Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen: Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller ... Kirche 3846901571, 9783846901571, 9783846901588

Der Aufruf König Friedrich Wilhelms III. vom 27. September 1817 zur Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirche

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Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen: Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller ... Kirche
 3846901571, 9783846901571, 9783846901588

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort – Hinführung
Geleitwort
Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967
Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung bis 1850
Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts
Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität
Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 19. Jahrhundert
Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 20. Jahrhundert
Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung
Bekennende Kirche und »Altlutheraner« im »Kirchenkampf«
Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft
Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven
Beobachtungen von Axel Noack
Beobachtungen von Roland Ziegler
Anhang
Verzeichnis der Bildquellen
Verzeichnis der Beiträger dieses Bandes
Verzeichnis weiterer Teilnehmer des Kolloquiums
Register

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Oberurseler Hefte Ergänzungsbände Herausgegeben von Werner Klän im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel Band 14

Jürgen Kampmann und Werner Klän (Hrsg.) Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche Im Auftrag der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Union Evangelischer Kirchen

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Mit 26 Abbildungen. Für die Umschlagabbildung wurde ein Foto der Leucorea in Wittenberg verwendet. Die Universität Leucorea in Wittenberg bestand von 1502 bis 1815. Martin Luther wurde dort 1508 und Philipp Melanchthon 1518 Professor. 1994 wurde die Leucorea als Stiftung öffentlichen Rechts an der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg gegründet. Herausgeber und Verlag haben sich bemüht, für urheberrechtlich geschützte Texte und Abbildungen die derzeitigen Rechteinhaber ausfindig zu machen. Diejenigen Rechteinhaber, bei denen dieses nicht gelungen ist, bitten wir auf diesem Weg um Kontaktaufnahme mit dem Verlag.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846901571. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2014 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Englische Übersetzungen: Marion Salzmann Lektorat und Satz: Tanja Constien Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0157-1 (Print), 978-3-8469-0158-8 (eBook)

Inhaltsverzeichnis Vorwort – Hinführung ............................................................................... 9 Geleitwort ............................................................................................... 16 Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967 ............................................................. 19 Franz-Reinhold: Hildebrandt Predigt zu Epheser 4, 15f., gehalten am 5.11.1967 ..................................................................................... 19 Wilhelm Hüffmeier: Hintergründe und Folgerungen ......................................... 24 Summary ........................................................................................................ 31 Volker Stolle: Eine Auslegung/Analyse ............................................................ 32 Summary ........................................................................................................ 42 Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung bis 1850 ...................................................... 43 Johannes Hund: Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“ .......................................................................................... 43 Summary ........................................................................................................ 80 Hellmut Zschoch: Grund und Gestalt der preußischen Union im Lichte ihrer Auseinandersetzung mit den schlesischen Altlutheranern ................................ 81 Summary ........................................................................................................ 98 Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts ........... 99 Albrecht Geck: Kirchenpolitische und theologische Konzepte .......................... 99 Summary ...................................................................................................... 111 Gilberto da Silva: Vom „Geist des Protestantismus“ ....................................... 112 Summary ...................................................................................................... 131 Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 19. Jahrhundert ................... 132 Christoph Barnbrock: Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche ... 132 Summary ...................................................................................................... 157

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Inhaltsverzeichnis

Jürgen Kampmann: In der (alt)preußischen Landeskirche ............................. 158 Summary ...................................................................................................... 172 Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 20. Jahrhundert .................... 173 Helmut Schwier: Identität und Agende ........................................................... 173 Summary ...................................................................................................... 185 Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung ....................................................................................... 187 Frank Martin Brunn: Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs ....................................................... 187 Summary ...................................................................................................... 203 Andrea Grünhagen: Dimensionen und Funktionen von Akt und Status........... 205 Summary ...................................................................................................... 212 Henning Theißen: Systematisch-theologische Näherbestimmung am Beispiel von Apostolikumstreit und Barmer Theologischer Erklärung ......................... 213 Summary ...................................................................................................... 230 Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“ ................... 232 Christian Neddens: Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft ... 232 Summary ...................................................................................................... 269 Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft .............................................. 270 Eilert Herms: Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung ................................................................................... 270 Summary ...................................................................................................... 288 Armin Wenz: Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft .................... 289 Summary ...................................................................................................... 300 Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven ............ 301 Hans-Peter Großhans: Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität ................................................................................. 301 Summary ...................................................................................................... 315

Inhaltsverzeichnis

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Werner Klän: Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen .................................................................. 317 Summary ...................................................................................................... 342 Beobachtungen ..................................................................................... 344 Axel Noack: Beobachtungen .......................................................................... 344 Summary ...................................................................................................... 352 Roland Ziegler: Beobachtungen ..................................................................... 353 Summary ...................................................................................................... 359 Anhang ................................................................................................. 361 Verzeichnis der Bildquellen ........................................................................... 362 Verzeichnis der Beiträger dieses Bandes ........................................................ 364 Verzeichnis weiterer Teilnehmer des Kolloquiums .......................................... 365 Register......................................................................................................... 366

Vorwort – Hinführung Fächerübergreifend und interdisziplinär widmet sich dieses Buch erstmalig einem breit angelegten Erforschen der komplexen Wechselbeziehungen zwischen den so unterschiedlichen Kirchentypen, die ihre Entstehung gleichwohl – so oder so – mit dem Datum des Unionsaufrufes des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1817 verbinden: Den Landeskirchen, die aus dieser Kirchenunion hervorgegangen sind ebenso wie den selbstständigen lutherischen Kirchen. Im Horizont des bevorstehenden Reformationsgedenkens (1517–2017) wäre es ein schwerwiegendes Versäumnis, wenn die Erinnerung auch an dieses Datum deutscher Kirchengeschichte vergessen, übergangen oder gar verdrängt würde. Dabei gilt es, sich schmerzlichen und leidvollen Erfahrungen – vor allem aus der Entstehungszeit von preußischer Union und Altlutheranern – gemeinsam zu stellen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es in Preußen (und in weiteren deutschen Ländern) zur Bildung eines neuen Kirchentypus gekommen; aus der Vereinigung bisher lutherischer und reformierter Kirchen entstanden (allerdings verschieden geprägte) evangelische Unionen. Die Bildung der preußischen Evangelischen Landeskirche (später: Evangelische Kirche der altpreußischen Union) hatte die Entstehung der „altlutherischen“ Kirche (nach ihrem Selbstverständnis: der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen) zur Folge. Ein gesamtevangelischer Aufbruch, vom seinerzeitigen König gewünscht und massiv staatlich gefördert, und eine neokonfessionelle Besinnung, zu der manche Pfarrer und nicht wenige Gemeindeglieder gelangten und die schließlich zur Bildung staatsfreier Gemeinden führte, gingen getrennte Wege. Jahrzehntelanges Schweigen und wechselseitige Abgrenzung herrschten lange Zeit vor: „Staatskirche“ und „Freikirche“, Bekenntnisbindung in kirchlicher Absicht und evangelisches Kirchentum (beides nicht ohne Ausrichtung an den historischen Bekenntnissen) standen verletzt und unversöhnt und über weite Strecken auch unversöhnlich da. Trennungstraumata bestimmten weitestgehend die kollektive Erinnerung auf beiden Seiten. Es gab jedoch, und dies gehört zu den wichtigen Entdeckungen, die in diesem Buch vorgestellt werden, auch Orte und Zeiten gelebter Gastfreundschaft in der Nachbarschaft. Dass schon anlässlich der 150-Jahr-Feier der (damaligen) Evangelischen Kirche der Union (EKU) im Jahr 1967 von Präses Franz-Reinhold Hildebrandt in einer Festpredigt ein Eingeständnis kirchlichen Versagens ausgesprochen worden war (ein Ansatz, an dem dann aber nicht weitergearbeitet worden war; immerhin gab es noch eine vage Erinnerung an den mit dieser Predigt gesetzten Impuls), wurde zum Ausgangs- und Angelpunkt dieses Buchs. Sie wird hier erneut abgedruckt und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Beigefügt sind zwei Analysen dieses Dokuments. Sie stellen zum einen die Forderung nach „einer angemes-

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Vorwort – Hinführung

senen Bekenntnishermeneutik“1 bzw. werfen die Frage nach den Möglichkeiten von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft2 auf. Die Einsicht, dass kirchliche Identität nicht nur durch die jeweils für maßgeblich ausgewiesenen Bekenntnisse bestimmt wird, sondern eine komplexe Wirklichkeit darstellt aus Bekenntnisstand, kirchlicher Verfassung, zeitgenössischen Prägungen, gottesdienstlichem Leben, praktizierter Frömmigkeit – und dieses alles in der Dynamik weitergehender Entwicklungen und charakteristischen Wandlungen –, ließ es den Veranstaltern geboten erscheinen, neben historischen Zugangsweisen verlaufs- und mentalitätsgeschichtlicher Art auch liturgiewissenschaftliche Untersuchungen einzubeziehen, systematisch-theologische Reflexionen zum Verhältnis von Bekenntnis, Bekennen und Kirchenverfassung hinsichtlich der Ausprägung kirchlicher Identität in den Blick zu nehmen, die strittige Frage nach Sakramentsund Kirchengemeinschaft zu beleuchten und sich der Herausforderung zu stellen, wesentliche Faktoren des Kircheseins heute zu beschreiben. Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Zusammenhänge wird herausgearbeitet, dass eine grundlegende Kritik am Territorialsystem und die Forderung nach Staatsfreiheit der Kirche, verbunden mit einer Ablehnung des herrschenden Rationalismus, als dessen Vorläufer reformierte Theologie begriffen wurde, motivgebend für den „altlutherischen Widerstand gegen die Union“ war,3 dem das Konzept einer „kirchenpolitischen Neuausrichtung“ samt „Uniformitätsdruck“ entgegenstand, der als Antwort nur einen „reaktionäre[n] Reflex“4 wusste. Die unterschiedlichen historischen Auffassungen über den Rang und die Aufgabe der altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse erwiesen sich im 19. Jahrhundert als nachhaltig trennend; dabei fanden sich im Raum der unierten preußischen Kirche im Rahmen eines „reformationstheologischen Koordinatensystems“ durchaus unterschiedliche Ansätze solcher Verhältnisbestimmung und verschiedene Konzepte eines Ausgleichs,5 während auf Seiten der „Altlutheraner“ Bekenntnisbindung und Gewissen so eng miteinander korrespondierend und verbunden deklariert wurden, dass ein konfessioneller Ausgleich, wie er in der preußischen Union gedacht und etabliert wurde, gerade nicht denkbar schien.6 Bezüglich der Agendenfrage und -geschichte lässt sich feststellen, dass sich auf „altlutherischer“ Seite konfessionelle, kirchenrechtliche und dogmatische Argumentationslinien gegen die Agendenreform Friedrich Wilhelm III. mit ästhetischen und lokal-traditionellen Mustern gemischt haben, die jedoch eine Generation später in den Hintergrund traten, als es zur Erarbeitung einer eigenen Agende der „Evan-

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Vgl. Stolle, Eine Auslegung/Analyse, in diesem Band 32–42. Vgl. Hüffmeier, Hintergründe und Folgerungen, in diesem Band 30. Hund, Johann Gottfried Scheibel, in diesem Band 79. Zschoch, Grund und Gestalt, in diesem Band 94. Geck, Kirchenpolitische und theologische Konzepte, in diesem Band 106. da Silva, Vom „Geist des Protestantismus“, in diesem Band 130.

Vorwort – Hinführung

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gelisch-lutherischen Kirche in Preußen“ kam,7 während die Agendenreform des preußischen Königs andernorts zu einer „Vereinheitlichung in der liturgischen Praxis“ führte, die „eine tief verankerte, identitätsstiftende Wirkung“ allerdings neuen Typus hatte, auch als und weil gegen Ende des 19. Jahrhunderts konfessionellen Prägungen im Gottesdienst wieder mehr Raum gewährt wurde.8 Wie Identitätskonzepte entdeckt werden könnten, die „auch Unterschiede und Entwicklungen“ bzw. sogar „Brüche“ integrieren könnten, bleibt eine noch zu untersuchende Frage.9 Im 20. Jahrhundert wurde an der agendarischen Ordnung des Gottesdienstes weitergearbeitet; diese Agenden dokumentieren „eine deutliche Pluralisierung der gottesdienstlichen Kultur; nicht zuletzt boten die Kirchentage wirksame Foren, die wiederum in die Gemeinden vor Ort ausstrahlten“10. Bekenntnistheologische Erwägungen sind auch heute noch von Relevanz. Im Abschnitt „Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung“ geht es um Fragen der Entstehung und Gültigkeit kirchlicher Bekenntnisse: Weil das kirchliche Bekenntnis theologische Aussagen über das Wesen der Kirche trifft und die Kirche Subjekt des Bekennens ist, liegt ein „hermeneutischer Zirkel vor“.11 Für eine „Kongruenz von Glauben, Lehre und Bekenntnis“ wird angemahnt – nämlich im Sinn ihrer Rechenschaftsfähigkeit –, dass „die Bekenntnisse nur ernstzunehmende Fixpunkte sein können, wenn sie auch de facto gelten“.12 Divergierend wird aber auch postuliert, dass die „private Gewissensfreiheit Kriterium der Lehrbeurteilung“ und eine Dynamisierung des Bekenntnisses durch „das nicht-lehrhafte Moment des Bekennens“ darstellt.13 Dabei wird ein erweiterter Referenzrahmen für die Verhältnisbestimmung von Bekenntnis bzw. Lehre und Kirchengemeinschaft für erforderlich gehalten.14 Überraschend große Nähe ergab sich im Blick auf ein Zusammenstehen von Gemeinden der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen und der Bekennenden Kirche in der altpreußischen Union der nationalsozialistischen Zeit, die sich aus der „Abwehrhaltung gegenüber dem neuen Heidentum“, der existentiellen Bedeutung des – je unterschiedlich konfessionell geprägten – Bekennens, der größeren Bedeutung der Nichttheologen als Trägerschichten beider Kirchbildungen, der Orientierung an der Heiligen Schrift, der „Wiederentdeckung des Gottesdienstes“ als des Kerns kirchlichen Lebens und dem gemeinsamen Öffentlichkeitsanspruch der Verkündigung speiste; die „phänomenologische Ähnlichkeit […] zwischen dem

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Barnbrock, Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche, in diesem Band 138–143. Kampmann, In der (alt)preußischen Landeskirche, in diesem Band 171f. Barnbrock, Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche, in diesem Band 157. Schwier, Identität und Agende, in diesem Band 183–185. Brunn, Die ekklesiologische Dimension, in diesem Band 191. Grünhagen, Dimensionen und Funktionen, in diesem Band 208. Theißen, Systematisch-theologische Näherbestimmung, in diesem Band 225. A.a.O., 214.

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Vorwort – Hinführung

Kirchenkampf der 1830er und der 1930er Jahre“ erscheint daher nicht bloß als zufällig.15 Es kann kaum überraschen, dass die Frage nach der Abendmahlsgemeinschaft eine der Hauptkontroversen in diesem Buch darstellt. Während auf der einen Seite „das Geschehen der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in Jesus Christus durch den Geist“16 als in so hohem Maße fundamental gilt, dass „auch verschiedene Lehrbekenntnisse treue Bezeugungen derselben Sache, desselben einen realen Geschehens sein können“17 – wobei immer auch die Gefahr eines „rein verwaltungsmäßigen Umgangs mit den verschiedenen Lehrbekenntnissen“18 bestehe –, wird dagegen die Nähe und Einheit von Kirchen- und Bekenntnisgemeinschaft, gleichwohl im Zusammenhalten von „Ökumenizität und Konfessionalität“, betont.19 In ekklesiologischer Absicht erscheint die letztere Zuordnung im Zusammenhang einer Deutung des „magnus consensus“ (CA I), der als Artikulation geglaubter Gewissheit nicht bloß eine Ausdrucksgestalt des Glaubens ist, die menschlichen Rechtes bliebe, vielmehr als Einmütigkeit im Glauben, Lehren und Bekennen des schriftgemäßen Evangeliums Voraussetzung für die Bestätigung und Betätigung von Kirchengemeinschaft ist.20 Dem entspricht „das konsequente Ernstnehmen der Heiligen Schrift in ihrer Literalität“21. Dass das Kirchesein einer/der Kirche und ihre Identität grundlegend in ihrem Bezug zur Una Sancta gegründet ist, ist jedenfalls unstrittig; auch dass sekundäre Merkmale ihr Profil bestimmen. Dass dabei den Bekenntnissen entweder ein „Beitrag zur Formulierung des Vorverständnisses“22 zugeschrieben bzw. als „Fundamentalkonsens“ gedeutet wird, der als Gemeinschaft von Glaube, Lehre und Bekennen implementiert wird,23 dürfte Anstoß für weitere, noch notwendig zu leistende Klärungen sein. In den „Beobachtungen“ am Ende des Buchs kommt dieser Sachverhalt angemessen zum Ausdruck. Beide weisen auf die Zeitgenossenschaft von (preußischer) Union und „Altluthertum“ hin,24 beide verweisen auch (jeder auf seine Weise) auf das bis heute Umstrittene, wenn einerseits die „Lehreinheit als Gabe und Aufgabe“ beschrieben und den Bekenntnissen (in Gestalt des Konkordienbuchs) der Anspruch zugewiesen wird, „gültige Auslegung der Heiligen Schrift zu sein“25, und andererseits die Herausbildung des Konkordienluthertums als „Schuldgeschichte“26

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Neddens, Unerwartete Nähe, in diesem Band 267. Herms, Luthers Abendmahlsverständnis, in diesem Band 285. A.a.O., 285f. A.a.O., 286. Wenz, Kirchengemeinschaft, in diesem Band 296. Klän, Konfessionalisierung, in diesem Band 338. Großhans, Gemeinschaft, in diesem Band 314. A.a.O., 314. Klän, Konfessionalisierung, in diesem Band 335. Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 343; Noack, Beobachtungen, in diesem Band 350. Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 347. Noack, Beobachtungen, in diesem Band 350.

Vorwort – Hinführung

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gedeutet wird. Beide benennen überdies wichtige Punkte für eine Weiterarbeit, darunter die Untersuchung des einstigen Zusammenwirkens von landeskirchlichen, „frei“kirchlichen und „Vereins-“Lutheranern in der Allgemeinen EvangelischLutherischen Konferenz,27 der Stellung der Bekenntnisschriften,28 der Frage von territorialer und/oder konfessioneller Integrität und Identität29 und der allen Kirchen gestellten missionarischen Herausforderungen in einem in mancher Hinsicht postchristlich erscheinenden Kontext des 21. Jahrhunderts.30 Dass die im 19. Jahrhundert staatlich forcierte Marginalisierung, die teils gewaltsame Verfolgung und auch teils aufgenötigte Verdrängung der „Altlutheraner“ aus Preußen keine legitimen Mittel zur Lösung der eminent theologischen Kontroversen hätten sein dürfen, wird beiderseits betont. Beide Kirchen legitimieren sich jeweils historisch im Rückgang auf das Erbe der Reformation und dessen unbedingte Bindung an das überlieferte Zeugnis der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, deuten es aber verschieden. Beide Kirchen teilen in ihrer Entstehungszeit dieselben zeitgenössischen Rahmenbedingungen, reagieren aber unterschiedlich darauf. Beide Kirchen sehen im Gottesdienst einen wesentlichen Faktor der Bildung und des Ausdrucks kirchlicher Identität im Sinn seiner „Bekenntnisbe31 32 stimmtheit“ , die aber mit „Gestaltungsfreiheit“ zu verbinden ist. Bücher haben jeweils Geschick und (Vor-)Geschichte – so auch dieses. Dokumentiert wird hier ein erster wissenschaftlicher Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK). In dem von UEK und SELK gemeinsam einberufenen Kolloquium, das vom 26. bis 28. Februar 2013 in der Leucorea in Wittenberg stattfand, ist durchaus ein Meilenstein in der theologischkirchlichen Erforschung und Aufarbeitung gemeinsam-getrennter Geschichte zu erblicken. Die gezielt interdisziplinär gestalteten Zugänge der dort gehaltenen Referate eröffneten teils überraschend neue, teils modifizierte Sichtweisen auf die fast zwei Jahrhunderte währende Geschichte im gefühlten, oftmals aber auch tatsächlich bestehenden Gegensatz. Vor allem gelang es schon während der Aussprachen in Wittenberg, durch die jeweils paritätische Herangehensweise, bei der Referenten je unterschiedlicher kirchlicher Herkunft und Prägung zu ein und demselben Themenkomplex vortrugen, ein echtes Gespräch „auf Augenhöhe“ zu eröffnen. Im Blick auf so lange verstellt gewesene Wege zueinander, Blockaden und gegenseitige Abschließung in der Geschichte der beiden Kirchentümer seit dem frühen 19. Jahrhundert ist allein dieses Faktum als ein ebenso deutlicher wie durch

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A.a.O., 352. A.a.O., 353; Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 347. Noack, Beobachtungen, in diesem Band 357. A.a.O., 356; Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 346. Kampmann, In der (alt)preußischen Landeskirche, in diesem Band 171. Barnbrock, Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche, in diesem Band 156.

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Vorwort – Hinführung

und durch wünschenswerter Fortschritt in den zwischenkirchlichen Beziehungen zu markieren. Den Anstoß zu diesem Unternehmen gab eine Reihe von Gesprächen, die zwischen SELK und UEK im Jahr 2009 begonnen worden sind. Im Rahmen des von der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel 2010 veranstalteten Symposiums über die „Leuenberger Konkordie“ hielt Oberkirchenrat Dr. Martin Heimbucher (Hannover) ein Koreferat aus Sicht der UEK; die Veröffentlichung des zugehörigen Berichtsbandes wurde mit je einem Geleitwort aus der Feder von Bischof 33 Martin Schindehütte (UEK) und Bischof Hans-Jörg Voigt (SELK) begleitet. Eine Vorbereitungsgruppe, bestehend aus Dr. Martin Heimbucher, Prof. Dr. Jürgen Kampmann (Tübingen), Prof. Dr. Werner Klän (Oberursel), Prof. Dr. Gilberto da Silva (Oberursel), PD Dr. Henning Theißen (Greifswald) und Bischof Hans-Jörg Voigt, führte dann die Planungen für das Kolloquium durch; in derselben Zusammensetzung fungiert diese nun auch als Arbeitsgruppe SELK–UEK. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, im Blick auf den bevorstehenden 200. Jahrestag des preußischen Unionsaufrufs ein „Gemeinsames Wort“ zu erarbeiten, das im Geist ökumenischer Selbstverpflichtung die Grundlage zu einer um gegenseitiges Verstehen und Lernen ringenden Wahrnehmung und Wertschätzung trotz der jahrzehntelang getrennten Wege bieten kann. Wie nötig es ist, auch die in fast zwei Jahrhunderten eingeschliffenen Terminologien auf die mit ihnen einhergehenden jeweiligen Konnotationen hin zu prüfen, kristallisierte sich im Zuge einer intensiv geführten Diskussion heraus, unter welchem Titel dieser Band erscheinen könne und solle. Will man dem gegenwärtigen Selbstverständnis der beteiligten Kirchen gerecht werden, ist es ebenso inadäquat, zur Charakterisierung der SELK das Adjektiv „altlutherisch“ zu verwenden, wie es eine Verzeichnung darstellen würde, das Prädikat „bekenntnisbestimmt“ nur der SELK, nicht aber auch den in der UEK verbundenen Kirchen und Gemeinden zuzuschreiben. Und da es in Landeskirchen, die aus der altpreußischen Union hervorgegangen sind, auch solche gibt, in denen in manchen Gemeinden das Konkordienbuch als Bekenntnisschrift in Geltung steht, lassen sich auch „konkordienlutherisch“ und „uniert“ nicht ohne Weiteres einander kontrastieren. Der schließlich gefundene Titel des Buches versucht, mit Blick auf Vergangenheit und Gegenwart präzise das Anliegen zu beschreiben, das hinter der hier dokumentierten, gemeinsam forschenden, aufeinander hörenden und voneinander lernenden Begegnung von UEK und SELK in Wittenberg gestanden hat und steht. Unser Dank gilt der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und ihren Verantwortlichen. Sie ermög33

Geleitwort (Martin Schindehütte), in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 11f.; Geleitwort (Hans-Jörg Voigt), a.a.O., 13f.; Martin Heimbucher, Bekenntnis und evangelische Einigkeit – Die Leuenberger Konkordie aus Sicht der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, a.a.O., 92–101.

Vorwort – Hinführung

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lichten die Veröffentlichung dieses Bandes durch den Ankauf einer größeren Menge von Exemplaren. Unterstützt wurden sie dabei durch den Kreis der Freunde und Förderer der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel e.V., den Verein zur Verwaltung von Sondervermögen der Evangelisch-Lutherischen Mariengemeinde in Berlin-Zehlendorf e.V., den Verein zur Verwaltung von Sondervermögen der Evangelisch-Lutherischen Paul-Gerhardt-Gemeinde in Braunschweig e.V. und den Johannes-Bugenhagen-Verein der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Dreieinigkeitsgemeinde Hamburg e.V. Wir stellen das Buch hinein in ein weiter zu führendes bilaterales wie ökumenisches Gespräch in der Zuversicht, dass damit exemplarisch Anstöße gegeben sind zur Bearbeitung auch anderer schmerzlicher Bruchlinien in der einen Christenheit. Dazu gehören die Mühe, am Heilen der Erinnerung zu arbeiten, und die Anstrengung, ein authentisches christliches Zeugnis in der Gegenwart zu geben – der eine Herr, der eine Glaube und die eine Taufe fordern uns dazu. Oberursel und Tübingen, am 6. Sonntag nach Trinitatis, 7. Juli 2013 Werner Klän und Jürgen Kampmann

Geleitwort Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe. (Epheser 4, 15–16)

Unter dieses Wort aus dem Epheserbrief stellte im Jahr 1967 der Leiter der EKUKirchenkanzlei Franz-Reinhold Hildebrandt seine Festpredigt zur 150-Jahr-Feier der Evangelischen Kirche der Union. Unverblümt benannte er damals die Schuld, die seine Kirche bei der zum Teil gewaltsamen Durchsetzung der Union in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf sich geladen hat. Zugleich wertete er es als „ein wunderbares Zeichen für die Führungen Gottes“, dass einhundert Jahre später, zur Zeit des Nationalsozialismus, Gemeinden der altpreußischen Bekennenden Kirche bei den „Altlutheranern“ Zuflucht fanden und in deren Kirchen Gottesdienst halten durften. Hildebrandts Predigt war der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Kolloquiums über „Union, Bekenntnis und kirchliche Identität“, das die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) und die Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD vom 26. bis 28. Februar 2013 in der Leucorea zu Wittenberg veranstalteten. „Wahrhaftig sein in der Liebe“ – diesem Leitwort aus dem Epheserbrief entsprach auch der Geist der Versöhnung, der den Austausch in Wittenberg prägte. Dafür sind wir als leitende Geistliche sehr dankbar. Zu den Höhepunkten des Kolloquiums, dessen überarbeitete und ergänzte Beiträge hier nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, zählen die Beispiele dafür, wie Gemeinden der altlutherischen Kirche und der Bekennenden Kirche in Zeiten der Not zusammengerückt sind. Vielfach werden diese Vorgänge hier mit Text- und Bilddokumenten erstmals wissenschaftlich dokumentiert. In der Bedrängnis erkannten konfessionell voneinander getrennte Gemeinden ihre Verbundenheit unter dem Kreuz Jesu Christi. Miteinander verbunden waren sie auch in der Erfahrung des Bekennens gegen den Strom des Zeitgeistes in den Diktaturen von Nationalsozialismus und DDR. Das spätgotische Kruzifix aus der Evangelisch-lutherischen Kreuzkirche zu Wernigerode gibt von einer solchen Geschichte Zeugnis. Auch in dem Vorharzstädtchen hatte sich in der kirchlichen Notzeit um das Jahr 1934 eine Gemeinde der Bekennenden Kirche gebildet. Von Anfang an genoss sie Gastrecht in der altlutherischen Kreuzkirche. Die Erinnerungen an diese Zeit haben sich tief in die Ortsgeschichte und die Ortsgeschichten eingeprägt: Erzählt wird von der gemeinsamen Angst vor der Gestapo, die die Kirche bewachte, um Gottesdienstbesucher einzuschüchtern oder die Kollekte der Bekennenden Kirche (BK) zu konfiszieren. Erzählt wird auch, wie die Töchter des damaligen altlutherischen

Geleitwort

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Superintendenten Worbes die Hakenkreuzfahne vom Turm der Kirche entfernten, die dort als Provokation aufgehängt worden war. Und erzählt wird nicht zuletzt von Predigten Otto Dibelius’, Heinrich Grübers und Martin Niemöllers auf der „altlutherischen“ Kanzel dieser Kirche. Bis vor wenigen Jahren kam es vor, dass altgewordene Pfarrer den Ort besuchten, an dem sie durch die Bekennende Kirche zum Pfarrdienst ordiniert worden sind.

Spätgotisches Altarkreuz (ca. 1540) in der Evangelisch-lutherischen Kreuzkirche zu Wernigerode (SELK).

In den Jahren 1946 bis 1947 löste sich die BK-Gemeinde in Wernigerode wieder auf. Als Dankgeschenk für die Zeit der Gastfreundschaft wurde das Kruzifix überreicht, das seit 1973 als Altarkreuz in Gebrauch ist. Der gekreuzigte Christus leidet – auch an den Trennungen und Spaltungen in seiner Kirche. Aber er lässt seine Jünger nicht allein. Er betet für sie: dass sie „geheiligt seien in der Wahrheit […], damit sie alle eins seien“ (Joh 17, 19.21). Vielfach unerkannt ist Christus unterwegs mit seiner Kirche, die in verschiedene Himmelsrichtungen strebt. Aber im Abendmahl gibt er sich zu erkennen als der eine Herr. Damit öffnet er die Herzen für ein gemeinsames Verständnis seines Wortes. So erzählt es die Geschichte von den Emmausjüngern am Ende des Lukasevangeliums. Es waren Überlegungen und Planungen zum 500. Jubiläum der Reformation, die uns an die 200. Wiederkehr der Kirchwerdung und Trennung unserer beiden Kirchen erinnerten und uns dazu führten, miteinander unseren kirchlichen Weg

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Geleitwort

neu zu bedenken und wahrzunehmen. In dem Wittenberger Kolloquium war beides deutlich spürbar: Das gemeinsame Bemühen um die historische Wahrheit in unserer Geschichte und die Bereitschaft, den Weg der Versöhnung zu gehen, auf den Christus unsere Kirchen führt. Die Beiträge in diesem Band geben nun allen Interessierten die Gelegenheit, an dem Weg der gemeinsamen Aufarbeitung unserer Geschichte und der Erneuerung unseres Verhältnisses zueinander teilzuhaben. Die hier versammelten historischen Erkenntnisse und theologischen Perspektiven werden eine gute Grundlage für weitere Schritte auf dem gemeinsamen Weg unserer beiden Kirchen sein. Wir möchten allen danken, die mit ihren Referaten auf dem Kolloquium und nun mit ihren Aufsätzen zu diesem Band beigetragen haben. An den Diskussionen beteiligten sich nicht nur die Referenten und die Referentin untereinander, sondern auch geladene Gäste1; einige von ihnen gaben mit Morgen- und Abendandachten dem Kolloquium einen geistlichen Rahmen. Dafür an dieser Stelle herzlichen Dank. Wir danken auch den beiden Moderatoren des Kolloquiums, Martin Heimbucher und Michael Schätzel und den beiden Herausgebern dieses Bandes, Jürgen Kampmann und Werner Klän. Möge dieser Sammelband ein weiterer Beitrag dazu sein, dass unsere Kirchen in reformatorischer und ökumenischer Verbundenheit gemeinsam wachsen zu dem hin, der das Haupt ist: Christus.

Hannover, am Michaelistag, 29. September 2013 Martin Schindehütte Bischof Leiter der Ökumene- und Auslandsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Leiter des Amtes der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD Hans-Jörg Voigt Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) Vorsitzender des Internationalen Lutherischen Rates (ILC)

1

Vgl. Verzeichnis weiterer Teilnehmer, in diesem Band 363.

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967 Franz-Reinhold Hildebrandt

Predigt zu Epheser 4, 15f., gehalten am 5.11.1967

1

Epheser 4, 15–16: Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hängt durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe.

1. Der Epheserbrief redet von der Einheit der Kirche. Der Zaun der Feindschaft, der Juden und Heiden voneinander unversöhnlich trennte, ist abgebrochen. Das Kreuz Christi hat die Feindschaft getötet und aus zweien eines gemacht. Christus ist unser Friede, der die ganze Menschheit in einer Gemeinde zusammengefasst hat in der Fülle seiner Versöhnung. In dem Bild von dem einen Leib, dessen Haupt Christus ist, wird die Einheit der Kirche zum Ausdruck gebracht. „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen“ (4, 4–6). Das Band der kirchlichen Einheit aber ist die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft. Sie spiegelt sich wider in der Bruderliebe der Glieder des Leibes zueinander. Im Namen unserer Kirche findet sich das Wort Union, das heißt Vereinigung oder Einheit. Es ist das bestimmende Wort in der Bezeichnung unserer Kirche. Wir gedenken heute des Tages, da vor 150 Jahren der damalige preußische König Fried1

Aus: Friedrich Winter (Hg.), … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157. Franz-Reinhold Hildebrandt (1906– 1991) gehörte als ostpreußischer Pfarrer aktiv zur Bekennenden Kirche und wurde darum von den Nazis verfolgt. Nach 1945 war er Propst in Quedlinburg und wirkte ab 1952 fast zwei Jahrzehnte lang als Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Regelmäßig predigte er in der Gruftkirche des Berliner Doms. Kurz nach dem 450. Reformationsgedenken hielt er am 5. November 1967 eine sehr textbezogene Predigt zur 150-Jahr-Feier der Union in der Marienkirche. Diese Feier wurde mit einer Tagung zum Thema „Union und Ökumene“ begangen. Besondere Beachtung fand, dass es in der Predigt zu einem Schuldbekenntnis gegenüber den Altlutheranern kam und zu einem Aufruf, in der Wahrheit und Bruderliebe zu wachsen.

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Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

rich Wilhelm III. den Aufruf erließ, durch den er die beiden bis dahin getrennten Kirchen in seinen Landen, nämlich die reformierte und die lutherische Kirche, zu einer „neu belebten evangelisch-christlichen Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters“ (Zitat aus der Unionsurkunde vom 27.9.1817) zu vereinigen wünschte. Dabei ging es ihm nicht um die Vereinigung der Verwaltung beider Kirchen, sondern, wie jener Aufruf vom 27.9.1817 zeigt, um ein geistliches Anliegen, nämlich um die Abendmahlsgemeinschaft zwischen beiden Kirchen. Wenn wir dieses Geschehnis im Lichte des Epheserbriefes betrachten, so werden wir dankbar die große Gabe der kirchlichen Einheit empfangen, die uns durch die Union gegeben ist. Wir werden aber auch die hohe Verpflichtung erkennen, die uns in dieser Gabe auferlegt worden ist. Bei einer genaueren Untersuchung der mancherlei Gründe, die zu der Union der getrennten Kirchen führte, mögen sehr menschliche Motive zutage treten. Aber die Ursachen der Entstehung eines geschichtlichen Vorganges brauchen noch nichts Entscheidendes über Wert oder Unwert dieses Ereignisses auszusagen. Wir dürfen glauben, dass in und durch alles vordergründige Handeln von Menschen sich Gottes Weg und Führung auswirkt. Wir dürfen das Geschehen, das zur Geburt unserer Kirche führte, als einen vorbereitenden Dienst für das ökumenische Zeitalter der Christenheit, in dem wir uns befinden, verstehen. So weist die Union über sich hinaus in eine größere und weitere Zukunft, in der die Einheit des Leibes Christi, der die Kirche ist, sichtbarer wird.

2. Wenn wir uns aber nur als eine vorbereitende Stufe in einem viel weiter greifenden Prozess der Kirche Gottes verstehen, so können wir uns nicht bei uns selbst ausruhen. Unser dankbares Gedenken an das Unionsgeschehen muss demütig sein. Es darf an diesem Tage keine Selbstberuhigung und keine Selbstüberschätzung der Evangelischen Kirche der Union geben. Die überschwengliche Weise, in der der Epheserbrief von der Einheit der Kirche redet, könnte uns leicht dazu verführen, in den hohen Ton des „Jahrhunderts der Kirche“ zu verfallen (so der selbstbewusste Titel eines umstrittenen Buches von O[tto] Dibelius aus dem Jahre 1926). Der Antichrist könnte genau dort einsetzen, wo die Kirche zuviel von sich selber hält, zu großartig von sich selber redet, ihre Geschichte zu unmittelbar mit der Heilsgeschichte Gottes verbindet, zu ungebrochen von sich als der vergegenwärtigenden Darstellung Christi spricht. Wir haben gewiss Grund zur Dankbarkeit, aber wir haben im Blick auf unsere Geschichte und unsere Gegenwart noch Grund zur Demut und zur Buße. Dabei müssen wir an sehr konkrete Geschehnisse in der Geschichte unserer Unionskirche denken. Mit Beschämung bekennen wir, dass es bei der Durchsetzung der Union nicht an Anwendung von Gewalt gefehlt hat. Jener Weihnachtsabend des Jahres 1834 in dem schlesischen Dorf Hönigern im Kreise Namslau diente nicht der

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Auferbauung des Leibes Christi. Mit Kolbenstößen von Soldaten, gewaltsamem Öffnen von Kirchentüren und Verhaftungen von Pfarrern, wie es damals geschah, lud unsere Kirche eine Schuld auf sich, die noch heute nachwirkt. Damals sind viele Familien aus ihrer Heimat nach Australien und Nordamerika ausgewandert, um ihren lutherischen Glauben rein zu bewahren, den sie in der Union gefährdet sahen. Und wenn Schuld allein durch Vergebung bedeckt werden kann, so wollen wir diesen Tag nicht vorbeigehen lassen, ohne unsere altlutherischen Brüder um solche Vergebung zu bitten. Wenn wir so offen und klar die Schuld auf dem Wege unserer Kirche bekennen, so dürfen wir aber auch Gott danken für die Segnungen, die Er uns in den 150 Jahren unseres Bestehens geschenkt hat. Genau einhundert Jahre nach jenen beschämenden Vorgängen trat im Jahre 1934 die erste Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der Union. zusammen. Es ist ein wunderbares Zeichen für die Führungen Gottes, dass damals Gemeinden unserer Unionskirche, die in ihren eigenen Kirchen keinen Einlass fanden, in den Kirchen der Altlutheraner ihre Gottesdienste halten durften. Die Kirche der Altpreußischen Union hat in jenen dunklen Zeiten des Einbruches der nationalsozialistischen Ideologie in die Kirche Christi in besonderem Maße von Gott die Kraft des Widerstandes und der Scheidung der Geister erhalten. Auch wurden ihr Brüder geschenkt, die das Zeugnis des Evangeliums mit der Hingabe ihres Lebens bekräftigen durften. Ich denke in dieser Stunde an Dietrich Bonhoeffer, Friedrich Justus Perels, Ludwig Steil, Werner Sylten, Fritz Müller und viele andere, an deren Beispiel und Opfer sich unsere Gemeinden heute aufrichten und in die Nachfolge des Gekreuzigten rufen lassen sollten. So werden wir an diesem Tage den Satz in der heutigen Ordnung der Evangelischen Kirche der Union lebendig bekennen dürfen, dass wir „in Buße und Dank auch über ihrer besonderen Geschichte die Gnade Gottes glauben dürfen“ (Grundartikel).

3. „Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus“ (4, 15). Wahrheit und Liebe zu verbinden, Bekenntnis und Kirchengemeinschaft zu bewahren, Christusbotschaft und Weltdienst zugleich zu üben[,] ist nicht immer leicht. In der Kirche gibt es darüber fast unüberwindlich scheinende Spannungen. Die Treue zum Bekenntnis und der Ernst der Wahrheit zieht der über alle Trennungen hinauseilenden Liebe oft enge Grenzen. Das gilt sowohl im Verhältnis der Kirchen untereinander wie im Verhältnis der Kirche zur Welt. Auch die Evangelische Kirche der Union hat in ihrer Geschichte diese spannungsvolle Einheit von Wahrheit und Liebe immer wieder erfahren; und auch heute wird das „Wahrhaftigsein in der Liebe“ nicht immer leicht zu üben sein. Die Wahrheit und ihr Zeugnis bringen die Liebe zum Schweigen. Wir denken mit tiefer Beugung daran, dass in den Religionskriegen Kirchen ihr Wahrheitsverständ-

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Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

nis auf blutige Art durchsetzen wollten. Wir erinnern uns, dass um der vorgeblichen Wahrheit willen zur Ehre Gottes Scheiterhaufen angezündet wurden. Aber auch umgekehrt hat die Liebe oft genug den Ernst der Entscheidung im Bekenntnis des Glaubens zugedeckt und verdunkelt. Es wurden notwendige Scheidungen aus einem kraftlosen Liebesideal unterlassen. Das „damnamus“ (wir verurteilen) ist in der Kirche genauso legitim wie die Liebe. „Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht“ (1, 8), sagt der Apostel Paulus im Eingang des Galaterbriefes. Wahrheit und Liebe zu verbinden wird die Kirche nur können, wenn sie zu dem hin wächst, der das Haupt ist, Christus. Denn er ist Wahrheit und Liebe vollkommen und zugleich in seiner Person. Er ist die vollkommene Offenbarung der Wahrheit Gottes, und er ist der vollkommene Herr der Liebe. Seine Wahrheit ist die Liebe, und seine Liebe ist die Wahrheit. Die wahre Liebe Christi ist die einzige Realität, an die zu glauben sich in dieser Welt lohnt. Die Kirche ist die Schar von Menschen, die mit der Liebe Christi rechnet[,] und nur mit der Liebe Christi. So wachsen wir zum Haupt des Leibes hin. Der Leib ist nicht das Haupt. Die Kirche ist nicht einfach der weiterlebende Christus in der Zeit. Die Einheit von Haupt und Leib hebt niemals das bleibende Gegenüber von Leib und Haupt auf. Das Verhältnis von Christus und der Kirche ist nur dann richtig verstanden, wenn die grundsätzliche Unumkehrbarkeit beider gesehen wird. Christus ist das Ziel alles dessen, was in der Kirche geschieht. Die Kirche wird gut tun, ihre Einheit mit Christus als im Gegenüber zu Ihm zu verstehen. So wird sie auch am besten ihre eigene Einheit unter sich selber finden: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“

4. Weil Christus unser Meister ist, sind wir untereinander Brüder. Weil er das Haupt ist, sind wir, die Glieder seines Leibes, zum Dienst der Liebe aneinander berufen. Von Christus ist „der ganze Leib zusammengefügt und hängt ein Glied am anderen durch alle Gelenke, wodurch jedes Glied das andere unterstützt nach dem Maß seiner Kraft und macht, dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe“ (4, 16). Die Liebe ist also nicht einfach ein menschliches Verhältnis der Glieder zueinander, eine natürliche Verbindung durch menschliche Zuneigung oder Mitleid füreinander. Die Liebe, wie sie in unserem Text verstanden wird, ist eine durch die Liebe Christi vermittelte Gemeinschaft untereinander. Liebe heißt: den anderen von Christus her ansehen und ihn zu Christus hinführen im Miteinander des stetigen eigenen Weges zu Christus hin. Von Christus her können wir nicht mehr Menschenverächter sein und von der „Bestie Mensch“ sprechen, obwohl der Mensch nach unserer natürlichen Erfahrung mit uns selbst und mit anderen wahrhaftig oft genug eine solche Bezeichnung verdiente. Wenn wir aber so vom Menschen denken,

Predigt zu Epheser 4, 15f., gehalten am 5.11.1967

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dann sind Gott und Christus und Kirche nur Namen oder Worte ohne Sinn und Wirklichkeit. Die Kirche ist der Herrschaftsbereich des Gekreuzigten, der uns liebte bis zum Tode und uns dadurch befreite zur Bruderliebe. Ist davon etwas zu spüren in der Union? Wie tief reicht die Wurzel der Union hinab in den Boden der Liebe Christi? Stehen wir in der Einheit des Leibes der Kirche dadurch, dass wir zum Haupt hin zunehmen, wachsen und immer völliger werden in den Liebeswerken untereinander?

5. Möge uns dieser Tag nicht nur in Buße und Dank zurückblicken lassen auf die besondere Geschichte der Union, sondern in Gebet und Tun vorwärts schreiten lassen zum Haupt hin, „dass der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe“. Wir beten für unsere Evangelische Kirche der Union, deren Glieder wir sind, mit den Worten des Pfingstliedes des Reformators von Konstanz, Ambrosius Blaurer (1537; EKG 100, 6): „O Geist, dem Vater und Sohn gemein, in dir sie kommen überein, du bist ihr ewig Bande. Also mach auch uns alle eins, dass sich absondre unser keins, nimm fort der Trennung Schande und halt zusammen Gottes Kind, die in der Welt zerstreuet sind durch falsche Gwalt und Lehre, dass sie am Haupt fest halten an, loben Christum mit jedermann, suchen allein sein Ehre.“ Amen.

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967 Wilhelm Hüffmeier

Hintergründe und Folgerungen Die Aufgabe des folgenden Beitrags ist es, in den kirchlichen Kontext, die Eigenart und die Wirkung der Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt am 5. November 1967 im Rahmen der 150-Jahr-Feier der preußischen Union in der Berliner Marienkirche1 einzuführen. Das geschieht anhand der Akten, denn Teilnehmer dieser Gedenkfeier der Evangelischen Kirche der Union (EKU) war ich nicht. Der Beitrag erfolgt in neun Schritten.

1.

Das Unionsgedenken 1967

Die Situation, in welcher die 150-Jahr-Feier der preußischen Union stattfand, war äußerlich durch zwei Faktoren bestimmt: zum einen durch die vielfältigen Feierlichkeiten in der DDR zur 450. Wiederkehr der Reformation, zum anderen durch die Trennung Deutschlands und auch der EKU. Sie existierte, obwohl de jure eine Kirche, de facto schon 1967 in zwei Bereichen mit je einer Teilkirchenleitung (Rat) und einer Teilkirchenkanzlei in West- und Ostberlin. Wie sehr der erste Faktor die Teilnehmerzahl am EKU-Jubiläum reduzierte, zeigt etwa die Absage des Greifswalder Theologieprofessors Ernst Kähler. Er schrieb, leider „an den sehr verlockenden Darbietungen nicht teilnehmen“ zu können, da er sich „nach Beendigung der Wittenberger Tage endlich wieder“ seinen „Greifswalder Aufgaben werde zuwenden 2 müssen“ . Die Bereichsgliederung der EKU wurde von ihren Teilsynoden erst 1972 1

2

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt ist gedruckt in dem von Friedrich Winter herausgegebenen Sammelband … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157. 1999 findet sich ein Hinweis auf dieses Schuldbekenntnis von Franz-Reinhold Hildebrandt gegenüber den Altlutheranern anlässlich des Reformationsgedenkens 1967 in der Ostberliner Marienkirche, in: Gerhard Besier/Eckhard Lessing (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 3: Trennung von Staat und Kirche, Kirchlich-politische Krisen, Erneuerung kirchlicher Gemeinschaft (1918–1992), Leipzig 1999, 695f. Zur Geschichte der evangelischen Kirchen in der DDR und ihrer Beziehungen untereinander, vgl. Anke Silomon, Anspruch und Wirklichkeit der „besonderen Gemeinschaft“. Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen 1969–1991, Göttingen 2006 sowie Friedrich Winter, Die Evangelische Kirche der Union und die Deutsche Demokratische Republik. Beziehungen und Wirkungen, Bielefeld 2001. Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA), Best. 107/569.

Hintergründe und Folgerungen

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beschlossen. Der in Ostberlin wohnende Leiter der rechtlich einen Kirchenkanzlei, Franz-Reinhold Hildebrandt, konnte sein Amt aber de facto seit dem Bau der Berliner Mauer nur im Osten ausüben. In Westberlin wurde die Kirchenkanzlei vom Vizepräsidenten Oskar Söhngen geleitet. Die hier interessierenden Vorgänge spielten sich aber in Ostberlin ab. Im Dezember 1966 hatte der östliche Teil der einen Kirchenleitung beschlossen, dass das 150-jährige Bestehen der Union „nicht stillschweigend übergangen werden“ soll. „Angesichts des Gewichtes der gleichzeitig stattfindenden Reformationsfeier soll das Gedenken aber in bescheidenem Rahmen geschehen.“3 Als gemeinsames Thema für die Feierlichkeiten in Ost- und Westberlin wurde „Union und Ökumene“ vereinbart. Die Referenten aus der Ökumene und Westdeutschland sollten für beide Teile Berlins weitgehend identisch sein. Dem Erlanger Historiker Hans Joachim Schoeps, der einen umfänglichen Vortrag über „Die Preußische Union von 1817“ und ihre Folgen vorbereitet hatte, in dem auch die Ereignisse der Jahre 1830 fortfolgende und die Separation der Altlutheraner dargestellt waren, wurde allerdings an der Friedrichstraße der Übergang nach Ostberlin verwehrt. Für ihn sprang zwar Walter Elliger ein, dessen unter Mitarbeit von Walter Delius und Oskar Söhngen herausgegebenes Buch „Die Evangelische Kirche der Union“4 gerade erschienen war. Inwieweit Elliger die Vorgänge, auf die Hildebrandts Predigt sich bezog, näher erläutert hat, war aus den Akten nicht mehr zu erheben. Erwähnenswert ist freilich, dass Oskar Söhngen sich bemühte, den Marburger Systematiker Hans Graß für einen dann an alle Pfarrer in der EKU zu verschickenden Aufsatz zu gewinnen, „in dem dargelegt wird, dass durch die Entwicklung in der Theologie Abendmahlsgemeinschaft heute nicht nur möglich, sondern geboten ist“. Die Altlutheraner erwähnte Söhngen in seinem Brief an Graß allerdings nicht. Doch sein zweifellos an die Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1957/1962 anknüpfender Versuch, einen substantiellen Beitrag zur Abendmahlsfrage bereitzustellen, misslang. Graß konnte „die Ausarbeitung“ eines solchen „Aufsatzes […] zeitlich“ nicht „unterbringen“.5 Auch nachträgliche Bemühungen um einen solchen Beitrag blieben erfolglos. Aber die Bemühungen zeigen an, wo die EKU theologische Weiterarbeit im Blick auf ungelöste Fragen des Erbes der preußischen Union von 1817 für geboten hielt.

2.

Das Thema „Versöhnung“

In dem Einladungsschreiben des Leiters der Kirchenkanzlei der EKU an Einzelpersonen, Kirchenleitungen und Institutionen, vor allem die kirchlichen und staatli3 4 5

A.a.O., Best. 107/568. Die Evangelische Kirche der Union. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Unter Mitarbeit von Walter Delius und Oskar Söhngen hg. von Walter Elliger, Witten 1967. Vgl. den Briefwechsel in EZA Best. 8/28.

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Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

chen theologischen Ausbildungsstätten in der DDR, nimmt Hildebrandt Bezug auf die „Ordnung der EKU“.6 Dort hieß es im Grundartikel, dass es der EKU aufgetragen sei, „in Buße und Dank auch über ihre besondere Geschichte die Gnade Gottes zu glauben“. Dieser Passus wird dann in Hildebrandts Predigt aufgenommen und durch die Vergebungsbitte und den Dank an die Altlutheraner konkretisiert. Beides war allerdings weder im Rat der EKU noch zwischen den Kirchenkanzleien abgesprochen noch durch den Ökumenischen oder Theologischen Ausschuss vorbereitet, sondern offenbar eine spontane homiletische Verknüpfung der Auslegung von Eph 4, 15f. mit jenem Satz aus dem Grundartikel der Ordnung der EKU. Über Hildebrandts Motive dafür haben wir leider keine Aufschlüsse. Waren es einfach die Geschichte und der Grundartikel der Ordnung der EKU, die in ihm rumorten? Oder war es vielleicht der ins Innerkirchliche gewendete Geist der Versöhnung in der Mitte der 1960er-Jahre? Man denke an die berühmte „Ostdenkschrift“ der EKD vom Oktober 1965, die zu der Synodalerklärung der EKD vom 18.3.1966 zu „Vertreibung und Versöhnung“ geführt hatte, oder an den Briefwechsel zwischen den deutschen und den polnischen katholischen Bischöfen vom Januar 1966 infolge des Hirtenbriefs der polnischen Bischofskonferenz an ihre deutschen Kollegen vom Dezember 1965 mit der Bitte um und der Gewährung von Vergebung. Oder spiegelt sich in Hildebrandts Versöhnung suchendem Zugehen auf die Altlutheraner das für die Situation in der DDR kennzeichnende Zusammenrücken der Konfessionen? Wie auch immer, es gab in dieser Sache – ganz abgesehen von dem fehlenden Vorlauf in den EKU-Gremien – offenbar auch keine Abstimmung mit dem Prediger in der Westberliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, dem Ratsvorsitzenden der EKU, Joachim Beckmann. Aber jede ernsthafte Predigt trägt die Würde des „Haec dixit dominus“ in sich. Die Listen der einzuladenden und der teilnehmenden Gäste, zu denen auch die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR auf deren Bitte hin gehörte, enthalten freilich keinen Vertreter der Altlutheraner als Gast und Predigthörer. Das Kollegium der Westberliner Teilkirchenkanzlei hatte sogar eine Anregung der Leitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, „zu dem Jubiläum auch Gäste der Altlutheraner und der Freikirchen zu bitten“, ausdrück7 lich „nicht für tunlich gehalten“. Wie Hildebrandt auf diesen Beschluss reagierte, ist leider auch nicht bekannt.

6 7

Siehe das Einladungsschreiben des Leiters der Kirchenkanzlei der EKU in EZA Best. 107/569. So der Beschluss des Westberliner Teils des Kollegiums der EKU vom 20.4.1967, der auf einen Brief des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg vom 4.4.1967 Bezug nimmt (EZA Best. 8/16). Den Hinweis auf diese Aktenstücke verdanke ich Herrn Professor Dr. Volker Stolle, Oberursel.

Hintergründe und Folgerungen

3.

27

Der Prediger

Der Prediger im Abendmahlsgottesdienst in der Marienkirche am 5. November 1967, Franz-Reinhold Hildebrandt, geboren am 12. Januar 1906 in Braunsberg/Ostpreußen, war als Pfarrer in Goldap/Ostpreußen eine der Säulen der ostpreußischen Bekennenden Kirche und nach dem Krieg zunächst Propst in Halberstadt und Quedlinburg, bevor ihn der Rat der EKU 1952 zum Leiter der Kirchenkanzlei der EKU berief. 1961 wurde er aufgrund der engen Beziehung zwischen der altpreußischen Kirche und dem Berliner Dom in der Nachfolge von Bruno Döhring dort Oberdomprediger. Kraft seines analytischen Scharfsinns, seiner theologischen Standfestigkeit, seines pastoralen Geschicks und seiner Durchsetzungskraft genoss er hohes Ansehen weit über die EKU hinaus.

4.

Die Bezüge zu den „altlutherischen Brüdern“

Bezüge zu „unsere[n] altlutherischen Brüder[n]“ enthält Hildebrandts Predigt zweimal direkt, zweimal indirekt. Direkt: 1. in der Bitte um Vergebung dafür, „dass es bei der Durchsetzung der Union nicht an Anwendung von Gewalt gefehlt hat“ unter Hinweis auf die Ereignisse am „Weihnachtsabend des Jahres 1834 in dem schlesischen Dorf Hönigern im Kreise Namslau“8. 2. in dem Dank an Gott und die Altlutheraner, dass im Kirchenkampf 1934ff. „Gemeinden unserer Unionskirche, die in ihren eigenen Kirchen keinen Einlass fanden, in den Kirchen der Altlutheraner ihre Gottesdienste halten durften“9. Indirekt sind Bezüge zu den Altlutheranern enthalten: 3. im Bedenken der „spannungsvolle[n] Einheit von Wahrheit und Liebe“10 in der Kirche, deren Haupt Jesus Christus ist, und 4. in der Bitte zu Gott, mit den Worten des Pfingstliedes von Ambrosius Blaurer: „nimm von uns fort der Trennung Schande und halt zusammen Gottes Kind“11. Die beiden ersten Bezüge zu „unsere[n] altlutherischen Brüder[n]“ löste Hildebrandt in seiner Predigt ein, die Bezüge 3. und 4. markierten uneingelöste Aufgaben. Weitere Bezüge zum Anliegen der Predigt in der Liturgie, etwa im Sündenbekenntnis oder im Fürbittengebet, gab es offenbar nicht.

8

9 10 11

Hildebrandt, Predigt (wie Anm. 1), 154. Die Ereignisse selber schildert Wolfgang Nixdorf, Die lutherische Separation. Union und Bekenntnis (1834), in: Johann F. Goeters/Rudolf Mau, Die Geschichte der EKU I: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817– 1850), Leipzig 1992, 232f. Hildebrandt, Predigt (wie Anm. 1), 154. A.a.O., 155. A.a.O., 157.

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5.

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

Begegnungen im Kirchenkampf

Beispiele von Öffnungen altlutherischer Gemeinden in der Zeit des Naziregimes sind aus Schneidemühl, Pommern,12 Wernigerode, Kirchenprovinz Sachsen,13 der Ev.-Lutherischen Kirche in der Annenstraße, Berlin-Mitte14 und der Ev.-lutherischen Christuskirche in Potsdam bekannt. Vermutlich waren es sehr viel mehr. In der Gemeinde Annenstraße, Berlin-Mitte, fand übrigens der nichtarische Bekenntnispfarrer Willy Ölsner (1897–1983) aus der benachbarten St.-ThomasKirchengemeinde eine Zufluchts- und Wirkungsstätte.

6.

Das „altlutherische“ Thema bei Franz-Reinhold Hildebrandt

Aufgrund eines Beschlusses des EKU-Kollegiums im Februar 1968 sollte die Predigt von Hildebrandt nicht gedruckt werden. So wurde sie auch nicht in die Dokumentation der in West- und Ostberlin im Jahr 1968 gehaltenen Vorträge unter dem Titel „Union und Ökumene“ aufgenommen.15 Selbst im Vorwort zu diesem Buch blieb die Predigt unerwähnt. Erst Friedrich Winter hat sie in einer Sammlung handschriftlicher Predigten von Hildebrandt wieder entdeckt und 1989 veröffentlicht.16 Ganz unter Verschluss blieben die Vergebungsbitte und der Dank jedoch nicht. In Hildebrandts Beitrag über „Die evangelische Kirche der Union“ für der Reihe „Die Kirchen der Welt“ aus dem Jahr 1973 beklagt er, als er auf die Vorgänge der Separation zu sprechen kommt, zunächst, dass der Staat Preußen, der „in großzügiger Toleranz […] Hugenotten, Salzburgern und Zillertalern eine neue Heimat geboten hatte, […] nun selbst Ursache zu einer, wenn auch relativ kleinen Welle von Auswanderern geworden war“. Sodann berichtet er von den Zufluchtsstätten, die die „von den deutsch-christlichen Kirchenbehörden hart bedrängten Bekenntnisgemeinden der unierten Großkirche“ in der NS-Zeit bei der „lutherischen Minderheitskirche“ gefunden hatten, um schließlich auf den Gottesdienst in der Marienkirche zu kommen, wo „öffentlich um Vergebung für jene dunkle Stunde ihrer Verfolgung in der Union gebeten worden“ war. Und Hildebrandt fügt hinzu: „Vielleicht reift die Zeit heran, in der dieser Flecken in der Vergangenheit unserer Kirche 17 unter dem Evangelium der Versöhnung getilgt werden kann“. 12 13 14

15 16 17

Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf III: Im Zeichen des zweiten Weltkriegs, Halle 1984, 262. Franz-Reinhold Hildebrandt, Die evangelische Kirche der Union, in: Die unierten Kirchen, hg. von John Webster Grant (Kirchen der Welt 10), Stuttgart 1973, 43. Siehe die Festschrift anlässlich des 150. Kirchweihfestes der Ev.-luth. Kirche, Annenstraße, BerlinMitte, hg. vom Kirchenvorstand, Dr. Ewald Schlechter, Berlin 2007, 19–22 (Autor des Abschnitts ist Palm Kleinau). Ferdinand Schlingensiepen (Hg.), Union und Ökumene. 150 Jahre Evangelische Kirche der Union, Berlin 1968. Siehe Anm. 1. Hildebrandt, Die Evangelische Kirche der Union (wie Anm. 13), 43.

Hintergründe und Folgerungen

7.

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Missverständnisse

Die Altlutheraner wurden öffentlich um Vergebung gebeten, so Hildebrandt, der Adressat der Vergebung war jedoch bei dem EKU-Gedenken 1967 nicht Teil dieser Öffentlichkeit. Den Altlutheranern wurden die Predigt oder die sie betreffenden Teile daraus, soweit ich sehen kann, auch nicht offiziell zugeleitet. Die kirchliche Presse war überdies nicht in der Lage, über den Vorgang angemessen zu berichten und so Öffentlichkeit herzustellen. In der Ostberliner Ausgabe des Berliner Sonntagsblatts „Die Kirche“ vom 3.12.1967 wird unter dem Titel „Stufe zur Einheit“ über das Jubiläum der EKU berichtet. Wörtlich heißt es dort, dass der Prediger „neben die Freude über spürbare Segnungen auch die Buße angesichts der Irrtümer auf dem Wege der Union stellte“. Dabei wird nun allerdings „die Bitte um Vergebung für das Leid, das in den Anfangsjahren manchen lutherischen Christen durch Gewalt bei der Durchsetzung der Union zugefügt worden sei“, in kirchengeschichtlicher Ahnungslosigkeit als „an die lutherischen Kirchen“18 gerichtet dargestellt.

8.

Reaktionen

Altlutherische Reaktionen auf jene Predigt oder die Berichterstattung in der Kirchenzeitung einen Monat nach dem Gottesdienst oder auf Hildebrandts EKUPorträt von 1973 bzw. auf Winters Veröffentlichung von 1989 sind mir nicht bekannt. Hingegen hat Friedrich Winter seinen Band mit der Predigt von Hildebrandt an das Concordia Institut der Lutheran Church – Missouri Synod geschickt und vom Direktor des Historischen Departments des Instituts im Juni 1990 eine Antwort erhalten. Der Direktor August R. Suelflow erinnert darin an seine einst aus Pommern und Niederschlesien aus Glaubensgründen ausgewanderten Vorfahren und stellt zugleich fest, dass die tragischen und bedauernswerten „Gewaltanwendungen und Strafmaßnahmen bei der Durchsetzung der Union, […] Gott sei Dank, Vergangenheit“ seien. Dann aber schließt er so: „Die Fragen aber, die bei der Union aufgekommen sind, bleiben dennoch sehr lebhaft. Eine oberflächliche Vereinigung ohne gründliche Glaubenseinheit bleibt nach wie vor ein Stein des Anstoßes für uns. Gott gebe die Gnade, dass man nach und nach zu einer solchen Einheit gelangen kann“.19

18 19

Siehe EZA Best. 107/568, worin die entsprechende Ausgabe von „Die Kirche“ enthalten ist. So im Brief von August R. Suelflow an Dr. Friedrich Winter vom Juni 1990. Eine Kopie des Briefes verdanke ich Friedrich Winter. Das Original wird Winter in Kürze an das EZA geben.

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9.

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft

Das war direkt Hildebrandts ureigenes ökumenisches Anliegen und – im Blick auf die Abendmahlsfrage – indirekt auch das Oskar Söhngens. Nicht zuletzt hatte der lutherische Erlanger Kirchenhistoriker Wilhelm Maurer mit seinen „Kritische[n] Fragen an die Unionen“ auf dem Unionsjubiläum die Frage der kirchlichen Einheit im Auge. Maurer nannte die preußische Union, ja überhaupt die „Union“ einen „Wurf in die Zukunft“20. Die 150 Jahre danach haben vieles von dem theologisch Fragwürdigen an der einstigen preußischen Union überwinden und nachbessern können. Aber Maurer dachte nicht nur an die EKU, wenn er vom „Wurf in die Zukunft“ sprach, sondern er hatte die „Wiedergewinnung der ecclesia universalis“ im Blick.21 Dass dafür Kirchengemeinschaft im Sinne von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit einer Perspektive auch auf Unionen hin der heute angemessene Begriff ist, diese Überzeugung teilen all die Kirchen, die die sogenannte Leuenberger Konkordie von 1973 unterzeichnet haben, auch die vielen lutherischen Kirchen. Über Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft auch mit den Altlutheranern nachzudenken, ist im Blick auf die Lutheraner in der UEK, in und außerhalb der VELKD und in der SELK allemal eine noch unbewältigte Aufgabe. Angesichts der kritischen Haltung von SELK-Theologen zur Leuenberger Konkordie bin ich allerdings skeptisch gestimmt, was das Potential der Konkordie für die Erledigung dieser Aufgabe angeht.22 Aber es sind ja auch andere Konkordien denkbar, vorausgesetzt, dass das Konkordienbuch von 1580 nicht Anfang und Ende der Wege Gottes mit seinen reformatorischen Kirchen ist. Schließen möchte ich mit einem Zuversicht vermittelnden Satz, den der westfälische Präses und Ratsvorsitzende der EKU Ernst Wilm zusammen mit Oskar Söhngen Präsident Hildebrandt zu dessen 60. Geburtstag im Januar 1966 schrieb: „Ihrer Tatkraft, Ihren klaren Konzeptionen und nicht zuletzt Ihrer unbeirrbaren Beständigkeit ist es zu danken, dass es überall vorwärts geht, wo Sie eine Sache anpacken.“23 So möge es denn auch in der von ihm angepackten und jetzt erneut aufgegriffenen Sache mit den Altlutheranern bzw. der SELK vorwärts gehen.

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Wilhelm Maurer, Kritische Fragen an die Unionen, in: Schlingensiepen, Union und Ökumene (wie Anm. 15), 111. Ebd. Siehe Werner Klän, Bekenntnis und Sakramentsgemeinschaft – Anfragen an die Tragfähigkeit des Modells „Leuenberger Konkordie“ aus konkordienlutherischer Sicht, in: ders./Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 74–91. Grußwort zur Festschrift: Zeugnis und Dienst im Spannungsfeld der Zeit. Beiträge aus der Evangelischen Kirche der Union zum sechzigsten Geburtstag von Franz-Reinhold Hildebrandt, hg. von Oskar Söhngen und Günter Heidtmann, Düsseldorf 1966, 5. Zitiert in der Presseerklärung des Leiters der Kirchenkanzlei der UEK vom 11. Januar 2006 zur 100. Wiederkehr des Geburtstags von Franz-Reinhold Hildebrandt am 12.1.2006.

Summary

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Summary On November 5th 1967, Franz-Reinhold Hildebrandt, president of the Evangelische Kirche der Union (Protestant Church of the Union), preached on Ephesians 4, 15– 16 in a service celebrating the 150th anniversary of the Prussian Union in the Marien-Kirche, East-Berlin. In his sermon he begged the forgiveness of the “Old Lutherans” for the use of military force during the implementation of the union. At the same he thanked “Old Lutheran” parishes who allowed their church buildings to be used by members of the “Confessing Church” during the Nazi regime, prevented from using their own churches for services by the church administration. This essay analyzes the situation, the context, the content and the consequences of that extraordinary sermon and offers information about the preacher’s life.

Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967 Volker Stolle

Eine Auslegung/Analyse Friedrich Winter1 schickte 1989, damals Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU) im Bereich Ost, in seinem Sammelband Brandenburgischer Predigten dem Abdruck der Predigt, die Franz-Reinhold Hildebrandt2 am 5. November 1967 in der Berliner Marienkirche gehalten hatte, einen Vorspann voraus. Darin macht er auf ein „Schuldbekenntnis gegenüber den Altlutheranern“ aufmerksam, das in dieser Predigt ausgesprochen werde.3 Wenn Winter eine „besondere Beachtung“ konstatierte, die dieses Schuldbekenntnis gefunden habe, so bestätigt sich dieser persönliche Eindruck keinesfalls bei einem Blick auf die damalige Berichterstattung. Dennoch verdient die Äußerung Hildebrandts gerade auch aufgrund ihrer Singularität besondere Beachtung. Ich möchte auf diese Predigt nur insoweit eingehen, als es dem Verständnis dieses Schuldbekenntnisses dient.

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Friedrich Winter (*4.3.1927 in Soest), studierte in Greifswald, Berlin und Rostock evangelische Theologie, wurde 1952 zum Dr. theol. promoviert, danach Gemeindepfarrer, 1954 Studentenpfarrer in Greifswald, 1960 Superintendent in Grimmen, 1964 Dozent für Praktische Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin, 1973–1986 Propst der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, 1986–1991 Präsident der Kirchenkanzlei der EKU (Bereich DDR). Franz-Reinhold Hildebrandt (12.1.1906 in Braunsberg–18.12.1991 in Brühl bei Köln), 1933 Pfarrer in Goldap, Mitglied des Rates der Bekennenden Kirche Ostpreußen und des Bruderrats der Altpreußischen Union, 1946 Propst in Halberstadt und Quedlinburg, 1952 Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, 1961 Oberdomprediger in Berlin, 1961–1972 Direktor der Evangelischen Forschungsakademie (als Nachfolger von Oskar Söhngen), 1973 emeritiert. – Nicht zu verwechseln mit dem Freund Bonhoeffers, Franz Hildebrandt (1909–1985), der, mütterlicherseits jüdischer Herkunft, 1933 amtsentsetzt wurde, sich der Bekennenden Kirche anschloss und 1937 nach Großbritannien emigrierte. Franz-Reinhold Hildebrandt, Predigt über Epheser 4, 15–16, in: Friedrich Winter (Hg.), … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157, hier 152. – Vgl. Ferdinand Schlingensiepen (Hg.), Union und Ökumene. 150 Jahre Evangelische Kirche der Union, Berlin 1968, 7 (beide Gottesdienste in der Einleitung erwähnt). Die Tagung selbst fand im „Haus der Kirche“ im Westen Berlins statt.

Eine Auslegung/Analyse

1.

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Die Predigt als Sprachform

Wenn Hildebrandt das Auseinandergehen von Gliedern der Evangelischen Kirche in Preußen im Zuge der Durchführung der Union und seine Folgen gerade in der Predigt anspricht, die er im Gottesdienst in der Marienkirche in Ostberlin hielt, der anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Union parallel zu dem Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Westberlin gefeiert wurde,4 so geht es ihm offensichtlich nicht um rein historische Aufarbeitung – anders als etwa Frank Martin Brunn in seiner Untersuchung über die entsprechenden Vorgänge in Baden5 –, sondern um eine geistliche Wahrnehmung der Geschichte. „Wir dürfen glauben, dass in und durch alles vordergründige Handeln von Menschen sich Gottes Weg und Führung auswirkt“ (153). Zwischen menschlichem Handeln und Gottes Führen bestehe oft eine Spannung. Hildebrandt hebt ab auf „eine durch die Liebe Christi vermittelte Gemeinschaft untereinander“ (156) und fragt: „Wie tief reicht die Wurzel der Union hinab in den Boden der Liebe Christi?“ (156) Dieser Frage müssen sich auch die selbstständigen Lutheraner in gleicher Buße und Demut stellen: Wie tief reicht ihre Wurzel hinab in den Boden der Liebe Christi? Die Frage nach dieser Verwurzelung macht unsere eigentliche Gemeinsamkeit aus.

2.

Der Stellenwert der Verfolgung

Im zweiten Teil seiner Predigt konstatiert Hildebrandt, „im Blick auf unsere Geschichte und unsere Gegenwart noch mehr Grund zur Demut und zur Buße“ als „zur Dankbarkeit“ (153f.) zu haben. Er konkretisiert dies mit Hinweis auf die Verfolgung der Altlutheraner: „Mit Beschämung bekennen wir, dass es bei der Durchsetzung der Union nicht an Anwendung von Gewalt gefehlt hat“ (154). Er folgert dann: „Und wenn Schuld allein durch Vergebung bedeckt werden kann, so wollen wir diesen Tag nicht vorbeigehen lassen, ohne unsere altlutherischen Brüder um solche Vergebung zu bitten“ (154). Die Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) versteht 1817 als ihr Gründungsdatum; insofern stellen die Vorgänge von 1830 bis 1840, als die Lutheraner außerhalb der Union hart verfolgt wurden, nur eine bedauerliche Episode in ihrer Geschichte dar, welche die grundsätzliche Zielsetzung, dass aus beiden Konfessionen „[e]ine neubelebte, evange4

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Im Tagungsprogramm wird allein der Gottesdienst im Westen, in dem der Ratsvorsitzende Präses Joachim Beckmann (18.7.1901 in Eickel–18.1.1987 in Haan) die Predigt hielt, verzeichnet; vgl. Schlingensiepen, Union und Ökumene (wie Anm. 3), 172. Frank Martin Brunn, Union oder Separation? Eine Untersuchung über die historischen, ekklesiologischen und rechtlichen Aspekte der lutherischen Separation in Baden in der Mitte des 19. Jahrhunderts (VVKGB 64), Karlsruhe 2006. Die Aufgabenstellung hier ist „die genauere historische Erhellung der im 19. Jahrhundert erfolgten Trennung beider Kirchen und deren theologische Bewertung“ (a.a.O., IX).

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lisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters“6 werde, nicht aufhebt.7 Für die selbstständigen Lutheraner aber stellt erst dieses Jahrzehnt ihre Gründungsphase dar, und die Tatsache, dass die Verfolgung durchlebt werden musste, ist ein bedeutungsvoller Aspekt ihres kollektiven Gedächtnisses. Das verleiht den historischen Geschehnissen auf beiden Seiten einen völlig unterschiedlichen Stellenwert. Die Sensibilität für das altlutherische Gegenüber und damit für die dunkle Seite der eigenen Geschichte war offenbar ein Phänomen im Bereich der DDR und Westberlins.8 In Westberlin hatte das Evangelische Konsistorium Berlin-Brandenburg eine Einladung der Altlutheraner zu den Feierlichkeiten angeregt unter dem Hinweis: „Es werde ein Akzent kirchenhistorischer Bedeutsamkeit gesetzt werden können, wenn etwa an der betreffenden Tagung auch Altlutheraner teilnehmen.“9 Dies war von der Kirchenkanzlei der EKU jedoch „nicht für tunlich gehalten“ und deshalb abgelehnt worden.10 Und in seiner Eröffnungsansprache zur Tagung im Westen schließt Oskar Söhngen11, seit 1952 Vizepräsident der Kirchenkanzlei der EKU, belastende Aspekte der Unionsgeschichte zwar nicht generell aus, übergeht sie aber mit einer sehr allgemeinen Bemerkung: „Mochte die Verwirklichung ihres Vorhabens auch viel mit Unzulänglichkeit, Versagen und Schuld belastet sein, mochte über dem Weg zur Union hin auch auf weiten Strecken jenes‚ … und führen, wo du nicht hin willst‘ (Joh 21, 18) stehen, – rückblickend dürfen wir heute mit Dank gegen Gott feststellen, dass durch ihre Tat die Tür zur Ökumene aufgestoßen

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Kabinettsordre Friedrich Wilhelm III. vom 27. September 1817 in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungsband 6), Göttin2 gen 2010, 33f., hier 33. Allerdings sind große Gebiete der altpreußischen Union ihr niemals offiziell beigetreten. Und der Breslauer Magistrat konnte dem Konsistorium erst am 9. Juli 1830 die Einführung der Union in seiner Stadt melden; vgl. Konrad Müller, Die Breslauer Reformationsfeiern von 1817 bis 1830, Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 51 (1917), 345–374, hier 374. Vgl. dazu die Situationsbeschreibung von Oberkirchenrat Dr. Gerhard Rost (22.1.1922 in Halle/Saale–19.5.2003 in Berlin) im Verwaltungsbericht des Oberkirchenkollegiums Dienststelle West über die Synodalperiode 1966–1971, den er auf der 29. Generalsynode der Evang.-luth. (altluth.) Kirche in der Bundesrepublik und Westberlin vom 26.–30. April 1971 in Wiesbaden vortrug: „Der Druck durch das System einer atheistischen Weltanschauung erzeugt in allen Kirchen des DDR-Bereiches eine mehr konservative Grundhaltung und macht ihnen ihre Gemeinsamkeit stärker bewusst, als dies in der Bundesrepublik der Fall ist. Hier sind dagegen die Grenzen der Großkirchen gegenüber dem modern-säkularen Atheismus transparent geworden. Unter der Flagge des Pluralismus können atheistische und sozialpolitische Programme innerhalb der Kirche als christlich vertreten werden. Die Nötigung zu bekenntnismäßiger kirchlicher Abgrenzung ist also in der Bundesrepublik zwingender und klarer als im DDR-Bereich“ (3). Schreiben des Evangelischen Konsistoriums Berlin-Brandenburg an die Evangelische Kirche der Union – Kirchenkanzlei – vom 4. April 1967; Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA) 8/16. Auszugsweise Abschrift aus der Niederschrift über die Sitzung des Kollegiums der Kirchenkanzlei der EKU (Jebensstraße) am 20.4.1967; EZA 8/16. – Für die entsprechende Recherche danke ich Herrn Palm Kleinau, Berlin. Oskar Söhngen (5.12.1900 in Wuppertal–28.8.1983 in Berlin).

Eine Auslegung/Analyse

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wurde.“12 Viel deutlicher benennt Friedrich-Wilhelm Krummacher13, 1955–1972 Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche, im Blick auf das Unionsjubiläum die „politische Gewalt“, durch die die Union „in den Anfängen ihrer Geschichte durch die staatlichen Eingriffe schmerzlich überschattet“ war.14 Und Hildebrandt wiederholte seine Äußerungen in der Predigt einige Jahre später in seiner Darstellung der Evangelischen Kirche der Union und erinnerte dabei auch an die von ihm selbst ausgesprochene Vergebungsbitte.15 Für ihn war also klar, dass die staatlichen Eingriffe nicht ohne Billigung oder billigende Hinnahme von Seiten der Kirche erfolgten. Bei Friedrich Winter, der die Predigt Hildebrandts dann herausgab, war das Verständnis für die altlutherische Position in seiner Greifswalder Zeit durch seine Begegnung mit Pfarrer Gotthold Ziemer16, der 1966 in die lutherische Landeskirche Mecklenburgs wechselte, gewachsen.17 Hat diese Bitte die Altlutheraner überhaupt erreicht und sind sie darauf eingegangen?18 Reaktionen auf die Vergebungsbitte in der Predigt sind mir nicht bekannt.19 Erst 1982 beauftragte die Synode der Ostregion der Berlin-Brandenburgischen Kirche ihre Kirchenleitung, die zwischenkirchlichen Beziehungen mit den Altlutheranern zu klären. Am 31. August 1982 fand daraufhin in Berlin in der Annenstraße eine Zusammenkunft statt, an der Bischof Gottfried Forck20, Oberkonsistorialrat Gerhard Linn21, Ökumenereferent der EKU, der geschäftsführende Kirchenrat Johannes Zellmer22 und Kirchenrat Dr. Ewald Schlechter23 teilnahmen,

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Schlingensiepen, Union und Ökumene (wie Anm. 3), 12–15, Zitat hier 13. – Die Pressemeldung über die Ausführungen Söhngens klingt noch harmloser: „Der 1817 durch königlichen Machtspruch, aber auch getragen von einer Bewegung von unten her, erfolgte Zusammenschluss der lutherischen und der reformierten Gemeinden in Preußen zu einer Kirche“ (epd Landesdienst Berlin Nr. 146 vom 6.11.1967, 2). Friedrich-Wilhelm Krummacher (3.8.1901 in Berlin–19.6.1974 in Altefähr/Rügen). Friedrich-Wilhelm Krummacher, Kircheneinheit und Bekenntnis: Ökumenische Erwägungen zu einem alten Thema, in: Erneuerung der Einen Kirche. FS Heinrich Bornkamm, hg. von Joachim Lell (Kirche und Konfession 11), Göttingen 1966, 155–167, hier 158f. Franz-Reinhold Hildebrandt, Die Evangelische Kirche der Union, in: Die unierten Kirchen, hg. von John Webster Grant (Kirchen der Welt 10), Stuttgart 1973, 29–105, hier 42f. Gotthold Ziemer (17.12.1907–20.4.1991). Friedrich Winter, briefliche Mitteilung an Herrn Palm Kleinau, Berlin, vom 28.3.2013. Ohne Bezugnahme auf die Predigt Hildebrandts kommentierte die Jubiläumsfeier von 1967 Gerhard Rost, 150 Jahre Union, Kirchenblatt der Evangelisch-lutherischen (altluth.) Kirche 117 (1967/12), 227–229. Auch 1989 hat Winter, als er seinen Sammelband mit der Predigt Hildebrandts an das Oberkirchenkollegium der Ev.-luth. (altluth.) Kirche in Berlin-Annenstraße geschickt hatte, von dort keine Rückmeldung erhalten. Dagegen erhielt er vom Concordia Historical Institute der Lutheran Church – Missouri Synod in St. Louis (MO) im Juni 1990 als Bestätigung seiner Zusendung einen Dankesbrief von dessen Direktor August R. Suelflow (1922–1999). Gottfried Forck (6.8.1923 in Ilmenau–24.12.1996 in Rheinsberg). Gerhard Linn (*12.8.1935 in Berlin). Johannes Zellmer (22.12.1920 in Mieczkowo/Schwertheim–7.9.2001 in Cottbus). Ewald Schlechter (*18.9.1940 in Halle/Bessarabien).

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Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

in der aber lediglich eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber einer ökumenischen Zusammenarbeit festgestellt wurde.24 Heute ist offensichtlich, dass staatliche Gewaltmaßnahmen bei innerkirchlichen Auseinandersetzungen nicht mehr zu befürchten sind. Unmittelbare Relevanz für das Verhältnis der Kirchen zueinander haben solche Ereignisse einer vergangenen Zeit unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr.25 Eine Distanzierung von äußerer Bedrückung ist heute nicht mit der Notwendigkeit verbunden, bestimmte Verhaltensweisen zu ändern, und insofern folgenlos. Das Erschrecken über die Abgründe früherer menschlicher Fehlbarkeit auch in der Kirche kann aber heute zu wacher Demut führen. Ebenso lässt sich aus diesen schwerwiegenden Vorgängen nichts für die Identitätsfindung der heutigen selbstständigen Lutheraner ableiten. „Wie es auch immer um die staatskirchlichen Maßnahmen der Preußenkönige gestanden haben mag und eine wie unglückliche Hand man auch bei der Durchsetzung der Anordnungen bewiesen haben mag, eine Berechtigung für die gegenwärtige Existenz lässt sich daraus nicht ableiten. Alle historische Richtigkeit ist für sich genommen unzureichend, wenn die heutige Existenz wirklich bewältigt werden soll.“26 Freilich muss klar gesehen werden, dass auch der weitere Fortbestand der „Selbstständigkeit“ der lutherischen Kirche in neu formierter selbstständiger Organisationsgestalt27 eine Folge der staatlichen Bedrückung war. Man wehrte sich lange, aus den bestehenden kirchlichen Organisationsstrukturen mitsamt deren ökonomischen Grundlagen herausgedrängt zu werden. Man reagierte mit dem Aufbau eines freien Kirchenwesens in direkter Verantwortung der Gemeinde und seiner theologischen Rechtfertigung auf die erzwungene Loslösung aus der staats-

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Für die entsprechende Recherche danke ich Herrn Palm Kleinau, Berlin. – Zellmer berichtete dem Oberkirchenkollegium schon am 3. September 1982 über dieses Gespräch und nannte dabei als einen konkreten Verhandlungspunkt angebliche Spannungen, die im Neubaugebiet Fürstenwalde dadurch aufgetreten sein sollten, dass von altlutherischer Seite aus Sachsen zuziehende Evangelische für die eigene Gemeinde geworben worden seien (Protokoll Nr. 177, 2). Für die Recherche danke ich Herrn Kirchenrat Michael Schätzel, Hannover. Bei der angesprochenen Frage ist die besondere Rechtslage in der ehemaligen DDR zu beachten. Schon 1930 schloss Ernst Ziemer an die Feststellung, „sie haben den Willen des Königs durchgeführt, es koste, was es wolle“, die Bemerkung an: „Heute wird das kein Mensch, weder auf dieser, noch auf jener Seite billigen“ (Ernst Ziemer, Vor hundert Jahren. Aktenmäßige Ergänzungen zur Entstehungsgeschichte der ev.-luth. Gemeinde zu Breslau, Breslau 1930, 84). Ich nehme hier eine Formulierung aus meiner Broschüre „Wille und Wirklichkeit“ 1969, 2f., auf. Die „Eigentümlichkeit“ und „Selbstständigkeit“, die man bewahrt wissen wollte, und die staatsfreie selbstständige Organisationsform, die dann neu entwickelt wurde, sind begrifflich zu unterscheiden. Geht es im ersten Fall um eine ekklesiologische Grundbestimmung der lutherischen Kirche (proprie subsistit), so wird im zweiten Fall eine zeitgemäße Fortentwicklung der kirchlichen Lebensgestaltung benannt. Vgl. dazu meine Untersuchung: „Anerkennung der evangelischlutherischen Kirche als einer selbstständigen und eigenthümlichen Kirche“. Die Selbständigkeit als ekklesiologisches und kirchenrechtliches Kennzeichen der lutherischen Kirche, in: Freikirchenforschung 10 (2000), 228–258.

Eine Auslegung/Analyse

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kirchlichen Obhut. Es galt, eine aufgenötigte Situation entschlossen, aber auch verbunden mit erheblichen Unsicherheiten zu bewältigen.

3.

Die gelebte Gastfreundschaft

Wenn Hildebrandt mit seiner Bitte um Vergebung auch nicht ausdrücklich eine Perspektive verbindet, wie man heute zu gelebter versöhnter Gemeinschaft kommen könnte, so weist er doch auf eine weitere Erfahrung im Gegenüber zu den Altlutheranern hin: „Es ist ein wunderbares Zeichen für die Führungen Gottes, dass damals [ab 1934] Gemeinden unserer Unionskirche, die in ihren eigenen Kirchen keinen Einlass fanden, in den Kirchen der Altlutheraner ihre Gottesdienste feiern durften“ (154). Die Frage der gegenseitigen Gastfreundschaft bleibt aktuell. Wie Hildebrandt dankbar die Unterstützung vermerkt, die bekennende Gemeinden innerhalb der Union in der Zeit des „Dritten Reiches“ seitens altlutherischer Gemeinden erfahren haben, so ist von Seiten der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) auf die Erwiderung dieser Gastfreundschaft durch landeskirchliche Gemeinden hinzuweisen, die nach dem Krieg Flüchtlings- und Diasporagemeinden der Altlutheraner die Möglichkeit gewährten, in ihren Kirchen Gottesdienste zu feiern. Auch dafür gebührt Dank. Doch inwieweit war diese Gastfreundschaft mehr als ein höflicher Akt? Zeichnete sich darin auch eine gewisse Solidarität ab, ein Einstehen füreinander? Erwuchs daraus eine Annäherung, bei der man sich wirklich näher kam? Die besondere Aufmerksamkeit, welche die Verfolgungszeit der Altlutheraner im Kontext der DDR auf Seiten der unierten Kirche fand, fällt besonders auf, weil die zwischenkirchlichen Kontakte sich dort sonst keineswegs intensiver gestalteten als im Bereich der alten Bundesrepublik. Während zu den lutherischen Landeskirchen vielfältige Beziehungen bestanden28 und dafür auch eine Regelung getroffen wurde29, wurden zwischen der Evangelisch-Lutherischen (altlutherischen) Kirche und den unierten Landeskirchen keine offiziellen Kontakte gepflegt.30 Im Osten,

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So hielten die altlutherischen Gemeinden im Bereich der DDR an der Mitarbeit im EvangelischLutherischen Missionswerk Leipzig fest. 1963 wurde noch in gesamtdeutscher Reichweite die „Übereinkunft zwischen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelisch-lutherischen (altluth.) Kirche“ geschlossen (Ordnungen für die Evangelisch-lutherische [altluth.] Kirche, hg. von Gerhard Rost, 239–241), die jedoch 1972 von der SELK nicht übernommen wurde. Erst durch Mitgliedschaften in örtlichen und regionalen Arbeitsgemeinschaften christlicher Kirchen (ACK) und schließlich 1992 in der bundesweiten ACK ergab sich eine geordnete Struktur für das Miteinander. – Einen Sonderfall stellte im Vier-Mächte-Status Berlins die Beteiligung an der erheblich weitere Grenzen ziehenden „Arbeitsgemeinschaft der Kirchen und Religionsgesellschaften in Groß-Berlin“ (gegründet am 14.4.1947; die Satzung wurde „für die Evangelischlutherischen Freikirchen“ unterzeichnet von Superintendent Friedrich Grube [14.10.1874 in Ber-

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damals sprach man im Westen von Mitteldeutschland, ergab sich aber eine gewisse Schrittfolge: „Als Altlutheraner waren wir dankbar, dass die Landeskirchen mit ihren größeren Möglichkeiten bei Protesten vorangingen und wir uns ihnen anschließen konnten.“31 Die tatsächlichen Begegnungen spielten sich auf persönlicher und örtlicher Ebene ab. Im Westen wie im Osten führten gemeinsame Studienzeiten mit landeskirchlichen Studierenden dazu, dass sich bleibende Freundschaften bildeten, die dann spätere Pfarrer miteinander verbanden. An der Basis der Gemeinden gab es hier wie dort Berührungen, die von den örtlichen Gegebenheiten her geprägt waren. Die Begegnungen wiesen zudem jeweils eine Färbung auf, die durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und politischen Herausforderungen mitbestimmt waren. So ergab sich im Raum der DDR ein intensiver Austausch in ökumenischen Arbeitsgemeinschaften vor Ort.32 Auch boten die diakonischen Einrichtungen der Landeskirchen dort altlutherischen Christen Arbeitsstellen und damit auch einen gewissen Freiraum. Im Westen zeigten sich andere Besonderheiten: Viele altlutherische Pfarrer erteilten schulischen Religionsunterricht, der mehrheitlich landeskirchliche Schülerinnen und Schüler erreichte und zu Arbeitsbeziehungen mit landeskirchlichen Kolleginnen und Kollegen führte. In der Jugend-, Posaunen- und Kirchenchorarbeit bestanden feste Formen der Zusammenarbeit. Dagegen gab es im Bereich der DDR nur innerkirchliche Organisationsstrukturen; jedoch unterstützten landeskirchliche Kirchenmusiker ziemlich regelmäßig die Ausrichtung altlutherischer kirchenmusikalischer Veranstaltungen, und zwar aufgrund privater Absprache aus christlicher Verbundenheit. Eine Besonderheit stellte die evangelische Publizistik dar. Als Zentralverlag hatte die Evangelische Verlagsanstalt in Berlin im Mai 1946 eine Lizenz erhalten, unter deren Dach auch andere christliche Verlage veröffentlichen konnten; so erschienen dort auch Bücher „auf Veranlassung/im Einvernehmen mit der Ev.-luth. (altluth.) Kirche“33 bzw. der

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lin–27.9.1953 in Berlin]) dar. An der Neuorganisation dieser Arbeitsgemeinschaft 2004 waren die Gemeinden der SELK nicht mehr beteiligt. Klaus Ketelhut, Als Altlutheraner in der DDR – wie war das?, in: Und es geschah doch 19 Jahre später. Der Beitritt der Evangelisch-Lutherischen (altlutherischen) Kirche in der ehemaligen DDR zur Selbständigen Ev.-Luth. Kirche 1991, hg. von Gilberto da Silva u. Stefan Süß (OUH 51), Oberursel 2011, 29–41, hier 34. – Vgl. als Beispiel eines solchen Vorgangs die Stellungnahme des Oberkirchenkollegiums zur DDR-Verfassung vom 25. März 1968, a.a.O., 28f. (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 6], 115f.). „Sehr bald bildeten die Leiter der christlichen Gemeinden aller Konfessionen Arbeitsgemeinschaften. Dabei ging es um Beratung, wie man sich zu aktuellen Aktivitäten des Staates verhalten sollte und könnte, aber auch um Gebetsgemeinschaften und gemeinsame Andachten, auch um Hilfestellungen bei karitativen Erfordernissen. Oft nahm man auch ganz praktische Hinweise, wo es Material oder Handwerker gäbe, dankbar zur Kenntnis“ (Ketelhut, Als Altlutheraner in der DDR [wie Anm. 31], 38). Ein Beispiel etwa ist der Bibelkreis in Eberswalde, der bis heute besteht. Z. B. Kurt Kallensee, Das Hundertguldenblatt Rembrandts, 1957 u. weitere Aufl.; ders., Zum Lobe Gottes, 1967; ders., Der Heiland in den Werken Rembrandt van Rijn, 1969; ders., Der Baum des Lebens, 1985, ²1990; Jobst Schöne, Um Christi sakramentale Gegenwart, 1966; ders., Luthers Bekenntnis vom Altarsakrament, 1970.

Eine Auslegung/Analyse

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„Ev.-luth. Freikirche“34 bzw. der „Vereinigung Selbständiger Ev.-Luth. Kirchen“35, zum Teil auch von Autoren aus dem Westen. Gewiss ist heute ein ökumenisches Miteinander selbstverständlich, das in großer Breite gepflegt wird. Aber zugleich ist doch auch eine Entfremdung dadurch eingetreten, dass die selbstständigen Lutheraner auf die für die Unionskirchen selbstverständliche Erwartung einer eucharistischen Gastfreundschaft nicht einzugehen vermögen. Trennend wirken sich die unterschiedlichen Grade von Bekenntniseinheit aus, die auf beiden Seiten als ermöglichende Voraussetzung angesehen werden. Selbstständige Lutheraner empfinden die großzügige Gastfreundschaft seitens der Landeskirchen bisweilen wie eine vereinnahmende Umarmung, die das Gegenüber in seinem Selbstverständnis nicht wirklich ernst nimmt. Hilfreich finde ich einen Gedanken von Hildebrandt, den er über die Einheit der Kirche mit Christus formuliert, der aber auch für die Einheit der konfessionellen Ausrichtungen innerhalb der einen Kirche Sinn macht. Hildebrandt sagt: „Die Kirche wird gut tun, ihre Einheit mit Christus als im Gegenüber zu Ihm zu verstehen“ (155). Dann aber werden die Kirchen gut daran tun, auch ihre Einheit untereinander als im Gegenüber zueinander zu verstehen.

4.

Das Verhältnis von Union und Ökumene

Hildebrandt nimmt die Entwicklung in den Blick, welche die preußische Union seit ihrer Entstehung genommen hat, und hebt dabei besonders einen Punkt hervor: „Wir dürfen das Geschehen, das zur Geburt unserer Kirche führte, als einen vorbereitenden Dienst für das ökumenische Zeitalter der Christenheit, in dem wir uns befinden, verstehen“ (153). Indem er die Unionsprogrammatik in die übergeordnete Perspektive der ökumenischen Bewegung einordnet, benennt er eine geschichtliche Entwicklung in der Union. „Die Geschichte der Unionen ist eine Geschichte ihrer Selbstreinigung“, stellte Wilhelm Maurer auf der Tagung 1967 in Westberlin fest.36 Insofern darf die unmittelbare Bedeutung der preußischen Union für die ökumenische Bewegung nicht überschätzt werden.37 Andererseits ist die damalige Diskussion über eine wahre Union wieder neu aufzunehmen. 34

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Z. B. Ernst Lerle, Das Raumverständnis im Neuen Testament, 1955; ders., Die Predigt im Neuen 2 Testament, 1957; ders., Proselytenwerbung und Urchristentum, 1960; Hans Kirsten, Die Taufabsage, 1960; Günter Wachler, Das Geheimnis der Frömmigkeit, 1964; ders., Die Herzen in die Hö2 2 he, 1965; ders., Von Gott geliebt, 1971; Gottfried Wachler, Nicht sehen und doch glauben, 1988. Z. B. Ernst Lerle, Grundriss der empirischen Homiletik, 1975; ders., Praktischer Kommentar zum Ersten Korintherbrief, 1978; Gottfried Wachler, Nicht sehen und doch glauben, 1978; Kurt Kallensee, Meines Herzens Trost, meines Lebens Kraft, 1980; Günter Wachler, Wort und Antwort, 1980; Dem Erbe verpflichtet, hg. von Ernst Lerle, 1983. Wilhelm Maurer, Kritische Fragen an die Unionen, in: Schlingensiepen, Union und Ökumene (wie Anm. 3), 81–114, hier 83. Vgl. Krummacher, Kircheneinheit und Bekenntnis (wie Anm. 14), 156.

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Wichtige Einwände gegen Union, wie sie im 19. Jahrhundert in Erscheinung trat, waren deren Provinzialität in ihrer landeskirchlichen Verfasstheit, deren Engführung auf eine innerprotestantische Einigung mit deutlich antirömischer Attitüde und das Fehlen eines einigenden Bekenntnisses.38 Diese Kritik ist inzwischen weitgehend gegenstandslos geworden. Denn innerhalb der EKD ist eine weitgehende Kirchengemeinschaft erreicht. Eine Europäisierung erfolgte in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa aufgrund der Leuenberger Konkordie von 1973, die „ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums“ formuliert (1).39 Und eine Globalisierung hat hinsichtlich der Kooperation im Weltrat der Kirchen (ÖRK) stattgefunden. Die konfessionellen Lutheraner bekannten sich ihrerseits zu einer „wahren“ Union. Johann Gottfried Scheibel (1783–1843) selbst sagt: „Wir verkennen auch gar nicht, dass die Schrift sagt von einer gewissen Union, aber der Spruch: Es soll eine Heerde und ein Hirte werden, bezieht sich auf die Verbindung bekehrter, also doch wirklich Gläubiger, aus Juden und Heiden.“40 In der zweiten Bittschrift der Breslauer Lutheraner vom 26. Juli 1830 heißt es: „Niemand kann zu einer Union geneigter seyn, als wir, wenn sie nur eine wirkliche Union ist, d. h. eine solche, die von der Einheit des Glaubensbekenntnisses ausgeht.“41 „Die ganze Kirche soll es sein,“ hielt etwa Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888) seinem Kontrahenten Karl Immanuel Nitzsch (1787–1868) entgegen42 und erklärte an anderer Stelle: „Man sollte über Union nicht reden, ohne sich ernstlich die Frage vorzulegen, was in ihr das Wahre sei. Ich kann sagen, daß ich aus Union gegen die Union bin.“43 Doch dieses Bekenntnis zur Union blieb weitgehend eine theologische These. Die Betonung der Einheit der Kirche wurde immer wieder zurückgestellt, wenn es um konkrete kirchliche Entscheidungen ging. Ausdruck wurde der konfessionellen Besonderheit gegeben, während die gesamtchristliche Gemeinschaft unter dem einen Herrn der Kirche ziemlich unanschaulich blieb. Ihre großen Jubiläen feierten

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Vgl. dazu Volker Stolle, Festhalten und Fortschreiten. Karl Friedrich August Kahnis (1814–1888) als lutherischer Theologe (Kontexte 43), Göttingen 2011, 131–155. In einer gemeinsamen Erklärung vom 13. März 1981 hat die SELK zwar zusammen mit der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden erklärt, dass in der Konkordie „kein gemeinsames Verständnis des Evangeliums zum Ausdruck“ komme (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 6], 638), dieses Urteil aber nicht näher begründet. Predigt am 20. Juni 1830 (letzte Predigt in Breslau), in: Johann Gottfried Scheibel, Actenmäßige Geschichte der neuesten Unternehmung einer Union zwischen der reformirten und lutherischen Kirche vorzüglich durch gemeinschaftliche Agende in Deutschland und besonders in dem preußischen Staate, Leipzig 1834, II, 288–295, hier 294. Scheibel, Actenmäßige Geschichte II (wie Anm. 40), 95–104, hier 99 (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 6], 44). Stolle, Festhalten und Fortschreiten (wie Anm. 38), 146. A.a.O., 153.

Eine Auslegung/Analyse

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die Altlutheraner im vertrauten Kreis der lutherischen Gemeinschaft, während die christliche Nachbarschaft vor Ort draußen blieb.44

5.

Vom Dienst des Bekenntnisses

Auch die Bewegung der selbstständigen Lutheraner hat natürlich eine Entwicklung durchgemacht und in großen inneren Auseinandersetzungen durch die Zeiten hin ihre Gestalt verändert. Sie hat eine selbstständige kirchliche Organisation aufbauen und dabei Leitungsstrukturen finden müssen, sie hat vor der Frage der Auswanderung gestanden. Mit den praktischen Herausforderungen zusammenhängende theologische Fragen wurden leidenschaftlich debattiert, weil sie sich nicht eindeutig aus dem im Bekenntnis niedergelegten Verständnis des Evangeliums ableiten ließen. Dabei wurden neue Konzeptionen zum Amt und zur Kirchenverfassung entwickelt. Die lutherische Kirche wurde als besondere ekklesiologische Größe bestimmt, und zugleich grenzte man sich auch wieder von lutherischen Kirchen ab und maß der verfassten partikularkirchlichen Existenz eine besondere Bedeutung zu. Auch die lutherische Kirche wurde gleichsam eine unsichtbare.45 Ebenso erwies es sich als schwierig, in der Auseinandersetzung mit den sozialethischen Fragen, die sich mit der Zeit stellten, auf der Grundlage der lutherischen Bekenntnisschriften zu klaren und einmütigen Entscheidungen zu finden. Ob man auch im Hinblick auf diese Entwicklung von einer „Geschichte der Selbstreinigung“ sprechen kann, bleibt mir fraglich. Harte Auseinandersetzungen liegen als schwere Hypothek auch auf der Geschichte der fortbestehenden lutherischen Kirche in neuem Zuschnitt. Damit stellt sich für beide Seiten die Frage der Bekenntnishermeneutik. Über die Art der Verbindlichkeit der kirchlichen Bekenntnisse besteht kein Einvernehmen. Und für die Handhabung der Bekenntnisse im heutigen kirchlichen Handeln fehlen klare Vorgaben. Hildebrandt stellt fest: „Die Wahrheit und ihr Zeugnis bringen die Liebe zum Schweigen. […] Aber auch umgekehrt hat die Liebe oft genug den Ernst der Entscheidung im Bekenntnis des Glaubens zugedeckt und verdun44

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1880 wurde das Gedächtnis des Konkordienbuches (1580) dezentral in allen Gemeinden feierlich begangen: An unsere Gemeinden, Kirchen-Blatt für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Preußen, 1880, 129–131 („Verbindet sich doch mit diesem Concordien-Jubiläum nicht allein die 350jährige Gedenkfeier der Augsburgischen Confession, sondern auch die Feier des 50jährigen Bestandes der aus der Unions-Gefahr erretteten lutherischen Kirche in Preußen“, a.a.O., 129). Fünfzig Jahre später fand in Breslau eine zentrale Veranstaltung statt: Jubiläumsfeier der Evang.lutherischen Kirche in Preußen am 24. und 25. Juni 1930 zu Breslau. Grußworte sprachen außer dem Vertreter des Breslauer Magistrats und dem Rektor der Universität nur Vertreter lutherischer Kirchen und der Lutherischen Mission in Leipzig. Vgl. den Bericht über das 100jährige Jubiläum unserer Kirche, Kirchblatt 85 (1930), 445–448, 457–463. Vgl. Hermann Sasse (1895–1976): „Ist nicht auch die Kirche Augsburgischen Bekenntnisses zu einer unsichtbaren Kirche geworden?“ (Gedanken am Vorabend des Reformationsjubiläums von 1967 [1966], in: ders., In statu confessionis, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze und kleine Schriften, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin und Schleswig-Holstein 1976, 259–272, hier 270).

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Die Predigt von Franz-Reinhold Hildebrandt zur 150-Jahr-Feier der Union 1967

kelt“ (155). Und er fährt fort: „Wahrheit und Liebe [zu] verbinden wird die Kirche nur können, wenn sie zu dem hin wächst, der das Haupt ist, Christus“ (155). Ich denke, dass genau dies der Punkt ist, an dem wir uns gemeinsam im Glauben zu bemühen haben. Wenigstens anmerken möchte ich zum Thema Union noch die Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses. Welche Formen des gemeinsamen Zeugnisses und Dienstes ergeben sich zwischen Kirche und Synagoge unter dem verbindenden Bekenntnis zu dem einen Gott Israels? Hier ist aufgrund der geschichtlichen Ereignisse ein neues Bewusstsein zu entwickeln. In diesem Klärungsprozess sind die Landeskirchen weiter als die SELK.

Summary On the occasion of the Anniversary of the Prussian Union in 1967 Franz-Reinhold Hildebrandt addressed the problem of the relationship to Old Lutherans in his sermon. Whether his request for forgiveness reached the recipients and how this was effected remains an open question. The persecution of dissenters by (means of) the state is no longer an option in deciding a dispute. Instances of mutual hospitality, however, suggest new possibilities in our time and age. The transformation which has taken place on both sides in the course of history now reveals each counterpart in a new light. In view of the ecumenical awareness which has emerged in the meantime, we must address the task of finding a pertinent hermeneutics of confessions. “The church will only be able to combine truth and love if it grows towards Him who is the head of the church, Christ” (Hildebrandt).

Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung bis 1850 Johannes Hund

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelischlutherische Kirche in Preußen“ Hier [bekennen] alle Gebete und Gesänge, was das rechte christliche Abendmahl ist, hier die ganze tiefe feierliche Andacht, daß wir glauben, durch alle Räume des Himmels und der Erde vereinige die allmächtige Gottheit Jesu Brodt und Wein auf jedem wahren Altar des Herrn mit seinem verklärten Leibe und Blute im Himmel so genau und vollkommen, daß diese göttliche Wirksamkeit die Gemeinschaft mit Brodt und Wein als Leib und Blut Christi mit ihm dem Herrn mache. […] Glauben wir also dies, dann zeigt erst unsere heiligste Handlung selbst, daß es unser tiefster und wichtigster Gedanke: Jesu sey alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Dann nehmen wir erst alle Vernunft, wie Paulus sagt, wirklich und mit der That und Wahrheit gefangen, unter dem Gehorsam Christi.1

Der Breslauer Widerstand gegen die unierte Agende, die altlutherische Bewegung und die Kirchwerdung der „Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen“ sind nur mit einer eingehenden Analyse des konfessionell-lutherischen Ansatzes des Mannes, aus dessen Munde dieses Zitat stammt, verständlich. Diese Studie beginnt daher mit dem Versuch, den theologischen Ansatz Johann Gottfried Scheibels als Beitrag zur theologischen Debatte des frühen 19. Jahrhunderts zu verstehen (1.) und seine Ablehnung der neuen preußischen Agende als Konsequenz seiner Position darzustellen (2.). Die Ereignisse rund um das Augustana-Jubiläum von 1830, die mit dem Exil Scheibels endeten (3.), sollen als Voraussetzung der Verfolgungszeit der altlutherischen Bewegung in den Jahren 1834 bis 1840 (4.) verstanden werden, bevor in einem eigenen Teil der Kirchwerdung der „Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen“ nachgegangen wird (5.). Ein resümierender Abschnitt bündelt am Ende die gewonnenen Einsichten (6.).

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Johann Gottfried Scheibel, Predigt am 1sten Sonntage nach Trinitatis den 13. Juni 1830 gehalten in der Morgenstunde, in: ders., Actenmäßige Geschichte der neuesten Unternehmung einer Union zwischen der reformirten und lutherischen Kirche vorzüglich durch gemeinschaftliche Agende in Deutschland und besonders in dem preußischen Staate. Zweiter Theil, enthaltend hundert und zwei und dreißig Acten-Stücke, Leipzig 1834, 280–288, hier 284.

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1.

Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung

Das konfessionelle Luthertum Scheibels. Ein Beitrag zur theologischen Debatte des frühen 19. Jahrhunderts

Am 16. September des Lutherjahres 1783 als Sohn des Physik- und Mathematiklehrers und Rektors des Breslauer St.-Elisabeth-Gymnasiums2, Johann Ephraim Scheibel, geboren, gehörte Johann Gottfried zu einer alten Breslauer Lehrerfamilie.3 In Schlesien hatte sich unter den Pressionen der Habsburger Herrschaft4 ein widerstandsfähiges Luthertum gebildet, in das erst nach der Eroberung Schlesiens durch den Preußenkönig Friedrich II. im Jahr 1740 die ersten pietistischen und aufklärerischen Impulse eindrangen. Der Pietismus hatte indes seinen Zenit bereits erreicht, und die Aufklärung fand eigentlich erst mit der Verlegung der Universität Frankfurt an der Oder nach Breslau 1811 wirklich Eingang in das schlesische Bürgertum.5 Scheibel wurde also in ein kampferprobtes, in vielem noch der orthodoxen Lehre verbundenes Luthertum hinein geboren.6 Sein Vater hatte in Halle neben seinen naturwissenschaftlichen Studien auch Vorlesungen bei Siegmund Jakob Baumgarten gehört, dessen Wolffsche Methodik dem Naturwissenschaftler wohl entgegenkam, der in theologischen Fragen aber überwiegend noch die traditionell lutherischen Positionen vertrat.7 Johann Ephraim veröffentlichte in diesem Geiste eine Kampfschrift gegen die posthume Infragestellung der Auferstehung Jesu als historischer Tatsache durch den Hamburger Lehrer Hermann Samuel Reimarus.8 Als Vater versuchte er, seinen einzigen Sohn Johann Gottfried vor den Versuchungen der aufgeklärten Welt zu bewahren, indem er ihn selbst zu Hause unterrichtete und mit ihm sonntäglich die Kirche besuchte. Diese religiösen Erziehungsanstrengungen des Vaters wurden flankiert

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Zu dieser 1293 gegründeten Schule in Breslau vgl. Gerhard Scheuermann, Art. Elisabet(h)gymnasium, in: ders., Das Breslau-Lexikon, Dülmen 1994, 264–266. Bereits Johann Gottfrieds Urgroßvater, Jeremias Scheibel (1657–1707), und sein Großvater, Gottfried Ephraim Scheibel (1696–1758), hatten am St. Elisabeth-Gymnasium unterrichtet. Zu seinem Vater Johann Ephraim Scheibel vgl. Hartwig Günther, Art. Scheibel, Johann Ephraim, in: ADB 30 (1890), 693. Zur Habsburger Herrschaft und den Pressionen, denen die lutherische Bevölkerung unterworfen 4 war, vgl. Hellmut Eberlein, Schlesische Kirchengeschichte, Ulm 1962, 70–98. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Johann Gottfried Scheibel und der Breslauer Protest gegen die preußische Union, in: JSKG.NF 41 (1962), 94–115, hier 98. Zum Zustand des schlesischen Luthertums vgl. auch Peter Maser, „Um einen Scheibel von außen bittend …“ Der Breslauer Theologe J. G. Scheibel im Urteil seiner Zeitgenossen, in: Peter Hauptmann (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel 1783–1843 (KiO.M 20), Göttingen 1987, 126–137, hier 130f. Zur Person und Theologie des Hallenser Theologen vgl. Martin Schloemann, Art. Baumgarten, 4 Siegmund Jacob, in: RGG 1 (1998), 1180f. Vgl. Johann Ephraim Scheibel, Neue Untersuchungen über die Auferstehungsgeschichte unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi, Frankfurt/Leipzig 1778. Zum theologischen Deismus des Reimarus vgl. Dietrich Klein, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk (BHTh 145), Tübingen 2009.

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

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durch die Mutter, die täglich Morgen- und Abendandachten abhielt.9 Scheibel besuchte erst die Secunda und die Prima des St.-Elisabeth-Gymnasiums. Doch auch während dieser Zeit scheint Scheibel kaum Freunde gefunden zu haben. Sein einziger Umgang war sein Vater, der auch seine Freizeit mit seinem Sohn, etwa bei Spaziergängen, verbrachte.10 Bereits während der Gymnasialzeit Johann Gottfrieds empfahl ihm sein Vater die Veröffentlichung des Hofpredigers auf der Insel Rügen, Ehrenreich Christoph Koch, „Vertheidigter Glaube der Christen von des Herrn Abendmal“, eine Verteidigung der lutherischen Abendmahlslehre gegen die Infragestellungen der zeitgenössischen Neologie, in der sich der Putbuser Hofprediger unter anderem auch auf Joh 6, 51–56 berief, eine biblische Aussage, die für Scheibels theologische Entwicklung noch wichtig werden sollte.11 Resümierend lässt sich festhalten, dass Scheibel aus einem traditionsverbundenen, aufklärungskritischen Milieu stammte, das deutlich lutherische Prägungen aufwies. Kein Wunder also, dass der unter diesen Bedingungen aufgewachsene Scheibel, als er 1801 die Universität Halle bezog, sowohl von dem als sittlich fragwürdig empfundenen Studentenleben als auch von der überwiegend an der theologischen Fakultät gelehrten Aufklärungstheologie zutiefst abgestoßen wurde. Für Scheibel bestand ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der theologischen Lehre und der Lebensführung, der ihm die beiden von ihm empfundenen Missstände in Halle zu erklären schien: Die Moral der Studenten war so schlecht, weil ihre Theologie so gottlos war.12 Er schloss sich darum an den letzten Vertreter des Hallischen Pietis-

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Vgl. Georg Froböß, Drei Lutheraner an der Universität Breslau. Die Professoren Scheibel, Steffens, Huschke in ihrer religiösen Entwicklung bis zu ihrem Eintritt in die Kämpfe der lutherischen Kirche im Jahre 1830. Der Königlichen Universität Breslau zum 100jährigen Jubelfest ehrfurchtsvoll gewidmet, Breslau 1911, 9. Vgl. hierzu Johann Gottfried Scheibel, Actenmäßige Geschichte der neuesten Unternehmung einer Union zwischen der reformirten und lutherischen Kirche vorzüglich durch gemeinschaftliche Agende in Deutschland und besonders in dem preußischen Staate. Erster Theil: Die Geschichts-Erzählung enthaltend, Leipzig 1834, 18: „Ich hatte wenig Umgang; der Vater wachte über mich als einzigen Sohn sorgfältig; mein gewöhnlicher Umgang war der mit meinem Vater, Er fast mein einziger Begleiter auf Spatziergängen. Große Gesellschaften, Bälle, Schauspiele habe ich in meiner Jugend fast nicht gekannt. Das Breslauische Schauspielhaus besuchte ich 1805 zum erstenmal. So ward ich erzogen.“ Vgl. Ehrenreich Christoph Koch, Vertheidigter Glaube der Christen von der heiligen Taufe und des Herrn Abendmal, Rostock/Wismar 1754, 134–151. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 18: „[Ich] kannte aber aus Erfahrung die Lüste der Welt gar nicht, als ich nach Halle 1801 reiste, um dort Theologie zu studiren. Auf dieser Universität war damals der Unglaube schon fast allgemein. Nösselt’s, Vater’s und Niemeyer’s Grundsätze sind bekannt. Die Studirenden lebten in furchtbarer Unsittlichkeit. Wie leicht konnte der feurige, kräftige Jüngling in diesem Gewühle des Unglaubens und der Sünde untergehen.“ Zu den moderat neologisch lehrenden Hallenser Theologen Nösselt und Niemeyer vgl. Udo Sträter, 4 Art. Nösselt, Johann August, in: RGG 6 (2003), 395f.; ders., Art. Niemeyer, August Hermann, in: 4 RGG 6 (2003), 307f.; zu dem Rationalisten Vater vgl. Ernst Kuhn, Art. Vater, Johann Severin, in: ADB 39 (1895), 503–508.

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mus, den Exegeten Georg Christian Knapp13 an, bei dem er vor allem die exakte grammatikalische Schriftexegese lernte, die sein Lehrer der Aufklärung und ihrer Tendenz, ihre Philosophie in die biblischen Texte hineinzulesen, entgegenhielt.14 Von Knapp übernahm Scheibel zunächst auch das symbolische Abendmahlsverständnis Schweizer Prägung.15 Neben seinem Theologiestudium betrieb Scheibel auch historische Forschungen, für die er bereits während seiner Schulzeit begeistert worden war. Besonders interessierte Scheibel der Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer16, den er 1803 aufsuchte, um sich von ihm zum Geschichtsprofessor ausbilden zu lassen. Von Schlözer ermutigt, seine Studien in Göttingen fortzusetzen, wäre Scheibel auch dorthin gegangen, wenn ihn nicht sein Vater ermahnt hätte, nach Breslau zurückzukehren.17

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Zu seiner Person und Theologie vgl. Angela Nüsseler, Art. Knapp, Georg Christian, in: RGG 4 (2001), 1462. Zum Verhältnis des Schülers Scheibel zu seinem Lehrer Knapp vgl. Johann Gottfried Scheibel, Gedächtniss-Rede auf Georg Christian Knapp […] Beim Anfang der Winter Vorlesungen (den 31. October 1825), Breslau 1825, 11: „Aber er wusste auch das Bestreben der Zeit […], in der Bibel nur das lesen zu wollen, was, oft nicht einmal recht begriffen, Philosophie zusammengesetzt hat, und darnach den biblischen Sprachgebrauch zu künsteln.“ Knapp sah die Pflicht des Exegeten darin, die Bibel zu nehmen, „wie sie ist, und nicht nach Willkühr eigenen Herzens über dem Sprachgebrauch zu künsteln, die Einen Stellen wegzulassen, die Andern zu nehmen, wie man selbst will. Niemandem war philologische Wahrheitsliebe je heiligere Gewissens-Sache, als unserm Lehrer“, a.a.O., 13. Die Wiederentdeckung der Exegese gegen die aufklärerischen Auslegungsexzesse war ein allgemeiner Trend am Anfang des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu etwa die Vorrede der Grammatik des Leipziger Exegeten Johann Georg Benedikt Winer, Grammatik des Neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese, Leipzig 1822, X: „Schließlich spreche ich nur noch den Wunsch aus, daß auch dieser unvollkommene Versuch eine gründliche grammatisch-historische Interpretation des N.T., die das Palladium der protestantischen Kirche ist, fördern möge, damit die ehrwürdigen biblischen Urkunden durch die exegetischen Zwangskünste frivoler Aufklärer eben so wenig, als durch die Schwindeleien eines sich dünkelhaft blähenden Obscurantismus entstellt werden mögen, – damit man es immer mehr einsehen lerne, nicht durch aufgedunsene Commentare mystischer Visionärs werde das Verständniß der heiligen eröffnet, und nicht jeder Laie sei vermögend, die Bibelexegese als leichtes Nebengeschäft zu üben!“ Vgl. Werner Klän, Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), in: Hauptmann, Gerettete Kirche (wie Anm. 6), 11–29, hier 15. Zu Werk und Person dieses Historikers vgl. die Aufsätze in: Heinz Duchhardt (Hg.), August Ludwig (von) Schlözer in Europa (VIEG. Beiheft 86), Göttingen 2012. Vgl. Manfred Roensch, Zeugen der ersten Stunde. Johann Gottfried Scheibel, Eduard Kellner und Friedrich Brunn (OUH 12), Oberursel 1980, 9; Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 18f. Vgl. auch Johann Gottfried Scheibel, Untersuchungen über Bibel und Kirchengeschichte, Bd. 1, Breslau 1816, V–VI: „Doch reiste ich 1803 dienend meiner Leidenschaft für Geschichte, nach Göttingen, um das Idol meiner Achtung, den genialischen Schlözer, kennen zu lernen. Die Leidenschaft vergaß, wie abscheulich er sich gegen das Christenthum (in der Metapolitik), das er doch nicht verstand, erklärt hatte. Der große Mann sah meinen Enthusiasmus, drang in mich nach Göttingen zu kommen. Nur die ernsteste Sprache des Vaters an mein Gewissen konnte mich zurückführen. Der Tag meines Scheidens von Göttingen war einer der traurigsten meines Lebens. Nur kindliches Gewissen zog mich in die Vaterstadt zurück.“

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

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Als Scheibel 1804 schweren Herzens nach Breslau zurückkehrte, war er zu einem pietistisch-erweckten Exegeten in Frontstellung zum zeitgenössischen Rationalismus geworden, gleichwohl noch ohne konfessionelle Festlegungen. Erst das im Mai bevorstehende Erste Kandidaten-Examen bei dem als strengen Lutheraner geltenden Oberkirchenrat David Gottfried Gerhard18 machte eine Beschäftigung mit der kirchlichen Tradition notwendig. Nach dem im Jahre 1806 bestandenen Zweiten Examen wurde Scheibel 1807 als Lektor an der Filialkirche St. Barbara angestellt, von wo aus er 1808 an die St.-Elisabeth-Kirche wechselte. 1809 wurde er Mittagsprediger an St. Barbara, 1815 Diakon an St. Elisabeth.19 Von dem obersten Leiter und Aufsichtführenden über sämtliche Gelehrtenschulen des Breslauer Regierungsbezirks, Gabriel Gottfried Bredow, ermutigt,20 bewarb sich Scheibel auf eine Professur an der 1811 neu gegründeten Universität Breslau. Seine erste kirchengeschichtliche Veröffentlichung21 trug ihm zunächst eine außerordentliche Professur ein, die nach einer ausgeschlagenen Berufung an die Universität der russischen Ostseeprovinzen Dorpat 1818 in eine ordentliche Professur umgewandelt wurde.22 Die theologische Fakultät verweigerte ihm jedoch aufgrund seiner entschiedenen Ablehnung der reformierten Abendmahlslehre die Aufnahme in ihren Kreis.23 Am 20. März 1822 wurde Scheibel an der Universität Jena zum Doktor der Theologie promoviert, weil es in Preußen keine Universität mehr gab, die ihn promovieren wollte.24 18

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Zur Person des ersten Breslauer Geistlichen vgl. Adolf Schimmelpfennig, Art. Gerhard, David Gottfried, in: ADB 8 (1878), 759f. Zur Breslauer Elisabethkirche vgl. Gerhard Scheuermann, Art. Elisabethkirche, in: ders., Breslau-Lexikon (wie Anm. 2), 268–272. Zu den Daten vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 19. Vgl. Scheibel, Untersuchungen 1 (wie Anm. 17), VII. Zur Person Bredows, der schon kurz nach seiner Übersiedlung nach Breslau verstarb, vgl. Franz Xaver von Wegele, Art. Bredow, Gottfried Gabriel, in: ADB 3 (1876), 282f. Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Einige Bemerkungen über das Studium der Universalgeschichte, Statistik und Kirchengeschichte, Breslau 1811. Das Schreiben des preußischen Kultusministers Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, mit dem Scheibel das Ordinariat übertragen wurde, enthielt auch die Andeutung, dass er schon längst befördert worden wäre, wenn er sich in theologischen Fragen kooperativer verhalten hätte. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 59. Eine Berufung in das neu errichtete Amt eines kirchenleitenden Bischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland lehnte Scheibel 1819 ebenfalls ab, weil er keine „Orthodoxie befehlen“ wollte. Vgl. hierzu die erneute Petition um Aufnahme in die theologische Fakultät durch Scheibel an den Kultusminister von Altenstein. Breslau, 20. November 1824, in: Geheimes Staatsarchiv. Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA: Rep. 76: Kultusministerium, Vf Lit. S Nr. 4, unpaginiert, und sein Bittschreiben an das Kultusministerium vom 14. Juni 1826, in dem er darauf hinwies, „daß selbst das Gehalt manches Extraordinarii bedeutender ist, ich seit der Ernennung zum Ordinarius keine Zulage erhalten habe“ (ebd). Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 71. Vgl. hierzu das Doktordiplom in: GStA PK I. HA: Rep. 76: Kultusministerium, Vf Lit. S Nr. 4, unpaginiert; Hermann Theodor Wangemann, Sieben Bücher preußischer Kirchengeschichte. Eine aktenmäßige Darstellung des Kampfes um die lutherische Kirche im XIX. Jahrhundert, Bd. 1: I. Buch: Union und Agende. 1798– 1830. II. Buch: Lebensgeschichte von J. G. Scheibel, Berlin 1859, 168.

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Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung

Die Beschäftigung mit der lutherischen Tradition vor dem Ersten Theologischen Examen führte dazu, dass Scheibel bereits zwei Jahre später, am 5. September 1806, einen konfessionell-lutherischen Standpunkt entwickelt hatte, den er im Breslauer Ordinationsalbum schriftlich niederlegte.25 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete Scheibels Kritik an der rationalistischen Hochschätzung der menschlichen Vernunft als Letztinstanz bei der Gotteserkenntnis, seine Infragestellung der idealistischen Identifizierung von menschlichem und göttlichem Geist etwa bei Fichte oder Hegel und seine Ablehnung der naturphilosophischen Annahme, die Natur sei absolut und ewig, wie sie etwa von Spinoza, Schelling oder Steffens vertreten wurde.26 Scheibel unterschied demgegenüber zwischen menschlichem und göttlichem Geist. Gotteserkenntnis ist nur möglich, weil sich der Geist Gottes dem menschlichen Geist mitteile, der ohne Offenbarung überhaupt nichts über Gott sagen könnte.27 Der Geist hatte sich für Scheibel an das Schriftwort gebunden, das nur über einen Sinn verfüge, der mit grammatikalischen Regeln erhoben werden konnte. Sein supranaturalistisch28-pneumatischer Ansatz löste für Scheibel alle von der zeitgenössischen Theologie aufgeworfenen Fragen: Ist Gott allmächtig, so folgt daraus unabwendbar die biblische Schöpfungs-, Auferstehungs-, Incarnations- und Abendmahlslehre; ist er unendlich, so ist die Dreieinigkeit nichts Irrationales; ist er allwissend, so sind biblische Weissagungen, Theopneustie, die Wirkungen des Geistes, folgerechte Dogmen. Die Allliebe endlich löst 29 das Geheimniß der Erlösung.

Der sich durch seinen Geist offenbarende dreieinige Gott wird bei Scheibel zum Erkenntnisprinzip erhoben. Auch die Ablehnung der zeitgenössischen Positionen des frühen 19. Jahrhunderts erweist sich so ihrer Fragestellung nach einem Prinzip verpflichtet, aus dem die Welt erklärt werden könne.

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Der Eintrag in das Ordinationsalbum des Breslauer Stadtkonsistoriums findet sich in Paul Konrad, Das Ordinationsalbum des Breslauer Stadtkonsistoriums (Beiheft zum Korrespondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 13/2), Liegnitz 1913, 109f. Vgl. hierzu auch Maser, „Um einen Scheibel von außen bittend …“ (wie Anm. 6), 132. Scheibel war während seines Studiums in Halle selber Anhänger der Naturphilosophie Schellings gewesen, erkannte dann aber bei der Lektüre der Offenbarung des Johannes, dass er dabei den lebendigen, persönlichen und außerweltlichen Gott verloren hatte, und kehrte mit Reue zurück zu seiner Bibel. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 25. Zum theologischen Ansatz Scheibels als Beitrag zur philosophisch-theologischen Debatte am Anfang des 19. Jahrhunderts vgl. die aufschlussreiche Studie von Volker Stolle, Johann Gottfried Scheibel. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 16.9.1983, in: LuThK 7 (1983), 81–97. Vgl. die klassisch supranaturalistischen Formulierungen in: Johann Gottfried Scheibel, Einige Worte über die Wahrheit der christlichen Religion an nicht-theologische Zweifler, nebst einer kurzen Nachricht und einer Predigt von den Bibel-Gesellschaften; veranlaßt durch die Stiftung der schlesischen Bibel-Gesellschaft, Breslau 1815, 18: „Dies sey genug über die eigenthümlichen Glaubenslehren des Christenthums. Sagen werden Sie also uns Christen doch nicht: jene sind gegen die Vernunft. Beweisen sollte und konnte sie nicht: aber, ist sie wirklich vernünftig, wird sie dieß bekennen: Sie sind möglich.“ Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 26.

