dominierend, dass beinahe Niemand diese Grundideen in Frage stellte. Eine Folgerung war, dass der Inhalt des christlichen Glaubens nicht durch das Wort der Schrift begründet wurde, sondern dass der Glaube als intramentales Erlebnis als Erkenntnisgrund für die Theologie dargestellt wurde.

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Der andere Faktor, der den historischen Glauben in seiner ursprünglichen Form in Frage stellte, war die historisch-kritische Bibelforschung. Wenn die biblischen Texte mit einer modernen historischen Kritik behandelt wurden, war es viel – meinte man – dass nicht als historisch zuverlässig angesehen werden konnte. Eine negative kritische Beurteilung konnte soweit gehen, dass man sogar die Glaubwürdigkeit der evangelischen Berichte bezweifelte. Eine derartige Bibelforschung war sehr verbreitet bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, d.h. zu den 1940 oder 1950er Jahren. War es mit dem christlichen Glauben verträglich, dass er auf etwas, was nicht historisch zuverlässig war, gegründet wurde? Das war zweifelsohne ein Problem. Man versuchte dem in verschiedener Weise auszuweichen. Gustaf Aulén, der bekannte Dogmatiker in Lund, schrieb in einem Brief 1921 an meinen Vater: „Du stellst die Frage von Christentum und Geschichte. Das ist ein Fegefeuer für uns jüngere Theologen gewesen. Und ich kann keine kurz gefasste und einfache Antwort geben.“ Eine Antwort war wie bekannt Rudolf Bultmanns existentiale Interpretation, eine Methode wodurch die Frage der historischen Wahrheit oder Zuverlässigkeit vermieden werden konnte. Die zu seiner Zeit umfassende sogenannte Bultmann-Debatte können wir hier zur Seite lassen. Der bekannte schwedische Theologe Anders Nygren, der am Anfang der 1920er Jahre einige Arbeiten zur Religionsphilosophie publizierte, formulierte eine andere Lösung desselben Problems, die auf einer idealistische Erkenntnistheorie aufgebaut war. Seine Theorie von einem religiösen Apriori setzten voraus, dass die Religion ein notwendiges Element in der menschlichen Erfahrung bildete. Sie hatte ihre eigenen Gesetze und war von objektiven historischen Tatsachen nicht abhängig. Die Aussagen des christlichen Glaubens wurden nicht durch die biblische Offenbarung legitimiert, sondern durch ihren Zusammenhang mit dem inneren religiösen Erlebnis, mit dem Zentrum des christlichen Glaubens.6 Die Situation in der historischen Bibelforschung wurde von der Mitte des vorigen Jahrhunderts radikal verändert. Es wurde klargelegt, dass Zeit und Geschichte unausweichliche Voraussetzungen im Christentum waren. Ich verweise vor allem an die Arbeit von Oscar Cullmann „Christus und die Zeit“, Zürich 1946. Die evangelischen 6

Anders Nygren, Religiöst konsekvenser, Lund 1921.

apriori.

Dess

förutsättningar

och

teologiska

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Berichte waren nicht nur formal gesehen historische Zeugnisse sondern auch mit historisch kritischer Beurteilung glaubwürdig. Außer Cullmann können auch andere namhafte Exegeten erwähnt werden: Wolfhart Pannenberg und Klaus Berger in Deutschland, Tom Wright in England, Birger Gerhardsson und Bengt Holmberg in Schweden. Es gibt natürlich verschiedene Auffassungen unter den Exegeten, aber in der heutigen Forschung ist diese neue Beurteilung gut verankert. Anders ist es in der allgemeinen Meinung in den säkularisierten westlichen Ländern, in der medialen Kultur, die uns in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen begegnet. Hier leben die alten Vorstellungen weiter, dass der christliche Glaube auf eine veraltete Weltauffassung aufgebaut ist, auf Legenden und Mythen aus mehrere tausend Jahr alten Schriften geholt. Dies ist wohlbekannt, sollte aber ernstgenommen werden. Es bedeutet, dass, wenn man von der Kirche her vom christlichen Glauben unterrichten will, man von Nichts anfangen muss, von Unkenntnis, Verachtung dem Gegenstand der Botschaft des Christentums gegenüber, wie Martin Luther, als er den kleinen Katechismus für Menschen, die nichts vom Evangelium wussten, verfasste.7 Ein lebendiger Glaube setzt ein Wissen voraus, nicht nur eine Erkenntnis von Ideen sondern ein Fürwahr halten einer Botschaft von etwas, was in unserer Geschichte geschehen ist. Wir kehren zurück zur ersten Frage, wie die idealistische Erkenntnistheorie in der Theologie einen dominierenden Einfluss ausgeübt hat. Das bedeutet – einfach ausgedrückt – dass man die Religion mit ihren Glaubensvorstellungen nur innerhalb des menschlichen Bewusstseins findet. Die Religion ist – mit der Formulierung Anders Nygrens – „ein Gebiet innerhalb unserer Erfahrung“.8 Gewiss verhält es sich so. Aber die entscheidende Frage ist, ob die Religion und der christliche Glaube gleichzeitig auf eine Wirklichkeit vor uns, unabhängig von uns referiert. Diese Frage wird vermieden oder mit Nein beantwortet von denen, die von einer idealistischen Erkenntnisauffassung ausgehen. Von einer Wirklichkeit außer und unabhängig von unserem Bewusstsein zu sprechen, ist Metaphysik und wird damit als unwissenschaftlich abgelehnt, eine Begriffsdichtung, die in der Wissenschaft abgelehnt werden muss. 7 8

Siehe die Vorrede zum kleinen Katechismus, BSLK, 501f.: „dass der gemeine Mann doch so gar nichts weiß von der christlichen Lehre.“ A.a.O., 206ff.

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Aber wenn die Religion zu keiner objektiven Wirklichkeit referiert, wird dann nicht die Folgerung eben das, was viele heutzutage meinen, dass sie ein reines Phantasieprodukt sei. Anders Nygren stellt in einer frühen Schrift aus den 1920er Jahren die Frage: „Ist die Religion nur etwas Subjektives und vermisst dann die Theologie wissenschaftliche Objektivität?“ Den Vorsatz bejaht er merkwürdigerweise: „Die Religion ist etwas Subjektives.“ Sie hat aber doch eine wissenschaftliche Objektivität. Die religiöse Erfahrung ist etwas Allgemeingültiges, wie z.B. auch die moralischen Gebote. Sie legitimiert ihre Aussagen – ich zitiere – „ganz einfach nur durch den notwendigen Zusammenhang, wodurch sie mit dem Zentrum des christlichen Werterlebnisses verbunden sind“.9 Welche wird die Folgerung daraus? Augenscheinlich, dass der christliche Glaube als Erlebnis im Bewusstsein der Gläubigen die Glaubensaussagen legitimiert, nicht die Offenbarung in der heiligen Schrift, nicht das Glaubensbekenntnis oder die Glaubensregel, nicht die historischen Tatsachen, wovon die biblischen Texte berichten. Früher wurde gesagt, dass die Geschichte damals als ein Problem in der Theologie betrachtet wurde. Die idealistische Erkenntnisauffassung wurde ein Ausweg, dieses Problem zu vermeiden, aber ein betrügerischer Ausweg.10 Wenn die Glaubensaussagen durch das Glaubenserlebnis im Bewusstsein legitimiert werden, übersieht man, dass die Offenbarung in der heiligen Schrift vieles vermittelt, was nie im religiösen Bewusstsein des Menschen entstanden ist. Was zum zweiten Glaubensartikel gehört: die Inkarnation, Christus als der Sohn Gottes, die Versöhnung durch Christus, seine Wiederkunft zum Gericht – das Alles ist etwas, was keineswegs vom Bewusstsein oder Intellekt des Menschen hergeleitet werden kann. Es kann in keinerlei anderer Weise als durch das Wort der heiligen Schrift erkannt und legitimiert werden. Ein Fürwahr halten des Wortes der heiligen Schrift ist Grund und Voraussetzung des christlichen Glaubens – das wird durch diese Beispiele deutlich gezeigt. Damit wird auch eine realistische Erkenntnistheorie vorausgesetzt – in der Theologie wie in den Naturwissenschaften d.h. dass die Glaubensaussagen nicht nur unsere intramentalen Vorstellungen ausdrücken sondern auch zu einer objektiven, von uns unabhängigen Wirklichkeit referieren. 9

A. Nygren, Det religionsfilosofiska grundproblemet, in: Bibelforskaren, 36 Jahrg. 1919, 306. 10 Bengt Hägglund, Kunskapsteori och metafysik i teologin, Lund 2011, 19ff.

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Nicht nur in der gestrigen Theologie, z.B. in der Lunder-Theologie, hatte die idealistische Erkenntnistheorie ihre umstrittene Funktion in der akademischen Theologie. Dasselbe Problem ist neuerdings, obschon unter anderen Formen, zurückgekehrt. Von den Jahren um 1980 an wurde in englischer und amerikanischer Theologie eine umfassende Diskussion um Realismus contra Nicht-Realismus in der Religion eingeleitet. Der Ausdruck „NichtRealismus“ wurde als Ersatz für „Idealismus“ geprägt, mit ungefähr demselben Sinn: Die Religion ist ganz und gar eine Erscheinung im menschlichen Bewusstsein und hat keine Referenz zu einer objektiven, selbständigen Wirklichkeit, wie der Realismus festhält. Ein grundlegender Fehler in dieser Diskussion ist, dass man Religion als eine einheitliche Erscheinung betrachtet. Man übersieht, dass die Antwort zur Frage vom Realismus im Christentum eine ganz andere sein kann als in anderen Religionen. Vertreter des NichtRealismus weisen übrigens gern auf den Buddhismus als ein klares Beispiel dieser Auffassung. Das ist sicher richtig. Die buddhistische Meditation bewegt sich nur innerhalb der eigenen Erfahrung. Ich habe viel von einem japanischen Theologen gelernt. Er ist Luther-Forscher und war Professor in Theologie an der Universität in Sendai, u.a. mit der Aufgabe, Buddhisten vom Christentum zu unterrichten. Er berichtet, dass ein Schüler einmal nach einer Vorlesung zu ihm kam und sagte: „Jetzt verstehe ich den Unterschied zwischen dem Christentum und den anderen Religionen. Im Christentum bezieht sich alles auf die Wirklichkeit.“ Eine instruktive Darstellung der erwähnten Debatte ist Colin Crowder, God and Reality. Essays on Christian Non-Realism, London 1997. Beide Meinungsrichtungen werden in den Beiträgen vertreten, aber das Hauptgewicht fällt auf den Nicht-Realismus. Das Buch ist – was überraschen kann – mit einer Vorrede von Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, versehen. Der, der eine Vorrede schreibt, muss wohl eine positive Beurteilung des Buches vertreten? Man soll aber seine Schlussworte beachten. Er meint dass wir in der wichtigen Frage von der Bedeutung der religiösen Sprache Freiheit haben, einander mit Fragen hart zuzusetzen (to question each other hard). Er kann aber nicht finden, dass der NichtRealismus überhaupt mit dem christlichen Glauben vereinbar sein kann.11 11 Colin Crowder, God and reality, Foreword, IX.