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

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Nach diesen Klärungen begann Scheibel ein intensives Studium der Kirchenväter aus der Antike und der lutherischen Orthodoxie und meinte, die rationalistische Abwertung ihrer Dogmenbildung als unbiblische Erfindungen exegetisch widerlegen zu können. Bei seiner Prüfung der alten Dogmatiker wurde ihm die lutherische Abendmahlslehre als biblische bestätigt.30 Er gab die Hallenser Position, die er von Knapp übernommen hatte, auf und gewann vor allem durch die Exegese von Joh 6, 51–56, einer Aussage, die in der lutherischen Bekenntnistradition auf die manducatio spiritualis, also gerade nicht auf den mündlichen Empfang von Leib und Blut Christi bezogen, gedeutet wurde, das lutherische Abendmahlsverständnis zurück. Universalhistorisch denkend, gab es für Scheibel ab 1815 zwei theologische Grundlinien, die sich durch die ganze Weltgeschichte hindurchzogen: Die eine erstreckte sich von den alten Ägyptern, die ihre Opfermahlzeiten symbolisch verstanden, über die hellenistischen Gnostiker, Platon, Abälard, die Reformation Zwinglis und Calvins bis hin zu den Rationalisten seiner Gegenwart.31 Diese „griechische Linie“ nahm für Scheibel den menschlichen Verstand als Grund der Theologie. Die Schrift verwies hier nur auf einen übertragenen Sinn, dessen inhaltliche Bestimmung dann der menschlichen Vernunft überlassen blieb. Umgekehrt bekam dort die Vernunft auch das Recht zugesprochen, alle biblischen Aussagen, die ihr widersprächen, zu kritisieren. Demgegenüber müsse an einer Theologie der Inkarnation und der Demut festgehalten werden, die davon ausgehe, dass Gott selber Mensch geworden sei, sich in Jesus von Nazareth tatsächlich gezeigt habe, um den Sünder zu erlösen. Theologie der Inkarnation oder Vernunftvergötterung, „IsisDienst“, heißen die beiden Alternativen, die Scheibel aufstellte. Scheibel verband seine bisherigen Überlegungen noch mit dem Argument, dass allein Christi von der Gottheit verklärter Leib die sinnliche Ausrichtung der menschlichen Fantasie beherrschen und so den Menschen vor seiner eigenen Neigung zur Sinnlichkeit bewahren könne.32 Das Abendmahl ist also für ihn auch eine 30

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Vgl. Scheibel, Untersuchungen 1 (wie Anm. 17), III: „Kurz, die Theologia biblica wurde die einzige Richtschnur meiner Ueberzeugung. Und da fand ich denn (denn ich nahm die Worte, wie sie stehn,) daß die Hauptdogmen, die ich im Vaterlande als christliche gehört hatte, entschieden in gehäuften Stellen in der Bibel stünden.“ Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 32.46; Johann Gottfried Scheibel, Biblische Belehrungen über lutherischen und reformirten Lehrbegriff und Union beider Confessionen. Zugleich mit einigen kirchenhistorischen Angaben, als Antikritik zweier Recensionen in der Beilage der schlesischen Provinzial-Blätter, Juli 1832, Dresden 1833, 56: „Ueberblicken wir nun noch Einmal das bisher Gesagte, so zeigt sich offenbar (von der Gnosis an) in der reformirten Kirche die griechische Richtung, wie in der katholischen die römische. Die Basis beider aber ist Aegypten, die Lehrerin Griechenlands und Roms in Tugend- und Vernunft-Vergötterung.“ Vgl. denselben Gedanken ausgeführt in Johann Gottfried Scheibel, Archiv für historische Entwickelung und neueste Geschichte der Lutherischen Kirche. Erstes und zweytes Heft, Nürnberg 1841, 235; Johann Gottfried Scheibel, Das Abendmahl des Herrn. Bibellehre und historische Untersuchung; mit Bezug auf zwey Recensionen, und einigen Fragen die gemeinte kirchliche Union betreffend, Breslau 1821, 38: „Wenn das ganze Gefühl unseres Herrn, nach diesem heiligen Abend-

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Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung

Mahlzeit, die dem Menschen Anteil an dem vom göttlichen Geist durchdrungenen und verklärten Leib Christi gibt und ihn dadurch zu guten ethischen Taten qualifiziert, indem er seinen menschlichen Körper vorbereitet auf die ewige Verklärung durch den Geist Gottes. Die Leugnung alles Leiblichen durch Reformierte und Rationalisten hingegen überlasse den Menschen ohne Hilfe seiner Wollust. Das sei auch der tiefere Grund für die schlüpfrigen Geschichten, die man seit Goethe landauf, landab zu lesen bekomme.33 In Opposition zur zeitgenössischen Konzentration auf den menschlichen Geist, der den Sinn hinter den biblischen Worten erfassen sollte, hielt Scheibel am hermeneutischen Grundsatz fest, dass der Sinn in den biblischen Büchern durch deren Wörter zu erkennen sei und nicht hinter oder über ihnen34 und vertrat, daraus folgernd, auch die Realpräsenz von Christi Leib und Blut in den Abendmahlselementen und nicht hinter oder über ihnen. Auf diese reale Weise offenbare sich Gott, um die Menschen von ihrer Vergötterung der Vernunft und des weiblichen Leibes zu erlösen und sie dadurch vorzubereiten auf das ewige Leben.35 Das Abendmahl ist für Scheibel also der theologische Ort, an dem der Glaube an die Inkarnation Gottes konkret und tröstend erfahrbar wird. Wer in Jesus von

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mahl, es anzuordnen, verlangte! wie erkannte er, daß unser Fleisch gegen seine so unendlich unglücklich machende Lüste und Begierden, daß unser armer Geist, unser erstorbenes Herz die ganze Gottheit seines Lebens bedarf, um frey zu werden von den Banden des natürlichen Menschen, und von Gott und Wahrheit scheidender sinnlicher Vernunft.“; Johann Gottfried Scheibel, Communion-Buch. Mit Einschaltung des vom Herrn Inspektor Dreist in Bunzlau, nach Luther und Claudius ausgearbeiteten, Communion-Büchleins, Breslau 1827, 160–162. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 37: „Meine psychologischen Untersuchungen hatten mich genau aufs Wesen der Phantasie geführt. Sie ist und bleibt, wie die Geschichte der Poesie aller Völker zeigt, sinnlich; ist voll Bilder körperlicher Natur, und unter diesen ist ihr das liebste, der schöne Leib des Weibes. Diese Liebe kann nur untergeordnet, kann nur besiegt werden durch die Liebe zur verklärten Schönheit Jesu Christi. […] Allerdings hat die reformirte Theologie eben recht scheinbar ideal seyn wollen. Sie hat alles Sinnliche recht entfernen, und alles Leibliche, selbst also den Leib Christi, aus den Gedanken der Communicanten entfernen wollen. Aber eben dadurch war die Phantasie, die nun einmal nur für leibliche Vorstellungen geschaffen ist, den irdischen Bildern preisgegeben. Hat sie keinen verklärten Heiland, so eilt sie zu ihren irdischen Heroen und Grazien.“ Vgl. a.a.O., 70. Vgl. hierzu die Vierte Bittschrift der Breslauer Gemeinde an König Friedrich Wilhelm III. vom 1. November 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 126–131, hier 127 (Nr. XLVI): „und wir nehmen hin und essen, und wissen, daß es der Leib des Herrn ist, und wir trinken und erkennen, daß es sein Blut ist, und so ist unser Altar uns das Allerheiligste unsers Gottesdienstes, da ist der Mittelpunkt des gnadenreichen Geheimnisses, wie wir durch Taufe und Gebet und Lehre für dasselbe vorbereitet werden. Was uns auch sonst verlocken mag, Begierden, die uns irre führen, daß wir sündigen, Irrthümer, die sich uns aufdringen, daß wir schwanken; hier soll Alles verstummen, Er selbst ist da, der sich uns ergiebt, daß wir ihn nicht nur hören, sein nicht blos gedenken, sondern daß wir ihn genießen und durch diese Nahrung gestärkt gedeihen für ein höheres Leben. Hier darf kein Zweifel nahen, kein so oder so“, auch abgedruckt in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungs2 band 6), Göttingen 2010, 51–54, hier 51f.

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

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Nazareth den offenbarenden Gott erkannt hat, der wird auch im Abendmahl in, mit und unter Brot und Wein Christi Leib und Blut ganz real gegenwärtig sehen.36 Scheibels aufklärungskritischer37 konfessionell-lutherischer Ansatz38, der stark dualistisch die lutherische von der reformierten Theologie als der Mutter des Rationalismus schied, sollte in der 1830 ihren Höhepunkt erreichenden Debatte um die Einführung der neuen Agende in Preußen zu heftigen Konflikten führen.

2.

Diskussionen um die Einführung der preußischen Unionsagende in der Provinz Schlesien

Seit der Konversion des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg zum Calvinismus am Weihnachtstage 1613 und seinem in der Confessio Sigismundi39 erklärten Verzicht, seine neue Konfession auch für seine Untertanen verbindlich zu machen, gab es in Brandenburg-Preußen zwei staatlich garantierte evangelische Konfessionen, den Calvinismus am Hof und das Luthertum in der Bevölkerung. Alle Versuche der preußischen Herrscher, während der folgenden zwei Jahrhunderte die beiden Konfessionen miteinander zu vereinen, scheiterten bis in die Regierungszeit König Friedrich Wilhelm II. hinein am Widerstand der Lutheraner. Erst als sein Nachfolger den Preußenthron bestieg, verdichteten sich die Unionspläne.

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Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Das heilige Opfermahl des Bundes der Liebe mit dem Herrn, was er den Seinigen bei dem Anfange seiner versöhnenden Leiden anordnete. Predigt, gehalten Freytags nach dem Sonntage Judica, den 13. April 1821, über Matth. XXVI. 26–29, und auf Verlangen vieler Glieder der Gemeine dem Druck überlassen, Breslau 1821, 13–15. Scheibel, Einige Worte (wie Anm. 28), 56: „in den Jahren[,] als man in Deutschland dieß Wort zu lästern anfieng, entstand in Frankreich die Quelle alles unseres Elends, die Revolution. Könnte ich ihnen zeigen das Herz ihrer Sünde und sagen: was Bibelvergessenheit wirkt!“ A.a.O., 62: „Bounaparte hat die Allmacht gehöhnt. Wie ist es gelungen? Wollen Deutschlands Gelehrte, die ihm treu nachahmen, erst an die Allweisheit und ihr Buch glauben, wenn es zu spät seyn wird?“ Zum Verhältnis Scheibels zum Wittenberger Reformator Martin Luther vgl. Johann Gottfried Scheibel, Das Abendmal [!] des Herrn. Historische Einleitung, Bibel-Lehre und Geschichte derselben; Ausführlichere Erläuterungen früherer Schrift, Breslau 1823, XIX: „Luther ist mir nichts anders, als das, wofür ihn die Kirchen-Geschichte erklärt, der ausgezeichnetste Theolog nach der Apostel Zeiten. […] Des ungeachtet, hat auch Luther zuweilen geirret. Nur viel weniger, als alle Theologen nach ihm, und nicht in wesentlichen Glaubenslehren. […] Wo ist der biblische Exeget, wo überhaupt der Theolog, der seit Luther so biblisch gedacht hat, wie er? […] Ich schwöre also nicht auf Luthers Worte, sondern wieder nur auf die Bibel-Worte, die aber noch keiner, so viel mir bekannt, so vollkommen biblisch verstanden und erklärt hat, wie er.“ Der Erstdruck der Confessio Sigismundi vom 10. Mai 1614 liegt ediert vor in: Wolfgang Gericke, Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union. 1540–1815 (UnCo 6), Bielefeld 1977, 122–131, hier 131: „Schließlich bekennen S. Churf. Gn. sich zu den reformirten Evangelischen Kirchen […] Jedoch, weil der Glaub nit jedermanns ding ist […] Als wöllen S. Churf. Gn. auch zu dieser Bekenntnus keinen Underthanen öffentlich oder heimblich wider seinen Willen zwingen.“

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Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Jugendbildnis von anonymem Maler

König Friedrich Wilhelm III. von Preußen ließ schon seine militärische Vorliebe für Ordnung und Gleichförmigkeit auch die konfessionelle Einheit der Evangelischen als wünschenswert erscheinen.40 Den ersten Schritt hin zu einer kirchlichen Union der beiden evangelischen Kirchen leisteten die Stein-Hardenbergschen Reformen 1808, indem sie das seit 1750 bestehende lutherische Oberkonsistorium und das 1713 errichtete reformierte Kirchendirektorium samt dem „consistoire supérieure“ der französisch-reformierten Gemeinden aufhoben und damit das konfessionell bestimmte Kirchenregiment dem Innenministerium übertrugen, es also in staatliche Hände legten. Die Bekenntnisverpflichtung der Geistlichen bei ihrer Ordination wurde 1813 suspendiert. Im selben Jahr äußerte der König anlässlich der Konfirmation des Kronprinzen zum ersten Mal seine Unionspläne,41 die er am 27. September 1817 anlässlich der 300-Jahr-Feier der Reformation in einer von seinem Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert42 verfassten Kabinettsorder seinen Untertanen mitteilte. Die beiden Konfessionen seien nur noch durch „äußere Unterschiede“ voneinander getrennt und ihre „religiöse Vereinigung“43 entspreche dem Wunsch der Reformatoren. Doch wolle der König nicht in die Rechte der Kirche eingreifen und in religiösen Dingen etwas befehlen. Vielmehr wolle er mit gutem Beispiel vorangehen, indem er anlässlich des Reformationsjubiläums 1817 in der „Vereinigung der bisherigen reformierten und lutherischen Hof- und Garnisons-Gemeinde“44, die jetzt noch aus einer reformierten und einer lutherischen bestehe, beim Fest ihrer Einigung an ihrem gemeinsamen Abendmahl teilnehmen werde. 40 41 42 43 44

Vgl. Kantzenbach, Scheibel (wie Anm. 5), 95. Vgl. hierzu Jobst Schöne, Kirche und Kirchenregiment im Wirken und Denken Georg Philipp Eduard Huschkes (AGTL 23), Berlin/Hamburg 1969, 48f. 4 Zu seiner Person vgl. Martin Friedrich, Art. Eylert, Rulemann Friedrich, in: RGG 2 (1999), 1843. Kabinettsordre Friedrich Wilhelm III. vom 27. September 1817, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 33f., hier 33. A.a.O., 34.

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Zumindest im schlesischen Breslau stieß dieser Unionsaufruf auf wenig Gegenliebe. In keiner der lutherischen Gemeinden der Stadt wurde das gut besuchte Gedenkfest mit der Einführung der kirchlichen Union verbunden.45 Lediglich in der reformierten Gemeinde der Stadt fand ein Gottesdienst statt, bei dem die evangelisch-theologische Fakultät am unierten Abendmahl teilnahm.46 Der einzige, der nicht teilnahm, war Scheibel. Am dritten Festtag, dem 2. November 1817, hielt Scheibel eine Predigt, in der er seine lutherische Position in Auslegung von 1Kor 10,16 und Joh 6, 51–56 darlegte. Die Predigt ging in den Druck und erlebte eine Zweitauflage, weil sie in kürzester Zeit ausverkauft war.47 War die Stimmung in Breslau also eher ablehnend, so wurde die Regierung in einer Vielzahl von Aktionen aktiv für die Einführung der Union. 1817 wurde die Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht des Innenministeriums zu einem eigenen Ministerium erhoben, das von Karl Freiherrn von Altenstein48 geleitet wurde. Die Provinzialkonsistorien waren ohnehin bereits keine selbstständigen kirchlichen Behörden mehr, sondern Oberpräsidial-Abteilungen, in denen der Oberpräsident den Vorsitz hatte. Von Seiten der Verwaltung bestand also kein Hinderungsgrund mehr für die Einführung der Union.49 Ab 1817 wurden Provinzialsynoden einberufen, die zur Einführung der Union beitragen sollten.50 Das schlesische Konsistorium berief für den 1. und 2. Oktober 1822 eine dieser Synoden nach Breslau ein, die sich im Musiksaal des städtischen Gymnasiums versammelte. An ihr nahmen die Konsistorialräte, die Evangelisch-Theologische Fakultät Breslaus, die dortigen Prediger beider evangelischer Konfessionen und mehr als zwanzig Superintendenten der ganzen Provinz teil. Als Präses der Synode fungierte einer der Hauptgegner Scheibels, sein Fakultätskollege Daniel Georg Conrad von Cölln51, ein ausgewiesener Rationalist. In alleiniger Orientierung an der 45

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Das große Echo, auf das der Gedenktag von 1817 stieß, erklärt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass viele Breslauer sich daran erinnerten, dass in Schlesien vor hundert Jahren die Feier des Reformationsjubiläums nicht erlaubt wurde. Vgl. Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation (KiO.M 19), Göttingen 1985 (Nachdruck der Erstauflage Kassel 1941), 97. Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Die evangelische Lehre: der gesegnete Kelch und das gesegnete Brodt im heil. Abendmahl sind die Gemeinschaft des Leibes und Blutes Jesu Christi. Predigt, gehalten am 22sten Sonntag nach Trinitatis, Breslau 1817. Zur Person und Religionspolitik des preußischen Ministers vgl. Werner Vogel, Karl Sigmund Franz von Altenstein, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.), Berlinische Lebensbilder III: Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber (EHKB 60), Berlin 1987, 89–105; Matthias A. Deuschle, Erweckung und Politik. Zur preußischen Religionspolitik unter Friedrich Wilhelm III., in: ZThK 106 (2009), 79–117, besonders 81–84. Vgl. Gottfried Nagel, Der Kampf um die lutherische Kirche in Preußen. Eine Jubiläumsdenkschrift zum 25. Juni 1930, Breslau 1930, 13f. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 56–72. Zu seiner Person und seinem theologischen Ansatz vgl. die Biografie seines Breslauer Kollegen David Schulz, Dr. Daniel Georg Conrad von Cölln’s weil. Consistorialraths und Professors der Theologie in Breslau biblische Theologie mit einer Nachricht über des Verfassers Leben und Wirken. Erster Band: Die biblische Theologie des alten Testaments, Leipzig 1836, III–XXII.

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Schrift und unter Beiseitesetzung der Bekenntnisschriften beider Kirchen wurde in zwei Vormittagssitzungen eine Lehrvergleichung in 34 Sätzen verabschiedet, die an die Stelle der Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts treten sollte, um die Union in Schlesien zu ermöglichen.52 Doch war der Weg über eine Konsensunion nicht der Weg der preußischen Regierung, die das Breslauer Einigungsdokument unter Hinweis darauf, dass man die Erbsünde nicht hätte leugnen sollen, energisch zurückwies.53 Von dieser Provinzialsynode ging jedoch das Signal aus, dass die Union der beiden evangelischen Konfessionen mit der Aufgabe der bisher geltenden Bekenntnisschriften erkauft werden musste. Ebenfalls 1822 ging der König bei der Durchsetzung der Union einen Schritt weiter, indem er den preußischen Gemeinden eine gemeinsame Agende anbot. Bereits 1821 hatte Friedrich Wilhelm III. die „Kirchenagende für die KöniglichPreußische Armee“ veröffentlicht, die er 1822 als „Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin“ an alle preußischen Pfarrämter in Umlauf gab.

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Die 34 Fragstücke waren von der Theologischen Fakultät in Breslau aufgesetzt worden und dienten als Diskussionsgrundlage. Mit Ausnahme Scheibels waren alle mit ihnen einverstanden, und die Union wurde auf ihrer Grundlage ausgesprochen. Die Abendmahlslehre beider Kirchen wurde darin abgelehnt, indem darauf hingewiesen wurde, dass die Frage, ob der Leib Jesu mit dem Brot oder auch in und unter ihm gegenwärtig sei und mit dem Mund gegessen werde, nicht exegetisch zu entscheiden sei. Die Synode ratifizierte demgegenüber die Personalpräsenz Christi, lehnte die doppelte Prädestination ab und beschränkte die Geltung der Bekenntnisschriften auf deren Aussagen, insoweit sie schriftgemäß seien. Vgl. hierzu die Unionsverhandlungen der Synode zu Breslau welche von den evangelischen Geistlichen der Provinz Schlesien unter Leitung der evangelisch-theologischen Facultät am 1sten und 2ten October 1822 gehalten worden. Statt einer Abschrift, Breslau 1822, 1f. (Eröffnungsgebet von Cölln); 3–23 (Eröffnungsrede von Dekan Schulz); 24–28 (Der Synode von der evangelisch-theologischen Fakultät vorgelegte Fragpunkte); 29–39 (Protokoll der Synode). Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 71: „In zwei Morgen ungefähr von 8 ½ bis 1 Uhr war eine neue Dogmatik gemacht. So schnell war sonst keine Synode mit einem einzigen Dogma oder einigen wenigen Ritual-Gesetzen fertig.“ A.a.O., 72: „Mit Gebet und Bruder-Kuß wurde diese Synode beschlossen; ich bekam keinen.“ Vgl. auch Werner Klän, Die Anfänge der altlutherischen Bewegung in Breslau, in: KO 21/22 (1978/79), 141–169, hier 143f. Vgl. die in den Fragpunkten 24–27 dargelegte rationalistische Leugnung der erbsündlichen Verfallenheit des Menschen, die Behauptung der Anlage zum Guten und die Reduzierung auf Tatsünden, in: Unionsverhandlungen (wie Anm. 52), 27.

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Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche. Zweite Auflage, Berlin 1822

Eine regelrechte Kampagne zugunsten der Agende, die mit Ordensverleihungen und Bestrafungen arbeitete, setzte ein. Der Widerstand gegen die neue Agende war dennoch zunächst groß und kam von rationalistischer Seite, der sie zu archaisierend war, von den Reformierten um Schleiermacher, denen sie zu sehr auf lutherische Formulare zurückgriff und vom Kreis um Scheibel, dem sie ein Mittel zur Union bedeutete. In Schlesien lehnten noch 1827 509 von 744 Geistlichen die Agende ab.54 Scheibel veröffentlichte 1823 im Nachgang zur Breslauer Unionssynode und auch gegen die Agende seine große Abendmahlsschrift,55 die so umfassend rezipiert wurde, dass sogar der Breslauer Magistrat die Union 1824 ganz ablehnte. Der König versuchte indes, auf die Kritik Scheibels einzugehen, indem er in einer Schrift 182756 die Übereinstimmung seiner Agende mit den Anliegen Luthers zu erweisen suchte. Daneben berief sich der Monarch auf das ius liturgicum, das im Augsburger Religionsfrieden von 1555 dem Territorialherren zugesprochen worden sei.57 Ohne den Verfasser dieser Schrift zu kennen, schickte Scheibel am 5. Oktober 1828 sein „Votum in Sachen der Berliner Hof- und Dom-Agende“58 an das Berliner

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Vgl. Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 41), 52f. Gemeint ist die Schrift Scheibel, Das Abendmal (wie Anm. 38). Vgl. Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Luther in Beziehung auf die evangelische Kirchen-Agende in den Königlich Preußischen Landen, Berlin 1827. Der Augsburger Religionsfrieden sprach zwar nicht ausdrücklich vom Recht des Landesherrn, Änderungen an der liturgischen Ordnung in seinen Landen vornehmen zu dürfen, ordnete das ius liturgicum aber implizit den Fürsten des Reiches zu als „ihrer religion, glauben, kirchengebreuche, ordnungen und cerimonien“. Vgl. den Abschied des Augsburger Reichstags vom 25. September 1555, in: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Augsburg, Bd. 4, bearbeitet von Ursula Machoczek u. a., DRTA.JR 20, 3102–3158 (Nr. 390), hier 3109. Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Votum des Diakonus Scheibel in Sachen der Berliner Hof- und Dom-Agende, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 30–33 (Nr. V).

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Kultusministerium. Er forderte darin das ius liturgicum als bereits im Preußischen Landrecht garantiertes Recht der Kirchen59 ein und lehnte jede von außen, zumal von einem reformierten König60 der Kirche aufoktroyierte Agende rundweg ab. Bei Scheibel verband sich also die Ablehnung jeder Union mit der reformierten Kirche, die er als Einbruch der Vernunftvergötterung in die lutherische Kirche entschieden ablehnte, mit der Absage an das Territorialsystem, dem gegenüber er, an die ZweiRegimente-Lehre Luthers anknüpfend, die Unabhängigkeit des Kirchenregiments, das sogenannte ius in sacra als Eigentum der Kirche, einforderte. Der König reagierte entrüstet auf die Eingabe Scheibels und nannte ihn einen „fanatischen Widersprecher“, der sich nicht überzeugen lassen wolle. Gerade für ihn und seine Anhänger habe er seine Schrift verfasst. Man müsse einen halsstarrigen Narren laufen lassen, der, nur um bei seiner Meinung bleiben zu können, Dinge aus der Luft greife. An allem, was Scheibel in seiner Eingabe geschrieben habe, sei auch nicht ein wahres Wort. Scheibel erhielt eine höchst ungnädige Replik vom König, der von diesem Zeitpunkt an keine Eingaben Scheibels mehr las und ihn auch zu keiner Audienz mehr vorließ. Die Causa Scheibel wurde von jetzt an ausschließlich durch das Ministerium erledigt. Der König war in hohem Maße beleidigt 61 und ließ es Scheibel spüren. Um den schlesischen Widerstand zu brechen, wurden die beiden bedeutendsten Unionsgegner, Konsistorialrat Joachim Christian Gaß und Oberpräsident Friedrich Theodor von Merckel,62 am 25. Juni 1828 nach Berlin gerufen, von wo sie als Befürworter der Agende zurückkehrten.63 Nach einem Besuch des Königs in Breslau trat vom 19. bis 26. September 1828 eine Kommission von zwölf schlesischen Superintendenten zusammen, die beschloss, die Agende, wie in anderen preußischen Provinzen bereits geschehen, mit einem Anhang zu versehen, der sie für Schlesien annehmbar machen sollte. Der von geheimen Gremien erarbeitete Anhang wurde am 5. Juli 1829 durch eine Kabinettsorder genehmigt. Die Zahl der Agendengegner 59

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Vgl. hierzu vor allem: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Teil II, Titel XI, § 46, in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Dritte Auflage, hg. von Hans Hattenhauer, Neuwied/Kriftel/Berlin 1996, 550. Der Westfälische Friede von 1648 hatte im ersten Paragraphen seines siebten Artikels die reformierte Konfession zwar anerkannt, im gleichen Zuge aber einem reformierten Landesherrn explizit verboten, in die Kirchengesetze und -ordnungen seiner Untertanen einzugreifen. Änderungen an der Liturgie und am Bekenntnisstand der lutherischen Landeskirche waren also dem reformierten preußischen König ausdrücklich untersagt. Vgl. das Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) vom 24. Oktober 1648, in: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Bd. 1: Urkunden, bearbeitet von Antje Oschmann (APW. Ser. 3. Abt. B, Bd. 1/1), Münster 1998, 95–170 (Nr. 18), hier 129, 10–130, 15. Vgl. Wangemann, Preußische Kirchengeschichte, Bd. I/1/2 (wie Anm. 24), 174f. 4 Vgl. zu ihnen: Markus Schröder, Art. Gaß, Joachim Christian, in: RGG 3 (2000), 472; Konrad Fuchs, Art. Merckel, Friedrich Theodor von, in: NDB 17 (1994), 122–124. Von Merckel war am 10. April 1828 wohl auch nicht ohne Bezug zur Agendenfrage in den preußischen Adelsstand erhoben worden. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 175; Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 146.

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sank 1829 auf 493, 1830 waren es nur noch sechs. Die Anhangsstrategie schien aufgegangen zu sein. Mit Schlesien war die widerspenstigste Provinz auf den Unionskurs der Regierung eingeschwenkt.64

3.

Suspension, Absetzung und Exil im Kontext des AugustanaJubiläums von 1830

Scheibel hatte als Diakon an der St.-Elisabeth-Kirche durch seinen Predigtstil und gute seelsorgerliche Betreuung bereits 900 Konfitenten als Personalgemeinde um sich gesammelt,65 als die Vorbereitungen auf das dreihundertjährige Jubiläum der Augsburger Konfession am 25. Juni 1830 begannen.66 Bereits am 15. März 1830 wies der schlesische Oberpräsident von Merckel als Vorsitzender des Konsistoriums der Provinz die Geistlichen Schlesiens darauf hin, dass der Einführung der Agende jetzt nichts mehr im Wege stehe, nachdem sie einen schlesischen Provinzialanhang bekommen habe. Er ordnete die Einführung der Agende für den 3. Sonntag nach Trinitatis, also für den 27. Juni, den Sonntag nach dem Augustana-Jubiläum, an.67 Am 4. Juni 1830 erließ König Friedrich Wilhelm III. eine Kabinettsorder an seinen Kultusminister von Altenstein, in der er die Feier des Augustana-Jubiläums in den evangelischen Kirchen seines Königreichs anordnete und den Minister darum bat, für diesen Tag weitere Schritte für „das heilsame Werk der Union“ zu unternehmen, die den Aufruf von 1817 zu einem glücklichen Ende brächten.68 In einer zweiten Kabinettsorder vom 30. April 1830 nahm der König den Vorschlag von Altensteins an, dass baldmöglichst der Beitritt zur Union durch eine gemeinsame Abendmahls-

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Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 146. Zum Predigtstil Scheibels vgl. die Schilderungen seines Universitätskollegen, des Naturphilosophen Henrich Steffens, Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 8, Breslau 1843 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1996), 420f: „Ich gestehe, nie einen Prediger gehört zu haben, der, wenn er auf der Kanzel erschien, so ganz von seinem Gegenstande ergriffen, wie geheiligt und verklärt war; nie einen, der mit den innern Kämpfen eines religiös bewegten Gemüths so vertraut schien. Wenn er das innere christliche Leben in seiner Richtung gegen das Göttliche darstellte, wenn er vom Glauben an die Liebe, von dem Heiland sprach, so war es, als redete er nicht allein von einer andern, sondern aus einer andern Welt.“ In Breslau waren, anders als etwa in Berlin, die Beichtstühle in lutherischen Kirchen 1830 noch nicht abgeschafft. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 79f. Zu den seelsorgerlichen Aktivitäten Scheibels vgl. auch Klän, Scheibel (wie Anm. 15), 16f. Zum Augustana-Jubiläum von 1830, untersucht in ausgewählten Territorien, vgl. demnächst Johannes Hund, Das Augustana-Jubiläum von 1830 im Kontext von Kirchenpolitik, Theologie und kirchlichem Leben, Göttingen 2013 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Beihefte). Schreiben des Konsistoriums der Provinz Schlesien an die Geistlichen der Provinz. Breslau, 15. März 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 272–275. Vgl. die Kabinettsordre des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. an von Altenstein. Berlin, 4. April 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 35f.

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feier zu vollziehen sei, bei der als Symbol des Beitritts das Brotbrechen bei der Austeilung verwandt werden sollte.69 Gemäß dieser Order verfasste der Generalsuperintendent der Provinz Schlesien, Johann Gottfried Bobertag70, am 31. Mai 1830 ein Schreiben an seine Geistlichen, mit dem er den königlichen Beschluss in eine Weisung an seine Geistlichen umsetzte, anlässlich des Augustana-Jubiläums gemeinsame Abendmahlsfeiern mit Brotbrechen als Symbol des Beitritts zur Union abzuhalten.71 Jetzt musste Scheibel aktiv werden. Er nutzte die Gelegenheit, als der König sich am 2. Juni 1830 in Breslau aufhielt, dazu, ihn abends zu einer Privataudienz aufzusuchen. Da er nicht zum König vorgelassen wurde, reichte er am nächsten Morgen seine Petition schriftlich ein.72 Seine Gemeinde könne unmöglich die unierte Agende annehmen und bitte daher darum, ihren Gottesdienst weiter nach der Wittenberger Agende feiern zu dürfen.73 Noch am selben Tag schrieb der preußische Monarch, der seit Scheibels Kritik an seiner Veröffentlichung beschlossen hatte, nicht mehr mit ihm zu reden,74 an den Oberpräsidenten von Merckel und verlieh seiner Befremdung Ausdruck. Die neue Agende bewahre das Erbe der Reformation und stehe auch mit der Wittenberger Agende in engster Verbindung. Von einem Gewissenszwang könne also überhaupt keine Rede sein. Er sei nicht dazu bereit, nach dem langen Beratungsprozess, bei dem doch auch die Anliegen Scheibels berücksichtigt worden seien, noch Änderungen vorzunehmen.75 Am nächsten Tag erreichte Scheibel ein Schreiben des Oberpräsidenten, das ihn über die Entscheidungen des Königs informierte.76 In seiner ausführlichen Antwort beharrte Scheibel auf seiner bereits in dem Gutachten vom 5. Oktober 1828 formulierten Ablehnung der neuen Agende, die das luthe-

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Vgl. die Kabinettsordre des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Berlin, 30. April 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 36f. Zur Person des preußischen Generalsuperintendenten und Direktors des Konsistoriums der Provinz Sachsen Johann Gottfried Bobertag (1770–1830) vgl. DBA I, 111, 234f. Vgl. Bobertags Hirtenbrief an die schlesischen Geistlichen, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 260–265. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 211–213. Vgl. Bittschrift Johann Gottfried Scheibels an den König. Breslau, 3. Juni 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 34f. Vgl. oben Abschnitt 2, 51–57. Vgl. das Schreiben König Friedrich Wilhelm III. an Oberpräsident von Merckel. Breslau, 4. Juni 1830 (Abschrift), in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert: „Ich übersende Ihnen anliegend ein Schreiben des Predigers Scheibel, welches Mich sehr befremdet hat. Da die erneuerte Agende ganz eigentlich bestimmt ist, das zu bewahren, was die Reformation gebracht hat, daher auch mit der von ihm erwähnten Wittenberger Agende in genauer Berührung steht, so ist es Mir unbegreiflich, wie er von Beunruhigung der Gewissen und Glaubenszwang reden kann. Sie haben ihm zu eröffnen, daß es in allem, was die Agende betrifft, bey dem unabänderlich verbleibe, was Ich darüber, mit möglichster Berücksichtigung aller Verhältniße festgestellt habe, und Sie mögen dem General-Superintendenten aufgeben, ihn über seinen Zweifel genügend zu belehren. Breslau, den 4ten Juni 1830. Gez. Friedrich Wilhelm.“ Vgl. das Schreiben des Oberpräsidenten von Merckel an Scheibel. Breslau, 4. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 37f.

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rische Erbe nicht bewahre. Er bot eine Koexistenz seiner kleinen lutherischen Gemeinde mit der unierten Gemeinde in der St.-Elisabeth-Kirche an, die organisatorisch zu bewerkstelligen sei. Scheibel berief sich auf die nach dem Allgemeinen Landrecht jedem Einwohner zustehende Gewissensfreiheit.77 Scheibel wurde auf dieses Schreiben hin vom Oberpräsidenten zu einem Gespräch vorgeladen, das am 15. Juni 1830 stattfand und sich vor allem um die Frage bewegte, ob der König überhaupt das Recht habe, Gottesdienstordnungen zu erlassen, und ob Scheibel sich tatsächlich einem Befehl seines Landesherrn widersetzen wolle. Von Merckel räumte Scheibel die Möglichkeit ein, die Agende nicht anzunehmen bei gleichzeitiger Aufgabe seines kirchlichen Amtes. Das Gespräch endete ohne den vom Oberpräsidenten erhofften Ausgleich.78 Noch am selben Tag schrieb von Merckel an den Magistrat der Stadt Breslau, der zugleich als Stadtkonsistorium der direkte Dienstvorgesetzte Scheibels war, und übertrug ihm die Aufgabe, die nötigen Entscheidungen zu treffen, um jede Unruhe beim Augustana-Jubiläum zu verhindern.79 In einem zweiten Schreiben erstattete er am selben Tag auch dem Berliner Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten, von Altenstein, Bericht.80 Als auch ein Gespräch, das Stadtsuperintendent Siegmund Gottlieb Tscheggey81 am 19. Juni 1830 mit Scheibel führte, erfolglos blieb, wurde Scheibel für zunächst 14 Tage vom Dienst suspendiert.82 Auf seinen Protest gegen die Beurlaubung versicherte ihm der Magistrat am 23. Juni die Schonung seiner Gewissensfreiheit bei der Frage nach dem Beitritt zur Union. Ob er die Agende annehmen wolle oder nicht,

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Vgl. die Antwort Scheibels an den Oberpräsidenten von Merckel. Breslau, 8. Juni 1830, in: a.a.O., 39–45. Scheibel berief sich vor allem auf die §§ 1–6. 17f. und 45–47 des II. Teils, XI. Titel, in: Allgemeines Landrecht (wie Anm. 59), 549f., in denen die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert und die auch den „Religionsgesellschaften“ das Recht absprachen, „ihren Mitgliedern Glaubensgesetze wider ihre Ueberzeugung aufzudringen“ (§ 45). Vgl. das Gedächtnisprotokoll des Gesprächs vom 15. Juni 1830 durch Scheibel, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 45–51. Vgl. das Schreiben von Oberpräsident von Merckel an den Magistrat der Stadt Breslau. Breslau, 15. Juni 1830, in: a.a.O., 51f. Vgl. das Schreiben von Oberpräsident von Merckel an den Kultusminister von Altenstein. Breslau, 15. Juni 1830, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert, in dem dieser auch einem etwaigen Gespräch Scheibels mit Generalsuperintendent Bobertag, wenn dieser wieder genesen sei, wegen Scheibels „hartnäckigem Starrsinn“ wenig Chancen auf Erfolg einräumte. Ein solches Gespräch fand tatsächlich am 21. Juni 1830 statt und nahm den von Merckel prognostizierten Ausgang. Vgl. das Schreiben Bobertags an Scheibel. Breslau, 17. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 52f., mit dem dieser Scheibel zum Gespräch einlud, und das Protokoll der Verhandlungen zwischen Bobertag und Scheibel. Breslau, 21. Juni 1830, in: a.a.O., 53f. Zur Person des Breslauer Superintendenten, der noch im selben Jahr verstarb, vgl. DBA I, 1287, 378. Zur Datierung der Suspendierung Scheibels vgl. die Protestation Scheibels gegen die Suspension. Breslau, 21. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 63f.; Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 221f.

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stehe ihm hingegen nicht frei. Entweder er nehme die Agende an, oder er müsse sein kirchliches Amt niederlegen.83 Am 22. Juni erreichte Scheibel das Druckverbot84 für seine Antwort85 auf das „Wort brüderlicher Belehrung“, in dem Superintendent Tscheggey bereits am 11. Juni die Einführung der Union gepriesen hatte und das von allen reformierten und lutherischen Predigern Breslaus mit Ausnahme von Scheibel, Münster und Thiel86 unterschrieben in den Druck gegangen war.87 Einen Tag später teilte ihm der Magistrat mit, dass ihm auch der Abdruck zweier Abendmahlspredigten untersagt werde.88 Zum Schutze der ungestörten Feier des Augustana-Jubiläums wurde also die Breslauer Zensurmaschinerie in Gang gesetzt. Nachdem Scheibel am 23. Juni trotz Suspension zum letzten Mal das Abendmahl in der St.-Elisabeth-Kirche gefeiert hatte,89 kam der Tag, an dem sich die Übergabe der Augsburger Konfession zum dreihundertsten Mal jährte. In der St.Elisabeth-Kirche wurde zum ersten Mal das Unionsabendmahl mit dem symbolischen Brotbrechen gefeiert, an dem auch der reformierte Pfarrer Breslaus, August Erdmann Wunster,90 teilnahm. Die Union in Breslau war – so schien es – an ihr Ziel gelangt.91 83 84 85

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Vgl. die Antwort des Breslauer Magistrats auf Scheibels Protest. Breslau, 23. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 64–66. Oberpräsident von Merckel an Scheibel. Breslau, 22. Juni 1830, in: a.a.O., 69f. Vgl. Scheibel, Münster und Thiel an die lutherische Gemeinde in Breslau, 19. Juni 1830, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert. Sieben Jahre später veröffentlichte Scheibel eine komplett umgearbeitete Fassung im Druck: Johann Gottfried Scheibel, Ein Wort brüderlicher Belehrung über die lutherische Kirche und die unternommene Vereinigung mit der reformirten Kirche zu einer einigen evangelischen Kirche. Für die lutherischen Gemeinen Breslaus 1830 abgefaßt und jetzt auf Wunsch ausländischer Glaubens-Brüder in Druck gegeben, Nürnberg 1837. Zur Person des dritten Diakons an St. Elisabeth, Johann Karl Gottlieb Münster (1765–1832), vgl. DBA I, 875, 282. Zu dem ehemaligen Studenten Scheibels, Johann Karl Friedrich August Thiel (*1804), der 1831 schließlich doch noch die Agende annahm, vgl. DBA I, 1266, 7. Vgl. Siegmund Gottlieb Tscheggey, Ein Wort brüderlicher Belehrung über die Vereinigung der reformirten und lutherischen Confessionen zu einer einigen evangelischen Kirche. An die evangelischen Gemeinden unserer Stadt, Breslau 1830. Vgl. das Schreiben des Magistrats an Scheibel. Breslau, 23. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 66f. Das Druckverbot bezog sich auf folgende Predigten: Johann Gottfried Scheibel, Predigt am 1sten Sonntage nach Trinitatis den 13. Juni 1830 gehalten in der Morgenstunde, in: a.a.O., 280–288, und ders., Predigt am 2ten Sonntage nach Trin. den 20. Jun. 1830 in der Morgenstunde gehalten, in: a.a.O., 288–295. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 229. Zur Person des reformierten Pfarrers August Erdmann Wunster (1764–1837) vgl. DBA I, 1398, 98–101. Am 22. Juli berichtete das Konsistorium der Provinz Schlesien über den Vollzug des Unionsabendmahles durch alle Geistlichen der Provinz. Lediglich die beiden Breslauer Geistlichen Scheibel und Thiel weigerten sich beharrlich, die Agende anzunehmen und der Union beizutreten, indem sie beide Entscheidungen als identisch miteinander erklärten. Oberpräsident von Merckel empfahl für den Fall, dass die beiden renitenten Pfarrer bei ihrer irrigen Meinung blieben, schon um die Vergrößerung der Bewegung um Scheibel zu verhindern, sie ganz aus dem Dienst zu ent-

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Schon am Vorabend des Jubiläums meldeten sich jedoch immer mehr Gemeindeglieder bei Scheibel, die dem lutherischen Erbe treu bleiben wollten, unter ihnen auch die beiden Universitätsprofessoren Georg Philipp Eduard Huschke und Henrik Steffens.92 Noch am Festtag selbst beschlossen Huschke, Steffens und Thiel, die sich im Hause von Steffens versammelt hatten, unter Berufung auf das Allgemeine Landrecht, „Repräsentanten“ der lutherischen Gemeinde zu wählen,93 die fortan deren Rechte vertreten sollten. Weil seit den Karlsbader Beschlüssen des Jahres 1819 in Preußen Wahlen innerhalb von Gemeinden verboten waren, bestimmte Scheibel die Gemeindevertreter, unter ihnen Huschke, Steffens und der spätere Oberlandesgerichtsrat Gustav von Haugwitz.94 Zwei Tage später ging die von Steffens verfasste erste Bittschrift der lutherischen Gemeinde in Breslau an den König. Sie bat um die Erlaubnis, weiterhin unter der Leitung ihrer Pfarrer Scheibel, Thiel und Münster ihre lutherischen Gottesdienste nach der alten Wittenberger Agende feiern zu dürfen, für die Zukunft aber uns durch Anerkennung einer besondern, von der allgemeinen evangelischen getrennten, lutherischen, mit ihrer eigenthümlichen Verfassung versehenen und zur Anstellung von Lehrern ihres Sinnes berechtigten Kirche allergnädigst sicher zu stellen.95

Bereits von der ersten Bittschrift an bat die Breslauer Gemeinde also um Konstituierung einer eigenen lutherischen neben der unierten evangelischen Kirche. Unterdessen wurde am 1. Juli die Suspension Scheibels verlängert, bis eine Entscheidung aus Berlin über die Angelegenheit eingehen werde.96 Weil die erste Bitt-

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fernen. Vgl. das Schreiben des Konsistoriums der Provinz Schlesien an den Minister von Altenstein. Breslau, 22. Juli 1830, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert. 4 Zur Person des Juristen Huschke vgl. Peter Maser, Art. Huschke, Georg Philipp Eduard, in: RGG 3 (2000), 1963; Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 41), passim. Zu dem Naturphilo4 sophen Steffens vgl. Alf Christophersen, Art. Steffens, Henrik, in: RGG 7 (2004), 1967f.; Ingetraut Ludolphy, Henrich Steffens. Sein Verhältnis zu den Lutheranern und sein Anteil an Entstehung und Schicksal der altlutherischen Gemeinde in Breslau (ThA 17), Berlin 1962, passim. Der Regierungsbevollmächtigte Neumann berichtete dem Minister von Altenstein am 6. Juli davon, dass auch der Rektor Steffens bei den Scheibelianern engagiert sei. Steffens musste sich daraufhin in einem Schreiben an König Friedrich Wilhelm III., das auf den 5. Juli 1830 datiert ist, rechtfertigen. Vgl. die beiden Schreiben in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert. Sie beriefen sich auf § 159 des Teil II, Titel XI, in: Allgemeines Landrecht (wie Anm. 59), 554: „In außerordentlichen Fällen und Angelegenheiten, müssen von der Gemeine Bevollmächtigte oder Repräsentanten gewählt, und mit der erforderlichen Instruction versehen werden.“ Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 148f. Erste Bittschrift der lutherischen Gemeinde Breslau, 27. Juni 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 37–41, hier 40. Vgl. das Schreiben des Superintendenten Tscheggey im Auftrag des Magistrats an Scheibel. Breslau, 1. Juli 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 91f. Am 9. Juli 1830 berichtete der Magistrat der Stadt Breslau Minister von Altenstein von der Suspension Scheibels, die auf dem Rechtsgrund ausgesprochen wurde, dass die Agende nicht wie die Union einem jeden frei stehe, sondern einen Befehl des Königs an seine Geistlichen darstelle, dem sie gehorchen oder ihr

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schrift der Gemeinde keine Antwort erhielt, setzte Huschke am 26. Juli 1830 die zweite Petition auf, die um Wiedereinsetzung der lutherischen Prediger zur gottesdienstlichen Versorgung der mittlerweile über 500 Gemeindeglieder bat. Eine wahre kirchliche Union müsse auf der Einigkeit im Glaubensbekenntnis beruhen. Die preußische Union hingegen wurde abgelehnt, weil dieses Kriterium dort eben gerade nicht erfüllt sei, „der Schein der Liebe, in den sie sich kleidet, ist eben nur ein Schein, sie selbst nichts als eine Höflichkeitsbezeugung, in der man gegenseitig mit dem liberal thut, was man nicht hat, nämlich mit dem Glauben.“97 Auch diese Bittschrift blieb unbeantwortet. Huschke wies in seiner dritten Petition der lutherischen Gemeinde Breslaus vom 30. August 1830 darauf hin, dass die Zahl der Lutheraner in der Provinzhauptstadt bereits auf über 1.000 Glieder angewachsen sei, die seit acht Wochen ohne Gottesdienst leben müssten, während die Kommunikantenzahlen der unierten Gemeinde stetig sinke.98 Da auch diese Bittschrift ohne Antwort blieb, machten sich Huschke, Thiel und Scheibel am 7. September auf den Weg nach Berlin, wo sie aber wieder nicht zum König vorgelassen wurden und am 19. September ihre Wünsche schriftlich einreichen mussten.99 Wieder erhielten sie keine Antwort. Am 1. Oktober kehrte die Delegation mit leeren Händen aus der Hauptstadt wieder zurück. Eine erneute Bitte an den Magistrat um Beschleunigung der Entscheidung wurde am 12. Oktober abschlägig beschieden: Solange aus Berlin keine Weisung eingehe, könne keine Erleichterung erfolgen.100 Die vierte Bittschrift, wieder von Steffens verfasst, verließ am 1. November 1830 die Provinzhauptstadt.101 Auch sie blieb unbeantwortet. Unterdessen wurden alle Bitten um Privatkommunion und Taufen von Scheibel vom Magistrat und vom Konsistorium abgelehnt.102 Am 19. Dezember schrieb Scheibel an von Altenstein und verglich seine Suspension mit den inquisitorischen Maßnahmen finsterer Jahrhunderte.103

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Amt niederlegen müssten. Das weitere Vorgehen gegen Scheibel stellte der Breslauer Magistrat dem Berliner Ministerium anheim. Vgl. das Schreiben des Magistrats der Stadt Breslau an Minister von Altenstein. Breslau, 9. Juli 1830, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 1. Abt. XIV Nr. 63, Bd. 2, unpaginiert. Ebenfalls am 1. Juli wurde der Hospitalprediger August Thiel wegen seiner Weigerung, die neue Agende zu gebrauchen, vom Dienst suspendiert. Vgl. sein Schreiben an den Magistrat der Stadt Breslau vom 4. Juli 1830, in: ebd. Zweite Bittschrift der lutherischen Gemeinde in Breslau an den König vom 26. Juli 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 41–48, hier 44. Vgl. die dritte Bittschrift der lutherischen Gemeinde in Breslau vom 30. August 1830, in: a.a.O., 48–50 (Nr. 7), hier 49. Vgl. das Schreiben Huschkes an General von Witzleben. Berlin, 19. September 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 118–122, und das Schreiben Scheibels an den König. Berlin, 19. September 1830, in: a.a.O., 122–124. Vgl. die Antwort des Magistrats an Scheibel. Breslau, 12. Oktober 1830, in: a.a.O., 126. Vgl. die vierte Bittschrift der lutherischen Gemeinde in Breslau, 1. November 1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 51–54. Vgl. die Dokumente in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 135–153. Vgl. das Schreiben von Scheibel an Minister von Altenstein. Breslau, 19. Dezember 1830, in: a.a.O., 154–157, hier 155.

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Bereits am 8. Oktober hatte der preußische Monarch seinen Minister von Altenstein angewiesen, den Breslauer Scheibelianern die Unzulässigkeit ihres Widerspruchs sowohl gegen die Union als auch gegen die Agende mitzuteilen. Der Wunsch nach einer „Absonderung von der Kirche“ sei entschieden abzulehnen.104 Es war nun Aufgabe von Altensteins, die Dinge in Schlesien nach der Vorgabe dieser Kabinettsorder zu ordnen. Er bat Oberpräsident von Merckel um eine Einschätzung der Lage, die dieser in einem langen Schreiben vom 15. November 1830 vorlegte. Für den Oberpräsidenten schien es als beste Lösung, „dem Scheibel und seiner Partei die Erlaubnis zur Absonderung und die Einräumung einer eigenen Kirche“105 zu gestatten. Da der Konflikt sich mittlerweile aber bereits auf die Frage zugespitzt habe, ob der König oder die Geistlichkeit über das Kirchenregiment verfügten, riet der Oberpräsident abschließend dann doch dazu, den Widerspruch der Prediger Scheibel und Thiel und seiner Genossenschaft, selbst auf die Gefahr hin, von einigen Eiferern auf kurze Weile des Angriffs auf die Glaubensfreiheit und des Gewissenszwanges beschuldigt zu werden, mit Ernst und Festigkeit zu beseitigen, um das evangelische Christentum […] gegen die starre Un106 duldsamkeit wörtlich ausgeprägter dogmatischer Unfehlbarkeit sicherzustellen.

Sollte von Altenstein überlegt haben, dem Wunsch der Gruppe um Scheibel auch nur ein wenig entgegenzukommen, so war es damit nach diesem Schreiben aus Schlesien vorbei. Am Heiligabend 1830 bekam die lutherische Gemeinde Breslaus die lang ersehnte Antwort des Kultusministers auf ihre Petitionen durch den Oberpräsidenten mitgeteilt. Von Merckel verwies darin nochmals auf die Freiwilligkeit des Beitritts zur Union und darauf, dass auch die neue Agende, die mittlerweile von 7750 Gemeinden angenommen worden sei, keine Veränderungen für die lutherische Kirche in Preußen mit sich bringe. Der Wunsch der Breslauer Gruppe, sich in „einer von den übrigen hiesigen evangelischen Kirchengemeinden abgesonderten, und wie sie genannt wird, alt-lutherischen Gemeinde, unter der geistlichen Leitung des Diaconus Dr. Scheibel zu constituieren“107, sei darum als separatistisches Bestreben zu bewerten. Schon aus Gründen der Sicherung der Ordnung könnte diesem „Absonderungsgeist, der den Charakter des kühnen Auflehnens“108 trage, nicht stattgegeben werden. Die altlutherische Bewegung wird also als potentiell aufrühre104 Vgl. die Kabinettsordre Friedrich Wilhelm III. an von Altenstein, in: Kiunke, Scheibel (wie Anm. 46), 318f. Die Akten aus dem Staatsarchiv Breslau, aus denen Kiunke zitiert, konnten dort nicht mehr aufgefunden werden. 105 Vgl. Oberpräsident von Merckel an Minister von Altenstein. Breslau, 15. November 1830, in: a.a.O., 334–336, hier 334. 106 Von Merckel an von Altenstein, a.a.O., 336. 107 Schreiben des Oberpräsidenten von Merckel an die Repräsentanten Steffens, Huschke und von Haugwitz. Breslau, 24. Dezember 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 157–160, hier 158. 108 A.a.O., 159. In einem Antwortschreiben an von Altenstein protestierte Scheibel gegen den Vorwurf, Anführer einer aufrührerischen und rebellischen Gruppe zu sein. Vgl. das Schreiben von Scheibel an von Altenstein. Breslau, 9. Januar 1831, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 165–167.

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risch eingestuft. Ihr wird darum abschließend mitgeteilt, dass es keinen Grund gebe, den Altlutheranern „zu der Bildung einer sogenannten altlutherischen Gemeinde die Erlaubniß zu ertheilen.“109 Der König habe die Bittschriften als „ganz unzulässig“ abgelehnt. Dieses Schreiben des Oberpräsidenten wurde Scheibel auf der Magistratssitzung vom 5. Januar 1831, zu der er vorgeladen wurde, vorgelesen. Er wurde daraufhin ermahnt, sich „aller und jeder geistlichen Amtshandlungen […] schlechterdings zu enthalten“, das Recht zur Krankenkommunion, das ihm bislang noch geblieben war, also wieder eingezogen.110 Die folgenden Monate waren dementsprechend gekennzeichnet durch das Ringen um Kasualhandlungen, die angeblich oder tatsächlich verbotener Weise von den altlutherischen Pfarrern vollzogen wurden, und von deren polizeilicher Überwachung.111 Das Leiden der mittlerweile auf 2.300 Glieder angewachsenen Gemeinde daran, ohne Gottesdienst und Kasualhandlungen leben zu müssen, wuchs derart an, dass Scheibel sich am 15. April 1831 zusammen mit dem Repräsentanten Kaufmann Grempler ein zweites Mal nach Berlin aufmachte. Dort kam es am 19. April zu einem Gespräch mit Bischof Neander112, der zwar darauf beharrte, dass Scheibel die neue Agende annehmen müsse, sich zugleich aber kulant in der Gewährung von Privatanhängen zeigte.113 Am 20. April empfing Minister von Altenstein die Breslauer Delegierten. Scheibel berichtete von den Zuständen in Breslau und kündigte für den Fall, dass diese anhielten, seinen Gang ins Exil an. Seine Gemeinde würde nach seinem Fortgang wahrscheinlich in offenen Separatismus übergehen, viele auswandern. Von Altenstein zeigte sich sichtlich bewegt von den Worten Scheibels und bat die beiden Delegierten um nochmaliges Einreichen der Wünsche ihrer Gemeinde. Das Gespräch mit Bischof Eylert in Potsdam, das am 25. April stattfand, glich dem Gespräch mit Bischof Neander, endete aber mit der Versicherung, beim König für die Breslauer Sache eintreten zu wollen. Doch hatten die beiden Delegierten bereits bei Neander erfahren, dass man in Berlin jedes Zugeständnis scheue, um nicht das Werk der Union und der Agende noch im Nachhinein zu zerstören.114 Am 2. Mai 1831 reichte Scheibel die von seiner Gemeinde angeforderten Wünsche beim Ministerium ein. Die Breslauer Gemeinde forderte die Anerkennung als „Selbstständige, von der unirten Kirche in Preußen getrennte Kirche nach dem göttlichen Wort und unsern darauf gegründeten Lutherischen Bekenntnißschrif109 Von Merckel an die Repräsentanten (wie Anm. 107), 160. 110 Protocoll des Verhörs beim Magistrat. Breslau, 5. Januar 1831, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 164f., hier 164. 111 Zum Zustand der Breslauer Gemeinde in den ersten Monaten des Jahres 1831 vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 254–257. 112 Zur Person des Berliner Bischofs vgl. Martin Friedrich, Art. Neander, Daniel Amadeus, in: BBKL 6 (1993), 229–231. 113 Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 257f. 114 Vgl. a.a.O., 258f.

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ten“ mit einer Presbyterialverfassung, dem Recht der freien Pfarrerwahl, den Gebrauch der alten Wittenberger Agende und dem Recht, die Lehre ihrer Pfarrer selber zu prüfen. Das ius circa sacra hingegen sollte beim preußischen Staat verbleiben.115 Die beiden Delegierten warteten in großer Hoffnung auf eine positive Antwort des Ministeriums, die sie erst am 13. Juli 1831 erhielten. Sie enthielt eine Antwort des Königs auf die Bitten der Breslauer Gemeinde, die „nicht anders als abfällig seyn“ konnte. Von Altenstein versicherte Scheibel, dass „nicht die geringste Aussicht vorhanden ist, das fragliche Vorhaben ins Werk zu setzen“.116 Mit leeren Händen verließen die beiden Delegierten am 5. September 1831 Berlin. Die nächsten fünf Monate waren wie die Zeit vor der Berlinreise Scheibels geprägt von den Pressionen der Polizei und dem Notstand der Breslauer Gemeinde ohne gottesdienstliche Versorgung. Am 12. Januar 1832 beschloss Scheibel, zumindest was seine Person anging, dieser Situation ein Ende zu bereiten, indem er an den Kultusminister schrieb und ihm ein Ultimatum von drei Wochen setzte, während derer das Ministerium seinen Fall entscheiden sollte. Erhielte er keine Antwort, so würde er um Entlassung aus dem Universitätsdienst bitten und sich öffentlich zu Wort melden.117 Das Ministerium reagierte damit, dass es Scheibel seinerseits zum gehorsamen Gebrauch der Agende aufrief, anderenfalls aber ein Disziplinarverfahren ankündigte.118 Am selben Tag schrieb der Minister auch an die Repräsentanten der Gemeinde, in dem er nochmals darauf hinwies, dass der Beitritt zur Union nichts am lutherischen Glauben ändere, „sondern nur die factische Erklärung sey, daß man mit den Genossen der andern evangelischen Confessionen Kirchengemeinschaft halten wolle und diese nicht für etwas Gewissenswidriges ansehe“119. Das Ministerium versuchte also, durch die Androhung eines Disziplinarverfahrens und werbende Worte für die Union, Scheibel und seine Gemeinde auseinanderzudividieren.

115 Vgl. die Wünsche der lutherischen Gemeinde in Breslau, Baron von Altenstein überreicht, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 177, die Scheibel mit einem Begleitschreiben an von Altenstein. Berlin, 1. Mai 1832, einreichte. Vgl. a.a.O., 179–181. Scheibel reichte neben den Wünschen seiner Gemeinde noch einen langen Aufsatz über die lutherische Kirchenordnung ein, den er über Jahre hinweg erarbeitet hatte. Vgl. seine Kirchenhistorische, dem Minister eingereichte, Abhandlung über luther. Verfassung, a.a.O., 183–192. 116 Vgl. das Reskript von Altensteins an Scheibel. Berlin, 13. Juli 1831, in: a.a.O., 193f. Dieser Kabinettsorder entsprechend untersagte das schlesische Konsistorium am 26. Juli 1831 die Bildung einer selbstständigen lutherischen Kirche. Vgl. das Schreiben des Konsistoriums an die Repräsentanten. Breslau, 26. Juli 1831, in: a.a.O., 195f. 117 Vgl. das Schreiben Scheibels an Minister von Altenstein. Breslau, 12. Januar 1832, in: a.a.O., 222–225. 118 Vgl. das Schreiben des Ministers von Altenstein an Scheibel. Berlin, 28. Februar 1832, in: a.a.O., 225–228. 119 Schreiben des Ministers von Altenstein an die Repräsentanten. Berlin, 28. Februar 1832, in: a.a.O., 229–234, hier 230.

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Scheibel antwortete sowohl auf das Disziplinarverfahren, das ihm mittlerweile vom Konsistorium für den Fall angedroht worden war, sollte er nicht in einer Frist von zwei Wochen die neue Agende doch noch angenommen haben,120 als auch auf die werbenden Worte des Ministers für die Union, indem er darauf hinwies, dass selbst wenn das lutherische Abendmahl mit lutherischer Agende in der Union gefeiert werde, es doch kein wahrhaft lutherisches sein könne, weil ein Abendmahl, das in und neben der reformierten Kirche gefeiert werde, nach den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche ausgeschlossen sei. Da ihm jeder Schritt in Breslau als Meuterei gegen den König ausgelegt werde, bitte er um seine Entlassung aus seiner Professur. Mit tiefster Wehmuth scheide ich von einem Staat und einem Monarchen, dessen Wohlthaten in 23jährigem kirchlichen und mehr als 20jährigem akademischen Lehramt ich niemals vergessen werde, bis der Fortgang theologischer Ansichten und der Conflict, in den sie endlich mit dem alten Glauben auch kirchlich gerathen mußten, mir die Duldung entzogen, die ich von Jugend auf, so wie meine Voreltern unter dieser Regierung genossen haben. Möge Gott meinen König, die Behörden seines Staats, und insbesondre Ew. Excellenz segnen, möge Gott es leiten, daß ich künftig in meinem Vaterlande einen Altar finden kann, um daran dem lebendigen Gott zu dienen. Es sey dieser Wunsch der Allweisheit und Allgüte anvertraut.121

Scheibel hatte also beschlossen, sein preußisches Heimatland zu verlassen. Der Tod seiner Mutter am 22. März 1832 bestätigte ihn in dieser Entscheidung. Am 14. April 1832 hielt er eine Abschiedsrede in seinem Haus. Repräsentanten begleiteten ihn bis in den Breslauer Vorort Lissa. Am Morgen des Palm-Sonntages nahm ich von des Vaters und Geliebten Grab, am stillen Sonnabende von den Schwestern und dem Grabe der Mutter in Janowitz Abschied. Mit Thränen verließ ich den 1. Osterfeiertag bei Naumburg das Vaterland; den 23. April kam ich in Dresden an.122

120 Schreiben des Konsistoriums der Provinz Schlesien an Scheibel. Breslau, 8. März 1832, in: a.a.O., 234f., hier 235. 121 Schreiben Scheibels an Minister von Altenstein. Breslau, 14. März 1832, in: a.a.O., 236–239, hier 239. Vgl. auch das Schreiben des Konsistoriums an Scheibel. Breslau, 8. März 1832, in: a.a.O., 234f. Bevor er Preußen verließ, schickte Scheibel seinem König noch ein Schreiben: Scheibel an Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Breslau, 14. März 1832, in: a.a.O., 240: „Ew. Majestät vergönnen nicht ferner lutherische selbstständige Kirche in Allerhöchst Dero Reich. Schon angedeuteter Urtheils-Spruch drängt mich aus Ew. Majestät Staaten; doch auch noch so tief verkannt und verurtheilt von meinem Könige, den ich nie tief zu verehren und zu lieben aufgehört habe, noch aufhören werde, bleibt mir, dem Verlassenen, meine Zuflucht zum allwissenden Gott. Möge dieser den Thron segnen, unter dessen Obhut ich mich so lange so glücklich fühlte: möge die Zeit einst kommen, wo ich das Haus Friedrich II. wieder als das finden kann, dem ich mit Freuden zu dienen vermag.“ Das Angebot einer Professur in Halle, das ihm von einem befreundeten dortigen Professor (Tholuck?) gemacht wurde, schlug Scheibel aus. Vgl. das Schreiben Scheibels an einen Freund in Halle. Breslau, 14. März 1832, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 3, unpaginiert. 122 Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 10), 286.

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Scheibel war also ins lutherische Königreich Sachsen geflohen,123 wo er seiner Gemeinde wahrscheinlich nützlicher war als in seinem Heimatland selbst. Er veröffentlichte viele Schriften und machte die Verfolgung der altlutherischen Bewegung im Deutschen Bund publik.124 Der preußische Staat hatte einen Pyrrhussieg errungen. Die konfessionell-lutherische Position Scheibels war in die Praxis getreten. Ob sie sich dort bewähren würde, sollten die folgenden Jahre zeigen.

4.

Geldstrafen, Gerichtsprozesse und Gefängnis. Die Verfolgung der altlutherischen Bewegung

Die altlutherische Bewegung, die ihren Anfang im Breslauer Kreis um Scheibel herum genommen hatte, breitete sich rasch in Schlesien aus: Drei ehemalige Studenten Scheibels, Karl Ferdinand Berger im benachbarten Herrmannsdorf,125 Eduard Gustav Kellner in Hönigern, Kreis Namslau,126 und Adolph Friedrich Hirschfeld 123 Die Bestätigung seiner Entlassung sowohl aus seinem kirchlichen Amt als Diakon als auch aus seiner Professur erreichten Scheibel erst in Dresden. Vgl. das Schreiben von Altensteins an Scheibel. Berlin, 2. Mai 1832, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 244. Er protestierte ein letztes Mal gegen das Recht des Staates, Pfarrer ihres Amtes entheben zu dürfen, indem er darauf hinwies, lediglich um die Entlassung aus seiner Professur gebeten zu haben. Aus seiner Diakonatsstelle könne ihn nur seine Gemeinde entlassen. Auf diese Klarstellung bekam Scheibel keine Antwort mehr. Vgl. die Antwort von Scheibel an den Minister von Altenstein. Dresden, 8. Juni 1832, in: a.a.O., 244f. Das Autograph liegt in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 3. 124 Über Scheibels Exil im sächsischen Dresden, Hermsdorf und Glauchau vgl. Kiunke, Scheibel (wie Anm. 46), 380–402; Gottfried Herrmann, J. G. Scheibel und seine Auswirkungen auf den lutherischen Konfessionalismus in Sachsen, in: Hauptmann, Gerettete Kirche (wie Anm. 6), 55–76. Über seine letzten Jahre im Königreich Bayern, wohin er auf Drängen der preußischen Diplomatie aus Sachsen fliehen musste, vgl. Kiunke, Scheibel (wie Anm. 46), 403–411. Scheibel starb am 21. März 1843 in Nürnberg und wurde auf dem dortigen Johannisfriedhof beigesetzt, wo sein Grab bis heute zu finden ist (Nummer C 11b, nördlich vom Ostchor der St. Johanneskirche). 125 Berger (1798–1852) hatte 1827 seine erste Pfarrstelle in Weißholz bei Glogau aufgegeben, weil die Annahme der neuen Agende gefordert wurde, die sein Vorgänger bereits in der Gemeinde eingeführt hatte. Er ging in seinen Geburtsort Herrmannsdorf, wo er bereits früher den kranken Pfarrer vertreten hatte. Gegen den Beschluss der Patrone der Gemeinde vom 29. Oktober 1830, die Agende zunächst für vier Wochen probeweise einzuführen, setzte sich Berger erfolgreich zur Wehr. Die Anweisungen des Oberpräsidenten vom Januar und August 1831, die Agende in seiner Gemeinde einzuführen, ignorierte Berger zunächst straffrei. Die intakte Gemeinde in Herrmannsdorf wurde zum Zufluchtsort vieler Breslauer Lutheraner, die sich dort sonntags gottesdienstlich versorgen ließen. Vgl. Johannes Nagel, Die Errettung der evang. lutherischen Kirche in Preußen von 1817–1845. Den Gemeinden erzählt. Zweite vermehrte Auflage, Erlangen 1868, 57–59. 126 Kellner (1802–1878) hatte nach Abschluss seines Theologiestudiums in Breslau und dem Zweiten Theologischen Examen, das er im November 1825 ablegte, am 11. Juli 1826 die Pfarrstelle in Hönigern, Kreis Namslau, angetreten. Die Gemeinde bestand zum überwiegenden Teil aus polnischsprachigen Gemeindegliedern. Nach seiner Hochzeit mit Scheibels Nichte am 28. Juni 1827 hielt er regelmäßig Erbauungsstunden, zu denen immer mehr Gemeindeglieder kamen. Kellner brachte auf diese Weise die konfessionelle Erweckung nach Hönigern. In Übereinstimmung mit seiner Gemeinde lehnte Kellner die Einführung der neuen Agende ab und benutzte weiter die Oelser

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an der Gnaden-Kirche in Freistadt127 verweigerten ebenso die Annahme der neuen Agende wie Friedrich Gottlieb Eduard Biehler in Kaulwitz, einem drei Meilen von Hönigern entfernten Dorf,128 Joachim Friedrich Froböß in Gießmannsdorf im Löwenberger Kreis und Gustav Friedrich Wilhelm Suckow in Grünhartau im Strehlerkreis.129 Daneben gab es in Schlesien, in der Mark und in der Lausitz kleine Kreise von Lutheranern in unierten Gemeinden, die sich in den Häusern trafen, um nach den alten Agenden den Gottesdienst zu halten. Da sie keine Pfarrer hatten, nahmen sie teils den weiten Weg in die nächste lutherische Gemeinde auf sich, teils teilten die Hausväter das Abendmahl aus.130 Dass die altlutherische Bewegung mit dem Fortgang Scheibels nicht an ihr Ende kam, sah auch Kultusminister von Altenstein, der im März 1832 Ernst Friedrich

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Agende von 1594. Noch im November 1833 protestierte er erfolgreich gegen eine Visitation durch die unierten Behörden, die er kurzerhand als nicht zuständig erklärte. Vgl. a.a.O., 63–65; Georg Froböß, Eduard Gustav Kellner. Ein Zeuge der lutherischen Kirche, gewürdigt um der Wahrheit willen zu leiden. Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen desselben entworfen, Elberfeld 3 1905, 1–103. Hirschfeld (1802–1836), ebenfalls ein ehemaliger Schüler Scheibels, wurde wegen seiner Weigerung, die neue Agende anzunehmen, vom Dienst suspendiert und inhaftiert. Er starb infolge der Haftbedingungen bereits am 24. August 1834. Vgl. die wenigen Informationen über seine Person in: Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 74f.; Froböß, Kellner (wie Anm. 126), 21; VerfolgungsGeschichte der lutherischen Kirche in Preußen, und besonders in Schlesien, Straßburg 1835, 4. Biehler (1798–1844) hatte zunächst die Agende angenommen, sie dann aber im Februar 1834 aus Gewissensgründen an die Regierung zurückgeschickt. Vgl. Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 71. Zu seiner Person vgl. DBA I, 99, 397. Am 27. August 1801 in Breslau geboren, wurde Froböß im Februar 1827 ebendort ordiniert, bevor er 1827 die Pfarrstelle in Gießmannsdorf antrat, die er bis zu seinem Tode am 15. September 1865 innehatte. Zu seinen biografischen Daten vgl. Julius Rademacher, Predigergeschichte der Kirchenkreise Bunzlau I und II, Wohlau i. Schlesien 1932, 18. Suckow (1799–nach 1849) studierte von 1817 bis 1820 an der Universität Breslau, bevor er 1825 die Pfarrstelle in Grünhartau übernahm, die er bis 1849 innehatte. Vgl. zu den beiden hier erwähnten Pfarrern auch Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 238f.; Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 74. Zu ihren Motiven, die neue Agende nicht anzunehmen, vgl. den Verwaltungsbericht des schlesischen Konsistoriums an den Kultusminister von Altenstein. Breslau, 28. Februar 1839 [sic!], in: GStA PK, VI. HA: Familienarchive und Nachlässe, Nl Altenstein, K.s. v., A VI c 1 Nr. 6, unpaginiert: „Der Pastor Suckow zu Grünhartau entzog sich fortwährend dem Gebrauch der erneuerten KirchenAgende, nicht aber aus separatistischem Haß gegen die Union, sondern weil er die von der Agende bestätigte Auctorität der evangelischen Lehrsymbole eben so wenig anerkennen mochte, als das Recht des Landesherrn, in liturgischen Dingen Befehle zu erlassen. Nur in dem letzern Punckte einstimmig mit ihm, übrigens aber vollständig im Sinne der separatistischen Lutheraner die Union an sich verwerfend und die erneuerte Agende, als ein Vehikel der Union, des Syncretismus beschuldigend, blieb auch Pastor Frobös zu Giesmannsdorf starr in seiner Abstinenz von den durch die neue Agende vorgeschriebenen liturgischen Formen.“ Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 75, nennt folgende Orte: Liegnitz, Bunzlau, Löwenberg, Hartliebsdorf, Deutmannsdorf, Militsch, Trebnitz, Salzbrunn, Juliusburg, Bernstadt, Kreuzburg, Strehlen, Lutzine, Waldenburg, Münsterberg, Guhrau, Züllichau und Schwiebus in der Mark, Guben in der Lausitz.

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Gabriel Ribbeck131 als neuen Generalsuperintendenten mit dem Auftrag nach Schlesien sandte, dort den kirchlichen Frieden wieder herzustellen. Am 16. August 1833 erstattete dieser in einer „nothgedrungenen Aeusserung“ dem Minister Bericht über das stetige Wachstum der altlutherischen Bewegung nach Scheibels Fortgang: Es ist eine Verschwörung, welche operiert; es sind Fäden angeknüpft worden zu einem Netze, das die ganze Provinz, demnächst vielleicht die Monarchie, umspannen soll; von Monat zu Monat immer mehr, mit immer zunehmender Geschwindigkeit, sehen wir das Gewebe sich verbreiten, und seit 15 Monaten ist der Eifer, womit an demselben gearbeitet wird, nirgends einer wesentlichen Hinderung begegnet.132

Da Ribbeck die altlutherische Bewegung aufgrund ihres Fanatismus auch als potentiell aufrührerische Gruppierung betrachtete,133 brachte er eine veröffentlichte Kabinettsorder des Königs ins Spiel, um den vernünftigen Teil der fanatisierten Bewegung vielleicht doch noch zur Vernunft bringen zu können. In einer solchen allerhöchsten Verlautbarung müsse zunächst das Verhältnis der Union zum Bekenntnisstand der beitretenden Kirchen geklärt werden. Denn es gebe mindestens drei inhaltliche Bestimmungen dazu: Entweder sei man der Ansicht, dass sowohl die lutherische als auch die reformierte Kirche ihren Bekenntnisstand in vollem Umfang beibehielten, diejenigen Punkte, in denen sich die Bekenntnisschriften der beiden Kirchen widersprächen, jedoch nicht so relevant seien, dass sie noch einer konfessionellen Eigenexistenz der beiden evangelischen Konfessionen eine Grundlage böten. Das zweite Unionsverständnis sei dem ersten ähnlich, unterscheide sich aber von ihm dadurch, dass in ihm eine Aufgabe der Realpräsenz durch die Lutheraner und ein Verzicht auf die Prädestinationslehre durch die Calvinisten gefordert würden. Die dritte Unionsdeutung gehe davon aus, dass die Bekenntnisschriften der beiden Konfessionen vollständig aufgehoben seien und nur noch die Schrift als Grundlage aller kirchlichen Aussagen fungiere. Den Grund für den altlutherischen 131 Zu seiner Person vgl. Julius August Wagenmann, Art. Ribbeck, Ernst Friedrich Gabriel, in: ADB 28 (1889), 801f. 132 Nothgedrungene Aeusserung des General-Superintendenten Ernst Friedrich Gabriel Ribbeck zu Breslau, betr. die in der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien vorgehenden Bewegungen. Breslau, 16. August 1833, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 3, unpaginiert (Hervorhebungen im Original). Konsistorialrat August Hahn, der vom König Anfang des Jahres 1834 auch zur Bekämpfung des Rationalismus an der Universität Breslau als Professor und Konsistorialrat dorthin berufen wurde, empfahl dieselben Schritte. Vgl. das Schreiben August Hahns an von Altenstein und das Konsistorium. Breslau, 26. Januar 1834, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 4, unpaginiert. Zu 4 seiner Person vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Art. Hahn, August, in: RGG 3 (2000), 1381f. 133 Vgl. Nothgedrungene Aeusserung (wie Anm. 132), unpaginiert: „Ich bin mehr gewohnt, wenig zu fürchten, als viel; aber hier sehe ich Brand und Blutvergiessen, Hochverrath und grauenvollen Aufruhr ganz nahe schon sich herandrängen; schon drohen die Fanatiker mit der Brandfackel, schon kündigen sie Mordthaten an, schon vermessen sie sich, auch mit einer gegen sie etwa herbeygerufenen executorischen Militairmacht leicht fertig werden zu wollen, schon wird (denn auch das Aergste auszusprechen, darf man nicht mehr scheuen) auf die höchste Persönlichkeit des Landes hingedeutet als auf den Antichrist, dessen Untergang nahe bevorstehe.“

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Protest sah Ribbeck darin begründet, dass in Schlesien spätestens seit der Unionssynode von 1822 nur noch der dritte Unionsbegriff verwandt wurde. Dieser sei jedoch lediglich für die gebildeten Großstadtkreise geeignet. Im Umgang mit dem ungebildeten Volk müsse der erste verwandt werden, da dort in weiten Kreisen noch immer der Glaube an die leibliche Realpräsenz Christi vorherrsche.134 Die allerhöchste Verlautbarung müsste also explizit darauf hinweisen, dass die Union weder ein Aufgeben des bisherigen Bekenntnisses noch eine Schmälerung des Ansehens der bisherigen Bekenntnisschriften bedeute, sondern lediglich eine Mäßigung bei der Betonung der Unterscheidungslehren. Von Altenstein übernahm in seinem Bericht an den König vom 2. November 1833 Ribbecks Einschätzung der Lage fast gänzlich, verschärfte sie aber noch dadurch, dass er die altlutherische Bewegung mit den Aufrührern der Julirevolution von 1830 parallelisierte: Beiden ist aber gemein die Nichtachtung der Obrigkeit, der offene Kampf gegen die bestehende Ordnung der Dinge, das starre Festhalten an der einmal gefaßten Ansicht und Ueberzeugung, jeder menschlichen Autorität gegenüber, und die Geschäftigkeit womit sie sich zu verstärken suchen.135

Die Altlutheraner waren für von Altenstein von jetzt an als potentiell aufrührerische Bewegung von staatlicher Seite mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen. Dass Ribbeck und der Kultusminister mit ihrer Argumentation auch den König überzeugt hatten, ist an der „Allerhöchsten Entscheidung“, der Kabinettsorder vom 28. Februar 1834 ersichtlich, die alle von Ribbeck vorgeschlagenen Elemente enthielt.

134 Vgl. Nothgedrungene Aeusserung (wie Anm. 132), unpaginiert: „Namentlich in der lutherischen Kirchengesellschaft hat die der wissenschaftlichen Bildung entbehrende Masse, soweit sie überhaupt noch religiös ist, den Glauben an die alleinige Wahrheit der lutherisch symbolischen Bestimmungen über die leibliche Gegenwart des Erlösers im h. Abendmahl, und die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit dieses Glaubens noch keineswegs aufgegeben.“ 135 Vgl. den Bericht von Altensteins an den König. 2. November 1833, in großen Teilen zitiert in: Deuschle, Erweckung und Politik (wie Anm. 48), 79–117, hier 104.

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Allerhöchster Erlass an den Minister der geistlichen, Unterrichts und Medizinalangelegenheiten, die Agende und Union betreffend, Berlin, 28. Februar 1834

Der König kam den Lutheranern mit der ersten Deutung der Union so weit entgegen, wie es nur denkbar war, um möglichst viele Glieder von den Altlutheranern wieder in die Kirche der Union zurückführen zu können. Die Konstituierung einer selbstständigen Kirche neben der Union hingegen wurde explizit untersagt136 und kurz nach dem Erscheinen dieser Kabinettsorder auch sanktioniert. Am 28. Februar und am 9. und 10. März 1834 wurde die Kabinettsorder von zwei Gesetzen gegen Konventikel und die unbefugte Verrichtung von geistlichen Amtshandlungen und einer Order, die altlutherische Kinder zum Besuch des unierten Schulunterrichts zwang, flankiert.137 Die Kabinettsorder und die drei Gesetze wurden zur Grundlage der staatlichen Verfolgung, die die Altlutheraner in den kommenden Jahren erdulden mussten. Gerade noch vor dem Einsetzen der Verfolgung – die Kabinettsorder wurde erst am 29. März 1834 an die Konsistorien versandt – trat im März 1834 in Breslau die erste altlutherische Synode zusammen, an der Huschke, die Pastoren Kellner, Berger und Biehler und Vertreter der lutherischen Kreise in unierten Gemeinden teil136 Vgl. die Kabinettsordre Friedrich Wilhelm III. vom 28. Februar 1834, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 55f., hier 56: „am wenigsten aber – weil es am unchristlichsten sein würde – darf gestattet werden, daß die Feinde der Union im Gegensatz zu den Freunden derselben als eine besondere Religions-Gesellschaft sich constituiren.“ 137 Vgl. Johannes Nagel, Die Kämpfe der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen seit Einführung der Union, Bd. 1: Die evangelisch-lutherische Kirche in Preußen und der Staat, Stuttgart 1869, 143; Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 41), 107f. Zur Datierung der Gesetze vgl. Manfred Laubert, Die Anfänge der altlutherischen Bewegung in der Provinz Posen, in: ZKG 39 (1921), 44–76, hier 48.

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nahmen. Ein Ausschuss zur „Communication über unsere Kirchenangelegenheit mit der hohen Behörde“ wurde gewählt.138 Der Text einer vierten Bittschrift, die neben den bereits bekannten Argumenten die rechtlichen Grundlagen für den Bestand einer lutherischen Kirche in Schlesien entfaltete, wurde verabschiedet.139 Wenig später gingen die Behörden auf der Grundlage der drei neu erlassenen Gesetze gegen die Lutheraner vor. Die Pastoren Berger, Kellner und Biehler wurden suspendiert,140 später amtsenthoben, die Kirchengebäude und das Kirchengut beschlagnahmt. Den traurigen Höhepunkt bildete die Einnahme der Kirche in Hönigern für die Union durch preußisches Militär,141 die ein gewaltiges Echo in der deutschen Presselandschaft fand142 und viele Lutheraner in der unierten Kirche 138 Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 156. 139 Vgl. die vierte Bittschrift an König Friedrich Wilhelm III. Breslau, 4. April 1834, in: Nagel, Die Kämpfe (wie Anm. 137), 124–139. 140 Eine Kommission, bestehend aus dem Generalsuperintendenten, dem Oberregierungsrat, dem Superintendenten und dem Landrat kam am 27. Juni 1834 nach Herrmannsdorf, suspendierte Pfarrer Berger und beschlagnahmte das Kirchengut und die Kirche selber. Berger durfte zunächst unter Bewachung in Herrmannsdorf bleiben, wurde dann aber nach Breslau transportiert und ins Gefängnis geworfen. Am 11. September 1834 kam die Kommission nach Hönigern, suspendierte Pfarrer Kellner, der ebenfalls nach Breslau ins Gefängnis gebracht wurde, und konfiszierte das Kirchengut. Am 12. September 1834 kam die Kommission nach Kaulwitz, suspendierte Biehler und konfiszierte auch hier das Kirchengut und die Kirche selbst. Biehler wurde wie seine beiden Kollegen nach Breslau gebracht. Vgl. Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 61–63.65–69.71f. Folgt man dem Verwaltungsbericht des schlesischen Konsistoriums, den Oberpräsident von Merckel am 28. Februar 1839 Kultusminister von Altenstein erstattete, so beruhigten sich die Dinge in Herrmannsdorf unter dem neuen Pfarrer recht bald wieder: „Weit mehr Erfolg hatte Pastor Urbatsch in Herrmannsdorf, wo zu Ende des Jahres 1837 bis auf sehr wenige Ausnahmen Alles in die kirchliche Ordnung zurückgesetzt schien“ (in: GStA PK, VI. HA: Familienarchive und Nachlässe, Nl Altenstein, K.s. v., A VI c 1 Nr. 6, unpaginiert). 141 Auf königlichen Befehl vom 19. Dezember 1834 brachen am 21. Dezember 400 Mann Infanterie und 100 Mann Kavallerie (50 Kürassiere und 50 Husaren) unter Leitung des Landrats von Namslau nach Hönigern auf, um die dort immer noch nicht übergebene Kirche der renitenten Altlutheraner für die unierte Kirche zurückzufordern. Am Morgen des 23. traf die Immediatkommission, bestehend aus dem Breslauer Polizeipräsidenten Heinke und dem Konsistorialrat Hahn, ebenfalls in Hönigern ein. Die Rede des Polizeipräsidenten als des Repräsentanten der weltlichen Obrigkeit hörten sich die etwa 1.000 um die Kirche herum versammelten lutherischen Gemeindeglieder an. Als Generalsuperintendent Hahn danach das Wort ergriff, wurde er schnell von Chorälen übertönt. Einem Repräsentanten der unierten Kirche wollte die Bevölkerung von Hönigern nicht zuhören, weil er nach ihrer Ansicht nicht für die lutherische Kirche zuständig war. Als alle Versuche, die Gemeinde doch noch zur Kooperation zu bewegen, gescheitert waren, zerstreute das Militär mit flachen Kolbenschlägen die Gemeindeglieder Kellners und nahm die Kirche ein. Am ersten Weihnachtstag feierte der mitgebrachte neue Pfarrer Bauch den Weihnachtsgottesdienst vor dem Militär und ein paar Einwohnern von Hönigern. Die Mehrheit blieb diesem Gottesdienst fern. Zu den Ereignissen in Hönigern vgl. den Bericht des Polizeipräsidenten Heinke und des Landrats von Ohlen in Angelegenheiten der Widersetzlichkeiten der Hönigernschen Kirchen Gemeinde. Hönigern, 25. Dezember 1834, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 6, unpaginiert; Verfolgungs-Geschichte (wie Anm 127), 6; Froböß, Kellner (wie Anm. 126), 103–130. 142 Vgl. etwa die Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten, No. 18 (Donnerstag, 22. Januar 1835), unpaginiert; im Königreich Bayern die Außerordentliche

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Preußens,143 aber auch im Ausland zum Nachdenken brachte. Die Ereignisse von Hönigern führten zu einem spürbaren Anwachsen der altlutherischen Bewegung etwa in den Provinzen Posen144 und Sachsen145 bei gleichzeitiger, nun systematischer Verfolgung. Die altlutherischen Pastoren wurden inhaftiert oder steckbriefBeilage zur Allgemeinen Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien, Nr. 64 (Donnerstag, 19. Februar 1835), 253f. 143 Bereits im November 1834 war ein Schreiben unierter Pfarrer beim Kultusminister eingegangen. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 6, unpaginiert: „Es wäre die traurigste Erscheinung unserer Zeit, wenn die Verfolgungen, die einst unsere Väter von den Römisch-Katholischen erleiden mußten, heut im Schooße der evangelischen Kirche selbst an evangelischen Mitbrüdern ausgeübt würden, und es kann sich der Herr der Kirche unmöglich zu einem Baue bekennen, der mit Gewalt und mit Beschwerung so vieler Gewißen begründet wird.“ 144 Zu nennen sind hier vor allem der Hilfsprediger Lasius in Prittisch, Rektor Ehrenström in Meseritz, August Ludwig Christian Kavel in Klemzig und der Judenprediger Wermelskirch in Posen, zu deren Gemeinden 160 Personen gehörten. Ende 1834 traten Otto Wehrhan in Kunitz bei Liegnitz und Robert Wehrhan in Wischütz und Reinsch in Volkersdorf aus der Landeskirche aus (letzterer bereits im März 1834). Alle diese Pfarrer wurden noch im selben Jahr suspendiert. Vgl. hierzu Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 80–83; Laubert, Provinz Posen (wie Anm. 137), passim. 145 In Halle erklärte der Theologieprofessor Heinrich Ernst Ferdinand Guericke 1833 anlässlich der Taufe seines dritten Kindes durch den lutherischen Pfarrer Löber seinen Austritt aus der unierten Kirche. Vgl. das Bekenntniß des Prof. Guerike zur lutherischen Kirche. Halle, 29. September 1833, in: Einige Urkunden, betreffend die Geschichte der lutherischen Gemeinde in und um Halle in ihrer Bildung und Bedrängung und die Behandlung ihres Pastors des Herrn Dr. Theol. Guerike. Vorläufig herausgegeben zur abgedrungenen Vertheidigung und Rechtfertigung von der lutherischen Gemeinde in Halle und Naumburg, Leipzig 1835, 1–6. Um ihn herum konstituierte sich eine Gemeinde in Halle, die am 18. Januar 1834 beim Oberpräsidenten Klewiz die Bitte um Genehmigung lutherischer Gottesdienste einreichte, die schon am 24. Januar 1834 abgelehnt wurde unter Verweis auf das Fortbestehen der lutherischen Kirche in der unierten preußischen Landeskirche. Vgl. die Anzeige der Bildung einer Hallischen lutherischen Gemeinde, und Erfolg. Halle, 18. Januar 1834, in: a.a.O., 6; Regierung Merseburg an Guericke. Merseburg, 24. Januar 1834, in: a.a.O., 7f. Die Polizei ging rigoros gegen diese Gemeinde vor. Vgl. Policeiliche Störung einer freundschaftlichen Gesellschaft bei Dr. Guerike, in: a.a.O., 40–42. Am 20. November 1834 von den Schlesiern zum lutherischen Pastor ordiniert, ging Guericke nach Naumburg, wo er eine weitere Gemeinde gründete, deren Pastor er zunächst war. Vgl. Dokumente zur Vocation und Ordination des Dr. Guerike, in: a.a.O., 66–72; den Anschluß der Naumburger Gemeinde an die Hallische. Naumburg, 14. Dezember 1834, in: a.a.O., 72f. Am 10. Januar 1835 unterzeichnete der Kultusminister das Entlassungsschreiben aus der Professur, das Guericke am 22. Januar 1835 ausgehändigt wurde; am 6. August 1835 befahl von Altenstein, ihn unter Arrest zu stellen. Vgl. den Text des Entlassungsschreibens. Berlin, 10. Januar 1835, in: a.a.O., 79. Die Geldstrafen zeigten bei Guericke Wirkung. Er bat um Wiederanstellung als Professor und löste sich wieder von der altlutherischen Gemeinde in Halle. Gegen die Erfurter Gemeinde und ihren Pastor Grabau wurde ebenfalls rigoros vorgegangen. Zur Person Grabaus und seiner Wirksamkeit in Nordamerika vgl. Johannes Hund, „Gewisse Einseitigkeiten“ und die „rechte, allseitige, öcumenische Faßung“. Die Zusammenarbeit und der Bruch zwischen Wilhelm Löhe und Carl Ferdinand Wilhelm Walther, in: LuThK 35 (2011), 211–245, hier 223–229. Zur Situation in der Provinz Sachsen vgl. Wolfgang Nixdorf, Die staatliche Behandlung der lutherischen Separation in Halle unter Friedrich Wilhelm III. Ein Akteneinblick, in: Udo Meckert u. a., … und fragten nach Jesus. Beiträge aus Theologie, Kirche und Geschichte. FS Ernst Barnikol, Berlin 1964, 221–227. Zur Person Guerickes vgl. 4 Joachim Rogge, Art. Guericke, Heinrich Ernst Ferdinand, in: RGG 3 (2000), 1326.

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lich gesucht, wenn sie geflohen waren. Jeder Polizist, der einen lutherischen Pastor fing, erhielt 50 Taler Belohnung. Kammern und Keller, Wälder und Steinbrüche dienten bei Nacht und Nebel als Orte für den verbotenen Gottesdienst. Wer bei solchen Gottesdienstbesuchen von der Polizei ertappt wurde, musste einen Taler Strafe zahlen. In jedem Wiederholungsfall verdoppelte sich die Strafe. Konnten die Leute nicht zahlen, so wurden sie gepfändet oder in Arrest abgeführt.146 Unter diesen katastrophalen äußeren Bedingungen hielt die altlutherische Bewegung aus Gründen der Geheimhaltung eine Synode in zwei Hälften ab, auf der die ersten Schritte hin zur Kirchwerdung der Altlutheraner beschlossen wurden: Am 19. und 20. Februar 1835 kamen die Delegierten des rechten Oderufers zusammen, am 3. März die des linken. Die unierten Kirchbehörden sollten konsequent als nicht mehr zuständig für die Lutheraner gelten. Scheibel und Guericke sollten damit beginnen, Pfarrer zu ordinieren.147 Eine Zentralbehörde für Angelegenheiten der ganzen Kirche sollte errichtet werden, die sogenannten „Synodal-Bevollmächtigten“, die Vorläufer des späteren Oberkirchenkollegiums. Die Synode lehnte es entschieden ab, der Verfolgung durch Emigration ins Ausland zu entgehen.148 Trotz dieses Synodalbeschlusses stellten einzelne Auswanderergruppen Anfang 1836 Anträge an die Provinzialregierungen, die zunächst abschlägig beschieden wurden. Minister von Altenstein fürchtete um das Ansehen Preußens, wenn Menschen um ihres Glaubens willen das Land verließen. Erst am 2. September 1837 erhielten diese Gruppen ihre Ausreisegenehmigungen. Während der Jahre 1837 und 1838 verließen über 2.000 Lutheraner Preußen.149 Trotz dieser Verluste wuchs die Zahl der Lutheraner stetig an. In ganz Preußen entstanden neue altlutherische Gemeinden: in Schlesien, Posen, Pommern, Brandenburg, Sachsen, West- und Ostpreußen wuchs die Gesamtzahl der Altlutheraner; bis 1840 auf ca. 10.000 Menschen.150 Die Verfolgung der jungen Kirche ging indes unvermindert weiter,151 solange König Friedrich Wilhelm III. und sein Kultusminister von Altenstein lebten.

146 Vgl. Nagel, Der Kampf um die lutherische Kirche (wie Anm. 49), 45f. 147 Vgl. hierzu auch den Konsistorialbericht aus Schlesien an den Kultusminister von Altenstein vom 9. August 1835, in dem August Hahn über die Synode der altlutherischen Bewegung und ihre beginnende Kirchwerdung berichtete, „welche das Vorhandenseyn eines constituirten Schisma in der Evangelischen Kirche documentiren“, und die ersten Ordinationen durch Scheibel und Guericke erwähnte, in: GStA PK, I. HA Rep. 76: Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44, Bd. 9, unpaginiert. 148 Vgl. Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 41), 118–121. 149 Eine Gruppe um Kavel reiste aus der Provinz Posen nach Australien, die Gemeinde aus Erfurt unter Grabau nach Nordamerika, eine Gruppe um den ehemaligen Scheibelschüler Fritzsche nach Australien und eine Gemeinde um Ehrenström und Kindermann nach Nordamerika. Zur Emigration aus Preußen während der Jahre 1837 und 1838 vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 159; Laubert, Provinz Posen (wie Anm. 137), 66–75; Christian-Erdmann Schott, Die Auswanderung der Altlutheraner nach Australien, in: JSKG.NF 64 (1985), 127–136; Wilhelm Iwan, Um des Glaubens willen nach Australien. Eine Episode deutscher Auswanderung, Breslau 1931, 25–93. 150 Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 161.

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

5.

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Die Konstituierung der „Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen“ unter Friedrich Wilhelm IV.

Die Zeit der Verfolgungen endete für die Altlutheraner mit dem Tod des Kultusministers von Altenstein am 15. April 1840 und des preußischen Monarchen Friedrich Wilhelm III. am 7. Juni 1840. Noch am selben Tag bestieg der Kronprinz152 als König Friedrich Wilhelm IV. den preußischen Thron. Er brach mit der restaurativen Politik seines Vaters und vollzog auch in der Religionspolitik eine Kehrtwende. In einer seiner ersten Amtshandlungen entließ er am 19. August 1840 die in Marienwerder zusammen inhaftierten altlutherischen Geistlichen und gestattete ihnen wieder den Kontakt mit ihren Gemeinden.153 Am 10. Oktober 1840 empfing der neue König den Professor Henrich Steffens154 und teilte ihm mit, dass er zum Frieden mit den Altlutheranern bereit sei. Er bat ihn, den Breslauern seinen Vorschlag zur Einigung zu unterbreiten. Danach sollten die während der Verfolgungszeit Ordinierten in ihrem Amt bestätigt und die Altlutheraner als Kirche anerkannt werden, wenn sie sich dazu bereitfänden, einen Delegierten in ein gemeinschaftlich von Reformierten und Lutheranern besetztes Konsistorium zu entsenden, das aber keinerlei Einfluss über innerkirchliche Fragen haben sollte. Im Gegenzug sollten die Laien aufhören, kirchliche Amtshandlungen zu verrichten. Der Rückkehr Scheibels stünde nun nichts mehr im Weg. Am 21. Oktober 1840 erklärten sich Scheibel und Husch151 Nach der Synode von 1835 gab es nur noch zwei altlutherische Gemeinden, deren Pastoren noch nicht suspendiert worden waren: Wellersdorf und Reinswalde in der Niederlausitz. Seit der Wellersdorfer Pfarrer Tauscher im Juni 1834 wieder die alte Agende verwendete, zogen die Altlutheraner in Scharen zu ihm. Der Reinswalder Pastor Schmeil wurde im Mai 1835 emeritiert. In dieser Notlage ordinierte Scheibel in Löbau in Sachsen am 24. Mai 1835 die Kandidaten Krause, Geßner und Kaul. Krause wurde Seelsorger für ca. 400 Lutheraner in der Gegend von Militsch, Groß- und Klein-Tschunkawe, Schwiebedawe, Juliusburg, Luzine und Bernstadt. Polizisten verhafteten ihn während eines Gottesdienstes und setzten ihn in Militsch in Haft. Heinrich Adolph Geßner (1803– 1878) wurde Pfarrer in Löwenberg. In Berlin wurde 1835 eine altlutherische Gemeinde gegründet, die erst Guericke, dann Ehrenström, ab 1838 Lasius als Pfarrer betreute. Im September 1836 legte Grabau in Erfurt die Agende beiseite und wurde daraufhin suspendiert. Am ersten Adventssonntag 1836 empfing seine Gemeinde ohne ihn von Scheibel das erste Abendmahl in Hottelstedt im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Die Gemeinde in Magdeburg entstand als Reaktion auf die Vorgänge in Hönigern. Ihr erster Geistlicher wurde Diakon Kaul. Zu den Vorgängen während der Verfolgungsjahre 1835 bis 1840 vgl. Nagel, Errettung (wie Anm. 125), 97–127. 152 Friedrich Wilhelm IV. hatte schon als Kronprinz den religionspolitischen Kurs seines Vaters entschieden abgelehnt und war bereits 1835 mit einem freilich ergebnislos gebliebenen Einigungsvorschlag für die altlutherische Bewegung aktiv geworden. Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 160. 153 Der Text dieser Kabinettsorder ist abgedruckt in: Scheibel, Archiv (wie Anm. 32), 243f. 154 Steffens hatte innerhalb der Breslauer Gemeinde einen eher moderaten Kurs vertreten. Er wäre bereit gewesen, die neue Agende anzunehmen, wenn darin die Formulierungen aufgenommen worden wären, die das lutherische Bekenntnis verlangte. Am 14. April 1832 wechselte er auf Vermittlung des Kronprinzen auf eine Professur in Berlin. Er wollte aber nicht die Freundschaft mit den Breslauern aufs Spiel setzen und wirkte für sie als Vermittler vor dem Kronprinzen. Vgl. hierzu Ludolphy, Steffens (wie Anm. 92), 101–107.

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ke mit diesem Vorschlag ihres neuen Königs einverstanden.155 Auch der neue Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn156 zeigte sich zunächst diesen Plänen gegenüber aufgeschlossen, rückte dann aber wohl aufgrund des Protestes, der ihn aus dem eigenen Ministerium und aus der unierten Kirche erreichte, wieder davon ab. Der Vorschlag des Königs verschwand in der Versenkung.157

Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, Leipzig 1842

Am 1. Juni 1841 forderte Eichhorn die Altlutheraner über Steffens auf, ihre Wünsche einzureichen. Die von der Synode von 1835 einberufenen Bevollmächtigten entsprachen dieser Bitte und legten am 15. August 1841 ihr „Ganz gehorsamstes Promemoria, die Bedingungen betreffend, unter denen der evangelisch-lutherischen Kirche im preußischen Staate gesetzlich Anerkennung zu Theil werden soll“158, vor. Darin forderten sie die Anerkennung als evangelisch-lutherische Kirche in Preußen mit eigener, auf den Bekenntnisschriften beruhender Verfassung und das Recht, selbst über ihre Agende bestimmen zu dürfen, – also das ius liturgicum. Darüber hinaus beanspruchten sie staatliche Anerkennung und Finanzhilfen beim Kirchen155 Teile des Schreibens von Huschke und Scheibel an Steffens sind zu finden in: Nagel, Die Kämpfe (wie Anm. 137), 177–179. 156 Zur Person dieses preußischen Staatsmannes vgl. Martin Friedrich, Art. Eichhorn, Johann Al4 brecht Friedrich, in: RGG 2 (1999), 1118f. 157 Zu dieser Initiative des Königs vgl. Nagel, Die Kämpfe (wie Anm. 137), 175–180. 158 Dieses Promemoria ist zu finden in: Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, Leipzig 1842, 97–103; ebenfalls in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 82–87.

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bau. Sie baten darum, ihre Pfarrer auch aus außerpreußischen Territorien berufen zu dürfen, und um die Errichtung eines lutherisch-theologischen Lehrstuhls in Preußen, deren erster Inhaber Scheibel sein sollte. Im Gegenzug erklärten sich die Bevollmächtigten dazu bereit, dem preußischen Staat das ius circa sacra zuzuerkennen. Dieses Promemoria wurde, versehen mit einem langen Begleitschreiben von Steffens bei Eichhorn eingereicht, der sich freundlich bedankte, zugleich aber darauf hinwies, dass es in der vorliegenden Form wohl keine Genehmigung erhalten werde. Die Sache ruhte bis in den Sommer 1842. Die am 15. September 1841 in Breslau zusammentretende Generalsynode ratifizierte die Arbeit der Bevollmächtigten, indem sie sich das Promemoria zu eigen machte. Der wichtigste Beschluss der Synode bestand aber in der Einrichtung eines Oberkirchenkollegiums, das von der Synode gewählt wurde und ihr rechenschaftspflichtig war. Als paritätisch aus Geistlichen und Weltlichen zusammengesetztes Gremium wurde es als „organisches Glied der Kirchenregierung“159 verstanden, das über die „Reinheit der Kirche in Lehre und Wandel“ wachen sollte und die Befugnis hatte, neue Gemeinden aufzunehmen, Geistliche anzustellen, Superintendenten zu ernennen, das Schulwesen zu überwachen, Synoden einzuberufen und die Kirche gegenüber dem Staat zu repräsentieren. Als erster Direktor des Oberkirchenkollegiums wurde der Jurist Huschke gewählt; Scheibel zum Ehrenmitglied mit beratender Stimme. Die Synode beschloss überdies, Kontakte zu den anderen lutherischen Kirchen im Deutschen Bund zu halten. Als lutherische Kirche wurden diejenigen Kirchen definiert, in denen das Konkordienbuch in Geltung stand, „es [sei hingegen] für Separatismus zu halten […], wenn Jemand blos um der falschen Lehre des Pastors willen, das Abendmahl von ihm zu empfangen […] Bedenken trage“160. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen vertrat also explizit den de jureStandpunkt zur Klärung der Frage nach Kirchengemeinschaft und nicht etwa den, der nach der Wirksamkeit der Bekenntnisschriften in der kirchlichen Praxis fragt. Dieser Wille zur innerlutherischen Gemeinschaft drückte sich auch in der Teilnahme des Leipziger Theologieprofessors Adolf Harleß und des Neuendettelsauer Pfarrers Wilhelm Löhe161 bei der dritten Generalsynode von 1848 aus. Die preußischen Lutheraner wurden auch von Teilen des lutherischen Auslands als legitime lutherische Kirche anerkannt.162 Mit der Generalsynode von 1841 ging die altlutherische Bewegung über in die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen; ihre Kirchwer-

159 Instruction für das Ober-Kirchen-Collegium der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, in: Beschlüsse (wie Anm. 158), 8–16, hier 11. 160 Verhältniß zu andern Kirchen in Hinsicht der Theilnahme an deren Gottesdiensten, in: Beschlüsse (wie Anm. 158), 91–95, hier 91. 161 Zur Person und Theologie der konfessionellen Lutheraner Adolf Harleß und Wilhelm Löhe vgl. Martin Hein, Art. Harleß, Gottlieb Christoph Adolf von, in: TRE 14 (1993), 444–446; Wolfhart Schlichting, Art. Löhe, Johann Konrad Wilhelm, in: TRE 21 (1991), 410–414; Hund, „Gewisse Einseitigkeiten“ (wie Anm. 145). 162 Vgl. Kantzenbach, Scheibel (wie Anm. 5), 109.

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dung hatte die entscheidende Hürde genommen. Die Synodalbeschlüsse wurden an den Staatsrat weitergeleitet. Die Regierung wollte indes den Gedanken von der einen preußischen Kirche nicht vorschnell aufgeben und beauftragte Eichhorn damit, sicherzustellen, dass die Lutheraner in irgendeiner Form doch noch an die preußische Landeskirche angegliedert würden. Um dies zu erreichen, fanden vom 3. Januar 1843 an in Breslau Verhandlungen staatlicher „Commissarien“ mit vom Oberkirchenkollegium benannten kirchlichen Delegierten statt, die aber zu keiner Einigung führten.163 Als auch dieses letzte Projekt des Kultusministers, doch noch eine Einigung zu erzielen, gescheitert war, erließ König Friedrich Wilhelm IV. am 23. Juli 1845 schließlich eine „Generalconcession für die von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner“, die die Bildung eines „Vereins“ der lutherischen Gemeinden unter einer selbstständigen Kirchenleitung erlaubte.164 Der Kirchentitel hingegen blieb ihnen verwehrt, und sie mussten weiterhin alle Stolgebühren an die Landeskirche abführen. Trotzdem wurde die Generalkonzession von den lutherischen Gemeinden angenommen und dem Ministerium angezeigt. In einem „Allerhöchste[n] Patent, die Bildung neuer Religionsgesellschaften betreffend“ vom 30. März 1847 wurde die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen als „aufgenommene, aber nicht öffentlich aufgenommene Religionsgesellschaft“ eingestuft, deren Oberkirchenkollegium nur als „Vorstand“ der Gemeinden galt. Die preußische Regierung wollte also zum einen den Lutheranern ihre Berechtigung nicht mehr absprechen, zum anderen musste sie aber die Rechte der unierten Kirche wahren. Dies erklärt die ambivalenten Kompromissformulierungen der Generalkonzession. Erst nach der Auflösung des preußischen Staates nach 1945 durften sich die Lutheraner in Preußen „Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche“ nennen, womit ihr Prozess der Kirchwerdung definitiv an sein Ende gelangte.

6.

Resümee und Ausblick

Schaut man zurück auf die um die Einführung der preußischen Union geführten Debatten, den Widerstand in Breslau, die Verfolgungszeit und die Kirchwerdung der Altlutheraner, so ergeben sich zwei theologische Argumente, mit denen der Breslauer Widerstand inhaltlich begründet wurde. Scheibel war bereits seit seinem

163 Bei den Verhandlungen, die bis in den Mai 1843 hinein geführt wurden, war August Hahn der Kopf der unierten Seite. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Nagel, Die Kämpfe (wie Anm. 137), 188– 210; Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 41), 149–158. Vom 13. September bis zum 13. Oktober 1844 fand die zweite Generalsynode der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen statt, bei der ein Zuwachs an Gemeindegliedern um 50% verzeichnet werden konnte, die in 17 Parochien betreut wurden. Vgl. Klän, Anfänge der altlutherischen Bewegung (wie Anm. 53), 167. 164 Vgl. die Generalkonzession für die von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirche sich getrennt haltenden Lutheraner vom 23. Juli 1845, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 35), 88f.

Johann Gottfried Scheibel und die „Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen“

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Studium in Halle ein expliziter Gegner des Territorialsystems,165 also der Vorstellung, dass sich die staatliche Herrschaftsgewalt auch über die Kirche erstrecke, nach der sich im Vormärz und der Restauration vor allem in Preußen die staatliche Politik richtete.166 Scheibel forderte demgegenüber die Freiheit der Kirche von allen staatlichen Eingriffen, also das ius in sacra als kirchlichen Besitz ein. Damit aber machte er die altlutherische Bewegung zur Avantgarde in der Entwicklung des juristischen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. Weder der preußische Staat noch die unierte Kirche ließen sich auf eine Diskussion über diese Forderungen ein. Der altlutherische Wunsch nach einer unabhängigen Kirche wurde mit den Juliprotesten von 1830 parallelisiert, die altlutherische Bewegung also mit den Forderungen der Demokraten gleichgesetzt, gegen die bekanntlich nach preußischer Lesart nur Soldaten halfen. Der Zusammenbruch der Monarchie und damit auch des landesherrlichen Kirchenregiments brachten jedoch im 20. Jahrhundert auch für die unierte Kirche ganz ähnliche, vom Staat gelöste Verfassungstypen mit sich, so dass dieser Dissens des 19. Jahrhunderts weitestgehend als erledigt gelten kann. Der zweite theologische Widerspruch von Breslauer Seite war die Ablehnung der Union, weil man die reformierte Kirche als Vorläufer des zeitgenössischen Rationalismus sah, vor dessen den Glauben zersetzenden Folgen man die lutherische Kirche bewahren zu müssen meinte. Die Unionssynode von 1822 mag dabei für Scheibel das Schlüsselerlebnis gewesen sein, weil seine rationalistischen Kollegen von Cölln und Schulz in seiner Sicht mit der gesamten kirchlichen Bekenntnistradition brachen und stattdessen ein von rationalistischen Aussagen geprägtes Dokument als neue Lehrgrundlage verpflichtend machen wollten. Der Grund für Scheibels Protest gegen die Union war also weniger die reformierte Kirche selbst, als vielmehr der Rationalismus, die Herrschaft der Vernunft in der Theologie, die der Breslauer als Vernunftvergötterung ablehnte und unter deren Vorzeichen er auch die reformierte Kirche sah. In seinem konfessionellen Luthertum ergaben sich bei genauerer Hinsicht aber ebenfalls Akzentverschiebungen zur reformatorischen Wittenberger Tradition. Im konfessionell-lutherischen Konzept Scheibels besteht die Gefahr der Schwerpunktverschiebung von der Orientierung an der Rechtfertigung des Gottlosen und der Person Christi hin zu einem vorgeschalteten Biblizismus, der sich historisch als Widerspruch gegen die aufklärerischen Eisegesen verstehen lässt, der aber für lutherische Theologie schwerlich das letzte Wort haben kann.167

165 Vgl. hierzu vor allem den Brief Scheibels an seinen Kollegen Gerhard. Breslau, 24. Juni 1830, in: Scheibel, Actenmäßige Geschichte 2 (wie Anm. 1), 74–77, und das Protokoll des Gesprächs zwischen Oberpräsident von Merckel und Scheibel am 15. Juni 1830, in: a.a.O., 45–51, hier 45: „v.M. begann das Gespräch damit, daß er die Befugniß des Königs aufstellte, Kirchenordnungen zu geben. S. Das ist das Territorial-System, aber nicht biblisch.“ 4 166 Vgl. Christoph Link, Art. Territorialismus/Territorialsystem, in: RGG 8 (2005), 165f. 167 So auch schon Stolle, Scheibel (wie Anm. 27), 87.

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In einem konsequenten Rückgang auf die Wittenberger Reformation wäre also im Vorfeld des Lutherjubiläums 2017 danach zu fragen, ob die Kritik Scheibels an den Reformierten nicht eigentlich jemand anderen meint, nämlich die theologische Position des Rationalismus, die es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts so überhaupt nicht mehr gibt, und danach, ob Christus als die Mitte allen evangelischen Denkens nicht auch der Herr über die Schrift, die von ihm zeugt, und der Gastgeber seines Abendmahles ist und bleibt, unabhängig vom Abendmahlsverständnis der Kommunikanten. Scheibel zumindest hat seinen alten Hallenser Studienfreund, den Breslauer Rationalisten David Schulz, 1841 in Nürnberg empfangen und ihn durch die Kunstschätze Nürnbergs geführt.168 Der Gegenstand ihrer Nürnberger Gespräche ist nicht überliefert, aber sie sprachen zumindest wieder miteinander und nicht mehr übereinander.

Summary An analysis of the confessional Lutheran approach is necessary if we hope to be able to understand the Breslau opposition to the Agenda of the Union, the Old Lutheran movement, and the formation of the “Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen” and its founding father. This paper, therefore, begins with an attempt to understand Johann Gottfried Scheibel’s theological approach, his contribution to the theological debate in the early 19th century and the resulting rejection of the new Prussian Agenda as a consequence of his position. The events which took place around the Augustana Jubilee of 1830 and ended with Scheibel’s exile are understood as a precursor of the persecution of the Old Lutheran movement during the years 1834 to 1840. The formation of the “Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen” is examined and the theological concerns of both Scheibel and the Old Lutheran Church are summarized and highlighted. In particular the criticism of the territorial system and the demand for an independent church, especially “in sacris”, is presented. On the other hand there is the rejection of any union with the Reformed church: their theological approach was placed on a level with contemporary Rationalism, and their deification of reason was an evil from which the Lutheran church was to be preserved at all costs.

168 Vgl. Froböß, Drei Lutheraner (wie Anm. 9), 25–27.

Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung bis 1850 Hellmut Zschoch

Grund und Gestalt der preußischen Union im Lichte ihrer Auseinandersetzung mit den schlesischen Altlutheranern 1.

Einleitung 1 „[S]o sehr ich wünschen muß, daß die reformirte und die lutherische Kirche in Meinen Staaten diese Meine wohlgeprüfte Ueberzeugung mit mir theilen möge, so weit bin Ich, ihre Rechte und Freiheit achtend, davon entfernt, sie aufdringen und in die2 ser Angelegenheit etwas verfügen und bestimmen zu wollen.“ „Ihr habt Euch schwer verschuldet. Ermahnungen, Erklärungen und zuletzt Drohungen, Monate hindurch fortgesetzt, sind fruchtlos aufgewendet worden, [um] Euch auf den gesetzlichen Weg der Ordnung und des Gehorsams zurückzuführen, selbst der leider zur Nothwendigkeit gewordenen Militärgewalt habt Ihr Euch zu widersetzen gewagt.“3

Beide Zitate stammen vom preußischen König Friedrich Wilhelm III., das erste aus dem Unionsaufruf vom 27. September 1817, das zweite aus der an die Mitglieder der renitenten schlesischen Kirchengemeinde Hönigern gerichteten Kabinettsorder vom 7. Februar 1835. Zwischen ihnen liegen gut siebzehn Jahre preußischer Kirchenpolitik, nicht zuletzt bestimmt vom Projekt der Union von Lutheranern und Reformierten in der einen Landeskirche. Am Anfang dieses Zeitraums steht ein Impuls, der die Zielperspektive des Landesherrn mit politischer Zurückhaltung

1

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Allgemeine Literaturhinweise: Erich Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten nach den Quellen erzählt, 2 Bde., Tübingen 1905–1907; Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungsband 6), Göttingen ²2010; J. F. Gerhard Goeters/Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992. Friedrich Wilhelm III., Kabinettsorder vom 27. September 1817, zit. nach: Gerhard Ruhbach (Hg.), Kirchenunionen im 19. Jahrhundert (TKTG 6), Gütersloh ³1982, 34. Friedrich Wilhelm III., Kabinettsorder an die Mitglieder der Kirchengemeinde Hönigern vom 7. Februar 1835, zit. nach: Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 527.

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Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung

verbindet, auf Rechte und Freiheiten der Kirchentümer rekurriert und die „Freiheit eigener Ueberzeugung“4 der landesherrlichen Verfügungsgewalt überordnet. Und am Ende findet sich ein kirchenpolitisches Resultat, das mit Drohungen, Strafen und Militäreinsatz erreicht wird und sich in der Etablierung von „Ordnung“ und „Gehorsam“ gegen Widersetzlichkeit und „Aufstand“ erschöpft.5 Wie konnte sich jener Impuls so eklatant in sein Gegenteil verkehren, wie die Irenik des Unionsaufrufes in reaktionäre Unduldsamkeit und Aggression umschlagen? Gerade wer Theologie im Kontext einer Nachfolgeorganisation jener preußischen Union treibt und wer sich auch in seinem gegenwärtigen kirchlichen Orientierungsbemühen von jenem Unionsimpuls angesprochen weiß, muss sich diesen Fragen historisch-theologisch stellen. Das Irritierende an den Vorgängen, die Johannes Hund uns so klar präsentiert hat,6 ist ja nicht, dass aus Unionsbemühungen auch Spaltungen hervorgehen. Das allein ließe sich als normale Begleiterscheinung solcher Prozesse verstehen. Das eigentlich Verstörende liegt vielmehr darin, dass der Unionsimpuls selbst unkenntlich wird, wenn er sich in die Einforderung von Gehorsam und Uniformität verwandelt. Das mag freilich auch Gründe haben, die schon in der Gestalt jenes Impulses selbst angelegt sind. Vor diesem Fragehorizont möchte ich den Blick im Folgenden darauf lenken, dass im Konflikt mit den schlesischen Altlutheranern ein grundlegendes Defizit der preußischen Union zum Vorschein kommt und die Grenzen der Unionspolitik markiert: der Ausfall einer klaren Vorstellung von Wesen und Gestalt der evangelischen Kirche, einer ekklesiologisch verantworteten Kirchwerdung. Ich möchte dem in zwei Schritten nachgehen, zuerst nach dem theologischen Kirchenbegriff der preußischen Union und sodann nach der Verbindung von Union und kirchlicher Rechtsgestalt fragen. Dabei wird deutlich werden, dass die zu konstatierenden Defizite zugleich auf ungenutzte Potentiale des Unionsimpulses verweisen.

2.

Kirche und Kirchengemeinschaft

Der Konflikt mit den schlesischen Lutheranern um Johann Gottfried Scheibel eskaliert im Umfeld des Augustana-Jubiläums von 1830.7 Am 4. April dieses Jahres ordnet Friedrich Wilhelm III. die Feier des Jubiläums in allen evangelischen Kirchen Preußens an. Dabei bezeichnet er die Confessio Augustana (CA) als „Hauptgrundlage der evangelischen Kirche“, als ein Zeugnis, „zu dessen Geist“ auch er 4 5 6 7

Friedrich Wilhelm III., Kabinettsorder vom 27. September 1817, in: Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 2), 34. Zitate: Friedrich Wilhelm III., Kabinettsorder vom 7. Februar 1835, in: Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 527. S. Hund, Johann Gottfried Scheibel, in diesem Band, 43–80. Vgl. Joachim Mehlhausen, Augustana-Jubiläum und Julirevolution (1830), in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 210–220; ders., Zur Wirkungsgeschichte der Confessio Augustana im 19. Jahrhundert. Eine historisch-theologische Skizze, in: MEKGR 30 (1981), 41–71.

Grund und Gestalt der preußischen Union

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sich „von Herzen bekenne“ und das geeignet sei, die „Einigkeit im Geiste“ unter den Gliedern der evangelischen Kirche „zu befördern“8. Weiter führt er aus, „daß es Mir angemessen erscheint, an dieses erfreuliche Ereigniß die weiteren Schritte zu knüpfen, durch welche das heilsame Werk der Union […] im Geiste meines Erlasses vom 27. September 1817 der Vollendung näher geführt werden kann.“9 Die CA gilt dem preußischen König, so viel ist deutlich, als Grundbekenntnis einer ohne weitere konfessionelle Spezifizierung „evangelischen“ Kirche, die in der von ihm initiierten Union Gestalt annimmt. Bei den „weiteren Schritten“ kann es sich nach Lage der Dinge nur um die verpflichtende Einführung der Agende handeln,10 deren Neuausgabe von 1829 die Variationsmöglichkeiten durch Provinzialanhänge gesteigert hatte, um den Agendengegnern entgegenzukommen, unter anderem durch die Zulassung explizit lutherischer Abendmahlsformulare.11 Das änderte freilich nichts daran, dass es gerade der Druck zur Einführung der Agende war, der die ekklesiologische Präzisierung des konfessionell-lutherischen Widerspruchs provozierte. Minister von Altenstein, an den die Kabinettsorder adressiert war, verdeutlicht die kirchenpolitische Richtung, indem er in seiner Denkschrift vom 16. April 1830 vom CA-Jubiläum als einem „günstigen Zeitpunkt“ spricht, „um die Unions-Sache durch einen neuen und allgemeinen Impuls im Ganzen und Großen weiterzuführen“12. Diese Weiterführung bleibt dann konzentriert auf die agendarische rituelle Vereinheitlichung der preußischen Landeskirche. Altenstein spricht davon, dass die „Agende selbst […] nun vermittelnd zwischen beide Confessionen“ trete, „indem sie ihre Bestimmung, das Kirchenbuch der evangelischen Kirche zu sein, […] erfüllt.“13 Nimmt man Altensteins Ansage, der – symbolisch durch den Ritus des Brotbrechens vollzogene14 – „Beitritt zur Union [sei] kein Confessionswechsel“15 hinzu, ist deutlich, dass der Kirchenbegriff der preußischen Unionspolitik auf die Gottesdienstgemeinschaft ausgerichtet ist, die durch die Agende als „Kirchenbuch“ normiert wird und in der die liturgische Einheit die Konfessionsdifferenz nicht 8 9

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Zit. nach: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 35. A.a.O., 35f. Zu den Grundlinien der Religionspolitik des Königs vgl. Gerhard Ruhbach, Die Religionspolitik Friedrich Wilhelm III. von Preußen, in: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, hg. von Bernd Moeller und Gerhard Ruhbach, Tübingen 1973, 307– 330. Vgl. den auf der Kabinettsorder fußenden Erlass vom 30. April 1830: „daß die allgemeine Einführung der Agende auch zu den Fortschritten der Union wesentlich beitragen werde“ (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 36). Bezeichnenderweise weicht der Erlass vor Rechtsfolgen der Union, insbesondere der Vereinigung von Gemeinden, zurück; selbst die Änderung der Gemeindebezeichnungen wird nur empfohlen. Einziger sichtbarer verbindlicher Ausdruck der Union ist der Ritus des Brotbrechens, der behördlich gefördert werden soll. Zum Agendenstreit vgl. Wilhelm H. Neuser, Agende, Agendenstreit und Provinzialagenden, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 134–159; vgl. hier 146–148 die Übersicht zu den Ausgaben der Berliner Agende. Zit. nach Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 478. Ebd. S. a.a.O., 479. A.a.O., 481.

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aufhebt, sondern in sich integriert. Für die Einheit dieser Kirche tritt offenbar das agendarische „Kirchenbuch“ an die Stelle der Bekenntnisse, deren Fortgeltung im Übrigen nicht näher bestimmt wird. Die hier zum Vorschein kommende implizite Ekklesiologie hatte auch schon den Unionsaufruf von 181716 gekennzeichnet, auf den Friedrich Wilhelm III. sich 1830 nicht ohne Grund beruft. Auch damals hatte der König erklärt, durch die von ihm projektierte Vereinigung gehe „die reformirte nicht zur lutherischen [Kirche] und diese nicht zu jener“ über, sondern „beide [sollten] eine neu belebte, evangelisch-christliche Kirche […] werden“, die an der „Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen eins sind“, festhalte.17 Angesichts der inhaltlichen Unbestimmtheit dieser „Hauptsache“ und des ihr zugeordneten Kirchenbegriffs18 blieb als konkrete Füllung des Unionsvorhabens der Appell zur Abendmahlsgemeinschaft. Dogmatische und rechtliche Aspekte einer Kirchenvereinigung blieben geradezu programmatisch ausgeklammert; gerade hierfür galt die eingangs zitierte Bekundung landesherrlicher Nichteinmischung, zunächst sogar für die rituelle Form der Abendmahlsgemeinschaft,19 für die sie Friedrich Wilhelm III. aber mit dem Agendenprojekt ab 1821 aufgab. Angesichts der 1830 erkennbaren Verzahnung des Unions- mit dem Agendenprojekt setzt der Kreis um Scheibel in seinen Beschwerden dem – theologisch nicht reflektierten – Konzept einer durch die Liturgie vereinten evangelischen Kirche einen dezidiert konfessionellen Kirchenbegriff entgegen, der die in der preußischen Kirchenpolitik ausgesparten dogmatischen und rechtlichen Aspekte in den Vordergrund rückt. Die in kurzen Abständen aufeinander folgenden Petitionen der Breslauer Anhänger Scheibels nehmen den Ansatz bei der Gottesdienstgemeinde durchaus auf, verbinden die liturgische Einheit aber sofort mit der dogmatischen. Schon in der ersten Bittschrift vom 27. Juni 1830,20 zwei Tage nach dem Augustana-Jubiläum, folgt auf die Schilderung, wie die Gemeinde durch die „bestimmte Lehre“ ihrer lutherischen Prediger die „alte Sitte“ des Gottesdienstes als „lebendige Einheit“ erfahren habe, das Resümee: „Diesen unsern Gottesdienst, wie er sich […] an unsre Lehre und 16

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Text: Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 2), 34f. Zu diesem Dokument vgl. Klaus Wappler, Der theologische Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27.9.1817 (ThA 35), Berlin 1978; ders., Reformationsjubiläum und Kirchenunion, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 93–115; Wilhelm Heinrich Neuser, Die Entstehung des preußischen Unionsaufrufes vom 27. September 1817, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Preußische Union: Ursprünge, Wirkung und Ausgang. Einblicke in vier Jahrhunderte evangelischer Kirchen- und Konfessionsgeschichte (UnCo 27), Bielefeld 2011, 45–78. Zitate nach: Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 2), 34. Vgl. Wappler, Der theologische Ort (wie Anm. 16), 113–117, der darauf hinweist, dass die Rede von lutherischer und reformierter bzw. evangelisch-christlicher „Kirche“ im Unionsaufruf sowohl juristisch wie theologisch Neuland markiert (zusammenfassend a.a.O., 117). Es liegt nahe anzunehmen, dass sich schon in dieser Begriffswahl das kirchenpolitische Interesse des Königs an der Effektivierung seines Kirchenregiments niederschlägt. Vgl. Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 2), 35. Text: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 37–41.

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Glauben anschließt, wollen wir unsern Kindern und Kindeskindern überliefern“21. Die zweite Bittschrift vom 26. Juli 183022 präzisiert: Es ist die Einheit von Glaubensbekenntnis und Gottesdienst, die die Gemeinde konstituiert. Das Fehlen eines formulierten Bekenntnisses vernichtet „die Natur der Kirche“ und baut eine Pseudokirche auf „Gleichgültigkeit“ und „Lauigkeit“: „der Schein der Liebe, in den sie [= die Union] sich kleidet, ist eben nur ein Schein, sie selbst nichts als eine Höflichkeitsbezeugung, in der man gegenseitig mit dem liberal thut, was man nicht hat, nämlich mit dem Glauben“23. Gerade die Anerkennung der „vorhandenen, widersprechenden Confessionsbücher[n] beider Kirchen“ und deren Überwölbung durch die gemeinsame Agende zerstört die kirchliche Basis.24 Zur Einheit des Bekenntnisses gehört hier die „Untheilbarkeit eines Glaubensbekenntnisses“25, es ist mithin unzulässig, einzelne Lehrdifferenzen als nicht einheitsstörend zu qualifizieren. Die Argumentation der schlesischen Altlutheraner weist also ein klares ekklesiologisches Profil auf: Kircheneinheit ist durch das Dogma bestimmt, nicht durch die Liturgie.26 Dass dieses Dogma für sie in den lutherischen Bekenntnisschriften enthalten ist, erscheint dabei fast nebensächlich: Nirgendwo berufen sich die Breslauer unmittelbar auf die Bekenntnisschriften,27 obwohl es beispielsweise ein Leichtes wäre, CA VII gegen das Konzept von der Agende als Grundbuch der kirchlichen Einheit in Stellung zu bringen. Ihre Argumentation ist vielmehr eine prinzipiell

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A.a.O., 38. Text: a.a.O., 41–48. A.a.O., 44. Diese polemische Formulierung weist darauf hin, dass sich in der Wahrnehmung des Scheibelkreises Union und Rationalismus ineinander verschlingen (vgl. dazu den Beitrag von Hund, Johann Gottfried Scheibel, in diesem Band, 43–80). Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 44. Ebd. Das hier vertretene Verständnis von Kircheneinheit kann dann auch christologisch überhöht werden; vgl. in der Bittschrift vom 26. Juli 1830: „Jesus Christus will nicht den zerstreuten Glauben Einzelner. Er will Gemeinden, die so untereinander eins seyen, wie Er und der Vater eins sind“ (a.a.O., 46). Insofern geht es auch im Agendenstreit nicht um einzelne liturgische Zugeständnisse, sondern um die „wahre Kirche“. Das zeigt deutlich auch Scheibels Einlassung vom 18. April 1831 im Gespräch mit Bischof Daniel Amadeus Neander (1775–1869), dem einflussreichen Mitarbeiter Altensteins, mit der er einen distinkten konfessionellen Kirchenbegriff herausstellt: „daß das Vergönnen dieses ganzen Kirchenbuches selbst als Agendennachtrag oder der Wittenberger Agende noch nicht die lutherische Kirche ausmache oder erhalte. Aber eben darum handelt es sich, indem alles andre davon abhängt, vorzüglich. Diese Kirche, ihre Selbständigkeit und vollkommene Eigentümlichkeit, mit alle dem, was sie […] über kirchliche Gemeinschaft und Nichtgemeinschaft als Bekenntnis in ihren symbolischen Büchern aufgestellt hat, ist meinem Gewissen so teuer, daß nur göttliche H. Schrift mich widerlegen kann […]. Und abermals: Ganz allein von der Frage kann für mich die Rede sein: darf noch eine lutherische Kirche im Preußischen Staate sein oder nicht?“ (zitiert nach Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 [wie Anm. 1], 270f.). In der Eingabe vom 26. Juli 1830 begnügen sie sich mit einer nicht ganz vollzähligen Aufzählung von Bekenntnisschriften, indem sie auf die CA und deren Apologie sowie auf die Schmalkaldischen Artikel und die Konkordienformel verweisen (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 46). In der Petition vom 4. April 1834 (a.a.O., 57–68) ist dann von „den bekannten sechs symbolischen Schriften“ die Rede (a.a.O., 60), also einschließlich der beiden Katechismen Luthers.