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Diese Debatte ist auch von schwedischen Religionsphilosophen aufgenommen und weiter geführt. Hier hat man versucht, einen Mittelweg zu finden. Man schließt nicht aus, dass eine objektive Wirklichkeit als Grund für die Erkenntnis vorliegen kann, meint aber, dass jede Erkenntnis begriffsbestimmt ist (conceptualized).12 Unsere Begriffe über die Religion bilden für uns ihre Wirklichkeit. Eine derartige Erkenntnistheorie scheint dem christlichen Glauben wenig angemessen. Schon in meiner alltäglichen Auffassung der uns umgebenden Wirklichkeit ist es nicht die Begriffsbildung die entscheidend ist. Zwar gibt es vieles, wovon ich Begriffe bilden kann. Aber darüber hinaus gibt es vieles, was ich nur mit den fünf Sinnen und nicht begriffsmäßig auffasse oder auffassen kann. Dazu kommt, dass vieles in unserer Erfahrung, und besonders wenn es sich um den Inhalt des christlichen Glaubens handelt, durch die Sprache vermittelt ist. Und Sprache gehört zu dem, was wir sehen oder hören. Der christliche Glaube enthält vieles, was wir nicht begriffsmäßig fassen können und nicht in unserem Bewusstsein als eine eigene Erfahrung entstanden ist. Die Erkenntnis alles dessen, was Zentrum des christlichen Glaubens bildet, ist nur durch die Sprache der heiligen Schrift zustande gekommen. Es ist nicht von Menschen erfundene religiöse Ideen sondern Zeugnisse, die zu uns von außen gekommen sind. Sie handeln von etwas, was Menschen gehört und gesehen haben. Der Herr hat durch die Propheten geredet. Sehr oft wird das Sehen als eine Voraussetzung des Glaubens angegeben. Die Apostel waren Augenzeugen. Wenn der Apostel Johannes am Ostertag zum offenen Grab kam, heißt es: „Er sah und glaubte“ (Joh 20,8). Besonders im Johannesevangelium wird oft das Sehen betont (Joh 1,14; 3,3; 6,46; 12,45; 20,14). Und im I Joh 1,1 heißt es: „Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsern Augen, das wir beschaut haben und unsere Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – das verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt.“ Johann Georg Hamann (1730–1788), der bekannte Kant-Kritiker, hat einmal gesagt, dass „nicht nur das ganze Warenhaus der Vernunft sondern selbst die Schatzkammer des Glaubens beruhen auf die fünf Sinne, die wir mit den unvernünftigen Thieren gemein12 Eberhard Herrmann, Gud, verklighet och den religionsfilosofiska debatten om reaqlism och antirealism, in: Svensk teologisk kvartalskrift, Jahrg. 75, 1999, 50– 68.

Erkenntnis und Glaube vor dem Wort der heiligen Schrift

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schaftlich besitzen“. Er hat natürlich recht. Es ist durch etwas, was wir sehen und hören, dass die Schatzkammer des Glaubens für uns geöffnet wird.13 Gleichzeitig ist diese Erkenntnis gegen und über alle Vernunft. Paulus geht so weit, dass er von einer Torheit Gottes redet gegen jede Weisheit der Welt (I Kor 1 und 2). Damit muss man rechnen, wenn man von dem historischen Glauben, das Fürwahr halten des biblischen Wortes, zum Glauben als eine Aneignung der Botschaft weitergeht. Paulus formuliert es so, dass es Gott gefallen hat, „durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben“. (I Kor 1,21). Das ist die Predigt vom Kreuz Christi, die göttliche Weisheit und zugleich „eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben“ (Röm 1,6).14 Dieser Glaube wird in vielen verschiedenen Weisen dargestellt, nicht nur als Vertrauen. Er ist Busse oder Bekehrung. Jesus fängt seine Verkündigung mit dem Wort an: „Tut Busse und glaubt an das Evangelium!“ (Mt 1,15). Die Bekehrung ist nicht nur der erste Anfang, sondern ein Geschehen durch das ganze Leben. Der Glaube wird auch als Wiedergeburt beschrieben, ein Geschehen auf einmal verborgen und offenbar, ein Werk des heiligen Geistes, das nicht vom Menschen selbst zuwege gebracht wird. Wie der Wind, den wir hören und vernehmen, aber wir wissen nicht „von wannen er kommt und wohin er fährt“ (Joh 3,8). Der Glaube ist zuerst und zuletzt Zuversicht und Vertrauen, dass die Versöhnung durch Christus mir als Person gilt. Er kann mit dem Munde bekannt werden, aber ist zugleich etwas Verborgenes im Innersten der Persönlichkeit, im Dunkel der Seele, wie Martin Luther es ausdrückt.15 Der Glaube kann schwach und anfangend sein, am ehesten ein Suchen, ein „glimmender Docht“, um ein biblisches Bild zu verwenden (Mt 12,20). Er kann aber auch zu einer festen Gewissheit anwachsen, in der Wirklichkeit verankert, die Gott selbst ist, „mein Fels, meine Burg, mein Erretter – auf den ich traue“, wie es in dem

13 Johann Georg Hamann, Entkleidung und Verklärung, hg. von Martin Seils, Berlin 1963, 71. Hamann zitiert auch Mt 11, 4: „Sagt Johannes wieder, was ihr höret und sehet.“ 14 Edmund Schlink, Weisheit und Torheit, KuD 1 (1955), 1–22. 15 WA 40,1,228f. (Galaterbrevskommentaren 1531); Bengt Hägglund, Arvet från reformationen, Göteborg 2002, 84.

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Bengt Hägglund

bekannten Wort aus dem Psalter heisst (Ps 18,3). Das ist die Stelle, die mit den Worten anfängt: „Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke!“ Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass der Übergang von der Erkenntnis zum Glauben ein Übergang ist, von einem Fürwahr halten einer objektiven Wirklichkeit zu einer Gemeinschaft der Liebe auf einem persönlichen Plan. Aber die Beide, Erkenntnis und Glaube, können in dem tatsächlichen Glauben nicht voneinander getrennt werden. Auf allen Stadien des Glaubens, die wir jetzt angegeben haben, ist das Fürwahr halten des Wortes der heiligen Schrift die gegebene Voraussetzung und Grund der Gewissheit. „Maxime requiritur“, wie es heißt in dem Text womit wir angefangen haben.

HANS-JÖRG VOIGT

Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche1 1. Der Ausgangspunkt Auf einer Klausurtagung der Kirchenleitung im Dezember 2009 ergab sich ein längerer Diskussionspunkt zu berufsbedingten Erkrankungen von Pfarrern der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), die unter dem Stichwort „Burn-out-Problematik“ verallgemeinernd zusammengefasst wurden. Mehr als zehn Namen von teilweise oder in Gänze betroffenen Pfarrern unserer Kirche waren zu nennen. Das sind mehr als 10% der gesamten Pfarrerschaft, eine Zahl, die mehr als ein Alarmsignal ist. Dabei scheinen die möglichen Ursachen ebenso vielfältig zu sein, wie die betroffenen Pfarrer, ihre Familien und Gemeinden auf den ersten Blick keine einheitlichen Muster erkennen lassen. Mit anderen Worten: Eindeutige gemeinsame Ursachen sind nicht sofort und eindeutig zu identifizieren. Pfarrer großer Gemeinden sind betroffen, bei denen Überlastungen erkennbar sind. Aber auch Pfarrer in kleinen Gemeinden ohne erkennbares Überforderungspotential sind tangiert. Konfliktfelder in der Gemeinde können auslösend sein ebenso wie problematische Familienverhältnisse. Somit zeigt sich das Bild eines sehr komplexen Mosaiks aus dem sich dennoch nach und nach verschiedene Handlungsfelder herauskristallisieren. Erschreckend klar liegt die SELK damit in einem deutschlandweiten Trend, denn die „Bilanz der Krankenassen ist eindeutig: Seit Jahren nehmen psychische Erkrankungen zu. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat genauer hingeschaut. In einer Auswertung der Krankenkassen-Reporte des Jahres 2008 kommt sie zu dem Ergebnis, dass mittlerweile jede zehnte Krankschreibung auf Diagnosen 1

Die vorliegende Ausarbeitung wurde als Referat auf Sprengelpfarrkonventen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche wie auch im Kontext einer Seminarveranstaltung der Lutherischen Theologischen Hochschule mit Studierenden und dem Praktisch-Theologischen Seminar mit Vikaren vorgetragen und diskutiert.

LuThK 37 (2013), 31-42

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Hans-Jörg Voigt

wie ,Depression‘ oder ,Burn-out‘ zurückgeht. Mitarbeiter in Callcentern, in der öffentlichen Verwaltung, im Sozial- und Gesundheitswesen sowie Zeitarbeiter sind besonders häufig betroffen. Einer der Gründe sei der zunehmende Stress und die fehlende Wertschätzung am Arbeitsplatz, sagte BPtK-Präsident Rainer Richter bei der Vorstellung der Studie … in Berlin.“2 Anfang 2011 titelte ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin: „Ausgebrannt – das überforderte Ich“3 und markierte damit das gesamtgesellschaftliche Problem. Es ist demnach ohne Zweifel erforderlich, dass sich unsere Kirche kontinuierlich mit dem Berufsbild des Pfarrers beschäftigt, um über „Täuschungen“ und notwendigerweise damit verbundene „Enttäuschungen“ ins Nachdenken und ins Gespräch zu kommen.

2. Biblische Leitlinien zur Pastoraltheologie Die Ausführungen, die der Apostel Paulus seinen Schülern Timotheus und Titus macht, sind maßgeblich für den Pfarrerberuf. Die Pfarrerdienstordnung der SELK ist nur vor dem Hintergrund der Pastoralbriefe zu verstehen. Wenn der Apostel an seinen Schüler schreibt: „Denn ein Bischof soll untadelig sein als ein Haushalter Gottes, nicht eigensinnig, nicht jähzornig, kein Säufer, nicht streitsüchtig, nicht schändlichen Gewinn suchen; sondern gastfrei, gütig, besonnen, gerecht, fromm, enthaltsam; er halte sich an das Wort der Lehre, das gewiss ist, damit er die Kraft habe, zu ermahnen mit der heilsamen Lehre und zurechtzuweisen, die widersprechen“4,

so sind diese Mahnungen unmittelbar einleuchtend. Die Relevanz wird erkennbar, wenn man sich für einen Augenblick nur das Gegenteil dieser Maßstäbe vorstellt: einen Pfarrer – eigensinnig, jähzornig, ein Säufer, streitsüchtig … Hier ist von Eigenschaften und Lebenshaltungen die Rede, die ein Pfarrer bis heute in seine Berufung mehr oder weniger einbringen muss. Ein weiterer wesentlicher Gedanke tritt zu diesen Mahnungen mit der von Paulus beschriebenen Vorbildlichkeit hinzu: „in allen Dingen. Dich selbst aber mache zum Vorbild guter Werke mit unver2 3 4

Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) 24.03.2010, 8. Der Spiegel, Nr. 4/2011, 24.01.2011, Titel. Titus 1,7-8.

Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers …

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fälschter Lehre, mit Ehrbarkeit, mit heilsamem und untadeligem Wort, damit der Widersacher beschämt werde und nichts Böses habe, das er uns nachsagen kann.“5 Auch diese Mahnung erweist ihre hohe Bedeutung aus ihrem Gegenteil. Sie ist aber erst dann vollständig, wenn ein Pfarrer, denn einem solchen schreibt Paulus hier nach heutigem Verständnis, auch Vorbild im Scheitern und Neuanfangen sein kann. In jedem Fall sind mit dem Stichwort „Vorbild“ bereits die Beziehungen angesprochen, in denen der Pfarrberuf steht, die Beziehungen zu Gott, zur Gemeinde und zur Familie. Der Pfarrberuf ist vor allem ein Beziehungsberuf. Dies ist allerdings nicht als Alleinstellungsmerkmal des Pfarrberufes zu verstehen, da auch andere Sozialberufe notwendigerweise Beziehungsberufe sind. Schließlich kommt ein dritter Aspekt hinzu, den Paulus im 1. Timotheusbrief beschriebt. Nach vergleichbaren Mahnungen für einen Bischof heißt es: „Er muss aber auch einen guten Ruf haben bei denen, die draußen sind, damit er nicht geschmäht werde und sich nicht fange in der Schlinge des Teufels.“6 Damit ist der Aspekt der Öffentlichkeit des Amtes angesprochen, die zweifellos gewollt und notwendig ist für die öffentliche Proklamation des Evangeliums vom Kreuz Christi. Damit ist auch eine weitere Beziehungsebene thematisiert, nämlich die Beziehung eines Pfarrers als Träger eines öffentlichen Amtes in die Gesellschaft hinein. Zugleich beschreiben diese drei Stichworte aus den Pastoralbriefen auch die Problemfelder pastoraler Existenz bis heute: Der Vorbildcharakter kann zur unerträglichen Last werden und der Öffentlichkeitscharakter des Amtes wiegt schwer. Wenn zum Beispiel die Ehe eines Pfarrers scheitert, so geschieht das nicht im Verborgenen und tangiert alle anderen Beziehungsfelder unweigerlich. Die Pfarrerdienstordnung der SELK versucht dem Rechnung zu tragen. Vor diesem Horizont bewegen wir uns mit unserem Nachdenken über das Pfarrerbild und als „Kirche des Wortes“, die wir sind, kehren wir notwendigerweise immer wieder an diesen Ausgangspunkt zurück.

5 6

Titus 2,7-8. I Tim 3,7.