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konfessionelle, die der Behauptung eines konfessionsübergreifenden Einheitsmoments mit grundsätzlicher Skepsis begegnet. Die Petitionen der Schlesier laufen ins Leere; die ersehnte Antwort des Königs bleibt aus. Der Konflikt verlagert sich durch die Suspendierung der beteiligten Prediger28 ganz auf die disziplinarische Ebene. Eine theologische Entgegnung, etwa auf der Basis von CA VII,29 fällt aus – unverkennbar eine Folge der Behandlung der Kirchenangelegenheiten als Fragen staatlicher Ordnung, aber auch des mit der kirchenpolitischen Konzentration auf die Gottesdienstunion verbundenen Ausweichens vor Fragen von Lehre und Kirchenordnung, die den staatskirchlichen Rahmen zu sprengen drohen. Dass der kirchlichen Einheit von Lutheranern und Reformierten durchaus ein theologisch reflektiertes Kirchenverständnis zugrunde gelegt werden konnte, zeigen im Zusammenhang des CA-Jubiläums von 1830 exemplarisch die Predigten Friedrich Schleiermachers über das Augsburger Bekenntnis.30 Für Schleiermacher gründet die Einheit der evangelischen Kirche gerade nicht in der Gemeinsamkeit eines geschichtlichen Bekenntnistextes (und natürlich erst recht nicht in der Agende), sondern in der Freiheit des Christenglaubens, in der sich Christen verschiedener Profile in ihrem Suchen nach Ausdruck und Gestalt dieses Glaubens verbunden wissen dürfen: „Wir sollen Rechenschaft ablegen von dem Grunde der Hoffnung.31 Aber keiner wolle doch die Worte jenes Bekenntnisses selbst für den Grund unserer Hoffnung halten. Nur Christus ist der Grund unsrer Hoffnung; ob nun der von Allen auf die gleiche Weise ausgedrükkt wird oder anders von Anderen, darin laßt uns Freiheit gestatten. Kommen wir immer einstimmig auf ein und dasselbe zurükk: so sei uns das ein neues Zeugniß, wie richtig schon Jene gesprochen haben, die zuerst die Fahne des Glaubens wieder aufpflanzten. Kommen wir auf etwas anderes: – nun, Jene bildeten sich auch nicht ein[,] schon vollkommen zu sein. Daß aber dasselbe Verhältniß des Vertrauens, dieselbe Gemeinschaft des Geistes, dieselbe Mittheilung unter denen, die berufen sind im Worte Gottes zu forschen, bleiben möge unter uns, das ist der große Gegenstand unsrer Sorge, damit wir ebenfalls nicht nur jeder für sich, sondern auch als Eine Gemeinde bereit sein können zur Verantwortung.“32 28 29 30

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Vgl. Wolfgang Nixdorf, Die lutherische Separation. Union und Bekenntnis (1834), in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 224–227. Vgl. Wilhelm Schneemelcher, Confessio Augustana VII im Luthertum des 19. Jahrhunderts, in: EvTh 9 (1949/50), 308–333. Die Predigten wurden zwischen dem 20. Juni und dem 7. November 1830 gehalten; Erstveröffentlichung erfolgte 1831; Text: Friedrich Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, Bd. 3: Dogmatische Predigten der Reifezeit, ausgewählt und erläutert von Emanuel Hirsch, Berlin 1969, 13–154. Zu Schleiermachers Rolle in den entsprechenden Diskussionen insgesamt vgl. Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen. 1799–1823 (UnCo 20), Bielefeld 1997. 1Petr 3, 15 war der für den Festtag vorgegebene Predigttext. Schleiermacher, Kleine Schriften 3 (wie Anm. 30), 34. Vgl. auch a.a.O., 33: „Es ist gewiß ein großer Segen, wenn die Christen übereinstimmen in der Art, wie sie ihren Glauben ausdrükken; aber das darf nicht erzwungen werden, sondern muß frei sein“.

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Neben dem Tatcharakter des Bekenntnisses33 erfreut Schleiermacher an der CA, dass sie „mit rechter Klarheit, mit dem größten Ernst, Demuth und Treue des Herzens den einen großen Hauptpunkt des Glaubens aufgefaßt und dargelegt hat“, das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung.34 Wenn Schleiermacher darin den „wahre[n] Geist dieses Bekenntnisses“35 erblickt, lässt sich das geradezu als Kommentar dazu verstehen, dass sich auch Friedrich Wilhelm III. „zu dessen Geist […] von Herzen“ bekannt hatte.36 Schon 1804 hatte sich Schleiermacher im ersten seiner beiden „Unvorgreiflichen Gutachten“ zur „Trennung der beiden protestantischen Kirchen“ geäußert37 und einen Vorschlag zur Überwindung dieser Trennung vorgelegt. Schon damals wandte er sich gegen die „Uniformitätssucht“ der Forderung nach einem Einheitsbekenntnis und polemisierte gegen die Festlegung auf „einen mittleren Proportionalglauben“38. Demgegenüber unterschied er zwischen „den ersten Principien des Christenthums“ und „den Verschiedenheiten der Lehrmeinungen und denen der Verfassungen und Gebräuche“, die als solche die „Trennung der Kirchengemeinschaft“ nicht begründeten.39 Zwischen den protestantischen Konfessionen besteht für Schleiermacher keine Differenz im Glauben; misslich ist daher gar nicht die Tatsache der Existenz verschiedener konfessionell bestimmter protestantischer Kirchen,40 sondern die „damit verbundene[ ] Trennung der Kirchengemeinschaft“41. Sowohl die Ausarbeitung eines vermittelnden Einheitsbekenntnisses wie die Verordnung der „Annäherung in äusseren Gebräuchen“ hält Schleiermacher für ungeeignete Mittel zur Aufhebung dieser Trennung – und nimmt in seiner Argumentation die Probleme von Union und Agende nach 1822 geradezu vorweg.42 Er gelangt zu dem Ergebnis, „daß es darauf ankommt, die Kirchengemeinschaft herzustellen, ohne daß die Unterschiede im Lehrbegriff und die Abweichungen im Rituale angetastet werden dürfen“43. Als hinreichenden Schritt zur Herstellung der Kirchengemeinschaft von Lutheranern und Reformierten empfiehlt er daher die 33 34 35 36 37

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S. a.a.O., 29–32. A.a.O., 28; vgl. auch die CA IV gewidmete Predigt, a.a.O., 52–64. A.a.O., 29. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 35. Text: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Stolper Zeit (1802–1804), Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 4 (KGA I/4), hg. von Eilert Herms, Günter Meckenstock und Michael Pietsch, Berlin/New York 2002, (LXXI–LXXXIII) 359–460. Vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung (BHTh 77), Tübingen 1989, 175–180. Schleiermacher, KGA I/4 (wie Anm. 37), 370, 7f. A.a.O., 370, 11.29f.32. Vgl. a.a.O., 387, 32–388, 4. A.a.O., 388, 5f. Vgl. Ohst, Bekenntnisschriften (wie Anm. 37), 175f.: „Auf diesen beiden Determinanten, dem Festhalten an der Existenzberechtigung der historisch gewachsenen Individualitäten und dem Insistieren darauf, daß sie keine kirchentrennende Bedeutung haben, baut alles auf, was Schleiermacher in den verschiedenen Debatten zur Unionsfrage beigetragen hat.“ Vgl. Schleiermacher, KGA I/4 (wie Anm. 37), 388, 9–392, 2. A.a.O., 392, 4–6.

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Freigabe des Sakramentenempfangs bei beiden protestantischen Konfessionen und die Entkopplung der Sakramentspraxis von der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Konfession.44 Es ist deutlich, dass Schleiermacher 1830 die Gedanken jenes frühen Gutachtens weiterführt und zum Teil präzisiert. Ebenso deutlich ist, dass sein Vorschlag von 1804 jedenfalls nicht fern von dem ist, wozu der preußische König 1817 aufruft. Schleiermachers CA-Predigten formulieren, was mit der Rede von „den ersten Principien des Christenthums“ von 1804 gemeint sein könnte – und mit der „Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen eins sind“ im Unionsaufruf Friedrich Wilhelm III. Vor allem aber liefert Schleiermacher mit dem Begriff „Kirchengemeinschaft“45 eine ekklesiologische Figur, die geeignet ist, das theologische Kirchenverständnis, das der preußischen Union zugrunde liegt, reflektiert zu formulieren. Kirchengemeinschaft gründet für Schleiermacher im Gemeinsamen des reformatorischen Glaubensverständnisses, das als Rechtfertigungstheologie fassbar ist. Die so begründete Kirchengemeinschaft findet ihren Ausdruck in der realen gottesdienstlichen Gemeinschaft; insofern ist sie nicht zu verwechseln mit der geglaubten Kirche, die sich mit den Worten des Credo als „Gemeinschaft der Heiligen“ beschreiben lässt. Sie fällt aber auch nicht zusammen mit konfessionellen Kirchentümern und ist schließlich auch von einer überkonfessionellen Einheitskirche klar zu unterscheiden.46 Für die Kirchwerdung der preußischen evangelischen Landeskirche ist dieser Ansatz beim Begriff der Kirchengemeinschaft nicht produktiv genutzt worden. Er hätte eine Separation überzeugungstreuer Konfessionalisten vielleicht nicht verhindern können, hätte deren theologische Implikationen und Alternativen aber gewiss deutlicher zu klären erlaubt. Nicht umsonst ist das Konzept der Kirchenge44

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S. a.a.O., 392, 11–23. Damit schlägt Schleiermacher im Grunde nur vor, die im Allgemeinen Preußischen Landrecht (Kirchenfragen: Teil II, Titel XI: http://ra.smixx.de/Links-F-R/PrALR/ PrALR-II-11.pdf [Stand: 18.2.2013]) in § 39 enthaltene Ausnahmeregelung zur Regel zu machen und § 42 diesbezüglich außer Kraft zu setzen. Ergänzend rät er, die Pfarrstellenbesetzung ohne Rücksicht auf die Konfessionszugehörigkeit vorzunehmen: „daß also der Staat oder wer sonst ein Recht hat, einen Prediger zu berufen, nicht mehr nöthig haben wird zu fragen, welchen Ritus er bisher mit seinem Amte gedient habe, oder welcher Confession er mit seinen Meinungen zugethan sey, sondern es muß in allen Fällen erlaubt seyn, Prediger von lutherischen zu reformirten Kirchen zu berufen und umgekehrt“ (Schleiermacher, KGA I/4 [wie Anm. 37], 402, 5–17). Zur Geschichte dieses Begriffs liegen m. W. bislang keine Untersuchungen vor. Leider ist er auch im Grimmschen Wörterbuch nicht verzeichnet. Leider hat Schleiermacher sein Kirchenverständnis auch in den CA-Predigten nicht auf CA VII bezogen, obwohl es sich ohne Weiteres als Aktualisierung des dort Formulierten verstehen lässt. Dass Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Grund und Ausdruck der Kirchengemeinschaft sich nicht mit dem Verständnis der Agende als einheitsstiftendem „Kirchenbuch“ verträgt und insofern der preußischen Kirchenpolitik in Sachen Union und Agende kritisch gegenübersteht, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Zu Schleiermachers Kirchenverständnis vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Kirche, in: Friedrich Huber (Hg.), Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsverständnis (VKHW.NF 3), Neukirchen-Vluyn/Wuppertal 2000, 50–81.

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meinschaft im 20. Jahrhundert für die Beziehung der protestantischen Konfessionen untereinander neu aufgegriffen und in der Leuenberger Konkordie 1973 ausgebaut worden, dann freilich fern von staatskirchlicher Einbindung und liturgischer Uniformitätssucht.

3.

Kirche und Kirchenverfassung

Indem die schlesischen Altlutheraner gegenüber dem Landesherrn auf der Einheit von Bekenntnis und Gottesdienst für das Kirchesein einer – in ihrem Fall der lutherischen – Kirche bestehen, fordern sie zugleich eine Rechtsgestalt der Kirche, die dieser Einheit Rechnung trägt.47 Schon der erste Satz der ersten Bittschrift vom 27. Juni 1830 lautet: „Ein Theil der lutherischen Gemeinde in Breslau bittet allerunterthänigst um die Fortdauer der Selbstständigkeit ihrer Kirche.“48 Und an deren Ende wird deutlich, dass die erbetene Aufhebung der Suspendierungen der Prediger nur als erster Schritt zur Anerkennung als konfessionsbestimmte Kirche gedacht ist: Der König möge „uns durch Anerkennung einer besondern, von der allgemeinen evangelischen getrennten, lutherischen, mit ihrer eigenthümlichen Verfassung versehenen und zur Anstellung von Lehrern ihres Sinnes berechtigten Kirche allergnädigst sicher […] stellen.“49 Das heißt, die Altlutheraner verlangen den Rechtsstatus einer „öffentlich aufgenommenen Kirchengesellschaft“ entsprechend dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794.50 Die zweite Bittschrift vom 26. Juli präzisiert diese Forderung durch die Formulierung „Fortdauer der lutherischen evangelischen Kirche“51. Ausdrücklich beruft sie sich auf die reformatorische Scheidung von weltlichem und geistlichem Regiment und die damit gegebenen Grenzen christlicher Gehorsamspflicht sowie auf die im Allgemeinen Preußischen Landrecht garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit52 und übt damit 47

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Vgl. in der Petition vom 4. April 1834 die ausdrückliche Nennung von „drei Bestandtheilen, welche das Dasein einer Kirche auf Erden ausmachen, Bekenntniß eines bestimmten Glaubens, diesem gemäßen Gottesdienst und eigenthümlicher Verfassung und Leitung der kirchlichen Angelegenheiten“ (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 58). In modifizierter Weise ist der Gedanke der Einheit von Bekenntnis und Kirchenordnung in der Bekennenden Kirche aufgenommen worden, vgl. dazu die Erklärung zur Rechtslage der Barmer Reichsbekenntnissynode (29.–31. Mai 1934) sowie die 3. These der Barmer Theologischen Erklärung, in: KJ 60–71 (1933–1944), Gütersloh ²1976, 72f. und 71. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 37. A.a.O., 40. S. Landrecht, Teil II, Titel XI (wie Anm. 44), §§ 17–19. Scheibel hatte in seiner Eingabe vom 3. Juni 1830 noch bloß darum gebeten, den Lutheranern „die Stätte und die Art und Weise ihres stillen Gottesdienstes nach ihrer Wittenberger Agende [zu] gewähren, wie die Brüdergemeine, Mennoniten, Israeliten erfahren“ (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 34f.), dass sie also an die Seite der „geduldeten Kirchengemeinschaften“ des Allgemeinen Preußischen Landrechts (s. a.a.O., §§ 20–26) gestellt würden. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 42. S. a.a.O., 45; vgl. Landrecht, Teil II, Titel XI (wie Anm. 44), §§ 1–6.

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scharfe Kritik an der in der Unions- und Agendenpolitik manifesten Ausdehnung des landesherrlichen Regelungsanspruchs.53 1831 verdichtet sich diese Kritik zu der Forderung, die Selbstständigkeit der „von der unirten Kirche in Preußen getrennte[n] Kirche nach dem göttlichen Wort und unsern darauf gegründeten Lutherischen Bekenntnißschriften“ in „eine von der Gemeinde zu gebende, nach der heiligen Schrift Neuen Testamentes einzurichtende Presbyterial-Verfassung“ zu gießen.54 Und 1834, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, heben die schlesischen Altlutheraner in ihrer Petition vom 4. April, die den Charakter einer apologetischen Denkschrift mit besonderer Akzentuierung des Rechtsstandpunktes hat, darauf ab, dass es sich bei der Unionskirche um eine Neubildung,55 noch dazu um „eine erweiterte reformirte Kirche“56 handle, so dass die Leitungsvollmacht ihrer nicht länger konfessionell bestimmten Organe von bekenntnisbestimmten Gemeinden nicht anerkannt werden könne.57 Unter Berufung auf die staatskirchenrechtlichen Normen vom Augsburger Religionsfrieden über den Westfälischen Frieden und das Allgemeine Preußische Landrecht bis hin zum Unionsaufruf von 181758 werden die „Fernhaltung alles Zwanges und bürgerlicher Autorität und die Respectirung der bestehenden Kirchen und ihrer Rechte“ eingefordert.59 Daraus ergibt sich die erneut juristisch präzisierte Forderung, „die lutherische Kirche als eine im Bekenntniß ihres, in den bekannten sechs symbolischen Schriften ausgesprochenen Glaubens, in ihrem Gottesdienste und in ihrer Verfassung, Verwaltung und ihrem Schulwesen freie selbständige Kirche, ihren alten Rechten gemäß wiederum anzuerkennen“60. Gegen das landesherrliche Kirchenregiment, das sich eine eigene, aus der Sicht jener Lutheraner „fremde[ ] Kirche“61 geschaffen hat, wird damit ein eigentümlich kirchliches, mit Bekenntnis und Gottesdienst untrennbar verbundenes Kirchenregiment beansprucht. Scheibel selbst war zu der Überzeugung gelangt, eine presbyterial-synodale Kirchen- und Ämterordnung entspreche dem neutestamentlichen Zeugnis,62 so dass sich in der Folge seine Anhänger im Interesse konfessionsbe53

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Das geschieht natürlich mit rhetorischer Ermäßigung, indem diese Politik den Behörden angelastet wird und nicht dem Landesherrn, auf dessen Unionsaufruf man sich hier ausdrücklich beruft (Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 47). Wünsche der lutherischen Gemeinde Breslau, eingereicht am 2. Mai 1831, a.a.O., 55. S. z. B. a.a.O., 58: Es handelt sich um die „Bildung einer neuen aus der lutherischen und reformirten zusammengesetzten Kirche, unter dem Namen der unirten oder evangelischen Landeskirche“. A.a.O., 66. S. a.a.O., 59. S. a.a.O., 61–67. A.a.O., 62. A.a.O., 60. A.a.O., 63. Schon die Petition vom 26. Juli 1830 ließ in der Parallelisierung des unierten mit dem katholischen Gottesdienst (a.a.O., 41) erkennen, dass die Petenten die Unionskirche als dezidiert fremd empfanden. Vgl. auch die Petition vom 1. November 1830, in der der Union ein „fremder Geist“ (a.a.O., 53) attestiert wird. Vgl. Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 256; vgl. a.a.O., 271.

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stimmter kirchlicher Selbstständigkeit ausgerechnet bei ursprünglich reformierten Kirchenverfassungsidealen bedienten! Noch deutlicher als im theologischen Kirchenverständnis zeigt sich beim Verlangen nach einer dezidiert kirchlichen Kirchenverfassung, dass die schlesischen Altlutheraner in ihrem Konflikt mit dem Kirchenregiment ihres Landesherrn nicht einfach einen konfessionell-lutherischen Standpunkt vertraten. Vielmehr kehrten bei ihnen im Gewande des lutherischen Konfessionalismus die kirchlichen Reformdiskussionen wieder, die sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts entsponnen und die sich nach dem Ende der Befreiungskriege ab 1814 verstärkt hatten.63 Sie basierten zum einen auf dem Allgemeinen Preußischen Landrecht mit seiner im Sinne des Territorialismus vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche, in der allerdings das Kirchenverständnis „kollegialistisch geprägt“ und an der Ortsgemeinde orientiert blieb,64 zum anderen auf den Stein-Hardenbergschen Reformen der preußischen Staatsverwaltung, die die evangelischen Kirchen unmittelbar betrafen, zu denen sich die Reformbestrebungen aber nicht selten auch gegenläufig verhielten.65 So wurde im Zuge dieser Reformen Ende 1808 die Zuständigkeit für die sogenannten geistlichen Angelegenheiten in der Abteilung Kultus der Sektion für den Kultus und den öffentlichen Unterricht im Innenministerium konzentriert. Diese Ministerialabteilung erhielt sowohl das ius circa sacra, die gesamte Rechtsgewalt über die äußeren Verhältnisse aller Kirchentümer, als auch speziell für die Protestanten – und zwar für Reformierte und Lutheraner gemeinsam – das ius in sacra, die Zuständigkeit für die inneren Kirchenangelegenheiten, die bis dahin bei den zwar landesherrlich eingesetzten, aber konfessionell bestimmten Konsistorien gelegen hatten. Gerade in Schlesien erhob sich gegen die bürokratisch-territorialistische Neujustierung des Kirchenregiments Protest; die niederschlesischen Superintendenten verlangten im März 1809: „Sire, geben sie die protestantische Kirche sich selber wieder. Wir haben keine protestantische Kirche mehr. Was wir haben, ist ein bloßer Schatten des Verlorenen.“66 Noch ohne den konfessionalistischen Akzent wird in diesem Protest genau diejenige Forderung nach einer dezidiert kirchlichen Kirchenordnung laut, die gut zwanzig Jahre später von den Altlutheranern erhoben wird. Mit ihr sollten sie sich dann nicht nur gegen die 1817 angebahnte Gottesdienstunion und das ihr folgende Agendenprojekt zur Wehr setzen, sondern in der spätestens 1834 erkennbaren Konsequenz auch gegen die konfessionsübergreifende „Verstaatlichung aller 63 64

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Vgl. J. F. Gerhard Goeters, Die kirchliche Reformdiskussion, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 83–87; Geck, Schleiermacher (wie Anm. 30). Vgl. zum Landrecht J. F. Gerhard Goeters, Bekenntnis und Staatskirchenrecht: Das Wöllnersche Edikt (1788) und das Allgemeine Preußische Landrecht (1794), in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 46–54, hier 51–54 (Zitat 51). Text der die Kirchen betreffenden Bestimmungen s. oben Anm. 44. Vgl. J. F. Gerhard Goeters, Die Reorganisation der staatlichen und kirchlichen Verwaltung in den Stein-Hardenbergschen Reformen: Verwaltungsunion der kirchenregimentlichen Organe, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 54–58. Zitiert a.a.O., 57.

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kirchenleitenden Behörden“67 von 1808, deren Ergebnis J. F. Gerhard Goeters treffend als „eine Art praktischer Verwaltungsunion der Protestanten in den Leitungsorganen“ bezeichnet.68 Diese Union geht dem Unionsaufruf von 1817 voraus, und es ist Teil der preußischen Unionspolitik, sie nicht infrage zu stellen oder stellen zu lassen. Das zeigt vor allem die zögerliche bis abwehrende Haltung zu presbyterialsynodalen Kirchenverfassungsmodellen, wie sie schon 1808/1809 verschiedentlich propagiert wurden. Unter anderem propagierte Schleiermacher in seinem nicht veröffentlichten „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate“ von 180869 eine presbyteriale Gemeindeordnung in Verbindung mit Pfarrersynoden und einem kollegialen Bischofsamt. Für ihn sind Kirchenverfassungsreform und Unionsgedanke unlösbar miteinander verbunden: „Um in diese [Kirche] eine Einheit zu bringen […], ist aber durchaus nothwendig, daß der kirchliche Unterschied zwischen Lutheranern und Reformirten gänzlich aufgehoben werde, und die protestantische Kirche in diesem Staate durchaus nur Eine sey.“70 Anfang 1813 legte Schleiermacher einen weiteren, ebenfalls unveröffentlichten, umfangreichen Verfassungsentwurf vor, jetzt reduziert auf eine wiederum beide protestantischen Kirchentümer umfassende Synodalordnung.71 Seine Empfehlung einer Adaption der reformierten Kirchenordnungstradition war Teil von Reformdiskussionen, in denen es neben der – übrigens gerade in Schlesien lebendigen72 – Forderung nach Synoden unter anderem auch um eine agendarische Erneuerung ging. Sie mündeten 1815 in das Gutachten einer königlichen Reformkommission73, das zum einen die liturgischen Ambitionen Friedrich Wilhelm III. auf das Agendenwerk lenkte, zum anderen die Etablierung von – freilich auf eine beratende Funktion beschränkten – Pfarrersynoden, nach Möglichkeit für beide protestantischen Konfessionen gemeinsam, in Gang setzte. Schleiermacher mahnte die

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Ebd. A.a.O., 58. Text: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kirchenpolitische Schriften, Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 9 (KGA I/9), hg. von Günter Meckenstock unter Mitwirkung von Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 2000, (XXV–XXX) 1–18. Vgl. Geck, Schleiermacher (wie Anm. 30), 66–74. Schleiermacher, KGA I/9 (wie Anm. 69), 4, 21–25. Zur Erreichung der Einheit wiederholt Schleiermacher seinen Vorschlag von 1804 (a.a.O., 4, 32–5, 6). Synodalordnung für die protestantische Geistlichkeit in sämtlichen Provinzen (Entwurf vom 2. Januar 1813; nicht veröffentlicht); Text: Schleiermacher, KGA I/9 (wie Anm. 69), (XXXII– XXXVII) 29–42. Vgl. Geck, Schleiermacher (wie Anm. 30), 88–94. Vgl. Goeters, Die kirchliche Reformdiskussion (wie Anm. 63), 84. Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 252, weist darauf hin, dass „die Schlesier […] niemals ein solches [= landesherrliches Kirchenregiment] gekannt“ hatten, und betrachtet auch deshalb die „Durchführung des landesherrlichen Kirchenregiments […] als den Kern des Kampfes um die Agende“ (a.a.O., 251). Vgl. Goeters, Die kirchliche Reformdiskussion (wie Anm. 63), 85; Text: Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 1 (wie Anm. 1), 319–395.

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baldige Einführung einer synodalen Ordnung nun auch publizistisch an.74 Beide Vorhaben, Agende und Synodalordnung, stehen im Hintergrund des Unionsaufrufes von 1817, auch wenn er diesen Zusammenhang eher verschleiert, so dass insofern die zurückhaltende Rhetorik des Aufrufs auch die Unwilligkeit des Königs zu entschlossenem kirchenreformerischem Handeln markiert. Unmittelbar nach der Feier des Reformationsjubiläums mit dem Unionsabendmahl zeichnete sich zudem mit der Zuordnung der geistlichen Angelegenheiten zu einem eigenständigen Ministerium für Kultus und Unterricht unter Karl von Altenstein75 eine kirchenpolitische Neuausrichtung ab, die ab 1819 nach den Karlsbader Beschlüssen ins Fahrwasser der Reaktion geraten sollte – mit der Folge, dass das Synodalwesen fortan gebremst wurde und auch der Plan einer synodalen Bekräftigung der Union aufgegeben wurde.76 König und Minister strebten vielmehr zunehmend danach, ihre territorialistisch verstandene kirchliche Regelungsgewalt auch über den inneren Bereich kirchlichen Rechts, das ius in sacra, auszudehnen, wie das Agendenprojekt deutlich zeigt. Den sich verstärkenden politischen Uniformitätsdruck auf die evangelische Kirche kritisiert Schleiermacher in seinen CA-Predigten – nicht ausdrücklich, aber doch implizit –, wenn er darauf abhebt, im Wesen der Kirche liege es, „keinen Einzelnen weiter zu binden als sein eigenes Gewissen ihn bindet unter dem Worte Gottes, auf daß wir uns der Freiheit der Kinder Gottes in ihrer ganzen Kraft erfreuen“.77 Diese Aneignung eines reformatorischen Kirchenverständnisses verbindet Schleiermacher charakteristischerweise mit dem Bild einer synodal geordneten Kirche, in der kirchlicher Friede nicht durch „Herrschaft über die Gewissen“, sondern durch gemeinsame Beratung erreicht wird.78 Durchaus im Sinne dieses theologischen Zusammenhangs stieß die reaktionäre preußische Kirchenverfassungspolitik gerade in den durch eine weitgehende selbstständige presbyterial-synodale Kirchenordnung geprägten Provinzen im Rheinland und in Westfalen auf Wider-

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1817 erschien seine Schrift „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung“; Text: Schleiermacher, KGA I/9 (wie Anm. 69), (XLIX–LIV) 107–172. Vgl. Geck, Schleiermacher (wie Anm. 30), 127–153. Vgl. Klaus Wappler, Karl von Altenstein und das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 115–125. Vgl. Albrecht Geck, Die Synoden und ihre Sistierung in der Reaktionszeit. Konsistorialregiment und episkopalistische Tendenzen, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 125– 133; Wilhelm Heinrich Neuser, Das Scheitern der von Friedrich Wilhelm III. verfügten preußischen Generalsynode im Jahr 1823, in: Kampmann, Preußische Union (wie Anm. 16), 79–95. Schleiermacher, Kleine Schriften 3 (wie Anm. 30), 154. Ebd.: „Desto nothwendiger ist, weil es keine Herrschaft über die Gewissen giebt, daß wie es schon zur Zeit der Apostel geschah, daß, was sich Einem oder Mehreren zum Heil der Gemeine regt, erst gemeinsam geprüft werde und berathen, damit nichts nothwendiges unterbleibe, nichts heilsames leichtsinnig verworfen, nichts verkehrtes eigenmächtig ins Leben gerufen werden könne, und überall in unsern Gemeinen Gott sich offenbare als ein Gott nicht der Unordnung, sondern des heilbringenden Friedens.“

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Preußische Union und selbstständige lutherische Kirchen: Trennung und Kirchwerdung

stand.79 Dort kam es zu einer massiven Frontstellung gegen den landesherrlichen Territorialismus, bei der es vor allem darum ging, die aus Pfarrern und Ältesten gebildeten Synoden als echte kirchliche Leitungsorgane zu etablieren. Konfessionelle Animositäten spielten dabei kaum eine Rolle, vielmehr waren die Gemeinden im Rheinland in der Regel unionsfreudig, bestanden aber auf den Beteiligungsrechten der Kirchenglieder an der Kirchenleitung und auf einer theologisch begründeten Kirchenordnung.80 Die preußische Kirchenpolitik musste diesem Verlangen schließlich teilweise nachgeben: Nach langen Verhandlungen trat 1835 die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung in Kraft, ein Kompromiss, der die presbyterialsynodale Ordnung durch die Verknüpfung mit Konsistorien und mit der Einsetzung von Generalsuperintendenten an die landesherrliche Aufsicht band und so gleichsam domestizierte. Auch vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen reagierte die preußische Kirchenpolitik auf die Forderung der schlesischen Altlutheraner nach konfessionskirchlicher Selbstständigkeit allergisch. Die Zugeständnisse in Sachen Kirchenverfassung sollten regional begrenzt bleiben, die Projekte Union und Agende im Interesse der Durchsetzung des landesherrlichen Regelungsanspruchs nicht mit Kirchenordnungsfragen verknüpft werden, obwohl in der Genese der Reformdiskussionen genau diese Verknüpfung angelegt war. Aus den Reaktionen auf die Eingaben der Schlesier, so unergiebig sie theologisch sind, ist der reaktionäre Reflex unverkennbar: Das Beharren auf kirchlicher Eigenständigkeit wird als Illoyalität gegenüber der Autorität des Landesherrn wahrgenommen. Schon im Herbst 1830 berichtet der Oberpräsident der Provinz Schlesien, Friedrich Theodor von Merckel (1775–1846),81 an den Minister, Scheibel und die Seinen wollten mit der Forderung nach kirchlicher Selbstständigkeit einen „Sieg“ über den Staat davontragen,82 und empfahl disziplinarischen Zwang, „um das evangelische Christentum und dessen geistige Einheit […] sicherzustellen“83, „selbst auf die Gefahr hin, von 79

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Vgl. Wilhelm H. Neuser, Die Entstehung der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 241–256; Jörg van Norden, Kirche und Staat im preußischen Rheinland 1815–1838. Die Genese der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung vom 5.3.1835 (SVRKG 102), Köln 1990. Zum größeren Zusammenhang vgl. auch Hellmut Zschoch, Kirchenordnung der Freiheit. Die presbyterial-synodale Ordnung im Wandel politischer Konstellationen, in: MEKGR 60 (2011), 115–133. Dass man in diesem Kontext außer Gesangbuch und Liturgie auch die Kirchenordnung als Instrument der Union einschätzte, belegt etwa die Äußerung von Wilhelm Bäumer (1783–1848), Pfarrer in (Dortmund-)Bodelschwingh und Sprecher der Reformierten in der Grafschaft Mark, vom 17. Februar 1817: „Man laße den Unterschied unter den Confessionen bestehen, so lange er nicht durch sich selbst zerfällt. Man fertige für beyde gleiche Gesangbücher und liturgische Formulare an. […] man gebe allen Protestanten die reine presbyterianische Kirchenverfassung, nach welcher die Kirche sich selbst ohne alles Zuthun des Staates regiert; und eine kurze Zeit wird jeden andern Unterschied selbst den der Namen bald verwischen“ (zitiert nach Jürgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen [BWFKG 8], Bielefeld 1991, 98). Zu ihm vgl. Konrad Fuchs, Art. Merckel, Friedrich Theodor, in: NDB 17, Berlin 1994, 122–124. Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 264. A.a.O., 264f.

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einigen Eiferern auf kurze Weile des Angriffs auf die Glaubensfreiheit und des Gewissenszwanges beschuldigt zu werden“84. Minister Altenstein hob in seinem Bericht an den König vom 30. Juni 183185 hervor, es gehe Scheibel und seinen Anhängern im Kern nicht um die Agende und das Bekenntnis, sondern um „die Gestaltung […] einer selbständigen Kirche […], welche hinsichtlich der Regulierung ihrer Angelegenheiten der Anordnung des Landesherrn […] nicht unterworfen, sondern nur von der Gemeinde abhängig sei“86. Empört stellt Altenstein fest, es handle sich um „eine ganz nach republicanischen Grundsätzen geformte Kirchen-Verfassung“, die „alles bisher Bestandene überbietet“, ganz „dem Besitzstande und dem Herkommen entgegen“87. So geraten die konfessionsfrommen schlesischen Altlutheraner in den Dunstkreis der so sehr gefürchteten und verfolgten Revolution – nachdem 1830 die französische Julirevolution Europas Monarchen erneut das Fürchten gelehrt und immerhin Wellen bis nach Berlin geschlagen hatte.88 Als Gegenmittel gegen solche Umtriebe ist dann nicht theologische Diskussion oder staatliche Toleranz angezeigt, sondern das „Einzige also, was geschehen kann, ist, die Kraft der Gesetze geltend zu machen und den eigenwilligen Störern der Ordnung mit Nachdruck entgegen zu treten“89. Dieser Linie folgend bezeichnet Friedrich Wilhelm III. selbst in seiner Kabinettsorder vom 28. Februar 183490, die sich als letzter, wenn auch untauglicher Versuch zur Eindämmung des Konflikts mit den Altlutheranern verstehen lässt, diese als „Gegner[ ] des kirchlichen Friedens“, denen mit Maßnahmen zur „Beseitigung separatistischer Unordnungen“ begegnet werden müsse. Er kommt den Altlutheranern scheinbar entgegen, indem er betont, die Union hebe „die Autorität, welche die Bekenntnißschriften der beiden evangelischen Confessionen bisher gehabt“ hätten, nicht auf.91 Indem der König dann die freiwillige Union von der verpflichtenden Einführung der Agende scheidet, unterstreicht er aber nur seine fragwürdige Kirchenkonzeption und demonstriert zugleich sein Unverständnis für die Argumentation der Gegner. Konsequent endet die Order mit einem solennen Verbot, „daß die Feinde der Union […] als eine besondere Religions-Gesellschaft sich constituiren“92.

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A.a.O., 264. Text a.a.O., 505–511. A.a.O., 507. Ebd. Zur sog. Schneiderrevolution in Berlin im September 1830 vgl. Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806–1847), in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, 405–602, hier 525–528. Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 509. Text: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 55f. A.a.O., 56. Ebd.

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Militärische Einnahme der bisher lutherischen Kirche zu Hönigern, 24. Dezember 1834. Entstehungsjahr ca. 1949

Diese Kabinettsorder, auf die die Altlutheraner mit der bereits angeführten Eingabe vom 4. April 183493 antworteten, bildet den Auftakt zur definitiven Eskalation des Konflikts, der über die Militäraktion von Hönigern am Heiligen Abend desselben Jahres in die jahrelange Repressionspolitik führte, die erst 1840 mit dem fast gleichzeitigen Tod von Minister (14. Mai) und König (7. Juni) und der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. endete.94 Hier soll es genügen, noch auf die sich im Laufe des Jahres 1834 zusehends verschärfende Rhetorik hinzuweisen: In seinem Bericht vom 11. Oktober brandmarkte Altenstein das „unverhohlene[ ] und kecke[ ] Bestreiten der von Ew. Kgl. Majestät in Beziehung auf die lutherische Kirchen-Gemeinschaft im Staate ausgeübten oberbischöflichen Rechte“95 als Element revolutionärer Bestrebungen: „Auf dem Wege einer consequenten Durchführung würden diese […] Grundsätze kein anderes Resultat haben, als die Einführung eines von demokratischen Prinzipien ausgehenden und nach constitutionellen Formen gebildeten Kirchenregiments.“96 Die Abwehr eines kirchlichen Konstitutionalismus steigert sich bei Altenstein im Blick auf die Kirchengemeinde Hönigern in die Warnung vor der „Macht des Terrorismus“97, so dass sich schließlich die Militärexpedition dorthin als die gegebene Gegenmaßnahme gegen eine „bis zur äußersten Grenze getriebene[ ] Widersetzlichkeit gegen obrigkeitliche Anordnungen“ 93 94 95 96 97

S. oben, 90. Vgl. insgesamt Nixdorf, Die lutherische Separation (wie Anm. 28). Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche 2 (wie Anm. 1), 512. Ebd. A.a.O., 517 (Ergänzungsbericht vom 13. Oktober 1834).

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zur Wiederherstellung der „gestörte[n] öffentliche[n] Ordnung“ darstellt.98 Das Fazit des Königs lautet dann in seiner eingangs zitierten Adresse an die Gemeinde von Hönigern: „Ihr habt Euch schwer verschuldet.“99

Gottesdienstort der Gemeinde nach der Vertreibung aus der Kirche von Hönigern

4.

Fazit

Es geht in dem Konflikt der preußischen Unionspolitik mit den schlesischen Altlutheranern entscheidend um die Frage nach Grund und Gestalt der evangelischen Kirche. Diese Frage wird von Johann Gottfried Scheibel und seinen Anhängern auf den Zusammenhang von Kirche, Bekenntnis und Gottesdienst konzentriert und mit der Forderung nach kirchlicher Selbstständigkeit verbunden. Demgegenüber bleiben die ekklesiologischen Grundlagen der Union undeutlich. Das liegt nicht daran, dass sie nicht reflektiert worden wären; namentlich Friedrich Schleiermacher hat mit dem Begriff der „Kirchengemeinschaft“ einen Ansatzpunkt bereitgestellt, von dem aus etwa eine Diskussion über das Kirchenverständnis mit Bezug auf CA VII sich sinnvoll hätte führen lassen.100 Das theologische Potential der Union bleibt aber von der landesherrlich-bürokratischen Kirchenleitung abgeschnitten und wird dadurch konterkariert, dass die Union theologisch unreflektiert mit der Agende als vermeintlichem Einheitsband der unierten Kirche aus partiell fortexistierenden Konfessionen verknüpft wird. Von den Kirchengemeinschaft begründenden bzw. 98 A.a.O., 518f. (Bericht vom 4. Dezember 1834). 99 A.a.O., 527 (Kabinettsorder vom 7. Februar 1835). 100 Vgl. Wilhelm Schneemelcher, Conf. Aug. VII im Luthertum des 19. Jahrhunderts, in: EvTh 9 (1949/50), 308–333; Joachim Mehlhausen, Zur Wirkungsgeschichte der Confessio Augustana im 19. Jahrhundert. Eine historisch-theologische Skizze, in: MEKGR 30 (1981), 41–71.

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darstellenden Faktoren wird in der preußischen Unionspolitik der liturgische gegenüber dem dogmatischen und dem kirchenordnenden einseitig akzentuiert. Dazu kommt, dass eine zunehmend reaktionäre Kirchenpolitik die in der Dynamik der Reformimpulse am Anfang des 19. Jahrhunderts liegende Verbindung von Union und synodaler Kirchenverfassung hintertreibt. Die Enttheologisierung der Kirchenleitung und das territorialistisch gesteigerte Landeskirchentum in Verbindung mit dem antirevolutionären Affekt der Regierenden sind auf der Seite der Union für die Eskalation des Konflikts mit den Altlutheranern verantwortlich, in dem eigentlich konfessionsspezifische Fragen eine zunächst bemerkenswert marginale Rolle spielen. Zwischen 1817 und 1834 liegt in der preußischen Unionspolitik kein schroffer Bruch, wie ihn die eingangs präsentierten Zitate suggerieren mögen. Vielmehr trägt die ostentative landesherrliche Zurückhaltung im Unionsaufruf von 1817, so gut gemeint sie auch war, paradoxerweise bereits die verhängnisvolle Tendenz in sich, einen theologischen Kirchenbegriff und dessen Verbindung mit dem Gedanken kirchlicher Eigenständigkeit von der Union fernzuhalten. Das Unternehmen gerät damit auf eine abschüssige Bahn: Die Forderung kirchlicher Selbstständigkeit wird zuerst einem konfessionell normierten Zugriff überlassen, gegen diesen hat man dann außer obrigkeitlichem Zwang nichts aufzubieten, und das sorgt schließlich definitiv dafür, dass der theologische Gehalt und der religiöse Sinn der Union ihren Gegnern verborgen bleiben und auch in der Folge gegen die Belastung durch diesen Fehlstart nur mühsam an Profil gewinnen und ihren Segen entfalten können.

Summary Why did the Union between Lutherans and Calvinists in Prussia give rise to a conflict with Lutheran confessionalists which escalated from 1830 onwards? The core of this conflict lies in the question of the foundation and the form of the protestant church. The ecclesiological basis remains vague, for Schleiermacher’s concept of church fellowship, conceived in 1804, is not taken into account. Instead the Prussian Agenda has to fabricate unity between the churches but proves to be an unsuitable instrument. The King’s aversion to an independent church constitution, a feeling shared by his Prussian bureaucracy, results in the use of the Union as an instrument for state control over the church.

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts Albrecht Geck

Kirchenpolitische und theologische Konzepte Vollständigkeit lässt sich mit Blick auf das mir gestellte Thema nicht erreichen. Die Stichworte „Union“ und „Bekenntnis“ sind im kirchlichen und theologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts omnipräsent. Ich versuche deshalb, eine Schneise zu schlagen. Dabei verfolge ich zwei Ziele: Ich möchte Ihnen die kirchlichen und politischen Motive der Kabinettsorder vom 27. September 1817 vor Augen führen sowie die Motive und Konzepte bedeutender „Unionstheologen“. Zugleich möchte ich verdeutlichen, dass im Prozess der Unionsbildung das Bewusstsein für die identitätsstiftende Bedeutung der Bekenntnisse nicht etwa verschwunden, sondern im Gegenteil gestärkt wurde – und dies keineswegs allein außerhalb, sondern durchaus auch innerhalb der Union.1

1.

Die Kabinettsorder vom 27. September 1817

Die Kabinettsorder Friedrich Wilhelm III. vom 27. September 18172 gehört zu den umstrittensten Dokumenten der preußischen und damit auch der deutschen Kirchen- und Theologiegeschichte. Ich möchte im Blick auf diesen Text zwei Fragen thematisieren, nämlich die Frage nach der Rolle des Königs und der staatlichen Kirchenverwaltung sowie die nach dem Unionsverständnis. Was die erste Frage betrifft, so fällt auf, dass für die Kabinettsorder vom 27. September 1817 mehrere Bezeichnungen im Umlauf sind. Handelt es sich um einen „Unionsaufruf“, der eher unverbindlich war, oder um eine „Unionserklärung“, die verbindlich war? Die Unterscheidung, die wir hier machen, ist wahrscheinlich unhistorisch. Es handelte sich um einen Aufruf, der zugleich eine Erklärung war, und umgekehrt: „Ich wünsche ein Gott wohlgefälliges Werk […] zu Stande gebracht und 1

2

Ich stütze mich in meinem Beitrag in besonderer Weise auf die thematisch relevanten Beiträge in J. F. Gerhard Goeters/Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992 und Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850– 1918), Leipzig 1994. Zeitgenössische Zitate werden, wenn möglich, aus diesen Büchern belegt. Text: Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 91f. Die folgenden Zitate stammen aus dieser Belegstelle.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

bei der bevorstehenden Säcular-Feyer der Reformation, damit den Anfang gemacht zu sehen!“ In einer absoluten Monarchie ist der Wunsch des Königs Befehl. Der Satz endet deshalb mit einem Ausrufungszeichen. Zwei weitere Begriffe sind im Umlauf: „Unionsverfügung“3 und „Unionsurkunde“4. Diese sind sicherlich nicht zutreffend, nicht nur weil die Kabinettsorder die Einzelheiten der Union und ihrer Umsetzung keineswegs regelte, sondern auch weil diese Begriffe die Dimension der gewährten Freiwilligkeit gänzlich ausblenden.5 Denn es war ehrlich gemeint, wenn der König versicherte, die „Rechte und Freiheit“ der reformierten und lutherischen Kirche achten zu wollen. Nur: Dass die Kirchen ihm vielleicht nicht folgen würden, das lag dann im Grunde außerhalb seiner Vorstellungskraft. Es entsprach einfach nicht dem paternalistischen Geist der Zeit. Nur so ist es auch zu erklären, dass der König die Umsetzung der Union in die Hände „der weisen Leitung der Consistorien“ legte. Von der Kirche erwartete er den „frommen Eifer der Geistlichen und ihrer Synoden“. Kritik oder gar Ablehnung kamen in diesem Kalkül nicht vor. Auch nicht der Wunsch, das Kirchenregiment möge in die Hände der Synoden gelegt werden. Solche Tendenzen wurden des Konstitutionalismus verdächtigt. Von den 1818/1819 abgehaltenen Provinzialsynoden äußerten die Berlin-Brandenburger, die Magdeburger, die westfälische und die rheinische diesen Wunsch und legten zum Teil fertig ausgearbeitete Verfassungs6 entwürfe vor. Das führte zur Kassierung der Synoden. Eine geplante Generalsynode, auf der die lutherisch-reformierte Union dann für die gesamte Landeskirche hätte beschlossen werden sollen, wurde nicht mehr einberufen.7 Zwei Anmerkungen seien an dieser Stelle erlaubt: a. Die Vermischung des frühkonstitutionalistischen mit dem kirchlichen Verfassungsdiskurs gehört zu den zentralen Merkmalen der Diskussion um die preußische Kirchenreform. Gerne wird dabei der liberalen Seite vorgeworfen, sie habe ihr vorgeblich kirchliches Anliegen aus dem Zeitgeist abgeleitet. Man vergisst dann gerne, dass man diesen Vorwurf auch gegenüber den Konservativen erhe3

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6 7

Vgl. Johannes-Christian Burmeister, Bewährung und Verlust auf dem Wege Evangelisch-Lutherischer Kirche in Brandenburg-Preußen und Deutschland. Die Bedeutung der preußischen Union von 1817 für die heutige konfessionelle Situation in der Mitte Europas, in: Lutherische Beiträge 17 (2012), 139–165, hier 151. Vgl. Gerhard Ruhbach (Hg.), Kirchenunionen im 19. Jahrhundert (TKTG 6), Gütersloh 1967, 34; Klaus Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion (1817), in: Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 93–115, hier 102. So trifft es auch keineswegs zu, dass der König durch seine Teilnahme am gemeinsamen Gottesdienst am 31. Oktober 1817 in Potsdam die unierte Kirche „begründet“ habe; vgl. Burmeister, Bewährung und Verlust (wie Anm. 3), 152. Vgl. Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen. 1977–1823 (UnCo 20), Bielefeld 1996, 218–261. Vgl. Albrecht Geck, Die Synoden und ihre Sistierung in der Reaktionszeit. Konsistorialregiment und episkopalistische Tendenzen, in: Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 125– 133.

Kirchenpolitische und theologische Konzepte

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ben könnte. Ich habe im Verlauf der Jahre den Eindruck gewonnen, dass das Recht dieses Vorwurfs letztlich schwer einzuschätzen ist. Denn ist es vorstellbar, dass eine Kirche, die sich den politischen und kulturellen Fragen ihrer Zeit öffnet, um sie bewältigen und beantworten zu helfen, von Spuren des sogenannten „Zeitgeistes“, und seien diese nur lexikalisch, unberührt bliebe? b. Die Stellungnahmen der Provinzialsynoden 1818/1819 zur Unionsfrage harren weiterhin der Aufarbeitung aus den Quellen. Die umfangreichen Verhandlungsprotokolle liegen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Ich selbst habe mich seinerzeit lediglich der Untersuchung der Verfassungsfrage gewidmet, und die Akten verzeichneten damals noch Heinrich von Treitschke, gestorben 1896, als ihren letzten Nutzer. Das zweite im Zusammenhang mit dem sogenannten „Unionsaufruf“ zu erörternde Problem ist das vorausgesetzte Unionsverständnis. „Die reformirte Kirche,“ so hieß es, „[gehe] nicht zur lutherischen und diese nicht zu jener über […], sondern beide [werden] Eine neue belebte, evangelisch-christliche Kirche im Geist ihres heiligen Stifters“. Demnach handelte es sich um eine Konsensusunion, deren Konsensus freilich nicht beim Namen genannt, sondern mit den theologisch unklaren Begriffen „Hauptsache im Christenthum“, „Einigkeit der Herzen“ und „Geist des Protestantismus“ bezeichnet wurde. In diesen Formulierungen lebten Impulse des Pietismus und der Aufklärungstheologie fort, die gegenüber dem Intellektualismus der Orthodoxie je auf ihre Weise die christliche Lebenspraxis betonten, sei es als Herzensfrömmigkeit, sei es als vernünftige Sittlichkeit. Wenn diese Impulse im Kontext einer Unionstheologie nun aufgegriffen wurden, so verstanden das Vertreter der Vermittlungstheologie, aber auch Erweckungstheologen wie Tholuck nicht als eine Anpassung an den Zeitgeist, sondern als eine Lehre, die aus der „orthodoxistischen“ Verirrung des Zeitalters protestantischer Scholastik zu ziehen war.8 Die Frage der Bekenntnisbindung und gar -bildung wurde in der Kabinettsorder nicht erwähnt. Auch das war charakteristisch für die Union in Preußen, die in dieser Phase unklar zwischen Verschweigen und Erwähnen der Bekenntnisse oszillierte. Andere Landeskirchen gingen da anders vor.9 Die Vereinigungsurkunde der Pfalz 1818 enthielt beispielsweise folgenden – in der Endfassung dann aber abgeschwächten – Passus: „Die protestantisch-evangelisch-christliche Kirche erkennt außer dem Neuen Testament nichts anderes für eine Norm ihres Glaubens. Sie

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Zum Verständnis dieser in der zeitgenössischen Erweckungs- und Vermittlungstheologie verbreiteten theologiegeschichtlichen Konzeption vgl. Albrecht Geck (Hg.), Autorität und Glaube. Edward Bouverie Pusey und Friedrich August Gotttreu Tholuck im Briefwechsel (1825–1865), Osnabrück 2009, 43–48; vgl. auch Hans-Martin Kirn, Umkämpfter Glaube – umkämpfte Geschichte: August Tholuck als Kirchenhistoriker, in: Pietismus und Neuzeit 27 (2002), 118–146. Vgl. Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 4), 12–33 (Union in Nassau), 44–65 (Union in Baden), 72–88 (sonstige Unionen).

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

erklärt, daß alle bisher bei den protestantischen Konfessionen bestandenen oder von ihnen dafür gehaltenen symbolischen Bücher völlig abgeschafft sein sollen.“10 Umgekehrt die Badische Unionsakte 1821, die eine Bekenntnisunion begründete und als Bekenntnisschriften die Augsburger Konfession, Luthers Kleinen Katechismus und den Heidelberger Katechismus nannte – dies allerdings bei gleichzeitiger Betonung des sola scriptura und des „Prinzip[s] und Recht[s] der freien Forschung in der heiligen Schrift“11. Wenn nun der „Unionsaufruf“ in Preußen die Bekenntnisfrage ganz unerwähnt ließ, dann deshalb, weil man befürchtete, eine Erwähnung würde die Unterscheidungslehren wiederaufleben lassen und „die Gemüther eher entfernen, als vereinigen“12. Doch schon bald13 wich man auch in Berlin von diesem Schweigen in der Bekenntnisfrage ab, denn in die Agende von 1822 nahm der König eine Bekenntnisverpflichtung für die ordinierten Amtsträger auf – „verzeichnet […] in den bekannten und in der evangelischen Kirche allgemein angenommenen symbolischen Büchern“, also ohne namentliche Nennung bestimmter Bekenntnisse. Als es in den folgenden Jahren die bekannten Schwierigkeiten bei der Einführung der Agende gab, wurde das Verhältnis von Union und Bekenntnis gegenüber dem „Unionsaufruf“ von 1817 neu bestimmt. In der Kabinettsorder vom 28. Februar 1834 hieß es nun: „Die Union bezweckt und bedeutet kein Aufgeben des bisherigen Glaubensbekenntnisses, auch ist die Autorität, welche die Bekenntnißschriften der beiden evangelischen Confessionen bisher gehabt, durch sie nicht aufgehoben worden. Durch den Beitritt zu ihr wird nur der Geist der Mäßigung und Milde ausgedrückt, welcher die Verschiedenheit einzelner Lehrpunkte der anderen Konfession nicht mehr als den Grund gelten läßt, ihr die äußerliche kirchliche Gemeinschaft zu ver14 sagen.“

Die fortwährende Bedeutung der Bekenntnisse innerhalb der Union war dadurch nun anerkannt, die in der Kabinettsorder vom 27. September 1817 ursprünglich angestrebte Konsensusunion als Ziel praktisch aufgegeben. Stattdessen war nur noch von konfessioneller „Mäßigung und Milde“ die Rede. 10

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Zitiert bei Martin Stiewe, Art. Unionen, kirchliche IV: Innerprotestantische Unionen und Unionen zwischen protestantischen und anglikanischen Kirchen, TRE 34, 323–327, hier 325f. Die endgültige Fassung lautete dann allerdings: „Die protestantisch-evangelisch-christliche Kirche hält die allgemeinen Symbola und die bei den getrennten protestantischen Confessionen gebräuchlichen symbolischen Bücher in gebührender Achtung, erkennt jedoch keinen anderen Glaubensgrund und Lehrnorm als allein die heilige Schrift“ (Text: Ruhbach, Kirchenunionen [wie Anm. 4], 51– 65, hier 52). Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 4), 66–71, hier 67. Eylert in seinem Anschreiben zum Entwurf des Unionsaufrufes, 22.9.1817; zitiert in: Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion (wie Anm. 4), 108. Noch am Tage der Bekanntgabe des Unionsaufrufs sprach der König in einer Kabinettsorder an Innenminister Kaspar Friedrich von Schuckmann von einer Vereinigung „zu einerley Bekenntniß und Ritus“ zitiert in: Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion (wie Anm. 4), 111. Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 4), 36f.

Kirchenpolitische und theologische Konzepte

2.

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Die Bekenntnisfrage bis zur Generalsynode 1846

Union und Bekenntnis traten also in ein spannungsreiches Verhältnis, das um die Frage kreiste, in welcher Form die reformatorischen konfessionellen Bekenntnisse auch weiterhin ihre Gültigkeit behalten sollten. Zwei Positionen möchte ich gerne vorstellen, vorgetragen und erarbeitet von herausragenden Unionstheologen, Friedrich Schleiermacher und Carl Immanuel Nitzsch.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834)

In seiner Dogmatik „Der Christliche Glaube“ erhob Schleiermacher 1821 den Anspruch, der erste zu sein, der „eine Glaubenslehre nach den Grundsä[t]zen der evangelischen Kirche aufstellt, als ob sie Eine wäre“15. Gerne verwandte er auch den Ausdruck „protestantisch“, „weil wir den Gegensa[t]z zum Katholizismus mit einem leichten und bequemen Worte müssen bezeichnen können“16. Die Formulierung eines neuen Bekenntnisses wies er jedoch in der Überzeugung zurück, „daß es einer dogmatischen Ausgleichung zwischen beiden Teilen gar nicht bedürfe, und noch viel weniger eines neuen Symbols“17. Schon früher hatte er ein ausdrückliches Unionsbekenntnis als den Ausdruck eines „mittleren Proportionalglauben[s]“ verspottet.18 Schleiermachers Haltung in der Bekenntnisfrage ist mit dem Ganzen seiner Theologie verknüpft, auch wenn er sich zum Thema vorzüglich in Gelegenheits-

15 16 17 18

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der Christliche Glaube 1821/22 (Studienausgabe 1), hg. von Hermann Peiter, Berlin/New York 1984, 6. A.a.O., 7. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der Christliche Glaube 1830, hg. von Martin Redeker, Berlin 1960, 4f. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804, zitiert in: Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (wie Anm. 6), 49.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

schriften äußerte.19 In der Kirchenreformschrift von 1804 schlug er eine „unauffällige Union“ (Martin Ohst) vor: Die Teilnahme am Abendmahl der je anderen Konfession solle nicht als Konfessionswechsel angesehen werden.20 Er sprach von einem staatlichen „Erlaubnißgesetz“21. Diesem Modell folgte der „Unionsaufruf“ vom September 1817 augenscheinlich nicht. Hier hieß es, man solle sich auf der Grundlage der „Hauptsache im Christenthum“ vereinigen und dem zum Zeichen das Abendmahl gemeinsam feiern. Als dann die 1816 neu in Preußen angeordneten Kreissynoden tagten, machte sich die Vereinigte Berliner Synode diesen Wunsch zu eigen, erklärte aber, sie habe nicht „die verschiedenen Vorstellungen beider Bekenntnisse vermitteln“ wollen.22 Dieser Satz stammte von Schleiermacher. Er war Vorsitzender der Vereinigten Berliner Synode.23 Zur Geltung der Bekenntnisse hat sich Schleiermacher außerdem gegenüber den unionskritischen Thesen von Claus Harms und im Zusammenhang des „Hallischen Streites“ geäußert, also unmittelbar nach 1817 und dann noch einmal 1830.24 Er verneinte die Möglichkeit, durch die Lehrverpflichtung auf die Bekenntnisse ließe sich ein fester Bestand an Glaubenssätzen sichern. Die Bekenntnisse seien historische Urkunden, die die Schriftauslegung der Reformatoren dokumentierten. Als solche könnten wir sie heute nur mit Hilfe der Methoden moderner Hermeneutik verstehen. Dabei sei nicht zu erwarten, dass es zu einer einheitlichen Auslegung komme, die von allen geteilt werde. Dieser Pluralismus sei aber nicht ein Übel, sondern der genuin protestantische Weg, denn nur im freien Diskurs der Auffassungen gelange der Glaube zu sich selbst, seien Authentizität – und im Übrigen auch Erkenntnisfortschritt – möglich. Bekenntniszwang ist mithin ein Angriff auf das diskursive Wesen des Protestantismus: „Das Beste und Eigenthümlichste unserer Theologie aber ist die edlere Gestalt, welche die Dogmatik durch die Reformation gewonnen hat, und der rege Trieb des Forschens in der Schrift, und über die Schrift.“25 19 20

21 22

23 24

25

Zu Schleiermachers Haltung in der Bekenntnisfrage vgl. Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften (BHTh 77), Tübingen 1989. Martin Ohst, Die Preußische Union und ihre politische Bedeutung, in: Andreas Arndt/Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.), Christentum, Staat, Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Berlin/New York 2008, 165–180, hier 177. Schleiermacher, Zwei unvorgreifliche Gutachten (wie Anm. 18), 392. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30sten October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, Berlin 1817, zitiert in: Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (wie Anm. 6), 178. Zu Schleiermachers Wirksamkeit in dieser Funktion vgl. a.a.O., 164–207. Zum Folgenden vgl. Friedemann Voigt, Vermittlung im Streit. Das Konzept theologischer Vermittlung in den Zeitschriften der Schulen Schleiermachers und Hegels (BhTh 140), Tübingen 2006, 36–44. Zitiert in: Joachim Mehlhausen, Rationalismus und Vermittlungstheologie. Unionstheologie und Hegelianismus an den preußischen Fakultäten, in: Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 175–210, hier 217.

Kirchenpolitische und theologische Konzepte

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Dem entsprach, was Schleiermacher aus Anlass der 300-Jahr-Feier der „Augsburger Konfession“ zu sagen hatte: „Die Feier gilt ja überhaupt nicht der Urkunde, daß sie verfaßt worden und daß sie gerade so geworden, sondern ihrer Übergabe; nicht das Werk wird gefeiert, sondern die That.“26 Wenn nun das Prinzip der „Augsburger Konfession“ die erworbene Freiheit ist, dann ist der freie Umgang mit ihr als Bekenntnis der Kirche auch nicht ein performativer Widerspruch, sondern vielmehr sogar integraler Teil des Bekennens selbst. Die Zeit nach Schleiermacher trieb die Unionstheologie über Schleiermachers Standpunkt hinaus. Sie versuchte sich in der Bekenntnisbildung, oder weniger anspruchsvoll, in der Konsensusformulierung. Das geschah nicht nur aus dem Bedürfnis heraus, sich gegenüber den rationalistischen „Lichtfreunden“ abzusetzen. Auch die breite Front der Unionskritiker, die Schleiermachers freie Haltung als Geringschätzung der Bekenntnisse empfand, trug dazu bei.

Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868)

In seiner Rezension der „Symbolik“ von Johann Adam Möhler konstatierte Carl Immanuel Nitzsch einen der späteren Bekenntnisbildung vorausgehenden reformatorischen Grundkonsens und ging so von der „Einheit des reformirten und lutherischen Symbols“ aus.27 Die bestehenden Lehrdifferenzen sollten im Horizont dieses Grundkonsenses thematisiert werden, der dann auch in der Form eines förmlichen Unionsbekenntnisses einen lehrhaften Ausdruck finden könnte. Anders als Schleiermacher gab die bekenntnisbildende Unionstheologie dem Bekenntnis nicht vornehmlich exklusive (abgrenzende), sondern auch inklusive Funktion. Nitzschs Unionsvision besaß eine maximale ökumenische Weite, wenn er etwa mit Blick auf die katholische Kirche formulierte: „Die wahre Kirche muß die 26 27

Zitiert a.a.O., 196. A.a.O., 198.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

katholische Richtung mit der protestantischen vereinigen.“28 In Hinsicht auf die Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen bedeutete dies: Besinnung auf und Erforschung der frühen reformatorischen Theologie als Horizont einer – geschichtlich schon vorhandenen – vorkonfessionellen Einheit. In einer späteren Formulierung hat Julius Müller es so auf den Punkt gebracht: „Man unirt sich eigentlich nur, weil man schon unirt ist.“29 Joachim Mehlhausen formulierte die Pointe dieser Position dann so: Unierte Bekenntnisbildung ist keine „Konstruktionsaufgabe“, sondern das Resultat einer „Entdeckung“.30 In seinem Rückblick auf die preußische Generalsynode von 1846 rekonstruierte Nitzsch das reformationstheologische Koordinatensystem, innerhalb dessen sich diese Entdeckung machen lasse. Es bestand aus drei Affirmationen mit entsprechenden Negationen: – das altkirchliche Bekenntnis zu Trinität und Christologie in Abwehr der Gnosis, – die reformatorische Rechtfertigungslehre in Abwehr von Gesetzlichkeit, – die Wirkung des Geistes in Wort und Sakrament in Abwehr schwärmerischer Innerlichkeit. Auf dem Boden dieses Grundkonsenses sollten „die widersprechenden Lehren [dann] nicht ohne Weiteres verurtheilt, sondern der theologischen Prüfung und Verarbeitung […] und dem substanzialen Consensus […] anheimgegeben [werden]“31. Die Generalsynode von 1846, auf die Nitzsch hier zurückblickt, war ein „Meilenstein“ (Gerhard Besier) in der Geschichte der Union in Preußen, auch wenn König Friedrich Wilhelm IV. den Beschlüssen seine Bestätigung verweigerte.32 Sie seien hier dennoch kurz geschildert. Das von Nitzsch redigierte und als „Nitzschenum“ verspottete Ordinationsbekenntnis kam nicht zum Zuge. Aufgrund sprachlicher Nähe zum Apostolikum stand es in dem Verdacht, dieses ersetzen zu sollen. Hinsichtlich der Geltung der Bekenntnisse enthielt das verabschiedete Ordinationsbekenntnis den Passus „in Einigkeit mit den Bekenntnissen allgemeiner Christenheit und mit den Bekenntnißschriften der evangelischen Kirche als Zeugnissen von den Grundthatsachen und Grundwahrheiten des Heils und [als] Vorbildern gesunder Lehre“33. Die hier gemeinten Bekenntnisschriften wurden in einer Lehrordnung aufgeführt: 28 29 30 31 32

33

Ebd. A.a.O., 201. Ebd. A.a.O., 203. Vgl. Gerhard Besier, Das Luthertum innerhalb der Preußischen Union (1808–1918). Ein Überblick, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Das deutsche Luthertum und die Unionsproblematik im 19. Jahrhundert (LKGG 13), Gütersloh 1991, 131–152, hier 141. Wilhelm H. Neuser, Landeskirchliche Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen. Die Provinzialsynoden und die Berliner Generalsynode von 1846, in: Goeters Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 342–366, hier 357.

Kirchenpolitische und theologische Konzepte

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Die Symbole, die in der evangelischen Landeskirche Geltung haben, sind: 1. die ökumenischen, nämlich das Apostolische, Nicänische und Athanasianische Symbol, 2. die Augsburgische Confession, als das zugleich staatsrechtliche und überhaupt angesehenste Bekenntniß der deutschen evangelischen Kirche und die sich darauf beziehende Märkische Confession, wobei die zweite Helvetische und die Französische Confession in der Geltung anerkannt werden, welche sie bei einzelnen Gemeinen haben, 3. die beiden Katechismen Luthers und der Pfälzische oder Heidelberger Katechismus, 4. diejenigen Schriften, in welchen sich das Bekenntniß weiter entwickelt und erklärt hat, die Apologie der Augsburgischen Confession, und die Schmalkaldischen Artikel, das Leipziger Gespräch und die Thorner Declaration. Auf die übrigen Symbole, in sofern sie in den verschiedenen Landesteilen Geltung 34 gehabt haben, zu vociren, bleibt den Patronen und Gemeinen vorbehalten.

Zu klären blieb, auf welche Weise diese Bekenntnisse zu gelten hätten, damit durch sie die Union nicht infrage gestellt würde. Hier führte die Unterscheidung zwischen Ordination (durch den Generalsuperintendenten) und Vokation (durch die Gemeinde) weiter. Vier Bestimmungen erschließen die Architektonik dieser Lehrordnung: – Die Landeskirche „in ihrer Einheit [bekennt] sich zu keinem Sondersymbol als solchem“35. (Deshalb befand sich im Ordinationsbekenntnis nur die allgemeine Formel von den „Bekenntnißschriften der evangelischen Kirche“.) – Bestimmte Bekenntnisse besitzen nur in den Gemeinden Gültigkeit im strengen Sinne des Wortes. (Es gab also lutherische, reformierte und unierte Gemeinden.) – Die Zugehörigkeit der bekenntnismäßig verschiedenen Gemeinden zu der einen unierten Landeskirche beruht auf dem vorausgesetzten Konsensus der Reformation. – Es ist die Aufgabe der Landeskirche, diesen Konsensus zu hüten und zu kultivieren. (Deshalb enthielt das Dokument eine Schilderung des Konsenses und Vorschläge für Ausgleichsformeln für Prädestinations-, Abendmahls-, Tauflehre etc.)36 Abschließend hieß es dann: „Die evangelische Kirche dieses Landes, in ihrer Einheit Pflegerin der evangelischen Union in Lehre und Bekenntniß, gründet sich auf den einigen und übereinstimmenden Lehrinhalt der ganzen evangelisch-protestantischen Reformation und ihrer Bekenntnisschriften, behauptet diesen von jeher in irgend einer Weise anerkannten Consensus, und ist bestrebt, ihn immer vollkommener aufzuweisen und darzulegen.“37

34 35 36 37

A.a.O., 358f. A.a.O., 359. Vgl. a.a.O., 360. Zitiert in: a.a.O., 359f.

108

3.

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

Profilierung und Konsolidierung der diversen Bekenntnisstände in der zweiten Jahrhunderthälfte

Um die Jahrhundertmitte unterschied die 1846 gegründete „Monatszeitschrift für unirte evangelische Kirche“ unter den Anhängern der Union folgende Schattierungen: – Gegner der alten Bekenntnisse, – Befürworter der alten Bekenntnisse, insofern sie „im Geist der Milde“ verstanden werden, – Befürworter eines Lehrkonsenses aufgrund der alten Bekenntnisse, – Befürworter des Erhalts zweier Bekenntnisse in einer Kirche.38 Die Vielfalt der Standpunkte war nicht ohne Sprengkraft, zumal sich diese Richtungen nach der Revolution 1848 in kirchlich-theologischen Parteien zusammenfanden, etwa dem liberalen „Verein für evangelische Kirchengemeinschaft“ (Unionsverein) oder dem konservativen „Lutherischen Zentralverein“.39 Die Revolution prägte die künftige Debatte zusätzlich insofern, als Anhänger einer liberalen Theologie auch des politischen Liberalismus und Anhänger einer konservativen Theologie auch des politischen Konservativismus bezichtigt wurden. Diese Vermengung des kirchlichen mit dem politischen Diskurs konnte bereits nach den Befreiungskriegen und im Umfeld der „Julirevolution“ beobachtet werden.

Friedrich Julius Stahl (1802–1861)

Die Ereignisse und Entscheidungen der kommenden Jahre brachten nun eine Stärkung des konfessionell-konservativen Bewusstseins, als dessen Wortführer insbesondere Friedrich Julius Stahl in Erscheinung trat, der nicht durch Schleiermachers vermittlungstheologischen Ansatz, sondern durch das Erlanger Neuluther38 39

Vgl. Wilhelm H. Neuser, Union und Konfession, in: Rogge/Ruhbach, Geschichte der EKU 2 (wie Anm. 1), 29–42, hier 32. Vgl. dazu a.a.O., 30–32.

Kirchenpolitische und theologische Konzepte

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tum geprägt war. Für Stahl waren Bekenntnisse nicht „Urkunden der Geschichte, sondern Urkunden der Kirche“ selbst.40 Zwar erkannte er die Existenz einer unierten Kirche in Preußen an, forderte aber den Fortbestand der Bekenntnisse innerhalb der Union. In der Sorge, die historische Kritik würde die Glaubenssubstanz letztendlich dem Zeitgeist opfern, formulierte er über die Jahre eine radikale Bekenntnistheologie. Sie enthielt Spitzensätze, für die sich Stahl freilich nicht auf den Standpunkt der Theologie berief, sondern auf sein Gewissen: „Ich weiß, daß das Alles nicht Form und Fassung, nicht Sprach- oder Vorstellungsweise des 16ten Jahrhunderts ist, sondern durch und durch nichts als Inhalt und Wesen und Wahrheit für alle Zeiten ist bis an der Welt Ende und dass in diesem Glauben dem Menschen die Seligkeit geboten ist.“41 Deshalb begrüßte Stahl die Kabinettsorder vom März 1834 als „Magna Charta der Confession“42 und setzte sich auch auf der preußischen Generalsynode für eine nach Bekenntnissen gegliederte Union ein. Als 1852 der Evangelische Oberkirchenrat (EOK) eingerichtet wurde, erhielt dieser die Aufgabe, sowohl „die evangelische Landeskirche in ihrer Gesamtheit zu verwalten und zu vertreten als das Recht der verschiedenen Konfessionen und die auf dem Grunde desselben ruhenden Einrichtungen zu schützen und zu pflegen“43. Dies war nun im Grunde eine „Verwaltungsunion mit gegenseitiger Abendmahlszulassung“44. Die Bedeutung der Bekenntnisse wurde also gestärkt, und zwar besonders noch dadurch, dass in konfessionellen Vorfragen die itio in partes eingeführt wurde: „Wenn […] eine vorliegende Angelegenheit der Art ist, daß die Entscheidung nur aus einem der beiden Bekenntnisse geschöpft werden kann, so soll die konfessionelle Vorfrage nicht nach den Stimmen sämtlicher Mitglieder, sondern allein nach den Stimmen der Mitglieder des betreffenden Bekenntnisses entschieden werden.“45 Nitzsch versuchte dies ad absurdum zu führen, indem er sich weder zum lutherischen noch zum reformierten, sondern zum Konsens beider Bekenntnisse bekannte. Daraufhin wurde er von der Beratung über konfessionelle Vorfragen ausgeschlossen. Diese Maßnahmen des landesherrlichen Kirchenregiments – die Kabinettsorder von 1834 ebenso wie die des Jahres 1852 – irritierten natürlich die konsensusorientierten Unionsanhänger. Der König sah sich gezwungen, zu intervenieren, und erklärte im Juli 1853, es sei keinesfalls seine Absicht, die „Union der beiden Kir-

40 41 42 43 44 45

Arie Nabrings, Friedrich Julius Stahl – Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik (UnCo 9), Bielefeld 1983, 180.186. Zitiert in: a.a.O., 187. Zitiert in: a.a.O., 200. Kabinettsorder, 6.3.1852, Text: Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 4), 42; vgl. Neuser, Union und Konfession (wie Anm. 38), 29–42, hier 36. Werner Danielsmeyer, Die Evangelische Kirche von Westfalen. Bekenntnisstand, Verfassung, Dienst an Wort und Sakrament, Witten 1965, 136. Kabinettsorder, 6.3.1852, Text: Ruhbach, Kirchenunionen (wie Anm. 4), 42.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

chengemeinschaften zu stören oder gar aufzuheben und dadurch eine Spaltung der Landeskirche herbeizuführen“46. Wie virulent die Bekenntnisfrage nach wie vor war, zeigt schließlich die Entwicklung in den rheinisch-westfälischen Provinzen. Die Urfassung der „RheinischWestfälischen Kirchenordnung“ von 1835 hatte keine Aussagen über den Bekenntnisstand der Gemeinden gemacht.47 Die Revision der Kirchenordnung von 1853/1855 holte dies nun nach, indem sie erklärte, dass die evangelische Kirche in Westfalen und im Rheinland „die fortdauernde Geltung ihrer Bekenntnisse“ anerkenne.48 Diese wurden ausdrücklich beim Namen genannt,49 und es wurde hinzugefügt: „Die unierten Gemeinden bekennen sich teils zu dem Gemeinsamen der beiderseitigen Bekenntnisse, teils folgen sie für sich dem lutherischen oder reformierten Bekenntnis, sehen aber in den Unterscheidungslehren kein Hindernis der vollständigen Gemeinschaft am Gottesdienst, an den heiligen Sakramenten und den kirchlichen Gemeinderechten.“50 Dieser kunstvoll gestaltete Passus schrieb in der Praxis einen fünffach verschiedenen Bekenntnisstand von Gemeinden fest, nämlich nichtunierte lutherische, nichtunierte reformierte, lutherisch-unierte, reformiert-unierte sowie konsensusunierte Gemeinden.51 Von diesen Gemeinden hieß es in § 3: „Unbeschadet dieses verschiedenen Bekenntnisstandes pflegen sämtliche evangelischen Gemeinden als Glieder einer evangelischen Kirche Gemeinschaft in der Verkündigung des göttlichen Wortes, und in der Feier der heiligen Sakramente und stehen mit gleicher Berechtigung in einem Kreis- und Provinzial-Synodalverband und unter derselben höheren kirchlichen Verwaltung.“52 Ich habe den Eindruck, dass das Nebeneinander einer solchen Vielzahl expliziter Bekenntnisse in einer Kirche eine große ökumenische Zuversicht unter Beweis stellt. Wäre dies der Diskussionsstand zu Beginn des Unionswerks gewesen – es hätten sich manche Härten in der Auseinandersetzung vermeiden lassen.

46 47

48 49

50 51 52

Kabinettsorder vom 12.7.1853, Text: a.a.O., 43. Vgl. Danielsmeyer, Evangelische Kirche von Westfalen (wie Anm. 44), 126–145; Wilhelm H. Neuser, Die Entstehung der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung, in: Goeters/Mau, Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 1), 241–256; ders., Die Revision der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung, in: Rogge/Ruhbach, Geschichte der EKU 2 (wie Anm. 1), 78–97. Zitiert in: Danielsmeyer, Evangelische Kirche von Westfalen (wie Anm. 44), 137. Lutherisch: Die Augsburger Konfession, die Apologie der Augsburger Konfession, die Schmalkaldischen Artikel, der Kleine und der Große Katechismus; reformiert: der Heidelberger Katechismus. Zitiert in: Danielsmeyer, Evangelische Kirche von Westfalen (wie Anm. 44), 138. Vgl. ebd. Soweit mir bekannt, gibt es über die Anzahl der zu diesen Bekenntnisständen gehörenden Gemeinden keine Informationen. Zitiert in: ebd.

Summary

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Summary King Friedrich Wilhelm III’s decree (Kabinettsorder) of 27th September, 1817 expressed the intention of establishing a union between the Lutheran and the Reformed churches in Prussia. Whether this union should be based on a dogmatic consensus or whether it should simply be some kind of administrative union remained a matter of controversy in the coming decades. At the General Synod in 1846 C. I. Nitzsch expressed the view that the symbolical writings of the church were documents of history which had to be understood in the light of the times in which they were written. He presented a new symbol (“Nitzschenum”) as the supposed epitome of the present dogmatic union of the churches. Nitzsch and his liberal party were opposed by F. J. Stahl who insisted on the perennial importance of the symbols of the Reformation Era and therefore pleaded for the continued existence of separate denominations within the union. The revised “Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung” (1855) specified that there should be full communion of parishes who had pledged themselves to different symbols, so that the territorial churches contained non-united Lutheran, non-united Reformed, Lutheran-united, Reformedunited and consensus-united parishes. This was an ecumenical model which, had it been adopted right from the beginning, would have eschewed much controversy and personal anxiety.

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts Gilberto da Silva

Vom „Geist des Protestantismus“ 1.

Einleitung

Zum Teil im Gefolge der von Spätaufklärung und Spätpietismus bzw. Rationalismus und Erweckung entwickelten Mentalitäten1 sowie angeregt durch die konkreten Anlässe des Reformationsjubiläums 1817 und des Augustana-Jubiläums 1830, aber nicht minder beeinflusst durch ein inflationäres Verstehen von „Freiheit“, beschäftigte man sich im 19. Jahrhundert intensiv mit der Frage nach der Bedeutung von Bekenntnisschriften für die evangelische(n) Kirche(n), wobei diese Frage besonders im Kontext der Bemühungen um die Union evangelischer Kirchen virulent wurde. Obwohl die Union keineswegs ein ausschließlich preußisches Phänomen war, wie aus deren Entstehung in anderen deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts zu entnehmen ist,2 dürfte in Preußen insofern eine Besonderheit darin bestehen, als dort Entstehung und Entwicklung der Union sehr stark vom Staat determiniert worden waren. Eine Voraussetzung dafür kann in der Behördenreorganisation der Stein-Hardenbergschen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts ausgemacht werden. Sie vervollkommneten einen Eingliederungsprozess der evangelischen Kirchen in die staatlichen Strukturen, der die kirchlichen Angelegenheiten in die Zu-

1

2

In diesem Aufsatz wird der Begriff „Mentalitäten“ in historisch-wissenschaftlichem Sinne verwendet, nämlich „als die Summe aller Vorstellungen, Wertorientierungen, Urteile und Vorurteile im Rahmen der Denkschemata einer Gesellschaft oder einer bestimmten Gruppe in einem bestimmten Zeitraum“ (Bertrand Michael Buchmann, Einführung in die Geschichte, Wien 2002, 44. Hervorhebungen im Original). Vgl. Gilberto da Silva, Lutherisches Bekenntnis gegen den Preußenkönig – der Kampf gegen die Union, in: Mariano Delgado/Volker Leppin/David Neuhold (Hg.), Ringen um die Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 15), Fribourg (CH)/Stuttgart 2011, 287–302, hier 287.

Vom „Geist des Protestantismus“

113

ständigkeiten des Innenministeriums brachte.3 Man kann hier durchaus von einer „Verstaatlichung aller kirchenleitenden Behörden“4 sprechen. Voraussetzungen dieser Art gaben den Auseinandersetzungen um die Union in Preußen eine sehr starke politisch-administrative Note, die die theologische Debatte etwas in den Hintergrund stellte, sie aber durchaus nicht gänzlich ausschaltete. Somit vermengten sich Politisches und Theologisches im Unionsunternehmen des 19. Jahrhunderts in einem komplexen Gefüge von Intentionen und Entscheidungen, die auf der Hintergrundfolie der damals herrschenden Mentalitäten verstanden werden müssen. Exemplarisch kann dieser Sachverhalt anhand des damals viel beschworenen und in der Kabinettsorder vom 27.9.1817 erwähnten „Geistes des Protestantismus“ dargestellt werden.

2.

Die Kabinettsorder vom 27.9.1817

Entsprechend der landeskirchlichen Wahrnehmung der kirchlichen Leitung und Verwaltung durch staatliche Behörden und der Stellung des Königs als Summus Episcopus Ecclesiae in seinem Land, war die „allerhöchste königliche Kabinettsordre“ Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) vom 27.9.1817,5 seine „Vermahnung“6 zur Union, auf der einen Seite ein Gesetz im Rahmen der monarchischen – und episkopalen – absolutistischen Gesetzgebungskompetenz, auf der anderen Seite eine Begründungsurkunde, die theologisch sehr vage blieb.7 Bekanntlich entstammte der Text des „Unionsaufrufes“ nicht der Feder des Königs selbst, sondern war vom Hofprediger und späteren Bischof Rulemann Friedrich Eylert (1770– 1852), einem entschiedenen Befürworter und Architekten der preußischen Union, verfasst worden.8 Die in der Forschung umstrittene Frage einer Divergenz oder Konvergenz zwischen den tatsächlichen Absichten des Königs und dem von Eylert verfassten Text sowie dessen Interpretation und Umsetzung durch das Innenministerium9 soll hier nicht weiter verfolgt werden. Absichten, Text und Umsetzung konvergierten jedoch insofern, als sie den Mentalitäten entsprachen und innerhalb des Gemenges von Theologischem und Politischem verstanden werden müssen. 3

4 5

6 7 8 9

Vgl. J. F. Gerhard Goeters/Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992, 30. A.a.O., 57. Text in Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kir2 chen (OUH Ergänzungsband 6), Göttingen 2010, 33f. Tuomo Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg. Hintergrund und Entwicklung der theologischen Methode der Leuenberger Konkordie, Hamburg 1981, 18. Vgl. Jürgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen. Die Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes 1813–1835 (BWFKG 8), Bielefeld 1991, 117. Vgl. a.a.O., 113f. Vgl. a.a.O., 117ff.

114

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

Der „Unionsaufruf“ selbst beschrieb die Union als „ein Gott gefälliges Werk, welches in dem damaligen unglücklichen Sekten-Geiste unüberwindliche Schwierigkeiten fand, [jetzt aber] unter dem Einflusse eines besseren Geistes, welcher das Außerwesentliche beseitigt und die Hauptsache im Christenthum, worin beide Confessionen Eins sind“,10 wieder umgesetzt werde. Um dies zu untermauern, wurde noch hinzugefügt: „Eine solche wahrhaft religiöse Vereinigung der beiden, nur noch durch äußere Unterschiede getrennten, protestantischen Kirchen ist den großen Zwecken des Christenthums gemäß; sie entspricht den ersten Absichten der Reformatoren; sie liegt im Geiste des Protestantismus; sie befördert den kirchlichen Sinn; sie ist heilsam der häuslichen Frömmigkeit; sie wird die Quelle vieler nützlichen, oft nur durch den Unterschied der Confession bisher gehemmten Verbesserungen in Kirchen und Schulen.“11 Welche die „großen Zwecke“ des Christentums seien, erläuterte die „allerhöchste königliche Kabinettsordre“ nicht. Doch dürfte ganz im Sinne der Mentalitäten des 19. Jahrhunderts damit eine moral-ethische Erziehung gemeint sein – ein wichtiges Anliegen des aufgeklärten Staates. Was die „Absichten der Reformatoren“ angeht, entsprach die Behauptung durchaus dem zur Zeit der ersten Generation von Reformatoren unermüdlichen Einsatz Martin Bucers und in gewisser Hinsicht auch dem Melanchthons, aber keineswegs den Positionen Luthers oder Zwinglis. Calvin wären ebenfalls anfänglich Einigungsvorhaben mit den Lutheranern zu attestieren, die jedoch spätestens durch den Consensus Tigurinus von 1549 aufgegeben worden waren. Während die meisten in der Kabinettsorder aufgelisteten „Vorteile“ der Union eher praktischer Natur sind, verdient der Hinweis auf den „Geist des Protestantismus“ – der in deutlicher Opposition zum „Sekten-Geist“ und in Konformität mit 10

11

Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 33 (Hervorhebungen GdS). Disparate Mentalitäten des ausgehenden 18. Jahrhunderts wie der Spätpietismus und die aufklärerische Neologie fanden sich wieder zusammen beim Plädoyer für die „Hauptsache“ bzw. das Wesentliche im Christentum. Eine Praxisorientierung der Theologie, gekoppelt mit einer Ethisierung der Dogmatik und einer Relativierung der Bekenntnisbindung charakterisierten das Wesentliche (vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 2001, 468ff.). Was die Neologie angeht, war Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert „eine weit über die preußischen Landesgrenzen hinaus wirkende Hochburg der Aufklärungstheologie“ (Goeters/ Mau, Die Geschichte der EKU 1 [wie Anm. 3], 178), die einen großen Einfluss auf die Zeitgenossen ausübte (vgl. a.a.O., 179). Im Wirkungsfeld jener Mentalitäten trat eine Auflösung alter Gottesdienstformen ein; Moralismus und Ethizismus prägten den Stil vieler Predigten, und der Katechismusunterricht gestaltete sich in Form einer allgemeinen Tugendlehre (vgl. a.a.O., 180). Sicher müsste in diesem Zusammenhang, besonders in Bezug auf die an den theologischen Fakultäten betriebene Theologie, eine Unterscheidung zwischen einer „vorkantianischen“ Neologie, die nach möglichen Harmonisierungen zwischen Glauben und Vernunft suchte, und einem „nachkantianischen“ Rationalismus, der das „Unvernünftige“ ablehnte (vgl. a.a.O., 180f.), vorgenommen werden. Darüber hinaus kam es aber auch zu punktueller Relativierung bzw. Kritik an dem theologischen Rationalismus, wie die Auseinandersetzungen um und mit August Tholuck (1799–1877) in Halle ab 1825 beweisen (vgl. Hauschild, Lehrbuch 2 [s.o.], 774). Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 33 (Hervorhebungen GdS).

Vom „Geist des Protestantismus“

115

dem „besseren Geist“ steht – eine nähere Betrachtung, denn er dürfte die im Kontext der Auseinandersetzungen um Union und Bekenntnis infrage kommenden Mentalitäten jenes Jahrhunderts am deutlichsten widerspiegeln.

3.

Der „Geist des Protestantismus“

Der im Text der Kabinettsorder beschworene „Geist des Protestantismus“ stand in einem Zusammenhang von Mentalitätenentwicklungen, die den Anfang des 19. Jahrhunderts charakterisierten. Evangelische Kirche, Theologie und Frömmigkeit wurden von drei großen Bewegungen bestimmt: Aufklärung, Orthodoxie und Pietismus.12 Die Aufklärung hatte zu einer Säkularisierung von Staat und Gesellschaft geführt, die die Rationalität als Grundprinzip von Geisteshaltung und Lebensgestaltung in den Mittelpunkt stellte. Diese Rationalität verlangte eine Neugestaltung veralteter Strukturen und Institutionen, die auch Kirche und Religion betraf. Dazu gehörte das Plädoyer für eine „rationale“ Religion als Menschheits- oder Kulturreligion, in der das Dogma abgeschafft werden und die Praxisorientierung bestimmend sein sollte. Darin verloren die innerevangelischen konfessionellen Unterschiede an Bedeutung. Diese „rationale“ Mentalität wurde durch eine „emotionale“ ergänzt, die vom Pietismus bestimmt wurde. Dieser erstrebte eine Frömmigkeitserneuerung durch Verinnerlichung und Individualisierung, in der der persönliche Glaube und das eigene fromme Gefühl wichtiger als institutionelle Kirche und Konfession waren. Hier wurde der Akzent auf das gläubige Leben statt auf die theologische Lehre gesetzt, wobei in der Betonung der Praxisorientierung Pietismus und Aufklärung eine bedeutende Schnittmenge vorzuweisen hatten.13 Im Kontext jener Mentalitäten spielte die Vermittlungstheologie Friedrich Schleiermachers (1768–1834) eine wichtige Rolle. Darin war Religion im Sinne von Idealismus und Romantik nicht auf bloße Vernunft und Moral zu reduzieren, sondern in der Totalität des Menschen zu verankern, wobei Gefühl, Fantasie und auch Gewissen dazu gehörten. Christsein sollte nicht nur vernünftiges Kennen und tugendhaftes Wollen, sondern eine Verwandlung der ganzen Existenz sein. Dabei nahm Schleiermacher Aspekte sowohl der Aufklärung als auch des Pietismus auf und wurde zu einem der größten Befürworter der Union, denn für ihn gab es keine fertige Lehre, kein fertiges Dogma, keine Fortgeltung zu anderen Zeiten formulierter Sätze; vielmehr müsse jede Epoche aus sich heraus ihre eigene Erklärung und sprachliche Formulierung für die christliche Existenzdeutung und Sinnvermittlung finden.14 Für Schleiermacher stellten die evangelischen Bekenntnisschriften „nicht 12 13 14

Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, 423. Vgl. Hauschild, Lehrbuch 2 (wie Anm. 10), 423f.; da Silva, Lutherisches Bekenntnis (wie Anm. 2), 289. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 12), 427.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

etwa in ihrer vorliegenden Gesamtheit eine für immer hinreichende normative Definition protestantischen Christentums in Leben und Lehre dar. Sie sind zu allererst das apologetische und polemische Selbstzeugnis des sich bildenden Protestantismus in der ersten Phase ihrer Entwicklung.“15 Somit wurde die historische Bedingtheit evangelischer Bekenntnisse hervorgehoben und als entscheidendes Kriterium für die Frage nach ihrer zeitgenössischen Geltung festgestellt. Schleiermacher begründete seine Position mit dem Grundgedanken, dass die evangelische Lehre sich nicht auf den Buchstaben der Bekenntnisschriften stütze, sondern auf den gegenwärtigen Gemeingeist der Kirche und ihrer Verkündigung. Aus diesem Grund seien kirchliche Lehrgesetze und eine Verpflichtung auf historische Bekenntnisschriften abzulehnen.16 Die anfangs genannten historischen Mentalitäten sowie deren Umformung und Umsetzung in der schleiermacherschen Theologie brachten im evangelischen Lager eine Distanzierung gegenüber den reformatorischen Bekenntnisschriften, die sich für viele Lutheraner als schwierig oder gar inakzeptabel erwies.17 Der im Text der Kabinettsorder beschworene „Geist des Protestantismus“ war für den preußischen König bzw. für dessen Hofprediger Eylert der Geist der Union, der das jedoch nur sein konnte, wenn er auf der Hintergrundfolie von Aufklärung, Pietismus und schleiermacherscher Vermittlungstheologie verstanden wurde. Da eine eingehende Interpretation des „Geistes des Protestantismus“ im Kontext des 19. Jahrhunderts hier zu weit führen würde, sei lediglich auf drei Aspekte jenes „Geistes“ hingewiesen: Der „Geist des Protestantismus“ des 19. Jahrhunderts war unter anderem ein „Geist der Freiheit“, ein „antirömischer Geist“ und ein „Geist des privaten Glaubens und Bekennens“. Diese für jene Zeit typischen Mentalitäten bestimmten größtenteils im staatspolitisch-theologischen Komplex die Auseinandersetzungen um (preußische) Union und (lutherisches) Bekenntnis. 3.1

Der Geist der Freiheit

Die Debatte um eine angeblich genuin protestantische Differenzierung zwischen „Geist“ und „Buchstabe“ der Bekenntnisschriften prägte die kirchlich-theologische Landschaft im 19. Jahrhundert quer durch die deutschen Staaten. Entscheidend in dieser Debatte war das Verständnis von „Freiheit“ bzw. „evangelischer Freiheit“. In Kurhessen beispielsweise sah der Kasseler Obergerichtsanwalt Heinrich Henkel im Plädoyer für die Bekenntnisbindung ordinierter evangelischer Pfarrer im Kontext 15 16 17

Martin Ohst, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989, 117. Vgl. Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 3), 195f. Zum objektiv-gemeinschaftlichen im Gegensatz zum subjektiv-individuellen Charakter des kirchlichen Bekenntnisses vgl. Hermann Sasse, In statu confessionis, Bd. 1: Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin und Schleswig-Holstein 1975, 15. Zum lutherischen Bekenntnisverständnis vgl. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, Bd. 1, Berlin/New York 1996, 127–142.

Vom „Geist des Protestantismus“

117

des sogenannten „kurhessischen Symbolstreits“ von 1839 einen inakzeptablen Widerspruch zum reformatorischen Prinzip der „Freiheit“. Das Verlassen dieses Prinzips durch die Bindung an die Bekenntnisschriften bedeutete für ihn nichts anderes, als dass der „Protestantismus nur ein Papstthum in anderer Form“ sei.18 Dazu gab er seine eigene Definition von „Protestant“: Dieser sei derjenige, „der gegen alle Unvernunft und gegen alle Tirannei [sic] in Glaubenssachen protestirt[,] der sich das Evangelium weder durch den Papst, noch durch sonst jemand, wäre es auch der Doktor Luther, versperren läßt und der es lieset nicht mit verschlossenen, sondern mit offenen Augen, nicht mit Begier nach Unvernünftigem und Finsterem, sondern mit Verlangen nach Vernünftigem und Hellem, und der es so versteht, wie es ihm sein unverfälschtes, für Wahrheit offenes Herz, sein ungetrübter, nicht lichtscheuer Blick verstehen heißt, nicht aber wie es ihm Concilien oder Synoden oder Pfaffen befehlen“19. In der Tat sei es das „Grundprinzip“ der evangelischen Kirche, dass „in ihr keine erzwungene Gleichförmigkeit gilt“20. Das Verständnis von evangelischer Freiheit im „Geist des Protestantismus“ erhielt in jenem Kontext auch hegelianische Dimensionen, wie aus den Schriften des Marburger Philosophieprofessors Karl Theodor Bayrhoffer zu entnehmen ist. Für ihn war die evangelische Kirche „die Kirche der freien Innerlichkeit des Geistes, die vor der absoluten Herrlichkeit des Gottmenschen und seiner geistigen Darstellung im Evangelium die menschlichen Fesseln zerbrochen, und die freie Wiedergeburt des Geistes aus dem Geiste offenbart hat. Hiernach ist auch die Rechtfertigung aus dem Glauben zu verstehen. Dieses ist die tiefste Wurzel, in allen Bekenntnissen ausgesprochen, das absolute Recht“21 der evangelischen Kirche. Die Rechtfertigung nach CA IV definierte Bayrhoffer als eine „Identität des innersten Gemüthes mit Jesu Christo“, den dazu gehörenden Glauben als „die totale geistige Immanenz in dem Sein Christi, aus welcher dann die guten Gesinnungen, Gedanken, Werke unaufhörlich hervorquellen“. Es handele sich also um eine „geistige unsichtbare Versöhnung“, deren „Vermittlung nur in dem Gewissen des Christen möglich“ sei. Darin liege „die Freiheit des evangelischen Christen von aller äusseren Auctorität“22. Die „mit dem Gewissen identische Substanz“, die „absolute Freiheit“, sei das reformatorische Prinzip, das sich historisch verwirkliche, „und 18 19 20 21

22

Heinrich Henkel, Einige Worte wider die Feinde der Vernunft und der Glaubensfreiheit, Cassel 1839, 9. A.a.O., 9f. A.a.O., 10. Karl Theodor Bayrhoffer, Erste kritische Beleuchtung der Schrift des Herrn Oberappellationsrathes Dr. Johann Wilhelm Bickell: Ueber die Verpflichtung der evangelischen Geistlichen auf die symbolischen Schriften, mit besonderer Beziehung auf das kurhessische Kirchenrecht, Cassel, 1839. Gegen die unfreie Anschauung der evangelischen Kirche, 2., vermehrte Aufl., Leipzig 1839, 12 (Hervorhebungen im Original). A.a.O., 13f. (Hervorhebungen im Original). In dem Zusammenhang lobte Bayrhoffer den Reformator Ulrich Zwingli, der sich nicht Luther unterwerfen ließ und „Fleisch und Blut zu einem Gleichnisse der inneren Assimilation des Geistes und spirituellen Lebens Christi herab[setzte]“ (a.a.O., 14; Hervorhebungen im Original).

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

somit constituirt sich die Kirche in dieser oder jener Positivität (lutherische, reformirte, anglicanische Kirche, dann die kleineren Formen); aber jenes absolute Princip setzt alle diese Formen in Fluß, und läßt neue Gestalten aus den früheren und in ihnen ohne Aufhebung, vielmehr als Bethätigung des freien Geistes, der keine menschliche Auctorität im Himmel gelten läßt, hervorbrechen“23. In Preußen veröffentlichten die Breslauer Professoren Daniel von Coelln und David Schulz anlässlich der Augustana-Jubiläumsfeier 1830 eine offene Erklärung mit dem Titel „Über theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher“. Die beiden Professoren bemerkten in ihrer Schrift zutreffend, „daß die immer schroffer hervortretende Differenz in den angeregten Punkten [sc. im Verständnis der Rolle des Bekenntnisses] eine innerliche Auflösung des kirchlichen Verbandes herbei geführt habe“24. Ihr Augenmerk richtete sich aber auf die akademische Lehrfreiheit, die ihrer Meinung nach „vernichtet würde, wenn sie durch die Lehrnorm eines Bekenntnisses sollte gebunden und beschränkt werden, welches vorübergegangenen theologischen Bildungsstufen angehört und mit der herrschenden Überzeugung der Gegenwart nicht mehr übereinstimmt“25. Diejenigen, die auf die Verbindlichkeit der Bekenntnisschriften setzten, wurden von den beiden Professoren „Fanatiker“ oder „Schwärmer“ genannt.26 Eine Verpflichtung auf evangelische Bekenntnisschriften wurde als ein unevangelisches Herrschen der kirchlichen Autorität oder Tradition über die Heilige Schrift gedeutet.27 In dieser Schrift kommt die Spannung zwischen dem Anspruch reformatorischer Bekenntnisschriften und dem sogenannten neuprotestantischen Bewusstsein28 im Sinne von „Freiheit“ sehr deutlich zum Vorschein. Der bereits erwähnte „kurhessische Symbolstreit“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein konkretes Beispiel für eine Auseinandersetzung dieser Art. Darin zeigte bereits 1839 der seit 1832 als Oberrat des Appellationsgerichts in Kassel und seit 1841 als Direktor des Obergerichts in Marburg tätige Johann Wilhelm Bickell die Problematik des neuen Zugangs zur evangelisch verstandenen Freiheit. Die Begründung der Lehrfreiheit mit der gerade „durch die Reformatoren erworbene[n] Lehrfreiheit“ in dem Sinne, „daß einem Jeden in der evangelischen Kirche die freie Erforschung und Erklärung des Inhalts der h[eiligen] Schrift zustehe, so daß nach dem Wesen oder dem ‚Geiste‘ des Protestantismus es genüge, wenn man sich lediglich an das durch einen solchen Gebrauch der h[eiligen] Schrift als 23 24

25 26 27 28

A.a.O., 16 (Hervorhebungen im Original). Daniel von Coelln/David Schulz, Über theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher. Eine offene Erklärung und vorläufige Verwahrung, Breslau 1830, 6 (Hervorhebungen im Original). A.a.O., 8. Vgl. a.a.O., 15.18. Vgl. a.a.O., 22. Vgl. Wolfgang Sommer, Die Stellung Semlers und Schleiermachers zu den reformatorischen Bekenntnisschriften. Ein theologiegeschichtlicher Vergleich, in: KuD 35 (1989), 296–315, hier 296.

Vom „Geist des Protestantismus“

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alleiniger Glaubensnorm erlangte Resultat halte“29, sei eigentlich ein Trugschluss, denn er bedeute, dass „die Erklärung des Inhalts der heiligen Schrift dem subjectiven Ermessen des Einzelnen Preiß“30 gegeben werde. Für Bickell bedeutete also der Verzicht auf die evangelischen Symbole mit Rückgriff auf die evangelische Freiheit ekklesiologisch einen Widerspruch, denn gerade damit würden zentrale Merkmale der evangelischen Kirche, wie beispielsweise die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, aus rationalistischen Gründen zur Disposition gestellt. Ohne diese Lehre sei die Kirche aber nicht mehr evangelisch, so dass der Freiheitsbegriff in diesem Zusammenhang ad absurdum führe.31 3.2

Der antirömische Geist

Wie bereits oben angedeutet, war die auf der evangelischen Freiheit basierende Argumentation gegen die Bekenntnisbindung mit einem weiteren wichtigen Aspekt im damaligen Verständnis vom „Geist des Protestantismus“ eng verbunden: der Abgrenzung bzw. Identitätsbestimmung des Protestantismus gegenüber dem römischen Katholizismus. Bei der Betonung der evangelischen Freiheit im „Geist des Protestantismus“ wurde beispielsweise der Kurhesse Henkel sehr deutlich, indem er behauptete, die historische Aufstellung von Bekenntnissen entspringe nicht aus dem „Grundprinzip“ der evangelischen Kirche, sondern sei „ein Rückfall zum Papstthum“.32 Im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche war für Henkel das einzige Symbol der Protestanten das Evangelium: „Dies lesen, verstehen und bekennen wir aber frei, und aus dieser Freiheit der Auslegung und des Bekenntnisses folgt von selbst, daß auch verschiedene Ansichten vorkommen.“33 Die Verschiedenheit der Ansichten sei jedoch kein Problem, denn alle glaubten „an Gott und Unsterblichkeit, und daß man sowohl diesseits als jenseits des Grabes nur durch einen rechtschaffenen Lebenswandel zum wahren Frieden gelangen könne“34. Mit der Benennung der aufklärerischen Trias zeigte Henkel deutlich, im Rahmen welcher Mentalitäten er sich artikulierte. Auch der hegelianische Marburger Philosoph Bayrhoffer definierte die „Substanz“ der evangelischen Kirche in Abgrenzung zur römisch-katholischen, denn die evangelische Kirche „hat sich historisch als ein Durchbrechen des Geistes der

29

30 31 32 33 34

Johann Wilhelm Bickell, Ueber die Verpflichtung der evangelischen Geistlichen auf die symbolischen Schriften mit besonderer Beziehung auf das kurhessische Kirchenrecht, Cassel 1839, 5 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 6 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 10f. Henkel, Einige Worte (wie Anm. 18), 10. A.a.O., 11 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 12; vgl. zum Ganzen Gilberto da Silva, Bekenntnis und kirchliche Identität – einige Aspekte des sogenannten „kurhessischen Symbolstreits“, in: LuThK 35 (2012), 57–91, hier 65ff.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

Immanenz durch die äusserliche Gestalt und die schroffen Gegensätze und geistlose Auctorität des Katholicismus herausgerungen“35. Die Identitätsbestimmung des Evangelischen in Abgrenzung zum Römischkatholischen war auch für Schleiermacher von großer Bedeutung. Der evangelische Geistliche sollte nach seiner Überzeugung darauf verpflichtet werden,36 die Grenze zum römischen Katholizismus nicht zu überschreiten. Historisch gesehen markierte für Schleiermacher die Confessio Augustana idealtypisch diese Grenzziehung. Wegen ihrer zeitlichen Priorität, der Umstände ihrer Genese und ihrer besonderen reichsrechtlichen Wirkungsgeschichte erhielt für ihn die CA diesen Status. „Die reformirenden Lehrer wollten in diesem Bekenntniß [sc. der CA] auf der einen Seite darlegen, auf was für kirchlichen Abänderungen sie aus Drang ihres Gewissens unabänderlich bestehen müßten, und aus welchem Grunde der Lehre.“37 Bei der Beurteilung des „Werts“ der CA bzw. der evangelischen Bekenntnisschriften war für Schleiermacher der hermeneutische Kanon entscheidend, dass „überall die Aufstellung eines bestimmten Gegensatzes gegen die katholische Kirche die Hauptsache“ war.38 Der schleiermachersche „idealtypische Status“ einer Bekenntnisschrift entpuppte sich aber doch als ein gewisser Bekenntnisbindungsanspruch, was nicht anders sein konnte, denn gerade dort waren die gewünschten bzw. notwendigen Abgrenzungen zum römischen Katholizismus abgesteckt. Somit führte auch diese Argumentation im „Geist des Protestantismus“ zu einem Widerspruch im Anspruch. Selbstverständlich darf der Gegensatz zum römischen Katholizismus in den deutschen Ländern des 19. Jahrhunderts nicht auf das Kirchlich-theologische reduziert werden. Die sogenannte „Entfeudalisierung“39 der römisch-katholischen Kirche im Gefolge von Revolution, napoleonischer Neuordnung und großen Reformen brachte ihr eine neue Dynamik, die sie – im Gegensatz zum Provinzialismus der evangelischen Landeskirchen – zu einer internationalen, aber wiederum stark an Rom gebundenen Kirche machte. Damit verbunden war auf der einen Seite der Aufstieg des Papsttums im 19. Jahrhundert zu einem Absolutismus, von dem mancher deutsche Fürst nur träumen konnte; auf der anderen Seite die Bildung von starken römisch-katholischen Mentalitäten und Frömmigkeiten, die die von protes35 36 37

38 39

Bayrhoffer, Erste kritische Beleuchtung (wie Anm. 21), 12 (Hervorhebungen im Original). Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 3), 196. Friedrich Daniel Schleiermacher, Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher, in: Hans-Joachim Birkner (Hg.), Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, Berlin/New York 1990 (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 10, hg. von Hans F. Traulsen, Berlin/New York 1990), 122. Für Schleiermacher stellt die Confessio Augustana „den Versuch dar, diese Abänderungen [sc. des kirchlichen Lebens im evangelischen Sinne] der anderen Seite als aus Gewissensgründen plausibel zu machen und für sie Duldung zu erlangen, die aber nicht gewährt wurde“ (Ohst, Schleiermacher [wie Anm. 15], 113). Schleiermacher, Ueber den eigenthümlichen Werth (wie Anm. 37), 119–144, hier 139; vgl. Ohst, Schleiermacher (wie Anm. 15), 118. Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 12), 407.

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tantischen Fürsten beherrschten deutschen Länder herausforderten und für Spannungen sorgten.40 Bei der Untersuchung der damaligen kirchlich-theologischen Grenzziehung zum Römisch-katholischen darf also der politische Faktor auf keinen Fall unterschätzt werden. Es liegt auf der Hand, dass das Unionsprojekt des 19. Jahrhunderts auch politisch darauf abzielte, eine starke protestantische Kirche als Gegengewicht zum römischen Katholizismus ins Leben zu rufen. 3.3

Der Geist des privaten Glaubens und Bekennens

Für den Marburger Philosophen Bayrhoffer hörte die evangelische Kirche nicht auf, „die evangelische, d. h. die sich auf das Evangelium als einzige Norm stützende Kirche zu sein“, selbst wenn sie ihre Auslegung ändere. Aufgrund dessen „kann jeder Einzelne dieses oder jenes des Symbolums negiren als der reinen Lehre des Evangeliums widersprechend, ohne deshalb aus einer Kirche austreten zu müssen, welche ja selbst ihr eigenes Bekenntniß der heiligen Schrift ausdrücklich unterwirft“41. Eine Bekenntnisschrift sei nur Auslegung der Heiligen Schrift vermittelt durch Menschen und dürfe deswegen keine absolute Autorität haben. Nur als rechte Auslegung hätten die symbolischen Bücher Wahrheit, dass „aber diese Auslegung absolut wahr sei, ist zu beweisen, und von jeher hier und da bestritten“42. Diese Freiheit sei Prinzip der (evangelischen) Kirche.43 Die subjektiv-private Auslegung sei in hegelianischer Manier in der Tat die „unendliche Entwicklung des Geistes“44. Dieser Subjektivismus bzw. diese Privatisierung des Bekennens spiegelte die Blüte der bürgerlichen Kultur mit Neuhumanismus und Klassizismus, Idealismus und Romantik wider, welche zwar neue Impulse für Religion und Theologie (siehe Schleiermacher) brachte, aber wie bereits „in der Aufklärungszeit verlieren auch hier die konfessionellen Normen und Anschauungen ihre prägende Wirkung“45. Das geschah nicht zuletzt wegen der Behauptung einer individuellen Befreiung von Sachzwängen wie den als solchen gesehenen reformatorischen Bekenntnissen. Davon zeugte auch der fromme Wunsch der „allerhöchsten königlichen Kabinettsordre“, dass sich die Union „aus der Freiheit eigener Ueberzeugung […] [,] in der Einigkeit der Herzen, nach ächt biblischen Grundsätzen“46 realisieren lasse. Bereits Johann Salomo Semler (1725–1791) vollzog eine Fundamentalunterscheidung zwischen Theologie und Religion, die in einer Differenzierung von öffentlicher und privater Theologie einerseits und öffentlicher und privater Religion ande40 41 42 43 44

45 46

Vgl. a.a.O., 406ff. Bayrhoffer, Erste kritische Beleuchtung (wie Anm. 21), 18 (Hervorhebungen im Original). A.a.O., 33 (Hervorhebungen im Original). A.a.O., 19f. A.a.O., 23. Allerdings räumt Bayrhoffer ein, dass die symbolische Lehre – den Grundlehren nach – „die rechte Vorstellungsweise des Christentums“ sei, wobei die alles entscheidende Idee von den Äußerlichkeiten getrennt werden müsse (a.a.O., 21f.). Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 3), 30. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 33f.

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rerseits entfaltet wurde. Während unter „Theologie“ die erlernbare freie Gelehrsamkeit verstanden wurde, subsummierte er unter „Religion“ die für alle Christen zu ihrem Heil notwendige Erkenntnis der christlichen Wahrheit. Quer zu dieser Differenzierung lief wiederum die Qualifikation der Bereiche in „öffentlich“ oder „privat“. Im öffentlichen Bereich der Theologie bzw. Religion spielten die Dogmen bzw. die Bekenntnisschriften einer Konfession eine identifizierende oder identitätsbildende Rolle, während im privaten Bereich solche eine Bindung dem Gewissen des einzelnen Christen überlassen wurde.47 Denn „[a]n die in einer Kirche notwendig geltenden Lehrbekenntnisse ist […] die Privattheologie eines Christen keineswegs gebunden“48. Semlers Vorstellungen der „Privatreligion“ korrespondierten mit dem religiösen „Individualitätsgedanken“ Schleiermachers.49 Sicher wäre es verfehlt, Semlers und Schleiermachers Grundgedanken einseitig „im Sinne eines religiösen Subjektivismus“ zu interpretieren,50 aber sie spiegelten aus unterschiedlichen Blickwinkeln deutlich die mentalitätenbedingte epochale Abkehr von der Notwendigkeit einer Bekenntnisbindung zugunsten einer individuell-subjektiven bzw. privaten Religionsfreiheit wider. Im damaligen „Geist des Protestantismus“ war also eine Privatisierung des Glaubens inbegriffen, die eine starke Spannung zum gemeinschaftlichen Charakter51 der reformatorischen Bekenntnisse auswies. Im Rahmen dieser Mentalitäten „konnte es nicht zu einem tieferen Verständnis des Wesens der Kirche kommen“52. Schleiermacher versuchte, dieser Spannung anhand einer Differenzierung zwischen „Bekenntnis“ und „Bekennen“ zu begegnen. Die historischen reformatorischen Bekenntnisschriften hätten ihren Wert auf der einen Seite im evangelisch-stiftenden, auf der anderen Seite im sich gegenüber der römisch-katholischen Kirche abgrenzenden Charakter.53 Das individuelle Bekennen, obwohl von den historischen Texten angeregt, war aber von diesen für Schleiermacher zu trennen, damit „aus dem an sich toten Werk des formulierten Bekenntnisses einer vergangenen Zeit neues Leben für den einzelnen und für die kirchliche Gemeinschaft hervorgehen kann“54.

47 48

49 50 51

52 53 54

Vgl. zum Ganzen: Sommer, Die Stellung Semlers und Schleiermachers (wie Anm. 28), 305–307. A.a.O., 307. „Es muß und kann deutlich gesagt werden: eines Christen Seligkeit beruht nicht auf der öffentlichen kirchlichen Religion, sondern auf ihrem Inhalt, der nur seine Privatreligion ausmacht: die kann mit der kirchlichen einerlei sein, sie kann aber auch den Privatvorstellungen nach davon verschieden sein“ (ebd). Vgl. a.a.O., 308. Ebd. Vgl. „Ecclesiae magno consensu apud nos docent […]“ (CA I, 1, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [BSLK], 50, 1–2); die Formulierung im Plural eröffnet das Bekenntnis, wobei von „Konsensus“ nur gesprochen werden kann, wenn Mehrere daran beteiligt sind (s. Anm. 81). Sommer, Die Stellung Semlers und Schleiermachers (wie Anm. 28), 309. Vgl. a.a.O., 310. Ebd.

Vom „Geist des Protestantismus“

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Nochmals kann hier der „kurhessische Symbolstreit“ beispielhaft herangezogen werden, denn dort sorgte der Versuch einer Unterscheidung zwischen „Bekenntnis“ und „Bekennen“ für eine interessante Konstellation. In seiner Argumentation für die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften unterschied Bickell zwischen einem „buchstäblichen Festhalten des gesammten Inhalts“, wovon „keinenfalls die Rede seyn kann“, und der „Substanz“ der symbolischen Bücher.55 Damit meinte er „das eigentliche Dogma im Gegensatze zu der Beweisführung und dem sonstigen Inhalte als Richtschnur“56. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein Gegner der Bekenntnisverpflichtung, der außerordentliche Pfarrer und Korrektor an der Bürgerschule zu Hofgeismar, Wilhelm H. Meurer, bei der Unterscheidung zwischen dem Wesentlichen („Substanz“) und dem Unwesentlichen („Buchstabe“) der Bekenntnisse ein rechtliches Problem sah: Das Plädoyer für eine kirchengesetzliche Geltung der Symbole, das aber gleichzeitig behauptet, einiges darin sei im jetzigen historischen Kontext unwesentlich bzw. nicht anwendbar, sei nichts anderes als eine subjektive Regel, die zu einer objektiv gültigen gemacht werde. Doch eine Rechtsnorm könne nicht auf subjektivem Ermessen basieren.57 Für Meurer gab es dann nur zwei Alternativen: entweder „auf eine unbedingte, totale und permanente Verpflichtung auf die symbolischen Bücher zu bringen, oder die Lehre ganz frei zu geben“58. 3.4

Zwischenbilanz

Der im 19. Jahrhundert zu beobachtende „Geist des Protestantismus“ wies unter anderem drei stark miteinander verwobene und voneinander abhängige Aspekte auf: die evangelische Freiheit, den protestantischen Antikatholizismus und die Privatisierung vom Glauben und Bekennen. Dieser „Geist“, der im Gefolge von Aufklärung und Pietismus59 stand, bedingte somit eine Relativierung der Bedeutung reformatorischer Bekenntnisse, was die Idee einer Union evangelischer Kirchen förderte. Doch gleichzeitig implizierte die Beschwörung eines „Geistes des Protestantismus“ den Rekurs auf eine evangelische Tradition, die wiederum in den historischen reformatorischen Bekenntnissen begründet war. Diese Spannung, gar Widerspruch, wurde von den Breslauer Professoren von Coelln und Schulz sehr wohl wahrgenommen, indem sie auf das problematische Verhältnis zwischen Union und Bekenntnis hinwiesen: „Denn diese Vereinigung [sc. die Union evangelischer Kirchen] kann mit der Verpflichtung auf die, aus der Trennung beider evangeli55 56 57

58 59

Bickell, Ueber die Verpflichtung (wie Anm. 29), 3 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 3f. (Hervorhebung im Original). Wilhelm H. Meurer, Ein Wort über Lehrfreiheit in der evangel.-protest. Kirche. Zugleich als Beitrag zu einer allseitigen, unbefangenen Würdigung der Schrift des Herrn Oberappellationsraths Dr. J. W. Bickell: über die Verpflichtung der evangelischen Geistlichen auf die symbolischen Schriften, mit besonderer Beziehung auf das Kurhessische Kirchenrecht, Kassel 1839, 17. A.a.O., 22 (im Original ist der Text hervorgehoben [gesperrt]). Vgl. Sommer, Die Stellung Semlers und Schleiermachers (wie Anm. 28), 311.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

schen Kirchen hervorgegangenen, bisherigen Bekenntnisschriften nicht zusammenbestehen, und die vereinigte evangelische Kirche hat bis jetzt keine allgemein gültige Bekenntnisschrift aufzuweisen.“60 Aber sie verfielen wieder in den Widerspruch, indem sie behaupteten: „Die Vereinigung kann nur dadurch herbeigeführt werden, daß man von allen bisherigen evangelischen Bekenntnißschriften abstrahirt, auf den gemeinsamen Quell der Erkenntnis des Heils in der heiligen Schrift zurückgeht und von diesem Standpunkte aus sich über die ewigen Grundwahrheiten des Christenthums zu verständigen sucht.“61 Selbst die Gegner der Bekenntnisse sahen diese Unterscheidung als nicht zielführend an, denn eine Differenzierung zwischen „Bekenntnis“ und „Bekennen“ oder zwischen „Geist“ und „Buchstabe“ des Bekenntnisses könne nicht widerspruchsfrei sein, weil das eine ohne das andere im Rahmen des ekklesiologisch als „evangelisch“ Definierten bzw. sich Definierenden nicht möglich sei. Nun blieb in den ganzen Debatten des 19. Jahrhunderts die Frage unbeantwortet, wie die in der Kabinettsorder von 1817 behaupteten „ewigen Grundwahrheiten des Christentums“ aus der Heiligen Schrift in evangelischer Sicht zu eruieren seien, ohne dass durch die evangelischen Bekenntnisschriften die hermeneutischen Schlüssel vorgegeben würden.62 Die konsequente Umsetzung des damals so verstandenen „Geistes des Protestantismus“ würde in letzter Konsequenz die Selbstauflösung des Protestantismus bedeuten, denn er enthielt die Infragestellung des eigenen Gründungsmoments.

4.

Der „Geist des Protestantismus“ bei der lutherischen Opposition

Die evangelische Freiheit im „Geist des Protestantismus“ war für die lutherische Opposition in Preußen – und auch in anderen deutschen Ländern des 19. Jahrhunderts – zunächst eine Gewissensfreiheit, die scheinbar paradoxerweise im Sinne einer Gewissensbindung artikuliert wurde. In einer Bittschrift Johann Gottfried Scheibels (1783–1843), eines der führenden Theologen der lutherischen Opposition gegen die preußische Union in Schlesien, an den preußischen König vom 3.6.1830 hieß es: „Die lutherische Gemeine, deren Lehrer und Seelsorger ich bin, legt an das Herz ihres theuren Landesvaters, dem sie freudig ihr Gut und ihr Leben opfert, die hochheilige Sache ihres Glaubens. Ihr Gewissen erlaubt ihr nimmer, irgend Etwas in ihrem Gottesdienste zu gebrauchen, was irgend wie zu einer Union 60 61 62

von Coelln/Schulz, Über theologische Lehrfreiheit (wie Anm. 24), 24 (im Original ist der ganze Satz gesperrt). A.a.O., 28. Freilich ist dies im Sinne eines hermeneutischen Zirkels zu verstehen, vgl. dazu Werner Klän (Hg.), Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Millenniumswende (OUH Ergänzungsband 4), Göttingen 2007, 17ff.

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hinleiten könne.“63 Die kirchliche Agende war für Scheibel nicht nur äußerliche Zeremonie, sondern „die allwöchentlich ausgesprochenen Bekenntnisse und Gebete der Gemeinde“, und in der vom König dekretierten unierten Agende sahen die mit ihm übereinstimmenden Lutheraner „das Eigenthümliche unsers Glaubens nicht überall rein und bestimmt ausgedrückt, ja selbst in den wichtigsten Artikeln, namentlich vom Abendmahl, [sind] entschiedene Abweichungen von der Augsburgischen Confession“64. In der Tat erschien der Begriff „Gewissen“ im Kontext der Auseinandersetzungen um die Union im 19. Jahrhundert in einer großen Fülle. In der Quellensammlung „Quellen zur Entstehung und Entwicklung selbstständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland“,65 die nur eine Auswahl darstellt, aber repräsentativ sein dürfte, ist das Wort „Gewissen“, auch in Zusammensetzungen wie „Gewissensnot“, „Gewissenssache“ oder „Gewissensfreiheit“ sowie in Derivaten wie „gewissenhaft“, „gewissensverletzend“, „gewissenbindend“ und „gewissenlos“ insgesamt 136-mal zu lesen. Exemplarisch seien hier folgende Passagen erwähnt: Zweite Bittschrift der lutherischen Gemeinde Breslau vom 26.7.1830: „Was die Agende betrifft, so müssen wir uns ebenfalls feierlich gegen jede solche Darstellung der Sache verwahren, als verweigerten wir deren Annahme aus Widerspenstigkeit. Unsere Gründe liegen eben so lediglich im Gewissen.“66 Erklärung Carl Eichhorns über seinen Austritt aus der Union im Großherzogtum Baden und seinen Rücktritt zur lutherischen Kirche vom 3.11.1850: „Liebe Gemeindeglieder, ich will euch nicht verlassen, ich will nur die falsche Kirche, die Union, verlassen, ich möchte ja euch alle mit hinübernehmen. Ich aber kann nicht bleiben, denn ich habe auch ein Gewissen, mit einem bösen Gewissen kann ich euch nicht weiden.“67 Brief Wilhelm Löhes an Friedrich Brunn vom 24.6.1846: „Die kirchlichen Verhältnisse des Herzogtums Nassau […] sind meines Erachtens von der Art, daß auch ich Gewissens wegen in denselben nicht würde bleiben können.“68 Eingabe der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche vom 23.3.1877: „Wir haben die Kundgebungen jener Geistlichen mit herzlicher Freude und Dank gegen den Herrn der Kirche begrüßt, weil wir darin ein erstes Anzeichen des in dieser heiligen Sache erwachten Gewissens der Kirche und des festen Entschlusses erblicken, der Stimme des in Gottes Worte gebundenen Gewissens und nur dieser allein zu folgen. Aber wir halten uns auch als Kirchenglieder verpflichtet, nicht nur unser Zeugnis mit dem jener Männer zu vereinigen, sondern auch getreulich mit ihnen zu teilen, was sie etwa um des Gewissens willen zu leiden haben werden.“69

63 64 65 66 67 68 69

Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 34. A.a.O., 45. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5). A.a.O., 44. A.a.O., 178. A.a.O., 207. A.a.O., 357; vgl. da Silva, Lutherisches Bekenntnis (wie Anm. 2), 294ff.

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Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

In den Texten der lutherischen Opposition ist der Anklang an Luthers berühmte Aussage auf dem Wormser Reichstag 1521 unübersehbar: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Heiligen Schrift oder klare Vernunftgründe überwunden werde […] so bin ich überwunden durch die Schrift […] Mein Gewissen ist im Wort Gottes gefangen. Und ich kann und will nichts widerrufen, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch einwandfrei ist.“70 Eine Parallelität beider Rekurse auf das Gewissen ist freilich allein aus historischen Gründen nicht möglich, aber es ist stark anzunehmen, dass die lutherische Opposition in dieser Hinsicht sich in Luthers Tradition stellen wollte bzw. ihn in ihrem Sinne anachronistisch interpretierte. Um mit Gerhard Ebeling zu sprechen, „signalisiert [die Berufung auf das Gewissen] den theologischen Ernstfall, indem es hier in doppelter Hinsicht zu heilsamem Unterscheiden kommt“71. Der Rekurs auf das Gewissen drückt den existentiellen Charakter der Bekenntnisfrage72 aus, denn, um nochmals mit Ebeling zu sprechen, „[m]it dem Gewissensbegriff verbindet sich […] bei Luther das Angewiesensein auf definitive Gewißheit, die Präsenz der Ewigkeit mitten in der Zeit“73. Luthers Aussage in Worms, „er sei in Gottes Worten gefangen und könne nicht widerrufen, setzt voraus, daß das Gewissen hier nicht bloß mit dem Akt des Widerrufs oder seiner Verweigerung zu tun hat, also nicht rein moralisch herausgefordert ist, vielmehr in bezug auf das Wort Gottes im ganzen eine gewissensbindende, weil gewissensbefreiende Erkenntnis zu vertreten hat, die wie sein eigenes Gewissen so die Gewissen aller Menschen vor Gott in Hinsicht auf das ewige Heil betrifft, so daß deren Widerruf in eminentem Sinne wider das Gewissen wäre“74. Dies dürfte der Punkt sein, an dem sich die Aussagen Luthers in Worms und die Texte der lutherischen Opposition – trotz des Anachronismus – berühren. Für Ebeling kann die Gewissensfreiheit im strengen Sinne nur als Glaubensgewissheit, die das Personsein betreffe, bestehen.75 Dies deckt sich freilich mit dem neuzeitlichen Sprachgebrauch, der das Gewissen als seelisches Phänomen versteht. Aus dieser Perspektive würde die Gewissheit der korrekt getroffenen Entscheidung im Gewissenskonflikt darin bestehen, dass sich das Individuum „mit 70 71 72

73 74 75

Joachim Rogge (Hg.), Luther in Worms. Ein Quellenbuch, Berlin 1971, 99–101; vgl. Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung, Freiburg i. Br. 2003, 19. Gerhard Ebeling, Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches (Lutherstudien 3), Tübingen 1985, 109. Der existentielle Charakter einer Bekenntnisverpflichtung, obwohl vom kirchlich-rechtlichen untrennbar, ist von diesem zu unterscheiden, denn dieser steht im Zusammenhang des ordinierten Amtes der Kirche. Die Öffentlichkeit der Verkündigung durch die Amtsträger nach CA XIV geht über den existentiellen Charakter einer Bekenntnisverpflichtung hinaus und wird durch eine kirchlich-rechtlich verankerte Bekenntnisverpflichtung geregelt. Die Vermischung der verschiedenen Ebenen führt ja zum Widerspruch eines Plädoyers für die „evangelische Freiheit“ im Sinne einer Aufhebung der Bekenntnisverpflichtung für Amtsträger (s. oben 3.1, 116–119). Ebeling, Begriffsuntersuchungen (wie Anm. 71), 110. A.a.O., 115. A.a.O., 121.

Vom „Geist des Protestantismus“

127

sich selbst einig ist“ bzw. „seinem Glauben entsprechend handelt“. Solch eine Individualisierung des Gewissens stärkt zwar die Rechte des Einzelnen in einer pluralistischen Gesellschaft und ist eine wichtige Errungenschaft der Moderne, führt aber zwangsweise zu einer Privatisierung des Bekennens bzw. zum bereits erwähnten Widerspruch im „Geist des Protestantismus“, denn im Rahmen der schleiermacherschen Differenzierung von „Bekennen“ und „Bekenntnis“ kann das Gewissensurteil von bloßer Meinung, Anschauung oder ähnlichen subjektiven Phänomenen nicht mehr unterschieden werden.76 4.1

Gewissen und Bekenntnis

Eine Möglichkeit, jenen Widerspruch im „Geist des Protestantismus“ zu entschärfen, besteht darin, eine Mitkonstitution des individuellen Gewissens durch die Gemeinschaft77 anzunehmen. Das würde bedeuten, dass in kirchengeschichtlicher Perspektive Gewissensentscheidungen nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gemeinschaftliche Komponente haben.78 Das impliziert die Tatsache, dass der individuelle Glaube ein gemeinsames Bezugssystem voraussetzt, innerhalb dessen individuelle Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können. Gerade in Konfliktsituationen ist das einzelne Gewissen auf die Teilhabe an einer gemeinsamen Wahrheitsvergewisserung im Raum der Kirche angewiesen.79 Allerdings darf „Kirche“ hier nicht im institutionellen Sinne verstanden werden, sondern im Sinne dessen, was sie konstituiert: das Wort Gottes.80 Mutatis mutandis kann hier auch ein Bezug zu den Bekenntnisschriften, die nach lutherischem Verständnis nichts anderes als das Wort Gottes darstellen, hergestellt werden. Dieser Zugang zum Gewissensverständnis wirft ein Licht auf das von Scheibel gegen die Union aufgestellte Prinzip, dass der Zusammenhang von Gottesdienst, Bekenntnis und Gemeinde bzw. Kirche unauflöslich sei. Das bedeutet, dass eine lutherische Gemeinde 76 77 78

79 80

Vgl. Ludger Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein? Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld, Berlin 2007, 60. Vgl. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen (wie Anm. 70), 226ff.; vgl. zum Folgenden: da Silva, Lutherisches Bekenntnis (wie Anm. 2), 294ff. Eberhard Schockenhoff definiert das – freilich aus römisch-katholischer Sicht – folgendermaßen: „[d]ie Kirche ist nicht primär eine Organisation und Institution, zu der man durch Mitgliedschaft in ein äußeres Verhältnis tritt, das die eigene Gewissensorientierung unberührt lässt. Als das wandernde Volk Gottes und als der geheimnisvolle Leib Christi ist sie vielmehr der ursprüngliche Lebensraum, in dem der Einzelne der geschichtlichen Wirklichkeit des Herrn begegnet und die Botschaft seines Evangeliums vernimmt. Als das Zeichen der Einheit unter den Völkern dient sie dem Reich Gottes, dessen endgültigen Anbruch sie verkündet und dessen eschatologische Vollendung sie in der Feier ihrer Sakramente vorwegnimmt. Sie verbindet die einzelnen Christen, die ihr durch die Taufe angehören, zu einer Weggemeinschaft im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, die ihrem ewigen Ziel entgegengeht und in ihrem Leben die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes zum Vorschein bringen soll“ (Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen [wie Anm. 70], 227). Vgl. a.a.O., 230. Martin Luther, „Ecclesia enim est filia, nata ex verbo“ (WA 42, 334, 12).

128

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

ausschließlich eine lutherische Agende, die bei der Abendmahlsliturgie die Realpräsenz von Christi Leib und Blut unmissverständlich bezeugt, verwenden kann.81 In diesem Sinne verstanden, vermochte eine Mitkonstitution des Gewissens durch das lutherische Bekenntnis die privaten und institutionellen Momente von „Bekennen“ und „Bekenntnis“ zusammenzuhalten, während sie im „Geist des Protestantismus“ auseinanderdividiert wurden. Wichtig dabei ist auch die Tatsache, dass der von Scheibel und anderen Unionsgegnern gesuchte Konsens mit dem lutherischen Bekenntnis in einem sehr viel weiteren Horizont gesehen werden muss. Dies kommt bereits im ersten Artikel der Confessio Augustana zur Sprache: „Ecclesiae magno consensu apud nos docent“82. Edmund Schlink sah hier einen dreifachen Konsens vorausgesetzt: den Konsens mit der Kirche der Vergangenheit, den Konsens mit der Kirche der Gegenwart und den grundsätzlichen Konsens mit der Heiligen Schrift, dem Wort Gottes, der den anderen Konsensen zugrunde liege.83 Für Schlink „wollen die Verfasser und Unterzeichner der Bekenntnisschriften bekennen, wie die ganze heilige, christliche Kirche, alle Heiligen allezeit bekannt haben und noch bekennen. Bekenntnis ist Stimme der ganzen Kirche.“84 Für Scheibel und andere galt das lutherische Bekenntnis als Schlüssel zu einem angemessenen und gemeinsamen – und das heißt auch verbindlichen – Verständnis der Heiligen Schrift.85 In diesem Sinne bestimmte für sie das lutherische Bekenntnis inhaltlich das Gewissen im Sinne eines „Wissen[s] von der Verantwortung“86 für die Kirche. Die überindividuelle Mitkonstitution des Gewissens bei Scheibel und den Unionsgegnern des 19. Jahrhunderts bestand also im Konsens der Kirche selbst, der aus evangelisch-lutherischer Sicht der Konsens mit dem Wort Gottes ist. Freilich konnten der König, sein Hofprediger und andere Unionsbefürworter auch auf das Wort Gottes rekurrieren, denn sie meinten, im „Geist des Protestantismus“ zu handeln, der bekanntlich das Schriftprinzip – sola scriptura – als Grundlage auf-

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Vgl. Werner Klän, Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), in: Peter Hauptmann (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel 1783–1843 (KiO.M 20), Göttingen 1987, 21. Hermann Sasse formulierte es folgendermaßen: „Das Wesen des kirchlichen Bekenntnisses liegt vielmehr erstens in der Tatsache, daß es objektive Wahrheiten bezeugt, die sich nicht aus subjektiven Erlebnissen ableiten lassen und die unabhängig von allen subjektiven Meinungen gelten wie die Inkarnation oder Auferstehung Christi. Und zweitens gehört es zum Wesen dieses Bekenntnisses, daß es Bekenntnis der Kirche ist, daß es nicht nur von einem Ich, sondern von einem Wir bekannt wird. […] Das Bekenntnis der Kirche ist ebensowenig eine Synthese von vielen Individualbekenntnissen, wie die Kirche ein Verein der Anhänger der christlichen Religion ist“ (Sasse, In statu confessionis 1 [wie Anm. 17], 15). „Die Kirchen unter uns lehren in großer Übereinstimmung“ (CA I, 1, in: BSLK, 50, 1–2). 3 Vgl. Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 1948, 43ff. A.a.O., 43. Vgl. die Einführung Werner Kläns zum Symposion „Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit“, in: Klän, Lutherische Identität (wie Anm. 62), 17. Vgl. Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, in: Delgado/Leppin/Neuhold, Ringen um die Wahrheit (wie Anm. 2), 13–27.

Vom „Geist des Protestantismus“

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wies. Aus der Sicht der Unionsgegner war dieser Rekurs auf das Wort Gottes jedoch nicht tragfähig – oder im Sinne Luthers gar „schwärmerisch“ –, denn er deckte sich nicht mit dem für die lutherische Kirche bindenden Lehrkonsens der lutherischen Bekenntnisschriften. Diese Bekenntnisse „sind nicht freischwebende theologische Meinungen, sondern Sätze der Lehre, die bis ins Einzelne aus der exegetischen Arbeit heraus verstanden werden wollen“. Sie bezeugen die „Mitte der Heiligen Schrift“ und sind nicht als das Werk eines Einzelnen wie Luther oder Melanchthon zu betrachten, sondern „das Lobopfer der ganzen Gemeinde der Gläubigen“87. Solche Überlegungen sind auch mutatis mutandis bei Scheibel und seinen Wegbegleitern zu finden, denn sie weigerten sich, eine Privatisierung des Bekenntnisses im Sinne des individuellen Bekennens zu vollziehen. Gegen die Argumentation, dass das lutherische Bekenntnis trotz eines Beitritts zur Union unverletzt bleibe, schrieb er: „Wohl, wenn von dem Bekenntniß des Einzelnen für sich genommen die Rede ist; denn es kann ja bis jetzt jeder nicht nur denken, sondern auch sprechen, welches Glaubensbekenntnis er will. Aber es kommt hier nicht auf die Einzelnen, auf die Kirche kommt es an. Christen sind nie bloß Einzelne, sondern zugleich eine Gemeine, haben als solche Einen Glauben, Ein Bekenntniß, einerlei Sacramente, und noch immer hat man – bis auf die neueste zerworfene Zeit – unter Bekenntnißfreiheit die Freiheit[,] als eine Gemeine Ein Glaubensbekenntniß im Gottesdienste aussprechen zu dürfen[,] verstanden.“88 Für Scheibel gehörte der Glaube also nicht nur in den Bereich der „Privatmeinung eines jeden Einzelnen“,89 sondern hatte einen gemeinschaftlichen, kirchlichen Aspekt.90 87 88 89 90

Schlink, Theologie (wie Anm. 83), 6f. Johann G. Scheibel (Hg.), Theologisches Votum eines Juristen in Sachen der K. Preuß. Hof- und Dom-Agende, Nürnberg 1832, 6f. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 46. Scheibel klagte über die Privatisierung des Glaubens und Bekennens: „Jeder glaubt genug gethan zu haben, wenn er nach dem ersten Zuge der Gnade sich selbst eine gewisse Überzeugung bildet und dann den Prediger und den Umgang aufsucht, welcher ihm individuell am meisten zusagt. Daß die Kirche denselben Glauben hegt, er bloß als Glied dieser Kirche mit Christo, dem Haupte der Gemeine, im Zusammenhange stehen müsse, ist eine ganz unbekannt gewordene Vorstellung“ (Scheibel, Theologisches Votum [wie Anm. 88], 25). In dem von Scheibel veröffentlichten theologischen „Votum“ des Juristen Eduard Huschke (1801–1886) wird ein gewisses apokalyptisches Pathos an den Tag gelegt: Liberale Revolution, Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheiten, Verfolgung der lutherischen Kirche, falsches Prophetentum, Atheismus, werden in einem Zusammenhang als „Zeichen der Zeit“ (a.a.O., 38) seit der Französischen Revolution gesehen (a.a.O., 31f.). Bezüglich der Union heißt es dann: „indem diese neue Kirche nur auf Liebe (ohne Glauben) und nur auf Aeußerm (ohne Inneres) beruhen wollte, erklärte sie sich für eine weltliche, deren Haupt Jesus Christus der That und Wahrheit nach nicht seyn kann (2 Kor. 6,15), wenn es auch in ihr, wie in andern abgefallenen Kirchen einzelne Mitglieder der allgemeinen unsichtbaren Kirche giebt“ (a.a.O., 35). Mehr noch: „Nach dem Prinzip [sc. Reduzierung auf die Liebe und das Äußere], auf dem die Union beruht, ist die Scheidewand nicht nur zwischen Luthertum und reformirter Kirche, sondern auch zwischen Protestantismus und Katholicismus, zwischen Christentum und Muhamedanismus, zwischen Christo und Belial aufgehoben“ (a.a.O., 35f.). Diese Ausführungen sind zwar maßlos überzogen und dem Unionsanliegen ungerecht, enthalten aber einen gewissen Wahrheitskern, denn die Reduzierung des Einenden auf eine unbestimmte Liebe und des

130

5.

Union und Bekenntnisbindung im Verständnis des 19. Jahrhunderts

Bilanz und Ausblick

Auch die oppositionellen Lutheraner des 19. Jahrhunderts bewegten sich im „Geist des Protestantismus“, aber sie hatten einen differenzierten Zugang zu ihm. Zentral in diesem Zusammenhang dürfte die Tatsache sein, dass sie eine Unterscheidung zwischen „Geist“ und „Buchstabe“ des Bekenntnisses bzw. zwischen „Bekennen“ und „Bekenntnis“ nicht vollzogen. Dabei appellierten sie an ihre Gewissensbindung. Ein grundlegendes Problem solch einer Berufung auf das Gewissen – damals wie heute – dürfte das Überspannen der fließenden Grenze zwischen der theologischen und der moralisch-personalen Bindung sein, das die Berufung auf das Gewissen zu einem Gewissensappell verkommen lässt und den Abbruch weiterer Gesprächsmöglichkeiten bedeutet.91 Hierzu hilft der Blick auf die evangelischen Bekenntnisse selbst, die keinesfalls private Meinungen, sondern immer kirchlichen Konsensus darstellen wollen. In diesem Sinne kann im heutigen Gespräch die Vorstellung einer „Mitkonstitution des Gewissens“ (Schockenhoff) durch das kirchliche Bekenntnis und der ökumenischen Anlage des lutherischen Bekenntnisses Abhilfe schaffen. Entscheidend dabei ist es aber unter anderem, die Unzertrennbarkeit von „Bekennen“ und „Bekenntnis“ – anders als in den Mentalitäten des 19. Jahrhunderts – vorauszusetzen. Das Problem der Väter und Mütter selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen im 19. Jahrhundert war nicht die Union per se, sondern die Unvereinbarkeit der verschiedenen Glaubensbekenntnisse, die uniert werden sollten. In der „Zweiten Bittschrift der lutherischen Gemeinde Breslau vom 26.7.1830“ schrieben sie beispielsweise: „Niemand kann zu einer Union geneigter seyn, als wir, wenn sie nur eine wirkliche Union ist, d. h. eine solche, die von der Einheit des Glaubensbekenntnisses ausgeht.“92 Die Union des miteinander Unvereinbaren konnten sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, denn ihr (Glaubens-)Bekenntnis bekannte explizit: „ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“ (CA VII).93 Die lutherische Opposition des 19. Jahrhunderts, aus der die heutige Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche hervorging, erkannte durchaus die frommen und guten Absichten der Union an, zog aber deutlich die Grenze dort, wo sie eine Verletzung ihres eigenen lutherischen Bekenntnisses sah. Hier „verschwindet der Segen der Union“94, schrieben sie 1830 in einer Bittschrift. Ein Dissens im „Geist des Protestantismus“, der sich in Form einer schmerzlichen kirchlichen Trennung äußert, ist also bis heute geblieben, aber die historische Distanzierung von den damaligen Mentalitäten und die veränderten Rahmenbedingungen, d. h. die Mög-

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Trennenden auf Äußerlichkeiten ohne Bekenntnisbindung führt in letzter Konsequenz zu einer „Menschheitsreligion“ in aufgeklärt-rationalistischem Sinne. Vgl. Ebeling, Begriffsuntersuchungen (wie Anm. 71), 124. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 44. BSLK 61,6–9. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 5), 52.

Summary

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lichkeit, ohne den Einfluss der Staatsmacht auf einer reinen theologischen Ebene ökumenisch miteinander zu sprechen – und warum nicht sagen: Konsens zu suchen – unterscheidet die heutigen Akteure von den damaligen.

Summary Decisions concerning the Union were far more dependent on and determined by state politics in the Kingdom of Prussia than in other German territories in the 19th Century Intermingling between the political and the ecclesiastical-theological spheres can be demonstrated quintessentially for the period in the understanding of the expression, “spirit of Protestantism”. The “spirit of Protestantism” must be seen in relation to changes in mentality characteristic of the age, as the cabinet order of 1817 clearly demonstrates. In this respect the “spirit of Protestantism” is a “spirit of freedom”, an “anti-Roman spirit”, and a “spirit of private belief and professing”, among other things. Protestant freedom in the “spirit of Protestantism” meant a release from the binding allegiance to the (respective) confession and, for academics, a claim for doctrinal freedom. The “spirit of Protestantism” was also the antithesis to the Roman Catholic Church with its Papacy and traditions and meant the privatisation of faith. The differentiation between confession and professing is a result of this development. For the Lutheran opposition in Prussia, operating in the same historical context, evangelical freedom in the “spirit of Protestantism” meant freedom of conscience, articulated paradoxically as an obligation to a particular conscience. The problem for the Lutheran opposition, therefore, was not so much the Union in itself, but the incompatibility of the various confessions of the churches to be united. They could not accept a differentiation between confession and professing. That the parameters at the beginning of the 21st Century have shifted makes the quest for a consensus simpler, although it can be taken for granted that confession and professing are inseparable for Lutheran Churches based on the Concord tradition.

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 19. Jahrhundert Christoph Barnbrock

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche 1.

1

Vorbemerkungen

Mit dem vorgegebenen Thema sind wir hineingestellt in einen komplexen Zusammenhang. Es geht um ein liturgiehistorisches Thema, in dem Kirchengeschichte und Praktische Theologie in Jahrhunderte übergreifenden Zusammenhängen aufeinander bezogen sind. Dogmatische Fragen spielen ebenso eine Rolle wie soziologische, wenn von kirchlicher, also mithin kollektiver Identität die Rede ist. Und nicht zuletzt die kirchenrechtliche Dimension wird bei der Frage nach der Bedeutung der Agende Berücksichtigung finden. Für die Erörterung eines solchen komplexen Zusammenhangs, der ein überschaubarer Zeitrahmen vorgegeben ist, empfiehlt sich die Einschränkung und Zuspitzung des Themenfeldes. Ich beschränke mich von daher im Wesentlichen auf die Perspektive der späteren Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, im Folgenden der Kürze wegen: der altlutherischen Kirche.2 In diesem Zusammenhang wiederum möchte ich einen Schwerpunkt auf den schlesischen Bereich mit Breslau als Zentrum legen. Außerdem soll die Auseinandersetzung um den Messgottesdienst im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen, auch wenn die Diskussion um die Agende beispielsweise auch die Taufliturgie und die Ordinationsliturgie zum Gegenstand hatte. Diese Fragen werde ich streifen, aber nur partiell vertiefen. Im Wesentlichen werde ich mich dabei den agendarischen Texten selbst und in Ausschnitten der – nicht unerheblich polemisch – geführten Diskussion in der 1 2

Für den Druck erweiterte und überarbeitete Fassung meines Vortrages am 27. Februar 2013 in Wittenberg. Für alle Anregungen aus dem Kreis der Teilnehmer danke ich herzlich. Ich verwende im Folgenden der Kürze wegen die Terminologie „altlutherische Kirche“ bzw. „Altlutheraner“, auch wenn dies das Selbstverständnis der ersten Generation(en) nicht ganz zutreffend beschreibt. Ich verwende diese Terminologie weder besonders positiv noch besonders negativ konnotiert. Zur Transkription im Folgenden: Hochgestelltes „e“ über Vokalen wird in „ae“, „oe“ bzw. „ue“ aufgelöst. Gesperrter Druck wird in Kursivdruck übertragen.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

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ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmen. Auf altlutherischer Seite sind dies insbesondere die Schriften von Johann Gottfried Scheibel, Georg Philipp Eduard Huschke und Adolph Friedrich Hirschfeld. Schlüsse darüber, wie genau die Agenden gebraucht und rezipiert worden sind, lassen sich aus dem historischen Abstand heraus dagegen nur mit großer Unsicherheit ziehen. Entsprechend verzichte ich weitgehend auf diese Perspektive. Im Hauptteil (2.) möchte ich die verschiedenen Agenden und Agendenentwürfe, die für die Gemeinden der späteren altlutherischen Kirche (vor allem in Schlesien) von Bedeutung waren, darstellen und den Konflikt um die Einführung der königlichen Agende beleuchten. In einem abschließenden Teil (3.) möchte ich dann Themenbereiche und Reflexionszusammenhänge benennen, in denen sich meines Erachtens Weiterarbeit lohnen würde und sich gegebenenfalls ein größeres Maß an Verständnis, ja vielleicht sogar Verständigung erreichen ließe.

2. 2.1

Agenden im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche Die sogenannte „Wittenberger Agende“

Die Frage danach, welche Agenden bzw. welche agendarischen Formen in den lutherischen Gemeinden in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts genau in Gebrauch waren, führt in ein kaum zu überblickendes Feld. Es ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Anzahl unterschiedlicher, wenngleich auch verwandter gottesdienstlicher Formen nebeneinander in Gebrauch war:3 Agenden, die einerseits zwar im Wesentlichen einer Liturgiefamilie zuzuordnen sind, die aber andererseits durch eine nicht unerhebliche Lokaltradition geprägt gewesen sein dürften.4 In der Auseinandersetzung um die Einführung der Unionsagende wird von altlutherischer Seite immer wieder auf die sogenannte „Wittenberger Agende“ Bezug genommen, die in den lutherischen Gemeinden Verwendung gefunden habe5 und weiter in Geltung bleiben möge.6 3

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Vgl. als prägnante Übersicht zu den Verhältnissen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Schlesien: Johann Gottfried Scheibel, Actenmäßige Geschichte der neuesten Unternehmung einer Union zwischen der reformirten und lutherischen Kirche vorzüglich durch gemeinschaftliche Agende in Deutschland und besonders in dem preußischen Staate. Erster Theil: Die Geschichts-Erzählung enthaltend, Leipzig 1834, 201–203, wobei erkennbar ist, dass Scheibel bei aller Vielfalt darum bemüht ist, die Einheitlichkeit der Liturgie in Schlesien herauszustellen. So war es ausdrücklich auch die Absicht des preußischen Königs, durch die Einführung der Agende ein höheres Maß an Einheitlichkeit ins gottesdienstliche Leben in Preußen zu bringen (vgl. [Friedrich Wilhelm III.,] Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin ²1822, V). Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Luthers Agende und die neue Preußische. Genaue Vergleichung Beider nebst ausfuehrlichen Eroerterungen der Geschichte der lutherischen Agenden in Deutschland und der Wittenberger Concordie von 1536, als Pruefung der Schrift „Luther in Beziehung auf

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Die Frage, welche Gottesdienstordnung aber genau mit dieser Agende gemeint gewesen ist, entzieht sich wiederum einem genauen Zugriff.7 Scheibel kann sich auf eine in Leipzig erstmals 1580 gedruckte und dann 1618 in Wittenberg neu aufgelegte, von ihm sogenannte „Wittenberger Agende“ beziehen.8 Damit dürfte die Kirchenordnung von Kursachsen von 1580 gemeint sein.9 Daneben kann sich Scheibel aber auch auf eine „aechte alte Wittenberger“10 Agende berufen, die seit 1559 gedruckt worden ist. Hierbei handelt es sich offensichtlich um die Wittenberger Kirchenordnung von 1559, die auf Philipp Melanchthon und vor allem Johannes Aurifaber zurückgeht.11 Daneben spielen noch Luthers eigene agendarische Entwürfe, die „Formula Missae“ und die „Deutsche Messe“, eine Rolle, wenn in der Auseinandersetzung kurz gefasst von „Luthers Agende“ die Rede ist. Auch die Herzog-Heinrich-Agende von 153912 dient als Referenzgröße. Als Zwischenglied in der Traditionskette ist darüber hinaus zu erwähnen das „Vollständige Kirchenbuch“, herausgegeben von Erdmann Rudolph Fischer, dem im Wesentlichen die Kollektengebete entnommen sind, die im Raum der späteren altlutherischen Kirche große Wertschätzung erfuhren.13 Wer allein die genannten Ordnungen miteinander vergleicht, wird schnell wahrnehmen, dass es sich dabei keineswegs um eine einheitliche agendarische Form handelt, sondern die Unterschiede zwischen den Ordnungen bisweilen beachtlich sind. Mir scheint es von daher sachgemäß zu sein, in der gebrauchten Terminologie

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die evangelische Kirchen-Agende in den koenigl. preuß. Landen. 2. Aufl. Berlin 1834“, Leipzig 1836, hier 58. Vgl. Johann Gottfried Scheibel, Bittschrift an den König vom 3.6.1830, in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungs2 band 6), Göttingen 2010, 34f., hier 34. Vgl. zum Folgenden auch Volker Stolle, Wortglaube und Passionsmystik, in: LuThK 25 (2001), 131–156, hier vor allem 133–135. Vgl. z. B. Scheibel, Luthers Agende, 11. DEs Durchlauchtigsten / Hochgebornen Fuersten und Herrn / Herrn Augusten Hertzogen zu Sachsen / des heiligen Roemischen Reichs Ertzmarschalln / und Churfuersten […] Ordnung / Wie es in seiner Churf. G. Landen / bey den Kirchen / mit der lehr und Ceremonien […] gehalten werden soll, Leipzig 1580 (VD16 ZV 16323). Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 11. Kirchenordnung: Wie es mit Christlicher Lere / reichung der Sacrament / Ordination der Diener des Euangelii /ordentlichen Ceremonien / in den Kirchen / Visitation / Consistorio und Schulen / zu Witteberg und in etlichen Chur und Fuerstenthum / Herrschaften und Stedte der Augsburgischen Confession verwand / gehalten wird, Witteberg [sic!] 1559 (VD16 A 769). – Vgl. dazu Alfred Niebergall, Art. Agende, in: TRE 1 (1977), 755 – TRE 2 (1978), 91, hier 19. Kirchenordnunge zum anfang / fur die Pfarrherrn in Hertzog Heinrichs zu Sachsen v. g. h. Fuerstenthum, Wittemberg [sic!] 1539 (VD16 ZV 200). Vollstaendiges Kirchen-Buch, Auf gnaedigste Verordnung Der Durchlauchtigsten Fuersten und Herren, Herrn Christian Ernst und Herrn Frantz Josias, Gebruedere, Herzoge zu Sachsen, etc. etc. Vor die Kirchen und Pfarrer um Fuerstenthum Coburg in Zwey Theile abgefasset […], Coburg 1743. Dieses wird in den Vorworten der Breslauer bzw. Australischen „Wittenberger Agende“ in seiner Auflage von 1740 ausdrücklich erwähnt. Für Hinweise zu diesem Kirchenbuch danke ich Darius Petkunas (Litauen).

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

135

„Wittenberger Agende“ im Wesentlichen eine Chiffre zu sehen für eine von Luther bzw. aus Wittenberg herkommende Agendentradition. Eine unmittelbare Identifikation der Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen bzw. Schlesien gebrauchten Agenden mit einer reformatorischen Agende bzw. Kirchenordnung scheint mir nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht möglich zu sein.14 Vielmehr dürften auch hier unterschiedliche, auf dieser Agendentradition fußende Gottesdienstordnungen in Gebrauch gewesen sein, wobei der in Breslau im Gebrauch stehenden Agende mit der ihr eigenen Lokaltradition eine besondere Bedeutung für den Bereich der späteren altlutherischen Kirche zukommt.15 Bestätigt wird diese Vermutung durch die meiner Wahrnehmung nach einzige Agende, die tatsächlich unter dem Titel „Wittenberger Agende“ greifbar ist, einer Agende, die 1888 in Breslau erschienen ist, und zwar anlässlich des 50-jährigen Bestehens der evangelisch-lutherischen Kirche Australiens. In deren Vorwort heißt es: „Aus diesen einzelnen Schriften Luthers ist nun die Wittenberger Agende zuerst 1539 gesammelt, dann die anderen Agenden der lutherischen Länder, namentlich in Deutschland. Es wurden von Zeit zu Zeit auch mehrere Kollekten hinzugefügt, welche in Fischers Kirchenbuch, Koburg 1740, am vollständigsten gesammelt wurden. Diese Agende und dieses Kollektenbuch wurden früher in den lutherischen Pfarrund Filialkirchen Schlesiens etc. gebraucht. Doch wurden schon seit 1790 von den Geistlichen in den Pfarrkirchen die Kollekten willkürlich geändert. Seit der Union, den 25. Juni 1830, wurde die neue, unierte Agende und auch mit ihr neue Kollekten eingeführt. Die lutherischen Gemeinden aber, die der Herr sich noch bewahrt, sind dem Gottesdienst und Bekenntnis ihrer Kirche treugeblieben und haben also die Wittenberger Agende mit aller lutherischen, bei Fischer gesammelten Kollekten treu behalten.“16 14

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16

Dies gilt in ähnlicher Weise für die Oelser Agende, die von Scheibel auch genannt wird. Auch sie steht gleichermaßen in Kontinuität und Diskontinuität zu den genannten Ordnungen der Reformationszeit (vgl. AGENDA, Oder ORDNUNG Derer Evangelischen Kirchen im Oelßnischen Fürstenthum und zugehoerigen Weichbildern / Auff gnaedigen Befehl I.F.G. Hertzog Carls zu Muensterberg / dieses Nahmens des Anderen / erstlich gestellt und zusammen bracht / und der Ehrwuerdigen Priesterschafft uebergeben Anno 1593: Nunmehro aber auff gnaedige Verordnung I.F.G Hertzog SYLVII zu Wuertenberg und Teck / auch in Schlesien zur Oelßen / etc. revidiret und zum Druck befoerdert Anno 1664., Oelß 1686 [VD17 14:052654C]). Vgl. das Vorwort der Agende zum Gebrauch beim Gottesdienst evangel.-lutherischer Gemeinden. Hg. v. einigen Pastoren der evangel.-lutherischen Kirche in Preußen, Sorau 1854, hier III. – Als ein Beispiel mag die handschriftliche Kirchenordnung der Separirten lutherischen Gemeinden in Preussen? [sic! – nachträglich korrigiert: in „Gemeinde(n)“ und „Preussen“ gestrichen und durch „Breslau“ ersetzt], o. O., o. J. (Fürstenauer Kirchenbibliothek, Lutherische Theologische Hochschule, Sig. 2348) dienen. Wolfgang Fenske datiert diese Agendenhandschrift auf die Zeit um 1835; vgl. Wolfgang Fenske, „Und mit seinem Geiste“, in: LuThK 29 (2005), 122–128. – Hinweise zur speziellen Breslauer Lokaltradition finden sich bei Stolle, Wortglaube (wie Anm. 7) und bei Wolfgang Fenske, Das Abendmahl nach den Ordnungen der selbständigen lutherischen Kirchen, in: Irmgard Pahl (Hg.), Coena Domini II. Die Abendmahlsliturgie der Reformationskirchen vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert (Spicilegium Friburgense 43), Fribourg 2005, 218–237. Evangelisch-lutherische oder sogenannte Wittenberger Agende, […] nebst einem Agendarischen Anhange. Zum Druck befördert von der evangelisch-lutherischen Immanuelsynode Südaustraliens

136

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Diese Agende weist eine große Nähe zu der handschriftlich erhaltenen Breslauer Agende von 1835 auf,17 auch wenn sich einzelne Lokaltraditionen in ihr nicht oder nicht mehr finden.18 Sie lässt sich aber in der Darstellung des liturgischen Ablaufs keineswegs mit einer der von Scheibel angeführten Agenden aus der Reformationszeit identifizieren. Vielmehr sind erhebliche Unterschiede – etwa im Bereich des Abendmahlsformulars – mit Händen zu greifen.19 Entsprechend wird in einer späteren australischen Agende vermerkt, dass es sich um einen Irrtum gehandelt habe, in der mit der Auswanderung nach Australien gebrachten Agende tatsächlich die „Wittenberger Agende“ Luthers zu sehen. Vielmehr habe es sich dabei um die Breslauer Agende gehandelt.20 In eine ähnliche Richtung weist ein früher Synodalbeschluss der altlutherischen Kirche aus dem Jahr 1852, den Titel „Wittenberger Agende von Luther selbst verfaßt“ aus den in Gebrauch stehenden Exemplaren zu streichen. Als Begründung wird angeführt: „Diese Agende ist nämlich im Wesentlichen diejenige, welche zur Zeit der Einführung der neuen Agende für die evangelische Landeskirche in der Breslauer lutherischen St. Elisabetkirche gebräuchlich war und stammt nur von der alten Wittenberger Agende her, von der sie aber durch mancherlei, den Glauben nicht beein21 trächtigende, Veränderungen, Zusätze, Weglassungen u. s. w. abweicht.“

17

18 19

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21

als Festgabe zur Jubiläumsfeier des 50jährigen Bestehens der evangelisch-lutherischen Kirche Australiens 1838–1888, Breslau o. J. [1888]. Das Vorwort ist beispielsweise in großen Teilen identisch. Lediglich an der Stelle, an der in der Australischen Agende auf die Auswanderung rekurriert wird, findet sich in der Breslauer Agende ein Hinweis auf die Separation. So zum Beispiel die von Fenske in besonderer Weise beleuchtete Lokaltradition beim Responsum „Und mit seinem Geiste“ (vgl. Fenske, „Und mit seinem Geiste“ [wie Anm. 15]). Auch Scheibels 1824 verfasste eigene Darstellung der Abendmahlsfeier der lutherischen Kirche lässt eine gewisse Vielfalt erkennen, stimmt wiederum nicht vollständig mit dem überein, was wir als agendarische Praxis für Breslau und Schlesien erschließen können. Es ist zu vermuten, dass Scheibel im Interesse seiner Argumentation die Lokaltraditionen weniger stark betont und vor allem die Kontinuitäten heraushebt (vgl. Johann Gottfried Scheibel, Kurze Nachricht von der Feier des Heiligen Abendmahls bei den verschiedenen Religions-Parteien, Breslau 1824). Vgl. Agende für evangelisch-lutherische Gemeinden in Australien, Zwickau 1912, III. – Doch auch die Breslauer Agendentradition stellt sich seit der Reformationszeit nicht unverändert dar. So ist die sogenannte Wittenberger Agende auch nicht einfach mit Breslauer Gottesdienstentwürfen aus der Reformationszeit zu identifizieren, so sehr sich auch einzelne Besonderheiten (z. B. der Einschub der historischen Einleitung der Einsetzungsworte) der sogenannten Wittenberger Agende auf diesen Traditionsstrang zurückführen lassen. – Vgl. zur Breslauer Gottesdienstgeschichte seit der Reformationszeit Hans-Adolf Sander, Beiträge zur Geschichte des Lutherischen Gottesdienstes und der Kirchenmusik in Breslau. Die lateinischen Haupt- und Nebengottesdienste im 16. und 17. Jahrhundert (Breslauer Studien zur Musikwissenschaft 1), Breslau 1937. Zusammenstellung der Beschlüsse der im September und Oktober 1852 gehaltenen GeneralSynode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Breslau 1853, 241 (39).

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

2.2

137

Die Berliner Agende und die Provinzialausgaben22

In diesem kirchlichen Setting, das sich wohl liturgisch durchaus vielfältig darstellte, gleichzeitig aber beanspruchte, in unmittelbarer Folge der liturgischen Tradition der Reformationszeit zu stehen, wurden nun von altlutherischer Seite die Bemühungen Friedrich Wilhelm III. um eine Liturgiereform wahrgenommen. Der König hatte sich schon früh der Erneuerung der kirchlichen Liturgie zugewandt. Seit der Jahrhundertwende sind verschiedene Bemühungen greifbar, die 1815/1816 in ersten liturgischen Formularen des Königs greifbar sind und schließlich 1817 in eine erste Agende mündeten. Unterschiedliche Motive dürften dabei im Hintergrund gestanden haben: das wirkliche Bemühen um eine Kirchenreform in Zeiten empfundenen kirchlichen Verfalls, die Integration von Impulsen aus der weiteren Ökumene,23 das Bestreben, das evangelische Christentum im Staat zu vereinigen, und der Versuch, traditionelle kirchliche Ordnungsstrukturen in restaurativem Interesse wieder neu in Geltung zu setzen.24 Auch das Bemühen um eine Kirchenunion war bereits früh eines der Motive, das sich im Rahmen der liturgischen Reformbemühungen in der nächsten Umgebung des preußischen Königs greifen lässt.25 Nach verschiedenen Vorarbeiten zur Liturgiereform bildete der Unionsaufruf 1817 einen ersten Einschnitt der bisherigen Entwicklung. Für die gemeinsame Abendmahlsfeier von lutherischen und reformierten Gemeinden wurde ein liturgischer Entwurf erarbeitet, der sich allerdings in der Praxis nicht flächendeckend durchgesetzt hat. Infolgedessen erarbeitete der König die „Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin“, die 1821 in erster und dann in zweiter, erweiterter Auflage 1822 erschien und die in der Folge noch mehrfach modifiziert wurde.26

22

23 24 25

26

Das Folgende nach Jürgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen (BWFKG 8), Bielefeld 1991, hier vor allem 50–208; Wilhelm H. Neuser, Agende, Agendenstreit und Provinzialausgaben, in: J. F. Gerhard Goeters/Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992, 134–159; Wolfgang Nixdorf, Die lutherische Separation. Union und Bekenntnis (1834), in: a.a.O., 220–240; vor allem Niebergall, Agende (wie Anm. 11), hier vor allem 55–60. – Vgl. für Breslau insbesondere auch Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation (Diss. Universität Erlangen), o. O., o. J. [1841], 167–174, und als Quellentexte die Dokumente in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 6), hier 33–68, sowie die Einführung von Gilberto da Silva, a.a.O., 25–32. Vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), der auf die Impulse aus der russisch-orthodoxen und anglikanischen Liturgik hinweist (z. B. a.a.O., 54f.). Vgl. Kiunke, Johann Gottfried Scheibel (wie Anm. 22), 181f. Vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), 51f.: „Für Sack stand damit die liturgische Erneuerung im Dienst einer Annäherung der beiden protestantischen Kirchen, sie war ihm also nicht Selbstzweck, sondern ein Glied in einer Kette von Maßnahmen, deren Ziel die Einleitung einer Vereinigung der lutherischen und der reformierten Konfession war, wie sich schon in seinem Promemoria, sodann aber besonders in seiner Unionsschrift zeigt.“ Zu verwechseln ist diese Auflage leicht mit der weiteren Auflage von 1824, die auf das Jahr 1822 rückdatiert ist, aber schon weitere Änderungen enthält (vgl. Neuser, Agende [wie Anm. 22], 146–

138

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Zunächst wurde die Agende zur freiwilligen Annahme empfohlen. Die Zustimmungswerte waren indes für den König verheerend niedrig. In den Folgejahren wurde dann der Druck auf unterschiedliche Art und Weise erhöht. Pfarrstellenbesetzungen wurden an die Annahme der Agende gekoppelt. Pfarrer und ihre Gemeinden, die die Agende annahmen, wurden begünstigt. Und schließlich wurden die Konsistorien angewiesen, in Zukunft keine Agenden anzuerkennen, die nicht eine landesherrliche Genehmigung hatten. Außerdem trugen die Provinzialagenden seit 1827 dazu bei, die Zustimmung zur Agende bzw. zum dadurch pluriform gewordenen Agendenwerk zu erhöhen. So brach der Widerstand gegen die Agende um das Jahr 1830 zusammen, als die Agende im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300-jährigen Augustana-Jubiläum für die Unionsbemühungen des Königs noch einmal eine besondere Bedeutung gewann und die Einführung der Union verstärkt vorangetrieben wurde.27 Zentren der Opposition bildeten zunächst das Rheinland, Westfalen und Schlesien, in denen der Widerstand gegenüber der königlichen Agende zunächst oder bleibend groß war. Für die schlesischen Gemeinden und insbesondere ihre Pfarrer führte die Weigerung, die Unionsagende anzunehmen, zum Teil zu erheblichen Herausforderungen und Repressalien von Seiten des Staates.28 2.3

Die Auseinandersetzung um die Berliner Agende

Die Kritik an der Agende Friedrich Wilhelm III. bezog sich auf ganz unterschiedliche Aspekte. Alfred Niebergall fasst diese folgendermaßen zusammen: „Die Kritik richtete sich sowohl gegen den vom König eingeschlagenen Weg der Einführung der Agende als gegen deren Inhalt. Kritisiert wurden daran vor allem das ins Auge springende Übergewicht der ‚Liturgie‘ vor der ‚Predigt‘, die Häufung von Gebeten in der Liturgie, insbesondere die Einfügung der Präfation auch in einen Gottesdienst ohne Abendmahl, die Verkürzung der Beteiligung der Gemeinde, das starke Gewicht, das der Chor (auch in Dorfgemeinden!) erhalten sollte, die Spendeformel beim Abendmahl und andere Punkte. Vor allem richtete sich die Kritik gegen die angestrebte Uniformität und den katholisierenden Charakter der Liturgie. Neben Nitzsch war Schleiermacher einer der Wortführer. In einigen Schriften erklärt er sich gegen den Versuch, aus der Staatskirche eine Hofkirche zu machen, und für eine unbedingte Freiheit des Pfarrers im Gebrauch einer Agende.“29

Wie kommt in dieser Gemengelage die spezifische Kritik der opponierenden Lutheraner aus Schlesien zu stehen?

27 28

29

149). – Die Druckgeschichte der Berliner Agende ist ausführlich und detailgenau dargestellt bei Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), 164–181. Vgl. Erlass vom 30.4.1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 6), 36f. Vgl. als klassische Darstellung, wenn auch in apologetischem Interesse Johannes Nagel, Die Errettung der evang. lutherischen Kirche in Preußen von 1817–1845. Den Gemeinden erzählt. Zweite vermehrte Auflage, Erlangen 1868. Niebergall, Agende (wie Anm. 11), 55.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

2.3.1

139

Literarkritischer und redaktionsgeschichtlicher Zugang

Auffällig ist bei dem Hauptsprachführer der schlesischen Lutheraner, Johann Gottfried Scheibel, der „[h]istorisch-kritische“30 Ansatz. In mehreren Publikationen31 untersucht er die Berliner Agende literar- und redaktionskritisch, fragt also nach den verarbeiteten Quellen und dem Wesen der Redaktionsarbeit. Dabei geht es ihm insbesondere darum, nachzuweisen, dass die neue Agende keineswegs ein Rückgriff auf die älteren Brandenburgischen Kirchenordnungen ist, wie vom König im Vorwort der Agende behauptet,32 bzw. gar ein Rückgriff auf Luthers eigene Formulare, wie vom König in seiner anonymen Streitschrift vertreten.33 Dagegen führt Scheibel die neue Agende in wesentlichen Teilen auf das „Common Book of Prayer“ der anglikanischen Kirche und andere „reformierte“ Agenden zurück.34 Dabei billigt er der neuen Agende in weiten Teilen durchaus zu, zumindest den Schein einer lutherischen Agende zu verbreiten, ohne am Ende aber eine lutherische Agende zu sein. Georg Philipp Eduard Huschke, einer der anderen Breslauer Protagonisten auf altlutherischer Seite, fasst Scheibels historisch-kritische Arbeit folgendermaßen zusammen: „Das Resultat dieser Arbeit […] ist aber gewesen, daß man allerdings meistens aus lutherischen Agenden geschöpft, aber immer dasjenige darin, was den eigenthümlich lutherischen Lehrbegriff, besonders im Abendmahle, ausdrückt, nach dem reformierten Lehrbegriff verändert hat. So haben wir allerdings größtentheils lutherisches Wort, aber überall reformirten Geist.“35

Dabei spielt für die altlutherische Kritik nicht nur das, was neu in die Agende aufgenommen ist, sondern vor allem auch das, was in der Agende entfallen ist, eine bedeutsame Rolle.36 Die Unterschiede zwischen den in Schlesien und insbesondere in Breslau gebrauchten Agenden und Luthers eigenen liturgischen Entwürfen bzw. den sächsischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts und auch schon die Unterschiede 30 31 32 33 34 35 36

Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 83. Vor allem Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), und Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 83–117. Vgl. Kirchen-Agende Berlin ²1822 (wie Anm. 4), III-VII. So [Friedrich Wilhelm III.], Luther in Beziehung auf die evangelische Kirchen-Agende in den Königlich Preußischen Landen. Als Manuscript gedruckt, Berlin ²1834, VII. Damit erfasst er präzise eine der Hauptwurzeln der Berliner Agende. Die Einflüsse aus dem russischen Bereich sind dagegen bei ihm nicht im Blick. [Philipp Georg Eduard Huschke], Theologisches Votum eines Juristen in Sachen der K. Preuß Hofund Dom-Agende. Hg. von Dr. J. G. Scheibel, Nürnberg 1832, 15. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 116f.: „Allerdings sind die Form und Ordnung des Gottesdienstes, so wie die allermeisten Formulare, fast woertlich aus den alten lutherischen brandenburgischen Agenden genommen, so daß in der That Form und Inhalt des Gottesdienstes sehr wenig veraendert und verschieden von den fruehern erscheinen mußte […]. Aber waehrend Alles so scheinbar das glaeubigste Lutherthum verraeth, ist es doch eben so unverkennbar, daß auf das Geflissentlichste die lutherische Abendmahlslehre aus den Formularen getilgt ist.“

140

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

zwischen den Ordnungen aus der Reformationszeit kommen dabei allerdings allenfalls am Rande in den Blick.37 Gleichwohl wird man konstatieren dürfen, dass die in Schlesien gebräuchlichen Agenden tatsächlich in einem unmittelbareren Traditionszusammenhang zu den Agenden und Kirchenordnungen der Reformationszeit stehen als der Entwurf Friedrich Wilhelm III. Liest man allerdings die Berliner Agende von 1822 im Kontext der Gottesdienstordnungen, die in Teilen Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Gebrauch waren, muss man dem König zugestehen, dass die Agende von 1822 zu einer erheblichen Annährung an die Luthersche bzw. lutherische Mess38 form geführt hat. 2.3.2

Die Agende als Mittel zur Durchsetzung der Union

Das historisch-kritische, detailgenaue Vorgehen Scheibels lässt sich zunächst einmal verstehen als Beweisführung hinsichtlich der tatsächlichen Absichten, die der König bei der Einführung der Agende gehabt habe, nämlich die Einführung einer kirchlichen Union zwischen reformierten und lutherischen Gemeinden umzusetzen. Scheibel fasst diesen Aspekt so: „Also fuer die evangelische Kirche wurde diese Agende bestimmt; von lutherischer ist im Buche selbst, und allen spaetern Auflagen und Ueberarbeitungen desselben, nirgends die Rede. Aus der Union war dieselbe hervorgegangen; diese sollte dieselbe vorzueglich foerdern. […] Wie kann man also Union und Agende, Agende und Aufheben der lutherischen Kirche noch trennen?“39

Wenn die neue königliche Agende aber in dieser Weise als Mittel zur Einführung der Union verstanden wurde, dann ergibt sich daraus nahezu als logische Konsequenz, dass auch die Einführung der Provinzialagenden mit geänderten Formulierungen bzw. einem erweiterten Textbestand für die Altlutheraner keinen möglichen Kompromiss darstellte. Denn so sehr sich die Kritik auch an einzelnen Formulierungen der Agende festmachte, ging es am Ende eben doch nicht bloß – um mit Huschke zu sprechen – um die „Worte“, sondern um den „Geist“. Entsprechend kann Adolph Friedrich Hirschfeld unterscheiden:

37

38 39

Zu nennen wären hier allein die Unterschiede zwischen Luthers beiden liturgischen Entwürfen oder im Vergleich zwischen den schlesischen und überkommenen liturgischen Ordnungen beispielsweise das eigentümliche Responsum „Und mit seinem Geiste“, das Scheibel sogar in die Unionsagende hineinliest, obwohl es dort gar nicht steht (Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 [wie Anm. 3], 89), die Verdoppelung des Kollektengebets jeweils vor den Lesungen (vgl. Scheibel, Kurze Nachricht [wie Anm. 19], 48), die um die Einsetzungsgeschichte nach Lukas erweiterten Einsetzungsworte (vgl. a.a.O., 57) sowie die Praxis, die Abendmahlsfeier nach dem Segen an den Gottesdienst anzuschließen (vgl. Agende Breslau [wie Anm. 16], dort die Darstellung des Frühgottesdienstes, [4], und des Wochengottesdienstes [dort „Wochenpredigt“ genannt; 13]). Vgl. dazu die in Westfalen gebräuchlichen Gottesdienstordnungen bei Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), 18–49. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 86.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

141

„Die Gruende des Widerspruchs und Widerwillens gegen die preußische Agende liegen zum Theil in ihr selbst, zum Theil in dem damit verbundenen Zwecke, der preußischen Union durch sie einige Begruendung zu verschaffen. Es wird daher nothwendig sein, Beides naeher zu beleuchten.“40

Erkennbar ist, dass in der zweiten Generation der altlutherischen Kirche, etwa in der klassischen Kirchengeschichtsdarstellung der altlutherischen Kirche bei Johannes Nagel, Einzelfragen von Form und Inhalt der Agende zurücktreten und längst nicht mehr mit derselben Akribie behandelt werden wie noch von Scheibel. Stattdessen rückt die Grundsatzfrage nach der Möglichkeit einer Union von lutherischer und reformierter Kirche in den Vordergrund. 2.3.3

Kirchenrechtliche Zusammenhänge

Neben diesem konfessionellen Aspekt diente die historisch-kritische Herangehensweise aber auch der Festigung des eigenen Standpunktes in den kirchenrechtlichen Auseinandersetzungen dieser Zeit. In der allgemein umstrittenen Frage, ob der König als Landesherr tatsächlich eine Agende verbindlich erlassen dürfe, hatte der König argumentiert, es könne ihm doch keineswegs zum Vorwurf gemacht werden, wenn er die alten lutherischen Kirchenordnungen wieder mit der Agende neu zur Geltung bringe.41 Wenn dieser Traditionszusammenhang nun als unzutreffend erwiesen würde, würde auch die rechtliche Position des Königs erheblich geschwächt. So zielte die historisch-kritische Analyse der Unionsagende am Ende eben auch darauf ab, die entsprechende Argumentationslinie des Königs und damit letztlich dessen Legitimation, eine Agende einführen zu dürfen, infrage zu stellen. 2.3.4

Dogmatische Vorbehalte im Einzelnen

Vor dem geschilderten Gesamthintergrund werden dann auch die dogmatischen Vorbehalte im Einzelnen verständlich.42 Die Änderungen in der Liturgie sind etwa 40

41 42

[Adolph Friedrich Hirschfeld], Das trennende Unionswerk oder die neue Preußische Union, mit besonderer Ruecksicht auf die dadurch erregten kirchlichen Bewegungen in Schlesien, namentlich in Breslau, beleuchtet von einem evangelisch lutherischen Geistlichen Schlesiens, Nuernberg 1833, 5. Diese Schrift ist anonym erschienen und wird auf diversen Homepages Scheibel zugeordnet. Die Verfasserschaft von Hirschfeld[t] wird allerdings von Nagel, Die Errettung (wie Anm. 28), 74, festgehalten. – Vgl. zu Hirschfeld auch Martin Weicker, Adolph Friedrich Hirschfeld […] (Altes und Neues aus der Lutherischen Kirche 16), Breslau 1934 (zur Verfasserschaft der angegebenen Schrift dort 18f.). Vgl. Friedrich Wilhelm III., Luther (wie Anm. 33), vor allem 30–34. – Dazu Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), vor allem 58–61. Zu Recht weist schon Martin Kiunke auf die Notwendigkeit einer solchen Gesamtschau hin: „Will man Scheibels Stellung zur Agende verstehen, so muß man sich des Näheren klar machen, worum es bei ihr ging. Man darf dabei nicht an Einzelheiten und Äußerlichkeiten hängen bleiben, sondern muß ihr Wesen erfassen.“ (Kiunke, Johann Gottfried Scheibel [wie Anm. 22], 175).

142

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

für Scheibel Ausdruck und Inbegriff dessen, wofür seiner Meinung nach die Agende steht, nämlich für die Einführung der Union und die Auflösung der lutherischen Kirche. Das prominenteste Beispiel ist die Kritik an der neuen Fassung der Spendeworte bei der Feier des heiligen Abendmahls. Die Scheibel geläufige Spendeformel „Das ist der wahre Leib unsers Herrn Jesu Christi“43 etc. wurde in der neuen Agende umformuliert, vor allem aber durch einen Zusatz eingeleitet, nämlich: „Unser Herr und Heiland Jesus Christus spricht: Das ist mein Leib“44. Scheibel beobachtet, dass durch diese Hinzufügung in den Spendeworten aus dem aktuellen Bekenntnis zur Realpräsenz ein geschichtliches Referat werde, zu dem sich die einzelnen Christen in unterschiedlicher Weise verhalten könnten.45 Dass die referierende Form der Spendeformel durchaus auch vor Einführung der Union in lutherischen Gemeinden in Preußen in Gebrauch war, ist bei Scheibel nicht im Blick.46 Weitere Kritik im Bereich der Abendmahlsliturgie macht sich an Formulierungen in den Texten und Gebeten vor der Abendmahlsfeier, aber auch bei der Schlusskollekte fest.47 Darüber hinaus finden unter anderem das Entfallen der Einzelbeichte bei der Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang48 und die Neuformulierung des Taufexorzismus49 die Missbilligung der altlutherischen Kritiker. Gerade im Bereich der Sündenlehre stellt Scheibel erhebliche Defizite fest.50 Auch Hirschfeld macht seine Kritik neben den Gravamina im Bereich der Abendmahlslehre an Unzulänglichkeiten in der Rede über Teufel und Hölle und am umformulierten Taufexorzismus fest.51 Dass darüber hinaus der Ordinationseid für die altlutherische Seite untragbar war, ergibt sich ebenfalls aus dem bisher Gesagten, da hier doch verschiedene Problemkreise zusammentreffen.52 Die symbolischen Bücher werden nicht mehr nach lutherisch und reformiert unterschieden, sondern unter der Formulierung „in der Evangelischen Kirche allgemein angenommenen symbolischen Buechern, wie solche in den Landen Sr. Majestaet des Koenigs von Preußen, meines Koenigs und Herrn, als Glaubensnorm uebereinstimmend angenommen sind“53 zusammengefasst. Darüber hinaus sieht der Amtseid eine Verbindung von Bekenntnisverpflichtung und Agendenverpflichtung vor.54 Und schließlich ist die Ordinationsverpflich43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 34 (dort hervorgehoben). Kirchen-Agende Berlin ²1822 (wie Anm. 4), 23. Vgl. z. B. Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 72. Vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), 125. Vgl. z. B. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 92f. Vgl. z. B. a.a.O., 94. Vgl. z. B. a.a.O., 95f. Vgl. z. B. a.a.O., 117. Vgl. Hirschfeld, Das trennende Unionswerk (wie Anm. 40), 27–31. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 98–103. Kirchen-Agende Berlin ²1822 (wie Anm. 4), 45. Vgl. a.a.O., 45, dort die Fortsetzung des oben angegebenen Zitats: „und in deren Geist die vorgeschriebene und eingefuehrte Kirchen-Agende vom Jahr 1822 abgefaßt ist“.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

143

tung mit einem Versprechen verbunden, „dem Koenige von Preußen, meinem großmaechtigsten Landesherrn und obersten Bischof [getreu zu seyn]“55. Es ist offenkundig, dass gerade an dieser Stelle, dem Nadelöhr, an dem die nachwachsenden Theologen nicht vorbeikamen, das Gesamtkonstrukt der Union inklusive der umstrittenen rechtlichen Basis für die Ordinanden rechtsverbindlich festgezurrt werden sollte. Dies musste auf die Kritik von altlutherischer Seite stoßen. 2.3.5

Einheitlichkeit und Ökumenizität

Im Zusammenhang mit der Einführung der Berliner Agende war darüber hinaus umstritten, inwieweit diese Agende tatsächlich dazu diente, die Einheit der Kirche und die Einheitlichkeit der Liturgie zu wahren oder gar neu herzustellen. Besonders bedeutsam ist dieser Aspekt vor allem deswegen, weil er im Vorwort der Agende vom König selbst benannt ist.56 Scheibel bestreitet zumindest für Schlesien die vom König angenommene Vielfalt liturgischer Ordnungen vor dem Datum der Einführung der Agende57 und stellt die königliche Argumentation geradezu auf den Kopf, wenn er behauptet: „In Hinsicht der zu befuerchtenden Spaltung liegt die hoechst merkwuerdige Thatsache vor, daß in der schlesischen zerstreuten lutherischen, so bedraengten Gemeine, durch bloßen Wunsch derselben, in ganz Schlesien Ein und dieselbe Wittenb. Agende in ihren Erbauungs-Stunden gebraucht wird, waehrend keine einzige unierte Kirche Schlesiens dieselbe Art des Gottesdienstes mit der andern gemeint hat, obgleich das Complott der Geistlichen so fest scheint und nur hohe Herrschaften gebieten.“58

Auch Huschke schildert ähnliche Beobachtungen, die er in der Natur der Sache plötzlicher kirchenrechtlicher Änderungen begründet sieht: „Die Willkühr hat nicht ab-, sie hat zugenommen, wie es denn gewöhnlich geht, wenn man alte Institute plötzlich von Grund auf erneuert. Wir möchten Ew. Majestät die Kirchen einzeln zeigen können. Sie würden in jeder eine andere Agende finden.“59

Das, was des Königs Interesse war, so wird in diesen Argumentationssträngen deutlich, werde gerade nicht durch Einführung der Unionsagende erreicht, sondern im Beibehalten der bisherigen Wittenberger Agendentradition.60 Dabei ist das Bemühen um Einheitlichkeit bei Scheibel nicht nur konfessionell oder gar konfessionalistisch begründet, sondern für ihn hat dies auch eine ökumenische Dimension. So ist in seiner „Kurze[n] Nachricht von der Feier des heiligen 55 56 57 58 59 60

A.a.O., 46. Vgl. a.a.O., IV. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 201–203. Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 58. Huschke, Theologisches Votum (wie Anm. 35), 23. Vgl. a.a.O., 21: „Wenn Ew. Majestät dem Unwesen des Rationalismus durch liturgische Formulare u. dgl. steuren wollten, warum geboten Sie nicht die unverfälschte Wittenberger Agende allen lutherischen Kirchen Ihres Staats?“

144

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Abendmahls bei den verschiedenen Religions-Parteien“ deutlich das Interesse erkennbar, die lutherische Abendmahlsfeier in der Mitte der Konfessionen anzusiedeln, Verbindendes herauszustellen und gerade so die weltweite und die Zeiten übergreifende Ökumenizität der lutherischen Liturgie zu betonen. 2.3.6

Partizipation

Auffällig ist, wie stark Scheibel in seiner Auseinandersetzung mit der Agende die Ersetzung des liturgischen Gemeindegesangs durch den Chor als Kritikpunkt betont.61 Zwar kommt dem Gemeindegesang in der Reformationszeit ohne Frage eine besondere Bedeutung zu, allerdings ist in den von Scheibel immer wieder herangezogenen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts selbstverständlich für die Gottesdienste in den Städten der Chorgesang vorausgesetzt und der Gemeindegesang nur in kleinen Portionen greifbar.62 Auf den Dörfern hatte der Gemeindegesang lediglich den Einsatz des Chores, wie er in den Städten gegeben war, ersetzt. Dass mit Einführung der Berliner Agende ein Chor (zunächst)63 auch für die Gottesdienste der ländlichen Gemeinden vorausgesetzt war, stellte sich tatsächlich als eine Neuerung dar, die nicht zuletzt auch erhebliche organisatorische Herausforderungen mit sich brachte.64 Allerdings ist zu vermuten, dass auch das im 19. Jahrhundert erwachte Selbstbewusstsein des Bürgertums einen Grund für den Protest gegen die Zurückdrängung der Gemeindebeteiligung im Gottesdienst darstellte – und dies umso mehr, als der König sich auch in anderen Zusammenhängen außerordentlich skeptisch gegenüber der liturgischen Kompetenz der einzelnen Gemeinde äußern konnte. Gegenüber Versuchen, sich auf § 46 des Allgemeinen Preußischen Landrechts, Teil II, Titel 11, zu beziehen, der der einzelnen Gemeinde das Recht zubilligte,

61

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64

Vgl. z. B. die Kurzzusammenfassung der Änderungen der Unionsagende bei Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 40: „Die Form, die Folge der einzelnen Theile dessen, was der Prediger thut, bis auf das oben bemerkte, ist aehnlich; aber der Gesang der Gemeine, der Luthern so wesentlich wichtig war, fehlt, und die Abendmahls-Formeln sind in der n[euen] Agende reformirt gemacht.“ Vgl. etwa die von Scheibel als „aechte alte Wittenberger“ bezeichnete „Wittenberger Kirchenordnung“ von 1559 (Kirchenordnung 1559 [wie Anm. 11], hier 90b–93a). In den anderen angeführten Kirchenordnungen aus dem 16. Jahrhundert stellt sich der Sachverhalt ähnlich dar. In der mit dem Datum 1822 gedruckten Auflage der Agende von 1824 findet sich bereits eine Gottesdienstform, in der der Chor zur Not ersetzt werden kann (vgl. Kirchen-Agende Berlin ²1822 [wie Anm. 4; 1824], hier Anhang, 44–48). In der schlesischen Provinzialagende lässt sich an den Anmerkungen bereits ablesen, dass die schlichten Gottesdienstformen ohne Chöre als Normalfall verstanden wurden. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, bei entsprechenden Möglichkeiten wenigstens zu den höheren Festen die reichere Gottesdienstform (also diejenige mit reichem Choreinsatz) zu verwenden (Agende für die evangelische Kirche in den Koeniglich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusaetzen für die Provinz Schlesien, Berlin 1829, 26). Vgl. dazu die Eingabe von Pastor Bretschneider aus Eisenberg, zitiert in: Gottfried Nagel, Lutherisches Ringen am Rummelsberge, Breslau 1936, 183f., in der erwähnt wird, dass die Organisten auf dem Land zunächst einmal Sängerchöre heranbilden mussten.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

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kirchliche Ordnungen einzuführen, die allerdings staatlicherseits zu genehmigen waren,65 gab der König zu bedenken: „Man hat die Meinung aufgestellt, daß jede einzelne Kirchengemeinde, bis auf das kleinste Dorf hinab, das gesetzliche Recht habe, ihre Liturgie selbst zu ordnen; hat man aber auch dabei bedacht, in welche Hände man die heilige und hochwichtige Sache legt […]?“66

Dagegen stellte Scheibel selbstbewusst fest: „Freilich […] sind die armen lutherischen Buerger und Bauern in Schlesien keine Durchlauchtige, Excellenzen, Hoch- und Wohlgeborene; aber dem Koenige aller Koenige und Herrn aller Herrn hat es gefallen, vor bereits achtzehn Jahrhunderten eine kleine Anzahl galilaeischer Fischer und Fischergesellen sogar zu seinen theokratischen Specialcollegen damals auf Erden, jetzt im Himmel selbst auf seinem goettlichen Thron zu machen […].“67

Deutlicher noch als andere betonte Adolph Friedrich Hirschfeld in der Agendenangelegenheit das Recht und die Zuständigkeit der Kirche und nicht zuletzt auch der einzelnen Gemeinde: „Deshalb ist es auch nicht in das Belieben des Geistlichen gestellt, wie er die vorkommenden kirchlichen Akte verrichten und welche Gebete er dabei sprechen will, sondern weil er als Liturgus nicht nur im Namen und Auftrage seiner Kirche handelt, sondern insbesondere ganz als das Organ, als der Mund der Gemeinde auftritt, so empfaengt er die Agende von der Kirche, daß er daraus die fuer die betreffenden Faelle vorgeschriebenen Formulare ablese.“68

In einem solchen Kontext konnten Versuche, Gesänge aus dem Mund der Gemeinde in den Mund eines Chors zu legen, tatsächlich als weiterer Schritt der Entmündigung verstanden werden. Zu bedenken ist allerdings, dass beispielsweise in Berlin der responsorische Gemeindegesang zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr üblich war.69 Was also in Berlin durchaus als Bereicherung des Gottesdienstes verstanden werden konnte, musste in Schlesien wiederum als Eingriff in die bewährte liturgische Praxis des Gemeindegesangs erscheinen.

65 66 67 68

69

Vgl. dazu Neuser, Agende (wie Anm. 22), 153. Friedrich Wilhelm III., Luther (wie Anm. 33), 30. Scheibel, Luthers Agende (wie Anm. 5), 57. Hirschfeld, Das trennende Unionswerk (wie Anm. 40), 8. – Entsprechend kann Hirschfeld auch die Einführung der Union ausschließlich über die Pfarrer kritisieren: Es sei „zu bemerken, daß dabei wenig oder gar keine Ruecksicht auf die dabei ganz vorzueglich betheiligten Gemeinden genommen, sondern nach dem gemeinen Grundsatz: Wie der Hirt, so die Heerde! nicht aber nach dem apostolischen: ‚Es duenkte gut die Apostel und Aeltesten, samt der ganzen Gemeinde‘ Act. 15, verfahren, und nur die Zustimmung der Geistlichen verlangt worden ist.“ (a.a.O., 120). Vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 22), 53.

146

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

2.3.7

Stimmigkeit und Stimmung

Mit den Veränderungen im Bereich des Gemeindegesangs ist dann bereits ein Bereich berührt, der im Folgenden noch kurz Erwähnung finden soll. Die Einführung einer neuen Agende brachte keineswegs nur dogmatische und ekklesiologische Veränderungen mit sich, sondern sie veränderte auch das Gottesdiensterleben. Der Gottesdienst bekam einen neuen Charakter. Er wurde durch agendarische Anordnung auf eine Stunde Dauer gekürzt.70 Die schlesische Provinzialagende erweiterte allerdings das Zeitmaß auf anderthalb Stunden und ließ darüber hinaus Ausnahmen zu.71 Wenn Scheibel seufzend zurückschaut und formuliert: „Mit tiefer Wehmuth denke ich an die Feierlichkeit und biblische Wahrheit des Gottesdienstes in dem mir so theuern Gottes-Hause“72, dann ist damit nicht nur das Abweichen von der biblischen Wahrheit markiert, sondern auch das Moment der verloren gegangenen „Feierlichkeit“ benannt. Den Verlust der Feierlichkeit kann man an verschiedenen Aspekten festmachen: Am zeitlich gedrungeneren Gottesdienstablauf, am Verlust der Stimmigkeit der Liturgie73 oder auch am notvollen Verzicht auf lieb gewonnene, vertraute Gebetstexte und liturgische Formen.74 In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Epistel- und Evangelienkollekten aus Fischers Kirchenbuch zu erwähnen, die als liturgische Eigenart ihren festen Platz in der Breslauer Agende hatten und in deren Vorwort eigens erwähnt wurden. Gerade der Wunsch nach Konstanz und Vertrautheit dürfte insbesondere bei Gemeindegliedern ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Widerstand gegen die Einführung der Union gewesen sein.75 Auch Hirschfeld benennt in seiner Kritik an der Berliner Agende deutlich den Verlust des geordneten Gesamtzusammenhangs der Liturgie:

70 71 72 73

74

75

Vgl. Kirchen-Agende Berlin ²1822 (wie Anm. 4), VII. Vgl. Agende Schlesien (wie Anm. 63), 20. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 203. Vgl. a.a.O., 90, zur Stellung des Kyrie: „Auf die Intonation ferner: Ehre sey Gott in der Hoehe (S. 11) folgt sehr unpassend im Gebet ein mehrfaches: Herr, erbarme dich unser! Der schon begnadigte Suender betet Bußgebet!“, und a.a.O., 91, zur Stellung des Kirchengebets nach dem Sanctus: „Daß nun weiter, nachdem die Gemeine, eigentlich aber nur das Chor, bereits den Lobgesang der Engel im Himmel: Heilig, heilig angestimmt hat, dieselbe wieder auf die Erde sinkt; und in dem nun folgenden Kirchengebet all ihre Noth auf Erden Gott bekennt, das moechte doch in der That auch solche große Begeisterung fuer das neue Kirchen-Buch nimmer rechtfertigen koennen.“ Vgl. Huschke, Theologisches Votum (wie Anm. 35), 18: „Denn wohl sind uns viele solche Kleine bekannt, denen mit der Wegnahme uralter Gebete und Formen, ihr schwacher Glaube selbst, der sich auch an dieses Kleid gehängt hatte, wenigstens erschüttert worden ist. […] Ist denn der Gottesdienst etwas so ganz Gleichgültiges, daß man ihn wie ein Kleid alle Jahre anders zuschneiden soll?“ Vgl. als einen Beleg dafür ebenfalls die Eingabe von Pastor Bretschneider (bei Nagel, Lutherisches Ringen [wie Anm. 64], 183f.).

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

147

„Was zunaechst die Ordnung darin anlangt, so gehoert in der That viel Phantasie dazu, in der sonn- und festtaeglichen Altarliturgie der Berliner Hof- und Domagende einen wahren inneren Zusammenhang zu finden.“76

Die Folge dessen beschreibt Hirschfeld ganz im Denkhorizont der Liturgik seiner Zeit: „Was helfen alle Bibelsprueche und Gebete; was nuetzen alle noch so kunstgerecht gesetzten und ausgefuehrten Chorgesaenge, wenn sie die versammelte Menge zu gar keiner bestimmten Richtung des Gemueths kommen lassen, keinen bestimmten frommen Gedanken in derselben anregen, noch die etwa angeregten Gefuehle der Andacht weiter unterhalten, sondern durch den fortwaehrenden Wechsel, durch die alle Minuten eintretende Unterbrechung, wie durch gaenzliche Ausschließung der Gemeinde von aller eigenen Theilnahme an solchem Gottesdienste unmoeglich eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit sein kann.“77

2.3.8

Geschichtsverständnis

Darüber hinaus ist für Scheibel im Blick auf seine Agendenkritik sein besonderes Geschichtsverständnis zu berücksichtigen. Auch wenn Martin Kiunke sicherlich in seinem Urteil Recht zu geben ist, dass diesem Aspekt nicht zu großes Gewicht beizulegen ist und Scheibel einfach „ein leidenschaftlicher Analogienjäger“ gewesen sei,78 dürfte das geschichtsphilosophische Konzept Scheibels dennoch eine gewisse Rolle gespielt haben. Scheibel erkennt im Lauf der Weltgeschichte bestimmte Analogien. So kann er verschiedentlich Breslau mit der Stadt Ephesus zur Zeit des Apostels Paulus identifizieren.79 Ja, das Luthertum insgesamt erscheint ihm wie Ephesus – und Sachsen kommt dabei eine besondere Stellung zu.80 Dass bei einem solchen Geschichtsverständnis ein Abweichen von der Traditionslinie der sächsischen Kirchenordnung für Scheibel noch einmal eine besondere Bedeutung hatte, erscheint mir von daher naheliegend.

76 77 78 79 80

Hirschfeld, Das trennende Unionswerk (wie Anm. 40), 16; vgl. dazu a.a.O., 11ff. A.a.O., 18. Kiunke, Johann Gottfried Scheibel (wie Anm. 22), 231. Vgl. Scheibel, Actenmäßige Geschichte 1 (wie Anm. 3), 10f. A.a.O., 52: „Es entstand ja diese Kirche in Deutschland’s Attika, unter den Sachsen, Deutschland’s Jonischem Stamme, wie einst Ephesus, wie Paulus seine tiefste, obwohl zugleich einfachste Rede in Athen hielt. Alle geistige Gaben zeigten sich ja vereint in Deutschland, in dem aber wieder der sächsische Stamm an der Spitze stand, doch über alle waltete der Glaube, alle dienten nun der Erkenntniß und Erforschung des göttlichen Wortes, wie einst das kirchenhistorische Talent Moses, das dichterische der Propheten, das philologische von Esra, das philosophische von Paulus dem Glauben an Gottes Geist unterworfen war.“

148

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

2.4

Vom ersten Agendenentwurf zur ersten altlutherischen Agende81

Von der Auseinandersetzung mit der Berliner Agende soll nun der Blick auf die entstehende eigene Agendentradition der altlutherischen Kirche wandern. Zweierlei ist dabei erstaunlich. Erstens verwundert es, dass schon erstaunlich früh in der Geschichte der altlutherischen Kirche die Generalsynode beschließt, eine eigene Agende zu veröffentlichen. Im Konflikt um die Unionsagende war ja gerade der Wert der sogenannten „Wittenberger Agende“ in vielerlei Hinsicht betont worden. Da fällt es auf, dass es trotzdem schon bald Pläne für eine eigene Agende gab. Auf der anderen Seite überrascht es, dass es trotz solcher früher Pläne für die Erstellung einer Agende bis 1886 dauerte, bis tatsächlich eine Agende von einer Generalsynode approbiert wurde, nahezu eine vollständige Pastorengeneration seit den ersten Agendenplänen. 1841 befasst sich die erste Generalsynode der altlutherischen Kirche erstmals mit der Agendenfrage.82 Dabei wird erkennbar: Noch steht die Wittenberger Agendentradition in hohem Ansehen. Es „wurde beschlossen, daß die Gemeinden bei den bisher bei ihnen ueblich gewesenen Agenden verbleiben sollen, insofern nicht etwas Abweichendes von der Synode angeordnet worden ist“83. Gleichwohl ist schon eine erste Distanzierung gegenüber der Breslauer Agendentradition erkennbar. Das besondere Responsum „Und mit seinem Geiste“ wird durch „Und mit deinem Geiste“ ersetzt. Anregungen, der Evangelienkollekte einen festen Platz im Gottesdienst, nämlich gegebenenfalls als zweites Kollektengebet vor der Evangelienlesung, zu sichern, werden nicht aufgenommen. Und die historische Einleitung der Abendmahlsworte nach Lk 22 als Präfation wird nun als „ungenuegend […] erachte[t]“84. Bei der Taufe soll der Exorzismus beibehalten bleiben, erscheint aber schon erklärungsbedürftig. Ansonsten ist der Bedarf erkennbar, noch weitere Formulare für besondere Gelegenheiten zu erarbeiten. Drei Jahre später, 1844, ändert sich das Bild. Die Zeit scheint reif zu sein, eine eigene Agende zu erstellen. In den Beschlüssen der Generalsynode heißt es: „Den Druck einer Agende, eines die Unterscheidungslehren berücksichtigenden Katechismus und eines Gesangbuchs hat die Synode für wünschenswert erkannt […].“85 1848 führt diese Absichtserklärung endgültig zu einem Synodalbeschluss:

81 82 83 84 85

Vgl. zu den altlutherischen Agenden auch den Überblick bei Fenske, Das Abendmahl (wie Anm. 15), 218–237. Vgl. Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, Leipzig 1842, 73–79. A.a.O., 73. A.a.O., 74. Beschlüsse der evangelisch-lutherischen Generalsynode zu Breslau. Zweites Heft. Beschlüsse der im September und October 1844 gehaltenen zweiten Generalsynode, Breslau 1865 [Nachdruck?], 137 (29).

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

149

„Der Synode schien aus vielen naheliegenden Gruenden die Zeit gekommen zu seyn, um im Verein mit den anderen lutherischen Kirchen Deutschlands Hand anzulegen, oder wenigstens die Hand zu bieten, ein vollstaendiges lutherisches Agendenbuch zu Stande zu bringen, welches unter Schonung der eigenthuemlichen gottesdienstlichen Gewohnheiten jedes Landes sich doch dazu eignete, nicht blos das dringende Beduerfnis vieler Gemeinen zu befriedigen, sondern auch das Band der Bekenntnißeinheit der lutherischen Kirchen Deutschlands in der schoensten Bluethe des kirchlichen Lebens zu knuepfen.“86

Eine Agendenkommission wird eingesetzt – ausdrücklich wird dabei berücksichtigt, „daß die verschiedenen Ansichten ueber Wesen und Einrichtung der Agende und Liturgie in der Commission ihre Vertretung finden“87. Erkennbar wird auch eine zunehmend lebhafte Diskussion um den Taufexorzismus.88 Die Generalsynode 1852 stellt einen Rückschritt in der Agendenentwicklung der altlutherischen Kirche dar.89 Zwar wird die Notwendigkeit erkannt, einige Mängel der bisher in Geltung stehenden Agende abzustellen, insgesamt kommt die Synode aber einstimmig zum Ergebnis: „Von allgemeiner Einführung einer neuen Agende glaubte sie aber absehen zu müssen.“90 Lediglich für Gemeinden, die Interesse an der Einführung einer neuen Agende hätten, solle nun eine neue Agende erarbeitet werden. Offensichtlich hatte die bisherige, gerade auch die sogenannte Wittenberger Agendentradition einen so hohen Stellenwert in den Gemeinden, dass eine auch konfessionell unbedenkliche Agendenschöpfung keine Chance auf Annahme hatte. Gleichwohl erscheint 1854 eine Privatagende von mehreren Pfarrern aus dem Raum der altlutherischen Kirche. Für ihren Entwurf benennen sie verschiedene Gründe.91 Der erste genannte Grund ist ein ganz praktischer: Die handschriftlichen Agenden seien inzwischen unleserlich geworden und der Wunsch nach einer gedruckten Agende sei gewachsen. Darüber hinaus scheint die Auseinandersetzung um die Unionsagende auch eine selbstkritische Reflexion um die Breslauer Agende angestoßen zu haben, die bisher weitgehend mit der sogenannten „Wittenberger Agende“ identifiziert worden war. So lässt sich hier bereits eine kleine Liturgiereform greifen: Insbesondere die Epistel- und Evangelienkollekten werden nun als nachreformatorische Zuwächse identifiziert und durch die altkirchlichen Kollekten ersetzt. Hier wird nun zu Ende gebracht, was sich an Skepsis schon bei der Generalsynode von 1842 erkennen ließ. Das Kyrie eleison wird vollständig ins Deutsche übertragen. Auch die historische Einleitung zu den Einsetzungsworten nach Lk 22

86 87 88 89 90 91

Beschlüsse der evangelisch-lutherischen Generalsynode zu Breslau. Drittes Heft. Beschlüsse der im September und October 1848 gehaltenen dritten Generalsynode, Leipzig 1849, 180 (38). A.a.O., 180f. (38f.). A.a.O., 181–183 (39–41). Vgl. Zusammenstellung der Beschlüsse 1852 (wie Anm. 21), 240f. (38f.). A.a.O., 241 (39). Agende Sorau 1854 (wie Anm. 15), III–VI.

150

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

ist nur noch fakultativ gesetzt.92 Darüber hinaus werden bisher fehlende Formulare für Konfirmation, Neuaufnahme von Gemeindegliedern sowie andere, die bisher in den Agenden fehlten, aus verschiedenen Quellen ergänzt. Erkennbar ist bereits der Einfluss Wilhelm Löhes auf diesen Agendenentwurf, der die zweite Auflage seiner Agende ja auch ausdrücklich Huschke gewidmet und damit die Verbundenheit zur altlutherischen Kirche in Preußen deutlich gemacht hatte.93 Dieser Agendenentwurf von 1854 wurde kirchlich allerdings nicht approbiert. 1856 wurde kirchlicherseits erneut die Erarbeitung einer Agende angeregt.94 Die entsprechenden Bemühungen kamen dann aber über den inneren Auseinandersetzungen innerhalb der altlutherischen Kirche zunächst zum Erliegen.95 Auch die dann wieder aufgenommene Arbeit an der Agende scheint nicht konfliktfrei gewesen zu sein und verzögerte sich daher erneut.96 So konnte erst 1878 der Generalsynode ein erster Agendenentwurf vorgelegt werden.97 Nach weiteren Schwierigkeiten in der Kommission wurde 1882 der Agendenkommission die Vollmacht erteilt,98 einen Agendenentwurf zu erstellen, der 1884 gedruckt wurde.99 Diesem 1884 erstellten Entwurf der 1886 nach weiteren Modifikationen endgültig veröffentlichten Agende100 ist zu entnehmen, dass eine Vielzahl von Gründen eine Rolle spielte, dass sich die Erstellung einer Agende insgesamt um rund vierzig Jahre verzögerte:101 Einer der Gründe war, dass der ursprünglich ins Auge gefasste Plan, eine Agende nicht nur für die altlutherische Kirche, sondern für alle lutherischen Kirchen in Deutschland zu erstellen, offensichtlich zu ambitioniert gewesen war. Daneben stellten die schon erwähnten innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Konflikte im Raum der Agendenkommission(en) Hindernisse für die Fertigstellung dar. Ein grundsätzliches Problem ergab sich darüber hinaus dadurch, dass die neue Agende Gemeinden aus verschiedenen liturgischen Traditionen dienen sollte. In 92 93 94

A.a.O., 2. Vgl. Stolle, Wortglaube (wie Anm. 7), 134f. Die Beschlüsse der im September und Oktober 1856 gehaltenen General-Synode der evangelischlutherischen Kirche in Preußen, Breslau 1857, 295 (29). 95 Vgl. Die Beschlüsse der im September und October 1864 gehaltenen General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Nassau, Baden und Waldeck, Breslau 1865, 404 (44), und Die Beschlüsse der im September 1868 gehaltenen General-Synode der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck, Breslau 1869, 459f. (43f.). 96 Vgl. Die Beschlüsse der im September 1873 gehaltenen General-Synode der evang.-lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck, Breslau 1874, 519 (41). 97 Die Beschlüsse der im September 1878 gehaltenen General-Synode der evang.-lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck, Breslau 1878, 576f. (38f.). 98 Die Beschlüsse der im August und September 1882 gehaltenen General-Synode der evangel.lutherischen Kirche in Preußen, Baden und Waldeck, Breslau 1883, 647 (29). 99 Entwurf einer Agende für die evangel.-lutherische Kirche in Preußen u. a. St., Cottbus 1884. 100 Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen, Breslau 1886. – Vgl. als Überblicke zu einzelnen Modifikationen Fenske, Das Abendmahl (wie Anm. 15), 220f., sowie Stolle, Wortglaube (wie Anm. 7), 138. 101 Vgl. zum Folgenden Agende Breslau 1886 (wie Anm. 100), III–X.

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151

der altlutherischen Kirche waren längst nicht mehr bloß schlesische Gemeinden, sondern auch Gemeinden aus anderen Regionen Deutschlands mit anderen Agendentraditionen zusammengeschlossen. Der Rückbezug auf eine einzige Traditionslinie als der einzigen wahrhaft lutherischen war so nicht mehr möglich. Unterschiedliche liturgische Traditionen mussten so miteinander vermittelt werden. Bei den Vätern der Agende hat sich dann folgende Überzeugung durchgesetzt: „Vor allen Dingen hat sich uns bei näherer Betrachtung der verschiedenen in Gebrauch befindlichen Gottesdienstordnungen ergeben, daß dieselben nicht sowohl in einem principiellen liturgischen Gegensatz als vielmehr in einem solchen Verhältniß zu einander stehen, daß man eigentlich nur von einer mehr oder minder reichen Ausgestaltung, der übrigens principiell gleichen liturgischen Gedanken, reden kann.“102

Nur durch den Abschied vom Festhalten an einer einzigen Agendentradition und durch die Integration verschiedener Überlieferungsstränge wurde eine neue, eigene Agende der altlutherischen Kirche mehrheitsfähig. Außerdem mussten wohl auch einige Jahre ins Land gehen, bis es in der altlutherischen Kirche möglich war, von der sogenannten „Wittenberger Agende“ abzuweichen, die in der Auseinandersetzung mit der Berliner Agende einen so hohen Symbolwert als Garantin des wahrhaft rechtgläubigen Gottesdienstes erhalten hatte.103 Denn es ist auffällig, dass einiges, das in den Auseinandersetzungen der 1820erund 1830er-Jahre große Bedeutung hatte, am Ende des Jahrhunderts keine Rolle mehr spielte oder aber eine untergeordnete Bedeutung erhielt. Als Beispiele seien genannt: Die Epistel- und Evangelienkollekten sind endgültig ersetzt oder gekürzt worden. Die Einleitung aus Lukas 22, die in der Breslauer Abendmahlsliturgie gebräuchlich war, ist nun nur noch fakultativ gesetzt. Am erstaunlichsten ist aber das Entfallen des Exorzismus in der Taufliturgie. War in der Auseinandersetzung um die Unionsagende schon die Umformulierung des Taufexorzismus scharf kritisiert worden, so ergibt sich nun ein anderes Bild: „Bei dem Taufformular haben wir den Exorcismus weggelassen. Die Gründe, welche einst die ältere lutherische Kirche bestimmten ihn festzuhalten, bestehen für uns nicht mehr. Daß er niemals als ein nothwendiges Stück der Taufhandlung gegolten hat, ist bekannt […]. Daß sein Wortlaut nach einfältigem Verständnis zuviel sagt, mehr als wir verantworten können, dürfte heute allgemein zugestanden sein.“104

So lässt sich resümieren: Während einzelne Elemente aus der Breslauer Agendentradition verloren gehen, werden andere in der ersten altlutherischen Agende aufgenommen. Erkenntnisse aus der zeitgenössischen Liturgik werden rezipiert. Dabei

102 A.a.O., V. 103 Dazu ist in den Blick zu nehmen, dass in der ersten Generation der altlutherischen Bewegung auch eine Skepsis zu verzeichnen ist, ob unter den zeitgeschichtlichen Bedingungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „wahrhaft biblisch-glaeubige Agenden […] ausgehen könnten“ (Hirschfeld, Das trennende Unionswerk [wie Anm. 40], 96f.). 104 Entwurf Agende 1884 (wie Anm. 99), VIII.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

kommt insbesondere Wilhelm Löhes Agende eine herausgehobene Bedeutung zu.105 So wird am Ende eines Jahrhunderts deutlich, dass auch die Agendentradition der altlutherischen Kirche nicht etwa ungebrochen ist, sondern in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität steht.

3.

Agenden und Identität: Anregungen zu weiterer Verständigung

Am Ende meiner Ausführungen sollen Überlegungen dazu stehen, in welchem Bereich sich heute durch weitere gemeinsame Arbeit Möglichkeiten zu einer Verständigung zwischen unseren Kirchen ergeben könnten. Welche Gesprächsfäden wären mit Blick auf die Fragestellung nach Agende und kirchlicher Identität weiter aufzunehmen? 3.1

Historizität und Stimmigkeit

Sowohl Friedrich Wilhelm III. als auch die Streiter auf altlutherischer Seite waren um eine historische Legitimation ihrer Position und ihrer agendarischen Tradition bemüht. Mit dem inzwischen längst gegebenen historischen Abstand lässt sich erkennen, dass diese Versuche letztlich auf beiden Seiten in eine Sackgasse geführt haben. Weder lässt sich die Unionsagende einfach als Fortschreibung der Gottesdienstkonzepte Luthers verstehen noch war die sogenannte „Wittenberger Agende“ die lutherische Agende schlechthin. Vielmehr ist für beide Seiten festzuhalten, dass neben dem Rückgriff auf die agendarische Tradition auch je unterschiedliche, eben auch zeit- und ortsbedingte Fortschreibungen in den jeweiligen Formularen erkennbar sind. Wolfgang Fenske hat am Beispiel des eigentümlichen Responsums der Breslauer Agende deutlich gemacht, dass es problematisch ist, in diesen Zusammenhängen vorschnell von „richtig“ und „falsch“ zu reden.106 Stattdessen könnte eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit der Agendenfrage bei der Frage nach der Stimmigkeit der jeweiligen Agenden ansetzen. Insbesondere Hirschfeld hat auf altlutherischer Seite diesen Aspekt in die Diskussion eingebracht. In Aufnahme des heute in der liturgischen Diskussion leitenden Inszenierungsparadigmas ließe sich in weiteren Gesprächen noch einmal neu nach der Dramaturgie von Liturgie fragen, nach der Stimmigkeit ihres Aufbaus und danach, wie sich Inhalt und Form zueinander verhalten.107

105 Vgl. Fenske, Das Abendmahl (wie Anm. 15), 220f. – Volker Stolle macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass Wilhelm Löhe selbst wiederum Teile der Breslauer Agendentradition in seine Agende aufnahm (Stolle, Wortglaube [wie Anm. 7], 135). 106 Vgl. Fenske, „Und mit seinem Geiste“ (wie Anm. 15), 127f. 107 Vgl. zum Inszenierungsparadigma z. B. Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, hier vor allem 374–387, und David Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung (Christentum und Kultur 7), Zürich 2007.

Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche

3.2

153

Synchrone und diachrone Ökumenizität

Während der historische Rückgriff für die Legitimation der je eigenen Position, wie wir gesehen haben, nur bedingt taugt, gewinnt die geschichtliche Dimension an Bedeutung, wenn wir nach synchroner und diachroner Ökumenizität fragen. Auch wenn sich die Entstehungsgeschichte der altlutherischen Kirche phänomenologisch als eine Spaltungsgeschichte fassen lässt, ist damit doch keineswegs die Intention dieser Kirchwerdung erfasst. Vielmehr lässt sich gerade in der Anfangszeit ein ökumenisches Anliegen bemerken. Wir haben gesehen, dass die Erarbeitung einer eigenen Agende sich auch deswegen verzögert hat, weil ein gesamtlutherisches Agendenwerk angedacht war. Entsprechend stehen auch Überlegungen zu gesamtlutherischen Konzilien an der Wiege der altlutherischen Kirche.108 Während sich diese Überlegungen noch im Bereich der lutherischen Konfessionsfamilie bewegen, lässt sich darüber hinaus in den Argumentationsgängen auf altlutherischer Seite nachweisen, dass Ökumenizität eben auch diachron gedacht ist, also über die Zeiten hinweg. Die Anknüpfung an die Gottesdiensttradition der Kirche aller Zeiten wird immer wieder beschworen, und Nähen zu anderen Kirchen über die eigene Konfession hinaus werden konstatiert. Gleichzeitig bedeutet eine solche ökumenische Ausrichtung aber auch, dass ein gewisses Maß an Vielfalt integriert werden muss. Die erste altlutherische Agende ist ein Beispiel für den „ökumenische[n] Lernprozeß im Kleinen“,109 der sich durch die Integration verschiedener Lokaltraditionen innerhalb des Raums der altlutherischen Kirche ergibt.110 Aber auch mit Blick auf die Berliner Agende ist festzuhalten, dass mit der Rückwendung zu traditionellen liturgischen Formen und der Integration von Elementen aus der anglikanischen und russisch-orthodoxen Liturgik ebenfalls Aspekte der synchronen wie diachronen Ökumenizität Berücksichtigung gefunden haben. In einem weiteren Gesprächsprozess wäre dann auch zu erwägen, wo und in welchem Umfang die Integration verschiedener liturgischer Formen möglich, ja notwendig ist, und wo die Grenzen der Formen- und Ausdrucksvielfalt liegen. 3.3

Freiheit und Verbindlichkeit

Damit ist ein weiterer Themenzusammenhang bereits berührt, nämlich der nach Freiheit und Verbindlichkeit. Die Konfliktsituation im 19. Jahrhundert zwischen preußischem König und den Vertretern der altlutherischen Bewegung zeichnet sich durch in verschiedener Hinsicht gegenläufige Positionen und Intentionen aus.

108 Vgl. Beschlüsse Generalsynode 1841 (wie Anm. 82), 92. 109 Werner Klän, Der Weg selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Ein ökumenisches Modell im Kleinen, in: LKW 37 (1990), 205–228, hier 222, dort mit Bezug auf die Verständigung unterschiedlicher lutherischer Bekenntniskirchen im 19. und 20. Jahrhundert. 110 Vgl. auch Fenske, „Und mit seinem Geiste“ (wie Anm. 15), 126f.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Einerseits bestehen die altlutherischen Gemeinden gegenüber der königlichen Verordnungspolitik auf dem Recht, in Freiheit eigene agendarische Ordnungen wählen zu dürfen. Andererseits kritisieren sie die entstandene Vielfalt und Beliebigkeit, die mit der königlichen Agende und insbesondere den Provinzialagenden in den preußischen Gemeinden Einzug gehalten hätten. Im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte scheint mir im Bereich der heutigen Union Evangelischer Kirchen (UEK) das Moment der Vielfalt stärkeres Gewicht erhalten zu haben, wie es konzeptionell auch im Evangelischen Gottesdienstbuch seinen Ausdruck gefunden hat.111 Dagegen scheint mir im Bereich der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) das Moment der Verbindlichkeit kirchlich approbierter Agenden in besonderer Weise betont zu werden.112 In einem zukünftigen Gesprächsgang könnte auch das jeweils andere Moment in der eigenen Geschichte wiederentdeckt und in die Diskussion eingebracht werden. Dabei wären Ertrag und Probleme einer (womöglich einseitigen) Betonung von Pluralität bzw. hoher Verbindlichkeit agendarischer Formen zu bedenken.113 Zu reflektieren wäre in diesem Zusammenhang, wie die Entscheidungen kirchenleitender Organe und die Entscheidungen der Einzelgemeinden in liturgischen Fragen aufeinander zu beziehen sind. 3.4

Partizipation und Gemeindefrömmigkeit

In den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts lässt sich entdecken, dass das Zurückdrängen gemeindlicher Partizipation im Gottesdienstgeschehen von der altlutherischen Bewegung kritisch aufgenommen worden ist. Hier lässt sich durchaus ein moderner Impuls in der altlutherischen Bewegung erkennen, der in der Frühzeit der altlutherischen Kirche – freilich in Zeiten beson-

111 Vgl. das Kriterium 2 in: Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands [Taschenausgabe], Berlin ³2003, 15 (im Folgenden: EGb). 112 Vgl. die Anweisungen zum Gebrauch, hier Absatz 1, in: Evangelisch-Lutherische Kirchenagende, Bd. 1 [Taschenausgabe], Freiburg u. a. 2009 (1997), 9 (im Folgenden: ELKA). 113 Als Beitrag zu dieser Fragestellung aus der neuesten liturgischen Diskussion seien hier exemplarisch Überlegungen von Alexander Deeg angeführt: „Auf diesem Hintergrund gilt es, ein deutliches ‚Ja‘ zu einer kreativen Pluralität unterschiedlichster gemeindlicher Angebote für verschiedenste Zielgruppen zu sagen, die pädagogische, spirituelle, missionarische oder oikodomische Funktionen erfüllen. […] Und es gilt gleichzeitig, ein deutliches ‚Nein‘ dagegen zu sagen, das Etikett ‚Gottesdienst‘ auf alle diese Veranstaltungen kleben zu wollen. […] In dieser Hinsicht scheint es mir kontraproduktiv, wenn immer weitere Pluralisierung des Gottesdienstes im evangelischen Kontext gefordert wird. Im Gegenteil droht der Gottesdienst als WortKult in dieser Pluralität unterzugehen – und mit ihm die Feier des fremden, herausfordernden und doch zugleich nahen und befreienden Gotteswortes“ (Alexander Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik [APTLH 68], Göttingen 2012, 546).

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derer Not – zu Formen gemeindlicher Selbstorganisation geführt hat, in denen Hausväter nicht nur Taufen, sondern sogar Abendmahlsfeiern gehalten haben.114 Heute stellt sich die Frage nach Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Kirche wieder neu. So würde es sich lohnen, auch hier danach zu fragen, wo, wie und in welchem Umfang Gemeindeglieder in die Gestaltung des gottesdienstlichen Lebens einbezogen werden können und sollen, um so auch je eigene Formen gelebter Frömmigkeit in die Gestaltung der Gottesdienstfeier einbringen zu können.115 Andersherum ist allerdings auch das Argument von Hirschfeld wieder neu zu bedenken, dass gerade das Festhalten an den von der Gemeinde approbierten geprägten Gottesdienstformen die gemeindliche Würde und Autorität als ganze angemessen berücksichtigt. 3.5

Dogmatik und Liturgik

Am Schluss sollen nun noch zwei grundsätzliche Themenfelder benannt werden, die meines Erachtens im weiteren Gespräch der Behandlung bedürften. Das erste ist das der Zuordnung von dogmatischen und liturgischen Fragen. Der Blick auf die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts hat gezeigt, dass es am Ende nicht nur die Texte und Formen der Agende selbst waren, die umstritten waren, sondern mindestens ebenso die Bedeutung der Agende in ihrem ekklesialen und ekklesiologischen Kontext. Was also ist Gottesdienst? – Kirchliche Feier? Vollzug verbindlicher, bekenntnisbezogener kirchlicher Gemeinschaft? Ausdruck des individuellen bzw. kollektiven Glaubens? Gottesbegegnung? Feier von Menschen aus bestimmten lokalen und gesellschaftlichen Milieus? Erkennungszeichen für eine bestimmte Form der Kirchlichkeit? Die Liste ließe sich noch um eine Reihe von Stichworten ergänzen. Aber auch so dürfte schon erkennbar werden, dass sich die einzelnen Aspekte nicht gegenseitig ausschließen, sondern zu einem guten Teil komplementär zueinander zu stehen kommen, sie allerdings sicherlich in unterschiedlicher Rangfolge aufeinander zu beziehen sind. Bei der Frage nach der Zuordnung von Dogmatik und Liturgik erscheint mir ein Rekurs auf die oft zitierte Kurzformel „lex orandi – lex credendi“116 sachgemäß, aber nicht für eine umfassende Kriteriologie ausreichend zu sein. So gewiss im gottesdienstlichen Vollzug das Bekenntnis der Gemeinde zum Ausdruck kommt, weiterhin im Bekenntnis die Grenzen der Gestaltungsfreiheit wahrzunehmen sind

114 Nagel, Die Errettung (wie Anm. 28), 75. 115 Vgl. das Kriterium 1 des EGb (wie Anm. 111), 15: „Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und der Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.“ 116 Vgl. das Geleitwort in ELKA (wie Anm. 112), 5.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

und andersherum liturgisches Leben seinen Niederschlag in Bekenntnistexten findet, so wenig ist damit das zu bearbeitende Feld schon vollständig erfasst.117 Entsprechend gibt es selbst im Raum der lutherischen Kirche(n) in Geschichte und Gegenwart eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen, zum Teil auch kontextbezogenen gottesdienstlichen Formen, die doch alle das gleiche Bekenntnis als Grundlage haben. Entsprechend ist Gottesdienst immer Inszenierung des Evangeliums, das in Bekenntnistexten bezeugt ist. Aus der altlutherischen Argumentation wäre hier die Verhältnisbestimmung von „Texten“ und dem „Geist“ der gottesdienstlichen Ordnungen noch einmal weiterzuführen. Daneben wäre ebenfalls zu reflektieren, was es in diesem Zusammenhang auch für die dogmatische Selbstbestimmung bedeutet, wenn sich liturgische Formen ändern. Als anschauliches Beispiel aus der beleuchteten Geschichte mag der Taufexorzismus dienen, der in den Auseinandersetzungen um die Berliner Agende noch hohe Bedeutung für die konfessionelle Identität und Selbstbestimmung der Altlutheraner hatte, am Ende des 19. Jahrhunderts allerdings klaglos entfallen kann und auch heute in der Taufagende der SELK nur noch fakultativ gesetzt ist.118 3.6

Identitätskonzepte

Als Letztes möchte ich für die weitere Arbeit die Frage einspeisen, was wir eigentlich (jeweils) unter kirchlicher bzw. konfessioneller Identität verstehen. Welche Identitätskonzepte bringen wir jeweils mit? Gemeinden – jedenfalls im Bereich der SELK – fragen genau diese Thematik verstärkt nach. In der Geschichte der altlutherischen Kirche lässt sich etwas davon ablesen, wie – mit Blick auf die Agende – ein Identitätskonzept, das Brüche und geschichtliche Entwicklungen kaum berücksichtigt, bei der Erarbeitung der Agende zum Ende des 19. Jahrhunderts abgelöst wird durch ein Konzept, das zwar die Identität als lutherische Kirche in Preußen weiterhin behauptet, aber auch Unterschiede und Entwicklungen zu integrieren vermag. 117 Vgl. Plüss, Gottesdienst (wie Anm. 107), 313: „Selbstverständlich steht liturgische Interpunktion immer auch in theologischen Bezügen. Es ist liturgietheoretisch unabdingbar, eine liturgische Struktur in ein theologisches Konzept des Gottesdienstes einzuzeichnen. So basal diese Bezüge für die christliche Identität eines Gottesdienstes sind, so ambivalent sind sie, wenn sie direkt auf die liturgische Struktur abgebildet und angewandt werden. Werden dogmatische Inhalte mit Teilen des Gottesdienstes identifiziert, so ergibt sich eine doppelte Gefahr: Zum einen wird unterstellt, die dogmatischen Begriffe seien in den liturgischen Kontext und Vollzug direkt übertragbar und die dogmatische Stringenz und Wahrheit erzeuge auch eine liturgische Evidenz. Dies ist in der Regel nicht der Fall, da es sich um zwei verschiedene Kontexte mit unterschiedlichen sprachlichen Gattungen handelt. Zum anderen besteht die Gefahr, dass der theologische Sachverhalt, der etwa mit der ‚Verkündigung‘ angesprochen wird, auf bestimmte Teile wie die Predigt fixiert und beschränkt wird, was nicht nur theologisch fragwürdig ist, sondern auch die Predigt überfordert und die übrigen Teile des Gottesdienstes depotenziert.“ 118 Vgl. Evangelisch-Lutherische Kirchenagende, hg. v. d. Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. III/1: Die Heilige Taufe, Göttingen 2010, 16.

Summary

157

Für den Bereich der individuellen Identität ist genau das selbstverständlich. Auch wenn ich als Erwachsener noch immer dieselbe Person bin wie als Kind, bin ich doch nicht mehr das Kind, das ich vor dreißig Jahren war. Und würde ich heute reden, denken und agieren wie das Kind von damals, wäre gerade das ein Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit. Es wäre im Gespräch miteinander zu erwägen, inwieweit solche Überlegungen auch für Gruppen, für Kirchen und Gemeinden gelten. Wo gibt es Kontinuität im Wandel der Zeiten? Ist die heute wiederholte Botschaft von gestern heute noch dieselbe Botschaft wie gestern? Wo bleibt Kirche sich selbst nur darin treu, weil sie sich wandelt? Und wo wird andererseits Kirche durch Wandel eine andere und verliert so ihre Identität? Wie angedeutet, lässt sich an der Geschichte der altlutherischen Kirche und ihrer Agendentradition beobachten, dass einfache und einseitige Antworten auf die Frage nach der eigenen Identität nicht möglich sind. Das Festhalten an der eindeutigen Bekenntnisbindung und an einer bestimmten Agendentradition steht neben Versuchen der liturgischen Neuinterpretation und Neugestaltung.

Summary The Lutherans in Silesia who protested against the new Prussian Agenda issued by King Friedrich Wilhelm III, were driven by various motives. On the one hand they had theological difficulties with the new Agenda and the respective liturgy, while on the other hand it is obvious that they were also afraid of losing the specific form of service with which they were familiar. The paper explores the various reasons mentioned in the discussion and also reveals some misunderstandings between the “Altlutheranern” and the King. Finally the author considers which fields of Practical Theology appear to be worthy of further mutual discussion.

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 19. Jahrhundert Jürgen Kampmann

In der (alt)preußischen Landeskirche 1.

Die Gestalt lutherischer und reformierter Gottesdienste in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Um eine angemessene Vorstellung davon zu gewinnen, welch tiefgreifende Veränderung des gottesdienstlichen Lebens in den evangelischen Kirchen der zu Preußen gehörenden Territorien durch das Wünschen und Wollen, das Fördern und Fordern, das Drängen und auch Drohen des „Liturgikers auf dem Thron“, König Friedrich Wilhelm III., in den mehr als vier Jahrzehnten seiner Regierung von 1797 bis 1840 initiiert worden ist,1 kann nicht darauf verzichtet werden, zunächst den Status quo ante zu skizzieren. Dabei aber gerät man unversehens vor gleich mehrere Hürden, die allesamt bisher in einer wissenschaftlich fundierten – das heißt in diesem Falle: breit durch aussagekräftige Quellen belegt – Weise noch nicht zu bewältigen sind. Das hat mehrere Gründe: 1. Schon vor der napoleonischen Zeit umfasste Preußen eine Vielzahl von Territorien,2 die ebenso hinsichtlich der kirchlichen Leitung und Verwaltung wie auch der liturgischen Ordnung seit der Reformation eine eigenständige Entwicklung ge-

1

2

Zu Friedrich Wilhelm III. kirchlichem Wirken vgl. die immer noch lesenswerten Darstellungen von Hermann Theodor Wangemann, Die Kirchliche Cabinets-Politik des Königs Friedrich Wilhelm III. insonderheit in Beziehung auf Kirchenverfassung, Agende, Union, Separatismus nach den Geheimen Königlichen Cabinets-Akten und den Altenstein’schen handschriftlichen Nachlaß-Akten des Königlichen Geheimen Staatsarchivs gezeichnet. Grundlage für das abschließende Heft der Una Sancta, Berlin 1884, sowie Walter Wendland, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsätze Friedrich Wilhelms des Dritten in ihrer Bedeutung für die Geschichte der kirchlichen Restauration, Gießen 1909. Zur territorialen Entwicklung Preußens vgl. Gilbert-Hanno Gornig, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht 31), Köln 2000, sowie die kartographische Darstellung in: Manfred Scheuch, Historischer Atlas Deutschland. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung. Mit 107 Karten und 226 Abbildungen, davon 177 in Farbe, Wien 1997, Lizenzausgabe Augsburg 2008, 165.

In der (alt)preußischen Landeskirche

159

nommen hatten.3 Die in dieser Hinsicht unübersichtliche „Gemengelage“ wuchs mit der erheblichen territorialen Vergrößerung Preußens aufgrund der Beschlüsse des Wiener Kongresses. Bislang gibt es noch keine wissenschaftliche Untersuchung, die die kirchlich relevanten, vielschichtigen Aspekte für den hier interessierenden Zeitraum insgesamt erfassen und differenziert erläutern würde. 2. Sofern sich für bestimmte einzelne Territorien in Preußen erweisen lässt, welche (landesherrlich genehmigten) Agenden und liturgischen Formulare in Geltung standen, sagt das noch nicht zwingend etwas aus über das Maß, in dem sie in der gottesdienstlichen Praxis in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts tatsächlich in Gebrauch standen und damit als Ausdruck der kirchlichen Identität jener Zeit von den Gemeindegliedern wie der Pfarrerschaft wahrgenommen wurden.4 3. Unmittelbar im Zusammenhang damit steht die dritte Hürde: Die Zahl der veröffentlichten Quellen, die es erlauben, eine präzise Vorstellung von den alltäglichen gottesdienstlichen Vollzügen in den evangelischen Kirchengemeinden in den preußischen Landen zwischen 1800 und 1820 zu gewinnen, ist bisher verschwindend gering. Es sind bisher kaum Quellen greifbar, die den Normalfall der Gottesdienste in den Städten und in der weitaus größeren Anzahl der Landkirchen detailliert beschreiben würden.5 Denn die meist als Kleinschrifttum zum Druck gebrachten Ordnungen und Beschreibungen von Gottesdiensten stellen in aller Regel Ausnahmesituationen dar – sprich: Festgottesdienste aus den verschiedensten Anlässen, und auch das ganz überwiegend aus dem städtischen Bereich.6 In den Blick kommt durch dieses Schrifttum daher üblicherweise gerade nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme von der Regel. 4. Eine ähnliche Skepsis hinsichtlich ihrer Aussagekraft über die in dieser Zeit durch die gottesdienstliche Praxis vermittelte kirchliche Identität ist auch gegenüber der in dieser Zeit durchaus reichhaltig erschienenen liturgischen Fachliteratur anzumelden. Sie ist in aller Regel massiv interessegeleitet, denn sie zielt fast durchweg auf Veränderung des Status quo ab, auf „Verbesserung“ von als verbesserungsbedürftig verstandenen Zuständen. Diese werden daher übli3

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5

6

Zur Entwicklung im Rheinland vgl. Ulrich Zimmermann, Der Gemeindegottesdienst in der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1815 bis zur Gegenwart. Diss. Heidelberg o. J. [1956], 1–5, sowie für Westfalen Jürgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen (BWFKG 8), Bielefeld 1991, 18–49; zur Entwicklung in Preußen in der Regierungszeit Friedrich Wilhelm III. vgl. a.a.O., 50–83. Darauf wurde insbesondere aufmerksam gemacht, als Friedrich Wilhelm III. die erneute Verwendung alter, landesherrlicher Agenden für den Fall einforderte, dass Pfarrer und Gemeinden nicht willens seien, fortan die von ihm vorgelegte „Berliner Agende“ zu nutzen; vgl. dazu a.a.O., 266– 273. Vgl. zu der diesbezüglich bestehenden Problematik allein schon in dem nur kleinen Bereich des einstigen Fürstentums Minden Jürgen Kampmann, Die Einführung der Seilerschen Formulare in Löhne 1794. Fragen zur Gestalt und Prägung des gottesdienstlichen Lebens in MindenRavensberger Landgemeinden vor der Zeit der Erweckung, in: JWKG 108 (2012), 63–118. Dort gab es Druckmöglichkeiten und auch einen hinreichend gebildeten und finanziell ausgestatteten Käufermarkt für solche Schriften.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

cherweise auch wie selbstverständlich von vornherein negativ als „Missstände“ beschrieben (oder gar lächerlich gemacht) – von denen sich dann das vom jeweiligen Verfasser Angeregte umso vorteilhafter und leuchtender abhebt.7 Hierin unterscheidet sich auch das frühe 19. Jahrhundert um nichts von dem, was bei der Forderung nach liturgischen Reformen bis zur Gegenwart an Tendenz und Stimmungsmache gang und gäbe ist. 5. Auch die nach einem Dreivierteljahrhundert immer noch außerordentlich verdienstvolle, 1939 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Darstellung von Paul Graff im zweiten Band seiner „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands“8 leidet daran, dass sie weitgehendst auf im Druck veröffentlichten Quellen fußt, nicht aber die allermeist nur handschriftlich und in lokalen und regionalen Archiven erhaltenen und selbst da oft nur spärlich vorhandenen Dokumente auswertet, die sine studio et ira die gottesdienstliche Alltagspraxis in dem für den größten Teil der Bevölkerung auch in ihrer kirchlichen Identität prägenden ländlich-agrarischen Raum erkennen lassen. Angesichts dieser Hürden lässt sich nur mit erheblichen Vorbehalten hinsichtlich einer Verallgemeinerung ein durch Beiziehen einer Vielzahl von Einzelüberlieferungen und durch indirektes Erschließen aufgrund der Konfrontation mit den durch Friedrich Wilhelm III. betriebenen liturgischen Reformen folgende Skizze des evangelisch-kirchliche Identität in den preußischen Landen stiftenden gottesdienstlichen Alltags in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwerfen: 1. Für viele Pfarrer – und damit auch die Gemeindeglieder, die sich gerade im ländlichen Raum in großer Zahl und großer Regelmäßigkeit in den durch diese Pfarrer geleiteten Gottesdiensten versammelten – scheint ein wortwörtlicher Gebrauch herkömmlicher oder auch neuer, im Druck vorliegender liturgischer Formulare nicht mehr üblich gewesen zu sein. Eigene, auf aktuelle Situationen zugeschnittene Formulierungen zu verwenden oder agendarische Formulierungen abzuwandeln und dem je eigenen theologischen Denken anzupassen bzw. in dieses einzupassen, scheint gängige Praxis gewesen zu sein – sowohl in Gemeinden lutherischer als auch reformierter konfessioneller Prägung.9 2. Das heißt nicht, dass die Differenzierung von Ordinarium und Proprium für die gottesdienstlichen Vollzüge generell außer Gebrauch gekommen gewesen wäre. Weithin dürften aber die Möglichkeiten und auch die Voraussetzungen für eine kirchenmusikalisch qualitativ anspruchsvolle Gestaltung der Gottesdienste nicht

7

8 9

Vgl. z. B. Friedrich Mohn, Ueber Verbesserung und Verschönerung der evangelischen Gottes- und Christus-Verehrungen. Beiträge zur evangelischen Liturgik für evangelische Christen und Christenlehrer, Hamm 1821. Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd 2. Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. Mit 2 Abbildungen und 2 Übersichtskarten, Göttingen 1939. Vgl. dazu Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 9–43.375–384.

In der (alt)preußischen Landeskirche

161

mehr gegeben gewesen sein,10 so dass das liturgische Singen sowohl der Gemeindeglieder als auch der Liturgen zu dieser Zeit schon weithin in Abgang gekommen war.11 Die Qualifikation der Organisten und Kantoren besonders im ländlichen Raum war vielfach unzureichend.12 Auch für eine musikalisch-liturgische Qualifikation der Pfarramtskandidaten wurde lange so gut wie keine Sorge getragen.13 3. Wo es in zurückliegenden Epochen in lutherischen Gemeinden am Modell des Messgottesdienstes orientierte agendarische Strukturen gegeben hatte, waren diese schon aus den zuvor genannten Gründen weithin in Abgang gekommen. Hinzu kam der durch die Grundanliegen der Aufklärung fast durchgängig als auch im Gottesdienst zu realisierend akzeptierte Impetus, alle Inhalte der kirchlichen Lehre und Praxis möglichst weitgehend einer vernünftigen Einsicht der Gottesdienstteilnehmer auf dem ihnen zur Verfügung stehenden Bildungsniveau zugänglich zu machen. Insbesondere scheint auch das freie Formulieren von Gebetstexten durch den Liturgen in manchen Regionen zum gottesdienstlichen Standard gehört zu haben.14 4. Hinsichtlich der Häufigkeit und der Form der Feier des Abendmahls in den lutherischen Gemeinden ist die Basis der gesichert greifbaren Überlieferung bisher schmal. Zur Klärung der Frage, wie oft das Abendmahl in den Gemeinden tatsächlich gefeiert worden ist, dürfte nur eine breit angelegte Auswertung von Kommunikantenregistern nähere Aufschlüsse bringen. Jedenfalls gibt es Indizien dafür, dass es diesbezüglich im fraglichen Zeitraum lokal eine durchaus unterschiedliche Praxis gegeben hat und dass auch hinsichtlich der Teilhabe der Gemeindeglieder am Abendmahlsempfang weit voneinander abweichende lokale Usancen eine Rolle gespielt haben.15 Es muss zumindest infrage gestellt werden, dass in lutherischen Bereichen Altpreußens flächendeckend Gottesdienste ohne Abendmahl die Regel dargestellt haben, auch wenn sich der Abendmahlsempfang in den Abendmahlsgottesdiensten möglicherweise nur auf jeweils relativ wenige, durch vorangehende Beichte und Absolution vorbereitete Gemeindeglieder beschränkt hat. 5. Hinweise auf eine regelmäßige Verwendung geprägter Bekenntnisse im sonnund festtäglichen Vormittagsgottesdienst gibt es sowohl für den lutherischen 10

11 12 13 14 15

Vgl. dazu Bernhard Christoph Ludwig Natorp, Ueber den Gesang in den Kirchen der Protestanten. Ein Beytrag zu den Vorarbeiten der Synoden für die Veredlung der Liturgie, Essen/Duisburg 1817, 1–8. Vgl. auch Ulrich Leupold, Die liturgischen Gesänge der evangelischen Kirche im Zeitalter der Aufklärung und der Romantik, Diss. phil. Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin, Würzburg 1933. Vgl. Johann Georg Friedrich Keßler, Der musikalische Kirchendienst. Ein Wort für Alle, denen die Beförderung des Cultus am Herzen liegt; insonderheit für Organisten und Prediger. Nebst einer Vorrede von Carl Immanuel Nitzsch, Iserlohn 1832, 149–162.204–209. Näheres bei Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 267f., Anm. 8. Vgl. Graff, Geschichte 2 (wie Anm. 8), 133f. Vgl. a.a.O., 139f., 142; vgl. dazu auch Kampmann, Die Einführung der Seilerschen Formulare (wie Anm. 5), 83f., 91f.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

wie den reformierten Bereich kaum – sieht man von der Verwendung des Apostolikums bei Taufen ab.16 Stattdessen wurde aber in lutherischen Gemeinden oftmals Luthers Credolied „Wir glauben all an einen Gott“ gesungen.17 6. Als konfessionell identitätsstiftend wurde an den wenigen Orten, an denen man einen unmittelbaren Eindruck von römisch-katholischer liturgischer Praxis zu gewinnen vermochte und diese nicht nur vom Hörensagen kannte, evangelischerseits offenbar insbesondere der Nichtvollzug vieler Riten und eine entsprechende Nichtausstattung des Gottesdienstraumes angesehen. Hierzu war durch entsprechende landesherrliche Weisungen im Laufe des 18. Jahrhunderts, etwa auf die Verwendung von Kerzen als Altarlichter bei den Gottesdiensten (vorgeblich aus Gründen der Sparsamkeit) zu verzichten,18 und ein an nicht wenigen Orten offenbar zu beobachtender Verzicht evangelischer Prediger auf das Tragen einer herkömmlichen liturgischen Gewandung19 noch zusätzlich Vorschub geleistet worden. Die innerprotestantische Differenz zwischen lutherischer und reformierter Konfession wurde auf der Ebene der Gemeindeglieder weithin als eine nur äußerlich unterschiedliche Handhabung bei der Verwaltung des Abendmahls wahrgenommen – in welcher Weise die Einsetzungsworte gesprochen und ob zur Austeilung Hostien oder aber (Grau-)Brot verwendet wurden.20 Das Bewusstsein für eine bestehende dogmatische Differenz scheint auch in der Pfarrerschaft zurückgetreten gewesen zu sein. Als protestantisch identitätsstiftend wurde offenkundig die zentrale Stellung der Predigt empfunden,21 so dass die Bezeichnung der ordinierten Amtsträger in den evangelischen Gemeinden der beiden protestantischen Konfessionen als „Prediger“ Standard war.

2.

2.1

Das Agendenwerk König Friedrich Wilhelm III. – Ziele, Durchsetzung und Reaktionen Liturgische Weichenstellungen bis 1820

Das von Friedrich Wilhelm III. seit 1821 veröffentlichte und propagierte Agendenwerk22 steht zu den in der veröffentlichten liturgischen Diskussion der Zeit begeg16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Graff, Geschichte 2 (wie Anm. 8), 118f; zur Verwendung des Apostolikums bei Taufen a.a.O., 232f. A.a.O., 119. A.a.O., 65, 147. A.a.O., 69f. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 124f. Graff, Geschichte 2 (wie Anm. 8), 123–131. Vgl. dazu Wilhelm H. Neuser, Agende, Agendenstreit und Provinzialausgaben, in: J. F. Gerhard Goeters/Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1: Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992, 134–159, hier 142–149.

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nenden Tendenzen in wesentlicher Hinsicht quer. Dies ist auch schon für die in diesem Bereich erlassenen Anordnungen des preußischen Königs vor 1821 festzustellen, wurde aber zeitgenössisch nicht so bewusst wahrgenommen, weil deren Wahrnehmung zunächst hinter den die öffentliche Aufmerksamkeit viel mehr auf sich ziehenden politischen Ereignissen zurücktrat oder weil sie als lediglich um eine besondere, hervorgehobene Ausgestaltung einzelner Gottesdienste aus besonderem Anlass verstanden wurden –23 und damit eben gerade nicht als langfristig identitätsstiftend bzw. identitätsverändernd begriffen wurden. In diesem Kontext ist zunächst daran zu erinnern, dass Friedrich Wilhelm III. in den Jahren nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon bei seinen Aufenthalten in Russland den russisch-orthodoxen Gottesdienst kennengelernt hat und von dessen liturgischer Gestaltung – insbesondere vom Gesang der Männerchöre – so beeindruckt war, dass schon von 1812 an mehr als 60 russische Soldaten als Sänger dem 1. Garde-Regiment zugeteilt waren und 1826/1827 im Norden Potsdams eine russische Kolonie („Alexandrowka“) errichtet wurde.24 Tiefen Eindruck haben auf ihn ebenso anglikanisch-hochkirchliche Gottesdienste 1814 gemacht.25 Zum 1. Januar 1811 hat er für die evangelischen Pfarrer in Preußen das Tragen eines einheitlich gearbeiteten schwarzen Talars bei den Amtshandlungen verordnet.26 Dieser sollte ältere, noch herkömmlich im Gebrauch befindliche gottesdienstliche Gewandungen nicht verdrängen, wohl aber einem vom König als geckenhaft gebrandmarkten Aufzug von Pfarrern in bürgerlicher Kleidung im Gottesdienst einen Riegel vorschieben.27 1817 wurde diese Anordnung auch für die neu zu Preußen gekommenen Territorien in Kraft gesetzt. An diesem Vorgang zeigt sich erstmals das Anliegen des Königs, das Agieren im Gottesdienst nicht dem ästhetischen und theologischen Geschmack der Zeit oder dem Gutfinden der zur Leitung des Gottesdienstes Bestellten zu überlassen, sondern dem Gottesdienst einen sich vom Alltäglichen bewusst abhebenden Raum und Rahmen zu sichern bzw. wieder zu verschaffen. Ganz auf dieser Linie liegen auch die Anordnungen des preußischen Königs zur Gestaltung des Gedenkens an die in den Kriegen gegen Napoleon Gefallenen am 4. Juli 181628 und zur Feier eines jährlichen Gedenkens an die Verstorbenen am letzten Sonntag des Kirchenjahrs sowie des Karfreitags.29 Dass zu diesem Zweck besondere Paramente in schwarzer Farbe zur Ausstattung von Altar und Kanzel landesweit in den evangelischen Kirchen kurzfristig angeschafft werden mussten – ohne Unterschied für lutherische wie für reformierte Gemeinden –,30 stellt unter 23 24 25 26 27 28 29 30

A.a.O., 137–139. A.a.O., 136; vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 55. Ebd., vgl. Neuser, Agende (wie Anm. 22), 136. A.a.O., 137; vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 55–58. A.a.O., 56 mit Anm. 52. A.a.O., 77f. A.a.O., 80f. Neuser, Agende (wie Anm. 22), 137.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Beweis, dass Friedrich Wilhelm III. hinsichtlich seines liturgischen Wirkens bereits in dieser Zeit schon Perspektiven entwickelt hatte, die langfristig für die gottesdienstliche Wirklichkeit in beiden protestantischen Konfessionen prägend werden sollten. In diesem Kontext ist auch sein Unionsaufruf vom 27. September 181731 zu verstehen – bei dem die gottesdienstliche Dimension der Vereinigung, insbesondere der gemeinsame Empfang des Abendmahls aus Anlass der Feier des 300-jährigen Reformationsjubiläums, jedenfalls für König Friedrich Wilhelm III. unzweifelhaft im Vordergrund gestanden hat. So gab er sich im Unionsaufruf nicht zufällig der Hoffnung hin, dass sein diesbezügliches Beispiel „wohlthuend auf alle Protestantischen Gemeinden in Meinem Lande wirken, und eine allgemeine Nachfolge im Geiste und in der Wahrheit finden möge“ – verbunden mit der Erwartung, dass sich „die äußere übereinstimmende Form der Vereinigung“ „leicht“ durch „die weise Leitung der Konsistorien“ und den „frommen Eifer der Geistlichen und ihrer Synoden“ werde finden lassen.32 Als Hintergrund für diese – wie sich schon sehr kurze Zeit später erweisen sollte – völlig verfehlte Erwartung wird man die entsprechenden, dem preußischen König wie seinem Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert, der den Unionsaufruf formuliert hatte,33 Ende September 1817 präsenten Synodalbeschlüsse aus Nassau34 vom August und aus der Grafschaft Mark35 von Mitte September 1817 sehen müssen, die eine Vereinigung der beiden bisher getrennten Konfessionskirchen bei oberflächlicher Betrachtung als leicht zu bewirken erscheinen ließen. Hinter dieser Perspektive stand die allerdings zu dieser Zeit weit verbreitete theologische Fehleinschätzung, lutherische und reformierte Kirche seien „nur noch durch äußere Unterschiede“ getrennt.36 Mit Blick auf die Frage nach der identitätsstiftenden Rolle der Liturgie ist jedenfalls zu konstatieren, dass im Zuge des Unionsaufrufes seitens des Königs versäumt worden ist, diesbezüglich irgendetwas näher zu konkretisieren. Wie von selbst führte das dazu, dass hinsichtlich der Frage, wie denn in der gottesdienstlichen Praxis eine für die lutherische wie die reformierte Konfession gemeinsame Abendmahlsfeier zu gestalten sei, genauer: welches Merkmal im Vollzug der Feier mit welcher Begründung als charakteristisch „uniert“ gelte, keine Klarheit, geschweige denn Einmütigkeit entstand – und sich die Debatte darüber bis zur Feier des AugustanaJubiläums 1830 hinschleppte, aus dessen Anlass schließlich allein der Vollzug des Brechens des Brotes bzw. der Hostie bei der Austeilung als liturgisches Zeichen der 31 32 33

34 35 36

Faksimile des Entwurfs Eylerts in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 88–90. A.a.O., 89f. Zum Wirken Eylerts am Unionsaufruf vgl. Wilhelm Heinrich Neuser, Die Entstehung des Preußischen Unionsaufrufes vom 27. September 1817, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Preußische Union: Ursprünge, Wirkung und Ausgang. Einblicke in vier Jahrhunderte evangelischer Kirchen- und Konfessionsgeschichte (UnCo 27), Bielefeld 2011, 45–78, hier 67–72. A.a.O., 61–66. A.a.O., 66f. Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 88.

In der (alt)preußischen Landeskirche

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Annahme der Union dekretiert wurde.37 Das war ein nicht nur relativ unscheinbarer Vorgang, er konnte, zumal nonverbal vollzogen, als solcher auch kaum eine nachhaltig identitätsstiftende Wirkung entfalten. Da zudem im Unionsaufruf selbst besonders betont war, dass die Annahme der Union ganz und gar nicht aufgedrungen, geschweige denn dekretiert werden sollte,38 waren einem Streben nach Vereinheitlichung auf diesem Wege von vornherein engste Grenzen gesetzt. Das hat im Ergebnis mit dazu geführt, dass das Charakteristikum der preußischen Union eben darin besteht, dass sie (schon zeitgenössisch!) als eine „unio conservativa“39 bezeichnet worden ist – eine Vereinigung, die die jeweilige konfessionelle Prägung dennoch bewahrt – eine „Vereinigung, in welcher die reformirte nicht zur lutherischen [Kirche] und diese nicht zu jener übergeht“, sondern „beide eine neu belebte, evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden“40. 2.2

Neue Maßnahmen nach 1820

Allein unter dem letztgenannten Gesichtspunkt ist es dann auch zu begreifen, dass Friedrich Wilhelm III. – nachdem er die Zuversicht verloren hatte, dass es – der im Unionsaufruf ausgesprochenen Erwartung zuwider – doch nicht durch den Eifer der Geistlichen und ihrer Synoden und durch die weise Leitung der Konsistorien zu einer übereinstimmenden äußeren Form der Vereinigung kommen werde, selbst eine solche Form erarbeitet und vorgelegt hat.41 Dass Friedrich Wilhelm III. dabei für den Gang des Hauptgottesdienstes in vielem an die Form der Deutschen Messe als Grundstruktur angeknüpft hat (unter Einbeziehung weniger aus reformierter liturgischer Tradition herrührender Elemente), ist bekannt;42 dass er dennoch eine neue liturgische Form geschaffen hat, die sich hinsichtlich Struktur und Gestalt mit der Intention deckt, die im Unionsaufruf für eine „neu belebte, evangelisch-christliche Kirche“ beschrieben ist, bei der weder die reformierte zur lutherischen noch die lutherische zur reformierten Kirche übergeht,43 wird man bei näherem Zusehen kaum bestreiten können. Denn Friedrich Wilhelm III. hat für den in seinem Agendenentwurf vorgesehenen Gang des Hauptgottesdienstes 1. weder die zu seiner Zeit allgemein gängigen Gottesdienststrukturen aufgenommen, noch hat er

37 38 39

40 41 42 43

Näheres vgl. bei Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 146–149. Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 89. So [Johann Gottlob] Krafft/[Franz Friedrich] Gräber, Ueber die symbolischen Bücher der Evangelischen Kirche, mit Rücksicht auf die Vereinigung ihrer beiden Konfessionen, in: W[ilhelm] Aschenberg (Hg.), Für Kirche, Kirchenverfassung, Kultus, und Amtsführung. Eine Vierteljahrs-Schrift für Geistliche, 1,1 (1818), 1–17, hier 15. Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 88. Neuser, Agende (wie Anm. 22), 142–144. A.a.O., 143f. Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 88.

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2. die der lutherischen agendarischen Tradition entsprechende Form unverändert übernommen, noch hat er 3. die aus der reformierten agendarischen Tradition stammenden Strukturen und Formulare bruchlos aufgegriffen, noch hat er 4. eine völlig neue Gottesdienstform vorgelegt. Sondern er hat tatsächlich 1. bereits Vorhandenes partiell übernommen und dieses Vorhandene insofern „neu belebt“; er hat 2. dennoch eine bis dahin in dieser Weise nie zuvor vorhanden gewesene Struktur des Hauptgottesdienstes aus diesen beiden Wurzeln gezogen und insofern eine „evangelische“ (wenn man diesen technischen Terminus nicht scheut) (aus liturgiewissenschaftlicher Betrachtung heraus gewiss in vieler Hinsicht fragwürdige) „Konstruktion“ erstellt, und er hat 3. dem Ganzen dadurch eine den Protestantismus noch übergreifende und insofern (gesamt-)„christliche“ Dimension verliehen, indem er für die musikalische Gestaltung der liturgischen Stücke eine russisch-orthodox anmutende Komposition für eine Ausführung durch Männerchor vorsah.44 Wie überzeugt Friedrich Wilhelm III. von dieser Konzeption gewesen ist, lässt sich am deutlichsten daran ermessen, dass er sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln in den evangelischen Kirchen landesweit durchzusetzen versucht hat – in einem zähen, fast zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tod währenden Ringen, in dessen Verlauf er in der Summe nur zu geringen Zugeständnissen – die charakteristischerweise auch nicht als „Alternativen“, sondern als „Modificationen“ bezeichnet wurden – bereit gewesen ist.45 An einer Vielzahl von Indizien lässt sich dies unter Beweis stellen: 1. Wie selbstverständlich und ganz gegen die Tendenz der Zeit hat Friedrich Wilhelm III. stets auf einem wörtlichen Gebrauch der Formulare in seiner Agende bestanden.46 2. Die erste Ausgabe der von ihm erstellten Agende ist Weihnachten 1821 für den Militärgottesdienst erschienen.47 Eine sofortige und genaue Realisierung in diesem unter der direkten Befehlsgewalt des Königs stehenden Bereich stand damit außer Frage. Das Gleiche gilt kurze Zeit später für die für die Hof- und Domkirche in Berlin erschienene Ausgabe.48 3. Bei der Vorlage der Agende in der Pfarrerschaft zielte der König auf eine bloße Erklärung über deren Annahme oder Ablehnung ab – und damit auf eine Ent44 45

46 47 48

A.a.O., 44. Vgl. dazu Jürgen Kampmann, Die Alternativen in den unierten preußischen Agenden: Vom Unionsaufruf 1817 bis zum Vorentwurf der Erneuerten Agende 1990, in: Jörg Neijenhuis/Wolfgang Ratzmann, Der Gottesdienst zwischen Abbildern und Leitbildern (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 5), Leipzig 2000, 94–115, hier 99f. Vgl. dazu Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 224, 266f. Kirchen-Agende für die Königlich Preußische Armee. Weihnachten 1821, Berlin 1821. Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, 1. Aufl., Berlin 1822; 2. Aufl., Berlin 1822.

In der (alt)preußischen Landeskirche

4.

5.

6.

7.

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scheidung über Realisierung oder Nichtrealisierung. An einer Diskussion seines Entwurfes in den Details hatte er kein Interesse – insbesondere, nachdem er 1824 einige „Modificationen“ zugestanden hatte, die den flächendeckenden Gebrauch der Formulare in den evangelischen Kirchen baldmöglichst erlauben sollte – so die Genehmigung des sogenannten „Auszugs aus der Liturgie“, die deren Realisierung erlaubte, auch wenn (noch) kein Männer- oder Schülerchor am Ort vorhanden war.49 Einerseits durch Lockmittel – wie durch die Ausgabe von Prachtexemplaren der neuen Agende, durch die Bewilligung von Zulagen zu spärlichen Pfarrgehältern und die Verleihung von Orden und Auszeichnungen –, andererseits durch Ausübung von indirektem Zwang – wie etwa durch die Koppelung der Vergabe von Pfarrstellen königlichen Patronats an die Verpflichtung, die neue agendarische Ordnung einzuführen, durch eine willkürliche Reklamation des ius liturgicum als allein summepiskopales Recht und durch die Auflage, bei Nichtannahme der neuen Agende alte, im jeweiligen Territorium landesherrlich im 16. oder 17. Jahrhundert eingeführte Ordnungen wörtlich zu befolgen – sorgte er dafür, dass die von ihm entworfene Ordnung tatsächlich nach nur wenigen Jahren in der großen Mehrzahl der evangelischen Gemeinden in Preußen nicht nur pro forma, sondern de facto im kirchlichen Alltag genutzt wurde.50 Noch weiterhin vorhandene Widerstände gegen sein Agendenwerk vermochte der König durch Zugeständnisse sogenannter „provinzialer Anhänge“ zu überwinden, in die weitere Formulare und insbesondere Gebetstexte aufgenommen wurden, deren Nutzung man in den jeweiligen Provinzen Preußens dringend wünschte.51 Die Gesamtkonzeption der Agende, insbesondere deren landesweite Geltung beanspruchender Hauptteil, wurde durch die Provinzialanhänge aber nicht angetastet. Sich offen präsentierendem Widerstand gegen seine Konzeption trat er mit absolutistisch-monarchischer Strenge entgegen: mit dem Instrument der Zensur, dem des Aufkaufs ganzer Auflagen von kritischer Literatur, um diese aus dem Buchhandel zu verdrängen,52 mit strenger Missbilligung und Androhen königlicher Ungnade, wie er sie etwa 1829 nach der Veröffentlichung eines alternativen Agendenentwurfes53 gegenüber der Gesamtsynode der Grafschaft Mark zum Ausdruck brachte.54 In diese Linie hinein gehört schließlich auch das – zuvor auch zeitgenössisch schon für ganz undenkbar gehaltene – Agieren in der Auseinandersetzung um

Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 168f., 224. A.a.O., 247–265; vgl. auch Neuser, Agende (wie Anm. 22), 157. A.a.O., 157f. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 361. [Wilhelm] Bäumer/[August Ernst] Rauschenbusch/[Carl Heinrich Engelbert] von Oven, Entwurf einer Agende für den Synodalbereich der Grafschaft Mark. Im Auftrag der Synode, Essen 1829. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 417f.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

die Agendenfrage in Schlesien bis hin zum Einsatz von Militär in der Gemeinde Hönigern am 23. Dezember 1834, um den Widerstand der dort lebenden Gemeindeglieder gegen die Nutzung der Agende in ihrer Kirche zu brechen.55 Wie unnachgiebig Friedrich Wilhelm III. die Durchsetzung „seiner“ agendarischen Ordnung betrieb, belegen schließlich Anweisungen wie jene aus dem Jahr 1830, die Generalsuperintendenten und Superintendenten verpflichtete, „bei eigener Verantwortlichkeit“ darauf zu halten, dass „durchaus keine Abweichungen von den […] Bestimmungen“ einträten,56 oder seine testamentarische Verfügung, dass dem Berliner Magistrat bei dessen fortdauernder Widersetzlichkeit gegen die Einführung der Agende kein Platz im Trauerzug zu seiner Bestattung angewiesen werden sollte.57 Unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung für die kirchliche Identitätsbildung ist diese so starre, keiner Argumentation zugänglich erscheinende Haltung des Königs aber als in ihrer Wirkung an Nachhaltigkeit kaum zu übertreffend anzusehen. Denn sie setzte (von wenigen Ausnahmen abgesehen) einen umfassenden landesweiten Standard und auch eine Standardwahrnehmung von evangelischem Gottesdienst durch – schon optisch durch eine standardmäßige Ausrüstung des Altars mit Kruzifix und Kerzen58 sowie durch einheitliche gottesdienstliche Kleidung der Amtsträger, strukturell durch einen landesweit wortgleichen liturgischen Vollzug von Ordinarium und Proprium, akustisch durch eine sonst im Alltag zuvor nirgends im ganzen Land begegnende, aber nach einer Zeit der Gewöhnung offenbar doch in der Breite der Bevölkerung akzeptierte und dann als charakteristisch empfundene musikalische Ausgestaltung der liturgischen Stücke,59 schließlich auch durch eine durch den vorgeschriebenen liturgischen Vollzug regelmäßig explizit werdende Rückbindung an die altkirchlichen Bekenntnisse, insbesondere an das Apostolikum.60 Letztere im sonn- und festtäglichen Gottesdienst fest verankert zu haben, dürfte in der breiten öffentlichen Wahrnehmung viel prägender und wirkmächtiger gewesen sein als alle in Theologie und Pfarrerschaft geführten Debatten über das 55 56

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Wolfgang Nixdorf, Die lutherische Separation. Union und Bekenntnis (1834), in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 220–240, hier 223–236; zu Hönigern 232f. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 454. – Auch in seinem Testament hatte der König ausdrücklich für seine Nachfolger angeordnet, dass sie „die von mir eingeführte erneuerte Agende […] in ihren Schutz nehmen und auf ihre unabänderliche Beibehaltung wachen“; vgl. Ernst Heymann, Das Testament König Friedrich Wilhelm III. Sonderabdruck. SPAW.PH 1925,XV, 127–166, hier 156. Vgl. a.a.O., 159. Vgl. dazu Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 3), 80; vgl. Kirchen-Agende Armee 1821 (wie Anm. 47), VIII; Kirchen-Agende 1822 (wie Anm. 48), 25. Vgl. zu den Grundtendenzen der liturgischen Entwicklung im 19. Jahrhundert generell Rainer Volp, Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern, Bd. 2: Theorien und Gestaltung, Gütersloh 1994, 866– 869; vgl. Kampmann, Die Alternativen (wie Anm. 45), 101. Vgl. Kirchen-Agende Armee 1821 (wie Anm. 47), 14; Kirchen-Agende 1822 (wie Anm. 48), 13f.; vgl. ebenso Agende für die Evangelische Landeskirche. 1. Teil. Die Gemeindegottesdienste, Berlin 1895, 5.