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3. Berufsbild im Wandel Es liegt in der Natur eines Beziehungsberufes, dass das Berufsbild dem Wandel des jeweiligen Gegenübers unterliegt. Das Berufsbild Pfarrer als Beziehungsberuf ist demnach dem Wandel der Leitvorstellungen von Familie, Gemeinde und Gesellschaft betroffen. Solcher Wandel tritt in Relation und Spannung zur geglaubten Unwandelbarkeit Gottes und seines heiligen Wortes. Der historische Vergleich veranschaulicht die Veränderungen. So schreibt Wilhelm Löhe im 19. Jahrhundert von der Pfarrfrau: „Die Pfarrerin ist Ehefrau des Pfarrers, Mutter und Erzieherin seiner Kinder, seine Gehilfin zur Erreichung und Erfüllung der apostolischen Forderung, dass er seinem Hause wohl vorstehe und gehorsame Kinder habe. I Tim 3,4. Je vollkommener sie das ist und dabei auf die apostolische Vermahnung I Tim 3,11 sieht (‚Ihre Weiber sollen ehrbar sein, nicht Lästerinnen, nüchtern, treu in allen Dingen‘), desto völliger ist sie, was sie sein soll. Sich darin bewähren, darin sich vervollkommnen, das ist ihr Beruf und Lebensziel.“7 Emanzipation, Berufstätigkeit der Ehefrau, partnerschaftliches Eheverständnis bis hin zur scheinbar völligen Normalität von Ehescheidungen markieren den gesellschaftlichen Wandel an dieser Stelle, der notwendige Neubestimmungen im Spannungsfeld der biblischen Mahnungen impliziert. Damit verbindet sich notwendigerweise Konfliktpotenzial auf den angesprochenen Beziehungsfeldern, hier von Gemeinde und Familie. Wenn einzelne Gemeindeglieder erwarten, dass die Pfarrfrau die Kirchenreinigung übernimmt oder am Frauenkreis teilnimmt, diese aber als berufstätige Ehefrau ihre Freizeit anders bestimmt, entsteht teilweise erheblicher Klärungsbedarf. Die SELK partizipiert an diesen Entwicklungen wie andere Kirchen auch. So fasste der Evangelische Pressedienst (epd) Anfang 2011 die Äußerungen des württembergischen Landesbischofs Frank Otfried July wie folgt zusammen: „Die Rolle des evangelischen Pfarrers und Pfarrhauses in den Städten befindet sich nach Auffassung des württembergischen evangelischen Landesbischofs Frank Otfried July in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. ‚Die Situation hat sich im Gegensatz zu früher komplett geändert‘, … Als Beispiele nannte er anonymisierte Pfarrhäuser und die veränderte Rolle der Ehepartner. Bundesweit gibt es rund 22.000 evangelische Pfarrer, davon sind 7

Wilhelm Löhe, Der evangelische Geistliche I, Gütersloh 41872, 260ff., hier zitiert nach Oberurseler Hefte Ergänzungsband I, 15.

Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers …

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etwa 14.300 in Kirchengemeinden tätig. Während ‚das Pfarrhaus‘ in früheren Zeiten ein identitätsstiftendes Merkmal gewesen und dies im ländlichen Bereich bis heute sei, gebe es in den Städten eine völlig andere Entwicklung. Dort gebe es Pfarrhäuser, ‚die anonymisiert und nicht mehr erkennbar sind‘, sagte July. Bisweilen würden Türschilder über Anwesenheiten des Pfarrers informieren, ‚wie bei der Sprechstunde eines Arztes‘. Das wolle er nicht kritisieren, ergänzte der Bischof. Es zeige aber die tief greifende Veränderung. Auch wohnten immer häufiger Alleinstehende in einem Pfarrhaus. ‚Für viele ist es, beispielsweise wegen der hohen Energiekosten, eine enorme Belastung, alleine in ein riesiges Pfarrhaus zu ziehen‘, … ‚Da müssen wir eine Lösung finden‘. Anders als früher seien heute häufig die Ehepartner von Pfarrern und Pfarrerinnen selbst berufstätig. Einen vollen Einsatz für die Kirchengemeinde wie die fast zur Institution gewordene ‚Pfarrfrau‘ könnten sie nicht mehr leisten. Umso dankbarer müsse die Kirche für den ehrenamtlichen Einsatz der Ehepartner sein, sagte der Landesbischof. Auch die Rolle des Pfarrers habe sich verändert. ‚Früher hat das Amt den Pfarrer getragen, heute muss die Person das Amt tragen‘, formulierte July. In vergangenen Zeiten habe sich der Pfarrer von vornherein den Erwartungen und der Dankbarkeit der Menschen sicher sein können. Heute müsste er um Akzeptanz kämpfen.“8

4. Zum Pfarrerbild heute Wie wandelbar das Pfarrerbild ist, macht ein Blick in die Literatur deutlich. Unvergessen ist die Beschreibung des Pfarrerbildes, die Manfred Josuttis Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gegeben hat: „Der protestantische Pfarrer ist eine merkwürdige Zwitterfigur. Der Ausbildung nach tritt er als Gelehrter auf. Durch die Art seiner Dienstleistungen gehört er in die Reihe der Priester. In seinem theologischen Selbstverständnis möchte er am liebsten als Prophet agieren. Und die

8

epd-Wochenspiegel/Deutschlandausgabe Nr. 6/2011, 9

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meiste Zeit verbringt er wahrscheinlich damit, die Rollen des kirchlichen Verwaltungsbeamten und des gemeindlichen Freizeitanimateurs zu spielen.“9

Man merkt diesem Zitat bereits an, dass es nicht mehr ganz aktuell ist, denn die Zielvorstellungen heutiger Pfarrer für ihren eigenen Beruf haben sich weiter gewandelt. Volker Drehsen zeichnet mit unübertroffener Treffsicherheit und Prägnanz die verschiedenen Pfarrerbilder vergangener Jahrhunderte bis in die Gegenwart: „Der gebildete Volkserzieher in der Aufklärung, der vollmächtige Seelsorger im Pietismus, der patriotische Prediger der Erweckungsbewegung, der intellektuell-rechtschaffene Gelehrte der liberalen Theologie, der sozialethische Gemeindepädagoge im Kulturprotestantismus, der theologische ‚Fachmann‘ und WortGottes-Prediger in der Dialektischen Theologie, der völkische Kirchenführer der ‚Deutschen Christen‘, der restaurative Frömmigkeitsintegrator oder kirchlich innovative Akademie-Kämpfer der unmittelbaren Nachkriegszeit, der demokratische Teamleiter aus der sozialliberalen Ära der siebziger Jahre, der engagierte Sprecher ethisch orientierter Bürgerinitiativen und sozialer Bewegungen der achtziger Jahre und – wie man schließlich für die neunziger Jahre ergänzen könnte: – der betroffenheitskultische Seelsorger und mystagogische Protagonist unterschiedlichster Spiritualitätsformen im Protestantismus der Gegenwart.“10 In einer „Volluntersuchung von Pfarrern der Evangelischen Kirche von Hessen-Nassau“ wird unter anderem erhoben, welche Fähigkeiten und Kenntnisse Pfarrern heute besonders wichtig erscheinen. „Seelsorgerliche Kompetenz“ zählen „75% der Pfarrer zu den fünf wichtigsten pastoralen Fähigkeiten, gefolgt von ‚eigener theologischer Standpunkt’ (58%), ‚Leitungskompetenzen’ (45%) und ‚pädagogisches Geschick’ (44%). Weit abgeschlagen rangiert dahinter ‚theologisch-wissenschaftliches Interesse’ (11%).“11 9

Manfred Josuttis, Der Pfarrer ist anders, Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 1982, 9, hier zitiert nach Christian Grethlein, Pfarrer ein theologischer Beruf! Frankfurt am Main 2009, 94. 10 Volker Drehsen, Vom Amt zur Person: Wandlungen in der Amtsstruktur der protestantischen Volkskirche. Eine Standortbestimmung des Pfarrerberufs aus praktisch-theologischer Sicht in: IJPT 2 (1998), 264f, zitiert nach Christian Grethlein, a.a.O., 93. 11 A.a.O., 89.

Anmerkungen zum Berufsbild des Pfarrers …

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Nach meinem Dafürhalten lässt sich diese Tendenz auch in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche erkennen. Ein Superintendent reagierte neulich genervt auf die Liste der Fortbildungsthemen des Kollegiums der Superintendenten mit der Bemerkung: „Wann treiben wir endlich wieder einmal richtige Theologie?“ Christian Grethlein schreibt weiter: „Die Präferenz für die Seelsorge kann ambivalent interpretiert werden: zum einen als Indiz für die Hinwendung der Pfarrer zu den Menschen, zum anderen als Anzeichen für ein Zurücktreten der theologisch- inhaltlichen Bestimmung pastoraler Praxis hinter die pastoralpsychologisch bestimmte Beziehungsarbeit.“12

Grethlein allerdings verbindet mit dieser Tendenz kritisch den Rückzug pastoraler Existenz aus der Öffentlichkeit der Gesellschaft. Wie die Dinge im Detail in unserer Kirche zu stehen kommen, kann hieraus in Parallelschlüssen gefolgert werden. Dass Pastoralpsychologie und Seelsorge in der SELK immens an Bedeutung gewonnen haben, ist unverkennbar. Wir liegen damit tendenziell im Trend der Zeit. Ich sage das nicht kritisch, sondern sehr dankbar. Unsere Ausbildung ist dem gefolgt, insbesondere mit der Neustrukturierung der zweiten Ausbildungsphase des PraktischTheologischen Seminars. Dennoch sind Zusatzausbildungen und Weiterbildungen für Pfarrer erforderlich und sinnvoll. In dem wundervollen Film „Vaya con dios“ des deutschen Regisseurs Zoltan Spirandelli, über einen fiktiven singenden Mönchsorden der „Kantorianer“, sagt der junge Mönch Abo zu einer Frau, die ihn sympathisch findet, den Satz: „Ich kann die falschen Sachen.“ Dass diese Einschätzung nicht in jeder Hinsicht zutreffend ist, weil der wundervolle Gesang die Herzen der Menschen anrührt, lässt der Film erkennbar werden. Was die „richtigen Sachen“ und was die „falschen Sachen“ für die Aus- und Fortbildung der Pfarrer sind, ist wiederum abhängig von den verschiedensten Erwartungshaltungen an den Beziehungsberuf des Pfarrers. Eine gut im liturgischen Gesang geschulte Stimme verbunden mit gründlichen Kenntnissen auf dem Feld der Liturgiewissenschaft – wer würde dies den „falschen Sachen“ zuordnen, um einmal in den Kategorien des oben zitierten Filmes zu reden? Ein gut ausgebildeter Exeget, der die Systematische Theologie beherrscht, ist ohne Zweifel ein Segen für die Kirche, genauso wie ein 12 A.a.O., 90.

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Seelsorger, der bei den Menschen und ihrem Leid und ihrer Freude ist, gründliche Kenntnisse in der Poimenik hat. Unsere breit angelegte Ausbildung ist gewollt, und Spezialisierungen sind möglich und wünschenswert.

5. Die Gemeinde – enttäuschte Erwartungen Ein großer Teil unserer pastoralen Selbstwahrnehmung ist eine Reflexion der ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen der Kirchgemeinden. Ich erinnere an eine unserer letzten Synoden, auf der eine Synodale gefordert hat, die kommunikative Kompetenz der Pfarrer zu fördern. „Ich kann die falschen Sachen!“ Hartmut Löwe schreibt 1984 in „Pfarrer vor 100 Jahren und heute. Der Wandel des Pfarrerbildes in der evangelischen Kirche“ zur Rolle der Gemeinden: „Die Gemeindeglieder, die einer begleitet, weisen ihm einen Platz zu, an dem es sich für ihn, weil gebraucht, zu leben lohnt. Sie definieren das Amt des Pfarrers in einem viel stärkeren Maße als alle skrupulösen Reflexionen auf das eigene Ich, mehr auch als die wechselnden Auskünfte modischer Theologien. Der Pfarrer ist, was Christenmenschen ihm zutrauen, zumuten und abfordern.“13

Wird solches „Zutrauen“ und Erwarten der Gemeinde enttäuscht, so sind gegenseitige Frustrationen die Folge. Daraus resultierende verweigerte Anerkennung ist meines Erachtens wesentliche Ursache zunächst für Unzufriedenheit oder letztendlich auch für das Ausbrennen der Pfarrer. Da kommt nach längerer Vakanzzeit der neue Pfarrer in die Gemeinde und alle denken: „Jetzt geht’s wieder richtig los. Der Alte war dann zum Schluss doch schon ein bisschen müde. Jetzt werden wir wieder wachsen. Jetzt kommen auch endlich meine Kinder wieder mit in die Kirche, denn der Neue schafft das schon irgendwie. Und die jungen Pfarrer sind ja viel dichter an den Leuten dran und können richtig gut in die Zeit predigen. Besuche sind auch notwendig, mehr als früher.“ Und der Pfarrer denkt: „Das ist eine fromme Gemeinde, die mich da berufen hat, denn sonst hätten sie ja nicht mich berufen! Die le13 Hartmut Löwe, Pfarrer vor 100 Jahren und heute. Der Wandel des Pfarrerbildes in der evangelischen Kirche, PTh 73, (1984), 444, zitiert nach Manfred Josuttis, Der Traum des Pfarrers, München 1988, 128.

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sen alle fleißig in der Bibel und verstehen, wenn ich mal ein bisschen theologisch anspruchsvoller rede. Hier gibt es viele Mitarbeiter, die alle genau das machen, was ich sage. Hier kann ich endlich ganz Pfarrer sein.“ Natürlich karikiere ich. Aber dass bei kleiner werdenden Gemeinden, knapper werdenden Kassen und einer älter werdenden Gesellschaft der Erwartungsdruck steigt, das liegt auf der Hand. Die oben beschriebene Abfolge aus enttäuschten Erwartungen und daraus resultierend nicht gegebener Anerkennung nimmt ihren Lauf. Im Sprengel West der SELK haben Pfarrer zusammengetragen, was sie von ihren Gemeinden erwarten. Da wird der Wunsch geäußert: „sich stärker an den Gottesdiensten zu beteiligen; sich intensiver um die Inhalte des Glaubens zu bemühen; sich mit dem lutherischen Bekenntnis zu befassen, es zu diskutieren und zu bejahen, es eindeutig und glaubwürdig zu bezeugen; ‚geistliche Begabungen‘ bewusst wahrzunehmen und sie dementsprechend in williger Mitarbeit einzubringen; nicht durch Machtspiele, Rechthaberei und gegenseitige Verletzungen zu gefährden; im Umgang miteinander der verzeihenden Liebe Raum zu geben; in gegenseitiger Achtung und Hilfe täglich am Netz der Gemeinde mit zu knüpfen; für uns und unsere Arbeit Fürbitte zu tun; uns auch als ‚Personen‘ (nicht nur als ‚Funktionsträger‘) wahrzunehmen; anzusprechen und zu begleiten, und uns mit unseren Familien als gleichberechtigten Teil der Gemeinde zu sehen. …“ Das ist nicht fordernd gemeint, sondern durchaus liebevoll und freundlich. Aber hier werden auch Erwartungen geäußert, Bitten, die erkennen lassen, dass sie bereits aus enttäuschten Erwartungen geflossen sind. Ein erster Schritt könnte sein, dass Gemeinden und Pfarrer sich diese Erwartungen erst einmal gegenseitig bewusst machen. Die folgenden Punkte wollen eine mögliche Vorgehensweise aufzeigen: a) Was halten Sie von einem Gemeindetag, an dem die Gemeindeglieder an eine große Tafel schreiben, was sie von ihrem Pfarrer und von der Kirchenmusikerin erwarten. Das gibt eine lange Tabelle. b) Als nächster Schritt wird eine 50 Stunden - Normwoche in einzelnen Wochentagen aufgeschrieben und alle Erwartungen exemplarisch eingetragen mit Stundenangaben. c) Wenn dann die 50 Stunden aufgebraucht sind, kann man in der Tabelle der Erwartungen gewichten: Was ist uns in alle dem besonders wichtig? Was könnte jemand anderes erledigen? Jetzt bekommt

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jeder vier Klebepunkte und kann sie an die wichtigsten Stichworte heften. d) Und der Pfarrer könnte selbst benennen, was ihm am meisten Freude macht. Die Kirchenleitung der SELK bietet einen Leitfaden für solch einen Gesprächsprozess an. Sich die gegenseitigen Erwartungen deutlich zu machen und an der Realität abzugleichen, wird das Miteinander zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen aber auch der Gemeindeglieder untereinander stärken.

6. Kirchenleitendes Handeln im Kontext beruflicher Belastungserkrankungen Superintendenten und Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche nehmen im Bezug auf die Pfarrer verschiedene Rollen und Funktionen war. Kirchenleitende sind Amtsbrüder und Seelsorger der Pfarrer. Aber auch Arbeitgeber-, Aufsichts- und Leitungsfunktionen sind wahrzunehmen. Neben dieser Rollenvielfalt erleben Kirchenleitende immer wieder die Grenzen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten etwa im Berufungsrecht der SELK. Dabei sehen sich die Verantwortlichen ihrerseits mit konträren Erwartungshaltungen konfrontiert, die sich zusammenfassen lassen unter den Stichworten: „Die Kirchenleitung müsste mal richtig durchgreifen!“ oder „Die Kirchenleitung soll nicht ständig bevormunden!“ In der Aufgabe als Arbeitgeber müssen die Kirchenleitenden zum einen mit der geographischen Ausdehnung und der relativen Diaspora der SELK umgehen, wie auch mit den knapper werdenden finanziellen Ressourcen, die notwendigerweise zu Mehrbelastungen in der Pfarrerschaft führen. Im Gespräch mit Pfarrern, Gemeinden und kirchenleitend Verantwortlichen darauf zu achten, dass nicht nur Arbeiten zugewiesen werden, sondern auch deren Machbarkeit, notwendige Entlastungen und Reduzierungen beraten und umgesetzt werden, ist unerlässlich. In einer Diplomarbeit die der Universität Konstanz im Fachbereich Psychologie14 vorgelegt wurde, wird ein sehr differenziertes Bild 14 Iris Kuttler, Pfarrer in der Krise, Zusammenhang zwischen Arbeitsforderung und Burnout-Synodrom, www.kops.ub.uni-konstanz.de/bitstream/handle/urn:nbn:de: bsz:352-opus-49641/Pfarrer_in_der_Krise.pdf?sequence=1, Stand 11.01.2012.

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gezeichnet. Interessant sind die Handlungsoptionen, die am Schluss der Arbeit aufgezeigt werden. Da heißt es unter anderem: „Es ergaben sich in dieser Arbeit Hinweise darauf, dass soziale Unterstützung durch Vorgesetzte mit Burnout zusammenhängt.“15 „Weitere Zusammenhänge wurden zwischen Erholungsbedürfnis und Burnout und Abschalten und Burnout gefunden.“16 Eine möglichst klare Trennung zwischen Arbeits- und Familienbereich erscheint demnach wünschenswert zu sein.

7. Schlussbemerkungen Gleichwohl möchte ich die notwendige gesellschaftliche und kirchliche Debatte um berufliche Belastungserkrankungen mit einer kritischen Anmerkung begleiten. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in diesem Bereich auch „Übertragungen“ und Verstärkungen stattfinden. Übersensibilisierungen werden besonders dann erkennbar, wenn man den Vergleich zum Beispiel mit dem Pfarramtsalltag in Osteuropa oder Afrika wagt. Mit dieser Bemerkung möchte ich ein gewisses Quantum an Nüchternheit in die Debatte eintragen, das ich auch im Bereich der Psychotherapie beobachte, die ihrerseits die Burn-out-Debatte kritisch begleitet.17 Schließen möchte ich jedoch mit der Erinnerung an die starken Seiten des Pfarrerberufes, jenes Dienstes, in den kein anderer als Jesus Christus selbst ruft. Dazu nenne ich folgende Stichworte:

Vielseitigkeit Verschiedene Wissenschaften und Künste fließen im Pfarrerberuf zusammen. Die Beschäftigung mit Literatur, bildender Kunst, Architektur, Musik, Psychologie oder Naturwissenschaft sind möglich und gewollt.

Generationenübergreifend Der Pfarrberuf ist generationenübergreifend. Wir haben es in der Regel nicht nur mit einer Altersgruppe zu tun, sondern sind mit 15 A.a.O., 66. 16 Ebd. 17 An erster Stelle kann hier Manfred Lütz genannt werden, der 2012 mit seiner These: „Burn out gibt es gar nicht“ für öffentliche Aufmerksamkeit sorgte.

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Menschen von ihrer Geburt an bis zu ihrem Sterben unterwegs. Diese Vielfalt verhindert einseitige Dauerbelastungen durch die Konzentration auf nur eine Altersgruppe. Beispielsweise folgt dem herausfordernden Konfirmandenunterricht der eher ausgeglichene Seniorennachmittag bei Kaffee und Kuchen.

Flexibilität Unser Beruf ermöglicht ein hohes Maß an Flexibilität. Der Arztbesuch mit den Kindern ist an einem Vormittag problemlos zu organisieren und kleine Reisen zum Beispiel zu Familienanlässen sind gut einzurichten.

Sicherheit Die wirtschaftliche Sicherheit des Beamtenstatus ist in Zeiten des wirtschaftlichen Wandels nicht zu unterschätzen. Dass das gewollt hohe Maß an Bindung auch zur Belastung werden kann, ist dabei nicht zu übersehen.

Breites soziales Netzwerk Der Pfarrerberuf ermöglicht ein breites soziales Netzwerk, das in der starken Vernetzung der Gemeinden untereinander begründet ist. Im kirchlich verabschiedeten Papier „Amt, Ämter und Dienste in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ heißt es: „Pfarrer sind zum Hirtenamt der Kirche ordinierte Geistliche, die in einer Gemeinde als berufene und eingeführte Pastoren dienen. Sie üben das Amt der Wortverkündigung und Verwaltung der Sakramente in der Gemeinde in dem Sinne aus, wie es in diesem Papier entfaltet ist. Für den Aufbau der Gemeinde (oikodome) sind sie dabei auf die Wahrnehmung mannigfacher Dienste durch andere Personen in der Gemeinde angewiesen.“18

Wenn es gelingt, in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche ein Klima der Wertschätzung und Anerkennung sowohl der ehrenamtlichen wie der pfarramtlichen Arbeit weiter zu entwickeln, so wird davon das Pfarrerbild der SELK profitieren. 18 Amt, Ämter und Dienste in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), 23.

SAMMELREZENSION

„… und machet zu Jüngern alle Milieus …“ Milieustudien als Herausforderung für die Kirche von heute Michael N. Ebertz/Hans-Georg Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche, Echter-Verlag, Würzburg ²2008, 312 Seiten – ISBN 978-3-429-02976-0, 16,80 € Michael N. Ebertz/Bernhard Wunder (Hg.), Milieupraxis. Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit, Echter-Verlag, Würzburg 2009, 191 S. – ISBN 978-3-429-03161-9, 14,- € Claudia Schulz/Eberhard Hauschildt/Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfe für Kirche und Gemeinde, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen ²2009, 296 Seiten – ISBN 978-3-525-600078, 24,95 € [inzwischen in 3. unveränd. Aufl. 2010 erschienen] Claudia Schulz/Eberhard Hauschildt/Eike Kohler, Milieus praktisch II. Konkretionen für helfendes Handeln in Kirche und Diakonie, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, 333 Seiten – ISBN 9783-525-60010-8, 24,95 €1

1. Milieus Dass sich in den westlichen, modernen Gesellschaften die Lebenswelten der einzelnen Menschen auseinanderentwickeln, ist unübersehbar. Dass davon auch die Kirchen betroffen sind, ist ebenso selbstverständlich. Nicht zuletzt aufgrund des Mitgliederschwundes in den letzten Jahrzehnten rücken in den beiden großen Kirchen in Deutschland, der römisch-katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die ganz unterschiedlichen Milieus in den Blick. Aber auch in kleineren Kirchen wie der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK) wird dieser Zusammenhang in jüngerer

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Im Folgenden werden die einzelnen Titel nach den Herausgeber-/Verfassernamen und ggf. mit Angabe des Bandes angeführt.