In der (alt)preußischen Landeskirche

169

Recht und die Art und Weise einer Bekenntnisbindung der Ordinanden bzw. Ordinierten generell und auf bestimmte, explizit genannte Bekenntnisse speziell.61

3.

Zögerliche Korrekturen nach dem Tod Friedrich Wilhelm III.

Unter der Regierung Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) trat in der praktischen Handhabung der preußischen Agende über mehr als anderthalb Jahrzehnte kein grundlegender Wandel ein.62 Erst 1857 kam es zu einer offiziellen Korrektur durch Gestattung lutherischer bzw. reformierter Spendeformeln bei der Austeilung des Abendmahls.63 Das spiegelt den inzwischen erreichten Stand in der Diskussion über den Charakter der preußischen Union wider,64 wie er seinen Niederschlag in den seit 1855 in Geltung stehenden Bekenntnisparagraphen zur Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 183565 gefunden hatte – in denen explizit formuliert war, dass und welche verschiedenen Bekenntnisstände von Kirchengemeinden Existenzrecht in der einen Landeskirche hatten.66 Friedrich Wilhelm III. hatte in seiner Agende darauf selbst in Sachen der Spendeformel bei der Austeilung des Abendmahls keine Rücksicht genommen, sondern dafür eine Mischform – lutherischen Stils durch Sprechen der Einsetzungsworte, allerdings in referierender Form – vorgesehen.67 Nun wurden daneben auch die genuin konfessionell lutherische wie auch die reformierte Spendeformel zur Nutzung freigegeben.68 In den folgenden Jahrzehnten verstummte das Verlangen nach Genehmigung von Gottesdiensten in herkömmlich lutherischer Messgottesdiensttradition bzw. herkömmlich reformierter Predigtgottesdienstform nicht; es kam aber nur auf Ebene einzelner Provinzen zur Veröffentlichung ergänzender Formulare.69 61

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Zur dem mit der Frage der Agendenreform unmittelbar verknüpften Apostolikumstreit in den 1890er Jahren vgl. Hanna Kasparick, Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der Preußischen Agende. 1892–1895 (UnCo 19), Bielefeld 1996. Kampmann, Die Alternativen (wie Anm. 45), 102. A.a.O., 102 (mit Anm. 48). Wilhelm H. Neuser, Landeskirchliche Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen. Die Provinzialsynoden und die Berliner Generalsynode von 1846, in: Goeters/Mau, Die Geschichte der EKU 1 (wie Anm. 22), 342–366, hier besonders 350–361; Wilhelm H. Neuser, Union und Konfession, in: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918), Leipzig 1994, 29–42. Bekenntnisparagraphen abgedruckt in: Gerhard Thümmel/Erich Dalhoff/Walther Löhr (Hg.), Evangelisches Kirchenrecht in Rheinland und Westfalen. Sammlung kirchenrechtlicher Gesetze, Bd. 1: Kirchenordnung und andere Grundgesetze, bearb. v. Gerhard Thümmel, Bielefeld 1950, 12. Vgl. ebd., § II. Vgl. Kirchen-Agende 1822 (wie Anm. 48), 23. Hanna Kasparick, Apostolikumstreit und Agendenreform, in: Rogge/Ruhbach, Die Geschichte der EKU 2 (wie Anm. 64), 325 Anm. 10. Kampmann, Die Alternativen (wie Anm. 45), 102f., Anm. 48.

170

4.

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Die Revision der preußischen Agende von 1895

Erst 1880 beschloss die preußische Generalsynode eine generelle Revision des Agendenwerks Friedrich Wilhelm III. – von vornherein mit der Zielsetzung, dass auch die revidierte Agende „Ausdruck der Einheit der Landeskirche“ bleiben solle.70 Die Verhandlungen über die Revision zogen sich dann mehr als ein Dutzend Jahre hin, bis 1893 ein Entwurf zur Diskussion gestellt werden konnte, der nach Überarbeitung in den beiden folgenden Jahren von der Generalsynode 1895 einstimmig angenommen wurde.71 Die Agende von 189572 galt – da sich auch ihre Einführung in den Gemeinden problemlos gestaltete – einerseits als Meisterstück kirchenpolitischen Ausgleichs, wurde aber gerade auch deswegen kritisch beurteilt, weil sie die tatsächlich vorhandenen theologischen Gegensätze nur überdecke.73 Insbesondere trug die Agende von 1895 jedenfalls dem Anliegen der Profilierung der lutherischen wie der reformierten Tradition in der Unionskirche dadurch Rechnung, dass nunmehr einer „Ersten Form“ (die im Wesentlichen der Struktur des Messgottesdienstes folgte) eine sogenannte „Andere Form“ zur Seite gestellt wurde, die der bei den Reformierten herkömmlichen Struktur des Predigtgottesdienstes folgte.74 An die Stelle des massiv unionistischen Zugs des Agendenwerks Friedrich Wilhelm III. wurde damit nach einem dreiviertel Jahrhundert eine agendarische Ordnung gesetzt, die dem Freiwilligkeitscharakter des Unionsaufrufes von 1817 wie auch den konfessionellen Zusicherungen in den 1855 formulierten Bekenntnisparagraphen deutlich gerechter wurde. Sie bot aber auch – nach dem während der Beratungen über die Revision der Agende geführten Apostolikumstreit75 – für liberal Denkende durch das Einräumen alternativer Formulierungsmöglichkeiten oder durch den möglichen Ersatz des Credo durch ein Glaubenslied Möglichkeiten, als umstritten geltende Bekenntnisaussagen zu umgehen.76 Nahezu ungebrochen fortgeführt wurde indes die durch das Agendenwerk Friedrich Wilhelm III. geprägte Weise des liturgischen Singens durch Beibehaltung der einschlägigen Kompositionen Dimitri Bortnianskis.77 Auch deshalb wurde die Einführung der Agende von 1895 in den Gemeinden trotz der größeren Variabilität offenkundig nicht als ein Bruch erlebt.

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Kasparick, Apostolkumstreit und Agendenreform (wie Anm. 68), 326. A.a.O., 329f. Vgl. Agende Landeskirche 1, 1895 (wie Anm. 60), 1; vgl. auch Agende für die Evangelische Landeskirche. 2. Teil. Kirchliche Handlungen, Berlin 1895. Kasparick, Apostolkumstreit und Agendenreform (wie Anm. 68), 330f. Kampmann, Die Alternativen (wie Anm. 45), 104. Vgl. dazu detailliert Kasparick, Lehrgesetz (wie Amm. 61). Agende Landeskirche 1, 1895 (wie Anm. 60), 5, mit Anm. *, sowie a.a.O., 184. Zum Wirken Bortnianskis vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Bortnjansky, Dimitri Stepanowitsch, in: BBKL 1 (1990), 709.

In der (alt)preußischen Landeskirche

5.

171

Einsichten aus dem Ringen um die agendarische Ordnung in Preußen im 19. Jahrhundert

Das Wirken Friedrich Wilhelm III. in der Agendenfrage hatte für das 19. Jahrhundert eine weitgehende, auf der Ebene der Kirchengemeinden weithin zur nicht mehr hinterfragten Selbstverständlichkeit werdende Vereinheitlichung in der liturgischen Praxis zur Folge und eine tief verankerte, identitätsstiftende Wirkung – die sich (nicht zuletzt am Beispiel der nach 1945 Vertriebenen) bis mindestens zur Agendenreform der 1960er Jahre78 aufweisen lässt – und deren Spur sich gar bis zur Gegenwart in die deutschsprachigen evangelischen Gemeinden Brasiliens,79 aber auch die hohenzollerische evangelische Diaspora in Württemberg hineinzieht.80 Der zunächst bewusst unterdrückten Ausformulierung konfessionell lutherischer wie reformierter Überzeugungen ist spätestens seit der Agendenrevision von 1895 wieder eine Ausdrucksmöglichkeit verliehen worden – die dem Charakter der preußischen Union entsprach, einem Nebeneinander lutherischen, reformierten und (allerdings nicht näher definierten) unierten Bekenntnisses in der einen Landeskirche Raum und Recht zu verleihen. Gestellt werden darf im hier interessierenden Kontext die Frage, ob es zur altlutherischen Verselbstständigung nach 1830 hätte kommen müssen, wenn es zu dieser Zeit schon die Möglichkeit zur Nutzung der Agende von 1895 gegeben hätte. Ebenso berechtigt ist die gegenläufige Frage, ob sich je eine Entwicklung hin zu dem 1855 durch die Bekenntnisparagraphen dogmatisch-juristisch markierten und 1895 durch die Revision der Agende praktisch realisierten Raum zur konfessionellen Prägung des gottesdienstlichen Lebens in Preußen eingestellt hätte, wäre es nicht in den 1830er und 1840er Jahren zu den Auseinandersetzungen um die Preußische Agende und insbesondere um die verwehrte Möglichkeit zur Wahrung des konfessionellen Bekenntnisses in Schlesien (und darüber hinaus) gekommen. Die weitere Entwicklung, besonders des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts, lässt indes viel klarer noch als die Agendengeschichte des 19. Jahrhunderts hervortreten, dass der Bereitschaft und dem Wollen, sich bekenntnisbestimmt in den Dienst Gottes nehmen zu lassen und dieser Bekenntnisbestimmtheit auch Vorrang einzuräumen vor der je eigenen theologischen Einsicht derer, die zur Leitung des Gottesdienstes bestellt sind, die zentrale Bedeutung zukommt, um das Evangelium rein zu lehren und die Sakramente der Einsetzung gemäß zu verwalten.81 Durch kirchliche Ordnungen generell wie durch 78 79

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Vgl. dazu Kampmann, Die Alternativen (wie Anm. 45), 105–108. Vgl. z. B. eine Videoaufnahme eines deutschsprachigen evangelischen Gottesdienstes in Sao Paulo vom 15.12.2010: Alisson Tadeu, Evangelische Kirche in São Paulo – Gesang 311 und Ehre sei dem Vater …, http://www.youtube.com/watch?v=AY8Iatuz0ss [Stand: 10.02.2013]. Vgl. dazu Jürgen Kampmann, Die Zukunft des württembergischen Predigtgottesdienstes, in: HansJoachim Eckstein/Ulrich Heckel/Birgit Weyel (Hg.), Kompendium Gottesdienst. Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart (UTB 3630), Tübingen 2011, 124–144. Vgl. CA VII, BSLK, 61.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

agendarische Ordnungen speziell lässt sich dies bestenfalls äußerlich absichern – denn auch das Bewahren des Bekenntnisses ist kein Menschenwerk im Sinne eines menschlichen Vermögens dazu, sondern ein Werk des Heiligen Geistes – also: Gottes Werk, „qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in iis, qui audiunt evangelium“82. Viel dringlicher, als die (letztlich mit Synergismus liebäugelnde) Frage danach zu stellen, was wir zum Wahren des Bekenntnisses tun könnten, ist es, uns allererst die Frage gefallen zu lassen, wo und wann wir (aufgrund der Grenzen unserer Einsicht, unseres Könnens und auch unseres Wollens) dem Einheit des Glaubens wirkenden Werk Gottes im Wege stehen. Auch in Sachen kirchlicher Einheit ist das erste Bekenntnis das der Buße.83

Summary In 1821 King Friedrich Wilhelm III of Prussia edited a liturgical form for the main services within his agenda for the services in the army and the dome at Berlin. In most parts of the Prussian Evangelical Church this work was first regarded with a lot of criticism, but on the long term the services in most of the parishes were intensely marked by it. One reason for this considerable influence of the agenda was its literal use; also, the characteristic structure of the service and especially the liturgical singing in Russian-orthodox way by (male) choirs at last created a special sense of identity. The next reform of the agenda in the Prussian Evangelical Church in 1895 did not change these specific in a fundamental way. Moreover, King Friedrich Wilhelm III allowed some modifications of the orders of liturgy. Thus, the parishes could preserve their confessional Calvinistic particularities. Hereby, the acceptance of the Prussian Agenda increased – with the consequence that in some parishes the Prussian liturgy has been in use up to the present and contributed considerably to their identity.

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CA V, BSLK, 58. Vgl. Kurt Aland, Die 95 Thesen Martin Luthers und die Anfänge der Reformation (GTB 1406), Gütersloh 1983, 58, 60: These 1: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4, 17), wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein sollte.“

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität Entwicklung und Gebrauch der Agenden im 20. Jahrhundert Helmut Schwier

Identität und Agende

1

Ende des 20. Jahrhunderts, zum 1. Advent 1999, wurde das Evangelische Gottesdienstbuch (EGB) eingeführt. Damit hatten die Kirchen der EKU und der VELKD zum ersten Mal eine gemeinsame Agende für die Sonntagsgottesdienste.2 Begonnen wurde das Projekt in den 1980er Jahren und zielte nicht nur auf eine lutherisch wie uniert verwendbare Agende, sondern, was in Kooperation, Abstimmung und konkreter Arbeit viel komplexer war, auf eine Ost- wie Westdeutschland verbindende Agende. Der überlange Verweis auf die herausgebenden Kirchen des 1990 erschienenen Vorentwurfs der Erneuerten Agende, der Grundlage für die Stellungnahmen war, lässt diese Genese noch durchblicken, denn dort werden noch EKU, Ost und West sowie VELKD und VELK der DDR aufgeführt.3 Diese zweifache Doppelung (uniert-lutherisch, Ost-West) gehört zu den Entstehungsbedingungen des Evangelischen Gottesdienstbuchs und prägt dessen integrative Konzeption. Diese sei zunächst aufgezeigt, bevor die Funktion der Vorgängeragende skizziert wird und sich dann ein Ausblick auf die gegenwärtige Situation anschließt.

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Dieser Aufsatz untersucht in erster Linie die Entwicklung evangelisch-unierter Agenden im 20. Jahrhundert. Herausgeber und Verlag danken dem Autor, dass er zusätzlich Aspekte der Entwicklung lutherischer Agenden sowohl in der VELKD als auch in der SELK aufgenommen hat. Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung der VELKD und i. A. des Rates von der Kirchenkanzlei der EKU, Berlin u. a. 1999. Vgl. zum Ganzen Helmut Schwier, Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung und Konzeption des „Evangelischen Gottesdienstbuches“ (Leit. NF 3), Hannover 2000.

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1.

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Die integrative Konzeption des Evangelischen Gottesdienstbuchs

Das EGB ist eine Agende neuen Typs: Es ist nicht mehr eine Leseagende, sondern Agende und Werkbuch in einem.4 Was heißt das? Das EGB bietet nicht nur Gottesdienstordnungen und Textangebote, sondern es erfordert durch die Konzeption von Grundstruktur und Ausformungsvarianten, dass jeder Gottesdienst bewusst und kompetent gestaltet wird. Aus welchen dogmatischen, praktisch-theologischen, kulturwissenschaftlichen oder ritualtheoretischen Blickwinkeln Gottesdienst auch immer beschrieben werden kann,5 so gilt unhintergehbar: Die Gottesdienstfeier ist eine konkrete Gestaltungsaufgabe. Diese Aufgabe soll mit den sieben „maßgeblichen Kriterien“ geleitet und durch die zahlreichen liturgiedidaktischen Hinweise, die zu den „Grundformen“ und den einzelnen liturgischen Stücken gehören, eröffnet und ermöglicht werden. Damit sind die Schätze des EGB bereits knapp benannt. Sicher sind sie unterschiedlich wertvoll und überzeugend. Viele kritisieren die Gebetssprache – nicht zu Unrecht an manchen Stellen –, jedoch bieten die je drei Tagesgebete zu den Sonnund Feiertagen und die etwa 12 Abendmahlsgebete eine sprachlich und theologisch überzeugende Sammlung öffentlicher Gebete, ohne dass hier über die durchaus heftigen Kontroversen um die Abendmahlsgebete hinaus spirituell etwas gewagt würde.6 Andere halten die liturgiedidaktischen Hinweise für zu oberflächlich und zu rubrikenbezogen – auch dies ist nicht unzutreffend, zumindest vom Gesichtspunkt eines umfassenden Bildungsverständnisses; jedoch ist hier auch zu beachten, dass die genannten Hinweise Grundwissen enthalten, und zwar insgesamt mehr als in vorhergehenden Agenden. Mit den liturgischen Texten und den liturgiedidaktischen Hinweisen konnte in Studium, Aus- und Fortbildung konstruktiv weitergearbeitet werden. Sie stehen oft am Beginn eines liturgischen Bildungsweges. Zum Wertvollsten des EGB gehören die sieben Kriterien. Sie haben sich während der Arbeit am EGB herausgebildet und sind durch den mehrjährigen Stellung-

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Vgl. auch ders., Das Evangelische Gottesdienstbuch zwischen liturgischer Tradition und Innovation, in: Erneuerte Agenden – Das Evangelische Gottesdienstbuch im Licht ökumenischer Gottesdienstreform. Symposium zu Ehren von Hans Krech (TVELKD 153), Hannover 2010, 15–24. Vgl. ders., Liturgische Praxis und Theorie vor der Qualitätsfrage, in: Michael Meyer-Blanck/Klaus Raschzok/Helmut Schwier (Hg. i. A. der Liturgischen Konferenz), Gottesdienst feiern. Zur Zukunft der Agendenarbeit in den evangelischen Kirchen, Gütersloh 2009, 170–179. Ursula Roth plädiert mit Blick auf das Evangelische Gottesdienstbuch zu Recht für eine Erweiterung der Pluralität agendarischer Gebete, um dadurch auch der Pluralität der Frömmigkeitskulturen gerecht zu werden – vgl. dazu dies., „Gott …“. Zur Prägnanz der Gottesanrede in der Liturgie, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie. 11.–15. September 2011 in Zürich (VWGTh 38), Leipzig 2013, 822–834, hier 833f.; zur Fehlform der „Homiletisierung des Gebets“ sowie zur Poetizität, Biblizität und Theologizität von Gebeten vgl. Alexander Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik (APThLH 68), Göttingen 2012, 514–530.

Identität und Agende

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nahmeprozess in den Kirchen ergänzt und bestätigt worden.7 In ihnen wird die theoretische Basis des EGB praxisnah formuliert. Das 1. Kriterium benennt die reformatorische Grundeinsicht in die Beteiligung und Verantwortung der Gemeinde für den Gottesdienst, das 2. Kriterium die liturgische Konzeption des EGB (Grundstruktur und Gestaltungsvarianten); die weiteren Kriterien berücksichtigen die Herausforderungen traditioneller und gegenwärtiger Texte (3. Kriterium) und der Suche nach einer nicht-ausschließenden Sprache (5. Kriterium) ebenso wie die Verbundenheit mit der Spiritualität der Ökumene (4. Kriterium), der Ganzheitlichkeit liturgischen Handelns und Verhaltens (6. Kriterium) und die bleibende Verbundenheit mit Israel (7. Kriterium):8 1. Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert. […] 2. Der Gottesdienst folgt einer erkennbaren, stabilen Grundstruktur, die vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten offen hält. […] 3. Bewährte Texte aus der Tradition und neue Texte aus dem Gemeindeleben der Gegenwart erhalten den gleichen Stellenwert. […] 4. Der evangelische Gottesdienst steht in einem lebendigen Zusammenhang mit den Gottesdiensten der anderen Kirchen in der Ökumene. […] 5. Die Sprache darf niemanden ausgrenzen; vielmehr soll in ihr die Gemeinschaft von Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern sowie von unterschiedlichen Gruppierungen in der Kirche ihren angemessenen Ausdruck finden. […] 6. Liturgisches Handeln und Verhalten bezieht den ganzen Menschen ein; es äußert sich auch leibhaft und sinnlich. […] 7. Die Christenheit ist bleibend mit Israel als dem erstberufenen Gottesvolk verbunden. […] Das EGB plausibilisiert durch die beiden Grundformen die heute wirksamen und im Gebrauch befindlichen Profile evangelisch-reformatorischer Gottesdienstordnungen. Durch die Einbeziehung der Abendmahlsfeier in Grundform II wird der historisch auf den Pronaus zurückgehende Wortgottesdienst um die Mahlfeier mit elementarer Liturgie erweitert. Durch die Abendmahlsgebete in Grundform I wurde aus dem Torso der biblischen Stücke (Einsetzungsworte, Vaterunser) samt weniger Beigaben (Präfation, Agnus Dei) ein gestalteter Zusammenhang, der zudem ökumenische Offenheit und Lernbereitschaft signalisierte; dabei bleibt praktisch zu beachten, dass die Gebete der Liturgen nicht allein durch ihre Länge das Mitfeiern beeinträchtigen, und dogmatisch ist deutlich, dass das Abendmahl als Mahl des Herrn und nicht der Kirche zu feiern ist; letzteres heißt aber gerade nicht, wie man-

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Vgl. Schwier, Die Erneuerung (wie Anm. 3), 386–408. Vgl. EGB, 15–17; die einzelnen Kriterien werden dort jeweils noch näher erläutert. Zur Prägekraft der Kriterien innerhalb des EGB vgl. Schwier, Die Erneuerung (wie Anm. 3), 470–494.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

che polemisierten, dass das Abendmahl ohne Gebet und nur mit verkündigenden Promissio-Teilen gestaltet werden dürfte.9 Durch die Abendmahlsformen und -liturgien des EGB gewinnen vielmehr Profilbildung und behutsame Erweiterung evangelischer Traditionen in den Grundformen Gestalt, wird die Abendmahlskultur auch in sakramentsarmen Gemeinden erweitert und den Aufbrüchen der Abendmahlsfrömmigkeit Form und Stil gegeben. Dies ist ein wesentlicher Bereich für die Zielrichtung und die Konzeption des EGB. Denn seine theologische und auch liturgiepolitische Zielrichtung heißt „Integration und Horizonterweiterung“: Integration lutherischer, reformierter und unierter Traditionen, Integration traditioneller Liturgien und der Gottesdienste in neuer Gestalt, Horizonterweiterung im Blick auf ökumenische, israelbezogene und feministische Liturgien und Spiritualitäten. Ist dies gelungen? Die Integration zwischen den verschiedenen Ausformungen der traditionskontinuierlichen Gottesdienste ist weitgehend gelungen; sie ist eher nicht gelungen bei dem Versuch, sogenannte alternative Gottesdienste durch das Strukturmodell zu verstehen, zu gestalten und zu bewerten, was auch dazu führte, dass Hinweise auf alternative Gottesdienste nur im Ergänzungsband zum EGB 10 aufgenommen wurden; die Horizonterweiterung ist gelungen bei den Abendmahlsliturgien, während andere Erweiterungen in Stil, Medien, Rollen, Feiergestalt eher in den alternativen Gottesdiensten ausgelotet und ausprobiert werden.11 Die Frage nach der Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität findet im EGB also folgende erste Antwort: Die evangelische Identität des Gottesdienstbuchs ist durch Integration, Horizonterweiterung und Pluralität zu kennzeichnen. Diese erste Antwort ist aber nicht die einzige Antwort. Unter dem Stichwort der Beheimatung der Gemeinde wurde im Zuge des jahrelangen Entstehungsprozesses des EGB zu Recht kritisiert, dass das Strukturmodell allein nicht ausreiche, Beheimatung im Gottesdienst zu erreichen. Am Ende gab es zwei Ergebnisse: die Bedeutung der geprägten Texte (Einsetzungsworte, Vaterunser, Segen) wurde hervorgehoben – verbunden mit der Mahnung, hier nicht leichtfertig zu variieren; des Weiteren wurden zwei bisherige, in Tabellen versteckte Varianten – nämlich einmal die als uniert empfundene Eingangsliturgie mit der Verbindung Sündenbekenntnis–Kyrie und Gnadenzusage–Gloria und zum anderen die lutherische Abendmahlsvariante des Vaterunsers vor den Einsetzungsworten – aus dem befürchteten 12 Schattendasein geholt und im EGB als ausgeführte Liturgieformen berücksichtigt. 9

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Vgl. dazu a.a.O., 355–361; Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt (TB 97), Gütersloh 2001, 24–28; Hans-Christoph SchmidtLauber, Die Eucharistie, in: ders./Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bieritz (Hg.), Handbuch 3 der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 2003, 207–246, hier 243f.; Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, 101f. Vgl. Schwier, Die Erneuerung (wie Anm. 3), 448–470.494–501. Vgl. dazu Jochen Arnold (hg. i. A. der Liturgischen Konferenz), Andere Gottesdienste. Erkundungen und Reflexionen zu alternativen Liturgien, Gütersloh 2012. Vgl. EGB, 62f.68–70.121–129.

Identität und Agende

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Es ist hier nicht zu diskutieren, ob die – von Karl Barth bekanntlich als „Dramolett“ verspottete oder von anderen als „Psychologisierung“ bezeichnete – Eingangsliturgie überzeugend ist oder nicht. Das steht auf einem anderen Blatt.13 Das Augenmerk soll vielmehr auf die durch diese synodal durchgesetzten und verabschiedeten Änderungen erfolgte veränderte Gestalt des EGB liegen. Das Integrationsanliegen der Agendenmacher zeigt sich in den Grundformen und den pluralen Textangeboten, die konsistorialen und synodalen Erwartungen richteten sich häufig auf die ausgeführten Liturgien. Diese Liturgien gewinnen aber auch durch die beiden genannten Änderungen einen anderen Stellenwert: Sie sind nicht mehr bloße Beispiele von Variationen der Grundformen, sondern vorbildliche Liturgien; man kann zwar noch Varianten wählen, aber eigentlich nur im Spielraum von Liturgie I (mit und ohne Noten) oder Liturgie II (einfacher Predigtgottesdienst). Auch dies ist ein Beispiel für liturgische Zweigleisigkeit. Um im Bild zu bleiben: Das Gleis von Liturgie I erhält durch die beiden genannten Ergänzungen zwei Nebengleise (1. und 2. Form), die konfessionell, also als unierte bzw. lutherische Besonderheit, begründet werden. Hier wird kirchliche Identität als gemeindliche Gewohnheit verstanden, auf die es nicht zuletzt aus Gründen der Beheimatung Rücksicht zu nehmen gelte. In der Konsequenz wird dann aber aus dem Integrationsanliegen des EGB – gesteuert mit Grundstruktur und Varianten – eine Rezeption der Gottesdienstformen, die eine Gemeinde vor Ort schon immer praktizierte. Hier werden Identitätsanliegen unter dem Stichwort „Beheimatung der Gemeinde“ erkennbar und wirksam, und damit lautet die zweite Antwort: In der Rezeption des EGB setzt sich Identität auch als Bewahrung der Traditionskontinuität von Gottesdienstordnungen durch. Wie sieht es mit dem Gebrauch dieser Agende aus? Beauftragt durch die Liturgische Konferenz hat eine kleine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Claudia Schulz, theologisch und liturgiewissenschaftlich unter anderem beraten durch Michael Meyer-Blanck, Klaus Raschzok und den Verfasser, zehn Jahre nach Einfüh14 rung des EGB deren Rezeptionen empirisch untersucht. Daher sind wir hier nicht auf Vermutungen angewiesen, sondern haben einige verlässliche Ergebnisse. Befragt wurden über 2100 Pfarrerinnen und Pfarrer aus neun Landeskirchen, lutherischen wie unierten. Im Blick auf die Benutzung des EGB gaben 83% an, die Agende zu benutzen oder benutzt zu haben; dies ist ein so hoher Wert, den niemand von uns in der Begleitgruppe erwartet hatte. Hinsichtlich der Nutzungsbereiche gab es folgende Differenzierungen (Mehrfachnennungen möglich): 72% nutzen sie als Fundgrube für Texte, 68% als liturgisches Nachschlagewerk, 53% als Basis der 13

14

Vgl. Michael Meyer-Blanck, Liturgische Rollen, in: Schmidt-Lauber/Meyer-Blanck/Bieritz, Handbuch der Liturgik (wie Anm. 9), 778–786, hier 781; Helmut Schwier, Art. Sündenbekenntnis, in: 4 RGG 7 (2004), 1901f. Vgl. insgesamt Claudia Schulz/Michael Meyer-Blanck/Tabea Spieß (Hg. i. A. der Liturgischen Konferenz), Gottesdienstgestaltung in der EKD. Ergebnisse einer Rezeptionsstudie zum „Evangelischen Gottesdienstbuch“ von 1999, Gütersloh 2011.

178

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

liturgischen Ausgestaltung des Abendmahls, 52% als Anregung für eigene Textarbeit, 44% als „Altaragende“, 30% als Arbeitshilfe für die Liturgiereform in der Gemeinde, 21% für die Gottesdienstvorbereitung in Gruppen, 11% als Argumentationshilfe. Deutlich wurde auch, dass die Agende nach wie vor zur Gottesdienstvorbereitung genutzt wird: 41% geben an, dass sie das „oft oder sehr oft“ tun. Die Gruppe, die es früher (z. B. kurz nach der Einführung) häufiger als derzeit nutzt, ist entgegen unserer Vorannahmen sehr gering (12%); also: die Agende wird kontinuierlich benutzt. Das heißt zunächst einmal, dass das EGB von den Nutzern insgesamt „gute Noten“ erhält, „und zwar sowohl als liturgisches Hilfsmittel im Sinne einer Anleitung oder einer Hilfestellung zu eigenem Gestalten als auch als Fundgrube für Texte und 15 Anregungen zu eigener Weiterarbeit“ . Zur quantitativen Erhebung gehörte natürlich auch eine Typenbildung, in der die Haltungen zu Fragen der Liturgie und der Predigt systematisiert werden, die aber auch „Aufschluss über die Motive der Nutzung des Gottesdienstbuchs und seine Beurteilung bietet“16. Dabei konnten – ausgerichtet an den Dimensionen Lebensweltorientierung, Liturgietraditionsorientierung, Predigtorientierung, Beteiligungsorientierung – fünf Idealtypen gebildet werden: die Lebensweltorientierten, die traditionsbezogenen Liturgen und Prediger, die liturgiedistanzierten Prediger, die Liturgiegestalter und die Pragmatiker.17 Unter diesen Idealtypen wird das EGB von den traditionsbezogenen und den gestaltenden Liturgen häufig benutzt; von ersteren vor allem als Altaragende und zur Abendmahlsgestaltung; die Lebensweltorientierten geben etwa je zu einem Drittel an „oft/sehr oft“, „manchmal“ und „selten/nie“; die liturgiedistanzierten Prediger, bei denen die Predigt im distanzierten Gegenüber zur Liturgie eine große Rolle spielt, nutzen die Agende am wenigsten.18 Alle Typen, die nicht stark auf die Liturgietradition orientiert sind, nutzen das EGB am häufigsten als Textbuch; sie goutieren also die Pluralität an Texten, die die Liturgiegestalter in den Grundformen und Varianten finden, während die Traditionsorientierten eher die eben genannte zweite Antwort auf den Zusammenhang von Agende und kirchlicher Identität geben. Aus den empirischen Angaben geht insgesamt eine für Protestanten erstaunlich hohe Wertschätzung der Agende hervor. Gleichzeitig spiegeln sich darin auch die Pluralisierungs- und Optionsschübe in Gesellschaft, Theologie und Kirche, durch die auch der Gebrauch von Agenden gesteuert wird. Darauf wird im dritten Teil zurückzukommen sein.

15 16 17 18

A.a.O., 70 (Schulz). A.a.O., 72 (Spieß). Vgl. a.a.O., 74–90 (Spieß). Vgl. a.a.O., 90–95 (Spieß).

Identität und Agende

2.

179

Die Agende der EKU von 1959

Die Arbeit an der Agende für die Evangelische Kirche der Union begann 1952 mit dem Beschluss der EKU-Synode, an einer einheitlichen Agende festzuhalten und endete mit der Annahme und Inkraftsetzung der neuerarbeiteten Agende 1959 bzw. in einigen Gliedkirchen 1960 oder 1962. Auf lutherischer Seite war 1955 die Agende I der VELKD verabschiedet worden,19 die wiederum 1957 – im Ringen um die Frage von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft – von der damaligen altlutherischen Kirche mit einigen Änderungen verbindlich gemacht wurde. Nach dem Zusammenschluss mehrerer selbstständiger lutherischer Kirchen (mit ihren je eigenen gottesdienstlichen Traditionen) zur SELK 1972 wurde 1995 durch deren 8. Kirchensynode die Evangelisch-Lutherische Kirchenagende (wiederum eine überarbeitete Fassung der VELKD-Agende) verabschiedet und erschien 1997 im Druck.20 Die EKU-Agende von 195921 löste offiziell die 1895er-Agende ab, da die kirchenamtliche Agendenarbeit in den 1920er-Jahren nur zu Entwürfen geführt hatte; gleichwohl war dies bekanntlich eine Zeit vieler liturgischer Aufbrüche und durch verschiedene Einzelpersonen und Gruppen verfasster Kirchenbücher und Agenden, die durchgängig im Interesse von Kirchenreform veröffentlicht wurden22 und teilweise, wie das Kirchenbuch von Julius Smend, eine große Verbreitung fanden. Agendarische Pluralität gehörte bereits zum Signum dieser Zeit.23

19 20

21 22 23

Vgl. Alfred Niebergall, Art. Agende, TRE 2 (1978), 1–91, hier 73–75. Evangelisch-Lutherische Kirchenagende, Bd. 1, Freiburg u. a. 1997. Das Geleitwort von Bischof Jobst Schöne datiert Epiphanias 1996 und hebt in Aufnahme von CA XXIV den, dann trinitarisch ausgeführten, Christusbezug hervor sowie die Gegenwart Gottes in Wort und Sakrament. Bei der zugestandenen Wandelbarkeit von Liturgie wird gleichzeitig die unlösliche Verbindung von Lehre und Liturgie betont, aus der die Verbindlichkeit der Liturgie abgeleitet wird: „Welchen Zweck hat die Gottesdienstordnung einer lutherischen Kirche zu erfüllen? Als erstes verkündet und preist sie die Nähe des dreieinigen Gottes, das Wunder seiner barmherzigen Gegenwart im heilsamen Wort und in den lebenspendenden Sakramenten, ein ,Schatz in irdenen Gefäßen‘ (2Kor 4, 7). Wer den Raum der Liturgie betritt, soll wissen: ‚Der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land‘ (Ex 3, 5). Als nächstes bezeugt der durch diese Agende geordnete Gottesdienst den Glauben der Christenheit. Was in ihm gebetet und gesungen, ausgesprochen und verkündet wird, ist gebetete und gesungene Lehre der Kirche, auf Christus bezogen und gesättigt mit dem Wort Heiliger Schrift. Nichts darf zur Liturgie gehören, was nicht mit der Lehre in Einklang steht und ihr nicht Ausdruck gibt: nichts soll gelehrt werden, was nicht zu Anbetung, Bitte und Lobpreis führt. Nach altkirchlichem Grundsatz bestimmt die Ordnung des Betens auch die Ordnung der Lehre ‚lex supplicandi statuat legem credendi‘ – und das gilt umgekehrt genauso. Alles in dieser Agende will dem Bekenntnis der Kirche gemäß sein. Darum ist sie auch verbindlich für den Gottesdienst der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“ (Geleitwort, a.a.O., 5; zur Verbindlichkeit der Texte vgl. a.a.O., 15). Agende für die Evangelische Kirche der Union, Band I: (Die Gemeindegottesdienste), Bielefeld 3 1959, 1981. Vgl. Niebergall, Agende (wie Anm. 19), 67–69. Vgl. z. B. auch die Agende der Evangelisch-lutherischen Kirche Altpreußens (herausgegeben vom Oberkirchenkollegium der Evangelisch-lutherischen Kirche Altpreußens), Breslau 1935.

180

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Die EKU-Agende von 1959 ersetzte gleichzeitig die in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Gebrauch befindlichen oder empfohlenen agendarischen Bücher: z. B. die eher lutherisch gestimmte Kirchenagende, die eine Gruppe unter Joachim Beckmann und Peter Brunner 1948 verfasst hatte, die westfälische Agende aus dem gleichen Jahr oder die Berliner „Dibelius-Agende“ (1952). In einer zweiten Auflage von 1969 wurden in der EKU-Agende die Textfassungen des Alten Testaments angeglichen, in der dritten Auflage von 1981 die Ergebnisse der Perikopenrevision als Anhang beigefügt (inklusive neuer Eingangsgebete zu neun Sonntagen). Die Agende blieb insgesamt 40 Jahre in Kraft, also bis zur Ablösung durch das EGB. Der theologische und ekklesiologische Anspruch der Agende wird im Vorwort ebenso knapp wie präzise unter Aufnahme zentraler Einsichten des Kirchenkampfes formuliert: „Die Mitte des Lebens der Kirche ist der Gottesdienst. Im Namen Jesu versammelt sich die Gemeinde, Gottes Wort zu hören, des Herrn Mahl zu feiern, Gott im Gebet anzurufen und ihn mit Danksagung zu preisen“24; etwas später heißt es: „Die neue Agende ist nicht nur um der Tradition der Preußischen Agende willen geschaffen worden. Sie will ein geistliches Band sein, das die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche der Union in Ost und West in wahrer Gemeinschaft am Evangelium, im Dienste Gottes und im Lobpreis seines Namens beieinander hält.“25 Die mit dieser Agende gefeierten Gottesdienste sollen die östlichen und westlichen Gliedkirchen also geistlich verbinden und zum Dienst am Evangelium in ihren jeweiligen Kontexten ausrichten und stärken. Dazu dienen die Gottesdienstordnungen, die als „Erste Form“, als „Andere Form“ und als „Einfache Form“ bezeichnet werden. Letztere ist eine Andacht, die „Andere Form“ der in der Eingangsliturgie reduzierte reformierte Predigtgottesdienst, die „Erste Form“ schließlich wird in den beiden bekannten Varianten der Eingangsliturgie geboten (reine Messform und unierter Beginn).26 An die Gottesdienstordnungen schließen Formulare zur Abendmahlsfeier gemäß der „Anderen Form“ und zur Beichte als Vorbereitung auf das Abendmahl an.27 Die Gottesdienstordnungen bilden den zweiten Teil der Agende. Ihm voraus gehen die Texte der Eingangsliturgie gemäß dem Proprium, ihm folgt eine Gebetssammlung, vor allem mit Sündenbekenntnissen und Fürbittgebeten.28 Als liturgische Rollen gibt es eigentlich nur den redenden, manchmal singenden Pfarrer und die spärlich antwortende Gemeinde, hin und wieder finden sich in den Rubriken Hinweise auf die Rolle

24 25 26 27 28

EKU-Agende I (wie Anm. 21), 5 (Vorwort). A.a.O., 6 (Vorwort). Vgl. a.a.O., 119–133. Vgl. a.a.O., 134–149. Vgl. A.a.O., 15–118.153–230.

Identität und Agende

181

eines Chores.29 Stärker als in den lutherischen Traditionen tendieren die unierten Gottesdienste damit zu pastorenzentrierten Veranstaltungen. Während vor allem in den Gottesdienstordnungen und ihrer konfessionellen Zweigleisigkeit die Verbindung zur 1895er-Agende30 erkennbar ist, allerdings um die ursprüngliche Messform erweitert, zeigen die Gebetstexte das Bemühen, mit Hilfe von Bibelsprache, Chorälen und traditionellen Kollekten den Ertrag des Kirchenkampfs zu sichern und – analog zum Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) – die herben Klangfarben und reformatorischen Traditionen in den Vordergrund zu stellen. Zur Veranschaulichung ein bekanntes Beispiel: Das leitende erste Lied zum Advent ist im EKG nicht mehr wie im Vorgängergesangbuch „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, sondern Luthers Umdichtung des alten Hymnus „Veni redemptor gentium“, „Nun komm, der Heiden Heiland“; „Macht hoch die Tür“ gelangte jedoch im neuen Evangelischen Gesangbuch (EG) wieder an die erste Stelle. Da ich als 1959 Geborener kein unmittelbarer Zeitzeuge bin, kann und will ich hier nur zurückhaltend urteilen. Gestattet sei aber dennoch eine kleine biografische Reminiszenz: Ich erinnere mich noch gut an meine Kinder- und Jugendzeit in einer uniertlutherischen ostwestfälischen Gemeinde (hier wurde das EKG erst 1969 eingeführt), wie Organist und Gemeinde die liturgischen Gesänge und manche Choräle gegeneinander ausführten; denn die Hymnologen und Musiker hatten hier die Leittöne entfernt, um den herben Charakter der Kirchentonarten zu erhalten, was historisch zutreffend zu begründen ist, und um programmatisch (oder darf man sagen: ideologisch?) eine neue Ästhetik durchzusetzen. Der Organist hatte die richtigen neuen Noten, die Gemeinde sang die gewohnten Melodien. Die neue Ästhetik kam allerdings 1969 zur Unzeit und verdeutlicht zudem das Grundproblem fast jeder Agende und jeden Gesangbuchs, dass sie infolge aufwändiger Gremienarbeit und langwieriger Stellungnahmeprozesse immer wieder zu spät eingeführt worden sind. Das gilt für die EKU-Agende wie für das EGB.

Die Gebetssprache der 1959er-Agende war wohl bereits mit der Einführung problematisch, wurde es aber auf jeden Fall im Laufe des Folgejahrzehnts. Bleiben wir im Advent und nehmen als Beispiel die Kollekte zum 1. Advent: „O Gott, du rufst uns aufs neue zu freudigem Warten auf unsre Erlösung. Gib, dass wir Deinen eingeborenen Sohn, den wir jetzt als unsern Erlöser freudenvoll empfangen, auch bei seinem Kommen zum Gericht getrost und im Frieden schauen.“31 Dann folgt als Epistellesung Röm 13, 11–14a („Die Nacht ist vorgerückt, der Tag nahe herbeigekommen […] lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht 29

30 31

Vgl. a.a.O., 10–13. Die eigenständige und besondere liturgische Aufgabe des Chores ist dagegen vor allem von der sogenannten „älteren liturgischen Bewegung“ um Julius Smend und Philipp Spitta hervorgehoben und als Teil der Kirchen- und Liturgiereform verstanden worden; vgl. dazu jetzt Konrad Klek, Die „ältere“ evangelische liturgische Bewegung und ihre Vorläufer, in: Wolfgang Hochstein/Christoph Krummacher (Hg.), Geschichte der Kirchenmusik, Bd. 3: Das 19. und frühe 20. Jahrhundert – Historisches Bewusstsein und neue Aufbrüche, Laaber 2013, 72–78. Vgl. Niebergall, Agende (wie Anm. 19), 59f. Vgl. EKU-Agende I (wie Anm. 21), 18.

182

Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

in Unzucht und Ausschweifung, Hader und Eifersucht […], zieht den Herrn Christus an“), darauf ein „Halleluja“ und dann das genannte Wochenlied. Nota bene ist die Kollekte aus der 1948/1949er-Kirchenagende noch altertümlicher: „O Herr Jesu Christe, erwecke deine Gewalt und komme: auf dass wir von den Gefahren, die uns von unsern Sünden drohen, durch deine Beschirmung mögen errettet und durch deine Erlösung selig werden.“32 Man kann hier liturgiewissenschaftlich die Bemühung um die Wiedergewinnung der aus der lateinischen Tradition stammenden Kollekten in ihrer klaren Struktur und knappen Gestalt würdigen; da sind die Eingangsgebete z. B. in Smends Kirchenbuch thematischer und kasueller ausgerichtet, vor allem aber mindestens 3–4 mal so lang wie die zitierten Beispiele.33 Aber die verwendete Sprache blieb vielen wohl auch 1959 fremd.34 Da ist es kaum verwunderlich, dass es auch unter eher konservativen Vertretern zur Forderung nach neuen Gebeten und neuer Sprache im Gottesdienst kam35 und unter den Erneuerern zu alternativen Gottesdienstformen mit alternativer Musik,

32

33

34

35

Vgl. Kirchenagende. Hg. im Auftrage der liturgischen Ausschüsse von Rheinland und Westfalen in Gemeinschaft mit anderen von Joachim Beckmann, Peter Brunner, Hans Ludwig Kulp, Walter Reindell, Band I, Gütersloh 1949, 65. Das Gebet stammt aus dem Gregorianum/Paduanum (7. Jh.). Vgl. Julius Smend, Kirchenbuch für evangelische Gemeinden, Band 1: Gottesdienste, Gütersloh 3 1924, 43–75. „Gebete vor der Schriftlesung/Eröffnungsgebete“. Das erste Gebet zur Adventszeit lautet: „Ewiger Gott, himmlischer Vater. Wir loben deinen heiligen Namen, dass du uns in Frieden ein neues Kirchenjahr antreten lässest. Du hast nach deiner Güte und Treue auch im verflossenen Jahre dein Evangelium reichlich unter uns wohnen lassen, und hast uns durch deine Gotteskraft gestraft und gezüchtigt, getröstet und gestärkt. Erwecke uns heute zu neuem Eifer und Ernst in unserem Christenstande. Lass auch unter uns immer mehr Seelen zu der Zahl derer hinzukommen, die da glauben und selig werden. Wecke die geistlich Toten auf; stärke die Schwachen, tröste die Traurigen; gib Sieg den Kämpfenden, bewahre die Treuen. Vergib uns, wenn wir, ach so oft, anderes mehr begehrt haben, als dich und deine Gnade. Ziehe nicht zurück, was du uns zugedacht hast; lass es uns noch nehmen dürfen, und mache an uns allen wahr deine Verheißung: Mein Volk soll meiner Gaben Fülle haben. Amen“ (43). Vergleichbares wird man auch über das 1965 erschienene, völlig neubearbeitete und stark erweiterte Allgemeine Evangelische Gebetbuch sagen müssen (1. Auflage 1955), das auf der Basis der gesichteten Tradition vorsichtige Schritte zu ökumenischen und gegenwärtigen Gebeten geht; neben einigen Gebeten für Gruppen, Familien und den Einzelnen liegt das Schwergewicht eindeutig auf den gottesdienstlichen Gebeten (ca. 600 Seiten, inklusive Stundengebet und Beichte), wobei die Kollektengebete vor allem aus der lateinischen Tradition stammen – zum 1. Advent z. B. wie in der Kirchenagende von 1948/1949 das Gebet aus dem Gregorianum (s. o.). Die schwankende Vorsichtigkeit der Schritte zu neuen Gebeten wird im Vorwort mehr als deutlich: „So will das Allgemeine Evangelische Gebetbuch, das in seiner ersten Auflage aus dem Aufbruch des kirchlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg erwachsen war, ein Gebetbuch für die Christen sein, die das Frömmigkeitserbe dankbar bewahren, aber ebenso entschlossen nach vorn sehen, ohne der Versuchung zu einer krampfhaften Modernität zu verfallen“ (Hermann Greifenstein/Hans Hartog/Frieder Schulz [Hg.], Allgemeines Evangelisches Gebetbuch. Anleitung und Ordnung für das Beten des Einzelnen, der Familie und der Gemeinde mit einer ökumenischen Gebetssammlung, 2 Hamburg 1965, VII; zu den Kollektengebeten vgl. a.a.O., 721–741). Vgl. Schwier, Die Erneuerung (wie Anm. 3), 4–12.

Identität und Agende

183

mit politischen Aktionen, mit gegenwartsnahen Gebeten und mit wachsender Freude an Symbolhandlungen und ganzheitlicher Kommunikation, infolgedessen auch das Abendmahl wieder entdeckt und jenseits von Beichte und Kirchenrecht gestaltet wurde. Während die einen dies als lebendige Kreativität und Aufbruch aus alten Verkrustungen erlebten, sahen andere hierin einen liturgischen „Wildwuchs“, den es zu beschneiden galt. Das EGB gehört mit seinen Integrationsbemühungen nicht zuletzt in diesen spannungsreichen Kontext. Aus heutiger Sicht betrachtet repräsentieren die 1950er-Agenden von VELKD 36 (und ihre Adaptionen) und EKU das Modell „verordneter Einheit“. Das sollte und konnte in der Gottesdienststruktur die Verbindung zwischen Ost und West stärken, geriet aber mit der „Sprache Kanaans“ schnell in ein selbstverordnetes kirchliches Ghetto, das wenig geeignet erschien, die Frage- und Problemkonstellationen der westdeutschen offenen Gesellschaft überhaupt zu erfassen, geschweige denn hier orientierend zu wirken. Auch wenn die damaligen Agenden in ihren Entstehungsbedingungen gerade keine von oben angeordneten Agenden waren und sich in der EKU-Agende zudem die erstaunliche Selbstrelativierung findet, die Agende sei „ihrem Wesen nach 37 Beispiel und Angebot“ , wirkten sie in der Folgezeit vielfach als unverständliche autoritäre Verordnungen, wozu neben der Sprache und Starrheit der Ordnungen auch das amtliche und monologische Verhalten der Talarträger beigetragen hat. Eine an der Agende orientierte kirchliche Identität galt nun als konservativ und bürgerlich – und das waren damals bekanntlich keine Komplimente. Und wer einen Talar trug, war auch außerhalb der Universität plötzlich mit dem Vorwurf des Muffs von 1000 Jahren konfrontiert anstatt mit Respekt vor dem Amt.

3.

Weiterführende Aspekte zu Liturgie und kirchlicher Identität

Spätestens seit den 1970er- und 1980er-Jahren vollzog sich im Bereich der evangelischen Landeskirchen Westdeutschlands eine deutliche Pluralisierung der gottesdienstlichen Kultur; nicht zuletzt boten die Kirchentage wirksame Foren, die wiederum in die Gemeinden vor Ort ausstrahlten: Waren die politischen Nachtgebete eher für kleinere Aktionsgruppen interessant, wurden die Liturgischen Nächte, das Feierabendmahl, Taizégesänge, Neue Geistliche Lieder, Sacro-Pop und anderes durchaus in der Breite aufgenommen und weitergeführt. Familiengottesdienste und insgesamt Gottesdienste in offener Form setzten sich stark durch. An die Stelle der Agenden trat die sogenannte „graue Literatur“ – Privatagenden, Gebetssammlungen, liturgische Bausteine –, die nun im meistverwendeten gottesdienstlichen

36 37

Peter Cornehl, Art. Gottesdienst VIII (Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart), TRE 14 (1985), 54–85, hier 77f. EKU-Agende I (wie Anm. 21), 6 (Vorwort).

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

Medium, dem dunklen Ringbuch, zusammengestellt wurde und die schwarzgoldene Leseagende zunehmend verdrängte. Systematisiert man dies im Blick auf die kirchenamtliche Agendenproduktion und ihre Aufgaben, kann man mit Peter Cornehl zu Recht von einem Zielkonflikt sprechen, „der darin besteht, dass die Agenden einerseits den Versuch darstellen, der Ordnung des Gottesdienstes ein möglichst klares theologisches Profil zu geben, dass sie andererseits den innerkirchlichen Pluralismus bejahen müssen, wenn sie nicht selbst Anlass zu Polarisierungen und Spaltungen sein wollen“38. Dieser Zielkonflikt wurde von den beiden genannten Agenden unterschiedlich gelöst: Die EKU-Agende von 1959 bot ein klares theologisches Profil erstens im Blick auf die zentrale Bedeutung des Gottesdienstes für das Leben der Kirche, zweitens im Blick auf die Bedeutung des Altarsakraments und der hier angemessenen Feier und drittens im Blick auf die Union und der damit verbundenen Notwendigkeit zu liturgischer Mehrgleisigkeit. Dieser letzte Aspekt kann gleichzeitig als Bejahung des innerkirchlichen Pluralismus gesehen werden, der damals durch die getrennten Entwicklungen in Ost und West nochmals komplex gesteigert wurde. Trotz der genannten Selbstrelativierung – Agende als „Beispiel und Angebot“ – werden in der Agende aber, soweit ich sehe, kein theologischer und kein liturgischer Pluralismus bejaht, der über die konfessionelle Zweiheit hinausginge und beispielsweise liberale Traditionen aufnahm. Das ist historisch mehr als verständlich, führte in der Wirkungsgeschichte aber auch zur Abkehr von dieser Agende und vor Ort durchaus auch zu Polarisierungen von Gottesdiensten diesseits und jenseits der Agende. Das EGB ging mit dem Zielkonflikt anders um. Es bejahte die inzwischen eingetretene gesellschaftliche, kirchliche und liturgische Pluralität und suchte sie durch sein Strukturmodell praktisch zu integrieren. Seine Grundeinsicht ist dabei, dass sich an unterschiedlichen Liturgien die Grundstruktur christlicher Gottesdienste zeigt und damit auch eine Gleichrangigkeit gegeben sei. Um mündliche Formulierungen von Frieder Schulz aufzugreifen: Die Gottesdienstordnungen und die gefeierten Liturgien befinden sich nicht mehr in preußischer Uniform, aber sind doch nicht ohne Form; sie sind gegenüber kirchenjahreszeitlicher oder aktueller Situation durchaus schmiegsam, aber nicht beliebig oder willkürlich; sie sind gleichrangig, 39 aber nicht gleichartig. Die Stärke des EGB liegt dabei in der Erweiterung des bisherigen liturgischen Konsenses40 hinsichtlich der Sprachformen, der Abendmahlsgestaltung und der ökumenischen Bereicherungen. An die Stelle verordneter Einheit tritt gestaltete 38 39

40

Peter Cornehl, Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd. 1: Theologischer Rahmen und biblische Grundlagen, Stuttgart 2006, 64. Vgl. auch Frieder Schulz, Einführung in die Endfassung der Erneuerten Agende (Gottesdienstbuch) als Fortschreibung des Vorentwurfs. Ein Überblick, in: Jörg Neijenhuis (Hg.), Erneuerte Agende im Jahr 2000? Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, Bd. 2, 9–21, hier 20f. Vgl. Cornehl, Der Evangelische Gottesdienst (wie Anm. 38), 64.

Summary

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Pluralität und eben ein größer gewordener liturgischer Konsens. Als kontroverse Frage bleibt offen, ob das theologische Profil des EGB, wie es in den sieben Kriterien zum Ausdruck gelangt, klar genug ist, um nicht nur zu integrieren, sondern um auch profil- und stilbildend zu prägen statt der Beliebigkeit zu erliegen. Diese Frage ist weniger eine Frage nach dem Buch als nach dem Gebrauch und damit eine Frage nach liturgischer Orientierung von Pfarrerinnen und Pfarrern, von Kirchenmusikern, Kirchenvorständen und natürlich der partizipativ mitfeiernden Gemeinde insgesamt.41 Die empirische Rezeptionsstudie zeigte, dass dieser Gebrauch wiederum plural erfolgt und zwischen Liturgietradition, Liturgiegestaltung und Liturgiedistanz changiert. Die positiven Chancen heutiger Agenden liegen nicht in der Prägung einheitlicher kirchlicher oder konfessioneller Identität, denn dies ist ihnen schlicht unmöglich. Identitätswahrung geschieht nicht mehr durch Texte – und wenn diese in bestimmten Gruppierungen eine Rolle spielen, sind es wohl eher Bibel und Gesangbuch als Katechismus und Agende. Aber heutige Agenden wie das EGB und die 42 anderen neuen landeskirchlichen Agenden Badens, Württembergs oder der Pfalz können die liturgische Identität der Mitfeiernden so bilden, dass sie in der Lage ist, neben der liturgischen Muttersprache auch Fremdsprachen zu lernen und zu praktizieren. Das setzt aber wiederum gebildete Liturginnen und Liturgen voraus, die an der Agende geschult sind; das gelingt nicht durch amtlich verordneten Gebrauch, sondern durch eine überzeugende Qualität der Bücher und der Ausbildung. Solche Liturgen sind in der Lage, den Gottesdienst mit Verstand und allen Sinnen zu feiern, also nicht als Leseliturgen zu agieren, sondern den Ritus rollen- und situationsangemessen zu verkörpern und mit der Gemeinde als den in der Taufe geweihten Mit-Priestern zu feiern. Knapp gesagt: Sie sind in der Lage, in der konkreten Gottesdienstfeier Freiheit und Ordnung lebendig zu verbinden und dem Evangelium zu dienen.

Summary Protestant-United identity has often been seen as being connected with the Prussian Agenda. However, a differentiated approach reveals that the commitment to tradition and to plurality had to go hand in hand from the time of the EKU Agenda (1959), indeed probably even as early as the Agenda of 1895. This alliance has been put into practice in the “Ev. Gottesdienstbuch” (1999) (book of worship), 41

42

Vgl. dazu Helmut Schwier, Das Priestertum aller Glaubenden und die Beteiligung am Gottesdienst, in: Schulz/Meyer-Blanck/Spieß, Gottesdienstgestaltung (wie Anm. 14), 99–119, sowie insgesamt zum Themenbereich Katharina Stork-Denker, Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst (APrTh 35), Leipzig 2008. Vgl. dazu jetzt Helmut Schwier, Gottesdienst mit steter Lust? Zu den gegenwärtigen Agenden in den evangelischen Kirchen in Deutschland, in: Liturgie und Kultur 4 (2013), 22–34, hier 27–34.

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Liturgie als Ausdruck kirchlicher Identität

albeit in affirmation of theological, ecclesiastical and liturgical plurality. Identity is created in church services today not through an agenda nor through texts but rather by the vitality of the church service celebrated by the congregation. This demands trained liturgists who can combine freedom and order in the service and so serve the gospel.

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung Frank Martin Brunn

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen 1 Handlungszusammenhangs „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“, bekennt Simon Petrus in den synoptischen Evangelien stellvertretend für die Jünger Jesu, als Jesus sie fragt, wer sie sagen würden, dass er sei. Gemäß dem Matthäus-Evangelium erkennt Jesus darin die Offenbarung Gottes, die Petrus zuteil geworden ist. Er verheißt ihm: „Du bist Petrus, und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen“ (Mt 16, 13–18). Mit dieser Episode verbindet der Evangelist Matthäus drei Aspekte, die für die Kirche von hoher Bedeutung sind: Die Erkenntnis über die Person Jesu Christi, das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Gründung der Kirche auf das Bekenntnis zu Jesus Christus.2 Dieser Zusammenhang ist von erheblicher ekklesiologischer und kirchentheoretischer Bedeutung.3 Das will ich in vier Punkten ausführen. Eingangs beschreibe ich den Sitz im Leben der Thematik (1.), sodann skizziere ich einen phänomenologischen Zugang zum Begriff „Bekenntnis“ (2.), woran sich ein ekklesiologischer Zugang anschließt (3.). Darauf folgend werden die Kontextualität und die Universalität des kirchlichen Bekenntnisses in den Blick genommen (4.).

1.

Der Sitz im Leben der Thematik

Wenn Vertreter der Union Evangelischer Kirchen und der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche über die Bedeutung des kirchlichen Bekenntnisses verhandeln, hat das seinen Grund darin, dass dieses Thema von großer Bedeutung für 1

2 3

Überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags, gehalten am 25. Oktober 2012 vor dem Fachbereich für Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ursprünglich als Vortrag vorgesehen für die Tagung „Union, Bekenntnis und kirchliche Identität 1817–2017“, 26.02.–28.02.2013 in Wittenberg, dort nicht gehalten wegen eines Beschlusses der Kirchenleitung der SELK nach meinem Wechsel von der SELK in die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland. 4 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17) (EKK I/2), Zürich u. a. 2007, 471f. Bernd Oberdorfer hat darauf hingewiesen, dass bei Kirchenfusionen die Frage des Bekenntnisstandes zu wenig beachtet werde, vgl. ders., Geschichtlichkeit und Geltung. Zur theologischen Interpretation der lutherischen Bekenntnisschriften, in: KuD 55 (2009), 199–216, hier 199f.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

das ökumenische Verhältnis zwischen unierten Kirchen und selbstständigen lutherischen Kirchen ist. Sein Anlass dürfte aber auch darin liegen, dass allgemein das Thema Bekenntnis an Bedeutung gewonnen hat. In den vergangenen Jahren mehrten sich die Publikationen von ekklesiologischen und kirchenrechtlichen Beiträgen zur Bekenntnisthematik. Jüngster Anlass, dieses Thema zu diskutieren, war die Gründung der sogenannten „Nordkirche“, genauer: die Fusion der Nordelbischen Kirche, der Mecklenburgischen Kirche und der Pommerschen Kirche zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.4 In den verschiedenen reformatorischen Kirchen wird heute unterschiedlicher Wert auf die Bekenntnisbindung gelegt. Über die Frage nach der Bedeutung der kirchlichen Bekenntnisse für die Kirche und den einzelnen Kirchenkörper besteht auch heute kein Konsens. Das ließe sich anhand der Bezugnahmen auf Bekenntnisschriften in den verschiedenen landeskirchlichen Verfassungen zeigen.5 Dass sich die Gliedkirchen der EKD nicht einmal in gleicher Weise auf die Confessio Augustana beziehen, machte ein Konsultationsprozess vor einigen Jahren deutlich. Der Vorschlag, die Confessio Augustana als verbindendes EKD-Bekenntnis zu institutionalisieren, wurde wegen der Differenzen über deren Status und, weil die EKD ein Kirchenbund, aber keine Bekenntniskirche ist, nach intensiven Beratungen von 2005 bis 2009 zurückgewiesen. Symptomatisch für diese Situation ist, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seinem „Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen“ aus dem Jahr 2001 keinen Abschnitt zur Bekenntnishermeneutik vorgelegt hat. Leuenberger Konkordie, Neues Testament, Augsburger Konfession, Luthers De servo arbitrio, die Barmer Theologische Erklärung und die Meißener Erklärung werden gleichermaßen zur argumentativen Begründung des evangelischen Verständnisses von Kirchengemeinschaft verwendet.6 Nach welchen Kriterien der Rückgriff auf gerade diese Schriften erfolgt, erfahren die Leserinnen und Leser des Votums nicht. 4

5

6

Bei dieser Fusion war die Bekenntnisthematik von besonderer Bedeutung, da zwei der drei Kirchen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands angehörten, die andere aber der Union Evangelischer Kirchen. Gleichwohl hatte die der Union Evangelischer Kirchen angehörende Pommersche Kirche nur lutherische Gemeinden. Jedoch zählte sie – anders als die Nordelbische Kirche und die Mecklenburgische Kirche – die Barmer Theologische Erklärung zu ihren Bekenntnisschriften. Vgl. dazu Jan Rohls, Die Confessio Augustana in den reformierten Kirchen Deutschlands, in: Rat der EKD (Hg.), Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der EKD für Theologie (EKD-Texte 103), Hannover 2009, 59–93, hier 83–92. Auch abgedruckt in: ZThK 104 (2007), 207–245. Vgl. Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 69), Hannover 2001. Die fehlende Bekenntnishermeneutik kritisiert auch Niels Hasselmann, Kommentar zum Votum der EKD zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“, in: Ökumenische Rundschau 51 (2002), 450f.

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

189

Vor diesem Hintergrund soll der grundsätzlichen Frage nachgegangen werden, was Bekennen und was ein Bekenntnis ist – und was kirchliches Bekennen und das kirchliche Bekenntnis ausmachen.

2.

Was bedeutet „Bekenntnis“? – Phänomenologischer Zugang

Der Blick in ein beliebiges Lexikon zeigt, dass der Begriff „Bekenntnis“ im Deutschen eine religiöse Konnotation hat. Die Brockhaus Enzyklopädie kennt ein Bekenntnis nur als religiöses Bekenntnis, ähnlich auch das 24-bändige dtv-Lexikon.7 Von der Kirchengeschichte her gesehen ist das wenig überraschend. Etwas breiter ist das Verb „bekennen“ angelegt. Es beschreibt die mit einem „Bekenntnis“ verbundene Handlung. Man bekennt Farbe. Der Angeklagte bekennt sich schuldig. Man bekennt sich zu seinen Fehlern, zu seinen Ansichten, zu seiner Vergangenheit, zu seinen Überzeugungen und natürlich zu seinem Glauben. Gelegentlich wird gefordert, dass sich bestimmte Personengruppen zu Werten bekennen, die in der Gesellschaft in Geltung stehen. Auch hier findet sich eine Nähe zu religiösen Sprachmustern. Sich zu seinem Glauben zu bekennen, ist ein religiöser Akt. Sich schuldig zu bekennen oder sich zu seinen Fehlern zu bekennen, hat eine Nähe zum Gerichtswesen, aber auch zur Bußpraxis. Farbe zu bekennen, sich zu seinen Überzeugungen, zu seiner Vergangenheit oder zu gesellschaftlichen Werten zu bekennen, muss nicht religiös sein. Gemeinsam mit dem religiösen Bekennen ist aber, dass es vor einem Forum geschieht und ein bewusster Akt ist. Neben diesen verbalsprachlichen Bekenntnissen gibt es auch solche, die nicht ausgesprochen werden, sondern in Form optischer Zeichen geäußert werden. Fußballfans tragen oft Schals und T-Shirts mit Vereinsemblemen und sogenannte Kutten. Ihre Kleidung ist ein Bekenntnis. Mit ihrer Kleidung bekennen sie sich zu ihrem Fußballverein. Das geschieht in bewusster Abgrenzung von Fans anderer Vereine, die ihre Orientierung ebenfalls über ihre Kleidung kommunizieren. Dieselben Muster, über Kleidung eine Zugehörigkeit zu bekennen, gibt es in vielen Milieus. Manche Pfarrer bekennen sich zu ihrem Beruf durch das Tragen eines Kollarhemdes. Mit dem Tragen eines Eherings bekennen sich Eheleute zu ihrer Bindung. Mit solchen zeichenhaften Bekenntnisakten verweisen Menschen auf das, was ihnen wichtig ist und eine große Bedeutung für ihr Leben hat. Sie geben in Formen aktuellen Bekennens Hinweise auf ihr persönliches Wirklichkeitsverständnis. „Meine Ehe“, „mein Beruf“, „mein Verein“ – solches und weitaus mehr lässt sich über Kleidung und Schmuck kommunizieren. Wer in solchen Formen sein Wirklichkeitsverständnis artikuliert, spricht aber nicht exklusiv von sich alleine, sondern stimmt ein in gesellschaftlich vorhandene Bekenntnisse. Sie geben Auskunft darüber, womit 7

Vgl. Stichwort „Bekenntnis“, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Bd. 2, Wiesbaden 1967, 478; Stichwort „Bekenntnis“, in: dtv-Lexikon Bd. 3, Gütersloh/München 2006, 35; Duden. 22 Rechtschreibung der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 2000, 216.

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sich Menschen identifizieren. Bekenntnisse in irgendeiner Form zu artikulieren, ist ein Akt sozialer Selbstbestimmung. Der Begriff „Bekenntnis“ wie auch das Verb „bekennen“ lassen sich als eine Relation von mindestens drei Instanzen beschreiben: der Zeichen, mittels derer bekannt wird, der Personen, die bekennen, und des Forums, vor dem bekannt wird.8 Geht aus dem Akt des Bekennens ein ausformuliertes Bekenntnis hervor, das tradiert wird, so hat dies häufig religiösen oder weltanschaulichen Charakter.

3.

Was kennzeichnet kirchliches Bekennen und das kirchliche Bekenntnis? – Ekklesiologischer Zugang

Was unterscheidet nun kirchliches Bekennen von anderem Bekennen? Für diese Unterscheidung ist von Bedeutung, was das Adjektiv „kirchlich“ aussagt. „Kirchlich“ kommt von „Kirche“. Folglich ist zu klären, was mit dem Begriff „Kirche“ bezeichnet wird. 3.1

„Kirche“

Der Begriff „Kirche“ bezeichnet sowohl ein Gebäude als auch eine Institution. Um Kirche als Institution muss es hier gehen. Grundsätzlich ist eine soziologische Beschreibung von einer theologischen Beschreibung der Institution „Kirche“ zu unterscheiden. Eine soziologische Beschreibung fasst Kirche primär unter ihrem organisatorischen Charakter. „Unter K[irche]n können […] diejenigen sozialen Systeme bzw. Handlungszusammenhänge verstanden werden, in denen typischerweise religiöse Kommunikation stattfindet“9, definiert der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann.10 Typisch für eine soziologische Beschreibung von Kirche ist, dass sie angibt, welche Art von Handlungen unter der Selbstbezeichnung „Kirche“ geschehen – religiöse Kommunikation, die Feier von Gottesdiensten und dergleichen. An Handlungen ist ebenso eine theologische Beschreibung von Kirche interessiert. Martin Luther definiert „Kirche“ mit den Worten: „Es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ‚die Schäflein, 8 9 10

4

Vgl. Wilfried Härle, Art. „Bekenntnis IV. Systematisch“, in: RGG 1 (1998), 1257–1262, 1257. Franz-Xaver Kaufmann, Art. Kirche, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 8 Opladen 2003, 170–172, hier 171. Eine aus heutiger Sicht soziologische Beschreibung von Kirche bietet schon das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794, vgl. Allgemeines Preußisches Landrecht, Teil II, Titel XI: „§. 10. Wohl aber können mehrere Einwohner des Staats, unter dessen Genehmigung, zu Religionsuebungen sich verbinden. §. 11. Religionsgesellschaften, welche sich zur ordentlichen Feyer des Gottesdienstes verbunden haben, werden Kirchengesellschaften genannt. §. 12. Diejenigen, welche zu gewissen andern besondern Religionsuebungen vereinigt sind, fuehren den Namen der geistlichen Gesellschaften.“

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

191

die ihres Hirten Stimme hören‘“11. Zwei Handlungen benennt Luther: Hören und Glauben. Doch indem er vom „Hirten“ spricht und damit der Größe, auf die dieses menschliche Handeln ausgerichtet ist, wird ein weiterer, wesentlicher Aspekt angesprochen, der typisch für eine theologische Definition von Kirche ist. Eine theologische Definition von Kirche muss das Relat benennen, auf das menschliches Handeln unter der Bezeichnung Kirche passiv bezogen ist und auf das es sich aktiv bezieht. Luther verwendet hier die Metapher des Hirten. Sie steht bekanntlich für Gott und Jesus Christus. Dass ein theologischer Begriff von der Institution „Kirche“ auf Gott und Jesus Christus zu beziehen ist, versteht sich beinahe von selbst. Diese Einsicht ist Bestandteil der kirchlichen Tradition. Erst in der Reformationszeit erschien es aber notwendig, diese Einsicht zum expliziten Gegenstand des kirchlichen Bekenntnisses zu machen. Philipp Melanchthon formulierte mit Artikel VII und VIII der Augsburger Konfession zwei Artikel, die das Wesen der Kirche zum Gegenstand haben. Die von Luther zitierte Definition von Kirche findet sich in den Schmalkaldischen Artikeln, die Luther im Auftrag seines Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen angesichts des für 1537 ausgeschriebenen Konzils als Bekenntnisschrift für den Schmalkaldischen Bund entwarf.12 Es zeigt sich ein hermeneutischer Zirkel: Was ein kirchliches Bekenntnis ist, lässt sich ohne eine Vorstellung von dem, was Kirche ist, nicht aussagen. Was Kirche ist, lässt sich ohne Rückbezug auf kirchliche Bekenntnisse nicht theologisch aussagen. Die Kirche formuliert das Bekenntnis; das Bekenntnis beschreibt die Kirche. Die Formulierung kirchlicher Bekenntnisse ist ein selbstreferenzieller Akt der Kirche. In den Bekenntnisschriften der Reformationszeit wird die Selbstreferenzialität kirchlicher Bekenntnisse noch deutlicher als in den drei altkirchlichen Bekenntnissen. Ohne Bezug auf die Bekenntnisse der Reformationszeit lässt sich heute kaum noch klären, was ein kirchliches Bekenntnis ist. 3.2

„Kirchliches Bekenntnis“

Orientieren wir uns am eingangs erwähnten Petrusbekenntnis, so gilt: Die Gründung der Kirche erfolgt in semantischer Hinsicht auf das Bekenntnis hin. Das Bekenntnis rührt aus einer Erfahrung: Die Erkenntnis über die Person Jesu Christi hat sich den Bekennenden erschlossen. Die Erkenntnis über die Person Jesu Christi eröffnet ein Grundvertrauen, das das ganze menschliche Dasein bestimmt. Sie stiftet Glauben. Das Einzige, was Menschen zu dieser Erkenntnis beitragen können, ist, sich dem Erschließungsgeschehen nicht zu verweigern. Gemeinsam mit dem Gebet ist das Bekenntnis die ursprüngliche und erste Lebensäußerung des durch

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ASm III Von der Kirchen, BSLK, 450. Vgl. Gunter Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, Berlin/New York 1996, 532f.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Gott geschaffenen Glaubens (Röm 10, 9).13 Gemäß CA V schafft Gott den Glauben durch die Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente.

Das Evangelium von Jesus Christus bewirkt, dass es von Menschen verkündigt wird und die Sakramente gereicht werden. Die Verkündigung des Evangeliums und die Spendung der Sakramente bewirken bei einzelnen Menschen Glauben. Dieser Glaube spricht sich im persönlichen Bekenntnis aus. Menschen desselben Glaubens werden so zur Kirche zusammengeführt. Als Gemeinschaft der Glaubenden verkündigt die Kirche das Evangelium und spendet die Sakramente. Dieses Geschehen bestärkt den Glauben und stiftet bei weiteren Menschen Glauben. Aus persönlichen Bekenntnissen entstehen kirchliche Bekenntnisse.14 Das Subjekt des kirchlichen Bekennens sind nicht mehr nur einzelne Personen, sondern eine soziale Gruppe: die Kirche. Wer das kirchliche Bekenntnis mitspricht, bekennt nicht einfach seinen persönlichen Glauben, sondern er bekennt sich zum Glauben der Kirche und leiht sich deren Worte. Kirchliche Bekenntnisse sind also keine individuellen Glaubensbekenntnisse, sondern artikulieren einen überindividuellen Konsens der Kirche über den Inhalt des christlichen Glaubens.15

13

14 15

Vgl. a.a.O., 143: „Wessen der Glaube innegeworden ist und wessen er sich im Gebet beständig vergewissert, das wird im Bekenntnis geäußert, um erkennbares Zeugnis zu geben vom heilsamen Grund, auf welchen der Glaube sich verlässt“; sowie Frank Martin Brunn, Union oder Separation? Eine Untersuchung über die historischen, ekklesiologischen und rechtlichen Aspekte der lutherischen Separation in Baden in der Mitte des 19. Jahrhunderts (VVKGB 64), Karlsruhe 2006, 365f.: „Der christliche Glaube ist von Anfang an ein bekennender Glaube mit klar umrissenem Inhalt” (Martin Hengel, Bekennen und Bekenntnis, in: ders., Kleine Schriften 7: Theologische, historische und biographische Skizzen, Tübingen 2010, 313–347, hier 315). Martin Hengel hat das in einem großen Aufsatz für das frühe Christentum beschrieben, vgl. Hengel, Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 13), insbesondere 331–347. Diese Differenz zwischen individuellem und kirchlichem Bekenntnis betont auch Notger Slenzka, Die Bedeutung des Bekenntnisses für das Verständnis der Kirche und die Konstitution der Kirche in lutherischer Sicht, in: Klaus Grünwaldt u. a. (Hg.), Profil – Bekenntnis – Identität, Hannover 2003, 9–34, hier 14f.

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

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Das kirchliche Bekenntnis ist eine Reaktion auf das Handeln Gottes. Darin hat es einen konkreten historischen und lokalen Ort. Darin liegen seine Relativität zu anderen Ereignissen und seine Partikularität. Doch sein Gegenstand „ist das den Glauben und die Kirche schaffende Geschehen“16. Es ist daher als genuine Lebensäußerung der Gemeinschaft der Glaubenden und damit der Kirche in ihrer universalen Dimension als congregatio sanctorum zu verstehen.17 Es gehört zum Wesen der Kirche.18 Es tritt mit dem Anspruch auf, inhaltlich zu entfalten, was immer schon Glaube der Kirche ist. Das kirchliche Bekenntnis beschreibt das christliche Wirklichkeitsverständnis. Darin liegt seine Universalität. Darin unterscheidet es sich formal vom persönlichen Bekenntnis, dem dieser Anspruch nicht zukommt. Um es mit einer Formulierung der Konkordienformel zu sagen: Das kirchliche Bekenntnis ist die kanonisierte allgemeine Form der christlichen Lehre.19 Das bedeutet aber: Im kirchlichen Bekenntnis liegt zugleich der Anspruch, die eine Kirche Jesu Christi vernehmbar werden zu lassen. Im kirchlichen Bekenntnis liegt der Anspruch, die verborgene Kirche zu Gehör zu bringen. Dazu gehört ein abgrenzender Charakter des kirchlichen Bekenntnisses, der implizit oder explizit laut wird. Schon bei den ersten christlichen Bekenntnissen, dem κύριο Ỉησοῦ oder dem Petrusbekenntnis, ist ein solcher Charakter implizit gegeben: Kein anderer ist der erwartete Christus als Jesus von Nazareth. Der Kyrios-Titel wird exklusiv auf ihn bezogen – und damit die Verehrung des römischen Kaisers als Kyrios abgelehnt.20

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Beratendes Votum der Kammer für Theologie der EKD an den Rat der EKD zur Frage der Aufnahme des Augsburger Bekenntnisses als Bekenntnis der EKD in die Grundordnung der EKD, in: Rat der EKD, Augsburger Bekenntnis (wie Anm. 5), 9–18, hier 13. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 1999, 371: „Luther verstand das Bekenntnis als Übereinstimmung mit der göttlichen Wahrheit (Gottes Wort in der Heiligen Schrift) und deswegen als Übereinstimmung mit dem Glauben der ganzen, wahrhaft katholischen Kirche: Das Wort Gottes ist lebendige Verkündigung; die ihm entsprechende Predigt ist die Lehre des Wortes Gottes, und das Bekenntnis als Lehre der Kirche ist symbolum (Erkennungszeichen für die rechte Wortverkündigung und Abwehr der falschen Lehre).“ Vgl. ebenfalls Härle, Bekenntnis (wie Anm. 8), 1260. So auch Mitte des 19. Jahrhunderts Carl Ullmann, Prälat der Vereinigten evangelisch-protestantischen Kirche im Großherzogthum Baden, 1853–1860: „[…] es gehört zum innersten Wesen der Kirche, ein Bekenntnis zu haben und mit voller Freudigkeit zu demselben zu stehen.“ In: Willibald Beyschlag, D. Carl Ullmann. Blätter der Erinnerung, Gotha 1867, 127. In der Vorlage des Evangelischen Oberkirchenrats der badischen Kirche über den Bekenntnisstand auf der Generalsynode 1855 heißt es: „[…] die Gemeinschaft der Gläubigen […] entsteht eigentlich erst, sie wird erst zur Kirche, indem sie dem Glauben, auf den sie sich gründet, den entsprechenden Ausdruck gibt“ (Generalsynode 1855, Bd. 1, 24). Vgl. FC-SD, Von dem summarischen Begriff, BSLK 838, 10. Vgl. auch Notger Slenzka, Der Glaube und sein Bekenntnis, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 21–38, hier 27.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

3.3

Die Textgattung „Bekenntnis“

Das soeben Dargestellte ist eine dezidiert lutherische Sicht des kirchlichen Bekenntnisses. Sie geht davon aus, dass die einzelnen in Geltung stehenden kirchlichen Bekenntnisschriften in einem harmonischen Entwicklungszusammenhang zueinander stehen. „Für die lutherische Auffassung vom Bekenntnis und den Bekenntnisschriften ist grundlegend, dass das Bekenntnis als orientierende Richtschnur für Lehre und Leben der lutherischen Kirchen fungiert.“21 Deshalb lässt sich von einem kirchenordnenden Charakter des kirchlichen Bekenntnisses sprechen.22 In der lutherischen Tradition gilt die Edition des Konkordienbuches als Abschluss des Bekenntniskanons.23 Sollte er erweitert werden, müsste zum einen erwiesen sein, dass die hinzuzunehmende Bekenntnisschrift im Einklang mit den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts das Evangelium bezeugt, zum anderen, dass sie darüber hinaus Aspekte entfaltet, die im Konkordienbuch noch nicht hinreichend entfaltet sind, aber zur Abwehr von Häresien notwendig sind.24 Der reformierte Protestantismus kennt dem gegenüber eine Vielzahl unterschiedlicher Bekenntnisse. „Die reformierte Tradition betont die Zeitgemäßheit des Bekennens, das von einer jeweiligen Partikularkirche angesichts einer konkreten aktuellen Herausforderung vollzogen wird.“25 Ihr geht es um aktuelles Bekennen. Die reformierte Tradition liegt damit dichter am populären Phänomen des Bekennens als die lutherische Tradition. „Ein dem Konkordienbuch vergleichbarer [Bekenntnis-]Kanon ist nicht vorhanden, und die verschiedenen Sammlungen reformierter Bekenntnisschriften sind eher als Dokumentation denn als Lehr- und Lebensnorm zu verstehen.“26 Die reformierte Tradition betont die Partikularität des kirchlichen Bekenntnisses. Sie drückt sich in der Revidierbarkeit und Überbietbarkeit des Bekenntnisses aus, wie es beispielsweise die Confessio Helvetica Posterior aus dem Jahr 1566 oder die Confessio Scotica in ihren Vorreden festhalten.27 Die Einsicht in die Relativität der menschlichen Erkenntnis und die damit verbundene Überbietbarkeit und Revidierbarkeit von Bekenntnistexten dürfte essentiell für ein reformiertes Bekenntnisverständnis sein. Deshalb kennt die reformierte Tradition keinen geschlossenen Kanon von Bekenntnistexten. Gleichzeitig hält sie

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Christine Axt-Piscalar, Das lutherische Verständnis von Bekenntnis und die Frage nach einer möglichen Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung durch die lutherischen Kirchen, in: KuD 57 (2011), 338–345, hier 339. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; Hendrik Munsonius, Die Funktion von Bekenntnissen in Kirchenverfassungen, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 63 (2012), 3–7, hier 4. Vgl. Axt-Piscallar, Das lutherische Verständnis von Bekenntnis (wie Anm. 21), 344. A.a.O., 341. Georg Plasger, Die Confessio Augustana als Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland? Anmerkungen und Überlegungen aus reformierter Perspektive, in: Rat der EKD, Augsburger Bekenntnis (wie Anm. 5), 94–107, hier 99 (erläuternde Ergänzung: F.M.B.). Vgl. ebd.

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aber auch am Anspruch der Universalität der jeweiligen kirchlichen Bekenntnisinhalte fest und gibt sie nicht einem historischen Relativismus preis.28 Die Differenz zwischen reformiertem und lutherischem Verständnis vom Bekenntnis liegt also darin, dass die reformierte Theologie den Aktualitätsbezug des Bekenntnisses in den Vordergrund stellt und damit seine Partikularität und historische Kontingenz betont, während die lutherische Theologie den kirchenordnenden Charakter und die Universalität der Zeiten überdauernden Einsichten der kirchlichen Bekenntnisse betont. Dabei ist aber offensichtlich, dass kirchliche Bekenntnisse aus besonderen Erfahrungen hervorgegangen sind. Das gilt schon für das Petrusbekenntnis.29 Am Text der Confessio Augustana wurde verschiedentlich gezeigt, wie er von einer Verteidigungsschrift der kursächsischen Kirchenreform zum politischen Bundesbekenntnis entwickelt wurde.30 Differenzen innerhalb der zweiten Generation der Wittenberger, aber auch der Genfer und Zürcher Reformation führten während der Zeit der Konfessionalisierung zu einem komplizierten Prozess der Interpretation der CA und ihren verschiedenen Fassungen aus den unterschiedlichen theologischen Perspektiven des protestantischen Lagers. Dabei dienen die Konkordienformel, aber auch schon die Apologie offensichtlich einem seelsorglichen Interesse: Theologische Streitfragen werden unter der Perspektive des angefochtenen Sünders behandelt, also des Menschen in einer existenziellen Krise. Theologische Lösungen müssen der Rechtfertigung des Sünders dienen.31 Die meisten kirchlichen Bekenntnisse dürften aus Krisenerfahrungen heraus entstanden sein.32 Krisen erfordern eine Vergewisserung über das Verständnis des Evangeliums. Die Reformationszeit und die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, der Kirchenkampf des 20. Jahrhunderts und die Barmer Theologische Erklärung wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis sind anschauliche Beispiele dafür.33 Krisenerfahrungen können offensichtlich die Energie freisetzen, die

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Vgl. a.a.O., 100f.; Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften 1 (wie Anm. 12), 78. Eine Fülle biblischer Bekenntnistexte trägt Martin Hengel zusammen, vgl. ders., Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 13). Vgl. exemplarisch Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften 1 (wie Anm. 12), 419f., 528. Zum Relectureprozess vgl. Jan Rohls, Die Confessio Augustana in den reformierten Kirchen Deutschlands, in: Rat der EKD, Augsburger Bekenntnis (wie Anm. 5), 59–93, 60–66; Wolf-Dieter Hauschild, Die Geltung der Confessio Augustana im deutschen Protestantismus zwischen 1530 und 1980 (aus lutherischer Sicht), in: a.a.O., 31–58. Vgl. Slenzka, Die Bedeutung des Bekenntnisses (wie Anm. 15), 25–29. Das gilt auch für die Bekenntnisse des Alten Testaments und des Judentums, vgl. Hengel, Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 13), 325 u. 328. Vgl. in Bezug auf die Barmer Theologische Erklärung und die Leuenberger Konkordie Martin Heimbucher, Bekenntnis und evangelische Einigkeit. Die Leuenberger Konkordie aus Sicht der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 92–101.

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notwendig ist, kirchliche Bekenntnisse zu formulieren. Dennoch ist die Frage nach der theologischen Gattung „Bekenntnis“ ungeklärt.34 Anschaulich wird dies beispielsweise an der Barmer Theologischen Erklärung. Sie ist in einer Krise entstanden, wie sie geradezu typisch für das Entstehen kirchlicher Bekenntnisse ist: Ein Teil der Kirche wurde durch weltliche Macht eines anderen Teils bedrängt und war zu der Überzeugung gelangt, dass dieser bedrängende Teil der Kirche die Grundlage des Evangeliums Jesu Christi (die wahre Kirche) verlassen hatte. Karl Barth, der Hauptverfasser der Barmer Theologischen Erklärung, begriff sie als ein Bekenntnis.35 In theologischen Argumentationen wird sie häufig neben der CA als Argument verwendet, erhält also faktischen Bekenntnisrang. Einige Kirchen, wie die frühere Pommersche Evangelische Kirche und heute die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland oder auch die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, nennen die Barmer Theologische Erklärung neben den lutherischen Bekenntnisschriften in den Präambeln ihrer Verfassungen. Durchgesetzt hat sich die Bezeichnung „Bekenntnis“ für die Barmer Theologische Erklärung jedoch nicht. Oftmals wird sie als „Zeugnis im Bekenntnisrang“ bezeichnet. Aber ist das wirklich etwas anderes als ein Bekenntnis?36 Die alte Konkurrenz zwischen lutherischem und reformiertem Bekenntnisverständnis scheint die Klärung der Gattungsbezeichnung „Bekenntnis“ zu blockieren. 3.4

Die lehrende Funktion des Bekenntnisses

Entfaltet nach lutherischem Verständnis das kirchliche Bekenntnis den Glauben der Kirche, dann erfüllt es offensichtlich auch eine lehrende Funktion. Für eine Unterscheidung von Lehre und Bekenntnis sind drei unterschiedliche hermeneutische Ebenen zu differenzieren: 1. die Aussagen der Bibel, auf die sich der Glaube der Kirche bezieht,37 2. das kirchliche Bekenntnis und 3. die kirchliche Lehre in ihrer populären und akademischen Gestalt (Predigten, Katechesen, literarische Darstellungen, Lehrbücher u. ä.). Lehre und Bekenntnis liegen dicht beieinander.38 Anders als das kirchliche Bekenntnis muss die Lehre aber nicht bei Konsensformeln stehen bleiben. Sie hat

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Vgl. auch Friedrich Weber, Bekenntnis und Bekennen. Die Barmer Theologische Erklärung und die Confessio Augustana als die evangelischen Kirchen verbindende Bekenntnisse, in: KuD 56 (2010), 323–330, 329. Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Tex2 ten, München 1976, 258. Vgl. Walter Fleischmann-Bisten, „Barmen“ als Bekenntnis innerhalb der EKD. Konfessionskundliche Aspekte und Konsequenzen, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 63 (2012), 8–11. Die neutestamentlichen Bekenntnistexte haben diesen Referenzpunkt häufig in alttestamentlichen Texten.

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

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vielmehr die Aufgabe, die Formulierungen des kirchlichen Bekenntnisses mit Rückbezug auf die Schrift argumentativ zu entfalten und zeitgemäß auszulegen. Kirchliche Lehre muss das, wozu sich die Kirche bekennt, unter den Verstehensbedingungen ihrer jeweiligen Zeit verständlich machen. Dabei bedienen sich die Vermittler der kirchlichen Lehre sowohl der kirchlichen Bekenntnisformulierungen als auch Lehrvorträgen und Lehrbüchern, Predigten, Liedern, Agenden und vielem mehr.39 Autorität und Verbindlichkeit kommen dem kirchlichen Bekenntnis insofern zu, als es die Wirklichkeit Gottes bezeugt. Referenzpunkt für dieses Zeugnis sind die biblischen Schriften. Aber auch ihnen kommen Autorität und Verbindlichkeit nur insofern zu, als sie die Wirklichkeit Gottes bezeugen. Das Bekenntnis hat seine Autorität und Verbindlichkeit insofern, als es mit der Schrift übereinstimmt.40 Die Schrift ist im Blick auf Bekenntnis und Lehre normierende Norm, die norma normans. Das Bekenntnis ist normierte Norm, die norma normata.41 In begründungstheoretischer Hinsicht ist die Bibel als Heilige Schrift dem kirchlichen Bekenntnis vorgeordnet. In hermeneutischer Hinsicht ist das Bekenntnis der Heiligen Schrift vorgeordnet: Das kirchliche Bekenntnis legt die biblischen Schriften aus und ist von der Kirche als richtige Auslegung der biblischen Schriften anerkannt.42 Es gehört zur Lehrfunktion des kirchlichen Bekenntnisses, das Verständnis und die Auslegung der Heiligen Schrift zu lenken. Das kirchliche Bekenntnis weist das Evangelium von der sich dem Menschen schenkenden Liebe Gottes als Mitte der Heiligen Schrift aus. Auch wenn man – wie in reformierter Tradition – jedes kirchliche Bekenntnis für überbietbar hält, behält es seine hermeneutische Funktion im Blick auf die Bibel. Wie in den christlichen Kirchen die Bibel gelesen und gemäß ihrer Bekenntnisse verstanden worden ist, ist ein nicht zu hintergehender

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Für die Verbindung der Bekenntnisformeln mit Lehre und Predigt im Neuen Testament vgl. Hengel, Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 13), 337f. „Zur Lehre zählt alles christliche Sprachhandeln, dessen Gegenstand das Heilsgeschehen der Offenbarung des Schöpfers in Jesus Christus durch den Heiligen Geist ist – unbeschadet der mannigfaltigen funktionsspezifischen Ausgestaltungen, die dieses Sprachhandeln etwa in Bekenntnis, im Hymnus, in der Unterweisung der Glaubenden, in der missionarischen Rede an die Heiden, in der philosophisch-argumentativen Apologie, in der schulmäßigen Schriftexegese oder im dogmatischen Diskurs erfahren hat“ (Eilert Herms, Die Lehre im Leben der Kirche, in: ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 119–156, hier 121, vgl. a.a.O., 137. Der Konflikt zwischen Pietismus und lutherischer Spätorthodoxie, ob den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften Autorität und Verbindlichkeit zukomme, weil sie mit der Heiligen Schrift übereinstimmen (Spätorthodoxie) oder soweit sie mit ihr übereinstimmen, weist auf einen statischen Wahrheitsbegriff der Spätorthodoxie, der die Dynamik geschichtlicher Wahrheitserweise nicht darzustellen vermag. Vgl. Härle, Bekenntnis (wie Anm. 8), 1261. Vgl. Thomas Kaufmann, Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ZThK 105 (2008), 281–314, hier 85f., der diesen Gedanken für die Wittenberger Reformatoren dar4 stellt; sowie Wilfried Härle,:Dogmatik, Berlin/New York 2012, 150–155; ders., Bekenntnis (wie Anm. 8), 1261.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Kontext kirchlicher Bibelhermeneutik.43 Die lehrende Funktion des Bekenntnisses weist darauf hin, dass sich die Kommunikation des Evangeliums nicht automatisch aus der Konfrontation mit biblischen Texten ergibt, sondern dass hierfür hermeneutische Hilfestellungen nötig sein können.44 Wenn das kirchliche Bekenntnis den biblischen Schriften, auf die es sich bezieht, hermeneutisch vorgeordnet ist, können aber für die Interpretation der Aussagen des Bekenntnisses keine anderen Interpretationsregeln gelten als die, die das Bekenntnis selbst für die biblischen Schriften fordert.45 Die reformatorische Tradition hat diese Regeln auf die sogenannten reformatorischen Prinzipien sola scriptura, solus christus, sola gratia und sola fide gebracht.46 Allein die biblischen Schriften bezeugen verbindlich, woran der Mensch glauben soll. Allein auf Christus bezieht sich der christliche Glaube und von ihm her ist die Schrift zu interpretieren. Allein aus Gottes Gnade findet der Mensch zur Seligkeit. Seine Seligkeit findet der Mensch alleine durch und alleine im Glauben. Wie aber ist das Verhältnis von Universalität und Kontextualität des kirchlichen Bekenntnisses zu bestimmen?

4. 4.1

Kontextualität und Universalität des kirchlichen Bekenntnisses Universales in konkreten Kontexten

In dem Anspruch, zu entfalten, was immer schon Glaube der Kirche ist, liegt der ökumenische Charakter des kirchlichen Bekenntnisses. Das impliziert, in negativer Hinsicht Abgrenzungen gegen Lehren zu treffen, die nicht mit dem Glauben der Kirche übereinstimmen oder diesem sogar widersprechen.47 Auch und gerade in dieser streitbaren Form zeigt sich das Bekenntnis als Lebensäußerung des Glaubens und der Kirche. Die Kontextualität kirchlicher Bekenntnisse zeigt sich unter anderem in den Polemiken einzelner Bekenntnisformulierungen. Um des angemessenen Verständnisses von Bekenntnistexten willen, dürfen sie nicht losgelöst von ihrem historischen Kontext interpretiert werden. Kirche und kirchliche Bekenntnisse sind immer 43

44 45

46 47

Slenzka nennt deshalb das Bekenntnis einen „Schlüssel zur Schrift“, vgl. ders., Die Bedeutung des Bekenntnisses (wie Anm. 15), 21; ders., Die Bekenntnisschriften als Schlüssel zur Schrift, in: ders., Der Tod Gottes und das Leben des Menschen, Göttingen 2003, 65–89. Vgl. Slenzka, Die Bedeutung des Bekenntnisses (wie Anm. 15), 23. Vgl. Härle, Dogmatik (wie Anm. 42), 157–159. Das gilt auch schon deshalb, weil etliche biblische Passagen Bekenntnischarakter haben und der Tradierungsprozess der biblischen Schriften einen Bekenntnischarakter aufweist, vgl. Hengel, Bekennen und Bekenntnis (wie Anm. 13), 315f. 3 Vgl. Notger Slenczka, Reformatorische Prinzipien, in: EKL Bd. 3 (1992), 1503f. Vgl. Härle, Bekenntnis (wie Anm. 8), 1260; Dietrich Pirson, Evangelisches Kirchenrecht und Bekenntnis, in: ZevKR 47 (2002), 173–196, hier 177.

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

199

historisch kontextuell. Das ändert nicht den universalen Charakter der christlichen Kirche. Beispielhaft ist das Verhältnis von kirchlicher Kontextualität und kirchlicher Universalität im siebten Artikel der Augsburger Konfession erfasst. „Item docent, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.“48 Wo das Evangelium unverfälscht gepredigt und die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß gereicht werden, findet ein christlicher Gottesdienst statt. Nach CA VII ist die „[p]rototypische Realisierungsgestalt von Kirche […] die konkrete, um Wort und Sakrament versammelte Gottesdienstgemeinde der Gläubigen. In ihr subsistiert die Kirche Jesu Christi nicht nur, sie ist (est) Kirche im eigentlichen und vollen Sinn des Begriffs.“49 Die Kirche hat ihr Wesen nicht in einer überzeitlichen, präexistenten oder quasi-platonischen Form. Sie hat ihr Wesen in der konkreten Gestalt einer bestimmten Erscheinung von Kirche. Kirche ist ihrem Wesen nach historisch kontextuelle Gottesdienstgemeinde, die sich um das Evangelium von Jesus Christus versammelt. Darin liegt die Gemeinschaft „aller Glaubigen“, die Universalität der Kirche.50 Die Kontextualität prägt notwendig die Lebensäußerungen der Kirche, insbesondere die kirchliche Lehre in ihren verschiedenen Formen. Das bedeutet zum einen, dass sich der jeweilige Zeitgeist in Predigten, Liedtexten, Lehrdokumenten und auch Bekenntnisformulierungen wiederfindet, sowohl in der Weise, wie er aufgenommen, als auch, wie er abgelehnt wird. Zum anderen ist mit der Kontextualität eine spezifische Perspektivität kirchlicher Lebensäußerungen gegeben. Das Wesen der Kirche ist daher nie allumfänglich in ihren Lebensäußerungen präsent. Es zeigt sich in den kirchlichen Lebensäußerungen bestenfalls so, wie es angesichts der Herausforderungen in der jeweiligen Zeit erfasst werden kann. Die historische Relativität der Lebensäußerungen der Kirche führt daher auch zu einem eklektischen Umgang mit früheren Lebensäußerungen. Das ließe sich exemplarisch an dem Umgang mit kirchlicher Tradition anlässlich kirchlicher Jubiläen zeigen51 oder an der Bezugnahme auf Bekenntnistexte in kirchlichen Erklärungen.

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49

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„Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden“ (CA VII, BSLK, 61). Gunther Wenz, Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis: Eine Stellungnahme zum Votum der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche Deutschland zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen, in: Ökumenische Rundschau 51 (2002), 353–366, hier 356; vgl. ders., Die Confessio Augustana als evangelisches Grundbekenntnis? Ein Beitrag zur Strukturdebatte der EKD, in: Rat der EKD, Augsburger Bekenntnis (wie Anm. 5), 19–30, hier 21. Vgl. a.a.O., 21f. Vgl. exemplarisch Johannes Hund, Das konfessionelle Erweckungserlebnis August Friedrich Christian Vilmars im Kontext des Augustana-Jubiläums von 1830, in: LuThK 34 (2010), 11–34.

200

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

4.2

Das Problem der Heterogenität kirchlicher Bekenntnisse

Es ist weithin bekannt, dass die Geschichte der Christenheit kirchliche Bekenntnisschriften hervorgebracht hat, die sich nicht harmonisieren lassen. Wenn nun aber dem kirchlichen Bekenntnis der Anspruch zu eigen ist, auszusagen, was immer schon Glauben der Kirche ist, wie ist dann mit konkurrierenden Bekenntnisaussagen umzugehen? Zeigt sich in konkurrierenden Bekenntnisaussagen lediglich der eschatologische Vorbehalt, unter dem alles Reden von der Wirklichkeit Gottes steht?52 Begreifen sich die Partikularkirchen als Erscheinungsgestalten der einen Kirche Jesu Christi, folgt aus konkurrierenden Bekenntnisaussagen die ökumenische Aufgabe, mit dem Ziel von kirchlicher Gemeinschaft über die inhaltlichen Differenzen zwischen ihren Bekenntnissen das theologische Gespräch zu pflegen und neue Übereinstimmungen zu suchen. Eine Möglichkeit dazu bietet der schon zitierte siebte Artikel der Augsburger Konfession. Er erklärt, „ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“53. Die Behauptung der Notwendigkeit einheitlicher kirchlicher Zeremonien wird explizit zurückgewiesen. Es wird in CA VII auch kein Einheitsbekenntnis oder ein einheitlicher Bekenntniskanon zur sichtbaren Einheit der Kirche gefordert, der mit den drei altkirchlichen Bekenntnissen 1530 ohnehin gegeben war. Da der Begriff „doctrina“ („Lehre“54) weiter gefasst ist als Bekenntnis, ist also eine kirchliche Konsensfindung auf der Ebene von Lehrerklärungen möglich, die die Konkurrenz geschichtlich gebildeter Bekenntniskanones aber nicht aufheben. Allerdings beginnt der Dissens häufig schon bei der Definition dessen, was unter Konsens zu verstehen ist. Melanchthon hielt die CA vermutlich selbst für die Explikationsgestalt jenes Konsenses, den Artikel VII als notwendige und hinreichende Grundlage von Kirchengemeinschaft benennt.55 Mit der Leuenberger Konkordie wurde ein relativ erfolgreiches Modell für einen Konsens zwischen lutherischer und reformierter Theologie auf der Ebene einer Lehrerklärung etabliert. Sie unterscheidet sich von den kirchlichen Bekenntnisschriften in ihrem Gegenstand. Der Gegenstand von Bekenntnisschriften ist das Glauben schaffende Geschehen und seine theologische Explikation. „Der Gegenstand der Leuenberger Konkordie aber ist die Vielzahl der in den Grundordnungen der beteiligten evangelischen Kirchen als gemäß ihrer unterschiedlichen Traditionen im Konsens bejahten Grundlagen52

53

54 55

Den eschatologischen Vorbehalt betont Horst Georg Pöhlmann, Sinn und Zweck von kirchlichen Bekenntnissen, in: ders./Torleiv Austad/Friedhelm Krüger, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Gütersloh 1996, 25–30. „[…] dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden“ (CA VII, BSLK, 61). Der Begriff schließt verschiedene Lehrgestalten einschließlich der gottesdienstlichen Verkündigung ein. Vgl. Wenz, Die Confessio Augustana (wie Anm. 49), 22.

Die ekklesiologische Dimension eines kirchenspezifischen Handlungszusammenhangs

201

texte und deren Verhältnis zum Grund und Gegenstand des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft.“56 Kritisiert wird an Konsensformeln gerne, dass unklar sei, ob sie frühere Dissense tatsächlich klären oder lediglich ein tertium comparationis darstellen, auf das sich alle Parteien ohne Gesichtsverlust einigen können. In diesem Sinn kritisiert die römisch-katholische Theologin Silvia Hell an den Formulierungen zum Abendmahl der Leuenberger Konkordie: „Die Formulierung ist so weit gehalten, dass jede Tradition das Ihre darunter verstehen kann, ohne sich sachlich den damit verbundenen Differenzen zu stellen. Die zwei in der Konkordie enthaltenen Lehrgestalten, nämlich somatische und pneumatische Realpräsenzlehre, werden einfach nebeneinander belassen. Deren Kompatibilität wird im Text der Konkordie nicht dargestellt und begründet.“57 Diese Schwäche der Konkordie ist in der ökumenischen Theologie inzwischen methodisch eingeholt. „Versöhnte Verschiedenheit“ und „differenzierter Konsens“ sind heute die termini technici für ökumenische Gespräche zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen.58 Allerdings: Das Verhältnis von Kontextualität und Universalität kirchlicher Bekenntnisaussagen lässt sich unter historischen Bedingungen vermutlich niemals spannungsfrei fassen. Insofern stehen kirchliche Bekenntnisaussagen unter dem eschatologischen Vorbehalt. Da die Kontextualität kirchlicher Bekenntnistexte und Lehrerklärungen unhintergehbar ist, ist dieser beklagenswerte Sachverhalt hinzunehmen. Kirchliches Bekennen war vermutlich immer schon eine Relecture historischer Bekenntnisse unter neuen Gesichtspunkten. Zu betonen ist aber: Die Kirche wie auch Kirchengemeinschaft „wird durch die geistliche Wirksamkeit des Evangeliums selbst geschaffen“59. Aufgabe der verfassten Kirchen ist es, die durch das Evangelium gewirkte Gemeinschaft zu ratifizieren, d. h. sie theologisch verantwortet zu erklären und geordnet zu praktizieren. Werden in einer Kirchenverfassung Bekenntnisschriften genannt, die in einem theologisch heterogenen Verhält56 57

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59

Beratendes Votum (wie Anm. 16), 13. Silvia Hell, Welche Einheit wollen wir? In: Evangelische Theologie 68 (2008), 347–365, hier 352. Weiter zuspitzen lässt sich diese Kritik auf die Offenheit der Frage nach der Möglichkeit einer manducatio indignorum, also darauf, ob auch diejenigen, die nicht an Christus glauben und daher das Abendmahl unwürdig empfangen würden, bei der Austeilung des Abendmahls Leib und Blut Christi empfangen, vgl. Werner Klän, Bekenntnis und Sakramentsgemeinschaft – Anfragen an die Tragfähigkeit des Modells der „Leuenberger Konkordie“ aus konkordienluthericher Sicht, in: ders./Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 74–91, hier 83f. Vgl. zu dieser hermeneutischen Methode der Studie „Lehrverurteilungen kirchentrennend?“ Karl Lehmann, Ist der „Schritt zurück“ ein ökumenischer Fortschritt? Einführung in die Methodik und Hermeneutik der Untersuchungen, in: ders. (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. 2: Materialien zu den Lehrverurteilungen und zur Theologie der Rechtfertigung, Freiburg im Breisgau/Göttingen 1989, 32–58; Harding Meyer, Die Struktur ökumenischer Konsense, in: ders., Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, Bd. 1, Frankfurt/Paderborn 1998, 60–74. Beratendes Votum (wie Anm. 16), 14.

202

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

nis zueinander stehen, sind Auslegungsgrundsätze zu benennen, die diese Heterogenität handhabbar machen. 4.3

Kirchengemeinschaft

Klassischerweise wird Kirchengemeinschaft als Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft verstanden. So definiert auch die Leuenberger Konkordie Kirchengemeinschaft.60 Gemeinschaft besteht zwischen Partikularkirchen allerdings auch auf anderen Ebenen. Es besteht eine weitreichende Gemeinschaft im Beten des Vaterunsers und im Bekennen des Apostolikums. Auch in anderen Handlungsinstitutionen wird Gemeinschaft zwischen verschiedenen Partikularkirchen sichtbar: in Freundschaften, Patenschaften und Ehen, in gemeinsamen Gottesdiensten, diakonischen Werken und anderen Kooperationen. Kirchengemeinschaft vollzieht sich also auf unterschiedlichen Ebenen. Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft sind die intensivste Form von Kirchengemeinschaft, weil sie den Bereich der Kirche betreffen, der ihr Wesen ausmacht: die Verkündigung des Evangeliums. Und dennoch ist Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen bekenntnisverschiedenen Partikularkirchen im Blick auf die Bekenntnisschriften und ihre theologischen Aussagen eine teilweise verborgene Gemeinschaft. Was wie ein Mangel aussieht, korrespondiert aber insofern mit der wahren Kirche Jesu Christi, als an dieser ebenfalls verborgene und sichtbare Kirche ekklesiologisch zu unterscheiden sind und die wahre Kirche nicht deckungsgleich mit der sichtbaren Kirche ist. Die Frage ist also nicht vollständig geklärt, was Kirchengemeinschaft gemäß der Leuenberger Konkordie ist. Obwohl es offensichtlich um „die Gemeinschaft konfessionsverschiedener Kirchen zum Zwecke gemeinsamen Bekennens und Handelns“61 geht, verändert solches gemeinsame Bekennen nicht die Bindung an die jeweiligen Bekenntnisschriften. „Die Leuenberger Konkordie ist kein Unionsbekenntnis und will kein Unionsbekenntnis sein.“62 Ziel dieser Kirchengemeinschaft ist es nicht, bewährte kirchliche Bekenntnisse außer Geltung zu setzen, sondern das gemeinsam zu bekennen, was für das gemeinsame Handeln von Bedeutung ist. Insofern Kirchengemeinschaft nach dem Leuenberger Modell Bekenntnischarakter hat, ist sie Bekenntnis im Sinne der reformierten Tradition. Wenn nun die Leitung einer Partikularkirche, wie die Selbständige EvangelischLutherische Kirche, Kirchengemeinschaft nach dem Leuenberger Modell ablehnt, weil sie der Leuenberger Konkordie (entgegen deren Selbstverständnis) Bekenntnischarakter zumisst, artikuliert sie damit implizit den Zweifel, ob es sich bei den Unterzeichnerkirchen der Konkordie tatsächlich um Erscheinungsgestalten der 60

61 62

Vgl. Leuenberger Konkordie, http://www.leuenberg.eu/de/node/684 [Stand: 3.6.2013], 33 sowie Theodor Dieter, Die reformierte und die lutherische Bekenntnistradition und die Leistungsfähigkeit der Leuenberger Konkordie, in: Lutherische Kirche in der Welt 59 (2012), 19–35. Wenz, Kirchengemeinschaft (wie Anm. 49), 24. A.a.O., 25.

Summary

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einen Kirche Jesu Christi handelt.63 Dieser Zweifel wird genährt aus dem universalen Charakter kirchlicher Bekenntnisse. Er sollte jedoch durch den eschatologischen Vorbehalt, unter dem die Konkurrenz kirchlicher Bekenntnisaussagen steht, begrenzt werden. Wird nun aber Kirchengemeinschaft zwischen bekenntnisverschiedenen Partikularkirchen auf Grundlage der Leuenberger Konkordie praktiziert, zeigt sich deren indirekter Bekenntnischarakter: Indem die beteiligten Kirchen Kirchengemeinschaft auf Grundlage der Leuenberger Konkordie praktizieren, bekennen sie sich zu den Lehraussagen der Konkordie. Insofern ist es schlüssig, wenn die Unterzeichnerkirchen der Leuenberger Konkordie diese in ihren Verfassungen als Anhang zum Bekenntniskanon aufnehmen.

Summary The specific dimensions of church activity in the realm of professing and the forming of confessions is described using a phenomenological method. It starts with the premise that individuals profess, it examines confession as an institutional act, and accordingly highlights the differences in the understanding of confession in the Lutheran and the Reformed traditions. Church confessions describe theological aspects which define the identity of a church. They are determined theologically by biblical statements about God and mankind. They are the result of the church’s mandate to preach the gospel. Not only individuals profess, but also the church itself. Since the confessions of the church contain theological statements about the nature of the church and the church itself is the subject of professing, we have a hermeneutic circle: without a confession, we cannot describe what a church is; without a description of what a church is, we cannot explain what a confession is. Confessions of a church are marked by the historical context in which they were conceived (particularism) and their claim that they address the nature of Christian faith and of the church (universalism). The Lutheran tradition lays emphasis on universalism and therefore on the authority of the church confession whereas the Reformed tradition stresses the particularity of church confessions which require revision and can be surpassed. Since both traditions have their own collections of confessions at their command, which vary greatly from one another, it is not possible to reconcile the Lutheran and the Reformed understanding of confession. Because church confessions are self-referencing, their interpretation can only follow the same hermeneutic rules which they apply to Holy Scripture (sola scriptura, solus christus, sola gratia and sola fide). According to AC VII church fellowship

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Die Geschichte der lutherischen Separationen im 19. Jahrhundert zeigt, dass genau dieser Zweifel und oftmals auch der Eindruck, die eigene Kirche sei nicht mehr wahre Kirche Jesu Christi, die Ursache für die Trennungen war. Vgl. exemplarisch meine Arbeit: Union oder Separation (wie Anm. 13).

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

can be founded on the basis of doctrinal consensus and therefore a common confessional canon is not a prerequisite for church fellowship. The practice of church fellowship, however, assumes the character of a confession indirectly. Church fellowship is the product, as is the church itself, of the spiritual efficacy of the gospel. As far as the concurrent nature of confessional statements is concerned, eschatological reserve is appropriate.

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung Andrea Grünhagen

Dimensionen und Funktionen von Akt und Status Auf den ersten Blick ist es keine Frage: Bekennen hat auch noch im heutigen kirchlichen Sprachgebrauch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Aufschlussreich ist eine Betrachtung des Wortfeldes: Es gibt Bekenntnisschulen, Bekenntnisgemeinschaften, Bekenntnisschriften, bekennende Christen, der Bekenntnisfall tritt ein, es gibt die „Bekenner“ in der Alten Kirche als Fachterminus, die Bekenner von Augsburg, es gab eine Bekennende Kirche und es gibt Bekenntniskirchen. Würde man dieses Spiel nun um den Begriff „Konfession“ erweitern, ließe es sich noch lange fortsetzen. Es ist also offensichtlich nicht die Frage, dass etwas bekannt wird, sondern was denn da bekannt wird. Ja, man könnte sogar so weit gehen, den Akt des Bekennens als solchen zu würdigen. Ein Beispiel wäre dafür meines Erachtens die Verleihung des Preises der Lutherstädte „Das unerschrockene Wort“.1 An diese zunächst noch spielerische Überlegung schließt sich des Weiteren die Frage an: was meinen wir, wenn wir Bekenntnis sagen? Meinen wir in unseren je unterschiedlichen Kontexten vielleicht etwas ganz anderes? Und ist ein Bekenntnis mehr durch den Akt im Sinne einer situativ hervorgerufenen Selbstkundgabe bestimmt („Bekennen“) oder durch den Inhalt, der u. U. in einem langen Prozess von theologischen Klärungen und Lehrentscheidungen formuliert wurde?

1.

Corpus Doctrinae oder spontane geistgewirkte Äußerung?

Für den Kontext der SELK lässt sich meiner Beobachtung nach konstatieren, dass der Begriff „Bekenntnis“ in erster Linie vom Corpus Doctrinae der Bekenntnisschriften lutherischer Reformation, wie sie im Konkordienbuch von 1580 vorliegen, gehört und verwendet wird. Es wäre allerdings verfehlt, wollte man davon ausgehend einen vermeintlichen Gegensatz zu anderen Ansätzen konstruieren, die den 1

Dieser Preis wird an Personen verliehen, „die in einer besonderen Situation oder bei einem konkreten Anlass, aber auch beispielhaft über einen längeren Zeitraum hinweg, in Wort und Tat für die Gesellschaft, die Gemeinde oder den Staat bedeutsame Aussagen gemacht und gegenüber Widerständen vertreten haben“ (Statut für die Preisvergabe §1, nach: http://www.worms.de/deutsch/ kultur/Lutherpreis/preisstatut.php [Stand: 08.08.2013]).

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Vorgang, also das Bekennen, oder die das Bekenntnis erfordernde Situation oder die Person des Einzelnen, der ein Bekenntnis ablegt, stärker fokussieren. Das Zerrbild einer spontanen geistgewirkten Äußerung persönlichen Glaubens contra einer abstrakten schriftlich fixierten Lehrnorm entspricht der Realität weder systematisch-theologisch noch kirchenhistorisch.2 Die Rede vom Aktualbekenntnis im Kontrast zum statuarischen Bekenntnis reißt meines Erachtens etwas auseinander, das der Sache nach immer zugleich gegeben ist. Damit stellt sich nun die Frage, in welchem Punkt die genannten Scheinalternativen zusammenfallen? Ein meines Erachtens überzeugender Hinweis auf die Beantwortung dieser Frage in lutherischer Tradition findet sich in der Konkordienformel kurz vor der Stelle, an der die Verfasser ihre Unterschrift unter das Dokument leisten. Sie reflektieren an dieser Stelle ihr eigenes Tun und halten fest: „derwegen wir uns vor dem Angesichte Gottes und der ganzen Christenheit bei den Itzlebenden und so nach uns kommen werden, bezeugt haben wollen, daß diese itztgetane Erklärung von allen vorgesetzten und erklärten streitigen Artikeln und kein anders, unser Lehr, Glaub und Bekenntnis sei, in welcher wir auch durch die Gnade Gottes mit unerschrockenem Herzen vor dem Richterstuhl Jesu Christi erscheinen und deshalb Rechenschaft geben, darwider auch nichts heimlich noch öffentlich reden oder schreiben wöllen, sunder vermittelst der Gnaden Gottes darbei gedenken zu bleiben […].“3

2.

Verschiedene Dimensionen des Bekenntnisses

Das genannte Zitat bietet eine Zusammenfassung dessen, was über die verschiedenen Dimensionen des Bekenntnisses aus lutherischer Sicht zu sagen ist. 1. Das Bekenntnis wird abgelegt, wie es der lateinische Text sagt4: In conspectu Dei – coram tribunali Iesu Christi. Es ist also ein Vorgang, der mit höchster Ernsthaftigkeit erfolgt, ja mit letztem Ernst und letzter Konsquenz. Nicht nur vor dem Angesicht Gottes verantworten wir unsere Lehre und unseren Glauben, das ist ja generell von all unserem Tun auch in dieser Zeit und Welt auszusagen, sondern auch im Horizont des Jüngsten Gerichtes. Dies ist quasi die eschatologische Dimension des Bekennens. Vordergründig bedeutet dies, dass man heute nichts lehren sollte, was man sich vor dem Richterstuhl Christi nicht zu verantworten getraut. Auf einer tieferen Ebene weist diese Aussage aber darauf hin, dass der Inhalt des Bekenntnisses 2

3 4

Hier wäre beispielsweise die Augsburgische Konfession zu nennen, die persönliches, durch Unterschrift bezeugtes Bekenntnis Einzelner aus einem konkreten Anlass (Verantwortung auf dem Reichstag) und gleichzeitig sorgfältig vorbereitete Argumentation und schließlich dogmatisches Grunddokument ist. FC-SD XII 40, BSLK 1099f. Ebd.

Dimensionen und Funktionen von Akt und Status

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nicht nur allgemein Christus ist, das gilt von jedem christlichen Bekenntnis, dass es Christusbekenntnis ist, sondern dass es Bekenntnis der Rechtfertigungslehre ist. Diese ist eben nicht eine abstrakte Lehre, sondern persönliche Heilsgewissheit, also der Glaube, der den Sünder im letzten Gericht rettet. Um diesen Hauptartikel5, den man auch „articulus stantis et cadentis ecclesiae“ genannt hat,6 gruppieren sich alle Aussagen der lutherischen Bekenntnisschrift in konzentrischen Kreisen. 2. Das Bekenntnis wird abgelegt: coram tota ecclesia. Hier kommt nun ein hoher Anspruch zutage, den die Konkordienformel an sich selbst und die übrigen Bekenntnisse der lutherischen Reformation als Lehrzeugnisse stellt. Es wird bekräftigt: Es sind keine Sonderlehren, keine neuen und eigenen Ideen, sondern unsere Aussagen erfolgen innerhalb des magnus consensus ecclesiae7. Es ist also die Behauptung der Katholizität und auch der Tatsache, dass es sich nicht um Privatmeinungen Einzelner handelt, wiewohl die Schmalkaldischen Artikel beispielsweise zuerst und real Luthers persönliches Glaubenszeugnis waren. So fällt also das persönliche Glaubenszeugnis, also der Vorgang des Bekennens mit der Entstehung eines Bekenntnisses, das kirchliche Geltung besitzt, zusammen. Dies ist die kirchliche Dimension des Bekennens. 3. Das Bekenntnis gilt: nunc et aliquando in posteritate. Hier kommt nun die zeitliche Dimension des Bekennens ins Spiel. Die Tatsache, dass jemand ein Bekenntnis ablegt in dem Bewusstsein, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Nachkommen zu sprechen, wäre es wert, noch viel mehr bedacht zu werden. Welch eine Behauptung von inhaltlicher Kontinuität und unveränderlicher Geltung wird da erhoben! Und dies in beide Richtungen, in die Zukunft für die später Lebenden bis zum Horizont des Jüngsten Tages und natürlich auch rückwärts. „Denn sie singen, sagen, wie viel, was und wie lange sie wollen, so wissen wir eigentlich das und sinds fürwahr gewis, daß wir christlich und recht lehren, und mit der gemeinen christlichen Kirchen gleich stimmen und halten“8, schreibt Melanchthon in der Apologie. Dies ist ja die immer wieder zu beobachtende Argumentation, die sich auf die Zitate der Kirchenväter stützt und nicht nur aus politischem Kalkül beweisen will, dass die getroffenen Aussa-

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6

7 8

„Hie ist der erste und Häuptartikel […] Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden oder was nicht bleiben will […] Und auf diesem Artikel stehet alles, was wir wider den Babst, Teufel und Welt lehren und leben“ (ASm II/1, BSLK 415f.). Friedrich Loofs, Der articulus stantis et cadentis ecclesiae, ThSt 90 (1917), 323–420. Dazu: Harding Meyer/Heinz Schütte (Hg.), Confessio Augustana – Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn/Frankfurt/M. 1980, 106ff. CA I, BSLK 50. ApolCA II, BSLK 157.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

gen in Kontinuität zur Lehre der Kirche stehen. Dem dient beispielsweise auch die Anfügung des Catalogus testimoniorum. Das oben genannte Zitat vom Ende der Konkordienformel weist noch auf eine weitere Dimension hin. Unsere Überlegungen drehen sich ja um die Frage, wie eigentlich der Vorgang des Bekennens mit den „Bekenntnissen“ in einem Punkt zusammenfallen kann. Und da kommt meines Erachtens die persönliche Dimension des Bekenntnisses zum Tragen. Dass es eine solche tatsächlich und nicht nur als Postulat gibt, ist sicher nicht immer der Erfahrung zugänglich, bzw. ist eine zu bewältigende Aufgabe.

3.

Kongruenz von Glaube, Lehre und Bekenntnis

Lehre, Glaube, Bekenntnis sind die Stichworte, die fallen. Wir glauben, lehren und bekennen, so beginnen die Affirmativa der Konkordienformel. Ich möchte die These in den Raum stellen, dass dies sachlich nichts anderes meint als das πιστεύομεν des Nicaeno-Constantinopolitanums oder das „Credo“ des Apostolikums. In dem Sinne, dass für den Einzelnen – und hier ist vielleicht wirklich zunächst der Theologe zu denken –, seine Lehre keine andere ist als sein Glaube, und beides nicht anderes als das Bekenntnis der Kirche. Alle drei Vollzüge, wobei bei Lehre im reformatorischen Sinn nicht zuletzt an die Predigt zu denken ist, sind nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie müssen sich entsprechen – nicht nur um des öffentlichen Zeugnisses, sondern um der Integrität der Person willen. In dieser Weise erlangt das Bekenntnis dann auch kirchenformierende Bedeutung, es wird Fixpunkt von kirchlicher Erfahrung. In der Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen hat sich in diesem Zusammenhang die Überzeugung entwickelt und ist immer wieder eingefordert worden, dass die Bekenntnisse einer Kirche nur ernstzunehmende Fixpunkte sein können, wenn sie auch de facto gelten, der Bekenntnisstand einer Kirche also nicht ein de jure vorhandenes Element der Tradition, sondern maßgeblich für die Vollzüge kirchlichen Lebens ist. Diese Argumentation wurde für die Vorgängerkirchen der heutigen SELK besonders bedeutsam, die auf dem Gebiet lutherischer Landeskirchen entstanden sind. Und es liegt auch in der Geschichte der Vorgängerkirchen der heutigen SELK begründet, dass sie diesen Anspruch in Bezug auf die öffentliche Wortverkündigung und davon nicht zu trennen (CA V) das Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung auf die gottesdienstliche Liturgie, auf die theologische Lehre und Forschung und auf kirchliches Recht in diversen Konflikten haben klären und auch für sich selbst durchdeklinieren müssen. Und darum ist es uns wichtig, ein hoher Anspruch und eine bleibende Aufgabe. In diesem Verständnis, das manchen als ein zu starres, nur um sich selbst kreisendes unhinterfragbares System erscheinen mag, liegt aber auch eine große Chance, nämlich die eines nicht nur in sich stimmigen Raumes, in dem der Einzel-

Dimensionen und Funktionen von Akt und Status

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ne glauben, denken und reden kann. Diesen Raum betreten zu wollen, vererbt sich allerdings nicht automatisch. Auch kann die faktische Geltung eines Bekenntnisses nicht einfach postuliert werden. Sie ist vielmehr begründet und wirksam nur in ihrer Rückbindung an die Heilige Schrift. Diese Rede von der „ecclesia semper reformanda“, wenn man denn lutherischerseits davon reden möchte, ist darum nicht als Verpflichtung zu verstehen, in regelmäßigen Abständen neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen und Änderungen vorzunehmen, sondern zur beständigen Kurskorrektur anhand der Grundurkunde des Glaubens.9

4.

Norma normans und norma normata

Bekenntnis ist zunächst einmal Auslegung und Zusammenfassung der Bibel. So hat Luther im Großen Katechismus behauptet, dass derselbe „der ganzen heiligen Schrift kurzer Auszug und Abschrift ist“10. Das Bekenntnis ist darüber hinaus aber auch Schlüssel zum sachgerechten, d. h. nicht zuletzt christuszentrierten Verständnis der Heiligen Schrift. So hält die Konkordienformel fest: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes […]“11 (norma normans). „Die andere Symbola aber und angezogene Schriften sind nicht Richter wie die heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die heilige Schrift in streitigen Artikuln in der Kirchen Gottes von den damals Lebenden vorstanden und ausgelegt, und derselben widerwärtige Lehr vorworfen und vordampt worden“12 (norma normata). Interessant ist, dass an dieser Stelle quasi eine Selbstdefinition von Bekenntnis gegeben wird: Die Bekenntnisse sind Glaubenszeugnis und Erklärung des Glaubensinhaltes, sie bringen die Tradition der kirchlichen Lehre zum Ausdruck, sie werden durch Streitfragen hervorgerufen, sie enthalten Abweisung der Irrlehre. Und eben vor allem: sie stehen nicht neben der Heiligen Schrift, sondern sind abgeleitete Norm. Dies kann man als „hermeneutischen Zirkel“13 auffassen. Es ist aber keine Ellipse mit zwei gleich starken Polen, denn es gibt eine entschiedene Vorordnung der Schrift vor die Tradition. Man könnte sagen, es handelt sich um eine Wort-AntwortRelation, was sicher richtig ist.14 Wie kann man das dabei durchaus bestehende 9 10 11 12 13 14

Dazu: Gunter Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, Berlin/New York 1996, 166–192. GrKat, Vorrede, BSLK 552. FC-Ep, Von dem summarischen Begriff, BSLK 767. A.a.O., 769. Dazu Werner Klän (Hg.), Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit, Göttingen 2007, 18. „So kann man das Bekenntnis bezeichnen als die Antwort auf die Offenbarung, und d. h. auf die einmal in der Geschichte geschehne Offenbarung. In ihrer Kirche gibt die Kirche aller Zeiten ihre

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

logische Problem auflösen, was ist der grundlegende Gedanke, damit das Denksystem „funktioniert“?

5.

Selbstbindung an das Bekenntnis aufgrund der Schrift

Meines Erachtens führt der hermeneutische Zirkel nur dann nicht in die Aporie, wenn man annimmt, dass die Kirche sich an ein Bekenntnis bindet, weil (quia) es der Heiligen Schrift entspricht. Dies kann jedoch nicht als Postulat stehen bleiben, sondern fordert immer wieder neu heraus zu prüfen, ob dies auch wirklich der Fall ist. Dies ist eine Verpflichtung für konfessionsgebundene Theologie, das Gespräch zwischen Exegese und Systematik immer wieder zu führen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Dreischritt, den jeder für sich tun muss, nämlich Prüfung, Aneignung und Selbstbindung.15 Diese Aufgabe stellt sich jeder Theologengeneration neu, und diese Schritte zu initiieren, zu begleiten und zu fördern ist ebenfalls Aufgabe, damit der Einzelne rechenschaftsfähig werden kann. Ehrlich und selbstkritisch sei hier auch angemerkt, dass ein Bekenntnis nur zum Fixpunkt kirchlicher Erfahrung werden kann, wenn auch den Gemeinden seine Inhalte bekannt gemacht werden und auch hier eine Akzeptanz erfolgt, wenn vielleicht auch in abgestufter Komplexität.

6.