LuThK 37 (2013), 43-54

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Sammelrezension

Zeit zunehmend thematisiert.2 Dabei steht die Frage im Raum: Wie kann es Kirche gelingen, nicht nur Menschen aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen mit ihrer Botschaft und ihrem Angebot zu erreichen, sondern möglichst in alle gesellschaftliche Bereiche hineinzuwirken? Unter Milieus werden in diesem Zusammenhang vor allem „Kontexte und Zusammenhänge bestimmter Bevölkerungsgruppen [verstanden], die sich durch ähnliche Lebensbindungen, Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Lebensweisen, Lebensstile und Lebensführungen und eine verstärkte Binnenkommunikation ausweisen.“3 In den angegebenen Veröffentlichungen werden die Ergebnisse aus soziologischen Studien unterschiedlicher Herkunft aufgenommen und für die gemeindliche und kirchliche Arbeit fruchtbar gemacht. Dabei ist das Bemühen erkennbar, Kirche nicht schon durch die Auswahl und Ausforung der jeweiligen gemeindlichen Angebote für Menschen aus bestimmten Milieus unattraktiv oder gar abstoßend zu gestalten

2. „Hinaus ins Weite“4 In der römisch-katholischen Kirche ist die Herausforderung durch die unterschiedlichen sozialen Milieus als erstes umfassend in den Blick genommen worden. Ausgangspunkt ist dabei eine Studie des Heidelberger Instituts Sinus Sociovision aus dem Jahr 2006.5 In der Folge 2

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Vgl. Jochen Roth, Die Kirche im Milieu, in: Lutherische Kirche 9/2011, 14f, und die Themenankündigung für den Kirchentag der SELK unter www.selkkirchentag.de, dort unter „Programm“, dort unter „Themenbereich 4: Kirche und Gemeinde“: „Kirche und soziale Milieus“ (Stand: 16.9.2011). Michael N. Ebertz, Hinaus in alle Milieus?, in: Ebertz/Hunstig, 17-34, dort 18. Die Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich im Folgenden jeweils auf das im jeweiligen Abschnitt vorgestellte Buch. Carsten Wippermann/Isabel de Magalhaes, Zielgruppenhandbuch. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus® 2005. Eine qualitative Studie des Instituts Sociovision zur Unterstützung der publizistischen und sozialen Arbeit der Katholischen Kirche in Deutschland im Auftrag der MedienDienstleistung GmbH und der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle, Hei-

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hat es noch eine Jugendstudie im Raum der römisch-katholischen Kirche gegeben, deren Ergebnisse 2008 veröffentlicht worden sind.6 Die beiden ersten vorzustellenden Bücher stammen aus dem Bereich der römisch-katholischen Kirche und beziehen sich auf diese Studien. „Hinaus ins Weite“ ist dabei ein Überblicksband, der die Ergebnisse der Milieu-Studien in einem ersten Teil prägnant vorstellt und theologisch reflektiert. In einem zweiten Teil werden exemplarisch Projekte milieusensibler Gemeindearbeit präsentiert. Dieses Buch eignet sich gut zu einer ersten Beschäftigung mit der Thematik. Besonders hilfreich ist dabei, dass immer wieder auch der Versuch unternommen wird, diese soziologische Betrachtungsweise mit direktem Marketinghintergrund auch im theologischen Zusammenhang zu beleuchten. So kommen Möglichkeiten und Grenzen der Aufnahme solcher milieubezogener Studien in den Blick: „Christliche Kirchen sind auf den Gott Jesu verpflichtet, der aber ist der Gott aller Menschen und will das Heil aller. Nur deshalb brauchen Kirchen ,Zielgruppenkenntnisse‘. Nicht, um die Botschaft zu adaptieren, sondern um mit allen Kulturen heute, den globalen wie den lokalen, gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen, was es dann bedeuten 7 könnte, an diesen Gott des Jesus zu glauben.“ – Und: „Es meint die Fähigkeit, von den anderen her die Bedeutsamkeit des Evangeliums 8 erschließen und entdecken zu können.“

So wird erkennbar, dass eine intensive Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Milieus durchaus vergleichbar ist mit dem Schritt der „Homiletischen Besinnung“ im Rahmen der Predigtarbeit: Ich nehme

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delberg 2006. Neuerdings als freier Download abrufbar unter: http://www.mdgonline.de/leistungen/mdg-milieuhandbuch/mdg-milieuhandbuch-download.html (Stand: 21.9.2011). Carsten Wippermann/Marc Calmbach, Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U 27, Bund der Deutschen Katholischen Jugend und Misereor (Hg.), Düsseldorf 2008. Rainer Bucher, Mehr als Adressaten, in: Ebertz/Hunstig, 67-76, dort 72. A.a.O., 74 (Hervorhebungen im Original).

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wahr, wie Menschen leben, denken, empfinden und versuche in ihre Situation hinein das Evangelium zu predigen bzw. für sie kirchliche Angebote zu gestalten. Im zweiten Teil des Buches „Hinaus ins Weite“ werden Beispiele vorgestellt, wie eine solche milieusensible Gemeinde- und Pfarramtsarbeit aussehen kann. So wird eine Motorradwallfahrt für Frauen aus den Milieus der „Postmateriellen“ und „Experimentalisten“ vorgestellt (213ff.), die eben gerade nicht an familienbezogene oder traditionelle Erwartungs- und Verhaltensmuster anknüpft und doch ein genuin kirchliches Angebot darstellt. An anderer Stelle gerät die Ästhetik von Kirchgebäuden und -grundstücken in den Blick (163ff.). Auch die Garten- und Schaukastengestaltung sowie die Optik des Eingangsbereichs von Kirchen bzw. Gemeindehäusern ist von Bedeutung, wenn es darum geht, bestimmte Zielgruppen ansprechen oder eben auch nicht ansprechen zu können. An den Stellen, an denen die Beispiele konkret gefasst sind und z.T. auch mit Bildern unterlegt sind, gewinnt das Buch in besonderer Weise an Aussagekraft. Auch wenn dies nicht bei allen Beispielen aus dem zweiten Teil des Buches der Fall ist, lohnt sich die Lektüre, die sicher an der einen Stelle intensiver, an der anderen Stelle weniger intensiv ausfallen wird. Es präsentiert dem Leser jedenfalls einen ganzen Blumenstrauß an Möglichkeiten, die eine intensive Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Milieus und kirchlichen Milieustudien erwachsen können.

3. „Milieupraxis“ Wer tiefer schürfen will, wird zum Buch „Milieupraxis“ greifen. Insbesondere der erste Teil, in dem ausschließlich Beiträge von Michael N. Ebertz zusammengestellt sind, ermöglicht eine vertiefte Wahrnehmung dessen, was die Milieustudien an Ergebnissen vorhalten. Neben den noch immer kompakten, aber gegenüber den Darstellungen in „Hinaus ins Weite“ deutlich erweiterten Darstellungen der einzelnen Milieus (59ff., für die Jugendlichen noch einmal separat ab 73ff.) bekommt der Leser hier thematisch orientierte Zugänge gebo-

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ten: Wie gehen die Milieus mit Medien um? Wie gestalten sie ihre Zeit? Wie nehmen sie Räume wahr und gestalten sie? Hilfreich sind dabei auch die Beiträge, die einerseits den Milieubegriff noch einmal präzisieren („Was Milieus sind und was sie nicht sind“, 31ff.) und andererseits auch die Kommunikation der einzelnen Milieus untereinander (15ff.) in den Blick nehmen. Ein zweiter Teil bietet drei Beispiele, wie sich die Ergebnisse der Milieustudien auch für Gruppenarbeit fruchtbar machen lassen. Besonders gelungen scheinen mir dabei die „Biblischen Anschlüsse“ (96ff.) zu sein. In diesem Beitrag hat erneut Michael N. Ebertz für jedes Milieu je einen biblischen Text angegeben, der an Erwartungshaltungen des jeweiligen Milieus anknüpft und je einen, der diesen Erwartungen widerspricht (etwa für das familienbezogene Milieu der Bürgerlichen Mitte Mt 18,10–14 und Mt 10,37–39). Gerade dieser Zugang macht deutlich, dass es bei milieusensibeler Gemeindearbeit eben nicht darum gehen kann, bei bestimmten Zielgruppen um bloße Zustimmung zu werben und sich entsprechend anzupassen, wohl aber darum, bewusst wahrzunehmen, wie die jeweilige Botschaft in den Ohren bestimmter Menschen klingt. In einem dritten Teil sind wieder Beispiele für die Anwendung in der Gemeindepraxis angeführt. Hier geht es u.a. um die milieusensible Gestaltung von Pfarrbriefen, Homepages, Gottesdienstplänen und Kindertagesstätten. Praktisch entfaltet wird in diesem Band auch noch einmal umfangreicher die Arbeit mit sogenannten micromDaten (111ff. und 117ff.), in denen die Milieus straßenbezogen präsentiert werden. So kann eine lokale Kirchengemeinde erkennen, welchen Milieus die nächsten Nachbarn tatsächlich angehören und wie sich von daher kirchliche Angebote auch gestalten lassen. Wer Interesse am Thema hat und sich auch vor bisweilen etwas abstrakterer Redeweise nicht zurückschreckt, wird in diesem Buch noch weiter führende Hinweise finden als in „Hinaus ins Weite“ – und das noch zu einem erstaunlich günstigen Preis. Auffällig ist bei beiden Veröffentlichungen übrigens, wie wenig die Erkenntnisse auf

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den Bereich der römisch-katholischen Kirche beschränkt sind und wie leicht eine Übertragung auf andere kirchliche Verhältnisse möglich zu sein scheint.

4. „Milieus praktisch“ Während die ersten beiden Bände aus dem Bereich der römischkatholischen Kirche stammen, nehmen die beiden Bände unter dem Titel „Milieus praktisch“ wesentliche Erkenntnisse des Forschungsstandes aus dem Bereich der EKD auf. Mehr noch als die beiden erstgenannten Bücher lässt sich dieses Buch tatsächlich als Praxisbuch und Handlungshilfe für die Gemeindearbeit vor Ort nutzen. Nach einem kurzen ersten Teil (19ff.), der nach den Gründen für ein Aufgreifen der Milieuperspektive fragt, werden im zweiten Teil (37ff.) sechs Milieus kurz, prägnant und anschaulich dargestellt. Besonders erfreulich ist es, dass die Autoren dieses Bandes sich an dieser Stelle die Mühe gemacht haben, Brücken zu andersartigen Milieueinteilungen (etwa aus der Sozialforschung aus dem Bereich der römisch-katholischen Kirche) zu schlagen. So ist es möglich, die unterschiedlichen Ergebnisse und Veröffentlichungen aufeinander zu beziehen, auch wenn die Milieueinteilungen im Detail differieren. Kurz und prägnant sind die Milieueigenschaften dann auch noch einmal in zwei tabellarischen Übersichten am Buchende zusammengestellt, die einen schnellen Zugriff auf wesentliche Erkenntnisse erlauben. In einem dritten Buchteil (120ff.) wird die Milieuperspektive dann auf konkrete Bereiche kirchlicher Praxis bezogen, etwa auf Gottesdienst, Bibel, Predigt, Ehrenamt, Spendenbereitschaft u.v.m. In diesen thematischen Querschnitten wird besonders deutlich, wie vielfältig die Zugänge von Kirchenmitgliedern schon zu den Hauptfeldern kirchlichen Handelns ausgeprägt sind und wie groß von daher die Herausforderungen sind, dem angemessen zu begegnen. In einem vierten Hauptteil (219ff.) bieten die Autoren konkrete Planungshilfen für kirchliche Arbeit aus Milieuperspektive, bevor der fünfte Teil (256ff.) das Buch mit theologischen Reflexionen beschließt. Während die ersten Teile dieses Buches insbesondere für die Gemeindearbeit vor Ort gleichermaßen anregend wie herausfordernd sind, schlägt der letzte Hauptteil noch einmal die Brücke zu grundsätzlichen Gedanken, die der weiteren theologischen Reflexion be-

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dürfen, wenn etwa davon die Rede ist, dass „[d]ie jeweiligen Besonderheiten der Milieus […] theologieproduktiv [sind].“ (258). Pointiert formulieren die Autoren: „[Die] ‚inkarnatorische‘ Verbindung von allgemeiner Wahrheit und individueller – milieuspezifischer – Ausgestaltung erscheint uns nicht als Schwäche, sondern als Stärke des Christentums. Ohne sie ist die Botschaft vom Reich Gottes nicht zu haben.“ (271)

Entsprechend stellen die Autoren das Evangelium in der jeweiligen ,Sprache‘ der Milieus vor (262ff.) und beschreiben beispielhaft am Weihnachtsfest (271ff.), wie unterschiedlich die Angehörigen der einzelnen Milieus dieses Fest wahrnehmen und feiern. Bei allen auch grundsätzlich theologischen Aufgaben, vor die Kirche und Theologie im Rahmen von milieuorientierter kirchlicher Arbeit gestellt sind und die unten zumindest benannt sein sollen, wird der Ertrag dieser Arbeit in diesem Buch doch greifbar deutlich. Dieses Buch gehört in die Hände von Pfarrern, die im Rahmen der Predigtarbeit nicht nur biblische Texte, sondern auch Lebenswelten exegesieren wollen. Und genauso gehört es in die Hände von Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorstehern, die sich nicht damit zufrieden geben möchten, dass sich bestimmte Gesellschaftsgruppen von kirchlichen Angeboten scheinbar nicht erreichen lassen.

5. „Milieus praktisch II“ Der zweite Band der „Milieus praktisch“-Reihe ist konzeptionell anders aufgebaut als der erste. Die Autoren des ersten Bandes fungieren hier als Herausgeber und nur zum Teil als Autoren der einzelnen Beiträge. Vom Aufriss gleich dieser Band damit stärker den beiden zuerst vorgestellten Bänden aus dem römisch-katholischen Raum. Es ist eher ein Lese- als ein Arbeitsbuch und thematisch auf das diakonische Handeln der Kirche ausgerichtet. Für Gemeinden und Kirchenvorstände, die gerade in diesem Bereich Schwerpunkte setzen möchten oder vor Schwierigkeiten oder Neuaufbrüchen in diesem Arbeitsfeld stehen, kann es gleichwohl weiterführende Perspektiven erschließen. Inhaltlich geht es um die

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die Stichworte Professionelles Helfen (33ff.), Gesundheit und Krankheit (65ff.), Konflikte (91ff.), Kinder und Kindertagesstätten (119ff. bzw. 135ff.), Jugend (153ff.), Alter (177ff.), Migration (215ff.) und Armut (241ff.). Der direkte Bezug zu den im ersten Band vorgestellten Milieus erfolgt dabei unterschiedlich umfangreich und deutlich. Anregend sind auch die Beiträge dieser Veröffentlichung nahezu ausnahmslos. Abgeschlossen wird dieser Band zunächst durch zwei Aufsätze zu interkultureller Seelsorge (263ff.) bzw. zu den Herausforderungen, die sich für diakonische Institutionen aus Milieuperspektive ergeben (283ff.). Ganz am Ende steht ein Beitrag unter der Überschrift „Zur Theologie des helfenden Handelns“ von Eberhardt Hauschild, einem der Herausgeber. Wie schon im ersten Band eröffnet auch hier der letzte Beitrag die Tür zu weiterführender theologischer Reflexion, wenn – auf den ersten Blick etwas sperrig, aber letztlich gerade so sehr aussagekräftig – von „Diakonische[n] Spiritualitäten“ (324) die Rede ist, also von unterschiedlichen, milieubedingten, gleichwohl jeweils christlich geprägten Zugängen zu helfendem Handeln. Auch wenn ein einleitendes Kapitel kurz die Ergebnisse aus dem ersten Band zusammenfasst und eine der Tabellen aus dem ersten Band auch dem zweiten Band beigegeben ist, ist es für das Verständnis des zweiten Bandes hilfreich, wenn die Lektüre des ersten Bandes vorausgegangen ist.

6. Perspektiven Wer ein klassisches Missionsgebiet etwa im südlichen Afrika besucht, wird sich kaum darüber wundern, dass sich bei aller (z.T. überraschender) Ähnlichkeit z.B. gottesdienstlicher Formen das kirchliche Leben selbst in konfessionsverwandten Gemeinden erkennbar vom Gemeindeleben in Deutschland unterscheidet. Eine andere Sprache wird gesprochen, andere musikalische Formen haben ihren Platz gefunden, andere kulturelle Gepflogenheiten sind im Miteinander aufgenommen worden.

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Wenn nun auch für den deutschen Kontext der Missionsgedanke in den Blick rückt, wie es im Zusammenhang der Milieuüberlegungen ganz unverkrampft geschieht,9 dürfte es eigentlich nicht verwundern, dass auch hier nach den ,Sprachen‘ der Menschen, ihren musikalischen Gewohnheiten und ihren kulturellen Gepflogenheiten gefragt wird. Doch weil wir selbst in diesem kulturellen Kontext beheimatet sind, mag es manchem schwer fallen, solche Differenzerfahrungen wahrzunehmen und stehen zu lassen. Und doch ist eine solche „‚inkarnatorische‘ Verbindung von allgemeiner Wahrheit und individueller – milieuspezifischer – Ausgestaltung“10 eben unabdingbar, zumal die jeweils gewohnte Ausgestaltung kirchlichen Lebens ja auch kulturell bedingt ist und bestimmten Milieus den Zugang zum Gemeindeleben eher leicht und anderen eher schwer macht. Allerdings bleibt ein milieusensibler Zugang immer auch nur eine Zugangsweise, die niemals normativ für alle Entscheidungen im kirchlichen und gemeindlichen Leben sein kann. Erfreulich nüchtern stellen die Autoren des Bandes „Milieus praktisch“ fest: „Die Milieuperspektive ist eine zauberhafte Sehhilfe. Nicht mehr und nicht weniger. Zauberhaft ist sie, weil sie wie jene Brille beim Kinderarzt dabei hilft, vorher Unsichtbares zu entdecken. Aber wie jene Brille auch, ist sie nicht geeignet, um alles wahrzunehmen. Wir schlagen Ihnen in diesem Buch nicht vor, diese Brille ständig zu tragen und zu versuchen, mit ihr alles lesen und alles sehen zu wollen. Sie ist eine 11 Sehhilfe für ganz bestimmte Aufgaben.“

Nicht zuletzt ist auch auf das „Milieu-Dilemma“12 hinzuweisen, das nach Ansicht von Schulz, Hauschildt und Kohler in Folgendem besteht:

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So etwa bei Schulz/Hauschildt/Kohler I, 249. A.a.O., 271. A.a.O., 13. A.a.O., 257 [dort kursiv].

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„In der öffentlichen Wahrnehmung, in dem, was man so redet über die Kirche summieren sich die Negativketten. Und egal, was Kirche tut, egal worin sich Gemeinde engagiert, sie wird dabei immer das Feindbild bestimmter Milieus bedienen. […] Will die Kirche es nun stattdessen immer zugleich allen Milieus recht machen, dann ist auch dieser Mischmasch weit entfernt von den Vorstellungen des jeweiligen Mili13 eus über gelungene Kirche.“

Drei Bereiche sehe ich, in denen noch weitere Klärungen für milieusensible Theologie und Praxis nötig sind: 1. Wie sind allgemeine Wahrheit und milieuspezifische Adaption zueinander in Beziehung zu setzen? Wo einzelne ,Theologien‘ verschiedenen Milieus zugeordnet werden, droht die Gefahr, dass sich die kirchliche Verkündigung an dem orientiert, was die jeweilige Zielgruppe gerade hören will. Widerständiges kann so leicht ausgeblendet werden. Den Autorinnen und Autoren der vorgestellten Bücher unterstelle ich dies ausdrücklich nicht. Erkennbar sind deren Versuche, immer auch Dimensionen eines „Jenseits der Milieus“14 zu benennen und zu formulieren. Und doch bleibt die Verhältnisbestimmung zwischen beiden Polen eine noch weiter zu bearbeitende Aufgabe. 2. Welche Rolle spielt der Gedanke der Konversion in milieuorientierten theologischen Ansätzen? Das Christentum ist in seinen Anfängen, aber auch in seiner Geschichte immer wieder geprägt gewesen von Konversionen, die mit Veränderungen in der Le13 Ebd. 14 A.a.O., 279. – Vgl. auch Eberhard Hauschildt, Milieus in der Theologie helfenden Handelns, in: Schulz/Hauschildt/Kohler II, 303–329, dort 328f.: „Eine Theologie helfenden Handelns soll herausarbeiten, wie die biblischen Aussagen zum Helfen milieubedingte Beschränktheiten übersteigen und so zu einem gemeinsamen Lernprozess der an der Kommunikation des Evangeliums Beteiligten verhelfen. Es ergibt sich ein zusammenstimmendes Profil christlichen Helfens, und es gibt auch Grenzen diakonischer Spiritualität. Um beides zu verantworten, ist gerade der Bezug darauf hilfreich, wie die biblischen Texte eine Fülle bieten und im Kanon aufeinander querverweisen. Die Einheit der christlichen Spiritualität liegt im gemeinsamen Bezug darauf, sich den biblischen Texten vom Helfen mit einem Vertrauen in deren Zeigekraft auszusetzen.“

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bensweise einhergegangen sind. Es ließe sich sogar pointiert sagen, dass christlicher Glaube ohne solche Konversionen (in welchem Maßstab auch immer) nicht zu haben ist.15 Wie ist also bei milieusensibler Gemeindearbeit dieser Faktor in die Überlegungen einzubeziehen? Ist beispielsweise das Phänomen „Synkretismus“ im Milieu der „Experimentalisten“16 einfach als Gegebenheit hinzunehmen oder kann, darf, soll oder muss Kirche an dieser Stelle auf Konversion hinwirken? 3. Wie lassen sich die Ergebnisse der Milieustudien konkret umsetzen – insbesondere auch im Bereich von Kirchen, die nicht volkskirchlich strukturiert sind? Die Autoren des Bandes „Milieu praktisch“ benennen grundsätzlich drei Modelle: 1. „jedem Milieu seine Kirche“, 2. „eine Kirche jenseits der Milieus“ und 3. „eine Kirche, die Milieus miteinander verbindet.“17 Das erste Modell sehen sie im Denominationalismus in den USA gegeben, in dem sich unterschiedlichste Kirchen nebeneinander und auseinanderentwickeln. Das zweite Modell sehen sie in Kirchen verwirklicht, die in „einer Erweckungstradition“18 stehen, tatsächlich Mitglieder aus verschiedenen Herkunftsmilieus ansprechen, letztlich aber doch ein „Sondermilieu“19 bilden, das sich „doch langfristig irgendwo im Spektrum der Stile verorten [muss]“.20 Das dritte und von den Autoren favorisierte Modell geht davon aus, dass unterschiedliche Lebens- und Glaubensstile in einer Kirche nebeneinander Platz finden und gleichzeitig deutlich wird: „[E]s gibt etwas, was uns verbindet.“21

15 Vgl. den Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu nach der Darstellung des Markusevangeliums: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). 16 Vgl. Ebertz/Wunder, 67f. 17 Schulz/Hauschildt/Kohler I, 246f. [im Original jeweils kursiv]. 18 A.a.O., 246. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 A.a.O., 247.

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Es ist deutlich erkennbar, dass das Modell 3 im landeskirchlichen Kontext, in dem Gemeinden lokal eng beieinander liegen, sinnvoll und relativ gut umsetzbar ist. Profilgemeinden sind in einem solchen Zusammenhang leicht vorstellbar, ohne dass kirchliche Verbundenheit zwischen den Gemeinden darüber aufgekündigt werden müsste. Für nicht volkskirchliche strukturierte Kirchen ergeben sich m.E. vor allem zwei Perspektiven. Die erste besteht darin, dass Gemeinden bewusst darauf achten, mit unterschiedlichen Gemeindeveranstaltungen unterschiedliche Milieus zu erreichen und nicht das gesamte Gemeindeleben bloß auf ein oder wenige Milieu(s) zuzuschneiden. Die zweite Perspektive besteht darin, beim Start neuer Projekte bewusst auch das ökumenische Umfeld wahrzunehmen. Wo etwa die römisch-katholische Nachbargemeinde schon einen Arbeitszweig für die Arbeit unter „Konsum-Materialisten“ begonnen hat, muss eine Gemeinde der SELK nicht unbedingt ein ähnliches Projekt starten, sondern kann und sollte bewusst die Arbeit in solchen Milieus beginnen, die durch die Arbeit anderer Kirchen und Gemeinden bisher noch nicht erreicht worden sind. Dies würde dann auch dem Sinn der Charta Oecumenica entsprechen, die unter II,2 folgendes festhält: „Wir verpflichten uns, über unsere Initiativen zur Evangelisierung mit den anderen Kirchen zu sprechen, darüber Vereinbarungen zu treffen und so schädliche Konkurrenz sowie die Gefahr neuer Spaltungen zu vermeiden; […]“22

Unabhängig von den Fragen und Herausforderungen, vor der auch und an manchem Punkt gerade milieusensible kirchliche Arbeit steht, scheint es mir insgesamt lohnenswert zu sein, z.B. mithilfe der vorgestellten Bücher gemeindliche und kirchliche Arbeit zu strukturieren, zu planen oder sie auch einmal einer kritischen Revision zu unterziehen. Christoph Barnbrock, Oberursel

22 Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, zitiert nach: http://www.oekumene-ack.de/uploads/media /charta-oecumenica.pdf [Stand: 16.12.2011], dort 3.