Abgrenzung als Notwendigkeit

Bekenntnisse haben verschiedene Funktionen16, die sich auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung nachzeichnen lassen, angefangen mit Bekenntnisformeln im Alten und Neuen Testament, und sehr früh hat es sich gezeigt, dass sie nicht allein Erkennungszeichen nach innen, sondern auch Grenzziehung nach außen wurden. Das zeugnishafte Aussprechen dessen, was positiv zu sagen ist, schließt immer auch die Benennung dessen ein, was von daher zurückzuweisen ist, und es ist zu überlegen, ob es nicht eine Problemanzeige ist, wenn genau darauf verzichtet würde. Wie

15

16

Antwort, die Glaubensantwort auf die Offenbarung in Christus“ (Hermann Sasse, In statu confessionis, Bd. 3: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, hg. von Werner Klän und Roland Ziegler, Göttingen 2011, 35). In der SELK erfolgt diese Selbstbindung für die Theologen im Rahmen der Ordination: „Gelobst du im Angesicht Gottes und vor dieser christlichen Gemeinde, bei der in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche angenommenen reinen Lehre, wie sie in der Heiligen Schrift enthalten und in den drei allgemeinen Bekenntnissen, dem Apostolischen, Nizänischen und Athanasianischen, der ungeänderten Augsburgischen Konfession und deren Apologie, den Schmalkaldischen Artikeln, dem Großen und Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers und der Konkordienformel dargestellt ist, fest und standhaft zu verbleiben?“ (Evangelisch-lutherische Kirchenagende IV/I: Amt – Ämter – Dienste, Entwurf zur Erprobung, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 2011, 67; Hervorhebungen d. Verf.). Dazu Meyer/Schütte, Confessio Augustana (wie Anm. 6), 23–33.

Dimensionen und Funktionen von Akt und Status

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sehr es nötig werden kann, die Kirche und ihre Lehre gegen falsche Einflüsse abzusichern, zeigt sich, um nun einmal auf Bekenntnisbildungen neuerer Zeit zu sprechen zu kommen, beispielsweise bei der Theologischen Erklärung von Barmen. Hier ist durchgehalten, was sich an den lutherischen Bekenntnisschriften zeigen ließ: Der Vorordnung des biblischen Wortes folgten die Lehraussage und die Abweisung der Irrlehre, hier in der ausgesprochen starken Wendung: „Wir verwerfen die falsche Lehre […]“. So redet ein Bekenntnis. Es hatte andere inhaltliche und ekklesiologische Gründe, warum die Vorgängerkirchen der heutigen SELK diese Erklärung nicht als solche akzeptieren und sich zu eigen machen konnten.17 Im Zusammenhang mit der Gründung der EKD haben sie in der Rückschau in Bezug auf Barmen eine Entwicklungslinie erkannt, die ihrem Verständnis von Bekenntnis und Kirchengemeinschaft widersprach. „Nach Art. 1, 2 bejaht die EKD mit ihren Gliedkirchen die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. Diese Entscheidungen sind zu einem wesentlichen Teil Lehrentscheidungen, die die Lutheraner gemeinsam mit den Reformierten und Unierten unterschrieben, obwohl sie in wichtigen Stücken dem lutherischen Bekenntnis widersprechen. Wenn nun die EKD diese Entscheidungen ausdrücklich bejaht, so liegt darin der entschlossene Wille ausgedrückt, das Grundgesetz dieser Kirche nicht so sehr an den in den Bekenntnissen der Reformation bezeugten Glaubenswahrheiten, als vielmehr an der die Konfessionsgrenzen überspringenden Erlebnisgemeinschaft jener Tage zu orientieren.“18 Abschließend sei hier nur darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang von Bekenntnis und Kirchengemeinschaft ebenfalls zu dem gehört, was aus konfessionelllutherischer Sicht zum Thema zu sagen ist. Da dies aber ein eigener Themenschwerpunkt dieser Tage ist, verzichte ich an dieser Stelle darauf. Ich denke, dass die Frage nach einem Bekenntnis, wie immer man es heute auch nennen mag, Grundtext oder Referenzrahmen, sich der Kirche aus sachlicher Notwendigkeit immer stellen wird, damit sie rechenschaftsfähig sagen kann, was sie ist, was sie glaubt und was nicht, und wer mit ihr das Gleiche glaubt und wer nicht, und dass dies Bemühungen um die Einheit der Kirche gerade ein- und nicht ausschließt.

17

18

Eine Zusammenstellung der Argumente findet sich bei Friedrich Wilhelm Hopf, Barmen und das lutherische Bekenntnis, Kritische Standpunkte für die Gegenwart, hg. von Markus Büttner und Werner Klän (OUH Ergänzungsband 11), Göttingen 2012, 116ff. Ebenso Hermann Sasse, Die Barmer Erklärung – ein ökumenisches Bekenntnis? In: ders., In statu confessionis 3 (wie Anm. 14), 136ff. Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungsband 6), Göttingen ²2010, 599f.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Summary Starting with the final remarks of the Formula of Concord, this paper develops the hypothesis that, what initially appears to be alternatives between confession of the individual and of the written norms of the church, is actually fact congruous in various areas (eschatological, clerical, temporal and personal). However, the relation between Scripture and Confessions as norma normans and norma normata remains unchangeable. Confessions only have implications for forming the church if they actually influence the proclamation of the Gospel, the administration of the Sacraments, public preaching, and church law.

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung Henning Theißen

Systematisch-theologische Näherbestimmung am Beispiel von Apostolikumstreit und Barmer Theologischer Erklärung 1.

Bekenntnis und Bekennen heute These 1: Der gegenwärtige Streit im deutschen Protestantismus um ein einheitliches „Grundbekenntnis“ oder einen konfessionellen „Referenzrahmen“ bringt Bewegung in die Frage nach Unio und Confessio. Die bloße Tatsache, dass die Bedingungen von Unio und Confessio strittig sind, macht es erforderlich, unter den hinreichenden Bedingungen kirchlicher Einheit den theologischen Ursprung der Kirche in der Erwählungsgemeinschaft des Leibes Christi zu verstehen.

Eine Zeit lang schien es, dass es um das Thema „Bekenntnis und Bekennen“ still geworden sei.1 Seit dem 19. Jahrhundert sind die protestantischen Kirchen in Deutschland bestrebt, aber auch gezwungen gewesen, sich von der Bindung an den Staat und seine Strukturen zu lösen. Vielmehr sollte das Bekenntnis die Grundlage für ein evangelisches Kirchenwesen bilden. Die kalendarisch kurze, inhaltlich aber äußerst dichte Zeit vom Ende des landesherrlichen Kirchenregiments bis zur Neuordnung des deutschen Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg half dieser Entwicklung auf, lehrte aber auch, dass das sogenannte kirchengründende Bekenntnis nicht vor der Gefahr statutarischer Erstarrung gefeit ist. Dem Bekenntnis als Lehrgrundlage muss darum das Bekennen als Lebenshaltung der Kirche zur Seite treten, wie es für jene Zeit Phänomen und Begriff der Bekennenden Kirche auf den Punkt bringen. Doch mit dem Zurücktreten der vom Kirchenkampf bestimmten Theologengeneration scheint auch das Thema „Bekenntnis und Bekennen“ in den Hintergrund gerückt zu sein, mindestens in der Verbindung beider Aspekte. Zwar ist in der ökumenischen Bemühung um das Bekenntnis aufgrund der Methode der Konsenshermeneutik viel geschehen; man denke nur an das aus dem JaegerStählin-Kreis der ersten Nachkriegszeit hervorgegangene Projekt „Lehrverurteilun1

Als Überblicksliteratur vor dem gegenwärtigen Bekenntnisstreit in der EKD kann dienen: HansGeorg Link, Bekennen und Bekenntnis (BeHe = ÖStH 7), Göttingen 1998.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

gen – kirchentrennend?“, das in der ersten Hälfte der 1980er Jahre große Erfolge vorweisen konnte. Gleichzeitig spielte sich aber die Diskussion um das Bekennen auf ganz anderen Feldern ab, wie man sich daran vor Augen führen kann, dass der Reformierte Bund 1982 den status confessionis angesichts des NATO-Doppelbeschlusses ausrief. Ist also „Bekenntnis und Bekennen“ heute überhaupt ein Thema? Der vorliegende erste Abschnitt meiner Überlegungen plädiert dafür, diese Frage zu bejahen. Es dürften äußere Gründe wie die jüngsten Kirchenfusionen in Mittel- und Norddeutschland, aber davor auch schon der ökumenische Klimawandel seit und trotz der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ gewesen sein, die dazu geführt haben, dass etwa mit dem Jahrtausendwechsel im deutschen Protestantismus eine neue Diskussion um das Bekenntnis in Gang kam. Bei den Vorschlägen, die zunächst Gunther Wenz im Sinne der Confessio Augustana als evangelisches „Grund-“ oder „Zentralbekenntnis“,2 die jüngst aber auch Thies Gundlach zugunsten der Leuenberger Konkordie als konfessionellem „Referenzrahmen“ unterbreitet hat,3 fällt im Vergleich mit früheren Bekenntnisdiskursen eines auf. War nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Neuordnung des deutschen Protestantismus vor allem das Verhältnis von Lehre und Kirchengemeinschaft kontrovers, so geht die gegenwärtige Diskussion auf allen Seiten von einem weiter gefassten, damit aber auch weniger trennscharfen Begriff der Kirchengemeinschaft aus und vermisst damit das Feld der Kirchengemeinschaft neu. Das zeigen neben den genannten Anlässen besonders die bisherigen Ergebnisse dieser Diskussion. In den mittlerweile veröffentlichten Referaten der EKD-Kammer für Theologie wird über konfessionelle Grenzen hinweg erkennbar, dass die Bekenntnisse, allen voran das lutherische Hauptbekenntnis (CA), in ihrer Einheit stiftenden theologischen Wirkung doch immer zwei Aspekte besessen haben.4 Neben dem dogmatischen und kirchenrechtlichen Aspekt steht gleichberechtigt der politische und verfassungsrechtliche Aspekt, dass die Bekenntnisse dem friedlichen Zusammenleben der Konfessionen, oder besser: der konfessionellen Territorien, dienen. Ich verstehe insbesondere den von Thomas Kaufmann ausgearbeiteten 2

3

4

Ausgangspunkt: Gunther Wenz, Die Confessio Augustana als Zentralbekenntnis der Reformation, in: HLKBl NF 19 (2001/02), 43–52. Vgl. Rat der EKD (Hg.), Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der EKD für Theologie (EKD-Texte 103), Hannover 2009. So Thies Gundlach am 04.02.2012 in einem Landauer Vortrag über „Theologische Überlegungen zum Landeskirchenprinzip“, vgl. http://www.ekd.de/vortraege/gundlach/20120204_gundlach_ landeskirchenprinzip.html [Stand: 12.02.2013]. Vgl. hierzu besonders Wolf-Dieter Hauschild, Die Geltung der Confessio Augustana im deutschen Protestantismus zwischen 1530 und 1980 (aus lutherischer Sicht), in: ZThK 104 (2007), 172– 207; Jan Rohls, Die Confessio Augustana in den reformierten Kirchen Deutschlands, in: a.a.O., 207–245. Eine dezidiert reformierte Perspektive bietet Georg Plasger, Die Confessio Augustana als Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland? Anmerkungen und Überlegungen aus reformierter Perspektive, in: ZThK 105 (2008), 315–331. All diese Texte sind auch in dem oben genannten EKD-Text 103 (wie Anm. 2) enthalten.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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Epochenbegriff der „Konfessionskultur“ so, dass er diesen, auf das friedliche Zusammenleben gerichteten Aspekt der Konfessionen auch für spätere geschichtliche Epochen fruchtbar macht, in denen der Augsburger Religionsfriede als politischverfassungsrechtlicher Garant dieses Zusammenlebens obsolet geworden ist. Das von Kaufmann ausgebreitete Material etwa aus Bildung, Kunst und Architektur macht die kulturelle Wirkung der Konfessionen bis weit in das Alltagsleben der Kirchen hinein sichtbar und nötigt so dazu, die Reichweite der Bekenntnisse nicht auf konfessionell bestimmte kirchliche Einheiten (z. B. Landeskirchen) zu beschränken.5 Mit These 1 gesagt: Der aktuelle Bekenntnisdiskurs bringt Bewegung in die Frage nach Unio und Confessio. Diese Frage stellt sich auch keineswegs nur für unierte Kirchen. Vielmehr scheint mir die Betonung der Alltagswirkung kirchlicher Bekenntnisse dem Interesse an der Geltung der Lehre in der Praxis der Kirche vergleichbar, das auch dem Konkordienluthertum nicht fremd sein dürfte. Ich möchte darum die Vermutung wagen, dass man den gegenwärtigen Bekenntnisdiskurs im deutschen Protestantismus konfessionsübergreifend als eine Neubestimmung der Bedingungen von Kirchengemeinschaft verstehen kann. Schon die Suchbegriffe „Grundbekenntnis“, „Zentralbekenntnis“, „konfessioneller Referenzrahmen“ usw. scheinen mir ein Indiz für diese Neubestimmung der Bedingungen zu sein. Neu daran ist, dass in diese Bestimmung sehr viel mehr Alltagsfaktoren des kirchlichen Lebens Eingang finden und eben nicht nur der Lehraspekt des Bekenntnisses, der nach dem Zweiten Weltkrieg das zentrale Streitthema war. Ist die bisher gegebene Situationsbeschreibung triftig, so lässt sich eine systematisch-theologische Folgerung anschließen, die in meinen beiden ersten Thesen zum Ausdruck kommt. Das Problem einer Neubestimmung der Bedingungen von Kirchengemeinschaft nötigt den systematischen Theologen zum Rekurs auf CA VII. Wenn irgendwo in der Ekklesiologie, dann ist dieser Artikel bei der Frage nach den Bedingungen von Kirchengemeinschaft einschlägig. Denn die Formulierung „satis est ad veram unitatem ecclesiae“ benennt das, was in der heutigen Situation als „hinreichende Bedingung“ (satis est) für „Union“ im Sinne der „Kanzel- und Altargemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen“ (vera unitas ecclesiae) zu bezeichnen wäre. Wird nun aber neu gefragt, worin diese Bedingungen bestehen, so vollzieht sich unter der Hand ein für den Systematiker aufschlussreicher Wandel im Begriff der Bedingung. Die bloße Tatsache, dass Kirchen über den Inhalt dieser Bedingungen streiten können, lässt dieselben als Erfordernisse an die Adresse der Kirchen erscheinen, damit unter ihnen Gemeinschaft möglich wird, also als notwendige Bedingungen. Die Bedingungen von der Art der notae ecclesiae, als die in CA VII Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung genannt werden, sind anders struk-

5

Einen ersten Einblick gibt Thomas Kaufmann, Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, in: ZThK 105 (2008), 281–314.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

turiert. Sie sind von der Kirche nicht zu fordern, sondern fungieren als Erkennungszeichen der Kirche, die mit deren Dasein gegeben sind. Es kann sich hierbei also nicht um notwendige Bedingungen handeln, die für eine kirchliche Union im Sinne der Kanzel- und Altargemeinschaft zu erfüllen wären. Vielmehr sind die notae ecclesiae nach CA VII hinreichende Bedingungen, denen zufolge es unmöglich ist, dass dann, wenn reine Evangeliumspredigt und rechte Sakramentsverwaltung vorliegen, die eine wahre Kirche nicht gegeben wäre. Unter Kirchen, die sich auf diese Implikation (Wenn-dann-Relation) von CA VII berufen, mag im Einzelfall strittig sein, ob diese beiden Bedingungen erfüllt sind. Dass die eine wahre Kirche aber unfehlbar gegeben ist, sobald beide erfüllt sind, kann unter ihnen nicht strittig sein, und damit kann unter solchen Kirchen auch über den Umfang dieser hinreichenden Bedingungen kein Streit sein. Ihr Umfang ist vielmehr mit dem durch sie hinreichend Bedingten notwendigerweise gegeben. Nicht die Erkennungszeichen der Kirche, sondern die Kirche hat in CA VII den logischen Status der notwendigen Bedingung.6 Allgemein gesprochen: Hinreichende Bedingungen sind konstitutive Merkmale des durch sie bedingten Gegenstands. Ist also die Kirche nach CA VII die Gemeinschaft, in der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung geschehen, dann sind diese beiden definiertermaßen Konstitutiva der Kirche und können nicht im Zuge einer Bestimmung der Bedingungen von Kirchengemeinschaft verhandelt werden. Dogmatisch gesprochen: Die notae ecclesiae nach CA VII benennen als hinreichende Bedingungen der Einheit der Kirche die Merkmale ihres Konstituiertseins durch Gottes Handeln. Mit Wort und Sakrament sind also diejenigen Merkmale der evangelischen Kirche benannt, die die Kirchen nicht selbst bestimmen können, sondern in denen sie durch Gottes Handeln bestimmt sind. Anstatt von hinreichenden Bedingungen kirchlicher Union zu sprechen, kann man also auch vom Konstituiertsein der Kirche durch Gottes Handeln reden. Legt man diesen Begriff hinreichender Bedingung von Kirchengemeinschaft zugrunde, so ist er, wie schon angedeutet, einerseits umfassender und andererseits weniger trennscharf als der Bekenntnisbegriff. Er ist umfassender, insofern Gottes Handeln in Wort und Sakrament nicht auf die Lehre von Wort und Sakrament beschränkt ist, sondern darüber hinaus in das Alltagsleben der Kirche hinein wirkt. Aus demselben Grund ist der nämliche Begriff aber auch weniger trennscharf, weil die Wirkungen dieses Gotteshandelns nicht an den Grenzen der Kirche enden. Die durch das kirchengründende Gotteshandeln bestimmte kirchliche Union ist darum 6

Wie Friedrich Kambartel, Art. Bedingung, HWP 1 (1971), 762–765, hier 764 darstellt, besteht in logischer Hinsicht zwischen den modernen Begriffen a) der notwendigen und b) der hinreichenden Bedingung derselbe Zusammenhang wie mittelalterlich zwischen a) der conditio sine qua non und b) der conditio per quam, d. h. jene (a) muss wahr sein, damit das Bedingungsgefüge beider, demzufolge (a) aus (b) folgt, auch wahr ist. Umgekehrt reicht in einem wahren Bedingungsgefüge die Wahrheit von (b) aus, um die Wahrheit auch von (a) zu gewährleisten. Zur Logik eines solchen Bedingungsgefüges als Implikation vgl. allgemein Gottfried Gabriel, Art. Implikation I–VII, HWP 4 (1978), 263–265.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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die Erwählungsgemeinschaft, die in dogmatischer Terminologie als Leib Christi bezeichnet wird. Leib Christi aber ist die Kirche, insofern sie vor aller Verfasstheit als in der Welt (oder auch im theologischen Gegensatz zur „Welt“) gegebene Größe allein durch ihren Bezug zu Christus bestimmte Gemeinschaft ist. Auf dieser fundamentalen Ebene der Erwählungsgemeinschaft des Leibes Christi redet CA VII von kirchlicher Union – so die Aussage von These 1. Will man der gegenwärtigen Neubestimmung der Bedingungen kirchlicher Gemeinschaft systematisch-theologisch gerecht werden, so ist es erforderlich, diese fundamentale Dimension des Unionsbegriffs in die Ekklesiologie einzubeziehen. Das soll die folgende These leisten. These 2: Der gegenwärtige Streit im deutschen Protestantismus um ein einheitliches „Grundbekenntnis“ oder einen konfessionellen „Referenzrahmen“ bringt Bewegung in die Frage nach Bekenntnis und Bekennen. Die Alternative von statutarischem und aktualistischem Bekenntnisbegriff wird überwunden durch eine kirchentheoretische Lektüre exemplarischer Fixpunkte des Bekenntnisdiskurses. Diese kirchentheoretische Lektüre versteht das Bekenntnis von seiner Stellung im Leben der Kirche her.

Diese These plädiert für eine kirchentheoretische Lektüre des Bekenntnisdiskurses. Der Begriff Kirchentheorie wird in jüngerer Zeit in der Tradition Friedrich Schleiermachers (bei Reiner Preul), aber auch Albrecht Ritschls (bei Hans-Richard Reuter) für eine Erweiterung und Vertiefung der Ekklesiologie in Anspruch genommen,7 die dem Interesse des skizzierten Fundamentalbegriffs kirchlicher Union entspricht. Dass dabei mit der Theorielinie Schleiermacher-Ritschl die Problemgeschichte der preußischen Union in den Blick kommt, ist kein Zufall.8 Schleiermacher, der die dogmatische Ekklesiologie in seiner „Glaubenslehre“ in den Lehrsätzen zu den kontroverstheologischen Themen Amt und Sakramente bewusst als Ausgleich von lutherischer und reformierter Lehre angelegt hat, ist im deutschen Protestantismus zugleich der beispielgebende Theologe dafür, die Kirche auch noch außerhalb der Ekklesiologie als Lehrgegenstand zu behandeln. Kirche als die vom Gesamtleben der göttlichen Gnade begründete Gemeinschaft ist demnach zugleich 7

8

Vgl. Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin 1997 (GSB) bzw. Hans-Richard Reuter, Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie (ÖTh 22), Leipzig 2009. Näheres hierzu und zu den weiteren Überlegungen dieses Absatzes in meinem Beitrag: Henning Theißen, Konfessionskultur ohne Kulturkampf. Zur theologischen Bedeutung der Union in Schleiermachers und Ritschls Kirchentheorien, erscheint in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Jg. 2012. Die Tatsache, dass mein hier vorgeschlagener, fundamentalekklesiologischer Begriff der Union sich vom Begriff konfessioneller Union unterscheidet, erklärt, warum ich für das Unionsthema bei Schleiermacher nicht auf seine zu einschlägigen kirchengeschichtlichen Anlässen (Unionsaufruf 1817, preußischer Agendenstreit 1821ff.) entstandenen Gelegenheitsschriften zurückgreife. Das geschieht umso unbesorgter, als Albrecht Geck in seinem Beitrag Kirchenpolitische und theologische Konzepte, in diesem Band 99–111, diese historische Perspektive behandelt.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Thema der „Christlichen Sitte“ und der „Philosophischen Ethik“, und zwar hier in Hinsicht auf das in dieser Gemeinschaft realisierte Gut. Ohne den dogmatischen Kirchenbegriff des sich aus der Welt ausdifferenzierenden Gesamtlebens der Gnade infrage zu stellen, wird die Kirche in dieser güterethischen Perspektive als Teil der Welt und in ihrem konstruktiven Einbezogensein in die Welt thematisiert. Ekklesiologie wird so zur Kirchentheorie erweitert. Wenn mich nicht alles täuscht, schlägt der aktuelle Bekenntnisdiskurs im deutschen Protestantismus den gleichen kirchentheoretischen Weg ein, indem er die alltagsweltliche und konfessionskulturelle Bedeutung des Bekenntnisses aufspürt. Manche Kontroverse um das Bekenntnis ließe sich in dieser kirchentheoretischen Perspektive entschärfen, was besonders das Verhältnis von Lehre und Kirchengemeinschaft angeht. Dass z. B. in der erwähnten Nachkriegskontroverse Heinz Brunotte in der von der Bekennenden Kirche eingegangenen Union ohne gemeinsame Lehre keine Kirchengemeinschaft erkennen kann,9 während Hans Joachim Iwand unter Berufung auf Lk 9, 62 die Lehrunion für ein rückwärtsgewandtes Bestreben hält10 – derartige Entgegensetzungen sind in kirchentheoretischer Perspektive unnötige Zuspitzungen. Im zweiten und dritten Abschnitt meiner Überlegungen unternehme ich daher den Versuch, den evangelischen Bekenntnisdiskurs an zwei zentralen Stellen der auf Schleiermacher und Ritschl folgenden Epochen kirchentheoretisch zu lesen. Ich habe den Apostolikumstreit (2.) und die Barmer Bekenntnissynode samt ihrer „Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage“ (3.) ausgewählt. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen dabei (wie angekündigt) nicht die materialdogmatischen, sondern die kirchentheoretischen Aspekte kirchlicher Union.

2.

Der Apostolikumstreit als Fixpunkt kirchlicher Orientierung These 3: Der deutsche wie der Schweizer Apostolikumstreit wirken als Fixpunkte kirchlicher Orientierung, indem sie die Frage nach der Unio als Einheit und Gesamtheit der Kirche stellen. Eine kirchentheoretische Lektüre des daran anschließenden Diskurses zur Lehrbeanstandung wird darauf die Antwort geben: Die Einheit und Gesamtheit der Kirche hat ihre Grenze an der Öffentlichkeit ihrer Verkündigung.

Die Kontroversen, die der deutschsprachige Protestantismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Beginn des Ersten Weltkriegs erlebt, als wesentliche Inhalte des Glaubensbekenntnisses in den Fokus der kurz zuvor etablierten 9 10

Vgl. Heinz Brunotte, Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte (AKIZ B 3), Göttingen 1977, 163 u. ö. Vgl. Hans Joachim Iwand, Die Neuordnung der Kirche und die konfessionelle Frage, in: ders., Um den rechten Glauben (Gesammelte Aufsätze [I]), hg. von Karl-Gerhard Steck (TB 9), München 1959, 138–172, hier 158–160.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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historisch-kritischen Methode geraten, gehören zu den bekannteren Beispielen für die Auseinandersetzung um das Bekenntnis. Trotzdem ist dieser sogenannte Apostolikumstreit bis heute nicht zufriedenstellend erforscht. Das Urteil in einem großen Standardnachschlagewerk, wonach eine Gesamtdarstellung des deutschen Apostolikumstreites „leider“ nicht vorliege,11 gilt mit gewissen Einschränkungen auch weiterhin. Recht bekannt sind die sogenannten „Fälle“ von Amtsenthebung aufgrund von Lehrbeanstandung wie bei dem württembergischen Pfarrer Christoph Schrempf (1892) und später seinem Kölner Kollegen Carl Jatho (1911). Bekannt sind auch die literarischen Auseinandersetzungen in der akademischen Theologie vor allem zwischen Adolf Harnack als Kritiker und Hermann Cremer als Verfechter des Apostolikums (1892). Weniger bekannt, aber am weitesten erforscht sind die Auswirkungen, die dieser Streit auf die Beschlüsse der (außerordentlichen) preußischen Generalsynode 1894 zur Agendenreform gehabt hat.12 Nahezu unbekannt, dafür aber seit 2003 durch eine hervorragende Gesamtdarstellung13 erschlossen ist der in seinen Frontstellungen ganz analoge Streit, der in den Kantonalkirchen der deutschsprachigen Schweiz bis 1880 tobte, aber zu einem ganz anderen, wiederum sehr bekannten Ergebnis, nämlich der sogenannten Bekenntnisfreiheit, führte. Die Schweizer Auseinandersetzungen hatten sich 1831 im winterlichen Graubünden an der sehr pragmatischen Frage entzündet, ob das Apostolikum, das im schweizerischen Prädikantengottesdienst sowieso nur bei der Sakramentsfeier und damit seinerzeit meist bei der Taufe in Gebrauch war, nicht „bei großer Kälte oder schwächlicher Konstitution des Täuflings ausgelassen werden“ könne.14 Ähnlich pragmatisch mutet die Schweizer Lösung der Bekenntnisfreiheit an, wonach alle Liturgien einschließlich ihrer Bekenntnisformulierungen bloße Empfehlungen sind, wie es zuerst der Kanton St. Gallen praktizierte.15 Wie anders nehmen sich demgegenüber die Folgen des Apostolikumstreits im Deutschen Reich aus, wo die preußische Generalsynode 1910 das sogenannte Irrlehregesetz beschloss, das die Bekenntnispflicht der Amtsträger bekräftigte, auch wenn es deren Verletzung von dem Ruch des disziplinarischen Vergehens befreite. Tatsächlich dürften hinter dem Schweizer und dem deutschen Apostolikumstreit unterschiedliche kirchentheoretische Auffassungen stehen. Die theologischen Streitpunkte waren ja in beiden Fällen dieselben. Dass das Apostolikum weder Schriftprinzip noch Rechtfertigungslehre, also die sogenannten Formal- und 11 12

13

14 15

Vgl. Hans-Martin Barth, Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis II, in: TRE 3 (1978), 554–566, hier 564, Anm. 17. Vgl. hierzu Hanna Kasparick, Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der preußischen Agende. 1892–1895 (UnCo 19), Bielefeld 1996. Vgl. zum Folgenden Rudolf Gebhard, Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert (TVZ-Dissertationen 2), Zürich 2003. Zit. a.a.O., 295. Vgl. a.a.O., 261.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Materialprinzipien des Protestantismus, enthält, wurde im Deutschen Reich wie in der Schweiz von Bekenntnisgegnern kritisiert und von Bekenntnisfreunden relativiert. In beiden Staaten spitzte sich der Streit auf die Jungfrauengeburt zu, die die Verteidiger des Apostolikums zum Brennpunkt, seine Kritiker hingegen zur Zumutung für das evangelische Gewissen stilisierten. Doch nur in der Schweiz wurde das Gewissen der Amtsträger zum letztlich entscheidenden Argument für die Freiheit gegenüber dem Bekenntnis. Im Deutschen Reich überwogen die an die kirchliche Stellung des Amtsträgers geknüpften Pflichten gegenüber dem Bekenntnis – trotz prominenter Stimmen wie Ernst Troeltsch, der nach Jathos Amtsenthebung „Gewissensfreiheit“ forderte,16 und trotz Adolf Harnacks Mahnung, dass Amtsträger genötigt würden, vor der Gemeinde zu heucheln, was sie in ihrem Herzen nicht bekennen könnten.17 Diesen nahezu gegensätzlichen Ausgang im Deutschen Reich und der Schweiz kann man mit theologischen Argumenten nicht erklären, da diese ja in beiden Staaten auf exakt die gleiche Weise zwischen Positiven und Liberalen hin- und hergeworfen wurden. Auch der seinerzeit unter dem Schlagwort der „Positiven Theologie“ eifrig diskutierte Bezug des Bekenntnisses zur Bibel erlaubt keine Entscheidung, da das Bekenntnis in fundamentaltheologischer Sicht nicht als Auslegung der Bibel, sondern als Auslegung des durch die Bibel hervorgerufenen Glaubens zu verstehen ist. Den Ausschlag in der Beurteilung des Apostolikumstreits können angesichts dieser Schwierigkeit nur kirchentheoretische Faktoren geben. Allerdings genügt der Hinweis auf den deutschen Sonderweg des landesherrlichen Kirchenregiments und die ihm entsprechende öffentlich-rechtliche Stellung der Amtsträger dazu keineswegs. Wohl aber gibt dieser Hinweis einen Wink aus der Richtung, in der die Lösung des Problems zu suchen ist.18 In der persönlichen Leitungsvollmacht des Landesfürsten drückt sich nämlich jenes im Mittelalter verwurzelte personenverbandsrechtliche Denken aus, das auch noch die Lehrbeanstandung im deutschen Apostolikumstreit etwa beim Fall Schrempf kennzeichnet. Demnach steht der Amtsträger nicht nur in seiner beamteten Stellung, sondern auch bei Ausübung seiner Verkündigung in einem persönlichen Dienst-und-TreueVerhältnis zum Dienstherrn, so dass Häresie nicht einfach theologische Irrlehre, sondern Ungehorsam gegenüber dem Dienstherrn und darum disziplinarisch zu ahnden ist – ganz so, als hätte der Betreffende silberne Löffel oder Abendmahlskelche gestohlen. Beim Fall Jatho, der bekanntlich einzigen Anwendung des Irrlehre16

17 18

Dokumentiert: Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 3, Berlin 1983, 779– 781 (Nr. 340). Dokumentiert: a.a.O., 776–778 (Nr. 339), hier 778. Harnack sieht in diesem Dilemma freilich „die ritterliche Last“ der kirchlichen Amtsträger! Die folgenden Überlegungen zur Geschichte der Lehrbeanstandung sind eine Fortführung von Henning Theißen, Die Partnerschaft von Amt und Gemeinde in einer Ökumene des Nordens, in: Heinrich Assel/Christfried Böttrich/ders. (Hg.), Ökumene des Nordens. Theologien im Ostseeraum (Greifswalder theologische Forschungen 19), Frankfurt 2010, 119–140, hier 128–133.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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gesetzes, ist genau diese disziplinarische Verknüpfung gelöst, wenn die sogenannte Spruchkammer (der übrigens auch der Apostolikumskritiker Harnack als stellvertretendes Mitglied angehörte) anstelle eines strafwürdigen Vergehens die bloße Untragbarkeit des beanstandeten Amtsträgers für die jeweilige Kirche konstatiert. Nicht nur für die Geschichte der Lehrbeanstandung, sondern auch kirchentheoretisch ist damit ein Epochenwechsel vollzogen. Schimmerte in der alten Lehrzuchtordnung, die nicht ohne Grund sogenannt wurde, vorneuzeitliches Personenverbandsrecht als Bezugsmodell durch, so steht nun hinter dem Modell der Spruchkammer ein anderes Bezugsmodell, nämlich die frühneuzeitliche Vorstellung der Einheit von Territorium und Bekenntnis, die nach dem Zerfall des mittelalterlichen corpus Christianum an dessen Stelle tritt und z. B. den Augsburger Religionsfrieden, aber auch die Normaljahrregelung des Westfälischen Friedens mitbestimmt: In einem geschlossenen Herrschaftsgebiet soll es auch nur ein religiöses Bekenntnis geben. Die kirchentheoretische Fortentwicklung vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Bezugsmodell der Lehrbeanstandung zwischen 1892 (Schrempf) und 1911 (Jatho) ist unverkennbar. Ob aber die Vorstellung der Einheit von Territorium und Bekenntnis nicht doch schon 1911 trotz noch bestehender Staatskirche überholt war, kann man zumindest fragen. Insbesondere ist zu fragen, wie – in Analogie zum geschlossenen Herrschaftsgebiet – die Kirche abzugrenzen ist, innerhalb derer das Bekenntnis gilt, das der in seiner Lehre beanstandete Amtsträger verlassen haben soll. In den Worten von These 3: Die Entwicklung der Lehrbeanstandung stellt die Frage nach der Unio im Sinne der Einheit und Gesamtheit der Kirche. Im unierten Preußen konnte mit dieser Gesamtheit nur die Organisationsebene der Landeskirche gemeint sein, da auf Gemeindeebene ja durchaus unterschiedliche und einander ausschließende Bekenntnisse vorlagen. Das Wirken selbst eines Jatho – der sich schon vor dem Urteil der Spruchkammer weiträumig als Buchautor und Vortragsreisender betätigte – vollzog sich freilich vorrangig auf der Gemeindeebene. Diese aber muss bei landeskirchlicher Verwaltungsunion in ihrem Bekenntnisstand nicht kongruent mit der landeskirchlichen Ebene sein und kann es zumeist auch gar nicht. Es ist also nur allzu verständlich, wenn Harnack beim Fall Jatho öffentlich darüber nachdachte, ob nicht die Gemeinde, in der der Amtsträger wirkt, das alleinige Recht zur Beanstandung seiner Lehre haben sollte.19 Kirchentheoretisch heißt das freilich, die Unio im Sinne konfessioneller Einheit der Kirche mindestens auch auf die Ebene der Ortskirche zu verlagern. Die Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg haben diese auf den ersten Blick paradoxe Bewegung einer vor Ort gegebenen Gesamtheit von Kirche weiter beschleunigt. Spätestens die durch Flüchtlingsbewegungen seit 1945 induzierten Konfessionsmigrationen haben auch die letzten Reste einer bekenntnismäßig einheitlichen Ortsgemeinde als Illusion erwiesen. Ist dadurch mit gewisser Verspätung 19

Dokumentiert: Huber/Huber, Staat und Kirche 3 (wie Anm. 16), 777 (Nr. 339).

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

auch in Deutschland faktisch der Schweizer Weg der Bekenntnisfreiheit beschritten, bei der die Amtsträger so individuell verkündigen können, wie sie und alle Christenheit unhintergehbar individuell glauben? Die nach 1945 entstandenen Lehrbeanstandungsordnungen sowohl in der VELKD als auch der früheren EKU zeigen ein anderes Bild. Zwar ist die Vorstellung, dass Unio eine kirchliche Gesamtheit bezeichne – auf welcher Organisationsebene auch immer –, hier tatsächlich weitgehend aufgegeben. Nicht so aber die Vorstellung einer Gesamtheit, an der die Bekenntnispflicht der Amtsträger gemessen werden kann! Nur ist es jetzt die gesamte Verkündigung des betreffenden Amtsträgers, an der sich seine Beanstandung entscheidet.20 Wiederum ist die damit gegebene Fortentwicklung nicht zu übersehen: Gegenwärtige Lehrbeanstandung kann einem Amtsträger nicht mehr, wie es in den Tagen von Luthers Bannandrohungsbulle gang und gäbe war und auch beim Fall Jatho noch zu beobachten ist, einzelne Spitzensätze vorwerfen, die womöglich erst durch die Herauslösung aus ihrem Kontext in den Verdacht der Häresie geraten. Gleichzeitig muss man aber auch diesen Fortschritt wieder im größeren Zusammenhang sehen: Wandert damit der Maßstab der Lehrbeanstandung nicht von Seiten der beanstandenden Kirche auf die Seite des beanstandeten Amtsträgers selbst? In der Tat haben namhafte Kirchenrechtler angemahnt, die Lehre eines beanstandeten Amtsträgers ihrerseits als Beanstandung der kirchlichen Lehre zu würdigen.21 Daher zugespitzt gefragt: Soll man einen evangelischen Amtsträger, der zum Opferfest für Zeus aufruft, nicht maßregeln können, nur weil er das im Gesamtzusammenhang seiner Verkündigung schlüssig zu begründen weiß? Weniger polemisch formuliert: Führt die unübersehbare Liberalisierungstendenz von der disziplinarischen Lehrzucht über das Irrlehregesetz hin zur gegenwärtigen Lehrbeanstandung nicht zwangsläufig zur schweizerischen Lösung der Gewissensfreiheit? These 3 meiner Überlegungen bestreitet diese scheinbare Zwangsläufigkeit. Der Unterschied wird deutlich, wenn man die mutmaßlichen Endpunkte der Entwicklungen im schweizerischen und im deutschen Apostolikumstreit vergleicht. Das Schweizer Modell argumentiert letztendlich mit dem Gewissen des einzelnen Amtsträgers und redet damit nicht etwa einem platten Individualismus das Wort, weil ja die Hauptsorge dieses Arguments der erzwungenen Heuchelei gilt, wenn ein Amtsträger das, was er auftragsgemäß verkündigen soll, nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann; das Gewissen ist hier also in seiner unhintergehbaren Individua-

20 21

Vgl. § 25 der EKU-Lehrbeanstandungsordnung sowie § 15, 2 des VELKD-Kirchengesetzes über das Verfahren bei Lehrbeanstandungen [Stand: 31.08.2009]. So Albert Stein, Kirchenrechtliche Probleme evangelischer Lehrbeanstandung, in: MdKI 32 (1981), Beiheft zu Heft 1, 16–19, hier 17.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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lität doch zumindest dem Anspruch nach die Repräsentation der kirchlichen Gesamtheit und ihres Glaubens im Individuum des Amtsträgers.22 Dieselbe Repräsentationsstruktur lässt sich auch für die Gesamtverkündigung eines Amtsträgers behaupten, die in der Entwicklung der deutschen Lehrbeanstandung klar den Ziel- und Angelpunkt bildet, der der Schweizer Bekenntnisfreiheit entspricht. Auch die Gesamtverkündigung eines Amtsträgers ist bei aller Individualität nicht seine eigene Angelegenheit (insofern kommt auch für das erwähnte Opferfest für Zeus kein Gewissensschutz in Betracht), sondern wiederum der Glaube der kirchlichen Gesamtheit, wie er von diesem Amtsträger verkündigt wird. Doch trotz dieser gleichen Repräsentationsstruktur besteht ein wichtiger kirchentheoretischer Unterschied zwischen der Schweizer und der deutschen Lösung. Denn das Gewissen ist auch als Repräsentation überindividueller Ansprüche eine private, dem institutionellen Zugriff entzogene Größe, wohingegen die Verkündigung eines Amtsträgers, auch wenn sie seiner persönlichen Glaubenseinsicht folgt, in jedem Fall ein öffentliches Geschehen ist. Diese Öffentlichkeit der Verkündigung ist der – wohlgemerkt: kirchentheoretische – Grund, warum der deutsche Apostolikumstreit seine Lösung nicht in der Bekenntnisfreiheit finden kann. Das kirchentheoretische Argument gegen diese vermeintliche Lösung lautet, dass das auftragsgemäße Wirken des Amtsträgers nicht an seinem Gewissen, sondern an seiner Verkündigung gemessen wird, und im Gegensatz zum Gewissen ist diese Verkündigung – da lässt insbesondere CA XIV kaum Zweifel zu – öffentlich. Was heißt das?23 Öffentlich ist die Verkündigung des Amtsträgers, insofern sie das, wozu alle Christen aufgrund der Taufe geistliche Vollmacht haben, öffentlich vollzieht. Diese Öffentlichkeit bezeichnet weder die öffentlich-rechtliche Stellung des beamteten Trägers der Verkündigung noch ist sie darauf zu beziehen, dass dieser Träger der Verkündigung in oder gar vor der Öffentlichkeit amtiert, die dann als irgendwie der Kirche gegenüberstehend gedacht wird. All diese letztlich institutionellen Anklänge sind durch die adverbiale (nicht attributive) Formulierung „publice docere“ ausgeschlossen: Öffentlichkeit im Sinne von CA XIV qualifiziert die Verkündigung, also das Tun der Amtsträger, nicht das Amt oder seinen Träger selbst. Wird die schlichte Grammatik der Formulierung nicht beachtet, so ergibt sich eine Gleichsetzung der Verkündigung mit ihrem Träger oder seinem Amt, die in jedem Fall eine kirchentheoretische Überforderung darstellt. Das ist offensichtlich bei der fehlerhaften Interpretation der Öffentlichkeit nach CA XIV auf das Amt, die so tut, als bestünde dessen Spezifikum gegenüber dem Priestertum aller Getauften entweder theologisch in der Weihe des ersteren oder aber kirchentheoretisch in 22

23

Zu der hier angenommenen gewissensethischen Besonderheit des kirchlichen Amtsträgers gegenüber den Trägern des allgemeinen Priestertums vgl. die im Beitrag von Gilberto da Silva, Vom „Geist des Protestantismus“, in diesem Band 112–131, entfaltete Gewissenslehre. Die folgenden Überlegungen zum Öffentlichkeitsbegriff sind eine Fortführung von Henning Theißen, Die Öffentlichkeit der Verkündigung. Zur Auseinandersetzung mit dem rheinischen Ordinationsgesetz, in: Luther 78 (2007), 18–31.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

seinem öffentlich-rechtlichen Beamtenstatus. Derselbe Fehler tritt aber auch ein, wenn Öffentlichkeit nach CA XIV auf den Träger der Verkündigung statt auf diese selbst bezogen wird. Vom Amtsträger wird dann verlangt, das, was er persönlich in seinem Gewissen glaubt, auch öffentlich zu bezeugen oder zu verkündigen. Die deutsche Pastoraltheologie hat diesen „kerygmatischen“ Bekennertyp des Amtsträgers („Zeuge“) als kennzeichnend für die von der Bekennenden Kirche bestimmte Ekklesiologie der Nachkriegszeit herausgearbeitet.24 Stellt man allerdings die einfache Frage, worin sich dieser Typ Amtsträger vom Träger des Priestertums aller Gläubigen unterscheidet, wenn doch nach der Grammatik von CA XIV Öffentlichkeit eine Eigenschaft der Verkündigung selbst und nicht bestimmter Träger derselben ist, dann bleibt nur die Antwort, dass vom Amtsträger ein Zeugen- und Bekennermut erwartet wird, der eindeutig die Konturen des Märtyrers oder des Confessor im Sinne der Alten Kirche annimmt. Hierfür dürften aber kaum kirchentheoretische Faktoren verantwortlich zu machen sein. In kirchentheoretischer Hinsicht heißt Öffentlichkeit nach CA XIV, dass Verkündigung, gerade weil sie durch Zeugen und damit in der indirekten, gebrochenen Form des bloßen Hinweises auf ihren Sachgrund im Wort Gottes geschieht, auf Öffentlichkeit angewiesen ist, d. h. auf das Wechselgespräch der voneinander abweichenden, einander unter Umständen auch widersprechenden Zeugnisgestalten.25 Diese Öffentlichkeit nicht zu gewähren, aber zu gewährleisten ist die Aufgabe des Amtsträgers, der hierzu wissenschaftlich theologische Kompetenz braucht, die ihm erlaubt, unterschiedliche Gestalten von Zeugnis aufeinander zu beziehen, die als solche (eben als Zeugnis) notwendigerweise mit unverrückbarem Wahrheitsanspruch auftreten. Es kann also keine Rede davon sein, dass öffentliche Verkündigung vom Amtsträger verlangt, seine privaten Gewissensüberzeugungen öffentlich auszubreiten, im Gegenteil sind die Amtsträger diejenigen, die als wissenschaftlich qualifizierte Theologen über ihre privaten Überzeugungen im Bewusstsein ihrer Angewiesenheit auf öffentlichen Austausch hinausblicken können, ohne sie damit aufzugeben. Versteht man Öffentlichkeit nach CA XIV in diesem Sinne als Eigenschaft der Verkündigung, so wird klar, dass der Zwang zur Heuchelei, dessen Umgehung dem Schweizer Apostolikumstreit den Weg in die Bekenntnisfreiheit diktierte, in Wahrheit gar nicht besteht. Vom Amtsträger ist im Unterschied zum Träger des Priestertums aller Getauften immer verlangt, dass er zwischen seiner eigenen christlichen Überzeugung und anderen Zeugnisgestalten, die jedoch genauso als christlich gelten müssen, unterscheiden kann. Die damit gegebene Indirektheit allen kirchlichen Zeugnisses folgt dessen Sachbezug zum Wort Gottes, zu dem die Kirche nach 24

25

Statt vieler Beispiele vgl. nur Birgit Weyel, Art. Pfarrberuf, in: Handbuch Praktische Theologie, hg. von Wilhelm Gräb/Birgit Weyel, Gütersloh 2007, 639–649, hier 642 (als Gegenstück zum „diakonischen“ Pfarrertypus). Näher zum hier gebrauchten Begriff des Zeugnisses: Henning Theißen, Zeugnis. Hermeneutische Überlegungen zu einer ekklesiologischen Grundlagenkategorie, in: EvTh 71 (2011), 444–460.

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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evangelischer Auffassung keine in direkter Linie zurückzuverfolgende Kontinuität (historische Sukzession) besitzt, sondern nur eine solche, die (als sogenannte Lehrsukzession) in hermeneutischer Bemühung um die unterschiedlichen Zeugnisgestalten gewonnen wird. Eben diese Bemühung entspricht der Öffentlichkeit seiner Verkündigung und hat mit Heuchelei oder Gewissenszwang nicht das Geringste zu tun. Und weil dieser Unterschied besteht, muss man auch die Öffentlichkeit der Verkündigung als Kriterium der Beanstandung von Amtsträgern scharf von dem alternativen Kriterium der privaten Gewissensfreiheit unterscheiden. Selbstverständlich hat diese Unterscheidung direkte Konsequenzen für unsere Frage nach Bekenntnis und Bekennen. Wo die private Gewissensfreiheit Kriterium der Lehrbeurteilung ist, sind neben den empfohlenen kirchlichen Bekenntnissen Sonder- und Minderheitenmeinungen besonders geschützt. Lehren, die kirchlich gar keine Repräsentanten finden (wie das schon erwähnte Opferfest für Zeus), können hingegen beanstandet werden. Trotz der unbestreitbar liberalen Grundhaltung wirkt dieses Kriterium daher hintergründig bekenntnisstärkend, genauer: Weil alle Bekenntnisse als Empfehlungen oder Meinungen eher Satzcharakter haben, wird gar keine besondere Differenzierung zwischen Bekenntnis und Bekennen vorgenommen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn die Öffentlichkeit der Verkündigung als Kriterium fungiert. Hier richtet sich die Lehrbeanstandung vorrangig nicht gegen außerkirchliche Lehrbildungen, sondern dagegen, die eigene Überzeugungsgestalt zu verabsolutieren. Beanstandet wird solche Lehre, die ihre Angewiesenheit auf abweichende Lehren missachtet und so Lehre zur Bekenntnisfrage stilisiert – oder wiederum genauer: Beanstandung verdient, wer die Dynamisierung des Bekenntnisses durch das nicht-lehrhafte Moment des Bekennens vernachlässigt. Bekennen bezeichnet hier gerade die Relativierung des Bekenntnisses durch seine öffentliche, mit Argumenten nachvollziehbare Auseinandersetzung mit abweichenden Überzeugungen. Es ist deutlich, dass die Öffentlichkeit der Verkündigung hier ihrer Natur nach überkonfessionell und zugleich innerkirchlich ist. An dieser Stelle spricht These 3 von der Grenze der kirchlichen Gesamtheit, deren Überschreitung die Lehrbeanstandung zum Einschreiten nötigt. Nicht die gebildeten Verächter des Bekenntnisses, sondern seine hyperkirchlichen Verfechter sind im Fokus der Lehrbeanstandung. Es mag überraschend klingen, aber gerade diese innerkirchliche Stoßrichtung von Bekenntnis und Bekennen gibt den Übergang zu unserem zweiten Beispielkomplex, der Barmer Theologischen Erklärung, her.

3.

Die Barmer Bekenntnissynode als Fixpunkt kirchlicher Erfahrung

Mit dem Streit um das Apostolikum haben wir den im Untersuchungszeitraum dieses Kolloquiums wohl wichtigsten Bekenntnistext betrachtet, der schon durch seine liturgische Verwendung bei Taufe und Konfirmation und im 20. Jahrhundert

226

Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

auch im Sonntagsgottesdienst allgemein in besonderem Maße der Kirche Orientierung gibt. Bei der Barmer Theologischen Erklärung, die ich als zweiten Beispielkomplex ausgewählt habe, ist all das weitaus fraglicher. Abgesehen von ihren bis heute sehr divergenten Rezeptionen kann man schon für die Barmer Bekenntnissynode vom Mai 1934 selbst fragen, inwieweit ihre Erklärungen als Bekenntnistexte gelten können – oder ob doch eher nicht. Wie schon beim Apostolikumstreit werde ich diese dogmatischen, den Begriff des Bekenntnisses sozusagen frontal angehenden Fragen zugunsten der kirchentheoretischen zurückstellen. Aus diesem Grund stelle ich das Beispiel Barmen auch nicht als Fixpunkt kirchlicher Orientierung wie beim Apostolischen Glaubensbekenntnis, sondern als Fixpunkt kirchlicher Erfahrung dar. Die Erfahrung, die durch die Barmer Bekenntnissynode und ihre Theologische Erklärung sichtbar wird, ist die einer äußersten Bedrohung der Kirche, die gleichwohl keine äußere Bedrohung ist, sondern eine innere. Obwohl die Gefahr, gegen die Barmen sich zur Wehr setzt, leicht als Einfluss durch die NS-Ideologie identifiziert werden kann, wäre insbesondere die Barmer Theologische Erklärung falsch verstanden, wollte man sie als Dokument des Widerstands gegen den Nationalsozialismus auffassen; sie hat auch nachweislich nicht als solches gewirkt.26 Die kritische Adresse der Barmer Erklärung geht bekanntlich gegen theologische Irrtümer der Deutschen Christen (DC) wie das innerkirchliche Führerprinzip oder die sogenannte Volksnomos-Lehre. Die Bedeutung Barmens wird daher heute meist in der Sicherung theologischer Kriterien bzw. Ausschlusskriterien für die Grenzen der Kirchengemeinschaft erblickt, und auch die strittige Frage, ob die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis gelten kann, erscheint in diesem Horizont. Wenn ich Barmen hier gleichwohl nicht unter der Fragestellung nach der kirchlichen Unio verhandele, dann deshalb, weil dieses Vorgehen die zwischen den Konfessionen festgefahrenen Probleme der Barmenrezeption nicht lösen, sondern nur nochmals benennen könnte: Während die im engeren Sinne ekklesiologischen Thesen Barmen III und IV sowie auch VI zwischen Reformierten und Lutheranern verhältnismäßig wenig Streitpotential besitzen – Barmen III ist ja schon auf der Synode im Zusammenwirken beider Bekenntnisse formuliert worden – scheinen sich in Barmen II und V klassische Konfessionskulturen in Gestalt der reformierten Königsherrschaft Christi (Barmen II) und einer Adaption lutherischer Zwei-Reiche-Lehre (Barmen V) komplementär zu ergänzen. Wie sinnvoll diese konfessionelle Blickrichtung angesichts der divergenten Rezeptionen von Barmen III in EKU und VELKD in den 1970er Jahren27 und insbesondere angesichts 26

27

Vgl. hierzu Peter Steinbach, Wirkung und Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung aus profanhistorischer Sicht. Einige Beobachtungen, Fragen und Überlegungen, in: Wilhelm Hüffmeier (Hg.), Das eine Wort Gottes – Botschaft für alle, Bd. 1, Gütersloh 1994 (Veröffentlichung des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union), 339–346. Beide Kirchenzusammenschlüsse erarbeiteten durch ihre Theologischen Ausschüsse Denkschriften zur Ekklesiologie, in denen das Verhältnis von Barmen III zu CA VII den mehr oder weniger

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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der Tatsache sein kann, dass die scheinbar lutherische These V als einzige komplett von Karl Barth formuliert ist, lasse ich hier dahingestellt. Festhalten kann man, dass in Barmen I die eigentliche Sprengkraft der ganzen Barmer Theologischen Erklärung liegt. Deswegen möchte ich auch allein an Barmen I demonstrieren, wie das theologische Problem des Bekenntnischarakters durch eine alternative, kirchentheoretische Vorgehensweise zu lösen ist. Barmen I trägt unverkennbar die Handschrift Karl Barths; in der grammatischen Struktur ihrer Affirmation tut die These eigentlich nichts anderes, denn dass sie Barths Christozentrismus als Kern und Stern des Bekenntnisses, konkret des Heidelberger Katechismus erkennt, aus dessen Frage 1 direkt zitiert wird. Damit wird Barmen I freilich keineswegs zu dem reformierten Sondergut, das besonders Paul Althaus darin erkennen wollte.28 Vielmehr hatte Barth schon bei der Barmer Freien Reformierten Synode Anfang Januar 1934, einer seiner wichtigsten Vorarbeiten, auf die er Mitte Mai für seinen Bonner Entwurf zur Barmer Theologischen Erklärung zurückgreifen konnte, reformierte Theologumena – damals anklangsweise sogar die noch speziellere reformierte Ämterlehre29 – herangezogen, um ein über jede konfessionelle Beschränkung hinausweisendes „Wort zur Lage“ zu sagen, das sich damals schon gegen die deutschchristliche Theologie in der evangelischen Kirche richtete. Allerdings musste sich die rein reformierte Januarsynode um einen lutherischen Zugang zu einem derartigen Wort zur Lage noch keine Gedanken machen – im Unterschied zur Bekenntnissynode an gleichem Ort knapp fünf Monate später. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn heute im Blick auf Barmen I – konkret durch den Theologischen Ausschuss der VELKD – gefragt wird, ob lutherische Theologumena wie die Lehre von der Schöpfungsoffenbarung nicht unter die Klammer des Christozentrismus gefasst und die Barmer Thesen damit auch in ihren Affirmationen als lutherisches Bekenntnis rezipiert werden können.30 Doch diese Frage führt trotz ihres leitenden Interesses am Bekenntnischarakter Barmens zu einem bloßen Vergleich bestimmter Lehrtopoi und trägt wenig zu einer kirchentheoretischen Perspektive auf die Barmer Theologische Erklärung bei. Diese bildet sich in zwei Phrasen ab, die wie Einschübe in die Struktur der These

28

29

30

unausgesprochenen Hintergrund bildet. Vgl. hierzu Henning Theißen, Die berufene Zeugin des Kreuzes Christi. Studien zur Grundlegung der evangelischen Theorie der Kirche (ASTh 5), Leipzig 2013, 56–81. Einschlägig ist Althaus’ briefliche, am 21.05.1934 an Bischof Hans Meiser gerichtete Stellungnahme zur Frankfurter Konkordie, die dokumentiert ist bei Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1985, 86–88 (Dok. 9). Vgl. zur Freien Reformierten Synode Barmen-Gemarke vom 03./04.01.1934: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 2, gesammelt und eingeleitet von Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen 1935, 22–25, hier 25 (Ziff. V.2). Vgl. Notger Slenczka, Die Vereinbarkeit der Barmer Theologischen Erklärung mit Grundüberzeugungen der Lutherischen Kirche und Theologie, in: KuD 57 (2011), 346–359, hier 357.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

wirken, aber gerade damit die innerkirchliche Dynamik erkennen lassen, die jedem Bekenntnis erst die Lebendigkeit des Bekennens ermöglicht.31 Die erste Phrase findet sich in der Affirmation und qualifiziert Jesus Christus, den die ganze These als das eine Wort Gottes prädiziert, durch das Zeugnis der Heiligen Schrift: „wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird“. Während diese Wendung schon in Barths Bonner Entwurf zu finden war, wurde die zweite Phrase erst im Zuge der Barmer Synodalverhandlungen, und zwar in der interkonfessionellen sogenannten Schlussberatungskommission formuliert, nachdem die Bekenntniskonvente der Synode die von Asmussen eingebrachte Vorlage der Erklärung (die sogenannte Frankfurter Konkordie, leicht verändert) beraten hatten. Diese Phrase hält als Teil des Verwerfungssatzes der These fest, dass die Kirche andere Gestalten des Wortes Gottes neben Jesus Christus jedenfalls nicht „als Quelle ihrer Verkündigung“ anerkennen könne. Dass die Mitglieder der Schlussberatungskommission und insbesondere Barth, von dem die Formulierung auch dieser zweiten Phrase stammt, damit andere Worte Gottes nicht in Abrede stellen, ist wohl spätestens seit Nicolaisens Edition der Textgeschichte unzweifelhaft.32 Ganz offensichtlich liegt das Interesse der Barmer Bekenntnissynode nicht auf dieser kontroverstheologischen Frage, sondern ist kirchentheoretischer Natur. Nimmt man die Struktur der These mit ihren beiden einschubähnlichen Phrasen zusammen, so ergeben sich mit den Stichworten Wort Gottes, Heilige Schrift und Verkündigung exakt die Bezugspunkte einer Theologie, die sich just im Umfeld der Barmer Bekenntnissynode mit der Zeitschrift Evangelische Theologie ein neues publizistisches Organ verschaffen sollte. Der ausweislich des Programmvorwortes von Ernst Wolf (im ersten Heft 1934)33 dezidiert nicht konfessionell gemeinte Name der neuen Zeitschrift zeigt dieselbe kirchentheoretische Blickrichtung an, die ich auch auf Barmen I einzunehmen beabsichtige. Denn bei der für diese evangelische Theologie entscheidenden Frage, wie die Heilige Schrift als Wort Gottes zu verkündigen sei, stellt der in Barmen I formulierte Christozentrismus im Grunde einen Kunstgriff dar, der eine unfruchtbar gewordene Alternative überwindet, und zwar die Alternative von mündlichem Wort in der Predigt und schriftlichem Wort in der Bibel. Ob man an Luthers Äußerungen zum Redewort in der Kirchenpostille von 1522 denkt34 oder aber an das solenne Schriftprinzip, wie es die konfessionelle Orthodoxie formulierte;35 ob man die anonyme Randbemerkung zum 1. Kapitel der Confessio Helvetica Posterior („Praedicatio verbi Dei est verbum Dei“)36 oder 31 32 33 34 35 36

Die folgenden Überlegungen zu den beiden Phrasen von Barmen I führen einen Teil meiner Habilitationsforschungen fort (vgl. Theißen, Die berufene Zeugin [wie Anm. 27], 411–414). Vgl. Nicolaisen, Der Weg nach Barmen (wie Anm. 28), 144. Wiederabdruck zur Eröffnung von EvTh 44 (1984), Heft 2. Vgl. Martin Luther, WA 10/I, 1, 17, 7–12. 4 Vgl. die Belege bei Johann Anselm Steiger, Art. Schriftprinzip, in: RGG 7 (2004), 1008–1010. Vgl. Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche in authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, hg. von E. F. Karl Müller, Leipzig 1903, 171, 10 in Verbindung mit XXXII, 20 (zum Charakter als Randbemerkung).

Systematisch-theologische Näherbestimmung

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Barths dialektisch-theologische Programmvorträge von 1922 betrachtet:37 Immer bleibt ein Vexierspiel zwischen Heiliger Schrift oder aber Verkündigung als Wort Gottes. Diese Beobachtung ist kirchentheoretisch für das Verständnis von Barmen I bedeutsam, denn in ihr zeigt sich, auf welche Weise das Bekenntnis auf seinen Sachgrund, das Wort Gottes, bezogen ist. So ließ sich anhand archivalischer Materialien aus einzelnen Landeskirchen der seinerzeitigen Deutschen Evangelischen Kirche zeigen, dass Barmen I in den Gemeinden vor allem als Stärkung des Schriftprinzips aufgenommen wurde und z. B. in den schlesischen Kirchenkreisen den Aufbau von Hausbibelkreisen beförderte.38 Wo die Barmer Theologische Erklärung darüber hinaus breitere kirchliche Schichten erreichte, da betraf ihre Wirkung die Verkündigung, da wiederum Barmen I als endgültige Antwort auf die im sogenannten Sportpalastskandal sichtbar gewordenen Bestrebungen innerhalb der DC aufgefasst wurde, das Alte Testament als Grundlage der christlichen Predigt aufzugeben. Die primäre kirchliche Wirkung von Barmen I folgte also den Linien, die mit der Vexierfrage nach Heiliger Schrift oder aber Verkündigung als Wort Gottes vorgegeben waren. Im Sinne der Evangelischen Theologie, die sich auf dem Boden Barmens entwickelte, überwindet der Christozentrismus von Barmen I diese Vexierfrage jedoch. Wenn hier nämlich gesagt wird, dass Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, das eine Wort Gottes ist, dann schließt der Gebrauch der Zeugniskategorie ein, dass nicht einmal die Bibel als solche beanspruchen kann, Gottes Wort zu sein, sondern nur, sofern sie Christus bezeugt. Entsprechendes gilt für die kirchliche Verkündigung: Sie kann nichts anderes als Christus zum Inhalt haben, unterliegt in ihrem konstitutiven Sachbezug also demselben Zeugnisvorbehalt. Es ist deutlich, dass die Stoßrichtung von Barmen I, wenn man diese Zeugnisperspektive anlegt, nicht vorrangig auf Abgrenzung von den DC, geschweige denn von der NS-Ideologie, zielt, sondern vielmehr auf eine kritische Selbstunterscheidung der Kirche. Selbst im Umgang mit den ihr anvertrauten und für sie konstitutiven Gütern wie der Bibel oder im Vollzug der Verkündigung muss die Kirche zwischen sich und dem, was sie zur Kirche macht, differenzieren. Es ist dieselbe Differenz des Bekennens gegenüber dem Bekenntnis, auf die wir bereits bei der Frage nach den Grenzen der Unio oder Gesamtheit der Kirche stießen, nur dass sie sich jetzt auf das Moment der Confessio bezieht, also auf die Frage, inwieweit Barmen als Bekenntnis gelten kann. Die Bestrebungen, nach den für die DC triumphal verlaufenen Kirchenwahlen, bekennende Gemeinden auf dem Gebiet der DEK zu sammeln, firmierten in der 37

38

Vgl. Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von Holger Finze = Karl Barth, Gesamtausgabe III/19, Zürich 1990, 65–97 („Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“) bzw. 144–175 („Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“). Vgl. Martin Königer, Die Aufnahme der Barmer Theologischen Erklärung in den Gemeinden. Dargestellt am Beispiel der Kirchenprovinz Schlesien, in: Hüffmeier, Das eine Wort Gottes 1 (wie Anm. 26), 301–311.

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Bekenntnis und Bekennen als Fixpunkte kirchlicher Orientierung und Erfahrung

Sprache der Zeit unter dem Begriff der „Bekenntnisfront“. Die Frontstellung, die damit offenbar beabsichtigt war, richtete sich nicht auf die externe Abgrenzung der Kirche gegen die Welt, sondern darauf, gewissermaßen in interner Abgrenzung der wahren von der falschen Kirche zu unterscheiden. Da die falsche Kirche der wahren aber nicht auf Augenhöhe gegenübersteht, sondern in Wahrheit gar nicht Kirche ist, ist die in der Bekenntnisfront gesuchte Konfrontation beider nur als Selbstunterscheidung der einen Kirche zu verstehen, die angesichts der Gefahr, zur falschen Kirche zu degenerieren, ihr wahres Kirchesein sucht. Entsprechend dem, was zum Streit um das Apostolikum über die Indirektheit des Bekennens als Zeugnis ausgeführt wurde, müssen wir daher auch für die Form des Bekenntnisses die gleiche Indirektheit festhalten. D. h., seiner Form nach ist das Bekenntnis gerade als Kundgabe des Evangeliums von Sündenvergebung autoritativ nur als Bitte, nämlich Bitte um Vergebung. Das ist die implizite kirchentheoretische Begründung für die in Barmen I ausgesprochenen Vorbehalte gegenüber Bibel und Predigt als Wort Gottes. Expliziert wird sie erst in Barmen III, der von Wolfgang Huber treffend als „Achse“ der ganzen Erklärung bezeichneten These,39 in der die Kirche als „Kirche der begnadigten Sünder“ begriffen wird. Die im konfessionellen Gegenüber von unierter und lutherischer Barmenrezeption angesiedelte Diskussion um die brüderliche Gemeinschaft als dritte nota ecclesiae neben Wort und Sakrament findet in diesem soteriologischen Kirchenbegriff ihre Grundlage. Wie die Unio der Kirche ihre Grenze da erreicht, wo das eigene Bekenntnis von der öffentlichen Verkündigung abgelöst, also buchstäblich verabsolutiert wird, ebenso hat dieses Bekenntnis seinen Grund darin, als öffentliche Verkündigung einer Kirche der begnadigten Sünder Bitte um Vergebung und damit Confessio im ursprünglichen Wortsinne zu sein. Zusammengefasst: These 4: Die Barmer Bekenntnissynode und ihre „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ wirken als Fixpunkte kirchlicher Erfahrung, indem sie die Frage nach der Confessio als zeugnishafte Selbstunterscheidung der Kirche stellen. Eine kirchentheoretische Lektüre der in die „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage“ mündenden Bekenntnisfront wird darauf die Antwort geben: Das Bekenntnis der Kirche hat seinen Grund in ihrer umfassenden Bitte um Vergebung.

Summary This paper formulates four theses (1–4) concerning the present situation of united churches and theologies. According to the 7th article of the Augsburg Confession (AC VII), the proclamation of the gospel and the right administering of the sacra39

Vgl. Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung (NBST 4), Neukirchen-Vluyn 1983, 28.

Summary

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ments are the only and sufficient requirements for the true unity of the church (1). Adopting present methodologies (2) for understanding doctrinal commitments of the churches in terms of “confessional culture” (Th. Kaufmann), it is argued that major confessional controversies of late 19th (3) and mid 20th century Protestantism (4) can be resolved if their doctrinal basic texts are interpreted in the framework of their underlying theory of the church that goes beyond the borders of doctrinal commitments. The paper presents interpretations of the debates about the Apostles’ Creed (3) and the Barmen Declaration (4) as examples.

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“ Christian Neddens

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft 1.

„Erstbegegnung“ in Berlin-Wilmersdorf im Oktober 1933

Evangelisch-Lutherische Kirche „Zum Heiligen Kreuz“, Berlin-Wilmersdorf, ca. 1935

Am 1. Oktober 1933 stellte sich in der „altlutherischen“ Gemeinde „Zum Heiligen Kreuz“ in Berlin-Wilmersdorf ungewöhnlicher Besuch ein: Dietrich Bonhoeffer, Franz Hildebrandt und einige andere junge Leute, vermutlich Bonhoeffers Studentenkreis, besuchten den Gottesdienst der „altlutherischen“ Gemeinde in der Nassauischen Straße. Sie wollten die Möglichkeit einer Separation von der „Deutschen Evangelischen Kirche“ (DEK) bzw. den Übertritt zur lutherischen Freikirche erkunden.1 1

Vgl. zum Folgenden: Holger Roggelin, Franz Hildebrandt. Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil, Göttingen 1999, 46–62. Zur Geschichte des „Kirchenkampfs“ in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (APU), die hier nicht annäherungsweise dargestellt wer-

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Jedoch: „Wir waren entsetzt,“ schrieb Hildebrandt rückblickend, „dass auch dort bereits die Hakenkreuzflagge auf dem Gebäude wehte. […] Von ernsthaftem Widerstand gegen das Regime war überhaupt keine Rede.“2 Das war nur teilweise richtig. Als Freikirche war die Ev.-luth. Kirche in Preußen (ELKP) von staatlichen Übergriffen verschont geblieben. Aufgrund der eindeutigen Bindung an Bibel und Bekenntnis war man weitgehend immun gegen deutschchristliche Experimente. Auch zur Übernahme des „Arierparagraphen“ sah man sich nicht genötigt. Gleichwohl herrschte eine deutschnationale, obrigkeitsstaatliche Gesinnung vor.3 Und der

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den kann, vgl. Gerhard Besier/Eckhard Lessing (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 3: Trennung von Staat und Kirche, Kirchlich-politische Krisen, Erneuerung kirchlicher Gemeinschaft (1918–1992), Leipzig 1999, 211–560. Hildebrandt (1909–1985) und Bonhoeffer (1906–1945) gehörten seit 1932 zu dem unter anderem von Hermann Sasse und Gerhard Jacobi gegründeten Berliner „Jacobi-Kreis“, der 1933 zur Keimzelle der kirchlichen Opposition wurde. Mit der Einführung des „Arierparagraphen“ in der APU war für sie der status confessionis gegeben. Die „gleichgeschaltete“ Kirche hatte in ihren Augen ihr Kirchesein verloren. Vor der Wahl Ludwig Müllers zum Reichsbischof verteilten Bonhoeffer und Hildebrandt eine Protesterklärung auf der Wittenberger Nationalsynode. Bonhoeffer – und in noch stärkerem Maße Hildebrandt – verfolgten fortan eine radikale Trennung von der APU und DEK. Bonhoeffer hatte schon am 9. September 1933 Barth von seinen Freikirchenplänen in Kenntnis gesetzt. Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, hg. von Eberhard Bethge, Bd. 2, München 1959, 126. Barth hingegen empfahl, abzuwarten. Das Schisma müsse von der anderen Seite her erfolgen: „Wenn die Leute [gemeint sind die DC] so fortfahren, wird die Freikirche eines Tages einfach da sein. Vorher sollte man wohl mit der Möglichkeit noch nicht einmal spielen. […] Wir haben uns durch viel, sehr viel Ärgernis auch aus der Dibeliuskirche der Vergangenheit mit Recht nicht gleich hinausdrängen lassen, sondern haben in ihr selbst unseren Protest angemeldet. Dazu sind wir nun auch in der Hossenfelder-Kirche jedenfalls fürs Erste aufgerufen“ (Brief an Bonhoeffer vom 11.9.1933, in: a.a.O, 128). Brief Hildebrandts an M. Leibholz, 4.7.1978, zitiert nach Roggelin, Franz Hildebrandt (wie 7 Anm. 1), 57. Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Gütersloh 2001, 374. Vgl. Brief Hildebrandts an Hartmut Ludwig vom 30.7.1973, zitiert nach Roggelin, Franz Hildebrandt (wie Anm. 1), 57. „Es war klar“, resümierte Hildebrandt, „dass es in diesem Quartier keinen ernsthaften Widerstand gegen den Nazismus gab; in einem Flugblatt der Altlutheraner wurden Pazifismus, Marxismus etc. etc. als die wirklichen Feinde der Kirche bezeichnet“. Am 7. Juli 1933 hatte das Oberkirchenkollegium den Gemeinden empfohlen, die kirchlichen Gebäude „vorkommendenfalls“ fortan „mit den Reichsfahnen (Schwarz-weiß-rot und Hakenkreuzfahne) zu beflaggen, da diese Fahnen jetzt nicht mehr Parteifahnen, sondern die vaterländischen Fahnen sind“ (Kirchenblatt für die Evang.-lutherischen Gemeinden in Preußen, hg. von Gottfried Nagel, 88 (1933), 449 [im Folgenden: Kirchenblatt].) Damit leistete die Kirchenleitung dem Erlass von Reichspräsident Paul von Hindenburg vom 12. März 1933 Folge, was nicht bedeuten musste, dass sich alle Gemeinden an die Vorgaben gebunden sahen (jedenfalls nicht bis zum Reichsflaggengesetz vom 15.9.1935). Die Verordnung bezog sich auf staatliche Feiertage, was für den Erntedanktag am 1. Oktober 1933 zutraf. Da das Wilmersdorfer Kirchengebäude mit dem gemeindeeigenen Mietshaus eine optische Einheit bildete, ist nicht mehr zweifelsfrei zu klären, ob die von Hildebrandt wahrgenommene Beflaggung tatsächlich an der Kirche angebracht war oder ob einer der Mieter die Fahne aus dem Fenster hängte. Der Aufstieg der Nationalsozialisten wurde in der kirchlichen Presse der ELKP unterschiedlich beurteilt. Während z. B. in dem von Arnold Jacobskötter (1876–1951) herausgegebenen Ev.Luth. Volks-Kalender „Christophorus“ eine gewisse Zustimmung signalisiert wurde (vgl. Christophorus 1931, 57), waren die Töne in dem von Oberkirchenrat Gottfried Nagel (1876–1944) ver-

234

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

neuen Staatsführung gegenüber wollte man sich nichts zuschulden kommen lassen, auch um den inzwischen erreichten juristischen Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht zu gefährden.4 Andererseits war man aufgrund der eigenen leidvollen Erfahrungen ausgesprochen sensibel für die Problematik staatlicher Eingriffe in die Kirche.

Dietrich Bonhoeffer mit seinen Berliner Studierenden auf einer Freizeit in Prebelow 1932 (vorn 2. links Albrecht Schönherr)

Die Gottesdienstbesucher in Wilmersdorf erfuhren freundliche Aufnahme. Allerdings wurde ihnen deutlich gemacht, dass eine Übernahme in die Freikirche nur

4

antworteten „Kirchenblatt für die Ev.-Luth. Gemeinden in Preußen“ verhaltener, nicht aber so entschieden kritisch wie bei Hermann Sasse oder im „Gemeinde-Blatt“ der Hessischen Renitenz (vgl. Hermann Sasse, Kirchliche Zeitlage, in: Kirchliches Jahrbuch 59 (1932), hg. von ders., 1–176; Gemeinde-Blatt für die renitente Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession in Niederhessen – Melsunger Missionsblatt, Februar 1933, 7f.). Als Weltanschauung wurde der Nationalsozialismus von den „Altlutheranern“ überwiegend kritisch beurteilt, als politische Ordnungsmacht wurde er weitgehend begrüßt. Die Position der ELKP unterschied sich 1933 nicht wesentlich vom breiten Strom der im damaligen Protestantismus vorherrschenden völkischnationalen Geschichtstheologie, in der die „deutsche Wende von 1933 als ein Geschenk und Wunder Gottes begrüßt“ wurde (Paul Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933, 5). Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1, Göttingen 1976, 77: „Es hat damals wohl kaum eine deutsche Landeskirche gegeben, die es versäumt hätte, in Form einer Kanzelabkündigung oder einer sonstigen Verlautbarung den Dank für die „nationale Erhebung“ auszudrücken, die man als die Wende im Staatsleben empfand.“ Seit dem 19.6.1930 waren die Altlutheraner als „Verein der ev. luth. Kirchengemeinden unter dem Oberkirchenrat zu Breslau“ vom Land Preußen anerkannt; vgl. Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungsband 6), Göttingen ²2010, 102.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

235

diskutabel wäre, wenn sie ganze Gemeinden „mitbrächten“.5 Das war angesichts der leeren Kirchenkasse die reine Wahrheit. Es scheint aber auch, dass man diesen oppositionellen Unionstheologen mit Zurückhaltung begegnete. So schnell war der Kontakt aber noch nicht erledigt, wie es bei Eberhard Bethge und Holger Roggelin den Anschein hat. Bei Robert Stupperich (1904–2003) findet sich die Notiz einer weiteren Kontaktaufnahme. Bonhoeffer und Hildebrandt seien nämlich mit ihm eines Abends noch einmal zu Superintendent Johannes Beyreiß (1865–1946) gefahren, um sich über die Möglichkeit einer Freikirchenbildung zu informieren. „Das Ergebnis war recht unbefriedigend, so dass niemand von uns dieses Thema weiter verfolgte. Wenn auch die Möglichkeit gegeben war, aus einer DC-Gemeinde auszuscheiden, so war damit die Frage einer andersartigen Neugründung noch lange nicht erwogen.“6 Die Offenheit bei Bonhoeffer und Hildebrandt, mit der ELKP zu kooperieren, war grundsätzlich vorhanden – zumindest im Herbst/Winter 1933. Und Hildebrandt verfasste noch im April 1934 „10 Thesen für die Freikirche“.7 Doch die Weichen waren inzwischen anders gestellt, auch durch Karl Barths Vortrag in der Singakademie und sein Gespräch mit den Notbundpfarrern in Berlin am 30./31. Oktober 1933: „Barth nannte hier die Schritte zur Entstehung der Bekennenden Kirche: Freie Synode – Übernahme der Kirchenleitung – Bekenntnis.“8 Solange noch auf der Ebene der Gemeinden und der theologischen Wissenschaft Opposition möglich war, lehnte Barth den „damals von manchen erwogenen Weg in die Freikirche ab“9.

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7

8 9

Brief Hildebrandts an M. Leibholz, 4.7.1978 (NLH, 9251/22), zitiert nach Roggelin, Franz Hildebrandt (wie Anm. 1), 57. Vgl. Bethge, Dietrich Bonhoeffer (wie Anm. 2), 374. Robert Stupperich, Der Kirchenkampf in Berlin-Brandenburg, in: Peter Maser (Hg.), Der Kirchenkampf im deutschen Osten und in den deutschsprachigen Kirchen Osteuropas (FS Peter Hauptmann), Göttingen 1992, 44. Vgl. Franz Hildebrandt, 10 Thesen für die Freikirche [Ende April 1934], in: Bonhoeffer, Gesammelte Schriften 2 (wie Anm. 1), 167f.: „6. Die sogenannte ‚Volkskirche‘ hat in der Bibel keine Verheißung, in der Geschichte keine Erfüllung, in der Gegenwart keine Bedeutung. 7. Aus der Wahl zwischen Staats- und Freikirche – ein Drittes gibt es heute nicht mehr – wird diese ohne Mittel und Aussichten und jene ohne Evangelium und Bekenntnis hervorgehen.“ Hartmut Ludwig, Die Entstehung der Bekennenden Kirche in Berlin, in: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, Berlin 1987, 272. Hans-Otto Furian, Die Sammlung der bekennenden Gemeinden in der Kirchenprovinz, in: Erich Schuppan (Hg.), Bekenntnis in Not. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg im Konflikt mit dem totalen Staat (1933–1945), Berlin 2000, 131–212, hier 161, mit Zitat von Karl Barth, Reformation als Entscheidung, TEH 3 (1933), 3f.

236

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

George Bell (links) und Franz Hildebrandt (Mitte) in London, 1. Juli 1941

2.

Die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen 1933: Hoffnung und Scheitern einer vereinigten lutherischen Bekenntniskirche

Der Aufschwung der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, der Weg der evangelischen Landeskirchen zur DEK und die allseits laut werdenden Forderungen nach einer „Reichskirche“ wurden von den „Altlutheranern“ aufmerksam beobachtet.10 Ende Januar 1933 wurde im „Kirchenblatt“ erfreut ein Erstarken des konfessionellen Bewusstseins in den Landeskirchen wahrgenommen. Gemeint war insbesondere der Aufruf zur „Sammlung der Lutheraner“ des ehemaligen westfälischen Generalsuperintendenten Wilhelm Zoellner (1860–1937), der die Union einer beißenden Kritik unterzog. Der Kommentator im „Kirchenblatt“ konnte nur staunen: „Ja, ist es denn wirklich wahr, dass man das alles, was unsere Väter stets – freilich unter dem ständigen Protest der Union – behauptet haben, nun auch innerhalb der Union allmählich einzusehen beginnt?“11 Wenig später veröffentlichte Oberkirchenrat Gottfried Nagel (1876–1944) ein Konzept zur Neuordnung der evangelischen Kirche aus „altlutherischer“ Perspektive. Eine bloß politisch motivierte, staatsnahe Reichskirche ohne klare Bekenntnis10

11

Vgl. zum Folgenden insgesamt: Christian Neddens, „Bekenntnis, Blut und Boden“? – Selbständige lutherische Freikirchen zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Freikirchenforschung 21 (2012), 195–222; Peter Lochmann, Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen, in: Geschichte der lutherischen Freikirchen im Dritten Reich – mit Dokumentation. Berichte, Bd. 2, vorgelegt für die 6. Kirchensynode der SELK in Groß-Oesingen vom 16.6.–21.6.1987, gedruckt durch die SELK, April 1987, 33–55; Werner Klän, Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“, in: LuThK 9 (1985), 16–24; ders., Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“. Versuch einer Zwischenbilanz, in: LuThK 11 (1987), 73–87. [Gottfried Nagel,] Zur kirchlichen Lage, in: Kirchenblatt 88 (1933), 67–73, 83–90, 99–103, 116– 122, hier 70.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

237

grundlage lehnte Nagel entschieden ab. Seine Zielvorstellung war stattdessen eine „vereinigte Evangelisch-lutherische Bekenntniskirche Deutschlands“!12 Die reformierte Kirche sollte daneben ihren eigenen Kirchenbund bilden.13 Die Betonung in Nagels Konzept lag auf „Bekenntniskirche“. Der Staat dürfe auf keinen Fall in die Kirche hineinregieren.14

Oberkirchenrat Gottfried Nagel

Als sich am 27. Mai 1933 die Landeskirchen auf Fritz von Bodelschwingh als designierten Reichsbischof einigten und damit ihren Selbstbehauptungswillen gegen die staatliche Gleichschaltungspolitik bekundeten,15 wurde das Oberkirchenkollegium in Breslau aktiv.16 Nagel ging davon aus, dass die DEK ein Kirchenbund sein würde mit einer lutherischen, unierten und reformierten Säule. Mit dem Hannoverschen Landesbischof August Marahrens, der als einziger lutherischer Bischof bedingungslos zu Bodelschwingh stand, beriet er, wie die ELKP sich der lutherischen Bekenntnisgruppe anschließen könne.17 Doch bald zerschlugen sich diese Hoffnungen. 12 13 14 15 16

17

Gottfried Nagel, Kirchbaupläne. Zu dem Verlangen nach einer Reichskirche, in: Kirchenblatt 88 (1933), 275–280, 290–295, hier 280. Vgl. a.a.O., 292: „Beide Kirchen könnten sehr wohl in allem Frieden nebeneinander gemeinsam zum Heil unseres deutschen Volkes wirken“. Ebd. Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, München 2000, 498. Da eine Generalsynode der ELKP aufgrund der wirtschaftlich desolaten Lage nicht einberufen werden konnte, fanden zwischen dem 16. und 30. Juni 1933 Diözesansynoden statt, zu denen Oberkirchenrat Nagel reiste, über die kirchliche Lage berichtete und die Diözesen hinter seine Kirchbaupläne sammelte. Um die nötigen Schritte auch ohne Zustimmung der Generalsynode einleiten zu können, hatte sich Nagel von den Diözesansynoden die Bevollmächtigung eingeholt, dass das Oberkirchenkollegium für vier Jahre (außer in Kassensachen) allein entscheidungsbefugt sei. Doch als Nagel im „Kirchenblatt“ am 16. Juli davon berichtete, hatten sich die Ereignisse inzwischen überschlagen. Am 24. Juni war August Jäger zum Staatskommissar für sämtliche Landeskirchen Preußens eingesetzt worden, und die Mehrzahl der Kirchenführer hatte Bodelschwingh fallen gelassen. Vgl. Gott-

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Am 30. Juli – also nach den DEK-Kirchenwahlen – veröffentlichte das „Kirchenblatt“ eine „Stellungnahme zur Deutschen Evangelischen Kirche“.18 Als besonders schmerzlich wurde darin hervorgehoben, dass sich die DEK „Kirche“ nenne, ohne es zu sein, ferner dass die Union „mit all der Ungerechtigkeit und all der kirchlichen Unklarheit, die sie im Gefolge gehabt hat, nicht aufgelöst“19 worden sei. Immerhin sei es nicht zur unierten Staatskirche gekommen, und die DEK sei ihrem Namen zu Trotz ein Kirchenbund geblieben. Ob sich die ELKP diesem Kirchenbund anschließen sollte, wurde davon abhängig gemacht, wie das Verhältnis des Staates zur DEK geregelt werde, wer Reichsbischof werde und wie stark sich der Einfluss der DC in der Kirche durchsetzen werde. Um mögliche Hindernisse für eine Vereinigung mit den lutherischen Landeskirchen aus dem Weg zu räumen, wurde die ELKP am 2. August 1933 in die „Ev.-luth. Kirche Altpreußens“ (ELKAp) umbenannt.20 In den folgenden Monaten verhielt sich das Oberkirchenkollegium abwartend. Reichsbischof Ludwig Müller scheint im Oktober den Versuch einer Eingliederung der ELKAp in die DEK unternommen zu haben, der am Widerstand des Oberkirchenkollegiums scheiterte.21 Denn dass Ludwig Müller als Bischof einer unierten Landeskirche nun der lutherische Reichsbischof sein sollte, dass vom „Corpus Lutheranorum“ in der DEK nicht mehr die Rede war und Müller auf der 1. Nationalsynode im Oktober 1933 auch noch erklärte, die DEK sei kein Kirchenbund, sondern „eine einheitliche Kirche“,22 wurde von den Altlutheranern als eindeutiger Verfassungsbruch aufgefasst. Eine Eingliederung wurde nun entschieden abgelehnt. Nagel verfasste dazu im November eine entsprechende negative Stellung-

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21 22

fried Nagel, Die diesjährigen Diözesansynoden in unserer Kirche, in: Kirchenblatt 88 (1933), 451–456, hier 452. Kirchenblatt 88 (1933), 482–486. Die am 11. Juli 1933 verabschiedete Verfassung der DEK war ein in sich zwiespältiges Gebilde, das zwar die landeskirchliche Gesetzgebungskompetenz wahrte, mit ihrem Reichsbischof und geistlichen Ministerium aber zentralistisch wirkte und von ihren Kritikern als Unionskonzeption wahrgenommen wurde. „Kirche oder Kirchenbund, das [war] die große Frage, die die Verfassung der DEK selbst offen“ ließ (Hans Jörg Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit, Göttingen 1966, 160–196, hier 195). Die Kirchenwahlen vom 23. Juli hatten erdrückende DC-Mehrheiten in den meisten Landeskirchen ergeben. In der APU war mit der „Braunen Synode“ vom 4./5. September und Ludwig Müller als Landesbischof die DC-Dominanz besonders augenfällig geworden. Kirchenblatt 88 (1933), 482–486, hier 484. Vgl. a.a.O., 519. Ob die lutherischen Freikirchen überhaupt würden weiterbestehen können, schien nicht ausgemacht. Eine entsprechende Anfrage bei der neuen Regierungsmacht brachte aber zunächst Beruhigung. Vgl. zu dieser Einschätzung Lochmann, Die evangelisch-lutherische Kirche in Preußen (wie Anm. 10), 34. Auszüge der Rede wurden im Kirchenblatt 88 (1933), 662 abgedruckt und die zitierte Passage vom Schriftleiter Nagel fett markiert. Vgl. zum Protest gegen die Ernennung Müllers zum Reichsbischof: a.a.O., 697.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

239

nahme.23 Ob die Kontaktaufnahme Bonhoeffers und Hildebrandts mit der ELKAp anders verlaufen wäre, wenn sie im November statt Anfang Oktober erfolgt wäre, bleibt eine offene Frage.

3.

Die Entstehung der Bekennenden Kirche und die spannungsvolle Position der „Altlutheraner“ Anfang 1934

Anfang 1934 sahen die Altlutheraner in der DEK einhellig die unionistische Staatskirche, wie dies ja vom Reichsbischof intendiert war.24 Entschieden positionierte sich das „Kirchenblatt“ auf der Seite des Pfarrernotbundes und gegen die DC.25 Im Rezensionsteil der Zeitschrift wurden nun Titel, die aus dem Umfeld der entstehenden Bekennenden Kirche von Barth, Bonhoeffer oder Thurneysen stammten, auffällig positiv gewürdigt.26 Im „Kirchenblatt“ wurden große Teile des „Betheler Bekenntnisses“ abgedruckt als „sehr beachtenswertes Zeugnis zur gegenwärtigen kirchlichen Lage“27. In der ELKAp nahm man durchaus wahr, dass sich in den Unionskirchen eine Gruppe formierte, die eine klare Bekenntnisbindung suchte und dabei den Rückbezug zu den lutherischen Bekenntnisschriften vornahm.28 In dem von Bonhoeffer und Sasse entworfenen „Betheler Bekenntnis“ trat allerdings die Spannung schon zutage, die sich in den Bekenntnissynoden von Barmen bis Oeynhausen fortsetzte: Während die einen die Betonung auf das aktuelle Bekennen legten – in Rückbindung an das konfessionelle Erbe –, sahen die anderen das aktuelle Bekennen lediglich als Vergegenwärtigung der lutherischen Bekenntnistradition an.

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Gottfried Nagel, Kann die Evangelisch-lutherische Kirche Altpreußens sich der Deutschen Evangelischen Kirche eingliedern?, Breslau November 1933. Vgl. Kirchenblatt 89 (1934), 101–104, 134–138. Vgl. Reese, Bekenntnis und Bekennen (wie Anm. 18), 196. Vgl. Kirchenblatt 89 (1934), 137 und 170. 1933 hatte es in der ELKP auch noch Stimmen gegeben, die eine stärkere Rücksicht auf die „geschichtliche Stunde“ von der Kirchenleitung gefordert hatten. Dies war vor allem in Thüringen der Fall, wo Pfarrer Hermann Oergel (Erfurt) und Hilfsprediger Philipp (Mühlhausen) deshalb aus der ELKP ausschieden. Vgl. Kirchenblatt 88 (1933), 764, sowie die Akten Erfurt im Kirchenarchiv der SELK, Oberursel. Vgl. auch die Ereignisse in Oberwalden nach: Gerhard Ehrenforth, Die schlesische Kirche im Kirchenkampf, Göttingen 1968, 110. Barths Aufsätze „Theologische Existenz“, „Offenbarung und Kirche“ oder „Der gute Hirte“ konnten – bis auf den darin enthaltenen „Unionismus“ – genauso empfohlen werden wie Bonhoeffers „Schöpfung und Fall“ oder wie eine Abhandlung Eduard Thurneysens zur Predigtlehre. Vgl. Kirchenblatt 88 (1933), 463, und Kirchenblatt 89 (1934), 151–154 und 364f. Kirchenblatt 89 (1934), 146–150 und 162–167, hier 147. Vgl. Reese, Bekenntnis und Bekennen (wie Anm. 18), 197–206. Dass der Bekenntnisbegriff dieser Gruppe dem der konfessionellen Erweckung zu entsprechen schien, also eine Aneignung des Bekenntnisses der Kirche durch den Einzelnen und die Gemeinden intendierte, kam den Altlutheranern natürlich entgegen. Vgl. a.a.O., 201.

240

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Als sich im März 1934 die „Bekenntnisgemeinschaft der DEK“ formierte,29 veröffentlichte das Oberkirchenkollegium der ELKAp ein „Wort an ihre Glieder“, in dem hervorgehoben wurde, dass die reine Ausprägung des Evangeliums nur im lutherischen Bekenntnis zu finden sei.30 Gleichzeitig wurde aber auch betont – und das war das eigentlich Interessante –, dass die ELKAp „mit allen, denen heute in Deutschland die Erhaltung des Christentums für unser Volk am Herzen liegt, gegen das neue Heidentum in gemeinsamer Front mit vollem Einsatz ihrer Kräfte kämpfen“ werde.31 Damit war die Position klar markiert: das Nein gegenüber jeder Union, aber die erklärte Bereitschaft, sich im Kampf gegen die radikalen Richtungen der DC zu engagieren. Doch wie weit durfte und sollte dieses Engagement gehen? War die ELKAp bereit, sich in den „Kirchenkampf“ hineinziehen zu lassen, was auch zum Konflikt mit staatlichen Organen führen konnte? Und wie sollte das Verhältnis zu den nicht-lutherischen Bekenntnisgemeinden gestaltet werden? Jedenfalls ließ man in den folgenden Wochen im „Kirchenblatt“ die Stimmen, die gegen die DC opponierten, ausführlich zu Wort kommen.32 Die ELKAp schien sich jetzt ganz auf der Linie Hermann Sasses zu befinden: an der Seite der Bekennenden Kirche, aber unter Vorbehalt der konfessionellen Differenz.33 Doch am 20. Mai 1934 veröffentlichte das Oberkirchenkollegium eine erneute Verlautbarung, in der deutlich stärker die politische Loyalität bei gleichzeitigem Beharren auf kirchlicher Selbstständigkeit betont wurde.34 Die Sorge Breslaus, die lutherischen Freikirchen könnten ebenfalls gleichgeschaltet werden, wenn sie irgendeine politische Unvorsichtigkeit begingen, war in dieser Verlautbarung deutlich zu spüren.35 So wurde der Vorwurf abgewiesen, „unsere Kirche kämpfe ja den kirchlichen Kampf von heute gar nicht mit, sondern stehe untätig beiseite“36, mit dem Argument, die Altlutheraner hätten schon vor 100 Jahren das erkämpft, um

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Eine gute Übersicht über die verschiedenen Bekenntnisgemeinden und -gruppen vermittelt Furian, Die Sammlung (wie Anm. 9), 171–179. Kirchenblatt 89 (1934), 195f., hier 195. A.a.O., hier 196 (Hervorhebung dort). Vgl. a.a.O., 229–233, 250–252, 267–269, 280–282, 283f., 328–332: Es wurde die „Kundgebung der bayerischen lutherischen Landeskirche“ vom 17. März 1934 ebenso umfangreich abgedruckt wie die „Antwort des Pfarrernotbundes auf die Karfreitagskundgebung des Reichsbischofs“ oder die „Ulmer Erklärung“ gegen die Zwangsmaßnahmen in Württemberg. Vgl. Sasses Position zur Barmer Theologischen Erklärung: Hermann Sasse, In statu confessionis. Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin 1966, 280–286, hier 281. Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2, München 2000, 210f. An unsere Gemeindeglieder, Kirchenblatt 89 (1934), 307–314, hier 307 und 314. Sie begann mit den Worten: „Durch Gottes Gnade dürfen wir jetzt eine große Zeit in und mit unserem Volk erleben. Kommende Geschlechter werden uns einmal darum beneiden.“ Und sie endete mit dem Aufruf zum Gebet „für unsern Führer und für unser Volk“. Vgl. a.a.O., 307–314, hier 307: Dankbar wurde darauf hingewiesen, dass „unsere kleine Ev.-luth. Kirche Altpreußens von den kirchlichen Kämpfen der Gegenwart bisher verschont geblieben ist“. A.a.O., 307–314, hier 308.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

241

was in der DEK gegenwärtig gerungen werde, und man dürfe sich nicht in die Angelegenheiten der DEK einmischen (was man faktisch durchaus immer wieder tat).37 War dieser „Rückzieher“ durch die Gleichschaltung zahlreicher Landeskirchen ausgelöst, über die im „Kirchenblatt“ fortlaufend berichtet wurde? Wollte Breslau die in manchen Diözesen aufkeimende und politisch gefährliche Solidarität mit der BK unterbinden?38 Oder lag es an den Ereignissen um Freiherr von Pechmann, die seit April 1934 die ELKAp ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten?39

4.

4.1

Oppositionelles Christentum und die „altlutherischen“ Gemeinden Freiherr von Pechmanns Protest gegen die Gleichschaltung der Kirchen und die Entrechtung der Juden

Wilhelm Freiherr von Pechmann (1859–1948), der im Ausland hohes Ansehen genoss und über viele Jahre Präsident des Evangelischen Kirchentages gewesen war, erklärte am 2. April 1934 gegenüber dem Reichsbischof seinen Austritt aus der DEK und protestierte öffentlich „gegen die Vergewaltigung der Kirche, gegen ihren Mangel an Widerstandskraft, auch gegen ihr Schweigen zu viel Unrecht und zu all dem Jammer und Herzeleid, das man […] in ungezählte ‚nichtarische‘ Herzen und Häuser, christliche und jüdische, getragen hat.“40

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Vgl. a.a.O., 307–314, hier 309: „Es wäre ein Eingreifen in fremde Aufgaben, wenn die ELKAp sich etwa bei der Reichsregierung oder bei dem Reichsbischof über das beschweren wolle, was in der DEK jetzt vorgehe.“ Siehe unten Kap. 4.2, in diesem Band 243–254. Siehe unten Kap. 4.1, in diesem Band 241–243. Oder geschah dies im Blick auf die vom 29.– 31. Mai tagende Erste Bekenntnissynode in Barmen, die auf eine neue, auf Bibel und Bekenntnis gegründete Kirchenvertretung quer zu den überkommenen Bekenntnissen und in offener Opposition zur Reichskirche hinauslaufen sollte? Erstaunlicherweise blieben deren Ergebnisse im „Kirchenblatt“ unkommentiert – ebenso wie der daraufhin erfolgende „Ansbacher Ratschlag“. Offensichtlich wollte man hierzu vorerst nicht Stellung beziehen müssen. Vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich 2 (wie Anm. 33), 179–184. AELKZ 67 (1934), 351f. Wieder abgedruckt in: JK 2 (1934), 336f., und bei Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Widerstand und Solidarität der Christen in Deutschland 1933–1945. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf aus den Papieren des D. Wilhelm Freiherr von Pechmann, Neustadt/Aisch 1971, 79f. Lesenswert sind die bei Kantzenbach abgedruckten Briefwechsel Pechmanns mit Barth, Sasse, Nagel, Meiser, Reichsbischof Müller und vielen anderen Persönlichkeiten des kirchlichen und politischen Lebens. Über den Austritt wurde berichtet in: Kirchenblatt 89 (1934), 249f.

242

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Wilhelm Freiherr von Pechmann

Nach seinem Austritt wandte sich von Pechmann an Oberkirchenrat Nagel und erbat von der ELKAp, gastweise zum hl. Abendmahl zugelassen zu werden, was ihm auch gewährt wurde.41 Der hochpopuläre konservative Kirchentagspräsident mit seiner kompromisslosen antinationalsozialistischen Haltung wurde nun in der Öffentlichkeit mit der Position der ELKAp in Verbindung gebracht. Breslau reagierte zum einen mit der besagten betont staatsloyalen Verlautbarung vom 20. Mai 1934. Zum anderen veröffentlichte Gottfried Nagel im Juni die Schrift „Hindurch zur lutherischen Bekenntniskirche“ und schickte sie dem Freiherrn auch gleich nach München zu. Offensichtlich sah Nagel noch einmal die Gunst der Stunde gekommen, um für eine vereinigte lutherische Kirche zu werben.42 Seine zentrale These bestand darin, dass die DEK lediglich aus dem völkischen Erleben heraus entstanden und weder in ihrem faktischen Handeln noch nach ihrer Verfassung Kirche sei, sich aber als solche gebärde. Erstaunlich ist, dass Nagel auf die gerade stattgefundene Barmer Bekenntnissynode inhaltlich-theologisch mit keinem Wort einging,43 indirekt aber die offenbarungstheologische Begründung und Beanspruchung der Kirche in These 1 und 2 aufgriff: „für den Bereich der Kirche gibt es nach Gottes Wort nur einen einzigen berechtigten Totalitätsanspruch, und das ist der: So spricht der Herr!“44 41

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Kirchenblatt 89 (1934), 379. Insofern ist die Notiz Lochmanns nicht ganz korrekt, wenn er schreibt: „Freiherr W. v. Pechmann erklärt seinen Austritt aus der Deutschen Evangelischen Kirche und tritt zur selbständigen Lutherischen Kirche zurück“ (Peter Lochmann, Einsame Wege, Köln und Düsseldorf 1980, 173). Dem entsprechend richtete sich die Schrift weniger nach innen als vielmehr werbend nach außen an die Lutheraner in der DEK. Vgl. Gottfried Nagel, Hindurch zur lutherischen Bekenntniskirche. Der Weg zur Kirche für unser Volk, Breslau Juni 1934, 3. Lediglich wurde festgestellt, dass die Behauptung der „Theologischen Erklärung“, die DEK sei ein Bund von „gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Bekenntniskirchen“, nicht zutreffend sei, sosehr man sich dies auch wünsche (a.a.O., 6). A.a.O., 20 (Hervorhebung dort).

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Freilich war die Akzentsetzung hier von der inhaltlich-christologischen Zuspitzung der Barmer Thesen auf ein formales Schriftprinzip verschoben. Nagel betonte die Unabhängigkeit einer Freikirche und die Tatsache, dass in der ELKAp „die sogenannte Glaubensbewegung der Deutschen Christen so gut wie gar nicht hat Fuß fassen können“45. Vergleicht man Nagels Werbung für die ELKAp mit von Pechmanns Begründung seines Austritts aus der DEK, dann fällt auf, wie sehr es bei diesem um das konfessionelle Thema, bei jenem aber um die Vergewaltigung der Kirche und die Entrechtung der Juden ging. Freiherr von Pechmann antwortete erst am 20. September auf die von Nagel zugesandte Schrift. Er war keinesfalls gewillt, Nagels Vision einer lutherischen Kirche deutscher Nation aufzugreifen. Im Gegenteil: er erschrecke, schrieb er, wenn auch die Erlanger Fakultät auf den Gedanken zurückkomme, „daß es jetzt an der Zeit sei, mitten im schärfsten Abwehrkampfe gegen den politischen Protestantismus und seine Hintermänner eine lutherische Reichskirche zu errichten“46. Am 18. Juni 1936 trat von Pechmann folgerichtig der Bekennenden Kirche bei.47 4.2

Die Solidarität der „altlutherischen“ Gemeinden der Berlin-Märkischen Diözese

Viele Gemeinden und Pfarrer der ELKAp sahen es als ihre Pflicht an, die Bekennende Kirche in ihrem Kampf gegen die DC-Kirchenleitungen zu unterstützen, was sie in gewisse Opposition zum Kurs der eigenen Kirchenleitung brachte. Insbesondere in der Berlin-Märkischen Diözese gab es Solidaritätsbezeugungen der „Alt45

46

47

A.a.O., 28. Nagel fuhr fort: „Und doch standen unsere Gemeindeglieder mitten drin im Volksleben; sind zu einem großen Teil Nationalsozialisten, dienen in der S.A., S.S., in der H.J. und im B.D.M.“. Brief an Gottfried Nagel vom 20. September 1934, in: Kantzenbach, Widerstand und Solidarität (wie Anm. 40), 104. Von Pechmann legte Nagel zur Bekräftigung gleich noch eine Abschrift seiner Replik gegen Paul Althaus bei, in der er dem Erlanger die drohende Unterwerfung der Kirche „unter den Totalitätsanspruch des Staates“ vor Augen hielt. Vgl. seinen Brief an Paul Althaus vom 18. September 1934, a.a.O., 101. Brief an Fräulein M. Wecklein vom 18. Juni 1936, a.a.O., 196. Bemerkenswert ist von Pechmanns Briefwechsel mit Hermann Sasse, weil beide klarer als viele andere sahen, dass es im „Kirchenkampf“ im Kern um den Widerstand gegen eine neue Form politischer Religion ging. Von Pechmann schrieb am 19. Juli 1937 aus Berlin, wo er sich im Reichsjustizministerium für verurteilte Pfarrer einsetzte, eine Reaktion auf Sasses Kritik an der Halleschen Bekenntnissynode. Zornig beklagte er den schneidenden Kontrast „zwischen der Verfolgung von Kirche und Glauben, gegen die ich gerade in diesen Tagen mit allem, was ich noch vermag, im ernstesten Kampfe liege, auf der einen Seite, – und dem mir in der Tat ganz unverständlichen Eifer, mit dem in dieser Zeit gegen die Union zu Felde gezogen wird, auf der anderen“ (Brief an Hermann Sasse vom 19. Juli 1937, a.a.O., 231. Vgl. Hermann Sasse, Unsere Aussprache mit Freund und Widersacher. Zu den Beschlüssen der Bekenntnissynode von Halle, in: LK 19 [1937], 142–144; wieder abedruckt in: Hermann Sasse, In statu confessionis, Bd. 3: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, hg. von Werner Klän und Roland Ziegler, Göttingen 2011, 156–158). Enttäuscht von der Tatenlosigkeit der evangelischen Kirche und ihrer Blindheit für die Zeichen der Zeit, trat von Pechmann am 15. April 1946 in die römisch-katholische Kirche über.

244

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

lutheraner“ mit den teilweise heimatlosen Bekenntnisgemeinden. Andere Diözesen zogen nach.48 In den drei Berliner Gemeinden sowie in Potsdam amtierten ältere und besonnene Pfarrer: Superintendent Johannes Beyreiß (1865–1946, Sup. bis 1935) in Wilmersdorf (Nassauische Str.) ging schon auf die Siebzig zu, während Friedrich Grube (1874–1953) im Wedding (Usedomer Str.), Lic. Johannes Stier (1872– 1961) in Berlin-Mitte (Annenstr.) und Paul Mintzlaff (1872–1957) in Potsdam nur wenig jünger waren. 1935 feierten die Berliner Gemeinden „100 Jahre Lutherische Kirche in Berlin“ und Stier schrieb in der Festschrift:

Friedrich Grube

Lic. Johannes Stier

„[Als] die kirchlichen Kämpfe in Deutschland entbrannt waren, hatten die Gemeinden – unter Wahrung ihrer konfessionellen Sonderstellung – nicht bloß an der Seite der „Bekenntnistreuen“ gestanden, sondern hatten, eine jede von ihnen, denselben auch ihre Kirchen für ihre Bekenntnisgottesdienste erschlossen. Immerhin war es ein nachdenkliches, zur Erinnerung aufrufendes Bild gewesen: evangelisch-unierte Pastoren, die an lutherischen Altären, auf lutherischen Kanzeln ihr Amt ausübten, die in der lutherischen Kirche Hilfe suchten, dieser einst verfolgten, nunmehr zwar geduldeten, aber noch immer gering geschätzten Kirche! Die drei lutherischen Gemeinden hatten jedenfalls den Nachweis erbracht, dass sie, trotz ihrer bekenntnismäßigen Enge, doch die ‚eine heilige, christliche Kirche‘ nicht aus ihrem Gesichtskreis verloren, und dass sie die Liebe nicht verlernt hatten, die mit

48

Zu erwähnen ist vorweg, dass es in manchen Gegenden traditionell eine starke Beteiligung landeskirchlicher Glieder bei besonderen Veranstaltungen der „Altlutheraner“ gab – und umgekehrt. Die Grenzen zwischen den lutherisch Erweckten in den Landeskirchen und in der ELKAp waren nie starr gewesen. Anlässlich der Grundsteinlegung der altlutherischen Kapelle in Hochkelpin bei Danzig etwa wird erwähnt, es seien auch viele „Landeskirchler“ aus der Umgebung erschienen; s. Kirchenblatt 88 (1933), 376. Ähnliche Notizen finden sich häufiger.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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dem Glauben an Christum verpaart ist.“49 Das waren zweifelsohne andere Töne, als vom Oberkirchenkollegium zu hören waren. Dann blickte Stier in die Zukunft und prophezeite düster, die Wetterzeichen deuteten auf Sturm. Zwar sei die lutherische Kirche Preußens vom Staat unabhängig geblieben, gebunden nur im Bekenntnis der lutherischen Kirche. Doch werde es so mit ihr und ihren Gemeinden bleiben? „[U]nsere lutherische Kirche ist die Kirche, die in der Gottesoffenbarung in Christo, dem Sohne Gottes, gewurzelt ist, die die ‚Theologie des Kreuzes‘ […] auf ihre Fahnen geschrieben hat. Werden unsere Gemeinden dieser Offenbarungstheologie auch ferner die Treue halten?“50 Mit dieser Formulierung stellte Stier erkennbar eine Nähe zur Offenbarungstheologie der Barmer Theologischen Erklärung her. Das verfestigte sich, wenn er fortfuhr: „eine neue Religion und eine neue Weltanschauung ist im Anzuge, die den wahren und lebendigen Gott stürzen, und die den Menschen und seinen ‚Mythus‘ zur Gottheit erheben wollen. Für diesen Kampf sind zunächst keine staatlichen und kirchlichen Grenzpfähle gesetzt. In ihm, der ein reiner Geisteskampf ist, der unmittelbar das Ganze des Volkes und seiner Seele zum Kampffelde hat, stehen unsere Kirche und ihre Gemeinden ohne Weiteres als Mitkämpfer darin. Wird unsere Kirche, werden unsere Gemeinden, wird zumal unser junges Geschlecht hier jenem falschen Geiste Widerstand leisten“?51 Was hatte sich in den Berliner Gemeinden ereignet? In der Nachbarschaft der „altlutherischen“ Gemeinde Berlin-Mitte, an der Stier seinen Dienst tat, lag die Evangelische St. Thomaskirche. Dort war Willy Oelsner (1897–1983) seit 1932 Pfarrer.52 Oelsner gehörte wie Eitel-Friedrich von Rabenau zur Sydower Bruderschaft und zum Pfarrernotbund – und er galt nach NS-Bestimmung als „Volljude“. 49

50 51 52

Johannes Stier, 100 Jahre Lutherische Kirche in Berlin (1835–1935), Breslau 1935, 102f. Stier fuhr fort: „Wenn die Berliner lutherischen Gemeinden, wie die ganze lutherische Kirche in Preußen, außerhalb der kirchlichen Kämpfe geblieben waren, die den übrigen evangelischen Kirchen des Vaterlandes so tiefe Wunden geschlagen hatten, so war das der Segen der Väter ihrer Kirche gewesen, die einst vor hundert Jahren unter Not und Verfolgung den Kampf um die lutherische Kirche, um die Reinheit und Lauterkeit ihres Wortes und ihrer Sakramente, ihres ganzen Evangeliums gegen die evangelische Union gekämpft hatten.“ A.a.O., 103. A.a.O., 103f. Vgl. zu den Ereignissen in der St. Thomas-Kirche: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden, Christen, Deutsche 1933–1945, Bd. II/2: 1935–1938, Stuttgart 1992, 72–92; Annelie Freund, St. Thomaskirche, in: Kirchenkampf in Berlin 1932–1945. 42 Stadtgeschichten, hg. von Olaf Kühl-Freudenstein/Peter Noss/Claus P. Wagener, Berlin 1999, 326–333; Christian Müller, Christen jüdischer Herkunft in der St. Thomas-Kirchengemeinde und Pfarrer Lic. Dr. Willy Oelsner, in: Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden, hg. von Hildegard Frisius u. a., Berlin 2008, 274–282; Palm Kleinau, Unsere Kirchengemeinde – Zufluchts- und Wirkungsstätte für den nichtarischen Bekenntnispfarrer Lic. Willy Ölsner (1897–1983) aus unserer benachbarten ev.-unierten St. Thomas-Kirchengemeinde in gelebter Ökumene einst und jetzt, in: 150 Jahre Ev.-Luth. Kirche Annenstraße, Berlin-Mitte, hg. von Ewald Schlechter, Berlin 2007, 19–22. Darüber hinausgehende Auskünfte zu Willy Oelsner und Johannes Stier verdanke ich Christian Müller, bis 2011 Pfarrer an der St. Thomaskirche, und Palm Kleinau, Mitglied der SELKGemeinde Berlin-Wilmersdorf. Von Oelsner ist eine Autobiografie erhalten: Willy Oelsner, An other unprofitable servant. Autobiography. Manuscript, Hove/England 1975.

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Als Oelsner die Maßnahmen des Reichsbischofs angriff und die Gemeindejugend gegen die Eingliederung in die Hitler-Jugend unterstützte, wurde er am 19. März 1934 aufgrund der Denunziation eines Amtskollegen vom Dienst suspendiert. Daraufhin veranstaltete Oelsner Bekenntnisgottesdienste zunächst in einem Clubhaus, verlegte sie aber bald in die nur wenige hundert Meter entfernte Kirche der „altlutherischen“ Gemeinde in der Annenstraße.53 Rückblickend schrieb er: „Mir wurde zwar erlaubt, im Pfarrhaus zu bleiben, zumindest vorübergehend, aber die Kirche war für mich versperrt, eine Maßnahme, die freundlicherweise (mit einem heuchlerischen Schreiben des Bedauerns) von meinem Nazi-Kollegen ausgeführt wurde. […] Aber das war nicht das Ende der Welt. Eine nonkonformistische lutherische Gemeinde bot mir ihre Kirche an, für jegliche Dienste an meiner Gemeinde. Mit Ausnahme einiger weniger überzeugter Parteimitglieder und einiger natürlich nervöser Typen (weil wir die ganze Zeit beobachtet wurden) folgten mir alle loyalen Gemeindeglieder zu dieser Freikirche.“54

Ev.-Luth. Kirche in Berlin-Mitte, Annenstraße, ca. 1935 (?)55

53 54 55

Vgl. das Schreiben der Berliner Stadtsynode an das Ev. Konsistorium der Mark Brandenburg vom 6.9.1934, Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA) 14/4626. Zitiert nach: Kleinau, Unsere Kirchengemeinde (wie Anm. 52), 20. Die eingewickelte, und deshalb nicht zu identifizierende Flagge, die hier neben der Hakenkreuzfahne zu sehen ist, könnte Aufschluss über die Entstehungszeit der Fotografie geben. Am 15. September 1935 wurde das „Reichsflaggengesetz“ erlassen, das fortan nur die Hakenkreuzfahne als Reichsflagge zuließ. Öffentliche Gebäude waren an staatlichen Feiertagen zu beflaggen, was auch die Kirchen mit Körperschaftsstatus einschloss. Verschiedentlich kam es daraufhin zu Denunziationen und Prozessen, wenn Pfarrer oder Gemeinden der Verordnung nicht nachkamen. Die Nationalsynode der DEK hatte – vorauseilend – bereits am 9. August 1934 einstimmig, d. h. unter Einschluss der „intakten“ Landeskirchen, und ohne Not für staatliche Feiertage die Abschaffung der eigenen Kirchenfahne zugunsten der Hakenkreuzfahne beschlossen. Vgl. Hans Prolingheuer, Der Fall Karl Barth, 1934–1935, Neukirchen-Vluyn 1977, 170f.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Am 3. Januar 1935 wurde Oelsners Suspendierung aufgehoben. Bis 1938 konnte er wieder regulär in seiner Gemeinde wirken, war allerdings heftigen Angriffen des zuletzt rein deutschchristlich besetzten Gemeindekirchenrates und antisemitischen Diffamierungen ausgesetzt. Im September 1935 etwa wurde vom Gemeindekirchenrat ein „Stürmer-Kasten“ direkt unter seinem Arbeitszimmerfenster angebracht. Die Bekenntnisgruppen der Evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz mit Pfarrer Eduard Lindenmeyer (1887–1945) und der Apostel Pauluskirche mit Pfarrer Eitel-Friedrich von Rabenau (1884–1959)56 fanden in der Wilmersdorfer „altlutherischen“ Kirche Zuflucht, die Bekenntnisgemeinschaft der Evangelischen Himmelfahrtsgemeinde in der „altlutherischen“ Kirche im Wedding. Die Bekenntnisgemeinde der Evangelischen Pfingstkirche in Potsdam nutzte – übrigens bis nach Kriegsende – die „altlutherische“ Christuskirche. Ähnlich war es auch in Neuruppin und Frankfurt/Oder. Albrecht Schönherr (1911–2009), Zeitzeuge des „Kirchenkampfs“ in Potsdam und Neuruppin, erinnerte schon 1989, wenn auch beiläufig, an die „vorbildliche Gastfreundschaft“ der „Altlutheraner“. Ebenso zutreffend verwies er in diesem Zusammenhang aber auch auf die Sorge der „Altlutheraner“, auf keinen Fall mit dem Staat in Konflikt zu geraten. Als Eduard Lindenmeyer, Pfarrer an der Evangelischen Kirche am Hohenzollernplatz, im Januar 1934 in einer Kanzelabkündigung gegen den „Maulkorberlass“ protestierte, beantragte am 6. Februar der Gemeindekirchenrat seine Entfernung aus dem Amt.57 Lindenmeyer wurde daraufhin zum 1. April 1934 in den Einstweiligen Ruhestand versetzt. Eine weitere Nutzung der Gemeinderäume wurde ihm untersagt. So wich Lindenmeyer mit der kleinen Bekenntnisgemeinde in die unmittelbar benachbarte „altlutherische“ Kirche in der Nassauischen Straße und in die Schwedische Viktoria-Kirche in der Landhausstraße aus. Für den 10. Juni wurde zum ersten Mal in die Nassauische Str. zum Gottesdienst eingeladen. Einige Monate später, am 21. November 1934, leitete Lindenmeyer zusammen mit Martin Niemöller und anderen in einer großen Tennishalle einen Gottesdienst der Bekennenden Gemeinde von Berlin. Anfang 1935 wurde die Suspendierung aufgehoben, Lindenmeyer konnte die eigenen Kirchräume wieder nutzen.

56 57

Eduard Lindenmeyer und Eitel-Friedrich von Rabenau arbeiteten eng zusammen und gaben 1935 die Schrift heraus: „Warum bekennende Kirche heute?“. Vgl. zum Folgenden: Günther Dornbusch, 50 Jahre Kirche am Hohenzollernplatz zu BerlinWilmersdorf. 1933–1983, Berlin 1983, 40–49; Berlin-Wilmersdorf. Verfolgung und Widerstand 1933 bis 1945, hg. von Udo Christoffel und Elke von der Lieth, Berlin 1996, 107f. Der abgedruckte Gottesdienstaufruf findet sich a.a.O., 47.

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Ankündigung des ersten Gottesdienstes der Bekenntnisgemeinde Berlin-Wilmersdorf in der Ev.-Luth. Kreuzkirche

Schon weiter entfernt von der Nassauischen Straße befindet sich die Apostel Pauluskirche, an der Eitel-Friedrich von Rabenau tätig war. Von Rabenau war mit Jacobi, Bonhoeffer und Sasse eine der führenden Persönlichkeiten des JacobiKreises und gehörte zu den Erstunterzeichnern des Pfarrernotbundes. Als von Rabenau am 19. März – so wie Oelsner – von seinem Dienst suspendiert wurde, weil er sich wie jener weigerte, die Gemeindejugend der Hitler-Jugend einzugliedern, wurde ihm vom DC-dominierten Gemeindekirchenrat die Nutzung der Gemeinderäume untersagt. Deshalb traf sich die BK-Gruppe fortan „zum Gottesdienst in der altlutherischen Gemeinde in der Nassauischen Straße oder auch unter freiem Himmel im Grunewald; die Bibelstunden fanden in der Pfarrwohnung von Rabenaus in der Klixstraße statt“58. Als am 27. November die beiden Amtskollegen in der Apostel Pauluskirche, Heinrich Roterberg und Kurt Kube erklärten, nicht mehr mit der DC-Gemeindegruppen zusammenzuarbeiten, konnte von Rabenau wieder in seiner Gemeinde amtieren und erhielt auch die Geschäftsführung zurück. In der Apostel Pauluskirche fanden in der Folgezeit zahlreiche wichtige Bekenntnisgottesdienste statt, in denen herausragende Persönlichkeiten der BK sprachen, zum Beispiel Wilhelm Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, Heinrich Vogel, Hans Joachim Iwand oder Hans Asmussen. Übrigens kam es neben vorübergehenden Inhaftierungen immer wieder auch zu Überfällen durch Schlägertrupps, die auch Lindenmeyer und von Rabenau attackierten. Die „altlutherischen“ Pfarrer, die ihre Gemeinderäume zur Verfügung stellten, setzten sich mit ihrem Verhalten insofern auch einer gewissen persönlichen Gefährdung aus. 58

Claus Wagner, Apostel Paulus-Kirche, in: Kirchenkampf in Berlin (wie Anm. 52), 275–283, hier 278.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Ev.-Luth. Kirche in Berlin-Wedding, Usedomer Straße, Datum unbekannt

Wenig ist bisher zur Solidarität der „altlutherischen“ Gemeinde Usedomer Straße in Berlin-Wedding mit der Bekenntnisgemeinschaft der Evangelischen Himmelfahrtskirche bekannt. Dort war in der evangelischen Jugendarbeit Pfarrer Werder aktiv, der im Laufe des Jahres 1933 zwei vom DC-Gemeindekirchenrat berufene Pfarrer an seine Seite bekam, mit denen er in heftige Auseinandersetzungen geriet. Auch hier ging es um die Überführung der kirchlichen Jugendarbeit in die Hitler-Jugend. Als der Gemeindekirchenrat eine Anzeige gegen Werder erstattete und das Evangelische Konsistorium ihm die Amtsführung vorläufig untersagte und sein Gehalt sperrte, mietete die Bekenntnisgemeinde einen Laden in der Stralsunder Straße für die Jugend- und Gemeindearbeit an.59 Gottesdienste fanden, so wird überliefert, in der „altlutherischen“ Kirche und im Schubertsaal, Brühnerstraße 109, statt.60 In den Potsdamer evangelischen Innenstadtgemeinden brachten die Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 ein fast ausgeglichenes Kräfteverhältnis zwischen DC und „Evangelium und Kirche“, was ungewöhnlich war. Doch mit Rückendeckung der Kirchenleitung gelang es den DC, eine Anzahl oppositioneller Bekenntnispfarrer aus dem Amt zu drängen, wie den prominenten Pfarrer Werner Görnandt. In der Potsdamer Bekenntnisgruppe waren „hauptsächlich Angehörige aus den konservativen Eliten – allen voran Frauen aus dem Potsdamer Adel“ vertreten, wie Anni von Gottberg oder Bertha von Moeller. In der Nähe der „altlutherischen“ Christuskir-

59 60

Vgl. http://www.berlinstreet.de/brunnenstrasse/brunnen24 [Stand: 10.3.2013]. Vgl. Erich Schuppan, Bekennen – Sich Anpassen – Widerstehen: Die schwierigen Jahre 1935 bis 1939, in: ders. (Hg.), Bekenntnis in Not. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg im Konflikt mit dem totalen Staat (1933–1945), Berlin 2000, 213–290, hier 244.

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

che, an der Paul Mintzlaff (1872–1957) Pfarrer war, befindet sich die Evangelische Pfingstgemeinde.

Paul Mintzlaff

Hier hatten die DC knapp die Mehrheit und dominierten den Gemeindekirchenrat.61 Am 14. Dezember 1934 konstituierte sich in der Pfingstgemeinde ein Bruderrat, dem allerdings keiner der Pfarrer angehörte. Für ihre Gottesdienste nutzte die Bekenntnisgemeinde, durch den Gemeindekirchenrat aus ihrer Kirche verdrängt, seit Februar 1935 die Kirche der ev.-luth. Christusgemeinde – sonntags 8 Uhr – in der Behlertstraße.62 Als im April 1937 mit Friedrich von der Heydt ein entschiedener DC-Mann als Pfarrer der Pfingstgemeinde eingeführt wurde, verlegte diese auch ihren Kindergottesdienst in die „altlutherische“ Christuskirche.63 Hilfsprediger Kurt Kunkel (*1909), der seit 1936 in den Bekennenden Gemeinden Potsdam tätig war, wurde am 9. Juli 1937 wegen „illegaler“ Kollektensammlung für die Bekennende Kirche inhaftiert. Aus Protest sollten am darauf folgenden Sonntag in der Heilig-Geist-Kirche und der Christuskirche die Gottesdienste ausfallen und nur die Verhaftung bekannt gegeben werden, was in der Heilig-Geist-Kirche zu Auseinan61

62 63

Werner Bethge, Evangelische Christen zwischen Anpassung und Opposition. Evangelische Christen in Potsdam und Nowawes zwischen politischer Gleichschaltung und Selbstbehauptung 1933– 1935, Potsdam 1995, 56f. Vgl. zum Folgenden: Kurt Eichelkraut, Chronik der Pfingstgemeinde, 2010 aufbereitet von Volker Vogel (ungedrucktes Manuskript) sowie Roland Thimme, Rote Fahnen über Potsdam, 1933–1989. Lebenswege und Tagebücher, Berlin 2007, 74–94; Jeanette Toussaint, Ich bin für Potsdam das rote Tuch. Anni von Gottberg und die Bekennende Kirche, Wilhelmshorst 2011, und Albrecht Schönherr, Potsdam und Anni von Gottberg, in: Gottfried Kunzendorf/Manfred Richter (Hg.), Bornstedt Friedhof Kirche. Märkischer Gedenkort preußischer Geschichte und des Widerstands, erweiterte und überarbeitete Neuauflage Berlin 2001, 183–192. Außerdem danke ich Herrn Martin Vogel, der mir Einsicht in seine Seminararbeit „Der ‚Kirchenkampf‘ in der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gedächtnisgemeinde zu Potsdam. Eine Spurensuche“ von 1995 gewährte, sowie Herrn Rudolf Reinhold für Informationen aus seiner gegenwärtigen Arbeit an der neuen Chronik der Pfingstgemeinde. Die Pfingstgemeinde trug von 1924–1945 den Namen „Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gedächtnisgemeinde“. Vgl. Toussaint, Ich bin für Potsdam das rote Tuch (wie Anm. 61), 50. A.a.O., 81.

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dersetzungen führte.64 Bis nach Kriegsende gingen die Bekenntnisgottesdienste zunächst in der Christuskirche weiter, weil Pfarrer von der Heydt die Räumlichkeiten in der Pfingstkirche konsequent verwehrte. „Anzeichen für eine Rückkehr von Normalität“ nach dem Zusammenbruch im Mai 1945 „war ein Gottesdienst zu Himmelfahrt in der Christuskirche am 10. Mai mit Pfarrer Günther Brandt“65. Albrecht Schönherr, der die Verhältnisse in Potsdam und Neuruppin miterlebt hatte, beschrieb in einem Referat, das er am 20.1.1989 bei der Beratergruppe „Kirchenkampfgeschichte“ gehalten hat, die Haltung der „Altlutheraner“ wohl treffend, wenn er ausführte: „Die BK-Gemeinde wich mit ihren Gottesdiensten aus auf die Evangelisch-Lutherische Freikirche, die Christus-Kirche in der Behlertstraße, Pfarrer Mintzlaff. Diese Gemeinde hat eine im Ganzen vorbildliche Gastfreundschaft gezeigt, forderte allerdings, dass sich die Bekenntnis-Gemeinde verpflichte, auf keinerlei Weise gegen den Staat Stellung zu nehmen. Die Bekenntnis-Gemeinde antwortete mit dem Hinweis auf das Ordinationsgelübde der Pfarrer und die Ältesten-Verpflichtung.“66 Im Kirchenkreis Ruppin leitete Lic. Günther Harder (1902–1978) den am 11. April 1934 gebildeten Kreisbruderrat. In Neuruppin selbst gab es keinen Bekenntnispfarrer. Hier dominierte der Pfarrer und Standartenführer der SA Julius Falkenberg, ein überzeugter DC-Mann, der die volle Unterstützung von Gauleiter Kube und Kreisleiter Kerner hatte.67 Die bekennende Gemeinde versammelte sich zunächst im Elternhaus von Albrecht Schönherr, dem späteren Landesbischof. Als die Bekenntnisgruppe wuchs, nutzte man die Kirche der kleinen „altlutherischen“ Gemeinde in der Steinstraße. Dort war Hans Ziemer (1904–1945) tätig, der 1931 zunächst Hilfsprediger in Berlin gewesen war. Wie lange die BK-Gottesdienste dort stattfanden, ist nicht bekannt. 1936 jedenfalls hatte der landeskirchliche Superintendent Schlaeger die Öffnung einer Kirche für die BK noch abgelehnt. Frankfurt/Oder hatte eine kleine lutherische Kapelle, die zum Pfarrbezirk Fürstenwalde gehörte und an der Ecke Thile-/Huttenstraße stand. Pfarrer war Roderich Naumann (1894–1947). Auch in Frankfurt stellten die „Altlutheraner“ ihr Gotteshaus der BK-Notgemeinde zur Verfügung.68 Der erste BK-Gottesdienst fand dort am 4. November 1934 durch Pfarrer Orphal statt.69 64 65

66 67 68 69

A.a.O., 83. Thimme, Rote Fahnen (wie Anm. 61), 219. Günther Brandt (1912–1986) war seit 1939 Pfarrer der Bekennenden Kirche in Potsdam, Nachfolger von Hellmut Traub, und wurde 1981 in Yad Vashem für seine Unterstützung verfolgter Juden als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Den Hinweis auf dieses Referat verdanke ich Frau Jeanette Toussaint, Potsdam. Vgl. zum Folgenden: Furian, Sammlung (wie Anm. 9), 176–179. A.a.O., 179. Bisher kaum aufgearbeitet ist die Geschichte der Samariteranstalten bei Fürstenwalde. Hier hatte der lutherische Pfarrer Albert Burgdorf (1855–1933) eine respektable diakonische Anstalt aufgebaut. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn, Albert Burgdorf jun., die Leitung der ökonomisch angeschlagenen Institution. Es kam zu erheblichen Spannungen zwischen ihm und Oberin Gisela Hassenpflug auf der einen und der Schwesternschaft und den Angestellten, die meistenteils zur DAF gehörten, auf der anderen Seite. Im April trat Gisela Hassenpflug zurück, am 8. Mai 1935

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Hans-Otto Furian, der auf die Solidarität in Neuruppin und Frankfurt/Oder aufmerksam machte, ahnte es: „Die geistliche und praktische Solidarität der Altlutheraner gegenüber der bekennenden Gemeinde in Neuruppin war kein Einzelfall. […] Ob es eine grundsätzliche Offenheit der altlutherischen Kirche für den Kampf der Bekennenden Kirche gab, ist meines Erachtens für die Kirchenprovinz Brandenburg bisher noch nicht untersucht worden.“ Das hier zusammengetragene Material belegt: Zumindest in Berlin-Brandenburg war diese Solidarität flächendeckend vorhanden.70 Furian spekulierte auch über die Gründe: „Die Brücke zwischen der altlutherischen Kirche und den Bekenntnisgemeinden könnte der Einsatz der Bekennenden Kirche für die Geltung des Bekenntnisses gewesen sein. Allerdings war das Verständnis des Bekenntnisses zwischen Altlutheranern und der Bekennenden Kirche ein verschiedenes.“71 Jedenfalls: Für sieben von elf Pfarrbe-

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wurde Burgdorf von der Gestapo verhaftet. Mitarbeiter hatten ihn denunziert, er verbiete das Hören der Führerreden im Rundfunk. Nach Lochmann hatte sich Burgdorf auch dem Hitler-Gruß und dem Hissen von Hakenkreuzfahnen auf dem Anstaltsgelände verweigert (Lochmann, Die evangelisch-lutherische Kirche in Preußen [wie Anm. 10], 38). Die Gestapo legte ihm den Rücktritt nahe. Am 4. Oktober wurde Burgdorf vom Anstalts-Vorstand entlassen und der unierte Pfarrer Karl Friedrich Hoffmann als neuer Direktor berufen, der zur Bekennenden Kirche gehörte und die Anstalten für zwei Jahrzehnte leitete. Zwei Tage später schenkte die DAF allen Anstaltshäusern großformatige Hitler-Bilder. Burgdorf reichte Klage gegen seine Kündigung ein, blieb aber erfolglos. Mit dem Direktorenwechsel kam die Anstalt unter die Regie der landeskirchlichen Inneren Mission. Viele Angestellte gehörten zu NS-Organisationen, dem Euthanasie-Programm widersetzten sich die Anstalten nicht. Eine staatliche Übernahme konnte aber verhindert werden. Die genauen Hergänge der Übernahme sind im Moment noch unklar, genauso wie die politische Einstellung der Familie Burgdorf. Während Albert jun. antinazistisch geprägt zu sein schien, machte sein jüngerer Bruder Wilhelm (1895–1945) Karriere bei der Wehrmacht, wurde General der Infanterie und Chefadjutant des Oberkommandos. Am 1. Mai 1945 beging er im Bunker der Reichskanzlei Selbstmord. Unklar bleibt auch, warum die ELKAp nicht gegen die „Kaperung“ der Anstalten protestierte, sondern lediglich im „Kirchenblatt“ bekanntgab, dass die Anstalten nicht mehr zur ELKAp gehörten? Sah man darin die einzige Möglichkeit, die Anstalt in kirchlicher Trägerschaft zu belassen? Vgl. 120 Jahre Samariteranstalten. 1892–2012, in: Unterwegs 2/2012, 4–29, http:// www.samariteranstalten.de/download/120%20Jahre%20Samariteranstalten.pdf [Stand: 8.9.2013]. Über die Ereignisse Ende 1935 berichtete Arnold Jacobskötter denkbar knapp im „Christophorus“, der Vorstand der Samariteranstalten habe sich genötigt gesehen, „anstelle des ausscheidenden Pastors und Direktors Albert Burgdorf einen geeigneten Nachfolger zu wählen, der sich aber in unserer oder einer anderen lutherischen Kirche nicht fand. Da die Sache eilte, wurde ein unierter Pastor gewählt, Pastor Burgdorf schloss sich der lutherischen Landeskirche in Schleswig-Holstein an, und die Lutheraner in den Samariteranstalten wurden unsrer lutherischen Stadtgemeinde Fürstenwalde angegliedert“ (Christophorus 86 [1937], 78). Als nach dem Krieg die altlutherischen Flüchtlinge bei den Landeskirchen die Nutzung gottesdienstlicher Räume erbaten, wurden diese häufig gestattet, häufig aber auch verweigert. In der hannoverschen Landeskirche soll „stellenweise ausdrücklich die Überlassung der Kirchen verboten“ worden sein. Vgl. Die Protokolle des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 1945–1948, bearbeitet von Thomas Martin Schneider, Göttingen 2009, 450. Furian, Die Sammlung (wie Anm. 9), 179.