BUCHSCHAU Hans Martin Dober, Film-Predigten II (Dienst am Wort 146), Göttingen 2012, 192 Seiten, ISBN 978-3-525-63042-6, 17,99 € Filme sind für die kirchliche Verkündigung ein durchaus interessantes Medium, – auch weil sie ein breiteres Spektrum von Milieus ansprechen, als man es dem gesprochenen Wort zutrauen mag. Nachdem ich selbst eine kleine Reihe mit drei „Kurzfilmgottesdiensten“ gestaltet habe, war ich natürlich gespannt auf das, was Hans Martin Dober mitzuteilen hat. Es ist schon sein zweites Buch zum Thema „Filmgottesdienste“, er hat also offenbar schon einiges an Erfahrungen sammeln können. Mich interessierten zunächst ganz praktische Fragen. Z.B.: Wie passt ein Film (in Spielfilmlänge, denn um solche geht es hier) in einen Gottesdienst? Ich fand auch immer die Technik eine besondere Herausforderung, denn im Gottesdienst soll ja dann alles reibungslos klappen. Auch die rechtliche Seite hat mich interessiert, denn es gibt zwar viele Kinofilme, die man sich bei den diversen Bildstellen ausleihen kann, und dann i.d.R. auch die Vorführrechte hat, – es besteht aber ein Werbeverbot. Bei Kurzfilmen ist das wesentlich entspannter, die sind für den Filmverleih eher uninteressant. Kurzum: Diese Fragen wurden insofern enttäuscht, als es hier nicht um Gottesdienste geht, in denen ein Kinofilm vorgeführt wird. Die Vorführung fand meistens ein paar Tage vorher statt, – in einem benachbarten Kino, in Ausnahmefällen in der Kirche am Samstagabend vor der Predigt. D.h.: All die technischen Fallstricke sind damit umgangen, zu den rechtlichen macht der Autor einige hilfreiche Anmerkungen im Vorwort. Wie soll ich es nun sagen? Für diese Weise, den Film mit dem Gottesdienst zu verbinden, zahlt er den Preis … – oder besser: Diese Art, den Film mit dem Gottesdienst zu verbinden, eröffnet ihm die Chance …? – Jedenfalls muss – da ja nicht automatisch alle Mitfeiernden im Gottesdienst den Film vorher auch gesehen haben – die Predigt den Film weitgehend nacherzählen. Das nimmt in der Predigt fast den gesamten Raum ein, gibt aber auch die Möglichkeit, einzelne Aspekte des Films besonders hervorzuheben. (Ich habe in den Kurzfilmgottesdiensten auf eine Predigt nach dem Film verzichtet, er war eingebettet in hinführende Texte und Bibellesungen, und wir hatten die Möglichkeit, anschließend im Gespräch Film und biblische Botschaft zu verknüpfen.) Für den Autor muss der „für die Predigt ausgewählte Film (…) nicht selbst das Evangelium verkünden. Es reicht für seine homiletische Tauglichkeit aus, wenn sich die Frage nach dem Evangelium im dargestellten Gesetz des Lebens auffinden lässt. Auf diese Frage ist dann eine begründete Antwort zu finden. … Nicht muss der Film ,christlich‘ sein in dem Sinne, dass er das Christentum darstellt, oder dass er selbst schon ,predigte‘ – nota bene gibt es solche Filme, doch nicht nur sie eignen sich für eine Film-Predigt.“ (13)

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Damit ist das entscheidende Stichwort genannt: „Gesetz des Lebens“. Breiten Raum widmet der Autor der Frage, was er unter „Gesetz“ versteht. Zum einen ist das die Tora. „Als von Gott – in seinem Wort – kommendes Gebot ist das religiös bzw. theologisch verstandene Gesetz (hebräisch: die Tora) für den Menschen aber verpflichtend erst in der ,Korrelation von Gott und Mensch‘ – und nicht ursprünglich aufgrund einer von Kant so genannten ,statutarischen‘ oder bloß durch die Tradition verbürgten Geltung.“ (16) Daneben versteht der Autor unter Gesetz aber auch die „Lebenswirklichkeit von heute“: „Um wie viel mehr ist der Wandel von Normen und Lebensformen, von Deutungsmustern und Plausibilitäten in der Lebenswirklichkeit auch heute aktuell. Immer stehen Festgefügtes und Flüssiges, Struktur und Antistruktur in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis. Doch auch in den wirklichen Lebensverhältnissen der Gegenwart vermag sich die Weg weisende Kraft des göttlichen Gebotes zu bewähren, wie es im Dekalog und im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist.“ (20f) Schließlich erkennt der Autor noch eine dritte Gestalt des Gesetzes: das System des Rechts. „Das Recht ist zwar von Moral und Sitte zu unterscheiden, gerade in seinem spannungsvollen Verhältnis zu einer grundlegenden Ethik ist es aber davor zu bewahren, zu einer namenlosen Schicksalsmacht zu werden die auf perfide Weise Einzelinteressen zum Sieg verhilft …“ (21) Das ganze 6. Kapitel seines Buches widmet der Autor nun der Aufgabe, diese drei Gestalten des Gesetzes in den ausgesuchten Filmen nachzuzeichnen. Die Filme sind: Die Kommissarin (Sowjetunion 1967/1988) Das weiße Band (Deutschland/Österreich/Frankreich/Italien 2009) An ihrer Seite (Kanada 2006) Vertigo – Aus dem Reich der toten (USA 1958) Man nannte ihn Hombre (USA 1967) Entscheidung vor Morgengrauen (USA 1951) 2001: Odyssee im Weltraum (UK/USA/Frankreich 1968) Denn sie wissen nicht, was sie tun (USA 1955) Das Ende ist mein Anfang (Deutschland 2010) Lemon Tree (Israel/Deutschland/Frankreich 2008) Tsotsi (Südafrika/Großbritannien 2005) Broken Silence (Schweiz 1995) Die Verurteilten (USA 1994) Into the Wild (USA 2007) Drei Farben Blau (Frankreich/Polen 1993) Der Rest des Buches ist eine Dokumentation der Gottesdienste zu diesen Filmen aus den Jahren 2009 bis 2011, – samt der gehaltenen Film-Predigten und der speziell für diese Gottesdienste verfassten Fürbittengebete.

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Hier bekommt man einen guten Eindruck davon, wie diese Gottesdienste gestaltet wurden, und wie die Botschaft des Evangeliums jeweils auf der Folie des in der Filmnacherzählung beschriebenen Gesetzes aufleuchtet. Spannend wäre es sicherlich, so eine Filmvorführung samt anschließendem Gottesdienst einmal mitzuerleben. Mein Eindruck beim Lesen des Buches war immer wieder, dass die Filme eben doch nicht unbedingt meine Lebenswirklichkeit erzählen, sondern schon sehr spezielle (Ausnahme-)Situationen schildern, die mir als Predigthörer dann doch auch immer ein wenig fremd bleiben. So habe ich mich in den Predigten denn auch selten mit meiner Lebenswirklichkeit wiedergefunden, manche wirkten auf mich eher wie eine Vorlesung. Die Brücke zwischen den Geschichten des Films und meiner eigenen Geschichte zu schlagen, ist m.E. bei den Gebeten noch am ehesten gelungen. Es macht direkt neugierig, zu erfahren, wie die Predigthörerinnen und Hörer diese Art der Predigt angenommen haben. Immer wieder wird gefragt, ob nicht die Frage Luthers nach dem „gnädigen Gott“ längst zu einer Frage geworden ist, die wir beantworten, obwohl niemand sie mehr ernsthaft stellt. Dass diese Frage in anderen Gewändern – nämlich in den unterschiedlichen Facetten des Gesetzes, die Dober entfaltet – sehr wohl noch existiert und in den meistens sehr weltlichen Filmen auch anklingt, arbeitet der Prediger in vielen Fällen sehr gut und überzeugend heraus. Die Antwort des Evangeliums klingt hingegen nur sehr vorsichtig, fast tastend, an. Das ist einerseits sehr zu respektieren, weil der Prediger natürlich den Film nicht kirchlich/christlich vereinnahmen will. Wenn er andererseits eingangs sagt, dass auch die Film-Predigt Predigt des Evangeliums sein will und muss, – so bleibt doch die Frage zurück, ob dieses Evangelium als Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus wirklich genügend zum Leuchten kommt. Stefan Förster, Walkemühlenweg 28b, 37083 Göttingen

Joachim Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her (HUTh 57), Mohr Siebeck, Tübingen 2010, XIV, 638 Seiten – ISBN 978-3-16-150578-2, 149,- €. Wer dieses Buch von Joachim Ringleben in die Hand nimmt und darin fortschreitend liest, öffnet damit eine Schatzkammer. Der Autor trägt darin eine unzählige Fülle an Lutherzitaten zusammen, interpretiert sie und fügt sie zu einer Gesamtschau zusammen, die beeindruckend ist. Ziel des vorgelegten Buches ist es, nicht nur Martin Luthers Positionen zum Wort Gottes zusammenzufassen, sondern dessen Theologie als Ganze „von der Sprache her“, wie es im Untertitel des Buches heißt, zu erschließen. Dies geschieht in zwei Hauptteilen. Im ersten Hauptteil erfolgt die Grundlegung, in der von der „Sprache überhaupt“ (30) und „Gott und Sprache“ (46) die Rede ist. Im zweiten Hauptteil, „Durchführung“ benannt, werden die grundlegenden Gedanken dann an wesentlichen Topoi der

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Dogmatik dargestellt, plausibilisiert und veranschaulicht. In den Blick kommen dabei insbesondere die Schöpfung, die Christologie, die Sakramente, die Ekklesiologie, das Wort Gottes („Gesetz und Evangelium“, „Wort und Schrift“, „Wort und Glaube“, „Wort und Geist“, „Wort und Vernunft“) sowie die Eschatologie, mit der das Buch dann sachgerecht schließt. Die Luther selbst abgewonnene Grundthese Ringlebens besteht nun darin aufzuzeigen, dass das Wort nicht einfach ein externes Kommunikationsinstrument Gottes ist, sondern dass am Ende tatsächlich Gott „im Wort da ist“ (61). Insbesondere christologisch von Joh 1,1 her fasst er bei Luther diesen Vorgang, indem er Menschwerdung und Wortwerdung zusammendenkt und damit auch Christi Gegenwart und Präsenz notwendigerweise im Wort festhält: „Denn in seinem Wort sagt er selbst sich uns zu, ist heilswirksam bei uns. Dies ist Christi eigentliches Amt, als sein ‚Wortwerk‘, und seine Gegenwart ist Wort-Gegenwart, sprachlich konstituiert.“ (139) Der Ertrag dessen wird m.E. besonders im sakramentstheologischen Teil deutlich, in dem Ringleben verdeutlicht, wie Luthers Position von seiner vom Wort herkommenden Theologie sich von den zwei alternativen, letztlich rationalen Deutungsmodellen seiner Zeit unterscheidet. Weder schließt er sich der „metaphysischen Theorie der ‚Transsubstantiation‘“ (158) an, in der das Wunder des Abendmahlsgeschehens substantiell gedeutet wird, noch dem „hermeneutische[n] Theorem des ‚significat‘“ (ebd.). Stattdessen gilt vom Wortdenken her: „Für diese neue Einheit [sc. im Sakrament] ist aber nach Luther wichtig, daß sie salva distinctione besteht, also den als Widerspruch erscheinenden Unterschied des Geeinten (sc. Brot und Leib) nicht theoretisch eliminieren muß.“ (159) Stattdessen gilt: „Das schöpferische Neusprechen der Elemente mit Christi eigenem Leib im ‚Est‘ stiftet neue Wirklichkeit, die Luther mit auffälligen Neologismen wie ‚fleischsbrod‘ bzw. ‚Blutswein‘ zum Ausdruck bringt“. (162) Immer wieder wird im Folgenden deutlich, wie vielfältig die Verbindungslinien tatsächlich sind, die sich von einem solchen vom Wort her gewonnenen Theologieverständnis ergeben. Grundlegend ist dabei für Ringleben die Erkenntnis: „[N]ur sprachlich können Gott und Mensch miteinander so verkehren, dass Gott Gott bleibt und der Mensch Mensch. […] Im Wort seiner Zusage und Verheißung ‚verspricht‘ sich Gott definitiv dem von ihm (durch die Sünde) getrennten Menschen.“ (448f.) Im Horizont der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bedeutet dies für den Autor: „Die Wahrheit Gottes kommt in seinem zweifachen Wort als die uns wahrmachende Wahrheit an uns. Gott ist als Gott gegen uns (im Gesetz), damit er (als Gott) für uns sein kann (im Evangelium).“ (203) Immer aber geht es tatsächlich um die Gegenwart Gottes im Wort, das eben nicht als rein Äußerliches zu verstehen ist, nicht als etwas, hinter das zurückzufragen wäre, um dann Gott zu finden, sondern vielmehr hält Ringleben mit Blick auf Luther fest: „Die Lektüre der Schrift als Gotteserfahrung zu begreifen – das ist der Kern von Luthers Bibeltheologie.“ (256)