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zirken der Berlin-Märkischen Diözese ist bisher ein Engagement für die Bekennende Kirche nachweisbar.72 Am 12. Mai 1935 fand also der Festgottesdienst der lutherischen Gemeinden in Berlin anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens statt. Im „Kirchenblatt“ berichtete Stier ausführlich. Er vergaß nicht, die Solidarität zwischen den „Altlutheranern“ und den Bekenntnispfarrern hervorzuheben, und beschrieb, wie „die der lutherischen Gemeinde in Berlin nahestehenden Berliner Geistlichen der Bekenntnisfront, nämlich die Pastoren Lic. Böhlig und Lic. Ölsner von der Thomaskirche und Schwebel von der Marienkirche“, feierlich mit den altlutherischen Pfarrern zum Gottesdienst einzogen.73 Aber auch in der theologischen und politischen Einschätzung bestand zum Teil eine große Nähe zwischen den Berliner „Altlutheranern“ und der BK. Am 24. Juni 1934 (also nach der Barmer Synode) veröffentlichte Stier eine flammende Kritik der kirchlichen Lage. Stier sah die tatsächliche Herausforderung der Kirche sehr deutlich und nannte sie in wünschenswerter Klarheit beim Namen. Bei all seiner Kritik an der Union betonte er: Der Tiefpunkt der gegenwärtigen Krise in den Landeskirchen liege nicht dort, wo man infolge der Reichseinheit nun auch eine evangelische Kirche in Deutschland bilden wolle. Der Tiefpunkt der Krise liege vielmehr dort, „wo die Kirche mit dem Geist des Nationalsozialismus durchdrungen werden soll“74. Stier schätzte die Lage also ähnlich ein wie von Pechmann – und deutlich anders als das Oberkirchenkollegium. Der Nationalsozialismus betreibe, fuhr Stier fort, infolge seines Rasse-, Führer- und Offenbarungsprinzips die Entfernung von Nicht-Ariern aus kirchlichen Ämtern, die Leitung der Kirche durch den „Führer“ oder seinen Stellvertreter, den Reichsbischof, und die Anerkennung des Nationalsozialismus als eine eigentümliche, geschichtliche Gottesoffenbarung neben der Christusoffenbarung. Stiers klare Antwort lautete, dass die Landeskirchen in diesen drei zentralen Punkten dem Nationalsozialismus hätten unbedingt widerstehen müssen. Nun trete an die Stelle des Bekenntnisses die Nation als Grundlage der Kirche. Ähnlich entschlossen war eine Stellungnahme Friedrich Grubes im September 1934 gegen die Behinderung der kirchlichen Jugendarbeit und gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch.75 Und Grube verwies darauf, „in wie klarer und scharfer Weise der ‚Ökumenische Rat‘ der christlichen Kirchen der Welt sich jetzt 72

73 74 75

Ob es auch an den übrigen Orten im Brandenburgischen zur Kooperation kam, wo neben „altlutherischen“ Gemeinden BK-Notgemeinden bestanden, vor allem wenn sie keinen eigenen Pfarrer hatten, wäre noch zu untersuchen, etwa im Blick auf Brandenburg, Oranienburg, Alt-Landsberg oder Strausberg. Johannes Stier, Hundertjähriges Gemeinde-Jubiläum in Berlin, in: Kirchenblatt 90 (1935), 345– 348, hier 346. Ders., Die Auswirkung des Unionsprinzips in der gegenwärtigen Krisis der evang. Landeskirchen, in: Kirchenblatt 89 (1934), 387–391.404–407, hier 388. Vgl. Friedrich Grube, Erziehung unserer Jugend zu kirchlicher Treue in der Gegenwart, in: Kirchenblatt 89 (1934), 562–569, 578–584, 596–601, hier 569.

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

auf seiner Tagung in Fanö über die kirchlichen Vorgänge in Deutschland geäußert hat. Das hat die Reichskirchenregierung tief getroffen.“76 Bonhoeffers Stimme – nun aus Fanö und nicht aus Berlin – wurde bei den „Altlutheranern“ gehört, vielleicht ein Nachspiel der erwähnten Begegnung im Herbst 1933.77 4.3

Die Situation in anderen Diözesen der ELKAp

Ähnlich wie die Berlin-Märkische positionierte sich die Nordöstliche Diözese der „Altlutheraner“. Kurt Walter (1892–1963), führender BK-Pfarrer in Danzig, berichtete von den ersten Gottesdiensten in der kleinen Bekenntnisgemeinschaft, zu der nur sieben der 70 amtierenden Pfarrer gehörten. „Den ersten dieser Gottesdienste hielt Pfarrer [Hugo] Hahn, der spätere sächsische Bischof, der Bruder des baltischen Märtyrers, im Spätsommer 1934 [nach Meier war es der 17. Oktober 1934]; er predigte über Matthäus 10, 24–33. Da wir befürchten mussten, daß das DC-Konsistorium den Gottesdienst in einer unserer Kirchen vereiteln würde, stellte der altlutherische Superintendent [Martin] Slot[t]y [1848–1945], welcher ebenso wie der noch jugendliche Mennoniten-Prediger Göttner als ein treuer evangelischer Mann der BK nahe stand, die Heiliggeist-Kirche78 für den Gottesdienst zur Verfügung. Mit ihren 500 Plätzen reichte diese aber bei Weitem nicht aus; so öffnete der tapfere Pfarrer Eichel mit einigen treuen Gemeindegliedern seine Johanniskirche, und wir wagten es, den Strom der Besucher von der Heiliggeist-Kirche hinüberzuleiten und dort den Gottesdienst zu halten. Etwa 3000 Menschen waren gekommen; sie drängten sich bis auf die Altarstufen und auf die Kanzeltreppe, stehend füllten sie auch die Gänge. […] Die folgenden Bekenntnisgottesdienste fanden meistens in der Katharinenkirche statt, was späterhin keine Schwierigkeiten mehr machte.“79 Auch in Schneidemühl existierte ein lutherisches Pfarramt, das mit Hermann Meyer (1867–1957) besetzt war. „Die Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 ergaben für Schneidemühl einen klaren DC-Sieg, während in einigen wenigen Ortschaften (z. B. Grünfier, Neuhöfen) die Liste ‚Evangelium und Kirche‘ die Mehrheit hatte. […] Die 76 77

78 79

A.a.O., 582. Aber die Positionen lagen eben auch in der ELKAp zum Teil weit auseinander. Einschlägig waren die Jahresrundschauen und die Zusammenstellung des „Christophorus“, des Ev.-luth. Volkskalenders, den Arnold Jacobskötter herausgab. Jacobskötter war der Ansicht, man sollte den „rechten Flügel“ der DC nicht einfach zu den Feinden des Kreuzes zählen. Er begrüßte das Wirken Zoellners im Reichskirchenausschuss, gestützt durch das „Vertrauen des Staates“, und kritisierte die Dahlemiten, die sich der Zusammenarbeit verweigerten. Vgl. Christophorus 86 (1937), 70f. Die Gemeinde besaß die ehemalige Kapelle des deutschen Ritterordens, vgl. Kirchenblatt 89 (1934), 715. Kurt Walter, Danzig, in: Günther Harder (Hg.), Die Stunde der Versuchung. Gemeinden im Kirchenkampf 1933–1945, Selbstzeugnisse, München 1963, 41. Kurt Meier ergänzt: „Das deutschchristliche Konsistorium, das dem Gemeindekirchenrat von St. Johannis wegen des Gottesdienstes Vorhaltungen machte, konnte diesen Vorstoß der Bekenntniskräfte nicht aufhalten“ (Meier, Der evangelische Kirchenkampf 1 [wie Anm. 3], 319).

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Bekenntniskräfte in Schneidemühl blieben für ihre Gottesdienste im Wesentlichen auf das Gemeindehaus der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung und den Gottesdienstsaal der Altlutheraner angewiesen. Wie auch anderwärts kam es in der Grenzmark nicht selten zum polizeilichen Verbot von BK-Gottesdiensten in Gemeinden, in denen DC-Pastoren amtierten, die von der Bekenntnisfront nicht anerkannt wurden.“80 Der evangelische Superintendent Ludwig Heine, der in Schneidemühl den „Kirchenkampf“ anführte, erinnert sich: „Ein weiteres großes Entgegenkommen fanden wir bei der kleinen altlutherischen Gemeinde, die in Schneidemühl ein Pfarramt und eine Kirche mit ca. 150 Sitzplätzen besaß. Sie stellte uns die Kirche für die jeden Wochentag um 7½ Uhr stattfindende kurze Morgenandacht, für die Wochenschlussandacht am Sonnabend um 20 Uhr und die Trauungen brüderlich zur Verfügung und ließ sich auch durch Drohungen nicht einschüchtern.“81 Von Königsberg ist bislang keine Zusammenarbeit bekannt. Hier war die BK relativ stark und erhielt tatkräftige Unterstützung durch die Landeskirchliche Gemeinschaft.82 Anders sah es in Marienwerder aus, das von dem neuen kirchlichen Leben relativ unberührt war. Die Superintendentur in Marienwerder wurde mit einem Deutschen Christen besetzt. Der evangelische Hilfsprediger Friedrich Kommoß erinnert sich: „Ich kam Anfang 1939 nach Marienwerder. Die dortige kleine BK-Gemeinde, die durch Sporleder im Zusammenwirken mit unserem Kreispfarrer Lehmbruch gegründet worden war, hatte sich wie die Gemeinden von Marienburg und Rehhof dem Ostpreußischen Bruderrat unterstellt. Mit 20 Menschen etwa hatte diese begonnen (die evangelische Kirchengemeinde hatte rund 20000 Seelen). Da ihr Prediger mit Redeverbot durch die Kirchenbehörde belegt war […], versammelte sie sich sonntäglich in dem kleinen Kirchlein der ihr wohlgesonnenen Altlutherischen Gemeinde. An Konfirmanden hatte sie ein einziges Mädchen. Und als dieses zum ersten Mal zu mir kam, weinte es vor Angst, weil man es wegen seines Ganges zum Pastor der Bekennenden Gemeinde unterwegs mit Steinen beworfen hatte.“83

80 81

82

83

Meier, Der evangelische Kirchenkampf 1 (wie Anm. 3), 283.285. Vgl. ders., Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkriegs, Halle 1984, 261–264. Ludwig Heine, Geschichte des Kirchenkampfes in der Grenzmark Posen-Westpreußen 1930– 1940, 1961, 43. Stärker im „Kirchenkampf“ engagiert als die Altlutheraner war hier allerdings – wie im Nordosten insgesamt – die Landeskirchliche Gemeinschaft, die natürlich allein institutionell der Landeskirche viel näher stand. Theologisch kamen ihr die kongregationalistisch-bruderrätliche Ausrichtung der BK sowie ihre Offenbarungs- und Bibeltheologie sehr nahe. Und die bekenntnishermeneutische Differenz, die ja zwischen der Union und den „Altlutheranern“ bestand, spielte hier keine Rolle. Vgl. a.a.O., 25–28 und 42f. Vgl. Meier, Der evangelische Kirchenkampf 1 (wie Anm. 3), 290. Vgl. auch Max Fischer/Hans Joachim Iwand, Wie wir uns fanden. Ein Wort zur Begegnung von Kirche und Gemeinschaft, Stuttgart 1947. Hugo Linck, Der Kirchenkampf in Ostpreußen. 1933–1945. Geschichte und Dokumentation, München 1968, 157. Vgl. Manfred Koschorke, 1935–1937. Jahre der Versuchung und Bewäh-

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Aufschlussreich dafür, wie die Positionen Oberkirchenrat Nagels und die einiger Gemeinden und Pfarrer differierten, war eine Begebenheit in Stolp,84 und zwar das 75-jährige Kirchweihjubiläum der dortigen ev.-luth. Gemeinde am 14. Oktober 1934, von dem Pfarrer Gerhard Günther (1904–1983) berichtete.85 In einem Grußwort hatte Werner de Boor (1899–1976), ein führender Mann der pommerschen BK, ausgeführt, „dass die gleichen Kämpfe, in denen vor hundert Jahren die Ev.-luth. Kirche Altpreußens entstanden sei, heute die übrige evangelische Christenheit Deutschlands bewegten. Denn auf die Dauer könne keine Kirche leben, wenn sie nicht ein klares Bekenntnis habe. […] Die heutige Versammlung aber mit ihren Gästen aus der um die alleinige und eindeutige Geltung des Bekenntnisses […] kämpfenden Kirche sei ein Beweis für das gemeinsame Anliegen, das die lutherische Kirche in Altpreußen und die bekennende Kirche von heute verbinde.“ De Boor machte hier zweifellos das Angebot eines weitreichenden Schulterschlusses zwischen BK und ELKAp. Und Günther fuhr in seinem Bericht entsprechend fort: „Das waren Töne, wie wir Lutheraner in Pommern sie noch nicht gehört hatten. Als nun noch die neuesten Nachrichten über die Vergewaltigung der bayrischen Kirche bekannt gegeben wurden, sang die Versammlung, tief ergriffen, in fürbittendem Gedenken an die verfolgten Brüder das alte Trutzlied ‚Herr, unser Gott, laß nicht zu Schanden werden‘.“ Bemerkenswert war daraufhin die Reaktion des ebenfalls anwesenden Oberkirchenrats Nagel, der am Schluss der Festversammlung „die Gemeinde zur Dankbarkeit gegen den uns in entscheidender Stunde gesandten Führer unseres Volkes“ ermahnte. Außerdem stellte er noch einmal klar, dass zwischen den Anliegen des Staates und der Kirche kein Gegensatz bestehe und dass die wahrhafte Einigung des Volkes nur durch die lutherische Evangeliumskirche möglich sei. Eine weitere Annäherung an die BK, so gab Nagel unmissverständlich zu erkennen, war für ihn nur unter der Bedingung lutherischer Bekenntniseinheit und politischer Neutralität denkbar. Wenig bekannt ist über eine Zusammenarbeit zwischen der BK und „altlutherischen“ Gemeinden in der Pommerschen und der Rheinisch-Westfälischen Diözese, nichts oder fast nichts über die Diözesen Breslau und Niederschlesien.86

84 85

86

rung, in: ders. (Hg.), Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen 1933–1945, Göttingen 1976, 228. Pfarrer der „altlutherischen“ Gemeinde war Karl Meisinger (1903–?). Stolp, obwohl in Pommern gelegen, gehörte zur nordöstlichen Diözese, vgl. Christophorus 83 (1934), 86f. Vgl. zum Folgenden: G[erhard] G[ünther], 75jähriges Kirchweihfest der Gemeinde Stolp, in: Kirchenblatt 89 (1934), 714–716. Vgl. Volker Stolle/Jan Wild, Zum Beispiel Stolp/Słupsk. Lutherische Kontinuität in Pommern über Bevölkerungs- und Sprachwechsel hinweg (OUH 36), Oberursel 1998, 30–33. Günther war 1929–1931 Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes gewesen. 1946 wurde er Missionsinspektor der Hermannsburger Mission. Ein Grund dafür lag sicherlich darin, dass hier die Bekennende Kirche relativ stark war und teilweise über legale Strukturen verfügte. Vgl. Besier/Lessing, Die Geschichte der EKU 3 (wie Anm. 1), 295.

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In Pommern war Otto Rohnert aus Trieglaff (1865–1935) Superintendent. Im Nachruf auf Rohnert hieß es im „Kirchenblatt“: Rohnert sei in Trieglaff allseits beliebt gewesen, „bis hin zu den Lebendigen in der Landeskirche, die ihn zum Teil in rührendster Weise liebten und denen er ein achtungheischender Repräsentant der Gabe und des inneren Reichtums der Freikirche war (unter ihnen auch viele landeskirchliche Pastoren)! Hierzu ein charakteristischer Zug: Als der landeskirchliche Pastor in Gülzow infolge der kirchenpolitischen Erschütterungen der neuesten Zeit ‚beurlaubt‘ worden war, wurde es jedesmal durch die ganze Stadt hindurch verbreitet, wenn Sup. Rohnert dort Abendgottesdienst hielt. Dann kamen alle Hungrigen, auch der landeskirchliche Pastor, dem R[ohnert] übrigens auch sehr treulich Trostbesuche machte.“87 Für eine wirkliche Zusammenarbeit sprach das allerdings noch nicht. Über eine der lutherischen Pastoralkonferenzen Pommerns ist überliefert, dass man sich am 17./18. September 1934 „mit dem Verhältnis unierter Kreise in Pommern zu unseren Gemeinden“ befasste.88 Was aber dabei herauskam, ist bisher unbekannt. Eine Ausnahme machte Gemünden im Westerwald. Gemünden galt als NSHochburg. Hier hatten bei den Wahlen 1932 und 1933 jeweils über 90 Prozent der Wähler für die NSDAP gestimmt.89 Eine Besonderheit war die klare konfessionelle Spaltung des Dorfes zwischen Landeskirchlern und Lutheranern, die im Verhältnis 7:5 vertreten waren. 1928 waren fast gleichzeitig Pfarrer Wilhelm Götting (1901– 1972) für die Landeskirche und Pfarrer Wilhelm Jungermann (1891–1956) für die „altlutherische“ Gemeinde nach Gemünden gekommen.

Wilhelm Jungermann

87 88 89

Kirchenblatt 90 (1935), 170. Kirchenblatt 89 (1934), 714. Vgl. auch a.a.O., 812. Vgl. zum Folgenden: Gemünden im Westerwald 879–1979. Festschrift zur 1100-Jahr-Feier, o. O. 1979, 90–105.

258

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Die beiden Pfarrer verstanden sich gut und waren politisch den Nationalsozialisten gegenüber kritisch eingestellt. Götting war nach der „Gleichschaltung“ der HessenNassauischen Kirche in die Bekennende Kirche eingetreten und schickte die Kollektengelder an den Landesbruderrat. Schon bald wurden beide Pfarrer systematisch bespitzelt und gerieten in Konflikt mit der Kreisleitung der NSDAP, die bei der Kirchenleitung in Wiesbaden die Versetzung Göttings beantragte. Als Reaktion darauf bat Götting seine Gemeinde, durch ihr Erscheinen oder Fernbleiben beim kommenden Abendgottesdienst zu zeigen, wie sie zu ihrem Pfarrer stehe. Gemeindeglieder wurden daraufhin von Parteigenossen bedroht und SA-Männer wurden beauftragt, die Kirchgänger aufzuschreiben. Trotzdem wurde der Gottesdienst zu einem überwältigenden Votum für Pfarrer Götting. Und: „vor den Eingängen hatten sich Männer der altlutherischen Gemeinde aufgestellt, um Störungen durch SALeute abzuwehren“. Nachdem sich Götting in einer Predigt kritisch zum Kriegsbeginn geäußert hatte, wurde er am 5. September 1939 inhaftiert, am 2. Adventssonntag aber wieder entlassen. Aus Gemünden wurde Götting daraufhin ausgewiesen. Pfarrer Jungermann war schon am 11. August wegen angeblicher Kontakte mit den Feinden des Reiches verhaftet, aber neun Tage später wieder entlassen worden. 1941 ließ er sich nach Schneidemühl versetzen. Uneinheitlich verlief schließlich die Entwicklung in der ThüringischSächsischen Diözese. In Thüringen war die BK schwach und die politische Stimmung stark nationalsozialistisch geprägt.90 Von besonderer Bedeutung für die Solidarität mit der BK war hier das Engagement der Wernigeröder Gemeinde. Schon nach den Kirchkollegiumswahlen der evangelischen Gemeinde Wernigerode 1933 gingen einige Glieder aus Protest gegen den Sieg der DC und gegen die Besetzung der landeskirchlichen Pfarrämter durch DC-Männer zu den Gottesdiensten der „altlutherischen“ Kreuzkirchengemeinde.91 Hier feierte am 7. Oktober 1934 die Bekenntnisgemeinschaft ihren ersten Gottesdienst. Der „altlutherische“ Pfarrer Willibald Meyer (1907–1973) hatte zusammen mit dem Kirchkollegium die Kreuzkirche unentgeltlich zur Verfügung gestellt (oft auch die am 8. April 1945 zerstörte Zionskapelle in Halberstadt).

90

91

Vgl. Christine Koch-Hallas, Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR (1945–1961). Eine Untersuchung über Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer landeskirchlichen Identität, Leipzig 2009, 37–76. Vgl. zum Folgenden: Ludwig Hoffmann, Die Bekenntnisgemeinde in der Wernigeröder Kreuzkirche, in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Harzkreis 1933–1945. Eine Spurensuche, erarbeitet vom Förderkreis Mahn- und Gedenkstätte Veckenstedter Weg im Geschichts- und Heimatverein Wernigerode e.V., Wernigerode 2011; Hartmut Bartmuß, Kreuzkirche und Kirchenkampf. Dem Theologen und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer zum Gedenken, in: Neue Wernigeröder Zeitung 2006, Heft 10, 24. Auszüge aus der Chronik der St.-Sylvestri-Gemeinde aus den Jahren 1889–1947 wurden mir zugänglich gemacht von Herrn Bürgermeister Ludwig Hoffmann, Wernigerode, dem ich herzlich danke.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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Willibald Meyer

Zum ersten Bekenntnisgottesdienst hatte man nur mit Einladungskarten Zutritt. Aus Sorge vor Störungen und Bespitzelung hatte man sich schon im Vorfeld mit Martin Niemöller abgestimmt, welche Vorkehrungen bei den Bekenntnisgottesdiensten zu beachten seien, etwa im Blick auf Einlasskontrollen. Davon wurde allerdings abgeraten, denn die Gottesdienste seien öffentliche Veranstaltungen der rechtmäßigen evangelischen Kirche. Ansonsten ermutigte Niemöller zur Nutzung der Kreuzkapelle und verwies darauf, dass auch in Berlin die „Altlutheraner“ ihre Kirche zur Verfügung gestellt hätten. Die Bekenntnisgemeinde, die unter polizeilicher Überwachung stand, hatte im Durchschnitt 135 Mitglieder, zu den Gottesdiensten kamen 150 bis 200 Personen. Unter den Pfarrern gab es einige Wechsel und häufige Gastprediger. Wie in Berlin oder Potsdam gehörten auch hier Christen jüdischer Herkunft zur BK, darunter der in Göttingen amtsenthobene Bruno Benfey.92 Ähnlich wie in Berlin waren zum 100-jährigen Jubiläum der „altlutherischen“ Gemeinde im Jahr 1940 die Vertreter der BK als Gäste eingeladen. „Später“, so Bartmuß, „bekam die Kreuzkirche noch den Christus des heutigen Altarkreuzes aus dem Jahre 1570/1580 von der Wernigeröder Bekenntnisgemeinde geschenkt“. Im Sommer 1947 wurde in der Kreuzkirche der letzte Bekenntnisgottesdienst gefeiert, weil erst dann die Gemeinde einen bestellten Pfarrer aus der Bekennenden Kirche erhielt. Der Bruderrat löste sich erst 1951 auf. „Beides ist bemerkenswert“, schreibt Hoffmann: „Man war offenbar skeptisch, ob die evangelische Kirche der Nachkriegszeit einen wirklichen Neuanfang nach der un-evangelischen Bindung der Amtskirche an die Nazis finden würde.“ 1948 wechselte Meyer, der von 1932–1948 den „altlutherischen“ Pfarrbezirk Halberstadt-Wernigerode versehen hatte, in die Lutherische Landeskirche Mecklenburgs.

92

So Pfarrer Dr. Bruno Benfay, Justizrat Dr. Emil Kaufmann, Dr. Paul Regensburger. Vgl. die Zusammenstellung von Ludwig Hoffmann (s. Anm. 91).

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Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

In Steinbach-Hallenberg soll der mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Pfarrer Johannes Landgraf (1897–1977) der dortigen BK ebenfalls die „altlutherische“ Kirche zur Verfügung gestellt haben.93 Eine eigene Entwicklung ergab sich ab 1937 in den thüringischen Bekenntnisgemeinden Gotha, Arnstadt, Zeulenroda, Ilmenau und Neuhaus, wo es aufgrund der schwierigen Lage der Bekennenden Kirche Thüringens zu Übertritten von Gemeinden in die ELKAp kam.94 Die Thüringische „Lutherische Bekenntnisgemeinschaft“ war klein und hatte auch in ihren besten Zeiten nicht mehr als 16.000 Mitglieder.95 Von den Anfängen der „altlutherischen“ Gemeinde in Gotha berichtet ein ausführlicher Briefwechsel zwischen Oberkirchenrat Gottfried Nagel und seinem Neffen Frithjof Nagel (1908– 1975), der seit 1933 Pfarrer in Erfurt war.

Frithjof Nagel

Leiter der „Bekenntnisgemeinschaft“ war hier Pfarrer Gerhard Bauer (1896– 1958), der 1938 mit Berufsverbot belegt wurde. Nachdem er und seine Gemeinde schon seit Jahren erwogen hatten, der ELKAp beizutreten, nahmen sie nun Kontakt nach Breslau auf. Gerhard Bauer, der seinen Gemeindegliedern den Übertritt zu den „Altlutheranern“ empfahl, wollte allerdings sichergehen, dass er auch von den 93 94

95

Erklärung von Pfr. Braune, 4.3.1948, Unterlagen Pfr. Landgraf, im Besitz des Verfassers. Vgl. zum Folgenden: Der Pfarrbezirk Mühlhausen-Gotha-Arnstedt, hg. vom Pfarramt der Ev.-Luth. Kreuzgemeinde Gotha, o. O. 2010; Walter Pabst, Die illegalen Gemeinden der Bekennenden Kirche in Thüringen 1933 bis 1945, in: Domine, dirige me in verbo tuo (Festgabe Moritz Mitzenheim), Berlin 1961, 261–274; Christian Luther, Das kirchliche Notrecht, seine Theorie und seine Anwendung im Kirchenkampf 1933–1937, Göttingen 1969, 158–161; Koch-Hallas, Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen (wie Anm. 90), 40–78. Gemeindedokumente wurden mir zugänglich gemacht von Pfarrer Jörg Kallensee, Gotha. Vgl. Pabst, Die illegalen Gemeinden (wie Anm. 94), 272.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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„Altlutheranern“ weiter finanziert würde. Das aber war schwierig, da die Gothaer Gruppe nicht groß genug und die Kirchenkasse leer war. So wurde Frithjof Nagel aus Erfurt beauftragt, sich um die Übertrittswilligen in Gotha zu kümmern. Bauer blieb vorerst in der Landeskirche, um seine Pensionsansprüche nicht zu verlieren. Am 5. Mai 1938 fand eine heimliche notarielle Gemeindegründung statt, um die „Feinde“ der Gemeinde, also vor allem die DC, nicht auf den Plan zu rufen. Als Bauer realisierte, dass er nicht Pfarrer der neuen „altlutherischen“ Gemeinde Gotha werden könne, war er tief enttäuscht und wich später nach Bayern aus. Die Nagels wiederum fürchteten, dass bei Bauers starkem politischen Engagement dieses auch die ELKAp in Gefahr bringen könne. Deshalb versuchten sie, Bauer in einer Gemeinde in Westfalen unterzubringen. Inzwischen war die junge Gemeinde im Gothaer „Prinzenhaus“ untergekommen. Allerdings kam es schon im Juni 1939 zwischen der ELKAp und den noch verbliebenen Resten der „Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft“ zu Spannungen. Beide nutzten nämlich dieselben Räumlichkeiten, und Nagel befürchtete, durch die räumliche Nähe zur „Bekenntnisgemeinschaft“ in politischen Verdacht zu geraten. Auch die bekennenden Gemeinden Ilmenau, Arnstadt und Neuhaus wechselten 1939 zur ELKAp, letztere trat jedoch nach Kriegsende wieder zur Landeskirche zurück. Die Gemeinden Gotha, Ilmenau und Mühlhausen wurden schließlich zu einer neuen Parochie zusammengefasst, in die Pfarrer Ernst Gasde entsandt wurde. Seit Herbst 1939 fanden die Gottesdienste der stetig wachsenden Gemeinde auf Veranlassung des Herzogs Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha in der Schlosskirche statt.

262

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

Abschrift einer Denunziation der „altlutherischen“ Gemeinde Gotha, 16. Oktober 1939

5.

Der Ausbau der Zusammenarbeit mit den lutherischen Landeskirchen

In der „Barmer Theologischen Erklärung“ war ausdrücklich am Bund von Bekenntniskirchen festgehalten worden, doch faktisch war die Erklärung für viele ein kirchengründendes Dokument.96 Damit waren zwei Entwicklungsstränge angelegt: hier die Wahrung des landeskirchlichen Bekenntnisstandes und der Zusammenschluss bekenntnisgleicher Kirchen, dort die Sammlung bekennender Gemeinschaften auf der Grundlage des gegenwartsbezogenen Glaubenszeugnisses.97 Zu96

97

Vgl. Friedrich-Otto Scharbau, Die Ausbildung konfessioneller Identität in lutherischer Perspektive 1933–1945, in: Uwe Rieske (Hg.), Migration und Konfession. Konfessionelle Identitäten in der Flüchtlingsbewegung nach 1945, Gütersloh 2010, 56–89, hier 64: „Es ist durchaus tragisch zu nennen, dass die einen Barmen faktisch als neues Bekenntnis einer neuen Kirche verstanden wissen wollten, während die anderen seine ekklesiale Bedeutung nicht wahrhaben wollten, weil sie im Kampf um die Kirche zugleich auch um die Bildung einer deutschen lutherischen Kirche kämpften.“ Vgl. Reese, Bekenntnis und Bekennen (wie Anm. 18), 279.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

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sammengehalten wurden beide Stränge durch das grundsätzliche „Ja“ zur DEK und das „Nein“ zu den DC. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die freikirchlich konzipierte ELKAp, die faktisch genau eine solche Sammlung der bekennenden Kirchenglieder war, sich zugleich aber durch das lutherische Bekenntnis als Rechtsgrundlage gebunden wusste und darüber hinaus die DEK als Unionskonzept grundsätzlich ablehnte, auf keiner der beiden Seiten gut zu stehen kam. Die Spannung bestand übrigens in der altpreußischen BK selbst: viele Bekenntniskreise übten heftige Kritik an der überkommenen Union und verfolgten die Aufspaltung in konfessionelle Konvente. Die Mehrheit aber anerkannte die APU als „Kirche“ und lehnte eine Revision ihres Bekenntnisstandes angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen ab.98 Als sich am 25. August 1934 der „Lutherische Rat“ formierte, erwachte auch in der ELKAp wieder die Hoffnung auf ein reichsweites „Corpus Lutheranorum“. Auf dem „Deutschen Lutherischen Tag“ in Hannover vom 2.–5. Juli 1935 waren nun auch die „Altlutheraner“ in der Person Gottfried Nagels vertreten. Nach dem Zerbrechen der Bekennenden Kirche und der Gründung des „Rats der Ev.-Luth. Kirche Deutschlands“99 kam es am 11. September 1936 zu einer Besprechung zwischen dem „Lutherrat“ und dem Oberkirchenkollegium in Breslau. Trotz ernsthafter Bedenken beschloss Breslau am 29. Oktober 1936, sich dem „Lutherrat“ anzugliedern, wenn auch nicht förmlich anzuschließen, da man „von den Kirchenausschüssen und den sonstigen kirchenregimentlichen Organen der DEK und der Landeskirchen ganz unabhängig“ bleiben und „volle Selbstständigkeit behalten“ wollte.100 Nach den überraschend von Hitler am 15. Februar 1937 angekündigten Kirchenwahlen zu einer verfassungsgebenden Generalsynode plädierte Nagel beim „Lutherrat“ für eine Annullierung der Verfassung von 1933. „Wir müssen jetzt eintreten für eine Kirche, die nur luth[erische] Kirche ist.“ Und er fügte hinzu: „Von den Dahlemiten trennt uns ein ganz anderer Kirchenbegriff.“101 Im Blick auf die Stellung zum lutherischen Bekenntnis war das richtig, hinsichtlich der gemeindeorientierten Selbstständigkeit nicht. Obwohl Nagel noch einmal vehement für eine völlig staatsunabhängige lutherische Freikirche eintrat,102 orientierte sich die ELKAp unter seiner Führung seit Herbst 1936 maßgeblich am Weg der lutherischen Landeskirchen. Das betraf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Reichskirchenministerium ebenso wie die Forderung des Treueeids auf den Führer im Mai 1938.103 Am augenfälligsten 98 Vgl. Besier/Lessing, Geschichte der EKU 3 (wie Anm. 1), 369. 99 Vgl. Scharbau, Die Ausbildung konfessioneller Identität (wie Anm. 96), 71. 100 Kirchenblatt 91 (1936), 705. Vgl. Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933–1945, Bd. 2, bearbeitet von Hannelore Braun und Carsten Nicolaisen, Göttingen 1993, 264f. 101 Verantwortung für die Kirche (wie Anm. 100), 143f. 102 Gottfried Nagel, Dem deutschen Volk die Evangeliumskirche, Breslau 1937, 10f. 103 Vgl. Kirchenblatt 93 (1938), 299. Die der ELKAp eng verbundene Selbständige Ev.-Luth. Kirche in den hessischen Landen (SelK) ging diesen Schritt nicht mit, sondern lehnte einen persönlichen

264

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

dokumentierte sich dieser Weg 1940 in der Eingliederung der Gemeinde Pyrmont in die Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers.104 Der Graben zur Bekennenden Kirche in der altpreußischen Union vertiefte sich mit den Beschlüssen der 4. Bekenntnissynode der APU in Halle (10.–13.5.1937) zur Ordination auf die „Barmer Theologische Erklärung“ und zur Abendmahlsgemeinschaft zwischen Reformierten und Lutheranern. Die Allgemeine Pfarrkonferenz der ELKAp antwortete darauf mit einem „brüderlichen Ruf“ und bat die „Lutheraner innerhalb der Union“, für die rechtliche Geltung ihres Bekenntnisses in ihren Kirchen zu sorgen.105

6. 6.1

Schlussbetrachtungen Die Nähe zwischen Bekennender Kirche und „Altlutheranern“ im Urteil der Zeitgenossen

Aussagekräftig für das Verhältnis zwischen der Bekennenden Kirche und den „Altlutheranern“ ist schließlich die Wahrnehmung Dritter. Martin Willkomm von der Ev.-Luth. Freikirche schrieb 1935: „Die [übrigen] lutherischen Freikirchen sympathisieren […] ziemlich stark mit der ‚Bekenntnisfront‘ innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche […]. Da können wir nicht mitmachen.“106 Dieses Urteil markierte die maßgebliche Tendenz im freikirchlichen Luthertum, traf aber längst

Treueeid auf den „Führer“ entschieden ab, ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen; s. Kirchenbericht von Superintendent Martin 1938, in: Geschichte der lutherischen Freikirchen im Dritten Reich (wie Anm. 10), 99. In zeitlich engem Zusammenhang damit wurde seitens der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (RKuAK) ein Artikel abgedruckt, in dem ausführlich der Wächterdienst der Kirche als ein Dienst an aller Welt dargestellt wurde, in dem die Kirche kundtut, was ihr vom biblischen Standpunkt aus aufgetragen ist; s. Eduard Rausch, Der Dienst der Kirche, in: Gemeinde-Blatt für die Renitente Kirche ungeänderter Augsburgischer Konfession in Niederhessen – Melsunger Missionsblatt, August 1938, 1). Auch das war eine Art Kommentar zur Treueid-Diskussion. 104 Vgl. Kirchenblatt 95 (1940), 282. 105 Kirchenblatt 92 (1937), 403–407. 106 [Martin Willkomm], Rundschreiben an unsere Gemeinden. Nur für Glieder der Ev.-Luth. Freikirche. Übersicht über die religiöse und kirchliche Lage im Sommer 1935, als Manuskript gedruckt, Zwickau August 1935, 13: „Die von Kirchenrat D. Nagel ausgesprochene Meinung, dass ‚aus der Deutschen Evangelischen Kirche durch klare Änderung ihrer Verfassung eine wirkliche Kirche gemacht werden könne, indem man sie auf ein einheitliches Bekenntnis gründet‘, können wir nicht teilen. Wir können auch der Meinung nicht beipflichten, dass eine unierte Kirche, wie die altpreußische Union, schon dadurch lutherische Kirche werde, dass sie ein lutherisches Kirchenregiment bekommt. (D. Nagel auf dem Deutschen Lutherischen Tag in Hannover.) Wir müssen mehr fordern, nämlich, dass nicht nur die Verfassung, sondern auch die Lehrstellung und die Praxis der Deutschen Evangelischen Kirche gründlich geändert und rechte Lehrzucht eingeführt werde.“

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

265

nicht auf alle Pastoren der ELKAp zu, für deren Kirchenleitung überhaupt nur im Blick auf die dezidiert lutherischen BK-Gruppen. 1944 wurde Hermann Sasse von der ELKAp um ein Gutachten gebeten, ob die Trennung der ELKAp von der gegenwärtigen preußischen Union noch gerechtfertigt sei.107 Sasse legte zunächst dar, dass sich das Urteil über die ELKAp in der Union in der Tat grundlegend geändert habe, vor allem durch den neu erwachten Sinn für das kirchliche Bekenntnis.108 Eine Angliederung an die Union sei aber undenkbar, denn es würde bedeuten, sich der Bekenntnislosigkeit und einem zerstörten Kirchenregiment auszuliefern. Da auch das landeskirchliche Luthertum in katastrophalem Zustand sei, empfahl Sasse, sich mit den anderen Freikirchen enger zusammenzuschließen, um das lutherische Erbe zu bewahren. Von den meisten BK-Theologen in der APU wurde die Bekennende Kirche als eine biblisch-konfessionelle und bewusst kirchliche Erneuerungsbewegung verstanden, was eine gewisse Annäherung an Positionen der „Altlutheraner“ mit sich brachte. Der Brandenburgische BK-Pfarrer Günter Jacob etwa schrieb rückblickend: „In den zwanziger Jahren haben wir als Studenten in den Hörsälen der Universitäten diese Entdeckungen und Erkenntnisse in uns zu verarbeiten versucht, in denen sich die Gewalt des biblischen Zeugnisses, aber auch die Arbeit unserer reformatorischen Väter auf eine stürmische Weise von neuem Bahn brach. Es ist wohl kein Geheimnis, dass wir von hier aus als junge Pfarrer oftmals in einer inneren Opposition zur offiziellen Kirche von damals standen. […] Der Widerstand kam aus Gründen, die in dieser Kirche kaum noch jemand für möglich hielt. Es war ein Widerstand vom Worte Gottes her, ein Widerstand vom Dogma und vom Bekenntnis der Kirche her, ein Widerstand mit der Heiligen Schrift in der Hand.“109 Und der Leiter des ostpreußischen Predigerseminars der BK, Hans Joachim Iwand, schrieb, wenn auch vor allem im Blick auf die „Erweckten“ innerhalb der Landeskirche, auf die Landeskirchliche Gemeinschaft: „Es war einfach so, als ob die Stillen im Lande […] auf diese Stunde gewartet hätten, da die Kirche sich dem Herrn und seinem Wort unterstellte! […] Als wir nun selbst aus der offiziellen Kirche verbannt, abgesetzt und vertrieben dastanden, entdeckten wir, dass wir nicht heimatlos waren. Überall taten sich Türen und Häuser auf, überall waren die da, die das Wort Gottes aufnahmen. Ich weiß, dass es das in anderen Kirchengebieten auch gegeben hat, aber ich glaube, in dem Maße, in dem das in Ostpreußen in Erscheinung trat, ist es sonst nirgends geschehen. […] In jenen Tagen haben wir erkannt, dass die Staats- und Amtskirche eine äußerst problematische Angelegenheit ist,

107 Hermann Sasse, Memorandum über die Frage nach der Existenzberechtigung und Sendung unserer Evangelisch-lutherischen Kirche Altpreußens, ihren Pastoren zur Kenntnis, in: ders., In statu confessionis 3 (wie Anm. 47), 261–274, hier 263. 108 A.a.O., 264. 109 Günter Jacob, Der Weg der Kirche von 1900 bis 1957 (1957), in: Gericht und Gnade. Zum Weg der christlichen Gemeinden in unserem Jahrhundert, Berlin 1986, 9–20, hier 13f.

266

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

und damit eine Erkenntnis nachgeholt, die in den Kreisen der Gemeinschaften längst schon da war.“110 6.2

Wahrnehmungen zum situativen Hintergrund

1. Die Solidarität, die sich zwischen den „Altlutheranern“ und der Bekennenden Kirche entwickelte, ging deutlich über bloße „Raumfragen“ hinaus. Sie reichte von handfester Unterstützung beim Schutz von Veranstaltungen (Gemünden, Danzig), über den demonstrativen Schulterschluss bei besonderen kirchlichen Festen (Berlin, Stolp, Wernigerode) bis hin zur weitgehenden Annäherung theologischer Positionen (Berlin, Gemünden) oder zum Übertritt geschlossener Bekenntnisgruppen (Gotha, Ilmenau, Zeulenroda, Arnstadt, Neuhaus). 2. Für die besondere Situation in Berlin spielte eine Rolle, dass mit dem „JacobiKreis“ ein Netzwerk bestand, zu dem nicht nur von Amtsenthebung betroffene Pfarrer, sondern mit Bonhoeffer, Sasse und Hildebrandt auch Theologen gehörten, die in gutem Kontakt zur ELKAp oder deren Gemeinden standen oder diesen Kontakt zumindest schon gesucht hatten. Auch an anderen Orten zeigte sich, dass es oft persönliche Kontakte waren, die zu Solidarmaßnahmen führten (Gemünden). 3. Dass in den Bekenntnisgemeinschaften, mit denen man sich solidarisierte, häufig Christen jüdischer Herkunft Heimat fanden oder diese als Pfarrer tätig waren (Berlin-Mitte, Wernigerode, Potsdam), scheint in keiner der betreffenden „altlutherischen“ Gemeinden als Hinderungsgrund empfunden worden zu sein. Im Gegenteil zeigt das Beispiel von Johannes Stier, dass dies wohl auch zur Sensibilisierung für die Not der „Nicht-Arier“ beitrug. 4. Die Stellung zur BK war in der ELKAp nicht einheitlich. Differenzen in den theologischen und politischen Überzeugungen spielten hierfür ebenso eine Rolle wie persönliche Beziehungen und die unterschiedliche Situation der BK vor Ort. Für die Kirchenleitung der ELKAp war eine Solidarität mit der Bekennenden Kirche nur auf der Grundlage des gemeinsamen lutherischen Bekenntnisses und bei strikter politischer Neutralität vorstellbar. Manche Pfarrer und Gemeinden, die diese Position grundsätzlich teilten, sahen aber stärker das gemeinsame theologische Anliegen und gaben diesem in ihrem Verhalten Ausdruck.

110 Hans Joachim Iwand, Wort der Kirche, in: Max Fischer/ders., Wie wir uns fanden (wie Anm. 82), 40f.

Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft

6.3

267

Theologische Gemeinsamkeiten

Theologisch gab es in vielerlei Hinsicht eine große Nähe zwischen „Altlutheranern“ und Bekenntniskreisen, auch dort, wo diese nicht dezidiert lutherisch positioniert waren. 1. Gemeinsam war beiden zunächst die Abwehrhaltung gegenüber dem „neuen Heidentum“, gegenüber der Verbindung von Nationalsozialismus und Glaube bei den DC, darüber hinaus aber auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einer zu liberalen Theologie, die als Einlasstor zeitgeistlicher Ideen empfunden wurde. 2. „Bekennen und Bekenntnis“ erhielt in den BK-Gemeinden einen ganz neuen, persönlich-existentiellen, aber auch kirchenkonstitutiven Stellenwert. War die Bekenntnishermeneutik auch eine unterschiedliche, so war damit theologisch eine Nähe zu den „Altlutheranern“ entstanden, die nicht geringzuschätzen war. Gleichwohl: indem die Barmer Theologische Erklärung in der altpreußischen BK kirchenkonstitutiv wurde, vertiefte dies den Graben gegenüber Breslau noch weiter. 3. Die Bekennende Kirche verstand sich als bruderrätlich verfasste „GemeindeKirche“.111 Das entsprach einem ganz wesentlichen Merkmal aus der Entstehungszeit der „altlutherischen“ Gemeinden, die aus Netzwerken erweckter „Laien“ und Theologen entstanden waren und deren Kirchenvorsteher vor allem seit der Verfolgungszeit der 1830er Jahre in hohem Maße Verantwortung übernommen hatten. 4. Die Bekennende Kirche war – ähnlich wie die lutherische Erweckung – Bibelbewegung.112 Grundsatz war vielerorts, dass jeder Inhaber der „Roten Karte“ zu einem Bibelkreis gehören sollte. Hinzu kamen gut besuchte Bibelstunden und Bibelwochen. 5. Von großer Bedeutung war eine Wiederentdeckung des Gottesdienstes, angebahnt von den verschiedenen liturgischen Erneuerungsbewegungen (Berneuchener, Alpirsbacher).113 Wochen- und Wochenschlussgottesdienste sammelten die Gemeinde, Buß- und Fürbittgottesdienste wurden zum Erfahrungsort von Glaubensgemeinschaft und Widerstand. Die Gemeinden wurden in der Gestaltung ihrer Gottesdienste mündiger – vielerorts stand nicht jeden Sonntag ein Pfarrer für den Gottesdienst zur Verfügung. Auch das entsprach der Frömmigkeit vieler „Altlutheraner“. 6. Die „Raumfrage“ schließlich war nicht etwas Äußerliches, sondern war die Frage nach Auftrag und Recht der Kirche Jesu Christi in einer Welt politischer Totalitätsansprüche. Dass es für die in die Illegalität gedrängte BK weiterhin Räume gab, in denen sie ihrem Auftrag öffentlich nachgehen konnte, wurde von 111 Furian, Die Sammlung (wie Anm. 9), 161–167. 112 A.a.O., 183–185. 113 A.a.O., 185–187.

268

Bekennende Kirche und „Altlutheraner“ im „Kirchenkampf“

vielen Gliedern der evangelischen Landeskirchen als Gottesgeschenk und Ermutigung begriffen. 7. Schließlich ist auf die erstaunliche phänomenologische Ähnlichkeit hinzuweisen, die natürlich auch den Zeitgenossen zwischen dem Kirchenkampf der 1830er und der 1930er Jahre auffiel und mit Sicherheit die Sensibilität für die Lage der jeweils anderen Gemeinschaft erheblich vergrößerte. 6.4

Weiterführende Perspektiven

Was lässt sich aus den dargestellten Zusammenhängen für den gegenwärtigen Diskurs zwischen SELK und UEK lernen? 1. Der SELK sollte es zu denken geben, dass eine Fokussierung auf die Wahrung der Bekenntnistradition nicht davor feit, aktuelle Nöte und Herausforderungen aus dem Blick zu verlieren. Die UEK hat lernen müssen, dass nur vom Bekenntnis her der Anfechtung zu widerstehen ist. An sie ist aber die Frage zu stellen, inwiefern die gleichzeitige Geltendmachung sich widersprechender Bekenntnisse dieser Bekenntnisfunktion gerecht wird. Beide könnten hier voneinander lernen, wenn sie Theologie im Angesicht des Anderen betreiben. 2. Gegenüber der SELK wäre zu fragen, ob sie sich in der Lage sieht, Anliegen und Gestalt der „Barmer Theologischen Erklärung“ aus dem heutigen historischen Abstand heraus zu würdigen. Gegenüber der UEK wäre zu fragen, inwiefern es ihr möglich ist, das Anliegen und Existenzrecht der SELK mit ihrem Beharren auf Selbstständigkeit und Bekenntnisbindung – gerade vor dem Hintergrund des „Kirchenkampfes“ – heute positiv zu würdigen. 3. Von der SELK wäre Rechenschaft zu fordern über die Frage, ob sie die Anerkennung des „Kircheseins“ anderer Konfessionskirchen trotz bestehender theologischer Differenzen schon angemessen zum Ausdruck bringt. Angesichts ihrer Nichtmitgliedschaft im „Ökumenischen Rat der Kirchen“ oder der „Leuenberger Kirchengemeinschaft“ wäre sie in der Pflicht, ihr alternatives Ökumenemodell zu kommunizieren und plausibel zu machen. Für die UEK bzw. EKD sehe ich – vom „Kirchenkampf“-Paradigma her – vor allem Reflexionsbedarf im Blick auf ihre Kirchenkonzeption. Ist eine „volkskirchliche“ und in vielen Bereichen noch immer mit dem Nationalstaat verflochtene Kirchenstruktur der Kirche Jesu Christi angemessen? Befördert sie nicht bis heute zivilreligiöse Erwartungen und Fiktionen, wie sie bis zum jüngsten Aufruf zur Vereinigung der Konfessionen „Ökumene-jetzt“114 noch mitschwingen?

114 http://oekumene-jetzt.de [Stand: 11.3.2013].

Summary

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Summary Many congregations of the “Bekennende Kirche” (Confessing Church) were welcomed in churches and convention houses of Old Lutheran parishes when they were expelled from their established churches by their “deutsch-christliche” (German Christian) consistories. These actions of solidarity were not isolated cases but a widespread phenomenon, which has, however, faded with time. Individual connections with the Old Lutheran Church existed, conversions took place and confessing groups opposed to the German Christian dominated national Protestant Church made contact. In autumn 1933, Bonhoeffer and Hildebrandt approached the Old Lutheran Church in Berlin-Wilmersdorf to explore the possibility of an independent Evangelical Church. Not only in Berlin-Brandenburg did Old Lutheran congregations and pastors declare their solidarity with the oppressed Confessing communities in the Union but also in places like East Prussia and Thuringia. Some, indeed, were in conflict with the authorities. However, the church board of the Old Lutheran Church was careful not to be suspected of political opposition. On the one hand, the Confessing Church and the Old Lutheran Church in the Union territories displayed many theological and institutional similarities. On the other hand, the Old Lutheran Church considered the developments in the German Christian dominated German Evangelical Church from the summer of 1933 onwards, as well as those within the Confessing Church following the Barmen Synod of May 1934, as leading to unification. Therefore, the church board in Breslau did not pursue a convergence with the Dahlem wing of the Confessing Church but hoped to establish a Lutheran Confessing Church in Germany.

Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft Eilert Herms

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung Der Gedanke und das Programm der Union beziehen sich in all ihren Spielarten auf die Einheitlichkeit der reformatorischen Sacheinsicht – trotz deren unterschiedlicher Bezeugung in der lutherischen und in der reformierten Bekenntnis- und Lehrtradition. Der Gedanke, das Programm, aber nicht zuletzt die Realisierung der Union leben also davon, dass man diese reformatorische Sacheinsicht in ihrer Einheitlichkeit zu Gesicht bekommt. Wie ist eben dies möglich? Wie bekommt man die Einheitlichkeit der reformatorischen Sicht von Grund und Gegenstand des Glaubens zu Gesichte? Das kann jedenfalls nicht vorbei an Studium und Auswertung bestimmter Quellen geschehen, nämlich nicht vorbei an denjenigen Texten, welche diese einheitliche Sicht von der Sache, von der res, von Grund und Gegenstand des Glaubens zur Sprache bringen. Aber welches sind diese Quellentexte? Nicht sind es jedenfalls Konstruktionen oder Beschwörungen des „Wesens des Protestantismus“ bzw. eines „protestantischen Prinzips“ – mögen diese nun aus dem 19. Jahrhundert stammen oder aus den letzten Jahrzehnten des 20. oder dem ersten des 21. Jahrhunderts. Vielmehr hat sich, wer diese Einheit der reformatorischen Einsicht in die konstitutive res des christlichen Glaubens, seinen Grund und Gegenstand zu Gesicht bekommen möchte, an die Schriften der Reformatoren selbst zu halten, in denen diese Einsicht zur Sprache gebracht, beschrieben und bezeugt wird. Nun ist das corpus scriptorum reformatorum umfangreich. An welchen Autor oder an welche Autoren der Reformationszeit hat man sich zu halten? Und an welche seiner oder ihrer Schriften? Meines Erachtens kann kein begründeter Streit über die faktische Priorität Luthers bestehen. Er ist der Erste und der Anreger für alle folgenden, für alle anderen. Das nachzuweisen, ist hier nicht der Ort. Es ist im Blick auf die bekannte Geschichte auch überflüssig. Wenn es also überhaupt so etwas wie eine einheitliche reformatorische Sacheinsicht gibt, eine einheitliche reformatorische Sicht der konstitutiven res des Glaubens, seines Grundes und Gegenstandes, dann kann sie jedenfalls nicht vorbei an der grundlegenden Sacheinsicht Luthers bestehen, dann muss sie seine Sacheinsicht mit allen ihren Implikaten jedenfalls einschließen – was immer in den späte-

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

271

ren Auseinandersetzungen der Schulen an strittigen Fragen aufgeworfen wurde und wie unterschiedlich diese Fragen dann auch beantwortet worden sein mögen. Wenn es überhaupt eine allen reformatorischen Lehr- und Bekenntnispositionen zugrunde liegende Sicht und intentio rei gibt, eine ihnen allen zugrunde liegende intentio des Grundes und Gegenstands des Glaubens, und wenn diese eine einheitliche und gemeinsame ist, weil sie von der Einheit ihres Gegenstandes geprägt ist, von der Einheit des Geschehens der Selbstvergegenwärtigung der Wahrheit und Gnade des Schöpfers in seinem inkarnierten Logos durch den Heiligen Geist,1 dann muss diese Grundintention jedenfalls die Grundintention Luthers einschließen. Diese Überlegungen haben dazu geführt, dass in den Fokus meines Interesses an der reformatorischen Theologie der Wittenberger Reformator getreten ist. Das gilt gerade auch für alle Fragen, welche die Stellung der Sakramente im Grund und Gegenstand des Glaubens betreffen, also auch für alle das Abendmahl betreffenden Fragen. Das Resultat meines Studiums der einschlägigen Texte Luthers kann in folgender These zusammengefasst werden: Luthers Abendmahlsschriften von 15192 bis 15363 bieten unterschiedlich akzentuierende und unterschiedlich umfassende Beschreibungen einer Sicht, die ihren in sich identischen Gegenstand unverändert im Blick behält.4 Die konkreteste – alle konstitutiven und somit wesentlichen Aspekte der Sache erfassende – Beschreibung bietet 5 der „Sermon von dem Neuen Testament, das ist von der heiligen Messe“ . Diese Sicht besitzt gegenwärtige Orientierungskraft.

Ich entfalte diese These zunächst in zwei Schritten und schließe dann, indem ich noch einmal das Thema „Union“ aufgreife.

1

2 3 4

5

Vgl. hierzu Eilert Herms/Christoph Schwöbel, Fundament und Wirklichkeit des Glaubens als Begründung eines evangelischen Verständnisses von Lehrverantwortung, in: Eilert Herms/Lubomir Zak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelischlutherischer Lehre, Tübingen 2008, 119–155. Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften, in: WA 2, 742–758. Disputatio contra missam privatam, in: WA 39/1, 139–173. Das ist auch Ergebnis des jüngsten mir bekannten Durchgangs durch das Material von Seiten der Kirchengeschichte: Dorothea Wendebourg, Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformation, Tübingen 2009, 139–202, hier 40–59. WA 6, 353–378.

272

1.

Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

Luthers Abendmahlsverständnis

1.1 Luthers Sakramentstexte wollen die bestehende kirchliche Praxis verständlich machen und zur heilsamen Teilnahme an ihr anleiten.6 Mit dieser Intention bewegt Luther sich formal völlig im Horizont der kirchlich loyalen, seelsorgeorientierten Arbeit spätmittelalterlicher Theologie. Dass für diese Beschreibung des heilsamen Gebrauchs der Sakramente Einsichten leitend waren, die Luther durch die – schriftgeleitete – Reflexion auf seinen eigenen Gebrauch der Sakramente und die dabei gewonnene Erfahrung des Unterschieds zwischen deren heillosem und heilsamen Gebrauch zuteil geworden waren, ist in sich selbst keineswegs revolutionär, sondern lediglich der Grund der Erfahrungs- und Sachbezogenheit seiner Beschreibung. Alle polemischen, antirömischen Züge treten erst nach der – für Luther zunächst überraschenden – Zurückweisung seiner Kritik an der Ablasspraxis auf. 1.2 Das gilt auch für seine Abendmahlstexte von 1519, 1520, 1525, 1526, 1528, 1529, 1530, 1533, 1536 und 1544. Jeder dieser Texte greift einen oder mehrere erklärungsbedürftige Aspekte der Feier des Sakraments auf. Die Aufmerksamkeitsrichtung der Texte ist also verschieden. Das gibt jedoch keinerlei Grund für die Annahme, dass dieser wechselnden Aufmerksamkeitsrichtung nicht stets der Blick auf ein und denselben Gesamtsachverhalt zugrunde läge, eben der Blick auf das heilsame Gesamtgeschehen der einsetzungsgemäßen kirchlichen Feier, Spendung und Nießung des Altarsakraments. Vielmehr dienen die wechselnden Aufmerksamkeitsrichtungen der Aufhellung verschiedener wesentlicher Aspekte dieses Gesamtgeschehens. Keineswegs bedeutet das Wandern der Aufmerksamkeit von einem zu einem anderen Aspekt, dass damit jeweils ausschließlich der aktuell fokussierte Aspekt als wesentlich eingeschätzt würde unter gleichzeitiger stillschweigender Hintansetzung der zuvor ins Auge gefassten Aspekte, sondern die späteren Akzentuierungen treten zu den früheren hinzu. Die Beschreibungen aller Aspekte ergänzen sich und ergeben zusammen die konkrete Gesamtbeschreibung des heilsamen Ursprungs, Wesens, Gefeiert-, Gespendet- und Empfangenwerdens dieses Sakraments: 1519, im „Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften“7, steht anlassbedingt der Gemein6

7

Das habe ich ausführlicher gezeigt in: Eilert Herms, Sakrament und Wort in der reformatorischen Theologie Luthers, in: ders., Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen 2010, 113–161. WA 2, 742–758.

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

273

schaftsaspekt im Vordergrund. Seine Betonung kehrt in den späteren Texten nicht wieder, aber der Gemeinschaftsaspekt selbst bleibt (wenn auch unbetont) dennoch explizit im Blick8 als wesentlich und selbstverständlich, er wird nicht abgeblendet, und nichts deutet darauf hin, dass er für Luther je unwesentlich geworden wäre. 1520, im „Sermon von dem Neuen Testament, d[as] i[st] von der heiligen Messe“9, hebt Luther hervor, dass und wie das gesamte Wesen des Sakraments in seinem Ursprung, nämlich in seiner Einsetzung durch den inkarnierten Logos, als dessen „Testament“ bestimmt sei. Luther hat diese Wesensbestimmung des Sakraments nicht noch einmal wiederholt, was aber natürlich nicht heißt, dass sie für ihn je ihre Gültigkeit verloren hätte. Reaffirmiert wird diese Sicht vielmehr explizit in „De captivitate“10. Sie ist das faktische Fundament für Luthers gesamte emphatische Verteidigung der Realpräsenz von Leib und Blut Christi in den Abendmahlsgaben. In „De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium“11, ebenfalls von 1520, liegt der Ton auf der Bedingung des heilsamen Empfangs der Abendmahlsgaben: dem Glauben. 1525, im zweiten Teil von „Wider die himmlischen Propheten“12, 1526 im Vorwort zum „Syngramma Suevicum“13, im „Sermon von dem Sakrament des Leibs und Bluts Christi wider die Schwärmer“14, 1527 in der Schrift „Daß diese Worte Christi, ‚Das ist mein Leib‘ noch feststehen“15 und 1528 in „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“16 hebt Luther unter Berufung auf das Selbstwort des inkarnierten Logos hervor, dass dessen Leib und Blut in den Gaben des Mahls real präsent sind schon vor dem Empfang der Gaben und unabhängig von Glaube oder Unglaube der Empfänger. Damit wird nichts anderes als eine wesentliche Implikation des Wesens des Sakramentes als des eigenen Testaments Christi, wie Luther es schon 1520 beschrieben hatte, unterstrichen und entfaltet.17 Diese Sicht ist auch in der Wesensbeschreibung des Sakraments festgehalten, mit der die Abendmahlslehre im fünften Hauptstück des Großen Katechismus von 8

9 10 11 12 13 14 15 16 17

So zum Beispiel im „Sermon vom Neuen Testament“ von 1520 (WA 6, 354, 17ff.), im Großen Katechismus (BSLK 724, 47–725, 21, besonders 725, 15ff.: „Denn weil sie [die jungen Christen] getauft sind und in die Christenheit genommen, sollen sie auch solcher Gemeinschaft des Sakraments genießen, auf daß sie uns mögen dienen und nütze werden, denn sie müssen doch alle uns helfen gläuben, lieben, beten und unter dem Teufel fechten.“) und dann wieder in den Texten über den gesamtkirchlichen Charakter des Sakraments gegen die Winkelmesse. WA 6, 353–378. WA 6, 513, 14–518, 23. WA 6, 497–573; hier besonders 502, 1–526, 23. WA 18, 62–214. WA 19, 457–461. WA 19, 482–513. WA 23, 38–320. WA 26, 261–373. Dieselbe antischweizerische Position wird wiederholt in der Schrift: „Kurzes Bekenntnis vom Heiligen Sakrament“ aus dem Jahr 1544 (WA 54, 141–167).

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

1529 einsetzt und auf die sie dann – in Ausrichtung auf ihren katechetischen Zweck, die Unterweisung der Christen als der Empfänger des Abendmahls – die Darlegung seines „Nutzens“ und der Bedingung von dessen heilsamem Empfang, des Glaubens – folgen lässt.18 Die „Vermahnung und Reizung“ zur Hochschätzung des Sakraments und zum Beweis dieser Hochschätzung des Sakraments durch seinen häufigen Gebrauch, mit dem das Katechismusstück schließt,19 findet sich 1530 wiederholt in der auf der Coburg verfassten „Vermahnung zum Sakrament des Leibes und Blutes Christi“20. Diese Schrift macht ausdrücklich klar, dass und in welchem Sinne der Feier und dem Empfang des Sakraments auch der Aspekt der lobenden und dankenden Hinwendung des Menschen zu Gott eignet, also der Charakter eines Lob- und Dankopfers. Im Gesamtgeschehen des Abendmahls sind somit für Luther verbunden: Die grundlegende deszendente Bewegung von Gott zum Menschen und die von dieser ermöglichte, verlangte und ihr antwortende aszendente Bewegung des Menschen zu Gott. Damit werden wiederum nur Sachverhalte, die schon früher – explizit in „De captivitate“21 – im Blick standen, unterstrichen und entfaltet.22 1533, in „Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe“23, wird – unter Rückgriff auf die schon 1520 entfaltete Einsicht, dass das Wesen des Sakraments in seinem Ursprung, der Einsetzung durch den inkarnierten Logos, gründet und seine Realität mit seiner einsetzungsgemäßen Feier steht und fällt – erneut der Gemeinschaftsaspekt des Sakraments, nämlich seine Kirchlichkeit betont, die die durch Weihe verliehene Wandlungs- und Opfervollmacht der Priester und die Privatmesse ausschließt, jedoch die Unverzichtbarkeit der Funktion des durch Ordination übertragenen Ministeriums einschließt und verlangt – wie Luther dies schon 1523 in „De instituendis ministris“ dargelegt hatte.24 Derselbe Aspekt wird 1536 in der „Disputatio contra missam privatam“25 herausgearbeitet (wiederum unter angedeuteter Voraussetzung der Gesamtsicht des Sakraments und aller seiner wesentlichen Aspekte). So viel zur Einheitlichkeit der Abendmahlsauffassung Luthers.

18 19 20 21

22

23 24 25

BSLK, 707–715. BSLK, 715–725. WA 30/2, 595–626. Der in Brot und Wein real präsente Christus wird nicht Gott geopfert, sondern allein von Gott empfangen (WA 6, 524), was jedoch nicht aus-, sondern einschließt, dass der die Gabe Gottes empfangende Glaube seinerseits dann seine Gebete sehr wohl Gott als Opfer darbringt. Das wird prägnant dargelegt in der Passage WA 6, 524, 36–526, 33. Dass sich die zunächst überraschenden Akzentsetzungen dieser Schrift ausdrücklich im Rahmen der alten, unveränderten Gesamtsicht Luthers bewegen, macht die detaillierte Interpretation durch Dorothea Wendebourg deutlich; s. Wendebourg, Essen (wie Anm. 4), 138–181. WA 38, 171–256. WA 12, 169–196. WA 39/1, 139–173.

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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1.3 Das Wesen des Sakraments wird am gründlichsten und umfassendsten im „Sermon von dem neuen Testament, d[as] i[st] von der heiligen Messe“ aus dem Jahr 1520 dargelegt. In diesem Text geht es um den einheitlichen Ursprung und das einheitliche Wesen des Abendmahls, indem es als Ganzes unter dem Titel des (Neuen) Testaments behandelt wird. Die in früheren und späteren Texten besonders unterstrichenen und entfalteten Punkte können in die hier entwickelte Gesamtsicht eingezeichnet werden, sie sind bleibende Aspekte dieser Gesamtsicht. 1.4 Die wesentlichen Momente dieser Gesamtsicht sind die folgenden: 1.4.1 Die Messe ist der einzige Gottesdienst der Christenheit; und als dieser einzige Gottesdienst besteht er genau und nur in dem, was Christus den Seinen gegeben hat.26 Luther wiederholt also den Gestus des Apostels Paulus gegenüber den Korinthern: Er insistiert – wie Paulus – auf dem, was im Ursprung durch Christus selbst gegeben und durch Tradition gegenwärtig ist – für Paulus gegenwärtig durch die gelebte Tradition, die ihren (von Paulus kritisch gegen die korinthischen Missstände gewendeten) Kanon (Maßstab) in dem durch das Leben der Gemeinde überlieferten Bericht über die Einsetzungshandlung Christi, einschließlich der dazu gehörigen Worte Christi, hat, für Luther gegenwärtig durch die gelebte Tradition, die ihren (von Luther kritisch gegen die Missstände seiner Zeit gewendeten) Kanon in demselben, jetzt aber schriftlich – nämlich in der als Kanon der Überlieferung fungierenden Schrift – fixierten Bericht über das das Sakrament einsetzende Tun und Reden Christi hat. Was ist die Messe demzufolge? Sie ist die von Christus selbst stammende Gabe des Gründonnerstagabend. Ihr Inhalt ist die Mahlfeier dieses Abends. Diese Feier greift schon auf die Vollendung der Sendung des Sohnes am Kreuz voraus, bezieht also diese Vollendung auch schon proleptisch in sich ein und ist dadurch die vorausgreifende Zusammenfassung des gesamten Seins und Wirkens des inkarnierten Logos. Somit ist sie also auch der Höhepunkt von Jesu Selbstverkündigung als des bevollmächtigten Zeugen und Vermittlers des Gottesreiches. Diese Feier wird vom Herrn zu wiederholen geboten – zu wiederholen „zu meinem Gedächtnis“. Wem ist diese Gabe gegeben? Den Zwölfen. Diese sind die Repräsentanten des neuen Gottesvolkes. Die ihnen gegebene Gabe ist also dem ganzen neuen Gottesvolk, der Christenheit, gegeben. Dabei gilt jedoch, dass diese Adressaten der Gabe 26

WA 6, 354.

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

vom Gründonnerstagabend nicht schon an diesem Abend selbst fähig sind, das, was ihnen da gegeben ist, zu erkennen, zu erfassen und somit in seinem wahren Wesen zu empfangen. Dazu fähig werden sie auch nicht schon am Karfreitag, sondern erst im Licht des Osterereignisses: durch die Selbstvergegenwärtigung des gekreuzigten Gebers dieser Gabe, des inkarnierten Logos, als des auferstandenen, zur Rechten des Vaters erhöhten. Lukas hat das in der Emmausgeschichte so dargestellt, dass der Gekreuzigte sich selbst den Jüngern vergegenwärtigt, ihnen die Notwendigkeit der Vollendung seiner Sendung in der Hingabe seines Lebens an das und für das bezeugte Gottesreich eröffnet und selbst die Feier des von ihm gebotenen Mahles beginnt und dadurch auch die Jünger zur Erfüllung des Gründonnerstagsgebotes instandsetzt. Diese – Gründonnerstag gegebene, aber erst am Ostertag tatsächlich empfangene – Gabe des Mahles ist konstitutiv für das neue Gottesvolk, ja sie selbst konstituiert das neue Gottesvolk. Luther hat daher auch das Abendmahl als das „erste unter allen“ Sakramenten („omnium primum“) angesprochen.27 1.4.2 Die Gabe dieses einzigen Gottesdienstes für das neue Gottesvolk hat als ganze einen einheitlichen Charakter, den Luther dem neutestamentlichen Zeugnis entnimmt – nämlich den einheitlichen Charakter eines Testamentes.28 Die Einheitlichkeit eines Testaments ist die Einheitlichkeit einer Relation – nämlich die Einheitlichkeit der vom Testator aufgebauten Relation zu den Testamentsempfängern – wobei der Inhalt, also der materiale Charakter dieser Relation, der einer Hinterlassenschaft des Testators für die Testamentsempfänger ist. 1.4.3 Testator ist Christus, die zweite Person der Trinität, die – durch den Heiligen Geist, den Schöpfergeist, der als solcher zugleich der Geist der Wahrheit ist, inkarniert und wirksam – die gefallene Menschheit annimmt, ihre Sünde am Kreuz trägt und damit den ewigen Versöhnungswillen des Vaters vollzieht und offenbart. 1.4.4 Testamentsempfänger ist die Gemeinschaft der Seinen: die Gemeinschaft derer, zu denen er vor seinem Tod Gemeinschaft aufgenommen hat, denen am dritten Tag nach seiner Kreuzigung sein Persongeheimnis durch den Geist der Wahrheit offenbar wurde, die sich dadurch in die Gemeinschaft mit dem Sohn und dem Vater

27 28

WA 6, 502, 1. Zum Folgenden vgl. mit genauer Lektüre: WA 6, 357, 10–362, 12.

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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versetzt und wiederum dadurch als die Gemeinschaft des neuen Gottesvolkes, der Heiligen, konstituiert fanden. Diese vom österlichen Wirken des „πνεῦμα ζῳοποιοῦν“ geschaffene Gemeinschaft wurde als diese Pfingsten der Welt offenbar gemacht.29 Das heißt genau: Empfänger ist jedes einzelne Glied der Gemeinschaft („trinket alle daraus“) – aber eben jedes einzelne Glied genau als Glied der allein und ausschließlich aus der Initiative und aus dem Wirken Gottes in seinem inkarnierten Sohn durch den Heiligen Geist (den Schöpfergeist, den Geist der Wahrheit) – und nicht etwa durch Zusammentritt der durch die einzelnen Menschen (!) – geschaffenen Gemeinschaft. Das wird, wie Luther sieht, besonders deutlich darin, dass jeder Einzelne die Hinterlassenschaft überhaupt nur unter Erfüllung derjenigen Bedingung empfängt, die im Testament selbst ausdrücklich als Bedingung des Empfangs benannt ist. Diese Bedingung ist: der Vollzug des gebotenen Begängnisses – durch niemanden sonst als die Gemeinschaft („solches tut [angeredet ist die Gemeinschaft des neuen Gottesvolkes] zu meinem Gedächtnis“) und nur in ihr30 durch jeden Einzelnen. 1.4.5 Nun zur Hinterlassenschaft. Worin besteht diese? Antwort: Die Hinterlassenschaft ist der Testator selbst. In den Gaben des Mahles hinterlässt er den Seinen sich selbst.31 Denn die Hinterlassenschaft ist nichts anderes als die aus dem Munde des inkarnierten Gottessohnes selbst stammende und deshalb untrüglich wahre Verheißung, dass in den Gaben des zur Wiederholung zu einem Gedächtnis gegebenen Mahles der inkarnierte Gottessohn in der Ganzheit seines Versöhnungswerks selbst gegenwärtig ist, nämlich in der Hingegebenheit seines Lebens in das Ertragen des Todes, das als das Ertragenwerden des Todes durch ihn, den inkarnierten Logos, die Überwindung des Todes als Fluch der Sünde ist.32 Diese reale Präsenz des inkarnierten Versöhners selbst in den Gaben der von ihm seiner Gemeinschaft zu einem Gedächtnis gebotenen Mahlfeier ist gewiss, weil die Verheißung dieser realen 29

30 31

32

Nach dem lukanischen Bericht (Apg 2, 1–41) besteht die Gemeinde bereits. Sie wird jetzt durch das pfingstliche Wunder des Geistes ihrer Umwelt als die schon durch den Geist der Wahrheit geschaffene Gemeinschaft offenbar. Das kommt besonders deutlich in der Argumentation gegen die Privatmesse zum Ausdruck. „Was […] ist nun dies Testament oder was wird uns darinnen beschieden von Christus? Fürwahr ein großer ewiger, unaussprechlicher Schatz. Nämlich Vergebung aller Sünde. Wie die Worte klar lauten: ‚Dies ist der Kelch eines neuen ewigen Testaments in meinem Blut, das für Euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünde‘. Als sollte er sagen: ‚Siehe da, Mensch, ich sage dir zu und bescheide dir mit diesen Worten Vergebung aller deiner Sünde und das ewige Leben. Und daß du gewiß seist und wissest, daß solch Gelübde dir unwiderruflich bleibe, so will ich drauf sterben und meinen Leib und Blut dafür geben und beides dir zum Zeichen und Sigel hinter mir lassen, dabei du mein gedenken sollst‘, wie er sagt: ‚So oft ihr das tut, so gedenket an mich‘“ (WA 6, 358, 14–24). Hierzu vgl. Luthers Choral „Christ lag in Todesbanden“ (EG 101).

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

Präsenz aus dem Mund des inkarnierten Versöhners, der zweiten Person der Trinität, also des Schöpfungsmittlers selbst, stammt, der, weil selbst Gott, nicht lügen und trügen kann.33 Was also der Testator, Christus, der inkarnierte Gottessohn und Versöhner, vermacht, ist nichts anderes als die Selbstvergegenwärtigung seiner Person und seines versöhnenden Wirkens in der und vermittelst der von ihm selbst der Gemeinschaft der Versöhnten am Gründonnerstag aufgetragenen und Ostern ermöglichten Feier dieses seines versöhnenden Wirkens. Wobei die vom inkarnierten Logos selbst verheißene Selbstvergegenwärtigung in der von ihm gebotenen Feier seines versöhnenden Wirkens – ihn und dieses sein versöhnendes Geschick, seinen Tod und seine Auferstehung zugleich bezeugt und verkündigt, – also auch ihn selbst in der Welt und für die Welt präsent erhält bis ans Ende der Zeiten: „bis dass er kommt“. Was durch das Testament vermacht wird, ist also nicht weniger, als dass – die zweite Person der Trinität das einmalige Geschehen seiner Inkarnation und seines versöhnenden Wirkens selbst in der Geschichte präsent erhält – durch das von ihm selbst der Gemeinschaft der Seinen (den Zwölf, dem neuen Gottesvolk) gegebene Gebot derjenigen Feier, welcher er die Selbstgegenwart seiner Person und seines Werkes verheißt, – durch die österliche Befähigung der Gemeinschaft, zur Erfüllung dieses Gebotes und – dadurch, dass er diese Feier, zu der er sein Volk befähigt hat, auch selbst dazu benutzt, um sich und sein Werk in der Welt gegenwärtig und an ihr wirksam zu erhalten.

2.

Gegenwartsbedeutung

Diese Sicht ergibt sich aus einer Erfassung des einheitlichen geschichtlichen Ursprungs und des einheitlichen Wesens des Sakraments als Implikat der Einheit des Christusgeschehens, wie es dem Glauben als die Einheit von Werk und Person des inkarnierten Logos vor Augen steht und das für den Glauben seinerseits Implikat, nämlich die Offenbarung des trinitarischen Wirkens und Wesens des Schöpfers ist, in dem für den Glauben alles Wirkliche beschlossen ist.

33

Zu diesem für Luther alles tragenden Begründetsein der Gewissheit der Realpräsenz des Inkarnierten in den Gaben des von ihm eingesetzten Mahles in der Gewissheit des Inkarniertseins Gottes selbst in Jesus Christus und zu dem Begründetsein wiederum dieser Gewissheit im Wirken des das Persongeheimnis Jesu offenbarenden Geistes der Wahrheit vgl. Eilert Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987; ders., Gewissheit in Luthers De servo arbitrio, in: ders., Phänomene des Glaubens, Tübingen 2006, 56–80 sowie ders., Sakrament und Wort (wie Anm. 6).

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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2.1 Luthers Sicht des Abendmahls ist Implikat des durch das Wollen und Wirken des dreieinigen Gottes – das heißt des durch die Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in seinem inkarnierten Logos durch den Heiligen Geist für sein geschaffenes Ebenbild, den Menschen – geschaffenen Glaubens an den dreieinigen Gott und dieses sein auf die vollendet selige Gemeinschaft seines geschaffenen Ebenbildes mit ihm im ewigen Leben unirritierbar hinstrebendes Wollen und Wirken. Das hat Luther dadurch markant zum Ausdruck gebracht, dass er seine tiefgründigste Abendmahlsschrift, die von 1528, abgeschlossen hat mit seinem Bekenntnis zum dreifachen Sich-Geben des Schöpfergottes als Vater, Sohn und Geist. Das Abendmahl ist die semper präsente leibhafte Gabe, die durch das dreifache – das Christsein und die christliche Gemeinschaft schaffende – Sich-Geben des dreieinigen Gottes gegeben ist, und zwar durch es gegeben als das Mittel, durch das dieses dreifache Sich-Geben des dreieinigen Gottes sich selber in der Geschichte präsent erhält in seinem die Gemeinschaft des Glaubens schaffenden Wirken. 2.2 Alles, was über das Abendmahl je zu sagen ist, war und zu sagen sein wird, ergibt sich aus der Tatsache, dass es Implikat dieses dreifachen Sich-Gebens Gottes zunächst in der Schöpfung, dem Werk des Schöpferlogos, sodann im inkarnierten Logos und seinem Offenbarungs- und Versöhnungswirken und dies beides durch den Geist, der als Schöpfergeist ausgehend vom Vater und Sohn zugleich der Geist der Wahrheit und eben als solcher das „πνεῦμα ζῳοποιοῦν“ ist, der Geist, der, indem er das lumen gratiae entzündet, zugleich das lumen gloriae verheißt. 2.3 Die vorgelegte Nachzeichnung von Luthers Sicht des Abendmahls kann und muss auf ihre Korrektheit an den Quellen, die sie in Anspruch genommen hat, überprüft werden. Aber gegen die von Luther selbst in diesen Quellen zum Ausdruck gebrachte Sicht des Abendmahls sind keine historisch-kritischen Einwände möglich. Dagegen möchte man vielleicht darauf hinweisen, dass Luther erstens seine Sicht doch unter Berufung auf das Zeugnis derjenigen Schrift vertreten hat, welche im geschichtlichen Leben der Christenheit als der Kanon der Traditionstätigkeit dieses Lebens, also als das Kriterium seiner Ursprungstreue, zustande gekommen ist, und dass Luther zweitens die Übereinstimmung seiner Sicht mit der Sicht dieses kanonischen Zeugnisses behauptet hat; folglich scheint es geboten zu sein, eben diesen Anspruch mit den Mitteln der historisch-kritischen Schriftauslegung zu überprüfen. Das ist auch ganz richtig: Ohne eine disziplinierte Erhebung der Sachintention von Luthers Texten und des Sachzeugnisses der von ihm in Anspruch genommenen kanonischen Schriften, deren Verfahren man „historisch-kritisch“

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

nennen mag, kann kein reflektiertes Urteil über die Kanongemäßheit von Luthers Abendmahlsverständnis gewonnen werden. Aber dabei ist darauf zu achten, dass alle möglichen Verstehensvollzüge, die sich selbst unter dem Titel eines „historisch-kritischen“ Verfahrens präsentieren, unvermeidlich durch ein sie schon vorweg leitendes Wirklichkeitsverständnis geprägt sind. Dass das faktisch immer so ist, ist ein nicht erfolgreich zu bestreitendes systematisches Hauptergebnis der Selbstreflektion moderner Hermeneutik. Und diesem Faktum hat schon vor der es entdeckenden Reflexion und vor der Verbreitung ihrer Ergebnisse34 die gesamte altkirchliche, früh-, hoch- und spätmittelalterliche Schriftauslegung dadurch Rechnung getragen, dass sie sich selbst als dogmatische – eben im Horizont des im trinitarischen Dogma zur Sprache gebrachten christlichen Wirklichkeitsverständnisses – vollzog. In dieser Weise dogmatisch – explizit geleitet vom trinitarischen christlichen Wirklichkeitsverständnis – ist auch die Schriftauslegung Luthers. Somit ist immer zu fragen, von welchem eigenen Wirklichkeitsverständnis dasjenige Schriftverständnis geleitet ist, in dessen Namen man das Schriftverständnis Luthers, das seine Abendmahlslehre trägt, kritisiert. Eine Kritik oder gar Bestreitung des dogmatisch-trinitarischen Schriftverständnisses, das die Abendmahlslehre Luthers trägt, im Horizont eines Schriftverständnisses, das von einem anderen als diesem trinitarisch-dogmatischen Wirklichkeitsverständnis geleitet ist, wäre in Wahrheit keine historische, sondern eine dogmatische Bestreitung von Luthers Schriftverständnis und seiner darauf ruhenden Sicht des Abendmahls. Der so entstehende Streit wäre kein historischer, sondern ein – horribile dictu – „metaphyischer“ Streit über das leitende Wirklichkeitsverständnis. Und der kann nie historisch entschieden werden. Das alles ist exemplarisch schon im Streit zwischen Luther und Zwingli deutlich geworden: Was wie ein exegetischer Streit aussieht, ist in Wahrheit ein Streit um das Wirklichkeitsverständnis. Luther behaftet Zwingli bei dem Faktum, dass seine (Zwinglis) wie natürlich auch Luthers eigene Schriftauslegung von einem spezifischen Wirklichkeitsverständnis geleitet ist – wobei Luther gegen Zwingli behauptet und nachweist, dass dessen Wirklichkeitsverständnis hinter Grundeinsichten des trinitarischen christlichen Wirklichkeitsverständnisses zurückbleibt.35

34

35

Klar erfasst schon von Schleiermacher und in seiner Theorie der Exegese entfaltet: Eilert Herms, Schleiermachers Verständnis der exegetischen Theologie, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 427–482. Genau so ist natürlich auch die neuprotestantische Behauptung, Luther gehöre zwar mit seinem Rechtfertigungsverständnis schon in die Neuzeit, mit seinem Abendmahlsverständnis und dessen „metaphysischen“ Hintergründen jedoch noch in das Mittelalter, nichts anderes als die Behauptung, dass Luther in seinen Abendmahlsschriften nicht „das“ neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis – verstehe das Kantische – teile und dass es auch unmöglich sei, dieses Wirklichkeitsverständnis hinter Luthers Abendmahlsschriften in das Kantische zu integrieren (während der einschlägige Versuch bei Luthers Rechtfertigungsaussagen als gelungen angesehen wird). Auch diese Kritik ist – entgegen ihrem besonders von Ernst Troeltsch vertretenen Selbstverständnis – keine historische, sondern eine dogmatische oder eben „metaphysische“.

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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2.4 Luthers Abendmahlsverständnis macht den fundamentalekklesiologischen Charakter der Feier dieses Sakraments deutlich. Die Feier dieses Sakraments ist der „einige Gottesdienst“, durch dessen Einsetzung der inkarnierte Logos das neue Gottesvolk konstituiert und durch dessen Feier er selbst es erhält: Eingesetzt hat er ihn durch das Ganze seines Wirkens, welches als untrennbare Momente umfasst: a) sein vorösterliches Erdenwirken, als dessen vorausgreifende Zusammenfassung er ihn am Gründonnerstag durch das Wiederholungsgebot „zu seinem Gedächtnis“ stiftet, b) seine Lebenshingabe in das Ertragen des Todes am Kreuz sowie c) die österliche Selbstvergegenwärtigung des gekreuzigten inkarnierten Logos als des auferstandenen und erhöhten. Das Tun Jesu vor Ostern ist also ein unverzichtbares Element der Einsetzung des Mahles, aber diese Einsetzung ist keineswegs schon und allein durch das Tun dieses vorösterlichen Tuns Jesu vollzogen. Vielmehr kommt das vorösterliche Tun Jesu nur als Einsetzung des Abendmahles in Betracht, sofern es das Tun der inkarnierten zweiten Person der Trinität ist, das als dieses Tun, wie das gesamte vorösterliche Tun des inkarnierten Logos in das Ganze der Sendung des Logos integriert ist, die aus der Sicht des Glaubens ihrerseits von Anfang an auf die Sendung des Geistes und auf die Selbstvergegenwärtigung des Gekreuzigten als des Auferweckten und Erhöhten zielt und erst mit alledem vollendet ist. Die Einsetzung des Abendmahles ist eine Tat und ein Werk des inkarnierten Schöpferlogos und seines Geistes – also der gesamten Trinität. Dieses christologisch-trinitarische Verständnis der Einsetzung des Abendmahles schließt dann aber auch ein entsprechendes Verständnis des Effektes dieses Einsetzungsgeschehens ein: Der Effekt der Einsetzung dieses Gottesdienstes ist die Gründung des neuen Gottesvolkes, der „Christenheit“. Das ist ein Effekt für den Rest der gesamten Geschichte. So wie das neue Gottesvolk, die „Christenheit“, für den Rest der Geschichte gegründet ist, so ist auch der Gottesdienst, die Mahlfeier, deren Einsetzung das neue Gottesvolk begründet, auf Dauer, nämlich für den Rest der Geschichte eingesetzt. Das heißt: Der Gottesdienst, die Mahlfeier, deren Einsetzung das neue Gottesvolk begründet, ist damit zugleich als derjenige Gottesdienst eingesetzt, dessen Vollzug für das neue Gottesvolk, die „Christenheit“, auf Dauer grundlegend ist, durch dessen Feier die „Christenheit“ also erhalten wird – wobei ebenso wie die Einsetzung dieses Gottesdienstes und die dadurch erfolgende Gründung des neuen Gottesvolkes ein Werk der Trinität selber ist, auch das Erhaltenwerden der Christenheit durch diese Feier und das Erhaltenwerden dieser Feier selbst ein Werk der Trinität ist – ein Wirken des Vaters, des zur Rechten des Vaters zurückgekehrten Sohnes und des Geistes („mit beiden gleichen Thrones“ [!]), die in der Allgegenwart des Himmels alles irdische Geschehen umfassen und beherrschen. Diese Sicht der der Kirche gründenden Einsetzung und Erhaltung des Abendmahles ist ein Implikat des trinitarisch-christologischen Dogmas, das als Ausdruck des christlichen Wirklichkeitsverständnisses in den christlichen Kirchen nicht zur

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Disposition steht. Die Gegenwartsbedeutung dieses Dogmas als Ausdruck des christlichen Wirklichkeitsverständnisses schließt die Gegenwartsbedeutung des in ihm implizierten Abendmahlsverständnisses Luthers ein. 2.5 Luthers Abendmahlsverständnis schließt eine Sicht der wesentlichen Bedingungen für eine ursprungsgemäß geordnete Feier dieses für die Kirche fundamentalen Sakraments ein: Das Sakrament muss ministriert und gepredigt werden. Dabei kann die Person, die von der Gemeinschaft zum Ministrieren verordnet ist, kraft dieses ihres Auftrags gar nicht anders, als „in persona Christi“ zu handeln, das heißt, die Stelle und Funktion im Mahl einzunehmen, die am Gründonnerstag Christus selbst innehatte. Eben dazu ist sie ja von der Gesamtkirche „ordiniert“.36 2.6 Damit zugleich ist aber auch eine Sicht der grundlegenden Erfordernisse der Ordnung des neuen Gottesvolkes, der „Christenheit“, der Kirche als Feiergemeinde gegeben, und das heißt: als Gemeinschaft des Empfangens des (sie schaffenden und erhaltenden) Gnadenwirkens des Schöpfers im Sohn durch den Heiligen Geist, als Bekenntnisgemeinschaft, als Verkündigungsgemeinschaft und als Dienstgemeinschaft. 2.7 Luthers Abendmahlsverständnis begründet eine Sicht auf die Gegenwart des Testators in der Feier, damit eine Sicht auf den wahren Opferaspekt dieser Feier – nämlich auf den für die Feier selbst wesentlichen Aspekt als eines Aktes der Erfüllung der Forderung Gottes: nämlich der Hingabe des eigenen Lebens an den dreieinigen Gott, aus dessen Hand sich dieses Leben empfangen hat und ständig neu gegeben wird. 2.8 Weil dieses Abendmahlsverständnis Luthers in seiner Sicht vom Grund und Gegenstand des Glaubens – der alle irdische Gegenwart bestimmenden Realisierung des ewigen Heilsplanes des dreieinigen Gottes durch die selige Gemeinschaft stiftende Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in seinem inkarnierten Logos durch seinen Geist – eingeschlossen ist, schließt es auch eine Sicht auf die welt- und heilsgeschichtliche Sendung und Mission des durch diesen Gottesdienst begründeten und 36

Vgl. dazu Luthers Ausführungen in „Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe“, WA 38, 195–256.

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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erhaltenen neuen Gottesvolkes im Ganzen der Realisierung des Schöpfungsplanes des dreieinigen Gottes ein. 2.9 Zusammenfassend kann und muss gesagt werden: Diese Sicht des Abendmahles überwindet alle zwischenzeitlich aufgetretenen innerevangelischen Verständigungsschwierigkeiten.37 Denn diese Verständigungsschwierigkeiten betrafen lauter Punkte, die durch jene Gesamtsicht entschieden sind; und zwar genau so entschieden, wie Luther sie gegen die Bestreiter dieser Punkte verteidigt hat – eben unter Berufung auf das im christologisch-trinitarischen Dogma zur Sprache gebrachte christliche Wirklichkeitsverständnis gegen Verkennungen von dessen konkretem Gehalt. Diese zu Verständigungsschwierigkeiten führenden Punkte waren bekanntlich: – die objektive Vorgegebenheit des Sakraments als Heilsgabe für Glauben, – die antidonatistische Behauptung der Unabhängigkeit der Realität des Gnadencharakters des Sakraments von der Heiligkeit des Spenders oder der Würdigkeit des Empfängers, – die Gegenwart von Leib und Blut Christi in den Gaben des Mahles, in Brot und Wein, – die Frage nach einer definitiven Beschreibung des Wie dieser realen Gegenwart von Blut und Leib Christi in Brot und Wein. Die von Luther in der Schrift von 1528 gegebene Antwort auf diese Frage besagt bekanntlich zweierlei. Erstens: Eine definitive Beschreibung dieses Wie ist nicht möglich und auch nicht nötig. Denn zweitens: Das Faktum der Möglichkeiten und der Realität der Gegenwart Christi ist im christologischen und trinitarischen Dogma eingeschlossen, weil dieses seinerseits das Eingeschlossensein aller irdischen Gegenwart in der Allgegenwart Gottes einschließt. Alle diese Punkte sind durch Luthers Verständnis des Abendmahls entschieden38 – freilich ohne dass dadurch das Gesamtverständnis des Abendmahls auf diese Punkte enggeführt würde.

37

38

Die klassische Gesamtdarstellung ist immer noch: Ulrich Kühn, Art. Abendmahl IV (Das Abendmahlsgespräch in der ökumenischen Theologie der Gegenwart), in: TRE 1 (1977), 145–212, hier besonders Abschnitt „1. Das Abendmahlsgespräch in der evangelischen Theologie“, 146–163. Jüngste amtliche Zusammenfassung des gemeinevangelischen Abendmahlsverständnisses sind die Ziffern 15 und 16 der Leuenberger Konkordie. Der Vollgehalt der dortigen Formulierungen erschließt sich, wenn man sie in den Horizont von Luthers Abendmahlsverständnis – wie vorstehend nachgezeichnet – hineinstellt.

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2.10 Diese Sicht Luthers erlaubt auch die Identifikation (und damit die Überwindung) aller Scheingegensätze zur römisch-katholischen Sicht – aber damit zugleich freilich auch die Identifikation desjenigen Gegensatzes zu dieser römisch-katholischen Sicht, von dem noch nicht entschieden ist, ob er ebenfalls nur ein Scheingegensatz ist oder ein echter: Dieser Gegensatz betrifft die genaue Bestimmung des kirchlichen Charakters, der für das wahre Abendmahl grundlegend ist. Während Luther sieht, dass der gesamtkirchliche Charakter der Feier den Status und die Rolle derjenigen Personen begründet, die zum Ministrieren verordnet sind, scheint sich das Verhältnis aus römisch-katholischer Sicht umgekehrt darzustellen: Ein auf Christi vorösterliche Einsetzung zurückgehender Charakter der ministrierenden Person – nämlich ihre Zugehörigkeit zum Kreis des schon durch die Handlung am Gründonnerstag eingesetzten Kollegiums der Apostel unter Petrus und deren Nachfolger bzw. ihre Zugehörigkeit zu deren Gehilfen – begründet den kirchlichen Charakter des Abendmahls, der für jedes wahre Abendmahl unabdingbar ist.39 Sollte dies tatsächlich die römisch-katholische Sicht sein, so kann ich nicht erkennen, dass sie der Realität entspricht, die durch das kanonische Schrifttum bezeugt wird.

3.

Überlegungen zum Projekt der „Union“

Mit einigen Überlegungen zum Projekt der „Union“ kehre ich zu meinen Eingangsbemerkungen zurück. 3.1 Eine „Union“ ist in jedem Fall – und wird in jedem Fall – von einer Kirche mit einer anderen geschlossen, deren Lehrbekenntnis Unterschiede zum eigenen aufweist. Über eine Union wird also nach der Ordnung der beteiligten Kirchen von den dafür durch die Ordnung vorgesehenen Organen und den Menschen entschieden, die in diesen Organen entscheidungsbefugte Ämter innehaben. Unionen kommen also immer durch Entscheidungen zustande, die in den Bereich der Selbstbestimmung und Selbststeuerung von Kirchen fallen, die für deren geschichtliches Leben unvermeidlich und wesentlich sind. Nur in solchen Prozessen der Selbstbestimmung und Selbststeuerung manifestiert sich die geschichtliche Identität des Lebens der Kirchen als eines Lebens in der durch Christus gestifteten Gemeinschaft mit ihm. Freilich manifestiert sich in diesen Prozessen der Selbstbestimmung und Selbst-

39

Zum Ganzen vgl. Eilert Herms/Lubomir Zak (Hg.), Taufe und Eucharistie im Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischem und evangelisch-lutherischem Verständnis, in Vorbereitung (erscheint 2014).

Luthers Abendmahlsverständnis und seine ökumenische Gegenwartsbedeutung

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steuerung nur dann die Identität des Lebens in der Gemeinschaft mit Christus, wenn diese Prozesse der Selbstbestimmung und Selbststeuerung von Kirchen von der Art sind, dass sich durch sie auch das kirchliche Leben als Leben in der Gemeinschaft mit Christus regeneriert. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist auch möglich, dass das kirchliche Leben durch die Prozesse seiner Selbstbestimmung und Selbststeuerung als Leben in der Gemeinschaft mit Christus Schaden nimmt oder ganz aufhört, Leben in der Gemeinschaft mit Christus zu sein, also degeneriert. Somit fragt sich: Was sind die Bedingungen dafür, dass in diesen für das geschichtliche Leben der Kirchen wesentlichen Prozessen der Selbstbestimmung und Selbststeuerung eine ständige Regeneration des Lebens in der Gemeinschaft mit Christus stattfindet? Eine notwendige Bedingung dafür ist jedenfalls, dass die Kirchen in sich selbst Menschen zu dem Amt der Aufsicht ordinieren, das in der kirchlichen Gemeinschaft darauf achtet, dass das Leben der kirchlichen Gemeinschaft sich in Übereinstimmung mit und Treue zu demjenigen Ursprungsgeschehen vollzieht, dem es seine Entstehung und seine Erhaltung verdankt. Nach reformatorischer Einsicht üben die zu diesem Amt der Episkope ordinierten Personen ihr Amt dadurch aus, dass sie darauf achten, dass sich das Leben der Gemeinschaft in dem Korridor bewegt, der durch den Kanon der Tradition festgelegt ist – wobei diese Rede vom „Kanon der Tradition“ beides meint: Einerseits (im Sinne eines genitivus explicativus) die Tradition, die selbst Kanon ist für das kirchliche Leben, und zugleich andererseits (im Sinne eines genitivus objectivus) einen Kanon für diejenige Tradition, welche auch für das gegenwärtige Leben der Gemeinschaft als maßgeblich zu achten ist. Dass es eine solche maßgebliche Tradition gibt, ist bekanntlich in der Reformation keineswegs geleugnet worden.40 Freilich ist Tradition nur dann maßgeblich, wenn sie selber dem Kanon für die Tradition nicht widerspricht, der in der Tradition in Gestalt der kanonischen Schriften entstanden ist. Das Achten auf die Ursprungsgemäßheit des Lebens der kirchlichen Gemeinschaft, die Episkope, vollzieht sich daher so, dass geachtet wird auf die Übereinstimmung der Vollzüge des Lebens der Gemeinschaft, einschließlich ihrer Selbstexplikation in Verkündigung und Lehre, mit diesem Kanon für die Tradition, also mit dem Ursprung des christlichen Lebens und mit dem ursprungstreuen christlichen Leben, wie sie von der kanonischen Schriftensammlung bezeugt werden. Weil dieser Kanon für die Tradition Schriftform hat, ist für seine Handhabung erforderlich, dass er verstanden wird – und zwar in einer für die Gemeinschaft einheitlichen Weise, was wiederum nicht möglich ist, ohne dieses gemeinschaftliche Verständnis des Kanons wiederum schriftlich zu fixieren – in Lehrtexten und Katechismen – als Norm für die Lehre und Ordnung der Kirche.

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Ein besonders markantes Beispiel für diese Hochschätzung der Tradition sind Luthers Argumente für die Beibehaltung der Kindertaufe.

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3.2 Durch dies alles wird jedoch nur eine notwendige Bedingung dafür erfüllt, dass das geschichtliche Leben der kirchlichen Gemeinschaft in den Vollzügen seiner Selbstbestimmung und Selbststeuerung seine Übereinstimmung mit seinem Ursprung und damit seine Identität wahrt, noch nicht aber seine hinreichende. Denn alle Selbstaussagen des Glaubens, alle kirchliche Lehre, die Schriften der kanonischen Sammlung, ja sogar das in diesen bezeugte ursprungsgemäße christliche Leben sind ihrerseits immer nur Bezeugungen des Ursprungs der Christusgemeinschaft selbst. Das gesamte christliche Leben ist mit all seinen Äußerungen nichts als ein Kontinuum von Bezeugungen dieses Ursprungsgeschehens, die allesamt überhaupt nur verstanden werden können, wenn und wo das geschichtlich Reale, das sie intendieren und auf das sie hinweisen, sich selber durch sich selber zeigt. Was ist dieses in allen ursprungstreuen Zeugnissen des christlichen Lebens intendierte Reale? Antwort: Es ist eben das Geschehen der Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in Jesus Christus durch den Geist. Es ist das Christusgeschehen mit seinem Effekt: der das Sakrament des Altars feiernden und das Sakrament der Taufe spendenden Kirche, des neuen Gottesvolks. Das Reale, von dem alles ursprungstreue christliche Leben herkommt und das es in allen seinen Äußerungen bezeugt, ist das Christusgeschehen als dasjenige Offenbarwerden des Sinnes des gesamten Schöpfungsprozesses, das als dieses Offenbarwerden seines Sinnes und seines ursprünglichen Zieles die entscheidende Wende des Weltgeschehens ist und das die Gemeinschaft mit dem Offenbarer und deren weltgeschichtliche Mission – die Bezeugung dieser offenbaren Wahrheit über das ursprüngliche Ziel allen irdischen Geschehens – schafft. 3.3 Das ursprungstreue christliche Leben ist in all seinen Äußerungen de facto Bezeugung dieses realen Geschehens in seiner Einheit. Und diesem Ursprung treu ist nur dasjenige christliche Leben, welches des Faktums inne ist und mit ihm ernst macht, dass die Einheit und eigene Identität dieses Ursprungsgeschehens selbst in keiner seiner Bezeugungen eingeholt werden kann, sondern durch sich selbst viele und vielfältige Bezeugungen ermöglicht und verlangt. Ursprungstreu ist nur dasjenige christliche Leben, welches gewiss ist und damit Ernst macht, dass die Einheit und Identität dieser Sache, dieses Realen, von sich aus und durch sich selbst nicht die Vielfalt seiner Bezeugungen und Lehrbekenntnisse aus-, sondern einschließt. 3.4 Hier haben alle Unionsbemühungen zwischen Kirchen ihr Recht und ihre Stärke: Sie gehen davon aus, dass Unterschiede im kirchlichen Lehrbekenntnis nicht ausschließen, dass also auch verschiedene Lehrbekenntnisse treue Bezeugungen der-

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selben einen Sache, desselben einen realen Geschehens sein können, eben Bezeugungen des einen Christusgeschehens, das sich selbst seine Gemeinschaft als die Gemeinschaft der feiernden Bezeugung des Christusgeschehens schafft. Und soweit die beteiligten Seiten sich davon überzeugen können, dass in der Tat andere kirchliche Gemeinschaften mit anderem Lehrbekenntnis nichts anderes als dasselbe eine Ursprungsgeschehen des christlichen Lebens bezeugen, können, ja müssen sie sich mit diesen anderen Gemeinschaften in der Feier dieses Geschehens über die Differenzen im Lehrbekenntnis hinweg vereinen – sie müssen einander Gemeinschaft am Altar gewähren. 3.5 Freilich kommt damit zugleich auch die typische Gefahr von Unionen zwischen Kirchen mit verschiedenem Lehrbekenntnis in den Blick: Indem die unterschiedlichen Lehrbekenntnisse nicht mehr als Hinderungsgrund für die Gewährung von Kirchengemeinschaft erkannt werden, besteht die Versuchung, sie auch nicht mehr als die notwendige Bedingung für die Lösung der Aufgabe zu achten, die Selbstbestimmungs- und Selbststeuerungsprozesse der kirchlichen Gemeinschaft so zu gestalten, dass sich durch sie ursprungstreues christliches Leben auch regeneriert. Diese Schwierigkeit spitzt sich zu, sobald die Union bekenntnisverschiedener Kirchen sich zu einer Gemeinschaft mit eigener Organisation und Leitung ausbildet. In solchen Fällen wird regelmäßig die Geltung der verschiedenen Bekenntnisse in den in der Union lebenden verschiedenen Gemeinschaften anerkannt. Unklar aber wird, an welchen Normen sich die geschichtliche Selbstbestimmung und Selbststeuerung, also die Leitung, der Union selbst orientiert. Es entsteht die Gefahr, dass auf dieser Ebene der Leitung einer Union ein rein verwaltungsmäßiger Umgang mit den verschiedenen Lehrbekenntnissen um sich greift. Die Leitung von Unionskirchen droht zum Umgehen mit, zur Verwaltung der verschiedenen Bekenntnisse zu kommen, während sie sich für ihre eigenen Leitungsentscheidungen an keinem festen Lehrbekenntnis mehr orientiert, sondern diese nach rein pragmatischen Gesichtspunkten getroffen werden. 3.6 Es wäre zu prüfen, ob und wieweit die im frühen 19. Jahrhundert geschlossenen Unionen dieser Gefahr erlegen sind. Inzwischen aber ist genau dieses Problem von Unionen beziehungsweise von erklärter und geordneter Kirchengemeinschaft zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen erkannt und ein sachgemäßer Ansatz für seine Lösung gefunden worden. Dieser Ansatz liegt vor in der Leuenberger Konkordie: Diese Konkordie ist nicht ein neues gemeinsames Bekenntnis, das die Verbindlichkeit der eigenen Bekenntnisse der beigetretenen Kirchen ersetzt. Es ist vielmehr

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ein Text, der Aussagen auf einer übergeordneten Ebene zusammenfasst – nämlich Aussagen, die sich aus der allseitigen fundamentaltheologischen Besinnung auf das fundamentum fidei, das eine reale Ursprungsgeschehen des christlichen Lebens, ergeben haben und festhalten, dass und wie tatsächlich in den verschiedenen Lehrbekenntnissen dieses eine Grundgeschehen treu bezeugt wird. Leitung einer Kirchengemeinschaft, die auf dieser Basis erklärt und praktiziert wird, ist nicht mehr dem Pragmatismus ausgeliefert. Sie hat sich als Leitung dieser Gemeinschaft an den allseits anerkannten Grundsätzen dieser Gemeinschaft zu orientieren. Das heißt, sie hat eine spezifische Aufgabe für die Selbstständigkeit, also auch für die Selbststeuerungsfähigkeit der beteiligten Gliedkirchen zu lösen: Sie hat ihnen allen zu helfen, ihr eigenes Lehrbekenntnis durch das Hören auf das Lehrbekenntnis der anderen Kirchen, von dem gilt, dass es auf dieselbe res treu bezogen ist, zu hören und dadurch ihr eigenes Lehrbekenntnis und damit ihre Selbststeuerungsfähigkeit – damit zugleich aber auch ihre Gemeinschaftsfähigkeit – „gründlich“, eben: von Grund auf, zu verbessern. In der Erkenntnis dieser antimonistischen und antizentristischen, in Wahrheit der Hütung katholischer Fülle verpflichteten Aufgabe beweist sich die Ursprungstreue der Leitung einer ordentlich erklärten und praktizierten Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen.

Summary The “union” of protestant churches depends on the fact that they discover, from the perspective of their respective confessional and doctrinal traditions, that they have a common object in their confessions and doctrines – and that they acknowledge it reciprocally as the binding foundation for the declaration of church fellowship. Such common understanding, found in all protestant doctrinal traditions, grows out of their acceptance of Luther’s insights. This is also true for Luther’s comprehension of the Lord’s Supper. The nub is that the ancient Christian and mediaeval understanding is pared down to reveal the essential, that the sacrament is considered and described as being a “new testament”, an implication of the ancient Christian christological-trinitarian dogma in its comprehension of reality. Understood in this way, this perception offers the appropriate answer to all questions discussed since then (from Luther’s own controversy with Zwingli to the dialogues of the 20th century) – the answer which has been summed up in the Leuenberg Concord. The strength of the “union” is that they take the unity on which all doctrine rests, the foundation and the object of faith, seriously. This strength becomes a weakness if the churches in the union do not at the same time declare this fundamental theological insight, which is also a fundamental ecclesiological insight, as the principle of their leadership. Leadership in the church would then be reduced to that of custodian of confessions, the whole orientation being purely pragmatic and no longer theological.

Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft Armin Wenz

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft Was wären wir ohne die Unierten! Zu dieser auf den ersten Blick im Zusammenhang mit der Abendmahlsthematik für einen Bekenntnislutheraner vielleicht überraschenden Erkenntnis komme ich, wenn ich meine theologische Sozialisation betrachte. Die weitesten Horizonte zu Lehre und Praxis des heiligen Abendmahls eröffneten sich mir im Theologiestudium bei der Lektüre von Peter Brunners großer Monographie „Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“1. Was Brunner hier beispielsweise über die einsetzungsgemäßen Abendmahlselemente, über die Notwendigkeit der Nachkonsekration oder über den ehrfürchtigen Umgang mit den relicta ausführt, kann als heilsamer kritischer Maßstab auch für sich konkordienlutherisch verstehende Kirchen, Gemeinden und Amtsträger gelten.2 Man ist also keineswegs, wie es bisweilen in Kreisen konservativer Lutheraner den Anschein hat, allein auf Joseph Ratzingers Veröffentlichungen angewiesen, um sich als lutherischer Katholik vom „Geist der Liturgie“ inspirieren zu lassen. Der lutherischen Messfeier entlanggehend leistet diesen Dienst der Unionslutheraner Peter Brunner auf hervorragende Weise und öffnet zudem weite ökumenische Horizonte. Brunner nimmt dabei unter anderem den noch im Krieg vom damals bereits in Erlangen lehrenden Hermann Sasse herausgegebenen Sammelband „Vom Sakrament des Altars“3 auf. Sasse entstammte selbst der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Anders als Brunner blieb er allerdings nicht Lutheraner in der Union, sondern wechselte in Etappen zu den bekenntnislutherischen Kirchen über4. Es ist nicht übertrieben, wenn man ihn als einen der wichtigsten neueren Kirchenväter der sich im International Lutheran Council sammelnden Bekenntniskirchen bezeichnet, der durch seine auch in englischer Sprache vorliegenden theologischen

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Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, in: Karl Ferdinand Müller/Walter Blankenburg (Hg.), Leiturgia. Handbuch des Evangelischen Gottesdienstes, Bd. 1, Kassel 1954, 83–361. Vgl. a.a.O., 238–242, unter der Überschrift „Konsekration“. Hermann Sasse (Hg.), Vom Sakrament des Altars. Lutherische Beiträge zur Frage des heiligen Abendmahls, Leipzig 1941. Vgl. Werner Klän, Historisch-biografische Einleitung, in: Hermann Sasse, In statu confessionis, Bd. 3: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, hg. von Werner Klän und Roland Ziegler (OUH Ergänzungsband 10), Göttingen 2011, 7–16.

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

Veröffentlichungen bis heute wesentlich die Haltung dieser Kirchen zur Frage der Abendmahlsgemeinschaft mitprägt. Last not least möchte ich den vor wenigen Jahren verstorbenen Berliner Systematiker Johannes Wirsching nennen. Was dieser in Ostpreußen geborene Unionslutheraner zur ökumenischen Bedeutung von Luthers Schriftprinzip im Horizont der altkirchlichen Kanonentscheidung herausgearbeitet hat, ist auch in lutherischen Kirchen in vielerlei Hinsicht uneingeholt.5 Auch zu unserer Thematik bis hin zu Fragen der Abendmahlsgemeinschaft hat Wirsching sich höchst instruktiv in seiner Monographie „Kirche und Pseudokirche“ geäußert.6 In dieser dogmatischen Analyse und Kritik des in weiten Teilen des Protestantismus vorherrschenden Kirchenverständnisses trifft Wirsching sich in vielen Punkten mit Überlegungen Hermann Sasses, aber auch Werner Elerts. Auch von diesem Buch gilt ähnlich wie von Brunners Gottesdienstlehre, dass es eine Vielzahl heilsamer Einsichten zu bieten hat.

1.

Geschichte

Zwei historische Grundlinien sind für die Klärung des Verständnisses von „Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft“ in Erinnerung zu rufen: Das ist zum einen die Geschichte der reformiert-lutherischen Divergenz im Reformationsjahrhundert von Marburg 1529 bis zur Konkordienformel. Das ist zum andern die Geschichte der reformiert-lutherischen Konvergenz von der preußischen Union (1817) bis zur Leuenberger Konkordie (1973) und die jeweiligen konkordienlutherischen Reaktionen auf diese Entwicklung. 1.1

Die reformiert-konkordienlutherische Divergenz im Reformationsjahrhundert

Betrachtet man die Abendmahlsfrage im Kontext der frühen Bekenntnisbildung der lutherischen Reformation mit den Etappen der großen Abendmahlsschriften Luthers aus den 1520er Jahren über das Marburger Religionsgespräch (1529) bis hin zur Confessio Augustana (1530) und ihrer Apologie, so ergibt sich aus konkordienlutherischer Sicht folgender Befund: Die im lateinischen Text der CA zwar im Vergleich zum „Damnamus“ anderer Artikel leicht abgemilderte Verwerfung von Leh5

6

Johannes Wirsching, Martin Luthers Schriftprinzip in seiner ekklesiologisch-ökumenischen Bedeutung, in: ders., Glaube im Widerstreit. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. 3 (Kontexte 29), Frankfurt am Main u. a. 1999, 30–67. Zur Rezeption Wirschings vgl. Armin Wenz, Weg und Bedeutung der altkirchlichen Christologie nach Johannes Wirsching, in: Lutherische Beiträge 9 (2004), 172–189; ders., Die Bedeutung der Konfessionalität in der ekklesiologischen Existenz, in: Christian Herrmann (Hg.), Wahrheit und Erfahrung – Themenbuch zur Systematischen Theologie, Bd. 3: Heiliger Geist, Kirche, Sakramente, Neuschöpfung, Wuppertal 2006, 227–246, hier vor allem 231–245. Johannes Wirsching, Kirche und Pseudokirche. Konturen der Häresie, Göttingen 1990.

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft

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ren, die dem Bekenntnis zur wahrhaftigen Gegenwart von Christi Leib und Blut im Abendmahl widerstreiten,7 geht einher mit der Selbstverortung lutherischer Abendmahlslehre im katholischen Grundkonsens von römischer und griechischer Kirche. Hierfür verweist Melanchthon in der Apologie ausdrücklich zustimmend auf die in diesen Kirchen verwendeten Messkanones, bevor er das Fazit zieht, „dass wir die in der ganzen Kirche anerkannte Meinung verteidigen, dass im Abendmahl des Herrn der Leib und das Blut Christi wirklich und wesentlich gegenwärtig sind und mit den sichtbaren Elementen von Brot und Wein dargeboten werden“8. Die Konkordienformel wiederholt diese katholische Selbstverortung in Solida Declaratio VII unter Wiederaufnahme des einschlägigen Zitats aus Apologie X: „So wissen wir, daß nicht allein die römische, sondern auch die griechische Kirche die leibliche Gegenwart Christi im heiligen Abendmahl gelehret“9. Von daher erweist sich in Fragen der Abendmahlslehre und der damit einhergehenden Praxis des Abendmahls bis hin zur Ausgestaltung der Gotteshäuser und der Gottesdienste die lutherische Reformation mit Ausnahme der Messopferlehre als zutiefst konservativ. Dieser Befund bestätigt sich beim für unsere Thematik nicht unwesentlichen Fragenkreis nach Amt und Ordination, wie neuere Untersuchungen zeigen, zu denen auch die vor erst sechs Jahren erschienene beachtliche Publikation der Anhaltinischen Kirche über den lutherischen Reichsfürsten und Bischof Georg III. von Anhalt gehört.10 Artikel VII der Konkordienformel „Vom heiligen Abendmahl“ bietet in doppelter Hinsicht die konsolidierte Fassung lutherischer Abendmahlstheologie und -praxis nach den kryptocalvinistischen Streitigkeiten. Das betrifft zum einen die recapitulatio der lutherischen Bekenntnisbildung zur Abendmahlslehre, in der nicht nur mit Verweis auf die Schmalkaldischen Artikel alle „Schlüpflöcher verstopft“ werden, die es ermöglicht hatten, die Wittenberger Konkordie von 1536 auch im reformierten Sinne auszulegen.11 Ausdrücklich werden außerdem mit Luthers Abendmahlsschriften von 1528 und 1544 Aussagen des Reformators zitiert, in denen dieser sich gegen alle von ihm selbst für die Zeit nach seinem Ableben erwarteten Verfäl-

7

8

9 10

11

Vgl. BSLK 64, 5f.: „et improbant secus docentes“; in anderen Artikeln der CA wird das schärfere „damnant“ gebraucht. Allerdings heißt es auch im deutschen Text von CA X: „Derhalben wird auch die Gegenlehr verworfen“ (BSLK 64, 7f.). Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt. Bearbeitet von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1986, 264, im Original: „nos defendere receptam in tota ecclesia sententiam, quod in coena Domini vere et substantialiter adsint corpus et sanguis Christi et vere exhibeantur cum his rebus, quae videntur, pane et vino“ (BSLK 248, 42–44). BSLK 976, 37–41. Vgl. Achim Detmers (Hg.), Georg III. von Anhalt (1507–1553). Reichsfürst, Reformator und Bischof. Ausgewählte Schriften, Leipzig 2007. Hierzu und allgemein zur lutherischen Ordinationstheologie vgl. auch Reinhard Sander, Ordinatio Apostolica. Studien zu Ordinationstheologie im Luthertum des 16. Jahrhunderts, Bd. 1: Gregor III. von Anhalt (1507–1553), Innsbruck/Wien 2004. Vgl. FC-SD VII, 17–19 (BSLK 978, 48; Zitat Z. 43).

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

schungsversuche seiner Abendmahlslehre verwahrt.12 Zum andern ist auch in der Reflektion auf die Bindung der Realpräsenz an die gesamte einsetzungsgemäße Handlung der Sakramentsfeier ein Beitrag zur Konsolidierung zu sehen, insofern hiermit ein isolationistisches Missverständnis der Einsetzungsworte auch explizit abgewiesen wurde, das leicht zu Scheinalternativen hinsichtlich der Frage des Zeitpunkts der Realpräsenz führen konnte. Usus oder actio, Gebrauch oder Handlung des Sakraments, werden quasi als Synonyme gebraucht und bezeichnen „fürnehmblich nicht den Glauben, auch nicht allein die mündliche Nießung, sondern die ganze äußerliche, sichtbare, von Christo geordnete Handlung des Abendmahls, die Consecration oder Wort der Einsetzung, die Austeilung und Empfahung oder mündliche Nießung“13. Was die Frage nach dem Verhältnis zu Zwingli und seinen Nachfolgern betrifft, so wird das Lutherzitat von 1544, die „Sakramentierer“ sollen „bei mir nur keiner Gemeinschaft“ sich erhoffen,14 der Sache nach in einer Reihe von Verwerfungen am Ende von FC VII kirchlich rezipiert. Dabei erweist bereits ein Blick in den Fußnotenapparat der Göttinger Jubiläumsausgabe der Bekenntnisschriften, dass die Konkordienformel mit ihren Verwerfungen keineswegs nur Aussagen Zwinglis oder Oekolampads in den Blick nimmt, sondern auch Aussagen späterer, von Calvin beeinflusster, reformierter Bekenntnisschriften.15 1.2

Die reformiert-lutherische Konvergenz im 19. und 20. Jahrhundert und die konkordienlutherischen Reaktionen darauf

Die zweite zu betrachtende historische Grundlinie führt, wie es der finnische Theologe Tuoma Mannermaa formuliert hat, von Preußen nach Leuenberg.16 Dass die in Preußen obrigkeitlich umgesetzte Union zwischen Reformierten und Lutheranern, die in andern deutschen Ländern bereitwillige Nachahmer fand, lokal und zeitlich jeweils unterschiedlich stark ausgeprägte Widerstandsbewegungen hervorgerufen hat und schließlich zur Bildung selbstständiger altlutherischer Kirchen führte, ist bereits in anderen Beiträgen dieser Konferenz beleuchtet worden. Empirisch und theologisch konnten die Mütter und Väter der altlutherischen Kirchen die Union nur als ihren Ausschluss aus den ihnen bisher vertrauten Kirchenmauern im realen und im übertragenen Sinn verstehen. Wer seine lutherische Agende und das darin dokumentierte ungetrübte lutherische Abendmahlsverständnis behalten wollte, konnte dies nur durch eine eigenständige kirchenrechtliche Neukonstitution und 12 13

14 15 16

Vgl. FC-SD VII, 28–33 (BSLK 981f.). FC-SD VII, 87 (BSLK 1001, 15–23). Vgl. Jobst Schöne, Von der Macht des Wortes Christi. Die Konsekrationslehre im Artikel VII der Konkordienformel, in: ders. (Hg.), Bekenntnis zur Wahrheit. Aufsätze über die Konkordienformel, Erlangen 1978, 93–99, hier 95; ferner Jürgen Diestelmann, Usus und Actio. Das Heilige Abendmahl bei Luther und Melanchthon, Berlin 2007. FC-SD VII, 33 (BSLK 982, 48f. = WA 54, 156, 5). FC-SD VII, 112–123 (BSLK 1011–1015). Tuomo Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg. Hintergrund und Entwicklung der theologischen Methode in der Leuenberger Konkordie (AGTL NF 1), Hamburg 1981.

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft

293

den Bau eigener Kirchgebäude institutionell sichern. Theologischen Austausch und kirchliche Gemeinschaft fand man hinfort nicht mehr in erster Linie bei der Landeskirche vor Ort, sondern erhoffte man sich von den unionsfreien lutherischen Kirchen in anderen deutschen Staaten und pflegte diese, wo sie möglich war. Für eine Großzahl lutherischer Pfarrer und Gemeindeglieder war der Leidensdruck so groß, dass sie das Risiko der Auswanderung um der in Übersee garantierten Religionsfreiheit willen in Kauf nahmen. Ohne Zweifel hatten diese Auswanderungswellen auf lange Sicht positive Rückwirkungen auf die selbstständigen lutherischen Kirchen in Deutschland, trugen sie doch wesentlich auch zu einem kirchlichen Bewusstsein bei, das aufgrund der gemeinsamen Bekenntnisbindung nicht an nationalen Grenzen haltmachte. Dass es im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der zunehmend konfessionell ausgeprägten Erweckungsbewegung zu intensiver Zusammenarbeit zwischen lutherischen Theologen aus Landeskirchen, aus selbstständigen Kirchen und mit den in Übersee sich konsolidierenden lutherischen Kirchen kam, ist hinlänglich bekannt. Eine Zäsur in vielerlei Hinsicht brachten dann das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg. Die Erfahrungen der Bekenntnissynode von Barmen führten dazu, dass insbesondere in der altpreußischen Kirche ein neues Nachdenken über die theologischen Grundlagen der Union initiiert wurde. Unter dem prägenden Einfluss Karl Barths tritt, wie Tuoma Mannermaa es formuliert hat, 1937 auf der Bekenntnissynode in Halle erstmals „eine Methode zur Erreichung der Einheit der Kirche hervor, die auf der Unterscheidung der übergeschichtlichen und der geschichtlichen Einheit der Kirche als voneinander verschiedenen Ebenen beruht“. Auf dieser Basis wurde es nach Mannermaa möglich, „zu verstehen, wie man sich in einer Kirche gleichzeitig voneinander abweichende, ja sogar einander widersprechende Bekenntnisse als gültig denken konnte“17. Begegneten die Beschlüsse von Halle noch einer ablehnenden Stellungnahme des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands,18 die in diesem Punkt durchaus im Sinne der selbstständigen lutherischen Kirchen urteilten, so wandelte sich die Situation seit 1945 grundlegend mit der sich anbahnenden Entstehung der EKD. Diese Entwicklung führte dazu, dass die altlutherische Kirche und die sogenannte „alte SELK“ die bis dahin bestehende und praktizierte Kirchengemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen aufhoben. So heißt es im „Beschluß der 24. Generalsynode der Evangelisch-Lutherischen (altlutherischen) Kirche vom September 1947“ als Reaktion auf Treysa II: „Generalsynode erkennt an, dass Kirchengemeinschaft unserer Kirche mit allen direkt oder indirekt der EKD angehörenden Kirchen nach Augustana VII grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Der Ausdruck ‚grundsätzlich‘ ist folgendermaßen auszulegen: Nur bei einzelnen Gliedern der betreffenden Kirchen, soweit sie ihre konfessionelle Stellung in erns-

17 18

A.a.O., 28. Vgl. a.a.O., 29.

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

tem Ringen durch entsprechendes Handeln bezeugen, ist eine Ausnahme auf Zeit möglich. Der Begriff ‚Kirchengemeinschaft‘ ist im Sinne der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zu verstehen.“19 Dieser Beschluss wurde 1958 noch einmal auf der Basis der 1947 noch nicht vorliegenden Grundordnung der EKD und als Reaktion auf die inzwischen stattgefundene Gründung der VELKD leicht abgemildert und mit der Zielsetzung verbunden, mit der VELKD in Verhandlungen einzutreten über „Möglichkeiten und Bedingungen zur Wiederherstellung der Kirchengemeinschaft“20. Diese Verhandlungen endeten „ohne greifbares Ergebnis“21, zeigten aber, wie lange man zumindest in der altlutherischen Kirche auf die Wiederherstellung einer lutherischen Abendmahlsgemeinschaft mit den Landeskirchen hoffte. Die in Hessen beheimatete „alte SELK“, die zuvor ebenfalls mit den lutherischen Landeskirchen in Kirchengemeinschaft gestanden hatte, fasste 1953 folgenden Beschluss:22 „Die Abendmahlspraxis ist in unsern lutherischen Freikirchen grundsätzlich stets diejenige der alten evangelischen (lutherischen) Kirche gewesen. Nachdem die lutherischen Landeskirchen Deutschlands sich durch Beschluss ihrer rechtmäßigen und kompetenten Instanzen in die ‚Evangelische Kirche in Deutschland‘ hatten eingliedern lassen und deren Grundordnung, ob auch mit Klauseln, angenommen hatten, hat das Superintendenten-Kollegium unserer Kirche – nicht leichten Herzens – einstimmig erklärt, dass die bisher bestandene Verbindung mit den luth. Landeskirchen nicht mehr aufrecht erhalten werden könne, da sie nicht mehr als solche Kirchen angesehen werden können, die sich in Lehre und kirchlichem Handeln eindeutig vom luth. Bekenntnis bestimmen ließen.“23 Das Gespräch mit Vertretern lutherischer Landeskirchen ist aber auch danach niemals abgebrochen. So kommt im 1957 erschienenen Tagungsband des Oekumenischen Ausschusses der VELKD „Koinonia“, dem noch das echte Ringen innerhalb der VELKD um offene oder geschlossene Kommunion abzulesen ist, mit Matthias Schulz ein Vertreter der altlutherischen Kirche zu Wort.24 Ähnliches gilt für die von Ulrich Asendorf und Friedrich Wilhelm Künneth für die „Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis“ herausgegebenen, von einem internationalen 19 20 21 22

23 24

Vilmos Vajta (Hg.), Kirche und Abendmahl. Studien und Dokumentation zur Frage der Abendmahlsgemeinschaft im Luthertum, Berlin/Hamburg 1963, 105. A.a.O., 106. Ebd. Vgl. ebd., zitiert wird zunächst die Grundordnung der („alten“) SELK: „Die Selbständige Ev.-Luth. Kirche weiß sich als Teil der luth. Gesamtkirche. Sie hält sich daher verpflichtet, mit allen lutherischen Kirchen innerhalb und außerhalb Deutschlands Kirchengemeinschaft zu pflegen. Als solche erkennt sie diejenigen Kirchen, die sich eindeutig vom lutherischen Bekenntnis in Lehre und kirchlichem Handeln bestimmen lassen.“ A.a.O., 106f. Matthias Schulz, Das Verhältnis von Kirchengemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft, in: KOINONIA. Arbeiten des Oekumenischen Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zur Frage der Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft, hg. vom Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Berlin (1957), 154– 159.