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Dass dies wiederum nicht bedeuten kann, dass das Wort Gottes in seiner verschriftlichten Form an sich schon der Endpunkt der Gottesbegegnung sein kann, macht Ringleben deutlich, wenn er in Aufnahme eines Diktums von R. Barthes konstatiert: „Auch wenn das einseitig überpointiert sein mag, auch theologisch gilt, dass die Schrift (als sui ipsius interpres) allein im Lesen, sofern es im H. Geist geschieht, zu sich kommt.“ (395) Das schriftliche Wort drängt zum Gelesen-, ja zum Lautwerden, sodass aus einem Text Anrede wird: „So lenkt die Schrift von sich aus die Aufmerksamkeit auf den Logos, wenn auch in gegenständlich vermittelter Weise. Genuin sprachlich ist dieses Verhältnis, wenn es beim Lesen zum Angeredetwerden kommt: ‚Wer das wortt Gottes lieset, mit denen redet auch der heilige Geist ([WA]47, 184, 17f).“ (421) Solche Wirksamkeit des Geistes ist für Ringleben erkennbar nicht vom Wort zu trennen und anderswo, in einer davon unterschieden gedachten Vermittlungsinstanz zu suchen, sondern: „Der Geist ist nur am Wort (als davon unterschieden), er hat sein Sein vom Wort her, kommt im Wort und durch es zu sich. Wenn dergestalt das äußere Wort geistmächtig zu sein vermag, dann muss auch umgekehrt gelten: Geist selber ist worthaft.“ (522) Und entsprechend gilt: „Erst [… im] Sich-Übersetzen, d.h. im Innern des Hörers mächtig Werden, im Ergreifen seines Herzens, kann sich das Wort auch als Wort Gottes erweisen.“ (523) Das aber wiederum beschreibt das Sein und das Wirken des Heiligen Geistes im Wort. Schon die genannten Zitate mögen deutlich gemacht haben, dass die Sprache des Buches dicht ist. In der Entfaltung seiner Gedanken verfährt der Autor weniger linear, sondern eher einer Spirale ähnlich, in der schon geäußerte Gedanken an anderer Stelle wieder aufgenommen und dann weitergeführt werden. Dabei gewichtet er im zweiten Hauptteil bei den Durchführungen unterschiedlich. Während das neunte Kapitel („Wort und Schrift“) für sich knapp 200 Seiten umfasst, fällt etwa das zwölfte Kapitel („Wort Gottes und Vernunft“) dagegen mit 13 Seiten sehr schmal aus. So wird erkennbar, wo auch die persönlichen Schwerpunktsetzungen des Verfassers liegen. Was eine große Faszination dieses Buches ausmacht, nämlich, dass es eine imposante systematische Zusammenschau bietet, in der alles mehr oder weniger reibungslos zueinander zu passen und ineinander zu greifen scheint, ließe sich allerdings auch als kritische Anfrage an das Buch stellen. Werden so in Bezug auf die vielgestaltige biblische Botschaft, in Bezug auf die unterschiedlichen Schriften Luthers und die sprachphilosophischen Gesprächspartner des Verfassers (z.B. Hamann und Humboldt, aber auch Wittgenstein und Heidegger) Unterschiede, divergierende Ansätze und Vorstellungen sowie Widerständigkeiten womöglich zu stark eingeebnet? Nicht gänzlich zwingend ist für mich beispielsweise der Versuch, im Rahmen der eschatologischen Ausführungen „in […] Synopse von Paulus und Luther […] die eschatologische Form des als Wort zu begreifen.“ (608)

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Buchschau

Unbeschadet solcher Nachfragen ist dieses Buch meiner Wahrnehmung nach nicht bloß eine weitere Monographie zur Theologie Luthers, sondern ein herausragendes Werk, das bisher zu wenig Betontes neu und klar herausstellt, Luthers Theologie vor der neuzeitlichen sprachphilosophischen Diskussion darstellt und verantwortet und sie gerade so für den Leser neu und anregend erschließt. Christoph Barnbrock, Oberursel

LUTHERISCHE THEOLOGIE UND KIRCHE (LuThK) Vierteljahreszeitschrift für eine an Schrift und Bekenntnis gebundene lutherische Theologie

36. Jahrgang 2012

Herausgegeben im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel Verlag: Edition Ruprecht, Göttingen ISSN 0170-3846

Inhaltsverzeichnis Seite Barnbrock, Christoph

Geschwisterstreit in der Konfessionsfamilie

92

Barnbrock, Christoph

Praktische Theologie in lutherischer Verantwortung

Behrens, Achim

Bekennen im Alten Testament

da Silva, Gilberto

Bekenntnis und kirchliche Identität

Koch, Ernst

Laudatio anlässlich der Verleihung des Hermann-Sasse-Preises 2011 an Frau Dr. Maria Marten

113

Marten, Maria

Christus als Pflanze. Allegorische Naturdeutung in lutherischen Predigten der nachreformatorischen Zeit

119

Salzmann, Jorg Christian

Anathema – zur neutestamentlichen Behauptung christlicher Identität

Steiger, Johann Anselm

Die Postilla des lutherischen Barocktheologen Johann Gerhard (1582–1637)

212

Stolle, Volker

Johann Gottfried Scheibel und die Judenemanzipation in Breslau

143

187

3 57

32

Buchschau

Seite

Führer, Werner

Die Schmalkaldischen Artikel (Gilberto da Silva)

178

Führer, Werner

Die Schmalkaldischen Artikel (Johannes Hund)

179

Kolb, Robert

Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie (Gilberto da Silva)

235

Kolb, Robert

Die Konkordienformel. Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie (Ernst Koch)

239

Neijenhuis, Jörg

Liturgik. Gottesdienstelemente im Kontext (Christoph Barnbrock)

234

Sasse, Hermann

In statu confessionis III (Jacob Corzine)

175

Scheible, Heinz

Aufsätze zu Melachthon. (Johannes Hund)

107

Sehr, Sebastian

Negative Selbstbilder Jugendlicher als Herausforderung für eine zukunftsträchtige Schulpastoral: Grundlagen und Impulse (Katharina Müller)

241

Autorenverzeichnis Jacob Corzine, Riemeisterstraße 10-12, 14169 Berlin Dr. Johannes Hund, Neckarstraße 2, 55118 Mainz Prof. Dr. Ernst Koch, Brandstraße 25, 04277 Leipzig Dr. Maria Marten, Am Marstall, 30159 Hannover Katharina Müller, Horstmarer Landweg 84, 48149 Münster Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Sedanstr. 19, 20146 Hamburg Prof. em. Dr. Volker Stolle, Wallstadter Str. 52, 68259 Mannheim Übrige Autoren: Lutherische Theologische Hochschule, Altkönigstraße 150, 61440 Oberursel.

Theologie und Ökumene im 3. Reich

Lutherische Theologie und Kirche (LuThK) 36. Jahrgang – Heft 1–2 – 2012 Vierteljahreszeitschrift für eine an Schrift und Bekenntnis gebundene lutherische Theologie – LuThK erscheint seit 1977 in Nachfolge des »Lutherischen Rundblicks« (nach 1975). ISSN: 0170-3846

Herausgegeben von Christoph Barnbrock, Achim Behrens, Werner Klän, Jorg Christian Salzmann, Gilberto da Silva im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel (Taunus) Schriftleitung: Prof. Dr. Achim Behrens (verantwortlich i.S. des niedersächsischen Pressegesetzes), Altkönigstraße 150, 61440 Oberursel (Taunus), [email protected] Beiträge, Rezensionen und redaktionelle Mitteilungen bitte an die Schriftleitung. Die Bearbeitung und Rücksendung unverlangt eingesandter Beiträge und unverlangt zur Rezension eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. »Lutherische Theologie und Kirche« erscheint in 4 Heften pro Jahr und kann zum Preis von € 19,90 (D) / € 20,46 (A) / sFr 35,40 zuzüglich Porto abonniert werden. Preise beziehen sich auf den laufenden Jahrgang. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn bis zum 1. Dezember keine Abbestellung erfolgt. Einzelhefte € 6,90 (D) / € 7,09 (A) / sFr 13,00. Bestellungen an [email protected] Edition Ruprecht, Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2012, © www.edition-ruprecht.de Satz: Andrea Parrandier, Umschlag: klartext GmbH, Druck: Meta-Systems GmbH Bekennen im Alten Testament ................................................. ������������������������������ 3 Achim Behrens Anathema – zur neutestamentlichen Behauptung christlicher Identität .................... 32 Jorg Christian Salzmann Bekenntnis und kirchliche Identität ...................................................................... 57 Gilberto da Silva

Hermann Sasse In statu confessionis III Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene Herausgeben von Werner Klän und Roland Ziegler Oberurseler Hefte Ergänzungsband 10 Mit einer biografisch-historischen Einleitung von Werner Klän und einem Vorwort von Matthew Harrison und Hans-Jörg Voigt 310 Seiten mit einer Abbildung, Hardcover € 39,90 (D) / € 41,02 (A) / sFr 66,00 ISBN: 978-3-7675-7144-0 Auch als

Die Beiträge dieses Bandes sind zwischen 1929 und 1944 entstanden und werden hier zum Teil erstmals veröffentlicht. In ihnen behandelt Hermann Sasse (1895–1976) Fragen nach konfessioneller Identität und Ökumene, dem Aufbau der Kirche und dem Verhältnis zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat. »Sasse hat die Bedeutung der Globalisierung des Christentums schon früh gesehen, dabei allerdings auch klar gemacht, dass die ökumenische Bewegung nicht einfach soziologisch in einem modernen Internationalismus begründet ist, sondern in einer allgemeinen Wiederbelebung ekklesiologischer und amtstheologischer Reflektion und einer Wiederbegegnung der Kirchen, neben der Situation der Mission. Für den deutschen Protestantismus scheint Sasse gehofft zu haben, dass sich der kirchenlose individualistische Protestantismus als ökumenisch nicht tragfähig erweisen werde und dass die altkirchlichen Bekenntnisse, deren kirchliche Anerkennung seit dem Apostolikumsstreit auch öffentlich umstritten war, auch in den deutschen evangelischen Kirchen wieder die fundamentale Basis theologischen Denkens werden können und damit die Kategorie des Dogmas rehabilitiert würde.« (Werner Klän in der Einleitung)

Aus dem Inhalt: Die Aufgabe der Lutherischen Kirche im heutigen Deutschland (1936) Zur Frage der evangelischen Kirchenverfassungen (1932) – Konfessionelle Unbußfertigkeit? (1935) – Bekenntnis und Bekennen (1937) – Unsere Aussprache mit Freund und Widersacher (1937) – Kirche oder Kirchenbund (1937) – Die Barmer Erklärung – ein ökumenisches Bekenntnis? (1937) – Una Sancta (1936f) – Theologisches Gutachten zur Frage der Hochkirche

Geschwisterstreit in der Konfessionsfamilie ......................................................... 92 Christoph Barnbrock BUCHSCHAU ................................................................................................... 107 Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen www.edition-ruprecht.de