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft

295

Autorenkreis verfassten kritischen Bände zur Leuenberger Konkordie und ihrem Vorentwurf.25 Zweifelsohne hat zudem die gemeinsame Ablehnung der durch die EKD initiierten und dann durch die Leuenberger Konkordie theologisch begründeten Abendmahlsgemeinschaft zwischen lutherischen, unierten und reformierten Kirchen26 den Zusammenschluss der lutherischen Freikirchen befördert, der dann 1973 zur Gründung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche führte.

2.

Verständnis

Die Positionierungen beim Verständnis der Abendmahlsgemeinschaft lassen sich beleuchten am Beispiel des theologischen Paradigmenwechsels, der sich nach der Darstellung von Tuomo Mannermaa nach dem Krieg im Theologischen Ausschuss der VELKD vollzog und der mit den Namen Werner Elert und Wenzel Lohff verbunden ist. Mannermaa referiert Wenzel Lohffs wegweisenden Vortrag „Kirchengemeinschaft nach Augustana VII“, den dieser im Oktober 1968 auf einer Sitzung des Theologischen Ausschusses hielt, wie folgt: „Lohff gemäß war bei den bisherigen Gesprächen [zwischen Lutheranern und Reformierten; A. W.] die einzige konsequente Linie die von Werner Elert vertretene. Seines Erachtens setzt Kirchengemeinschaft Einheit im Bekenntnis voraus. Das bedeutet expliziten Lehrkonsens. Wo solche Einigkeit in der Lehre nicht vorliegt, da gibt es auch keine Gemeinschaft.“27 Lohff selbst stellt nach Mannermaa die „diametral“ entgegengesetzte Anschauung auf, wonach „das Bekenntnis nicht als Lehre, sondern als ‚aktuelles Lebenszeugnis‘ zu verstehen“ ist.28 Diese Anschauung geht einher mit der auf CA VII übertragenen Unterscheidung von Grund und Ausdruck des Glaubens, wonach der Glaubensgrund das „necesse est“ bezeichne, während die historischen „Lehrbekenntnisse dem Bereich des Nicht-Notwendigen zugerechnet werden müssen“29. Diesem Paradigmenwechsel, der dann durch die fast unveränderte Rezeption der Lohffschen Thesen durch den Theologischen Ausschuss der VELKD vollzogen wurde, steht konkordienlutherische Theologie ablehnend gegenüber, ist sie doch tatsächlich der durch Wenzel Lohffs Methodik nach Tuomo Mannermaa nunmehr infrage gestellten Überzeugung, „die Lehrausdrücke einer bestimmten Zeit – 25

26

27 28 29

Von der wahren Einheit der Kirche. Lutherische Stimmen zum Leuenberger Konkordienentwurf, Berlin und Schleswig-Holstein 1973; Leuenberg – Konkordie oder Diskordie? Ökumenische Kritik zur Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa, Berlin und Schleswig-Holstein 1974. Beide Bände sind jeweils mit einem Vorwort von Joachim Heubach versehen, dem damaligen Vorsitzenden der „Kirchlichen Sammlung“. Vgl. Werner Klän, Bekenntnis und Sakramentsgemeinschaft – Anfragen an die Tragfähigkeit des Modells der „Leuenberger Konkordie“ aus konkordienlutherischer Sicht, in: ders./Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 74–91. Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg (wie Anm. 16), 55. Ebd. A.a.O., 61.

296

Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

z. B. die Kanone der altkirchlichen Konzilien oder die Bekenntnisse der Reformationszeit – könnten die Kirche für alle Zeiten binden“30. Insofern gilt hier gerade Elerts Untersuchung „Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens“31, die noch durch die Gesprächslage in der VELKD unmittelbar nach dem Krieg mit veranlasst war, als Bestätigung der Selbstverortung lutherischer Bekenntniskirchen, wonach sich die eigene Katholizität an der inhaltlichen Übereinstimmung von Glauben, Lehre und Bekenntnis mit den Generationen vor uns zu erweisen hat. Armin-Ernst Buchrucker hat im Vorwort zu Elerts Studie die für unsere Fragestellung wichtigen Ergebnisse wie folgt zusammengefasst: „Die ‚koinonia‘ von 1Kor 10, 16 ist als […] ‚Anteilhabe am Altarsakrament‘ zu interpretieren […] Aufgrund dessen, dass man im Abendmahl realen Anteil an Christus bekommt, haben die Kommunizierenden dann (‚dadurch‘) auch Gemeinschaft untereinander. […]“ Angesichts der schon für die Alte Kirche feststellbaren konfessionellen Vielfalt gilt weiter: „Kirchgemeinschaft manifestiert sich […] vornehmlich als Bekenntnisgemeinschaft. Und hierfür gilt: Einheit der Kirche in der Lehre ist die Voraussetzung der Kirchengemeinschaft: ‚Die koinonia jeder Gemeinde ist Glaubensgemeinschaft und, weil mit dem Munde zu bekennen ist, was im Herzen geglaubt wird, auch Bekenntnisgemeinschaft‘. […] Nicht der subjektive Glaubensakt, sondern der Glaubensinhalt macht die Einheit aus. […] Die communicatio in sacris besteht nur bei voller Kirchengemeinschaft, die wieder durch die Homodoxie, die Einheit im Bekenntnis, bedingt ist. […] Die kirchliche Einigkeit ist nicht Zweck der Abendmahlsfeier, sondern ihre unerlässliche Bedingung. Bei Uneinigkeit im Bekenntnis kann nicht gemeinsam kommuniziert werden.“32 Das Verständnis von CA VII wiederum, das dem mit dieser Sicht einhergehenden ekklesiologischen Grundsatz entspricht, wonach Lutherische Kirche „ihrem Wesen nach Bekenntniskirche“ ist, hat Hermann Sasse folgendermaßen dargelegt: „Das große ‚Satis est‘ […] bezeichnet nicht ein Mininum der Übereinstimmung, einen Konsensus, den wir auf dem Wege der Diskussion erreichen, sondern ein Maximum: ‚Daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.‘ […] allein der Konsensus in der reinen Lehre und der rechten Sakramentsverwaltung ist der in der Augustana geforderte Konsensus. Das ist der magnus consensus, mit dem der erste Artikel beginnt, ein Konsensus, der nicht von Menschen gemacht, sondern von Gott gegeben wird.“33 Damit wird anderen Kirchen nicht das Kirchesein und anderen Christen nicht das Christsein abgesprochen, wie Sasse unter Hinweis auf 30 31

32 33

A.a.O., 64. Werner Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens, 2 Fürth 1985. Ergänzend sei auch hingewiesen auf Martin Wittenberg, Kirchengemeinschaft und 2 Abendmahlsgemeinschaft, kirchengeschichtlich gesehen, Fürth 1986. Armin-Ernst Buchrucker, Vorwort zu Elert, Abendmahl (IIf.; das Vorwort ist unpaginiert). Hermann Sasse, Der Siebente Artikel der Augustana in der gegenwärtigen Krisis des Luthertums, in: ders., In statu confessionis, Bd. 1: Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin und Schleswig-Holstein 1975, 50–69, hier 68.

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft

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die Beobachtung betont, dass es in der Konkordienformel um Lehrverwerfungen, niemals aber um Personalverwerfungen gehe.34 Diese Differenzierung entspricht nach Sasse der Praxis der Alten Kirche und ist auch im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie immer festgehalten worden. Für jene Epoche der Orthodoxie gilt: „Was das konfessionsbewusste Luthertum dem reformierten Programm einer Union, welche die Lehrunterschiede für unwesentlich erklärte, entgegenzusetzen hatte, ist das Lehrgespräch und die cooperatio in externis“35, die, so Sasse für seine Zeit, sogar die Gestalt einer „kirchliche[n] Föderation“ annehmen kann, in der freilich eine „communicatio in sacris“, „also Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft“ ausgeschlossen ist.36 Die ökumenische Anerkennung des Kircheseins anderer Konfessionen geht somit um der Verpflichtung zur Einigkeit in der Wahrheit nach Joh 17 willen einher mit dem Festhalten an dem Grundsatz, „dass Kirchen- und Altargemeinschaft nur dort praktiziert werden könne, wo ein Konsensus über die Wahrheit des Evangeliums und über die Sakramente Christi erzielt worden ist“37.

3.

Praxis

Die skizzierte, sachnotwendige Spannung von Ökumenizität und Konfessionalität der Kirche finden wir wieder in der Grundordnung der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (= SELK-GO). Die Zugehörigkeit zur Una sancta wird bekannt und mit CA VII so bestimmt, dass sie „überall da ist, wo das Wort Gottes rein gepredigt und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden“ (SELKGO 1, 1). Dies geht einher mit der Selbstbindung an die Autorität der Heiligen Schrift als Maßstab aller Lehre der Kirche und an die lutherischen Bekenntnisschriften, weil (quia) in diesen die schriftgemäße Lehre bezeugt ist (SELK-GO 1, 2). Auf dieser Grundlage pflegt die SELK „Kirchengemeinschaft mit allen Kirchen, die Lehre und Handeln in gleicher Weise an die Heilige Schrift und das lutherische Bekenntnis binden“ (SELK-GO 2, 1), „verwirft die der Heiligen Schrift und den lutherischen Bekenntnissen widersprechenden Lehren und ihre Duldung sowie jede Union, die gegen Schrift und Bekenntnis verstößt“ (SELK-GO 2, 2) und weiß sich darin wiederum „einig mit der rechtgläubigen Kirche aller Zeiten“ (SELKGO 2, 3). 34

35

36 37

Vgl. Hermann Sasse, Die Entscheidung der Konkordienformel in der Abendmahlsfrage, in: Schöne, Bekenntnis zur Wahrheit (wie Anm. 13), 81–89, hier 83; ders., Thesen zur Frage nach der Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft (1937), in: ders., In statu confessionis 1 (wie Anm. 33), 115– 120, hier 115/117 (dieser Text ist im Gefolge der oben bereits erwähnten Bekenntnissynode zu Halle entstanden; vgl. a.a.O., 115 Vorspann). Hermann Sasse, Abendmahlsgemeinschaft, Kirchengemeinschaft und kirchliche Föderation, in: ders., In statu confessionis, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze und kleine Schriften, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin und Schleswig-Holstein 1976, 228–243, hier 239. A.a.O., 240. Sasse, Die Entscheidung (wie Anm. 34), 83.

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

Die diesen kirchenrechtlichen Vorgaben entsprechende Praxis regelt die Lebensordnung der SELK. Dort heißt es: „Das heilige Abendmahl ist Gnadenmittel. Es ist zugleich Vollzug von Kirchengemeinschaft. Darum sollen Glieder der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche grundsätzlich nur an Altären der Kirchen kommunizieren, mit denen Kirchengemeinschaft besteht. Entsprechend sollen Christen aus Kirchen, zu denen keine Kirchengemeinschaft besteht, an Altären der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirchen nicht kommunizieren.“ Der Raum für seelsorgliche Ausnahmen wird für die Fälle eröffnet, wo Christen anderer Kirchen sich „mit Luthers Kleinem Katechismus zur Gegenwart von Leib und Blut Christi im Brot und Wein zur Vergebung der Sünden bekennen“, wobei die Zulassung „in der Zuversicht geschieht“, dass die Zugelassenen „sich durch die Predigt des reinen Evangeliums und die Bezeugung des schriftgemäßen Sakramentsverständnisses gewinnen lassen und ganz in die Kirchengemeinschaft der SELK eintreten“38. Die Abendmahlszulassung ebenso wie die gegebenenfalls notwendige Versagung des Abendmahlsempfangs liegen „im seelsorglichen Auftrag des Pfarrers“39, da sie, wie die offiziellen Verlautbarungen der SELK zum „Amt der Kirche“ deutlich machen, als Teilaspekte des dem Pfarrer durch Ordination übertragenen Schlüsselamts im Sinne von CA XIV und XXVIII anzusehen sind.40 Dies kommt in den kirchlichen Ordnungen der SELK auch dadurch zum Tragen, dass die Synode der Kirche Abendmahlsgemeinschaft mit anderen Kirchen erst aufrichten kann, nachdem der Allgemeine Pfarrkonvent hierzu zustimmend votiert hat. Mit alledem wird deutlich, dass die Abendmahlsgemeinschaft um der Homologie des durch Irrlehre ungetrübten Gotteslobs im Gottesdienst willen ihre Erstreckung und ihre Grenzen hat, ja, dass es bei der Abendmahlsgemeinschaft nicht nur um eine Lehr- und Bekenntnisgemeinschaft, sondern darin auch um eine Seelsorgegemeinschaft geht. Dass aus der Lehre eine spezifische seelsorgliche Praxis hervorwächst, zeigt beispielhaft der Artikel XXV des Augsburger Bekenntnisses. Heißt es doch dort in der deutschen Fassung: „Die Beicht ist durch die Prediger dieses Teils nicht abgetan. Dann diese Gewohnheit wird bei uns gehalten, das Sakrament nicht zu reichen denen, so nicht zuvor verhort und absolviert seind. Darbei wird das Volk fleißig unterricht, wie trostlich das Wort der Absolution sei, wie hoch und teuer die Absolution zu achten.“41 Die Zulassung zum Altarsakrament stellt mithin für niemanden einfach 38

39 40

41

Mit Christus leben. Eine evangelisch-lutherische Wegweisung (Lutherische Orientierung 6), Hannover 2009, Anhang, Abschnitt 1.7. Diesen und weitere kirchlich rezipierte Texte aus Vergangenheit und Gegenwart (einschließlich der zitierten Artikel der Grundordnung, SELK-GO) bietet Werner Klän (Hg.), Kirchengemeinschaft und Abendmahlszulassung. Texte aus der Geschichte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und ihrer Vorgängerkirchen (OUH 44), Oberursel 2005. Mit Christus leben (wie Anm. 38), 1.7. Vgl. Das Amt der Kirche. Eine Wegweisung, hg. von der Theologischen Kommission der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hannover 1997, hier besonders 27f.; Amt, Ämter, Dienste in der SELK (Lutherische Orientierung 8), Hannover o. J. BSLK 97f.

Kirchengemeinschaft als Bekenntnisgemeinschaft

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einen Rechtstitel dar, sondern ist an Voraussetzungen gebunden, für deren Einhaltung die Inhaber des Predigtamtes in kirchlich geordneter Einbindung durch Taufe, Unterweisung, Predigt und Seelsorge zuständig sind. Für diese zwischen Predigtamt und Gemeinde bestehende Seelsorgegemeinschaft hat Luther seine Katechismen verfasst, die letztlich nichts anderes sind als eine sorgfältige, vor dem Herrn der Kirche verantwortete Hinführung zum heilsamen Empfang des Altarsakraments. Angesichts der postmodernen Auflösung traditioneller Bindungen und angesichts des Schwindens eines konfessionellen Bewusstseins in allen Kirchen einerseits sowie zunehmender kirchlicher Heimatlosigkeit von schrift- und bekenntnistreuen landeskirchlichen Christen andererseits, die punktuell oder auf Zeit die gottesdienstliche Gemeinschaft der SELK suchen, hat Jobst Schöne jüngst hinsichtlich des Praktizierens von Abendmahlsgemeinschaft Richtungen aufgezeigt, die über den eng abgesteckten Rahmen der Zulassung in seelsorglichen Notfällen sowie über die konsequente „Einhaltung des Grundsatzes, dass Altar- und Kirchengemeinschaft deckungsgleich sein müssten“ deutlich hinausführen.42 Allerdings geht das bei Schöne einher mit dem Einprägen einer umso sorgfältiger wahrgenommenen gottesdienstlichen Verantwortung, wie sie der im lutherischen Bekenntnis skizzierten Seelsorgegemeinschaft entspricht, sowie mit der Forderung nach enger Abstimmung mit den der SELK verbundenen lutherischen Kirchen.43 Wie wichtig hier eine umsichtige Praxis ist, wurde mir vor Jahren deutlich, als in meiner ersten Pfarrstelle in Görlitz eines Sonntags ein Gemeindeglied eine Studienfreundin iranischer Herkunft mit zur Abendmahlsanmeldung in die Sakristei brachte. Als ich die junge Frau fragte, ob sie schon getauft sei, verneinte sie dies. Als ich sie darauf hinwies, dass nach Praxis der Kirchen die Taufe und eine Unterweisung im christlichen Glauben Voraussetzung für die Zulassung zum Altarsakrament seien, teilte sie mir mit, sie sei in München in einer Gemeinde einer anderen Kirche schon oft beim Abendmahl gewesen und niemals darauf angesprochen worden. Mithin war ich der erste Pfarrer, ja überhaupt der erste Christ, der ihr gegenüber den Tauf- und Lehrbefehl Christi erwähnte, und damit wurde die konsequente Praxis der Abendmahlsanmeldung in meiner damaligen Gemeinde im Fall dieser jungen Frau zu einer missionarischen Gelegenheit. Ein letztes Beispiel aus der Praxis möchte ich abschließend erwähnen. In ökumenischen Zusammenhängen begegnet man als Pfarrer in regelmäßigen Abständen, vor allem vor Großereignissen, aus dem Mund landeskirchlicher Verantwortungsträger einer mit oft großer moralischer Vehemenz ausgesprochenen Forderung an Vertreter anderer Kirchen, endlich offiziell die Altäre zu öffnen. Natürlich ergehen solche Forderungen so gut wie immer in Richtung römisch-katholischer 42

43

Jobst Schöne, Überlegungen und Gedanken zu Fragen von Kirche und Kirchengemeinschaft, in: ders., Gültiges in Erinnerung rufen. Beiträge zur lutherischen Theologie, Göttingen, 2010, 41–57, hier 53. Vgl. zu diesem Abschnitt a.a.O., 51–57.

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Abendmahl und Abendmahlsgemeinschaft

Kirche. Vor dem Hintergrund aber der gewaltsamen Geschichte der protestantischen Unionen muten solche Forderungen seltsam, ja anachronistisch an und stehen in einer deutlichen Spannung zur sonst beteuerten Toleranz und zu den in letzter Zeit lauter werdenden Rufen nach einer Profilierung des Protestantismus. Ich meine, man muss es dann auch jeder anderen Konfession respektvoll überlassen, wie und auf welche Weise sie ebenfalls ihr selbstbestimmtes Profil schärfen möchte. Den eingangs von mir erwähnten und verehrten Unionstheologen Peter Brunner und Johannes Wirsching spürte man diesen Respekt ab, der einen echten Dialog über Kirchengrenzen hinweg möglich machte und gerade so aufleuchten ließ, was die schmerzhaft ausgehaltene Trennung am Altar nicht verhindern kann, dass wir nämlich zu demselben einen Herrn hin unterwegs sind.

Summary Historically two disparate developments have to be considered: the history of the Reformed-Lutheran divergence in the 16th century; and the history of the ReformedLutheran convergence in the 19th and 20th centuries from the Prussian Union to the Leuenberg Concord – and the respective responses of the confessional Lutheran churches. Theologically those Lutheran churches who accepted the ReformedLutheran Union in Germany after World War II by joining the EKiD were able to do so, on the basis of an ecclesiological paradigm shift which also implied a shift in the understanding of the confessions. Thus it became possible to accept contradicting doctrines e.g. on the Lord’s Supper in one and the same federation of churches and establish communion fellowship despite the doctrinal contradictions between the confessions of these churches. The Lutheran churches that oppose these unionistic paradigms hold fast to the conviction that unity of doctrine is the presupposition of church fellowship. In practical terms the church here is seen as a communion where the responsibility for enabling every participant of the Lord’s Supper to faithfully receive the most holy divine gifts is carried by the pastoral office, together with the parish. Thus, admission to the Lord’s Table according to spiritual criteria belongs to the Office of the Keys very particularly.

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven Hans-Peter Großhans

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität 1.

Vorbemerkungen

1. Die Existenz selbstständiger und freier – und insofern staatsunabhängiger – Kirchen in Zeiten staatlicher Regulierung, Dominanz, Einflussnahme und Bevormundung in Religionsangelegenheiten – wo immer in der Welt – verdient Respekt. Eine staatliche Durchsetzung wie auch eine staatliche Verhinderung kirchlicher Reformen, die nicht auf einem auf Einverständnis zielenden theologischen Diskurs in den betreffenden Kirchen gründen, ist ekklesiologisch immer problematisch und bedarf deshalb der theologischen Kritik, auch wenn sich die Folgen dieser staatlichen Maßnahmen als durchaus akzeptabel oder gar positiv für die Kirche insgesamt herausstellen sollten. 2. Die gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen sind für die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) und die Kirchen der Union Evangelischer Kirchen (UEK) heutzutage sehr verschieden von denen zu Beginn ihres Entstehens bzw. des Entstehens ihrer Vorgänger. In Deutschland gibt es zurzeit keine staatliche Bevormundung der Kirchen und Religionen. Die Kirchen pflegen auf unterschiedliche Weise ein rechtlich geregeltes partnerschaftliches Verhältnis zum Staat. Sie tragen je auf ihre Weise zur Vielfalt einer bürgerschaftlichen Gesellschaft bei, in der sie sich innerhalb der allgemeinen Gesetze des Landes frei einbringen und entfalten können. Zugleich sind alle Kirchen in Deutschland mehr oder weniger ähnlich denselben Trends in einer pluralen, freien und demokratischen Gesellschaft ausgesetzt, die soziologisch unter dem Begriff der „Säkularisierung“ erfasst werden. Moderne europäische Gesellschaften sind soziologisch durch ein hohes allgemeines Wohlstandsniveau, eine ausgeprägte funktionale Differenzierung der Gesellschaft, eine Individualisierung der Lebensführung, eine Pluralisierung kultureller Orientierungen und Identitäten und eine globale Horizonterweiterung der Bürgerinnen und Bürger ge-

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

kennzeichnet.1 Der mit diesem Stichwort angezeigte, „die gesamte soziale Struktur umwälzende Prozess der Modernisierung“ geht auch „an den Beständen religiöser Traditionen und Institutionen nicht folgenlos vorüber“.2 Dies betrifft in Deutschland sowohl frühere Staatskirchen als auch frühere staatsunabhängige, freie Kirchen. 3. Was die Kirchen der UEK und die SELK kennzeichnet – und was insofern ihre besondere kirchliche Identität ausmacht –, lässt sich ohne einen historischen Rekurs zu den Anfängen ihres jeweiligen Entstehens und in ihre geschichtlichen Entwicklungen kaum erläutern. Es bedarf der Erzählungen, wie diese Kirchen in ihrer Besonderheit zu dem geworden sind, was sie nun sind. Diese Geschichten lassen sich nicht ignorieren. Sie tragen – gerade auch in ihrer wechselseitigen Abgrenzung – zur Identität dieser Kirchen, zu ihrer gegenwärtigen Lehre und Praxis sowie zur Identifizierung ihrer Mitglieder mit ihnen unverzichtbar bei. Es gibt hier kein „reset“. Wie immer im Leben ist jedoch die entscheidende Frage, wie es weiter gehen soll. Was soll der nächste Schritt sein? Wie und in welche Richtung soll der Weg dieser geschichtlich gewordenen besonderen Kirchen bzw. Kirchengemeinschaften im Hier und Heute fortgesetzt werden? Die historische Erinnerung an das Gewordensein der besonderen Identität von SELK und UEK (bzw. ihrer Vorgänger) leisten andere Beiträge in der in diesem Sammelband dokumentierten Verständigung. Ein dogmatischer Beitrag zur Ekklesiologie muss dies nicht wiederholen. Die gegenwärtigen Perspektiven, die der Untertitel meines ekklesiologischen Beitrags verheißt, laden dazu ein, einige Themen anzusprechen, die im Verhältnis von UEK und SELK strittig sein könnten und die darauf bezogen sind, wie es im Verhältnis dieser Kirchen weitergehen soll. 4. Auf was beziehen wir uns, wenn wir von kirchlicher Identität sprechen? Was macht eine kirchliche Identität aus? Eine erste Antwort darauf könnte lauten: Das, was eine Kirche zur Kirche macht! Eine zweite Antwort könnte lauten: Das, was eine Kirche von anderen Kirchen unterscheidet! Bei der ersten Antwort ordnen wir eine konkrete Kirche dem Oberbegriff „Kirche“ zu. Wenn die konkrete Kirche zu Recht mit dem genus proximum „Kirche“ begriffen wird, dann hat sie eine Identität als Kirche. Diese Identität ergibt sich aus dem Allgemeinbegriff der Kirche: der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche (im Singular); und durch deren Katholikos Jesus Christus. Bei der zweiten Antwort bestimmen wir die differentia specifica, durch die eine konkrete Kirche von allen anderen Organisationen unterschieden wird, die als Kirche begriffen werden. Die kirchliche Identität einer Kirche wird dann geformt durch verschiedene besondere Momente und Aspekte dieser Kirche, durch ihr beson1

2

Vgl. dazu die ausführlichen Analysen mit der Beschreibung der Auswirkungen auf die Religionen in: Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa, Bd. 2, Tübingen 2009, bes. 60ff. A.a.O., 20.

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität

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deres Profil. Zu dieser kirchlichen Identität können viele Aspekte von Kirchen beitragen, wie die Liturgie, das Gesangbuch, die Tradition (zu der auch die Erinnerung an die eigene Geschichte gehört), die Kirchenverfassung, die Lehrtradition, die Bekenntnisse, die Finanzen (im Sinne gemeinsamer Verantwortung für Personal und Aufgaben), das Eigentum (Gebäude), die Sprache, die Ethnie, der geografische Raum, das politische Gemeinwesen (in dem sich die Kirche befindet oder in dem sie entstanden ist). Im Folgenden werde ich auf einige Aspekte der kirchlichen Lehre eingehen, die zur Identität von Kirchen beitragen und die in verbindlichen kirchlichen Texten, wie z. B. Bekenntnissen oder Bekenntnisschriften, zum Ausdruck kommen. Dabei gehe ich in dieser dogmatischen Reflexion insbesondere der Frage nach, inwiefern sich ein gemeinsames Verständnis der Kirche bei verschiedener kirchlicher Identität (im Blick auf Lehre und Bekenntnis) formulieren lässt.

2.

Kirchliche Identität und Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen

Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche zeichnet sich durch die strenge Beachtung der im Konkordienbuch gesammelten lutherischen Bekenntnisse der Reformationszeit aus. Die Kirchen der UEK bilden dagegen eine Gemeinschaft – eine Kirchenunion – bekenntnisverschiedener Kirchen. Diese ihre Pointe setzt sich bis in die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) fort. Bei der UEK bzw. der früheren EKU sowie überhaupt bei den meisten evangelischen Unionskirchen handelt es sich in überwiegendem Sinne um „föderative Verwaltungsunionen, in denen die konfessionellen Unterschiede auf Gemeindeebene belassen wurden in dem Bewusstsein, dass beide Konfessionen [lutherisch, reformiert] einen einheitlichen Gesamttypus verkörpern“3. Es handelt sich bei ihnen also weniger um Bekenntnisunionen, die durch Fixierung einer gemeinsamen Lehrgrundlage zustande gekommen sind und fortbestehen. Gleichwohl spielen die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse in diesen Kirchen eine wichtige Rolle für das ekklesiologische Selbstverständnis. Eine Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen setzt geradezu voraus, dass die beteiligten Kirchen nicht nur ihre jeweiligen Bekenntnisse und Bekenntnisschriften haben, sondern diese für die jeweilige kirchliche Identität auch von Relevanz sind. Diese Tradition setzt sich auf besonders klare Weise in der GEKE fort, die 2012 in der Lehrgespräch-Studie „Schrift – Bekenntnis – Kirche“4 feststellte (Abschnitt 1): „Konsens unter uns ist auch, dass wir bei der Auslegung der Schrift durch die 3 4

4

Friederike Nüssel, Art. Unionen, kirchliche, I. Deutschland und Europa, RGG 8 (2005), 749– 752, 750. Vgl. Michael Bünker (Hg)., Schrift – Bekenntnis – Kirche. Ergebnis eines Lehrgesprächs der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (Leuenberger Texte 14), Leipzig 2013.

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

grundlegenden Bekenntnisse und Lehrdokumente unserer Kirchen angeleitet werden; allerdings unterscheiden wir uns in der Frage, welche Bekenntnisse dafür maßgebend sind und inwieweit sie Geltung beanspruchen dürfen. Diese Vielfalt wird von uns aber als Reichtum verstanden, denn wenn die Leuenberger Konkordie Kirchengemeinschaft zwischen ‚Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes‘ (LK 29; vgl. 37) erklärt, will sie damit gerade aussagen, dass das eine Evangelium von Jesus Christus in verschiedenen Bekenntnisformulierungen zum Ausdruck kommen kann.“5 Das explizite Bekennen des Glaubens – in Wort und Tat – ist im Leben der Kirche und der einzelnen Glaubenden unverzichtbar. Im Leben der Kirchen hat dieses Bekennen des Glaubens verschiedene geprägte Formen und Orte gefunden. Eine Kirche, die auf ein explizites Bekenntnis des Glaubens – z. B. in Form des Glaubensbekenntnisses im Gottesdienst – verzichten zu können meint, befindet sich in einem tiefreichenden Missverständnis ihrer selbst. Das LehrgesprächErgebnis der GEKE zu „Schrift – Bekenntnis – Kirche“ widmet sich ausführlich dem Verständnis der Vielfalt fest formulierter kirchlicher Bekenntnisse. Im Blick auf das Thema „kirchliche Identität“ ist dabei die Feststellung in Abschnitt 7 von Bedeutung: „Für das Leben der Gemeinschaft (koinonia) hat das Bekennen des Glaubens identitätsstiftende Bedeutung. Das hat dazu geführt, dass das gemeinsame Bekenntnis in festen Formeln fixiert wurde.“6 Gemeinsame Bekenntnisse haben bekanntlich eine doppelte Bedeutung: Sie grenzen ab nach außen, und sie sammeln nach innen. Im Leben von Individuen mag die Betonung eher darauf liegen, dass mit einem Bekenntnis das neue Leben von dem alten unterschieden wird. Im gemeinsamen Bekenntnis gewinnt dies eine soziologische Dimension: Die Glaubenden, die ihr in Jesus Christus gestiftetes und im Heiligen Geist realisiertes neues Leben von ihrem alten Leben abgrenzen, identifizieren sich im gemeinsamen Bekenntnis als eine Gemeinschaft von neu gewordenen Kreaturen und insofern als Brüder und Schwestern, die sich dadurch zugleich von allen anderen Menschen, die jenes neue Leben (noch) nicht teilen, abgrenzen. Der Rückblick in die frühe Geschichte der Christenheit zeigt jedoch, dass dies nur ein Moment war und ist, das zur kirchlichen Fixierung von Bekenntnissen führte und führt. Die verschiedenen Versuche der Formulierung einer regula fidei und damit der Definition dessen, was als christlich gelten kann, zielte häufig nicht auf eine Abgrenzung zu anderen Religionen, Weltanschauungen und Lebensformen, sondern richtete sich gegen Varianten des Christlichen. Beide Momente greifen dann ineinander: Die altkirchliche Bekenntnisbildung will das nur scheinbar Christliche absondern; sie sammelt und stärkt damit zugleich die Rechtgläubigen und artikuliert gerade so auch deren Abgrenzung von ihrem früheren, nicht christlichen Leben.

5 6

A.a.O., 14. A.a.O., 35.

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität

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Auch das Lehrgespräch der GEKE geht in Abschnitt 7 von dieser doppelten Ausrichtung von kirchlichen Bekenntnissen aus: „Die Notwendigkeit, die Botschaft des Evangeliums gemeinsam zu bekennen und gegen Verzerrungen zu sichern, führt in der Geschichte der Kirche dazu, Bekenntnisse fest zu formulieren.“7 Dies gilt nach Auffassung dieses Lehrgesprächs der GEKE ganz besonders auch für die in der Reformationszeit formulierten Bekenntnisse und Bekenntnisschriften (Abschnitt 7): „In der Reformation wurde das im Hören auf das Evangelium wurzelnde Bekennen gegenüber einer falschen Lehre betont, zugleich legte das daraus erwachsende Bekenntnis Rechenschaft über den evangeliumsgemäßen Glauben vor dem Forum der Welt ab.“8 In den lutherischen und in den reformierten Kirchen sind in diesem geschichtlichen Prozess verschiedene Bekenntnisse entstanden und erhielten formelle oder zumindest faktische Geltung in den Kirchen. Sie wirkten identitätsstiftend bzw. identitätsverstärkend in den jeweiligen einzelnen Kirchen. Zugleich waren und sind die reformatorischen Kirchenfamilien jedoch uneins in der Frage der bleibenden Geltung und Autorität der Bekenntnisschriften für das Leben der Kirchen. Die Lehrgespräch-Studie der GEKE vermerkt dazu in Abschnitt 7: „Während in der lutherischen Tradition die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts bleibende und kirchenordnende Funktion besitz[en], betonen die reformierten Kirchen stärker die Situationsbedingtheit ihrer Bekenntnisse. Die reformierten Bekenntnisschriften sagen ausdrücklich, dass ihre Aussagen revidierbar sind, wenn die gemeinsame Auslegung der Schrift zu anderen Erkenntnissen führen sollte.“9 Von Bedeutung ist dieser – so oder so verlaufende – Prozess der reformatorischen Bekenntnisbildung, weil er dazu führte, dass die evangelischen Kirchen in ihrer inneren Selbstorganisation das personale Autoritätsprinzip (mit den entsprechenden organisatorischen und geistlichen Hierarchiebildungen) zumindest in Fragen der Lehre durch eine Bindung an und Verpflichtung der Mitarbeiter und Mitglieder auf die geltenden Bekenntnisschriften ablösten. Bei aller Differenz waren und sind die reformatorischen Kirchenfamilien jedoch darin einig, dass die kirchlichen Bekenntnisse – welche es auch sein und welche bleibende Geltung sie auch haben mögen – „von ihrem Grundanliegen, dem Evangelium zu dienen, her ausgelegt werden müssen. Genau wie die Schrift zum Evangelium wird, weil und insofern sie ‚Christum treibet‘, so erhält auch das Bekenntnis Autorität, weil und insofern es dazu beiträgt, dem Evangelium und damit dem Christus pro nobis Gehör zu verschaffen.“10 Von dieser Einsicht her hat die Leuenberger Konkordie eine Gemeinschaft zwischen Kirchen mit verschiedenen Bekenntnissen erklärt und so die Überzeugung artikuliert, „dass die Unterschiedlichkeit der reformatorischen Bekenntnisse die 7 8 9 10

A.a.O., 36. Ebd. A.a.O., 37. A.a.O., 38.

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

gemeinsame verbindliche Bezeugung des Evangeliums nicht ausschließt, sondern zu gemeinsamem Bekennen herausfordert“. Damit verbindet sich wiederum die Einsicht, dass „das eine Evangelium […] in unterschiedlichen Sprachgestalten zum Ausdruck kommen“ kann (Abschnitt 7).11 Diese Einsicht relativiert wohlverstanden nicht die sich in den Bekenntnissen und Bekenntnisschriften artikulierenden Lehren. Diese Einsicht verdankt sich vor allem einer veränderten Betrachtung der Sprachgestalt der Bekenntnisse. Wenn wir Sprache nicht in erster Linie in ihrem semantischen Gehalt, in dem sich Wirklichkeit abbildet, sondern in ihrer pragmatischen Dimension verstehen, dann betrachten wir das, was sprachlich artikuliert wird, in einem Beziehungsgefüge und Handlungszusammenhang, in dem diese sprachlichen Äußerungen, aber auch die Sprechenden oder Schreibenden und auch die Hörer und Leser stehen. Dann kann eben gesagt werden, wie es die Lehrgespräch-Studie der GEKE in Abschnitt 7 formuliert, dass „ein gemeinsames Bekennen […] auch ohne gemeinsame Formulierungen möglich“12 ist – womit nicht gemeint ist, dass gar keine fixierten Bekenntnisse verwendet werden, sondern dass diese verstanden werden aus dem pragmatischen Zusammenhang des Bekennens zu Jesus als dem Christus und insofern zum dreieinigen Gott. Daraus folgt dann auch, dass die Kirchen an den Bekenntnissen der anderen Kirchen wahrnehmen und erkennen, dass sie gemeinsam bekennende Kirchen sind, auch wenn keine vollständige Übereinstimmung in den Lehrformulierungen vorliegt. Dieser Vorgang hat Ähnlichkeit mit dem Verfahren, das Martin Luther in der kleinen Schrift aus dem Jahr 1523 „Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle lere tzu urteylen und lerer tzu beruffen, eyn und abtzusetzen, Grund und ursach aus der schrifft“13 beschreibt. Darin vertritt Luther die Auffassung, dass die im Gottesdienst versammelten Christen die dort vorgetragene Lehre und Verkündigung beurteilen können, wenn sie darin die Stimme Jesu Christi, des guten Hirten (vgl. Joh 10, 27) hören und erkennen. Zwar können und sollen der Papst, die Bischöfe, alle Gelehrten und Geistlichen – ja, jedermann – lehren, doch „die schaff sollen urteylen, ob sie Christus stym leren odder der frembden stym“14. Wer inmitten des Wolfsgeheuls der eigenen Gewissensqual die Stimme Jesu Christi und damit die Botschaft des befreienden und erlösenden Evangeliums einmal gehört hat, der kann auch beurteilen, ob Lehre und Verkündigung der Kirche dem Evangelium entsprechen. Weil es auch in der Kirche viele falsche Propheten und Stimmen gibt, die nicht das befreiende Evangelium mitteilen, sondern die

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A.a.O., 39. Ebd. WA 11, 401–416. Martin Luther, Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle lere tzu urteylen und lerer tzu beruffen, eyn und abtzusetzen, Grund und ursach aus der schrifft, WA 11, 409, 27f.

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität

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das Gewissen quälenden und terrorisierenden Stimmen vermehren, deshalb „sollen und mussen alle lerer dem urteyl der tzu horer unterworffen seyn mit yhrer lere“15. Dies ist kein Plädoyer für einen Verzicht auf fest formulierte Bekenntnisse. Vielmehr weist dies darauf hin, dass der Vorgang der Lehrbeurteilung und insofern auch der Abgleichung unterschiedlicher kirchlicher Bekenntnisse nicht als Vergleich der Formulierungen der Bekenntnisse durchzuführen ist – und auch der Vergleich der Lehrgehalte seine Grenzen hat. Werden die verschiedenen kirchlichen Bekenntnisse nicht aus ihrem pragmatischen Zusammenhang mit der lebenserneuernden Erfahrung mit dem göttlichen Gesetz und Evangelium verstanden, dann werden sie sprachlich unterbestimmt interpretiert. Die jeweiligen kirchlichen Bekenntnisse sind also keineswegs entbehrlich. Vielmehr formulieren sie Einsichten, die erhaltenswert sind, die aber nicht als Behinderung oder Verunmöglichung von Kirchengemeinschaft betrachtet werden können und sollen. Dass auch für die Kirchen der ehemaligen EKU kirchliche Bekenntnisse für ihre kirchliche Identität unverzichtbar waren und sind, hat sich in dem intensiven und langen Prozess der Interpretation der Theologischen Erklärung von Barmen gezeigt,16 vor allem jedoch in der Edition der in den Kirchen der EKU wichtigen Bekenntnistexte.17 Kirchengemeinschaften (wie GEKE, UEK oder EKD), in denen bekenntnisverschiedene Kirchen vereint sind, werden bei solcher Würdigung des Bekennens und der kirchlichen Bekenntnisse nicht darum herum kommen, verschiedenen Bekenntnissen, in denen sich die in ihnen vertretenen Traditionen repräsentieren, Geltung in ihrer Kirchengemeinschaft zu verschaffen. Diese Kirchengemeinschaften müssen dann damit leben, dass diese Bekenntnisse nicht vollständig harmonisierbar sind – und sie können damit leben, wenn sie konsequent diese Bekenntnisse auf die lebenserneuernde Erfahrung mit dem göttlichen Gesetz und Evangelium beziehen.

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A.a.O., 410, 19f. Vgl. 411, 3–7: „Die [Propheten] thun nichts anders denn das sie das recht und macht, alle lere tzu urteylen, von den lerern nemen und mit ernstlichem gepott bey der seelen verlust den zuhorern aufflegen, also das sye nicht alleyn macht und recht haben, alles was gepredigt wirt tzu urteylen, sondern sinds schuldig tzu urteylen bey gottlicher maiestet ungnaden.“ Vgl. Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde (Barmen II). Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, mit Beitr. von Hans-Georg Geyer u. a., Gütersloh 1974; Kirche als „Gemeinde von Brüdern“ (Barmen III). Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, hg. von Alfred Burgsmüller, Gütersloh 1981; Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V. Theologisches Votum der Evangelischen Kirche der Union – Bereich Bundesrepublik Deutschland und BerlinWest, hg. von Wilhelm Hüffmeier, Gütersloh 1986; Das eine Wort Gottes – Botschaft für alle. Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union zu Barmen I und VI, hg. von Wilhelm Hüffmeier, Gütersloh 1993; Der Dienst der ganzen Gemeinde Jesu Christi und das Problem der Herrschaft. Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union zu Barmen IV, hg. von Joachim Ochel, Gütersloh 1999. Vgl. Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere theologische Erklärungen, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union gemeinsam mit Irene Dingel u. a., hg. von Rudolf Mau, Bielefeld 1997.

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Hierbei könnte auch eine Einsicht hilfreich sein, die schon Friedrich Schleiermacher in seiner 1817 aus aktuellem Anlass publizierten Schrift „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung“ artikulierte: „Die protestantische Kirche ist gar nicht dazu gemacht eine vollkommene Uebereinstimmung der Lehre und der Gebräuche in ihrem ganzen Umfang darzustellen, wie dies auch bei keiner von beiden Confessionen der Fall ist, sondern eine Verschiedenheit der Lehre und der Gebräuche, aber ohne die Kirchengemeinschaft zu stören. So halten es in der Lutherischen Kirche […] diejenigen, welche die Concordienformel annehmen, und welche sie nicht annehmen, so in der reformirten Kirche diejenigen, welche die Dordrechter Synode annehmen und welche sie nicht annehmen, diejenigen, welche die Calvinische und die, welche die Zwinglische Meinung vom Abendmahl theilen: und eben so sollte es auch vom Anfang an gehalten worden sein zwischen den lutherischen und reformierten Protestanten, und auf diesen Punkt sollten wir es wieder zurükkzuführen suchen und die Kirchengemeinschaft zwischen beiden Partheien so weit unterhalten und so sehr erweitern als nur möglich ist.“18

3.

Identität als Kirche

Melanchthon hat in CA VII versucht, Kirche möglichst integrativ zu definieren. Für alle Versuche in der evangelischen Theologie, einen Begriff der Kirche – im Singular – zu bilden, ist dies ein zentraler Bezugspunkt. CA VII ist von dem expliziten Bemühen geprägt, Kirche so zu definieren, dass festgestellt werden kann, ob wir es mit einer Kirche zu tun haben. So kann mit dieser Definition identifiziert werden, ob es sich in den vielen sozialen und geistlichen Erscheinungen, Organisationsformen und Aktivitäten, die sich als Kirche verstehen, tatsächlich um eine Kirche handelt. Und so kann geklärt werden, warum die als Kirche identifizierten Gemeinschaften auch tatsächlich unter diesem gemeinsamen Oberbegriff begriffen werden können. Damit kann CA VII dazu dienen, die Identität einer Kirche als Kirche zu prüfen und festzustellen. Nach reformatorischer Auffassung ist die Kirche von ihrem Sein her keine Rechtsinstitution, sondern die Versammlung der Glaubenden, die als Glaubende Heilige sind.19 Die parallel entstandene deutsche Fassung der CA übernimmt die 18

19

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung. Einige Bemerkungen vorzüglich der protestantischen Geistlichkeit des Landes gewidmet [1817], in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 9, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2000, 107–172, 114f. „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.“ CA VII ist gewissermaßen „die Magna Charta der Lutherischen Kirche“ und im Zusammenhang der ganzen Theologiegeschichte auch „die erste dogmatische Feststellung über das Wesen und die Einheit der Kirche, die jemals in der Christenheit gemacht worden ist“ (Sasse, Der Siebente Artikel der Augustana in der gegenwärtigen Krisis des Luthertums, in: ders.,

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309

„congregatio sanctorum“ als „Versammlung aller Glaubigen“, präzisiert also die Heiligen als die Glaubenden.20 Die Glaubenden sind die Heiligen und deren Versammlung ist die Kirche.21 Mit der Hervorhebung des Versammlungs- bzw. Gemeinschaftsgedankens bezieht sich die Confessio Augustana auf das apostolische Glaubensbekenntnis – und insofern auf die Alte Kirche – und versteht die dort bekannte „communio sanctorum“ als Apposition zu der „sancta ecclesia catholica“, so dass die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“ näher präzisiert wird.22 Dem Interesse an einer sichtbaren Identifizierbarkeit der Kirche in der Vielfalt menschlicher Versammlungen hat die Confessio Augustana dadurch Genüge getan, dass sie in CA VII die als Kirche qualifizierte Versammlung von Christen näher präzisierte durch die Hinzufügung: „in welcher das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente ordnungsgemäß gereicht werden: in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“. Nur solche Versammlungen, in denen dies getan wird, können sich aus evangelischer Sicht Kirche nennen.23 Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden kann es nur im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums und dem Austeilen der Sakramente geben, da es Glaube nur im Zusammenhang mit dem Evangelium und den Sakramenten gibt. Glaube ist das vertrauende Hören und Nehmen des im Evangelium und den Sakramenten dargebotenen Wortes Gottes. Glaube ohne einen konkreten Bezug auf das als Zuspruch zu hörende Evangelium und auf die zum Nehmen angebotenen Sakramente ist nicht denkbar, da Glaube keine für sich bestehende und in sich ruhende Qualität von Menschen ist. Explizit hält CA VII fest, dass es für die wahre Einheit der Kirche ausreicht, in der Lehre des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente übereinzustimmen

20 21 22

23

In statu confessionis. Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin 1966, 50–69, 51). BSLK, 61. CA VIII nimmt die Definition von CA VII auf und definiert: „Ecclesia proprie sit congregatio sanctorum et vere credentium“ (BSLK, 62). Die reformatorische Theologie hat das Bekenntnis der „communio sanctorum“ also nicht in einer Reihe mit den darauffolgenden Inhalten des Glaubens gelesen und nicht die „Gemeinschaft am Heiligen“ bekannt, sondern die communio sanctorum im Sinne der „Gemeinschaft der Heiligen“ als ergänzende Präzisierung der Kirche verstanden – so Luther explizit in der Erklärung des dritten Glaubensartikels im Großen Katechismus: „Das Wort ‚Communio‘ […] ist nicht anders denn die Glosse oder Auslegung, da imand hat wöllen deuten, was die christliche Kirche heiße“ (BSLK, 657, 1–6). Dass diese Bestimmung der Kirche nicht im Sinne eines Verständnisses der Kirche als einer Rechtsinstitution zu verstehen ist, hat Luther schon früh dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er die Kirche nicht als eine leibliche, sondern als eine geistliche Versammlung verstanden hat; vgl. Martin Luther, Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig. 1520, WA 6, 296, 37ff. Letztlich gibt die Confessio Augustana dadurch auch eine Antwort auf die Frage, wer denn nun Heilige und Glaubende sind. Die Glaubenden und dadurch Heiligen sind Menschen, die an das ihnen im Evangelium zugesprochene und im Sakrament gereichte Wort Gottes glauben und auf es vertrauen; also Menschen, an denen wahr wird, was CA IV von der Rechtfertigung des Menschen lehrt.

310

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

(„ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“). Die deutsche Fassung schließt dabei ein Missverständnis aus, das sich bei der Interpretation des lateinischen Textes ergeben könnte: die „doctrina evangelii“ ist nicht eine vom Evangelium nochmals zu unterscheidende Lehre – sozusagen die richtige Dogmatik, auch keine Sammlung der die richtige Lehre definierenden Bekenntnisse (und insofern auch nicht die CA selbst) –, sondern ist das Evangelium selbst („daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden“).24 Die Einheit der Kirche inmitten der Vielfalt der Kirchen ist im Gottesdienst (in jedem Gottesdienst) durch die Evangeliumsverkündigung und Sakramentsausteilung gegeben – als sichtbare Darstellung der Gemeinschaft der Glaubenden. Auf dieser Basis ist dann eine Pluralität an Traditionen, Riten, Gebräuchen und Zeremonien möglich und wechselseitig akzeptabel – also eine unterschiedliche Ausprägung und Realisierung kirchlicher Identität in verschiedenen Kirchen: „nec necesse est ubique similes esse traditiones humanas seu ritus aut cerimonias ab hominibus institutas“. Die eine Kirche verträgt sich mit einer Pluralität von Kirchen mit unterschiedlichen kirchlichen Identitäten, sofern eben die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente nicht infrage gestellt oder verfälscht werden – und insofern gewahrt ist, was eben die Identität als Kirche ausmacht. Dann verhindern selbst ein fehlorientierter Kirchenbegriff und damit eine falsche ekklesiologische Lehre nicht die Existenz der Kirche in der falsch konzipierten „Kirche“. Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass alles Bemühen um Einheit auf institutioneller Ebene vergebliche Liebesmüh sei, da diese Ebene irrelevant sei und vielleicht sogar von der Kirche als geistlicher Gemeinschaft ablenke. Ob in einer solchen Schlussfolgerung das Verhältnis von Kirche als geistlicher Gemeinschaft und als Institution zutreffend beschrieben ist, darf jedoch bezweifelt werden. Denn die Kirche als geistliche Gemeinschaft bildet sich innerhalb eines institutionellen Umfelds, das der geistlichen Gemeinschaft schon deshalb nicht beliebig sein kann, da es die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente, und damit die Mitteilung des Wortes Gottes an alle Menschen sicherstellen soll. An dieser Funktion und an dieser ihr von Gott gegebenen Mission hat sich die Gestal24

Schon Albrecht Ritschl hat die Erklärung der „doctrina evangelii“ in CA VII durch lutherische Theologen kritisiert, die der Auffassung sind, dass mit diesem Ausdruck „der gesammte Lehrinhalt der C.A., insbesondere auch die Lehre über das Abendmahl in Art. 10 gemeint sei“ (Albrecht Ritschl, Die Entstehung der lutherischen Kirche, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1893, 170–217, 175). Ritschl schlägt vor, „doctrina evangelii zu betonen“, denn „dann erscheint das erstere Wort nur als Hülfswort für das zweite. Diese Erklärung aber ist aus einer Reihe von Gründen die nach geschichtlichem Maaßstabe einzig mögliche und nothwendige“ (a.a.O., 176). Ritschl verweist dann auf den deutschen Text der CA, die an Stelle der doctrina evangelii von der Predigt des Evangeliums redet. „Das Evangelium, welches gepredigt oder gelehrt werden soll, ist nun vorzustellen als die Erklärung des gnädigen Willens Gottes und nicht als die Reihe der Dogmen als menschlicher Erkenntnisse“ (a.a.O., 177).

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität

311

tung der Kirche als Institution messen zu lassen. Allerdings mag diese Funktion vielfältig realisiert werden und zu ganz unterschiedlichen institutionellen Formen führen. Von diesem Ansatz her und für die Einheit der Kirche notwendig ist dann nur ein Amt: der Dienst am göttlichen Wort (durch die Verkündigung des Evangeliums und das Austeilen der Sakramente), der nach Luthers Auffassung prinzipiell von jedem Glaubenden ausgeübt werden kann.25 Freilich ist es auch nicht dieses allen Glaubenden (und damit Priestern und Priesterinnen) zugeteilte Amt als solches, das die Einheit der Kirche zum Ausdruck bringt und realisiert, sondern allein das von diesem Amt verbal und sakramental mitgeteilte Wort Gottes, das mit der Person Jesu Christi identisch ist. Die Apologie der Confessio Augustana nennt das Predigtamt bzw. das Evangelium und die Sakramente die äußerlichen Zeichen der Kirche als der Versammlung von Menschen, die Christus und das Evangelium recht erkannt haben. Doch weder die Ämter als solche noch die Wahrhaftigkeit der im Amt befindlichen Personen garantieren die Wahrheit ihrer Mitteilung und das rechte Sein der Kirche. Dies kann allein Jesus Christus. Deshalb kommt es ganz darauf an, dass diejenigen, die predigen und die Sakramente reichen, „dieselbigen an Christus statt“ reichen.26 Der in den Vollzügen der Kirche Handelnde ist letztlich allein Jesus Christus.27 25

26 27

Im Blick auf die Confessio Augustana muss hinzugefügt werden, dass sie weder vom allgemeinen Priestertum aller Glaubenden spricht noch dieser Lehre widerspricht. Allerdings hat sich Melanchthon in späteren Jahren, in der letzten Ausgabe seiner Loci von 1559, faktisch mehr oder weniger von dem allgemeinen Priestertum aller Glaubenden verabschiedet, indem er in seiner Auffassung von der Kirche als Lehrversammlung („coetus scholasticus“) eine Differenz setzt zwischen den Lehrern („docentes“) und den Zuhörern („auditores“) – vgl. Melanchthons Werke (deutsch), Bd. 2: Loci communes von 1521 – Loci praecipui theologici von 1559, hg. von Hans Engelland, Gütersloh 1952–53, 480, 28ff. Melanchthon definiert in den Loci von 1559 die Kirche folgendermaßen: „Ecclesia visibilis est coetus amplectentium Evangelium Christi et recte utentium Sacramentis, in quo Deus per ministerium Evangelii est efficax et multos ad vitam aeternam regenerat, in quo coetu tamen multi sunt non renati, sed de vera doctrina consentientes: Die sichtbare Kirche ist eine Versammlung derer, die sich zum Evangelium Christi bekennen und die Sakramente recht gebrauchen, in welcher Gott wirksam ist durch das Amt des Evangeliums und viele zum ewigen Leben erweckt, aber in welcher es viele gibt, die nicht wiedergeboren sind, die aber mit der wahren Lehre übereinstimmen“ (a.a.O., 476, 12–17). Hier ist das „Evangelium Christi“ (zu dem sich die Versammlung der sichtbaren Kirche bekennt) gleichgesetzt mit der „wahren Lehre“, mit welcher übereinzustimmen auch den nicht durch das Evangelium Wiedergeborenen möglich ist. Wahre Lehre und damit auch das Evangelium Christi sind identisch mit dem von der rechten Theologie dargestellten Evangelium, das von den Lehrern, also den Pastoren, verwaltet wird. Diese haben dann nicht nur das Amt der Verkündigung des Evangeliums und der Austeilung der Sakramente, sondern auch das Amt der über der Gemeinde stehenden Hüter der richtigen Lehre. Damit aber erhält die kirchliche Lehre normative Geltung. Nicht mehr nur das den Menschen ihre Sünde vergebende und ihre Gewissen befreiende Evangelium ist die Norm aller Rede von Gott, sondern die von der Kirche festgestellte wahre Lehre wird zur Norm – die dann konsequenterweise jemand auch als wahr anerkennen kann, ohne selbst im Glauben ein erneuerter Mensch geworden zu sein. Vgl. BSLK, 241, 4. In diesem Zusammenhang muss dann die in der CA angesprochene Frage nach der Beständigkeit und auch der Irrtumslosigkeit der Kirche diskutiert werden. Jede Person, die ein Amt in der Kirche

312

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Damit können wir die Wesensbestimmung der Kirche in der reformatorischen Theologie zurückbinden an das altkirchliche Bekenntnis zur einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Denn mit dem Kennzeichen der Katholizität wird die Identität der Kirche, der Gemeinschaft aller Glaubenden – und insofern die Identität als Kirche – auf den Begriff gebracht. Der griechische Begriff „katholisch“ bezeichnet das Identische inmitten des universal Mannigfaltigen. Das Identische in allen Erscheinungen der Kirche ist „der Katholikos“ Jesus Christus, den die Heilige Schrift bezeugt und der als das Haupt der Kirche in jeder zu Recht so zu nennenden Kirche präsent ist und dort als der Herr der Welt geglaubt und bezeugt wird. Die Identität der Kirche – der Identität jeder Kirche als Kirche – liegt im „Geheimnis des Glaubens“ und insofern im Geheimnis Jesu Christi, in Jesus Christus als dem Sakrament. Jesus Christus ist die bleibende Nähe Gottes und seines Reiches, das einmalige und endgültige Opfer zur Vergebung aller Sünden und zur Versöhnung von Gott und Mensch, der neue Adam, in dem das neue Leben aus dem göttlichen Geist Realität ist und in der Kirche, der versöhnten Gemeinschaft der Glaubenden, die der Leib Christi ist, zur Darstellung kommt. Die Identität der Kirche weist insofern die Kirchen zurück in die Heilige Schrift, in der Jesus als der Christus bezeugt ist.

4.

Die Kirchen und die Heilige Schrift

Es gehört zur Besonderheit der evangelischen Kirchen, dass sie die Heilige Schrift konsequent jeder theologischen und kirchlichen Lehre vorordnen, auch der von ihnen definitiv und verbindlich festgestellten kirchlichen Lehre in den Bekenntnisinne hat, kann irren. Und damit irrt nicht nur sie sich, sondern die ganze Kirche irrt sich, wenn in einem Vollzug der Kirche der Irrtum zur Stelle ist. Gunther Wenz folgert aus dem einleitenden Bekenntnissatz von CA VII, „quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit“, dass sich „der Glaube auf die Beständigkeit der Kirche ebenso vorbehaltlos verlassen“ kann, „wie auf die Treue Gottes zu der in Jesus Christus gegebenen und vom Geist erschlossenen Verheißung des Evangeliums“, wozu die Implikation gehört, „dass die Kirche nie definitiv von der Wahrheit abfällt“ (Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 2, Berlin 1997, 276). Es ist aber nicht zwingend, daraus eine positive Bedeutung der Irrtumslosigkeit der Kirche zu folgern – wie Wenz es mit der Anführung des folgenden Zitates von Harding Meyer tut: „Die Reformation weiß sich in dieser Überzeugung mit der vorausgegangenen theologischen und kirchlichen Tradition verbunden und hat die biblischen Verheißungen (Mt 16, 18; 28, 20; Joh 16, 13) stets in diesem Sinne verstanden. Das ‚ecclesia non potest errare‘ ist darum eine bei den Reformatoren oft wiederkehrende Aussage und integraler Bestandteil reformatorischen Kirchenverständnisses“ (Harding Meyer, Sündige Kirche? Bemerkungen zum ekklesiologischen Aspekt der Debatte um eine katholisch/evangelische „Grunddifferenz“, in: ÖR 38 (1989), 397–410, 401; zitiert bei: Wenz, Theologie 2, [s. oben] 276). Dass die Kirche in der Wahrheit bleibt und nicht gänzlich von der Wahrheit abfallen kann, bedeutet jedoch keineswegs ihre Irrtumslosigkeit. Vielmehr kann sich die Kirche irren und zugleich in der Wahrheit sein. Gerade im Irrtum der Kirche zeigt es sich, dass die Kirche in einem grundsätzlichen Sinne in der Wahrheit erhalten wird. Es ist allein Gott, der sie in der Wahrheit erhält und dadurch gerade den Irrtum der Kirche offenbar macht und sie immer wieder zur Wahrheit zurückführt.

Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen und kirchliche Identität

313

sen und Bekenntnisschriften. Ganz unabhängig von der zwischen den evangelischen Kirchenfamilien umstrittenen Frage nach der bleibenden Geltung der Bekenntnisschriften besteht Einigkeit in der fundamentaltheologischen Zuordnung von Heiliger Schrift, Bekenntnisschriften und kirchlicher Lehre, wie sie zu Beginn der Konkordienformel formuliert wurde. Demnach ist „allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur [iudex, norma, et regula], nach welcher […] sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden“. Die Bekenntnisse, seien es die altkirchlichen oder seien es die in der Reformationszeit formulierten, und auch bedeutende theologische Schriften „sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigen Artikeln von den Kirchen Gottes von den damals Lebenden vorstanden und ausgeleget […] worden“28. In die weitere Lehrbildung ist dies als die Unterscheidung der Heiligen Schrift als norma normans und der Bekenntnisschriften als norma normata eingegangen. Was bedeutet diese fundamentaltheologische Lehre für das Lesen und Interpretieren und den kirchlichen Gebrauch der Heiligen Schrift? Sie bedeutet zuerst einmal ein Problem. Wenn die zentralen Lehren einer evangelischen Kirche verbindlich in Bekenntnisschriften festgelegt sind, können biblische Texte nur noch in Übereinstimmung mit diesen kirchlichen Lehren interpretiert werden. Dann sind jedoch faktisch die Bekenntnisschriften der Heiligen Schrift vorgeordnet. Die Lektüre und die Auslegung biblischer Texte können und dürfen dann nur das ergeben, was bereits vorab erkannt ist – dienen also nur der immer wieder neuen Bestätigung des bereits vorab bekannten Wahren. Formal gesehen ist dieses Verfahren letztlich kaum verschieden von all den Formen des Umgangs mit der Heiligen Schrift, in der diese zu kaum mehr dient als zur Bestätigung von bereits vorab und von woanders her bekannten Wahrheiten – sei es aus der Selbstgewissheit des Herzens, sei es aus der aus religiöser Erfahrung gewonnenen unmittelbaren, vom Heiligen Geist gewirkten Intuition, sei es aus den Vorgaben des kirchlichen Lehramts – oder wo auch immer her. Zumindest droht so ein stark konfessionalistischer Protestantismus in eine Reihe zu geraten mit Spiritualisten, mit pfingstlerischen Enthusiasten und mit kirchenamtlichen Charismatikern. Immer droht dann Traditionspflege, Selbstdeutung und Selbstbestätigung statt ein offenes Ohr für das in der Heiligen Schrift bezeugte Wort Gottes. Um solchen möglichen Missverständnissen in einer bekenntnisorientierten Schriftauslegung zu entgehen, muss von dieser präzisiert werden, an welchem Punkt des hermeneutischen Geschäfts die Bekenntnisschriften bzw. die verbindlich fixierte kirchliche Lehre ihren angemessenen Ort haben. Wenn wir auf die verschiedenen Momente des hermeneutischen Zirkels schauen, so kann die verbindlich fixierte kirchliche Lehre relevant werden für die Bestimmung des Verhältnisses von Autor und Gegenstand bzw. Ereignis, d. h. dem Inhalt, über den geschrieben wird – und insofern auch für das Verhältnis des Lesers 28

FC-Ep, Von dem summarischen Begriff, BSLK 769, 8.

314

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

und Interpreten des biblischen Textes zu der Sache des Textes. Wie Rudolf Bultmann in seinem bisher unübertroffenen Aufsatz zum „Problem der Hermeneutik“ aus dem Jahr 1950 gezeigt hat, ist dieses Verhältnis entscheidend für die Auslegung biblischer Texte: der hermeneutische Zirkel zwischen Vorverständnis und Verstehen. Wer einen Text auslegt, hat bereits gewisse vorgefasste Vorstellungen von dessen Inhalt, da er bereits eine Beziehung zu der Sache hat, von welcher der Text handelt. Diese Beziehung ist identisch mit dem Interesse des Lesers und Interpreten an den biblischen Texten und ihrem Inhalt. Im hermeneutischen Prozess der Auslegung biblischer Texte prägt nun verbindlich fixierte kirchliche Lehre wie z. B. in den Bekenntnisschriften einer Kirche das Vorverständnis des Lesers und Interpreten – allzumal im kirchlichen Gebrauch der Heiligen Schrift. Wenn es anders wäre und die verbindlich fixierte kirchliche Lehre beanspruchen würde, das Verstehen biblischer Texte abschließend zu formulieren, dann würde die kirchliche Lehre die biblischen Texte ersetzen. Für evangelische Kirchen würde dies zu einem Selbstwiderspruch führen. Ein wirkliches Hören auf die biblischen Texte wäre nicht mehr möglich. Die biblischen Texte könnten nur noch so sprechen, wie es ihnen von der verbindlich fixierten kirchlichen Lehre erlaubt würde. Wenn dagegen die in Bekenntnisschriften verbindlich fixierte kirchliche Lehre das Vorverständnis mit formuliert, mit dem im Leben der Kirche biblische Texte gelesen und interpretiert werden, dann wird nicht nur ihre bleibende Bedeutung plausibel, sondern auch eine sinnvolle Zuordnung zur Heiligen Schrift möglich. In der Vorordnung kirchlicher Lehre vor den biblischen Texten im hermeneutischen Prozess kommt ihre sachliche Nachordnung gegenüber der Heiligen Schrift zum Ausdruck. Die Heilige Schrift behält so das letzte Wort. Eine sprachphilosophische Theoriebildung aus den letzten Jahrzehnten aufgreifend würde ich sagen, die verbindlich fixierte kirchliche Lehre ist als stereotype Bedeutungsbestimmung zu verstehen, durch die nicht Bedeutungen abschließend und umfassend festgelegt werden, sondern der Zugang zu den Sachverhalten, Gegenständen und Ereignissen – kurz: zur Wirklichkeit – geleitet wird. „Senses of terms are important not so much for determining reference as for guiding access.“29 Die Definitionen und prädikativen Bestimmungen in den kirchlichen Lehrtexten sind dann als Hilfsmittel – gewissermaßen als Richtungsangaben – für die Interpretation biblischer Texte (und insofern auch für die theologische Erkenntnis überhaupt in der Gegenwart) zu verstehen. Geleitet von den Begriffsbestimmungen kirchlicher Lehre werden die in den biblischen Texten zur Sprache kommenden Sachverhalte im Lese-, Hör- und Interpretationsprozess (möglicherweise neu) erschlossen. Meines Erachtens ist es nicht zufällig, dass Rudolf Bultmann als Lutheraner den Sachbezug biblischer Texte wieder in den Vordergrund der Hermeneutik gerückt 29

Janet Martin Soskice, Metaphor and Religious Language, Oxford 1985, 132. Vgl. zu der gesamten Theoriebildung: Hans-Peter Großhans, Theologischer Realismus. Ein sprachphilosophischer Beitrag zu einer theologischen Sprachlehre, Tübingen 1996, 33–48 u. a.

Summary

315

hat. Lutherischer Hermeneutik geht es von ihren Anfängen an darum, die biblischen Texte als Wort Gottes ernst zu nehmen und insofern zu hören, was ein biblischer Text zu sagen hat, und zu entdecken, was er von uns fordert. Gerade im Umgang mit den biblischen Texten geht es darum, in ihnen die immer wieder neuen Möglichkeiten zu entdecken, die der dreieinige Gott dem jeweils eigenen Leben und seiner Kirche zuspielt. In der Auslegung und im Verstehen biblischer Texte geht es nicht um Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung – auch nicht einer kirchlichen Tradition und Identität –, sondern um ein kritisches Hören auf den biblischen Text als Wort Gottes in Bezug zu unserem je eigenen und gemeinsamen Leben in seinem jeweiligen Kontext und seiner jeweiligen Situation. Voraussetzung dafür ist das konsequente Ernstnehmen der Heiligen Schrift in ihrer Literalität. Dies ermöglicht dann auch eine Auslegung biblischer Texte nach den Einsichten menschlicher Vernunft, d. h. mit den exegetischen und hermeneutischen Verfahren, die nach gegenwärtiger Einsicht vernünftig sind und insofern nicht nur wissenschaftlicher Prüfung standhalten, sondern vor allem einen Diskurs über die biblischen Texte zwischen Kirchen mit unterschiedlicher Identität ermöglichen. Fragt man nach gegenwärtigen Perspektiven im Blick auf die Ekklesiologie und die kirchliche Identität, so muss das Thema der Auslegung biblischer Texte und also das Thema der Hermeneutik in den Blick genommen werden. Dabei ist nicht zu erwarten, dass die eine evangelische Hermeneutik formuliert werden könnte. Es ist vielmehr der theologische und kirchliche Diskurs über dieses Thema und der theologische Prozess des Lesens, Hörens und Interpretierens der Heiligen Schrift, in denen sich die Einheit einer Pluralität von Kirchen realisiert. Genau daraus kann, ja, muss dann auch in jeder Generation verbindlich fixierte kirchliche Lehre folgen – und sei es nur in Form der Bestätigung und insofern Erneuerung der Geltung überlieferter kirchlicher Lehre. Kirchen und Kirchengemeinschaften, die nicht den Willen, den Mut und die Weisheit aufbringen, die Wahrheit des Evangeliums in Form verbindlicher Lehre zu fixieren, um so untereinander und mit anderen den Diskurs über die Wahrheit des Glaubens zu führen, missverstehen die Positionalität, die dem christlichen Glauben innewohnt und insofern den Anspruch, den das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium an das Leben des einzelnen Christen und der kirchlichen Gemeinschaft stellt.

Summary This article concentrates on aspects of the doctrine of the church, which especially contribute to the identity of churches and which are expressed in official ecclesiastical texts such as confessions or corpora doctrinae. To what extent can a common understanding of the church be formulated despite varied church identities (as far as doctrine and confession are concerned)? Various considerations found in the newest study issued by the Community of Protestant Churches in Europe, CPCE

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

are outlined. An exposition of AC VII shows how, on the basis of Reformation theology, the identity of a church as a church can be determined. The definition of the church in Reformation theology is then related to the belief in the one holy, catholic and apostolic Church in the Nicene Creed. There the identity of the Church, the community of all believers – and insofar the identity of a church as a church – is conceived in the mark of catholicity. The identity of the church refers churches back to Holy Scripture, which witnesses to Jesus as the Christ. Therefore the relationship of Reformation churches to Holy Scripture, which is crucial for the identity of a church, is looked at and various hermeneutical concepts are discussed.

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven Werner Klän

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen 1.

1.1

Grundzüge der Reorganisation der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen Konfessionelle Bewusstwerdung

Unter den „Wünsche[n] der lutherischen Gemeinde Breslau vom April 1831“ stand obenan: „1. Selbstständige, von der unirten Kirche in Preußen getrennte Kirche nach dem göttlichen Wort und unsern darauf gegründeten Lutherischen Bekenntnißschriften.“1 Das ekklesiale Selbstverständnis, das sich in diesem Wunsch ausspricht, ist durch drei Elemente gekennzeichnet. Das eine ist die reformatorischevangelische Orientierung am „göttlichen Wort“ der Heiligen Schrift; das zweite die lutherisch-konfessionelle Orientierung an den „Lutherischen Bekenntnißschriften“ als schriftgemäßer Auslegung der Schrift; das dritte die kirchlich-organisatorische Eigenständigkeit im Gegenüber zur unierten Staatskirche. Im Gegenüber zur Union, die in sachgerechter Analyse der kirchenpolitischen Präferenzen des Berliner Hofs in der Herstellung einer agendarisch-gottesdienstlich gestalteten Einheit gesehen wird,2 behaupten die Breslauer Lutheraner, dass die lutherische Abendmahls1

2

Wünsche der lutherischen Gemeinde Breslau vom April 1831 (eingereicht am 2.5.1831), in: Werner Klän/Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelischlutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen (OUH Ergänzungsband 6), Göttingen ²2010, 55. Jürgen Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen (BWFKG 8), Bielefeld 1991, 109–120; Kampmann konstatiert freilich für Westfalen ein „Scheitern der Einheit im Abendmahlsritus“ (a.a.O., 153f.); zum Unionsaufruf von 1817 vgl. Wilhelm Heinrich Neuser, Die Entstehung des preußischen Unionsaufrufs vom 27. September 1817, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Preußische Union: Ursprünge, Wirkung und Ausgang. Einblicke in vier Jahrhunderte evangelischer Kirchen- und Konfessionsgeschichte (UnCo 27), Bielefeld 2011, 45–78; auch er stellt, zumindest für das Jahr 1817 fest: „Die Einheit in der Lehre ist also nicht erreicht, wie klein oder groß die Kluft auch sein mag“ (a.a.O., 77).

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

lehre „in ihrer eigenthümlichen Selbstständigkeit, in ihrer Herrlichkeit und Kraft […] entschieden hervortreten und den ganzen Gottesdienst durchdringen und beleben“ müsse.3 Hier meint „Selbstständigkeit“ die liturgisch implementierte Authentizität lutherischer Abendmahlslehre, handelte es sich doch „um den Kernbereich kirchlichen Lebens, um Gottesdienst und Kirchenverfassung“4. Dass solche Auffassung eine unzeitgemäße sei, ist den Verfassern der Bittschrift wohl bewusst.5 In dieser frühen Phase der lutherischen Opposition in Schlesien gegen die Einführung der preußischen Union ist das ekklesiologische Bewusstsein noch stark gemeindezentriert: Es ist die Gemeinde, die sich eine „nach der heiligen Schrift Neuen Testaments einzurichtende Presbyterialverfassung“ geben soll.6 Es ist die Gemeinde, die über „Erhaltung der Lehre[,] des Gottesdienstes wie der Verfassung“ wachen soll.7 Diese Grundsätze sind realhistorisch der Lage der Lutheraner in Breslau geschuldet; zu diesem Zeitpunkt stellen sie nicht mehr als eine im Wesentlichen in Breslau und seiner engeren Umgebung lokalisierte Bewegung dar, die sich um die ursprünglich Scheibelsche Konfitentengemeinde sammelte. Andererseits sprechen sich in diesen Wünschen auch ekklesiologische Grundanschauungen Johann Gottfried Scheibels aus; er favorisierte aufgrund seiner neutestamentlichen Studien eine an – vermeintlich oder wirklich – frühchristlichen Modellen angelehnte Verfassung der Kirche.8 Die Kehrseite dieser Haltung schloss die Absage an ein individualistisches Christentumsverständnis ein: Glaube sei nicht „bloße Privat-

3 4

5 6 7 8

Diese Sicht stand in klarem Gegensatz zu den lutheranisierenden Anschauungen des Königs, vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 2), 352–357. A.a.O., 456; der König wünschte vielmehr die „Einheitlichkeit der Feier des Hauptgottesdienstes“, ging es ihm doch um „eine liturgische Vereinigung der beiden bisherigen protestantischen Konfessionen“; so Jürgen Kampmann, Die Alternativen in den unierten preußischen Agenden: vom Unionsaufruf 1817 bis zum Vorentwurf der Erneuerten Agende 1990, in: Jörg Neijenhuis/Wolfgang Ratzmann (Hg.), Der Gottesdienst zwischen Abbildern und Leitbildern. Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, Leipzig 2000, 94–113, hier 95. Erste Bittschrift der lutherischen Gemeinde Breslau vom 27.6.1830, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 37–41, hier 39. Wünsche der lutherischen Gemeinde Breslau vom April 1831, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 55. Ebd. Zu Scheibels Anschauung von der Kirche vgl. Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation (KiO.M 19), Göttingen ²1985, 241–269; Jobst Schöne, Kirche und Kirchenregiment im Wirken und Denken Georg Philipp Eduard Huschkes (AGTL XXIII), Berlin/Hamburg 1969, 69–87; Volker Stolle, „Anerkennung der evangelischlutherischen Kirche als einer selbstständigen und eigenthümlichen Kirche“. Die Selbstständigkeit als ekklesiologisches und kirchenrechtliches Kennzeichen der lutherischen Kirche, in: Freikirchen im Spannungsfeld von Sammlung und Sendung: Konfession und Union, Münster 2000, 228– 258; zur frühen Debatte um die Kirchenverfassungsreform in Schlesien, die freilich noch stark staatskirchlich orientiert war, vgl. Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen. 1799–1823 (UnCo 20), Bielefeld 1997, 78–85.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

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meinung eines jeden Einzelnen“, hieß es schon in der zweiten Bittschrift der Breslauer Lutheraner vom 26. Juli 1830.9 1.2

Ekklesiales Bewusstsein und seine Gestalt

Doch erst im Zuge der weiteren Entwicklung, als sich die „altlutherische“ Bewegung ausbreitete, und nach Scheibels erzwungenem Fortgang aus Preußen, traten andere Gesichtspunkte zur Bestimmung des kirchlichen Selbstverständnisses hinzu. So stellte Georg Philipp Eduard Huschke als tatsächlicher Leiter der lutherischen Bewegung in Schlesien bereits 1832 fest: „Eine Kirche besteht nicht bloß in dem [sic] Geistlichen desselben Bekenntnisses, sondern auch darin, daß sie sich selbst regiert.“10 Hier äußert sich ein ekklesiales Verständnis, das nicht mehr nur orts- und personalgemeindlich orientiert ist. Vielmehr wird hier die Option auf eine staatsfreie kirchliche Selbstverwaltung nach innen und außen reklamiert. Huschke war sich dabei dessen bewusst, dass er mit dieser Position durchaus ein geschichtliches Novum forderte.11 Selbstständigkeit der Kirche bedeutete für seine Zeit zugleich Freiheit von „Menschenherrschaft“, also Staatsfreiheit. Dass im Zuge der kirchlichen Reorganisation der preußischen Lutheraner schließlich mit der gemeindlichen und kirchlichen Selbstregierung Ernst gemacht wurde, zeigt sich an der Einrichtung des später sogenannten „Vorsteheramtes“. Historisch-faktisch entwickelte es sich aus der Wahl von „Repräsentanten“, die die Belange der Lutheraner gegenüber den Staatsbehörden vertreten sollten; dabei berief man sich auf ALR, Bd. IV, 50. In der Zeit der Inhaftierung aller Pastoren, die sich zu den Lutheranern hielten, kam diesen Repräsentanten tatsächlich die Gemeindeleitung zu. Schaut man auf die Soziologie der Trägerschichten der „altlutherischen“ Bewegung, so finden sich hier vorwiegend Vertreter des sich emanzipierenden Bürgertums oder Personen, die in diese Schicht aufsteigen.12 Theologisch wurde das Vorsteheramt im Zuge der Verfassungsgebung in einer Doppelfunktion von Gemeinderepräsentanz und dem Pfarramt zugeordneter geistlicher Leitung beschrieben.13 In der legislativen Körperschaft, der „Generalsynode“ der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, waren Pastoren und Gemeindevertreter zu gleichen 9 10

11 12 13

Der Wortlaut bei Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 41–48, hier 46. [Philipp Georg Eduard Huschke], Theologisches Votum eines Juristen in Sachen der K. Preuß Hofund Dom-Agende. Hg. von Dr. J. G. Scheibel, Nürnberg 1832, 8; vgl. Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 8), 92. Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 8), 92. Werner Klän, Lebenslauf und verwandte Gattungen als Quellen freikirchlicher Geschichtsschreibung, in: LuThk 18 (1994), 50–71. „Das Vorsteheramt hat es mit der Regierung und Pflege der Gemeinde zu thun, und wird von dem Pastor, welcher allein das öffentliche Lehramt hat, und von Personen, welche dazu aus der Gemeinde erwählt worden sind, verwaltet“ (Über das Vorsteheramt [aus den Synodalbeschlüssen von 1841], in: Klän/da Silva, Quellen [wie Anm. 1], 76–80, hier 80).

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Teilen vertreten. Dies ist einesteils ein Reflex der erwecklichen Elemente in der „altlutherischen“ Kirchenbildung und Ausdruck der Hochschätzung für die Leitungsverantwortung, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz überwiegend bei den Gemeindeältesten gelegen hatte. Das nach dem Ende der Verfolgungszeit als gesamtkirchliches Leitungsorgan eingerichtete Oberkirchenkollegium schließlich trug konsistoriale Züge; bemerkenswert ist, dass mit dem Juristen Huschke über Jahrzehnte ein Nichtordinierter an der Spitze des paritätisch aus „Laien“ und „Geistlichen“ zusammengesetzten Gremiums stand.14 Im Zusammenhang des kirchen- und theologiepolitischen Settings vor 1850 gewinnt die „altlutherische“ Kirchenbildung ein besonderes Profil, und zwar über das (neo-)konfessionelle Anliegen hinaus. Dies freilich ist grundlegend für die Ekklesiologie der preußischen Lutheraner: Kirche in ihrer irdisch-geschichtlichen Gestalt findet sich – notwendigerweise – als konfessionsbestimmte Größe vor, und dies nicht allein aus Gründen historischer Kontinuität und rechtlicher Legitimität, sondern aus einem zutiefst fundamentaltheologischen Motiv: Die Wahrheit des Schriftzeugnisses wird wiederentdeckt in den Aussagen des lutherischen Bekenntnisses; als solche muss sie bestimmend sein für den Quellgrund christlichen Lebens, den Gottesdienst, und damit für das gesamte kirchliche Leben. Denn nur auf diese Weise kommen kirchliche Authentizität und Identität angemessen und verbindlich zum Ausdruck.15 1.3

Zukunftsweisende Momente der konkordienlutherischen Kirchenbildungen

1.3.1

Das Beispiel Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen

Zeitgenössisch und in gewisser Hinsicht zukunftsweisend sind an der kirchlichen Reorganisation der preußischen Lutheraner mehrere Momente. Dabei ist einmal die Übernahme persönlicher Verantwortung in geistlicher, organisatorischer und finanzieller Hinsicht zu nennen, die die Träger der „altlutherischen“ Bewegung auszeichnet – nicht geringe Lasten angesichts der Notwendigkeit, neue Kirchen, Pfarrhäuser zu bauen, eigene Friedhöfe anzulegen, den Unterhalt der Pfarrer sicherzustellen, nachdem die Liegenschaften bei der unierten Landeskirche verblieben, und lange Zeit doppelt für Baulasten und Stolgebühren aufkommen zu müssen. Nächst der Berufung auf überkommene Rechte und Garantien für den Bestand der lutherischen Kirche in Preußen sind es überdies Rechte, die moderne westliche Gesellschaften kennzeichnen, die von den preußischen Lutheranern in Anspruch 14 15

Schöne, Kirche und Kirchenregiment (wie Anm. 8), 133–138.143f.262–272. Dass dieses Ergebnis des schlesischen Kirchenkampfs seine Wirkung auch auf die lutherisch Gesinnten in der preußischen Landeskirche, zumal in Schlesien nicht verfehlte, findet sich bei Astrid Nachtigall, Die Auseinandersetzungen um die Kirchenunion in Preußen von 1845 bis 1853 und die Kabinettsorder von 1852 (UnCo 23), Bielefeld 2005, 246.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

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genommen wurden: Das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht zur Bildung religiöser Gesellschaften, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit und auf Beitragshoheit für ihre Kirche.16 Besonders die Bestreitung des landesherrlichen ius liturgicum17 und schließlich des Episkopats, die der konfessionellen Selbstvergewisserung in kirchlicher Absicht allerdings eher nur sekundierte, ist als vorwärtsweisend zu benennen.18 In der nun – notgedrungen – eigenständig, staatsunabhängig reorganisierten lutherischen Kirche in Preußen realisieren sich, zumindest partikular, Motive der „kirchlichen Selbstständigkeitsbewegung“, der nicht zuletzt Schleiermacher wenigstens theoretisch mit seinem „kirchenverfassungsrechtlichen Ideal“ mit Sympathie gegenüber stand.19 Allerdings konnte er seine Vorschläge, wie den einer „Episkopalverfassung mit (presbyterial-)synodalen Elementen“20 letztlich doch nicht durchsetzen. Die von ihm gedachten Synoden wären zudem reine „Geistlichkeitssynoden“ gewesen, die der Kirchenpolitiker Schleiermacher staatlicher Aufsicht unterstellt wissen wollte.21 Später vertrat er eher eine „Mischverfassung“ unter Einbeziehung „synodaler und konsistorialer Verfassungselemente“ bei Tendenz auf eine erhoffte Synodalverfassung.22 Diese kann als „Reflex der bürgerlich-liberalen Emanzipationsbewegung“ aufgefasst werden.23 Auf vergleichbarer Linie lag das unter Schleiermachers Leitung erstellte Gutachten der Berliner Provinzialsynode über den „Entwurf einer Synodal-Ordnung“, das nicht zu Unrecht als „Maximalprogramm kirchlicher Selbstständigkeit innerhalb des Staates“ gedeutet werden kann, auch wenn es sich unter den damaligen staatskirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Verhältnissen bis auf Weiteres als nicht realisierbar erwies.24

16

17 18 19 20 21 22 23 24

Es verdient, vermerkt zu werden, dass Breslau in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts als „das Zentrum bürgerlich-liberaler Opposition in Preußen“ angesehen werden konnte; vgl. Werner Bein, Restauration und Revolution. Grundzüge der politischen Geschichte Schlesiens 1815–1848, in: ders. (Hg.), Restauration, Vormärz und Revolution. Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Würzburg 1985, 3–15, zitiert bei Martin Friedrich, Die preußische Landeskirche im Vormärz. Evangelische Kirchenpolitik unter dem Ministerium Eichhorn (1840–1948), Waltrop 1994, 78. Zur Debatte darüber vgl. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 2), 246– 265. So auch zutreffend Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870 (KGE III/3), Leipzig 2000, 101. Geck, Schleiermacher (wie Anm. 8), 22f. A.a.O., 64–74. A.a.O., 69.88–94. A.a.O., 137. Jörg van Norden, in: a.a.O., 141. A.a.O., 212–228.259f.290f.; insofern ist das Urteil, die Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen von 1841 zeige „eine Strukturverwandtschaft mit der Landeskirche“ an sich, zu modifizieren; vgl. Jung, Der Protestantismus in Deutschland (wie Anm. 18), 101; dies gilt noch für die Einrichtung des Evangelischen Oberkirchenrats, der eben kein unabhängiges Organ der kirchlichen Selbstregierung war, vgl. Friedrich, Die preußische Landeskirche (wie Anm. 16), 450.

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

So darf trotz des zahlenmäßig geringen „Erfolgs“ des „altlutherischen“ Widerstands demnach gelten: „Die Altlutheraner hatten den Kampf gewonnen. […] Die Repressalien gegen die separierten Lutheraner warfen einen schweren Schatten auf die preußische Regierung, aber auch auf die Union“, da der Eindruck entstand, sie bringe „neuen Glaubenszwang mit sich gegen Menschen, die nichts als das Recht der Bekenntnistreue für sich in Anspruch nahmen“25. Dass späterhin auch innerhalb der unierten Landeskirche um das Recht des lutherischen Bekenntnisses gerungen wurde,26 vor allem auf Seiten der „Vereinslutheraner“, und nach Einrichtung des Evangelischen Oberkirchenrats auch gewisse Teilerfolge27 erzielt werden konnten, ist nicht zuletzt auch auf die Etablierung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen zurückzuführen.28 Die „einheitliche preußische Staatskirche“ war „aufgebrochen“, und „Konkurrenz um die wahre lutherische Kirche“ zwischen „Vereinslutheranern“ und „Altlutheranern“ bestand Mitte des 19. Jahrhunderts unvermindert fort.29 An eine „Rückkehr dieser Lutherischen Kirche unter den Summepiskopat des Königs und unter die Verwaltung seiner Minister und Beamten war nicht mehr zu denken“30. Deren Grundthema, dass Bekenntnis, Gottesdienst und Kirche samt ihrer Verfassung einen Gesamtzusammenhang darstellen, in dem alle Momente stimmig aufeinander bezogen sein müssen, war aus ihrer Sicht allerdings keineswegs befriedigend beantwortet.31

25

26

27

28 29 30 31

Nachtigall, Die Auseinandersetzungen (wie Anm. 15), 29; vgl. Iselin Gundermann, Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770–1840). Preußens erster Kultusminister, in: Rudolf Mau (Hg.), Protestantismus in Preußen, Bd. 2: Vom Unionsaufruf 1817 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2009, 69–87, hier 80f. Es sei erwähnt, dass es durchaus auch lang anhaltenden Widerstand in Kreisen der reformierten Kirche gab, vgl. Johann Friedrich Gerhard Goeters, Der Weg der reformierten Gemeinde Elberfeld in die Spaltung von 1847, in: Heiner Faulenbach/Wilhelm H. Neuser (Hg.), Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis (UnCo 25), Bielefeld 2006, 325–337. Auch hier kam es zu einem „Weg der renitenten Minderheit in die Separation“ (a.a.O., 336f.). „Der König […] hatte 1852 die itio in partes angeordnet aus Angst vor den Altlutheranern, doch der Widerspruch der Unionsfreunde und der Jubel der Konfessionellen brachte ihn zur Union zurück“ (Nachtigall, Die Auseinandersetzungen [wie Anm. 15], 394). Dies gilt besonders, aber nicht nur für Schlesien, vgl. a.a.O., 135f.235–247. A.a.O., 321–323. A.a.O., 322. Das Motiv der Herbeiführung einer – wie auch immer in der Ausgestaltung differenten – Union auf dem Weg eines, wenn auch letztlich nicht gemeinsamen Abendmahlsritus, so doch einer gemeinsamen Abendmahlsfeier, ist schon bei Friedrich Samuel Gottfried Sack zu finden, vgl. Thomas G. Kuhn, August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738– 1817). Religiöse Aufklärung im Verbund der Generationen, in: Albrecht Beutel (Hg.), Protestantismus in Preußen, Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817, Frankfurt/M. 2009, 261–285, hier 284; Mark Pockrandt, Die Bedeutung von Karl Heinrich Sack (1789–1875) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) für die Union, in: Kampmann, Preußische Union (wie Anm. 2), 97–109, bes. 105; vgl. auch ders., Die Einführung der Berliner Agende (wie Anm. 2), 71–75.159–163.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

1.3.2

323

Varianten ekklesiologischer Konzepte in konkordienlutherischen Kirchenbildungen

Die konfessionsbestimmte und daher anti-unionistische Grundentscheidung der lutherischen Kirche in Preußen bildet das Grundmotiv auch der späteren lutherischen „Freikirchenbildungen“. Allerdings kam es im Zusammenhang der ekklesiologischen Debatten des 19. Jahrhunderts und im Kontext anderer Länder und Zeiten zu Neu- und Umorientierungen in Gestaltung der ekklesiologischen Grundauffassungen. Die Modifikationen betrafen für den Binnenbereich die Verhältnisbestimmung von Amt und Gemeinde, Gemeinde und kirchenleitendem Amt, für die Außenbeziehungen das Verhältnis zum Landeskirchentum insgesamt. So betonten die Evangelisch-Lutherische Immanuelsynode (seit 1864)32 und die Evangelisch-Lutherische Freikirche in Sachsen (seit 1875)33 die Eigenständigkeit der Einzelgemeinde und gaben dem gesamtkirchlichen Verband und seiner Leitung nur ein geringes Maß an Zuständigkeiten; die Immanuelsynode freilich betonte die geistliche Verantwortung des Pfarramts im Gegenüber zur Gemeinde stark, während die Evangelisch-Lutherische Freikirche die Vorstellung einer „Delegation“ der Rechte der Gemeinde an das Pfarramt, wie ihre Schwesterkirche, die Lutherische Kirche – Missouri-Synode, favorisierte. Im Gefolge der Amtstheologie A. F. C. Vilmars prägte sich in Hessen ein weiterer Typus lutherischer Freikirchenbildung aus (seit 1873/1874 bzw. 1877)34, in dem die Vollmacht des geistlichen Amts im Gegenüber zur und über die Gemeinde bestimmend wurde; dem Superintendenten kamen bischöfliche Befugnisse zu. Im Königreich Hannover35 kam es zur Orientierung an unterschiedlichen ekklesiologischen Konzepten. Die mit diesen unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach einer angemessenen Gestalt der Kirche jenseits des aus der Reformation überkommenen Staatskirchentums, führten zu teils neben-, teils gegeneinanderstehenden lutherisch-konfessionellen Freikirchenbildungen.36 Trug die (neo-)konfessionelle Orientierung im Gegensatz zur Union jedweder Couleur bereits zu einer Pluralisierung der Kirchentypen im Bereich des deutschen 32

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36

Werner Klän, Die evangelisch-lutherische Immanuelsynode in Preußen. Eine Kirchenbildung im Gefolge der ekklesiologischen Auseinandersetzungen im deutschen Luthertum des 19. Jahrhunderts (EHS XXIII, 234), Frankfurt/Main 1985. Gottfried Herrmann, Lutherische Freikirche in Sachsen. Geschichte und Gegenwart einer lutherischen Bekenntniskirche, Berlin 1985. Klaus Engelbrecht, Um Kirchentum und Kirche. Metropolitan Wilhelm Vilmar (1804–1884) als Verfechter einer eigentümlichen Kirchengeschichtsschreibung und betont hessischen Theologie (EHS XXIII, 235), Frankfurt/Main 1987. Andrea Grünhagen, Erweckung und konfessionelle Bewusstwerdung. Das Beispiel Hermannsburg im 19. Jahrhundert (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.-luth. Missionswerkes in Niedersachsen 19), Berlin 2010. Zur Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden vgl. Frank-Martin Brunn, Union oder Separation? Eine Untersuchung über die historischen, ekklesiologischen und rechtlichen Aspekte der lutherischen Separation in Baden in der Mitte des 19. Jahrhunderts (VVKGB 64), Karlsruhe 2006.

324

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Protestantismus bei, so verschärfte sich diese Pluralisierungstendenz noch unter den Bedingungen staatsfreier Existenz, nun freilich im Raume konkordienlutherischer Kirchen. Die Frage nach der Einheit der Kirche, zumal angesichts der Zersplitterung von „Freikirchen“, die allesamt dieselbe Bekenntnisgrundlage in Anspruch nahmen, wurde je länger je mehr unausweichlich.

2. 2.1

Die SELK – ein „ökumenisches Modell im Kleinen“ Kirchlich-verfassungsmäßige Integration

Nach den Verlusten an Gemeindegliedern, Kirchen, Pfarrhäusern und Friedhöfen besonders der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen infolge des Zweiten Weltkriegs gab seit Mitte der sechziger Jahre das Oberkirchenkollegium der (seit 1954 sogenannten) Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche dem Ziel einer Vereinigung der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen in Deutschland kirchenpolitisch den Vorrang. Die Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde auf Seiten der konkordienlutherischen Kirchen immer als Fortsetzung der altpreußischen Union mit anderen Mitteln angesehen. Infolge der Entscheidungen von Eisenach kündigten auch die preußischen „Altlutheraner“ die Kirchengemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen auf – ein Schritt, der in ihren Reihen durchaus nicht ohne zum Teil krisenhafte Phasen rezipiert wurde. Die 1947 zwischen der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche vereinbarten „Einigungssätze“ – ein Lehrdokument, das die bisher strittigen Fragen einer Lösung zuführen sollte – stellten schließlich die Bedingung der Möglichkeit für die Aufrichtung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen sämtlichen lutherischen Freikirchen in Deutschland dar. Die „Einigungssätze“ wurden denn auch von der Selbständigen evangelischlutherischen Kirche zustimmend zur Kenntnis genommen, ohne freilich förmlich rezipiert zu werden.37 Je deutlicher die lutherischen Landeskirchen den Vollzug der Abendmahlsgemeinschaft in der EKD befürworteten, desto klarer wurde auch die Distanzierung der freikirchlichen Lutheraner von einer Kooperationswilligkeit mit der VELKD. Die zunehmende Integrationsfähigkeit im Bereich der konkordienlutherischen Kirchen ist somit auch als Kehrseite eines Abstandnehmens von tendenziell als unionistisch verstandenen Entwicklungen innerhalb der lutherischen Landeskirchen zu deuten. Allerdings blieb der Erfolg all dieser Bestrebungen zunächst auf die Teilkirchen im Bereich der Bundesrepublik Deutschland – abgesehen von der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden – beschränkt.

37

Vgl. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 612–617.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

325

Die politischen Gegebenheiten brachten es mit sich, dass die auf dem Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik befindlichen Gemeinden der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche mehr und mehr ihre Eigenständigkeit betonten und sich schließlich Anfang der siebziger Jahre organisatorisch von den westdeutschen Glaubensgenossen trennten. Hier kam es zwar zunächst zu Annäherungen, die 1972 zur Gründung der „Vereinigung selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in der DDR“ führten;38 diese stellte jedoch nie einen vollständigen Zusammenschluss dar. 1984 wurde seitens der Evangelisch-Lutherischen Freikirche die Kirchengemeinschaft mit der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche aufgehoben.39 In der Bundesrepublik hingegen kam es 1972 zur Gründung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), in der sich die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche, die Evangelisch-Lutherische Freikirche und die (alte) Selbständige evangelisch-lutherische Kirche zusammenschlossen. In der Verfassung (Grundordnung) der SELK von 197240 sind die früher kontrovers diskutierten Positionen zur Amtstheologie in ein neues Gesamtkonzept integriert und balanciert. So ist dem Bischof als geistlichem Leiter der Kirche die „Kirchenleitung“ als ein Gremium aus den Pröpsten der ursprünglich drei, seit Vereinigung mit der Evangelischlutherischen (altlutherischen) Kirche in der ehemaligen DDR im Jahr 1991 vier Sprengel, weiteren fünf „Laien“-Kirchenrät(inn)en und dem Geschäftsführenden Kirchenrat (ein ordinierter Pfarrer) beigegeben. Gesetzgebendes Organ ist die „Kirchensynode“ aus ordinierten und nicht-ordinierten Kirchgliedern, deren Beschlüsse in Lehr-, Gottesdienst- und Kirchengemeinschaftsfragen allerdings der Vorberatung durch den „Allgemeinen Pfarrkonvent“ bedürfen. Insgesamt darf die Grundordnung der SELK als ein gelungener Versuch betrachtet werden, die den verschiedenen konfessionell-lutherischen Kirchen gemeinsame Bindung an die Heilige Schrift als das unverbrüchliche Wort Gottes und die Verpflichtung auf das Bekenntnis der lutherischen Reformation in Gestalt des Konkordienbuchs in eine integrierte Kirchenbildung umzusetzen, und dies unter Beachtung und mit theologisch verantworteter Bearbeitung der bisherigen Differenzen – Unterschiede wie Gegensätze. Die Erhebung des je größeren Konsenses in Fragen der verbindlichen Lehre und die Entdeckung von Konvergenzen in der kirchlichen Verfassung sowie die Besinnung auf die gemeinsamen Traditionen des bekenntnisgebundenen Luthertums ermöglichten 1972 die Gründung der SELK.41

38 39 40 41

Vgl. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 267–270. Vgl. a.a.O., 270–272. Vgl. a.a.O., 619–636. Der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche schloss sich 1976 die Evangelisch-lutherische Bekenntniskirche, die westdeutsche Nachfolgeorganisation der 1924 gegründeten und 1945 aufgelösten Evangelisch-lutherischen Freikirche in Polen an. 1983 konnte Kirchengemeinschaft zwischen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden, die seit 1965 eigenständige Wege ging, festgestellt werden. Durch die Einführung

326

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Trennende Positionen konnten abgebaut werden, weil die stete Besinnung auf die Aussagen von Schrift und Bekenntnis, die Einsicht in die historische Bedingtheit der jeweiligen ekklesialen und ekklesiologischen Positionierungen und die Bewusstwerdung für eine je größere gemeinsame „konkordienlutherische“ Identität und die gemeinsame Aufgabe lutherischen Zeugnisses Hand in Hand gingen. 2.2

Ökumenische Verantwortung

Die SELK bestimmt in ihrer Grundordnung (Verfassung) ihre Existenz im Raum der „Einen heiligen christlichen Kirche“, hat also, bei aller Betonung ihrer konfessionellen Verortung, den ökumenischen Horizont kirchlichen Daseins im Blick. Eine Folge des Zusammenschlusses von SELK und Evangelisch-lutherischer (altlutherischer) Kirche in der früheren DDR (1990) ist die Vollmitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland (ACK; seit 1991). Hier wird auch von der SELK ökumenische Verantwortung in kirchlicher wie gesellschaftlicher Absicht wahrgenommen. Mit der Unterzeichnung der Charta Oecumenica durch ihren Bischof (30.5.2003)42 hat die SELK ein weiteres Zeichen ihrer ökumenischen Selbstverpflichtung gesetzt; die Charta Oecumenica hat für den europäischen kirchlichen Kontext zutreffend formuliert: „Noch verhindern wesentliche Unterschiede im Glauben die sichtbare Einheit. Es gibt verschiedene Auffassungen, vor allem von der Kirche und ihrer Einheit, von den Sakramenten und den Ämtern.“ Zu Recht fährt dieses ökumenisch ehrliche Dokument fort: „Damit dürfen wir uns nicht abfinden“, und leitet daraus die Selbstverpflichtung der Kirchen ab, „uns beharrlich um ein gemeinsames Verständnis der Heilsbotschaft Christi im Evangelium zu bemühen“. Im Blick auf die Frage der Kirchengemeinschaft wird unzweideutig festgehalten: „Ohne Einheit im Glauben gibt es keine volle Kirchengemeinschaft.“ Die SELK hat somit Grundsätzen zugestimmt, die seit jeher zum Grundbestand ihrer konfessionellen Selbstvergewisserung und ihrer ökumenischen Verpflichtung gehört haben.

42

der Ordination von Frauen zum Amt der Kirche in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Baden scheint diese Kirchengemeinschaft neuerdings gefährdet. Trotz aller Bemühungen konnten in der DDR die unterschiedlichen Anschauungen in Bezug auf die beiden Themen Bibelkritik und Ökumene zwischen der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche nicht überwunden werden. Die Synode der ELFK beschloss am 26.5.1984 die vorläufige Suspension der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft gegenüber der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche. Durch die Umwälzung der politischen Verhältnisse in Europa seit 1989 wurde 1991 der Zusammenschluss von Selbständiger Evangelisch-Lutherischer Kirche und Evangelisch-lutherischer (altlutherischer) Kirche, der zuvor nur aufgrund der bestehenden politischen Grenzen verhindert worden war, möglich. In Deutschland kam es 2001 zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen der SELK und der Concordia-Gemeinde, evangelisch-lutherische Freikirche e.V. in Celle. Vgl. die Dokumentation in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 702–713.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

327

Die Vollmitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland seit 1991 führte zur Beteiligung an multikonfessionellen Vereinbarungen. Dazu zählt die am 29.4.2007 in Magdeburg auch von der SELK auf Beschluss ihrer Kirchenleitung unterzeichnete Erklärung der wechselseitigen Taufanerkennung.43 Innerhalb der weltweiten lutherischen Kirchenfamilie weiß sich die SELK eindeutig dem Internationalen Lutherischen Rat/International Lutheran Council (ILC) zugehörig. Im europäischen Kontext wurde die Grundüberzeugung des unauflöslichen Zusammenhangs der Übereinstimmung im Glauben, Lehren und Bekennen mit dem Vollzug gottesdienstlicher, zumal eucharistischer Gemeinschaft in kirchlicher Verbindlichkeit auf der Europäischen Regionalkonferenz 2004 in Antwerpen gemeinsam mit konkordienlutherischen Kirchen aus ganz Europa, namentlich aus Ostmittel- und Osteuropa und dem Baltikum formuliert. Hier wird festgehalten, dass Kirchengemeinschaft den Konsens im Glauben, Lehren und Bekennen zur Voraussetzung hat.44 2.3

Die Re-Aktivierung der anti-unionistischen Grundentscheidung

Kurz vor Abschluss der Verhandlungen, die schließlich 1972 zum Zusammenschluss eines Großteils der bekenntnisgebundenen lutherischen Kirchen Deutschlands in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche führten, legten die damals noch „verbündeten“ Kirchenleitungen ein Positionspapier zur Frage der Kirchengemeinschaft vor, das in erkennbarer Auseinandersetzung mit den Bestrebungen innerhalb des landeskirchlich bestimmten Protestantismus in Deutschland und darüber hinaus steht, die schließlich 1973 in die „Leuenberger Konkordie“ mündeten.45 Dagegen setzten die konkordienlutherischen Kirchen auf dem Weg in die SELK die Ablehnung jeder Abendmahlsgemeinschaft ohne Glaubenseinigkeit.46 Die Rezeption der „Leuenberger Konkordie“ durch sämtliche Mitgliedskirchen der EKD, einschließlich der lutherischen Landeskirchen, hat diese nach der herrschenden Interpretation der „Leuenberger Konkordie“ in eine engere kirchliche Gemeinschaft geführt, die folgerichtig die Frage nach der ekklesialen Dignität der EKD, auch von (landeskirchlich-)lutherischer Seite, neuen Antworten zugeführt hat.47 Nicht zufällig stellt meines Erachtens das Dokument „Kirchengemeinschaft

43 44 45 46 47

Vgl. die Dokumentation in: a.a.O., 714f. Vgl. die Dokumentation in: a.a.O., 689. Wilhelm Hüffmeier/Udo Hahn (Hg.), Evangelisch in Europa. 30 Jahre Leuenberger Kirchengemeinschaft, Frankfurt/M. 2003. Vgl. Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 669–673. Vgl. etwa Friedrich-Otto Scharbau, Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Die theologischen und juristischen Implikationen der Leuenberger Konkordie als Perspektiven evangelischer Ökumene, in: JMLB 51 (2004), 59–79.

328

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

nach evangelischem Verständnis“48, das vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2001 veröffentlicht wurde, eine Fortschreibung jener leuenbergischen Ansätze dar, hat doch die EKD die „Leuenberger Konkordie“ 1983 in Artikel 1 ihrer Grundordnung aufgenommen und 1999 auch formell unterzeichnet.49 Der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche hat solcher50 Vereinnahmungsstrategie gegenüber vor allem die Modifikation des Begriffs von Kirchengemeinschaft51, wie er in diesem Text aus der EKD gebraucht wird, als Versuch kritisiert, eine flächendeckende Unionisierung der evangelischen Landschaft in Deutschland zu legitimieren. Insofern kann die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche der von Präsident Friedrich Hauschildt vom Amt der VELKD postulierten Option nicht zufallen, „Kirchengemeinschaft ohne lehrmäßige Übereinstimmung“52 sei für lutherische Kirchen ein denk- und gangbarer Weg, der ihre konfessionelle Identität in kirchlicher Verbindlichkeit nicht beeinträchtige – im Gegenteil. 2.4

Die Implementierung konkordienlutherischer Grundsätze in der SELK und ihre Grenzen

Kirchliche Grundüberzeugungen und Verhaltensmaßstäbe, die in den zwischenkirchlichen Außenbeziehungen zur Geltung kommen, müssen um der kirchlichen und ökumenischen Wahrhaftigkeit willen freilich auch im Innenbereich Gültigkeit haben. Dementsprechend hat die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche in ihrer Grundordnung (Verfassung) wie in einer Reihe kirchenrechtlicher Bestimmungen bis hin zu liturgischen Formularen die Grundsätze der Kirchenge48

49 50

51

52

Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Ein Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 69), 2001. Martin Friedrich, 30 Jahre Leuenberger Kirchengemeinschaft. Was die Leuenberger Konkordie bewirkt hat, in: Hüffmeier/Hahn, Evangelisch in Europa (wie Anm. 45), 84. So wird die „römisch-katholische Vorstellung von der sichtbaren vollen Einheit der Kirchen [sc. als] mit dem hier entwickelten Verständnis von Kirchengemeinschaft nicht kompatibel“ gebrandmarkt; den orthodoxen Kirchen wird bescheinigt, dass ihre ekklesiologischen Vorstellungen „in erkennbarer Spannung zur Leuenberger Konkordie“ stehen, vgl. Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis (wie Anm. 48), 13. Diese Verschiebung ist präludiert und intendiert von Eilert Herms, Das evangelische Verständnis von Kirchengemeinschaft, 1988, veröffentlicht in: ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft, Bd. 2 (MThSt 68), Marburg 2003, 303–315; Herms versucht, zwischen eine-Kirchesein und Kirche-Sein begrifflich zu differenzieren; ersteres komme Einzelkirchen, letzteres Gemeinden und Gemeinschaft(en) von Kirchen zu (a.a.O., 309); dementsprechend sei die EKD eine „Gemeinschaft von Kirchen“, also „Kirche“, wenn auch (noch) nicht „eine Kirche“ (a.a.O., 312– 315). Friedrich Hauschildt, Wie lassen sich lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit und die Zustimmung zur Leuenberger Konkordie miteinander vereinbaren?, in: Werner Klän (Hg.), Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Millenniumswende (OUH Ergänzungsband 4), Göttingen 2007, 46–60, hier 56.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

329

meinschaft auch nach innen festgestellt. Diese zielen nach innen wie nach außen darauf, in die „Kirchengemeinschaft des reinen Evangeliums und der stiftungsgemäßen Sakramentsverwaltung“ – allerdings nicht schrankenlos – einzuladen. So gehören die Feststellungen über die Kirchengemeinschaft zu den Grundartikeln der Verfassung („Grundordnung“) der SELK; demnach wird für theologisch zutreffend und darum rechtlich verbindlich gehalten: „Artikel 2 Kirchengemeinschaft (1) Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche pflegt Kirchengemeinschaft mit allen Kirchen, die Lehre und Handeln in gleicher Weise an die Heilige Schrift und das lutherische Bekenntnis binden. (2) Sie verwirft die der Heiligen Schrift und den lutherischen Bekenntnissen widersprechenden Lehren und ihre Duldung sowie jede Union, die gegen Schrift und Bekenntnis verstößt. (3) Sie weiß sich darin einig mit der rechtgläubigen Kirche aller Zeiten.“

Dementsprechend hat die Theologische Kommission der SELK in einer Stellungnahme vom Oktober 2012 festgestellt: „Auch im Blick auf die gewandelten kirchlichen Verhältnisse und Beziehungen seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist festzuhalten, dass Kirchengemeinschaft den Konsens im Glauben, Lehren und Bekennen (magnus consensus) zur Voraussetzung hat. Diese Überzeugung schließt die Wahrnehmung ein, dass die Fragen kirchlicher Gemeinschaft in konfessioneller Verbindlichkeit angesichts der Herausforderungen, die der europäische Einigungsprozess und dass Entwicklungen, die mit dem Stichwort ‚Globalisierung‘ verknüpft sind, an die Kirchen stellt, auch aus Sicht der konkordienlutherisch geprägten Kirchen neu bedacht werden müssen. Dabei ist es ein genuin orthodoxer, katholischer und evangelischer, mithin wahrhaft ökumenischer Gedanke, dass Gemeinschaft im Gottesdienst, zumal am Altar, als Ausdruck völliger kirchlicher Gemeinschaft den Konsens im Glauben, Lehren und Bekennen unabdingbar zur Voraussetzung hat.“

Sie hat überdies zustimmend Thesen der Europäischen Regionalkonferenz des Internationalen Lutherischen Rates zur Ekklesiologie aus dem Jahr 2004 aufgenommen.53 Damit ist biblischen Grundsätzen und bekenntnismäßigen Ansätzen im Horizont ökumenischer Verantwortung Rechnung getragen. Die Vorgegebenheit kirchlicher Einheit, der „magnus consensus“ als Bedingung ihrer – vorzüglich gottesdienstlichen – Gestaltung, die Ortsbestimmung nach der Konfessionskirche in der einen Christenheit, der Rekurs auf die kircheschaffenden Wirkmittel Gottes und der damit unauflöslich und zugleich verbundene Ausdruck kirchlicher Einheit – sie alle sind hier gebündelt zum Ausdruck gebracht, um lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit und ökumenischer Verantwortung zugleich zu bestimmen. Diese Prinzipien finden als Soll-Bestimmungen Niederschlag in den rechtlichen 54 Regelungen der Lebensordnung („Wegweisung“) der SELK; jedoch wird erkenn53

Vgl. unten Abschnitt 3, 330–338. Der Wortlaut in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 689.

330

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

bar, dass bestimmte seelsorgliche Situationen die Möglichkeit einer Sakramentszulassung, jenseits und unbeschadet dieser Grundsätze, eröffnen. Dass damit die Problematik der Ekklesiologie berührt wird, ist in den Erwägungen im Vorfeld einer verbindlichen Regelung durch den Allgemeinen Pfarrkonvent der SELK durchaus bewusst;55 dass solches Handeln in Gewährung und Verweigerung eucharistischer Gemeinschaft ökumenische Implikationen enthält, ist aus den einschlägigen Bestimmungen über „Ökumenische Verantwortung“ ersichtlich.56 Dementsprechend sind die liturgischen Formulare der Einladung zum Altarsakrament in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende ausgelegt. Die agendarischen „Einladungen zum heiligen Abendmahl“ scheinen demgegenüber Öffnungsklauseln darzustellen, die diesseits der grundlegenden ekklesialen Bestimmungen Möglichkeiten zu Einzelfallregelungen unbeschadet der formellen Kirchenzugehörigkeit zu Kirchen eröffnen, die sich nicht „in gleicher Weise an die Heilige Schrift und das lutherische Bekenntnis binden“: „Zum Empfang der heiligen Gaben ist jeder herzlich eingeladen, der diesen Abendmahlsglauben in der Sakramentsgemeinschaft der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche bekennt.“ Beziehungsweise: „Wer getauft ist und in der Sakramentsgemeinschaft der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche diesen Glauben und dieses Bekenntnis teilt, 57 der ist herzlich eingeladen, den Leib und das Blut des Herrn zu empfangen.“

Hier scheint mir jenseits der allemal zugestandenen seelsorglichen Verantwortung der ordinierten, berufenen und eingeführten Pfarrer für die Zulassungspraxis in ihrer Gemeinde ein weiterreichender Klärungsbedarf zu bestehen, wenn und, wie mir scheint, weil diese ursprünglich für besondere Einzelfälle gedachte Öffnungsklausel inzwischen den in der SELK weithin praktizierten „Normalfall“ darstellt; sollte diese Einschätzung zutreffen, bedürfte es, schon um der Redlichkeit und Stimmigkeit ihrer pastoralen Praxis willen, einer kirchenweit getroffenen, grundsätzlichen Bestimmung.

54 55 56 57

Mit Christus leben. Eine evangelisch-lutherische Wegweisung (Lutherische Orientierung 6), Hannover 2009. Abendmahlsgemeinschaft im Kontext der Ekklesiologie, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 677–680. Kirchengemeinschaft. Bestimmungen aus der Handreichung „Ökumenische Verantwortung“, in: Klän/da Silva, Quellen (wie Anm. 1), 680–682. Fürbitten, Auszug aus der Evangelisch-Lutherischen Kirchenagende, Bd. 1, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Freiburg 1997, 120, Ziffern 23 und 24.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

3. 3.1

331

Zur Ekklesiologie aus konkordienlutherischer Sicht58 Kirche und Bekenntnis – zum ekklesialen Selbstverständnis der SELK

Der Ernst kirchlichen Bekennens und Bekenntnisses, das in seiner Gründung auf das unverbrüchliche Wort Gottes in unauflöslicher Zuordnung persönlich, theologisch, kirchlich identitätssichernd wirkt, ergibt sich aus seiner eschatologischen Perspektive. Im Spannungsfeld der tiefgegründeten Überzeugung von der in Christus vorgegebenen Einheit der Christenheit, notwendiger – wenngleich schmerzlicher – Trennungen um der Reinheit von kirchlicher Verkündigung und kirchlichen Lebensvollzügen willen, und von endzeitlich verantwortetem Eintreten für die unaufgebbaren biblischen Einsichten bildet sich lutherische Identität als persönliche Gewissheit des Heils in Christus, bewährt sich lutherische Identität als gemeinschaftliche, d. h. kirchlich-verbindliche Aussage, und wird sie bewahrt (und bewehrt) als gewissensbindende Überzeugung in letzter Verantwortlichkeit. Dieser Ansatz umfasst allerdings auch eine ökumenische Dimension. Gerade konfessionelle Lutheraner verstehen sich als evangelisch, katholisch und orthodox im besten Sinne des Wortes zugleich und bekennen sich zu der Einen Kirche, die ewig bleiben soll.59 So reklamiert bereits das Augsburger Bekenntnis für seine Aussagen, legitimer Ausdruck des Einen Glaubens der Einen Kirche zu sein, mithin einen im besten Sinn des Wortes ökumenischen Ansatz und Anspruch. Sie hat also die universale Christenheit im Blick.60 Der Eingang von CA I: „Ecclesiae magno consensu apud nos docent […]“ und der damit hergestellte Bezug auf die altkirchlichen Bekenntnisse konkretisieren dies als gegebenen Sachverhalt bezüglich der ihnen zufallenden Kirchen(tümer). Insofern gilt gerade aus konkordienlutherischer Sicht: These 1: Die Einheit der Kirche ist Gabe des Dreieinigen Gottes. Als solche ist sie eine Wirklichkeit, die all’ unserem Bemühen um Klärung und Handhabung der Fragen kirchlicher Gemeinschaft vorgeordnet und vorgegeben ist.

Deswegen geht die Erneuerung der Kirche in der Reformation immer wieder einher mit dem Rückgriff auf den Ursprung und auf die Urkunde des Glaubens.61 Deshalb ist es aber wichtig, zu einer Übereinstimmung darüber zu kommen, einen „Kon-

58 59 60

61

Dieses Kapitel nimmt die Thesen zur Kirchengemeinschaft der European Regional ILC Conference in Antwerpen von 2004 zustimmend und erweiternd auf; vgl. Anm. 53. „Es wird auch gelehret, dass alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben“ (CA VII, BSLK, 61). Harding Meyer/Heinz Schütte (Hg.), Confessio Augustana – Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn/Frankfurt/M. 1980, 172f. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, Berlin/New York 1996, 166–192.

332

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

sens“62 darüber zu statuieren, was denn dieses Evangelium sei, und zwar in der Absicht, dieses Evangelium auszuteilen.63 Dabei erheben die Aussagen des lutherischen Bekenntnisses auf der Grundlage des in der Heiligen Schrift verschriftlichten Wortes Gottes dazu gleichermaßen in Kontextualität wie in Kontinuität Anspruch auf wahrhaft ökumenische Geltung. Schriftbezug, Sachbezug, Traditionsbezug und Zeitbezug greifen dabei so ineinander, dass das Bekenntnis und sein Lehrgehalt als bündige Schriftauslegung erkennbar werden. Die („neu“-)lutherischen Väter und Mütter im 19. Jahrhundert wollten das Erbe des Konkordienluthertums aus dem 16. Jahrhundert für sich und ihre Nachkommen ungeschmälert erhalten. Nicht zufällig war der Kristallisationspunkt des konfessionellen Aufbruchs, der schließlich in die Entstehung selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen führte, zunächst das Sakrament des Altars.64 Sein biblisch-lutherisches Verständnis in kirchlicher Verbindlichkeit zu bewahren, es gegen jeden falschen Kompromiss in seiner Ausschließlichkeit zu bewehren, war das Anliegen, das die Bekenntnislutheraner auf „Einsame Wege“65 zwang. Sie waren es, die die konkordienlutherischen Grundsätze des 16. Jahrhunderts neu ins Bewusstsein hoben und erneut ekklesiologisch umsetzten. So wollten sie lutherische Identität in ekklesialer Dimension gestalten, indem sie geltend machten, dass Gemeinschaft im Gottesdienst, zumal am Altar, als Ausdruck völliger kirchlicher Gemeinschaft den Konsens im Glauben, Lehren und Bekennen unabdingbar zur Voraussetzung hat. 3.2

Kirchesein im Kontext von Confessio Augustana VII und VIII

Tatsächlich stellt CA VII eine frühe bekenntnishafte Darlegung des Kirchenbegriffs dar – die „Magna Charta der lutherischen Ekklesiologie“ –, auch wenn die ekklesiologischen Aussagen sich nicht in diesem Artikel (und den folgenden) erschöpfen, sondern im Gesamtzusammenhang des Bekenntnisses aufgesucht werden müssen und überdies die Konzeptualisierung der Lehre von der Kirche mit diesem Doku-

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Der Begriff begegnet im Konkordienbuch bereits in der Vorrede (BSLK, 4); er wird hier diachron, vor allem in ökumenischer Absicht, wie synchron gebraucht. Denn das Evangelium, um dessen Wiederentdeckung und Bewahrung es in der Reformation ging, ist dasselbe, das in der Heiligen Schrift durch die Apostel und Propheten bezeugt ist, und kann kein anderes Evangelium sein. „Dies ist gnug zu wahren Einigkeit der christlichen Kirchen [Singular, vgl. den lateinischen Text: ad veram unitatem ecclesiae], dass da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden“ (CA VII, BSLK, 61). Vgl. Volker Stolle, Johann Gottfried Scheibel. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 16.9.1983, in: LuThK 7 (1983), 81–107, bes. 83ff.; Werner Klän, Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), in: Peter Hauptmann (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel 1783–1843 (KiO.M 20), 11–29. Vgl. die programmatisch betitelte Autobiografie von Rudolf Rocholl, Einsame Wege, Bd. 1, Leipzig 1881, ²1898.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

333

ment nicht abgeschlossen ist.66 Soviel aber kann gewiss gesagt werden, dass die Confessio Augustana die Auffassung einer in Christus grundgelegten Einheit der Kirche vertritt. Dies ist auch, aber nicht allein der Lage des Jahres 1530 geschuldet; insofern trägt das Bekenntnis von Augsburg in gewisser Hinsicht einen „vorkonfessionellen“67 Charakter an sich. Wenn nun diese Eine Christenheit als „congregatio sanctorum“ bestimmt wird, so ist damit die Sammlung und Vereinigung von Menschen bezeichnet, die durch die von Gott dazu bestimmten, glaubenschaffenden Wirkmittel des Heiligen Geistes, nämlich Wort und Sakramente (CA V) in den Bereich des göttlichen Wohlwollens (Heilswillens) gerufen sind. Insofern gilt, dass Wort und Sakrament als die kircheschaffenden Wirkmittel zugleich die Kennzeichen des Vorhandenseins von Kirche sind: Kirche entsteht und ist erkennbar an Wort und Sakramenten; daher sind diese nicht bloß als „Erkenntnisgrund“ zu kennzeichnen, sondern vielmehr als „Realgrund“ des Kircheseins der Kirche wie ihrer Einheit zu bestimmen.68 Dabei ist zu beachten, dass Wort und Sakramente im Vollzug ihrer Verkündigung bzw. Spendung Glauben wecken und Kirche ins Dasein treten lassen.69 Und tatsächlich ist „docere“ bzw. „doctrina evangelii“ zunächst in der Grundbedeutung von „predigen, verkündigen“ zu verstehen, wie der deutsche Text von CA VII ausweist. Gleichwohl ist damit eine lehrhafte Konnotation des Wortfeldes schon im Augsburger Bekenntnis selbst nicht ausgeschlossen, da ja eben jene „doctrina evangelii“ wie auch die „administratio sacramentorum“ einer inhaltlichen Bestimmtheit unterliegt, wie sie im Zeugnis der Heiligen Schrift grundlegend vorgegeben ist. Differenzen in Bezug auf das Verständnis des Evangeliums und die Spendung der Sakramente wirken dementsprechend trennend.70 Allerdings ist bezüglich der konkreten Sammlung von Menschen um die glauben- und kircheschaffenden Mittel nicht bestimmbar, wer zu den „vere credentes“ gehört. Dieser Sachverhalt lässt sich so zusammenfassen: These 2: Die Kirche ist keine rein spirituelle Größe, weil ihr Dasein nicht ablösbar ist vom Vollzug der sie schaffenden und kennzeichnenden Wirkmittel Gottes des Heiligen Geistes, Wort und Sakrament: Ihr wahres Wesen ist nicht ohne leibhafte Gestalt. Die Kirche ist jedoch als Reindarstellung der wahrhaft Gläubigen in dieser Zeit und Welt nicht zu haben; in ihrer zeitlich-irdischen Vorfindlichkeit ist sie immer „corpus permixtum“. Dennoch ist sie erkennbar an den externa signa/notae ecclesiae, 66

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Vgl. Herrmann Sasse, Kirche und Kirchen. Über den Glaubenssatz von der Einheit der Kirche (1930) in: ders., In statu confessionis, Bd. 1: Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin und Schleswig-Holstein 1975, 155–167, hier 161. Leif Grane, Die Confessio Augustana. Einführung in die Hauptgedanken der lutherischen Reformation, Göttingen ²1980, 76, spricht von „vorkonfessionalistisch“; dieser Begriff ist ein Anachronismus. Sasse, Kirche und Kirchen (wie Anm. 66), 163; Holsten Fagerberg, Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften von 1529 bis 1537, Göttingen 1965, 281. Fagerberg, Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften (wie Anm. 68), 282f. A.a.O., 285.

334

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

schriftgemäßer Wortverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsspendung (CA VII). Diese dienen als Konstitutionsgrund von Glaube und Kirchesein und zugleich als Erkennungsmerkmale des Vorhandenseins von Kirche.

3.3

Einheit im Kontext von Confessio Augustana VII und VIII

Wort, Sakramente und Kirche sind also als zusammengehörige Größen zu fassen. Dabei ist zuzugestehen, dass nicht „stummer Besitz von Lehre“ die Kirche ins Dasein treten lässt, auch dass „die Kirche in ihrem Wesen nicht bestimmt [ist] durch den stummen Besitz einer evangeliumsgemäßen Sakramentslehre“71 – welcher ernstzunehmende lutherische Theologe hätte dies aber je behauptet? Aber der Vollzug des Evangeliums mittels seiner Anwendungsgestalten in Wort und Sakramenten ist nicht ablösbar von der inhaltlichen Bestimmung eben dessen, was unter Evangelium nach dem Befund der Heiligen Schrift zu gelten hat. Die Entstehung, das Vorhandensein und die Erkennbarkeit der Kirche als „Versammlung aller Glaubigen und Heiligen“ (CA VII) sind jedenfalls nicht zu haben ohne den konstitutiven Bezug auf die Faktoren dieses Vorgangs. Daher ist der Relativsatz in CA VII „in qua […]“ als Epexegese zu „congregatio sanctorum/vere credentium“ (CA VIII) zu lesen.72 Nur in diesem Konnex ist überhaupt anzunehmen und davon zu reden, dass Kirche entsteht und besteht. Die Selbstbindung Gottes des Heiligen Geistes an die Wirkmittel von Wort und Sakramenten impliziert die bleibende Gebundenheit des Glaubens und der „Versammlung aller Heiligen und Glaubigen“ an eben diese Wirkmittel.73 Wenn demnach die Kirche durch die Predigt des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente entsteht, gilt: Zur Einheit der Kirche ist nötig, was die Kirche zur Kirche macht. Und umgekehrt: Was die Kirche zur Kirche macht ist das, was zu ihrer Einheit erforderlich ist.74 Zugleich ist mit den beigefügten Adverbien „pure“ und „recte“ indiziert, dass der Zusammenhang zur doktrinellen Dimension gegeben ist, zumal die Confessio Augustana selbst den Konnex mit dem Glauben der Einen Christenheit, wie er etwa in den drei altkirchlichen Symbolen Niederschlag gefunden hat, betontermaßen festhält und ihm dienen will.75 Wenn überdies das Bekenntnis als Antwortgeschehen auf das Ergehen von Wort und Sakramenten verstanden werden kann, dann ist es zugleich auch Ausdruck von Kontinuität, Einheit und Wahrheit des Glaubens in der

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Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 1948, 270f. A.a.O., 273. Grane, Die Confessio Augustana (wie Anm. 67), 73. Harding Meyer/Heinz Schütte, Die Auffassung von Kirche im Augsburgischen Bekenntnis, in: dies. Confessio Augustana (wie Anm. 60), 168–197, hier 170. Schlink, Theologie (wie Anm. 71), 275.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

335

Einen Christenheit an allen Orten und durch alle Zeiten.76 In dieser Konzentration liegt ein Specificum lutherischer Ekklesiologie.77 Insofern gilt: These 3: Da die Kirche durch die Predigt des Evangeliums und die Spendung der Sakramente ihr Dasein hat, ist zur Einheit der Kirche nötig, was die Kirche zur Kirche macht: Ihr Einssein hängt am Evangelium in der Gestalt schriftgemäßer Verkündigung des Wortes Gottes und stiftungsgemäßer Spendung der Sakramente.

3.4

Implikationen des „satis est“

Sieht man nur auf die Formulierungen in CA VII, könnte der Eindruck entstehen, dass in der Tat allein Verkündigung und Sakramente dasjenige seien, „was die Existenz der geistlichen Einheit bedingt“78. Dabei ist im Kontext der Bekenntnisaussagen das „satis est“ selbstverständlich zunächst bezogen auf die Rechtfertigung des Sünders sola gratia, sola fide, propter Christum. Denn die Alternative, das „nec necesse est“, bezeichnet und bezieht sich auf Sachverhalte in der Kirche, die nicht heilsnotwendig sind und darum auch nicht als heilsnotwendig oder, ekklesiologisch gewendet, als kirchenkonstitutiv ausgegeben werden dürfen.79 Allerdings liegt freilich eine Überspitzung in der Behauptung, dass das „satis est“ bzw. „nec necesse est“ „in erster Linie nicht einmal eine ekklesiologische, sondern eine soteriologische Aussage“80 sei, so wenig die elementare Dimension christlicher Freiheit und also des Heils in der Behandlung dessen, was zum Kirchesein und zur Einheit der Kirche genügt oder nicht notwendig ist, abgeblendet werden darf.81 Diesem Befund widerspricht nicht, dass die Confessio Augustana von vornherein Anspruch auf kirchliche Verbindlichkeit erhebt; dafür steht nicht nur die Übernahme des altkirchlichen Dogmas in den „magnus consensus“ konfessorischer Aussagen, sondern auch die offenkundige Intention, damit zugleich den „Sollgehalt der Verkündigung“ (Werner Elert) für die reformatorischen Kirchentümer anzugeben und auszuweisen. Bekenntnis und Lehrnorm sind in der Confessio Augustana unlöslich miteinander verknüpfte Dimensionen desselben Sachverhalts.82 Dabei tritt das Bekenntnis als Konsens zwar nicht gleichrangig neben Wort und Sakramente, als wäre es selbst ein Konstitutivum der Kirche; vielmehr bleibt das Bekenntnis Wort und Sakramenten dienend zugeordnet, und zwar auf explika76 77 78 79 80 81 82

Meyer/Schütte, Die Auffassung von Kirche (wie Anm. 74), 168–197, hier 170. Grane, Die Confessio Augustana (wie Anm. 67), 74f. A.a.O., 76. Meyer/Schütte, Confessio Augustana (wie Anm. 60), 185. A.a.O., 187. A.a.O., 186. Georg Kretschmar, Die Bedeutung der Confessio Augustana als verbindliche Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche, in: Heinrich Fries/Erwin Iserloh u. a.,Confessio Augustana – Hindernis oder Hilfe?, Regensburg 1979, 38.

336

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

tive und (abgeleitet-)normative Weise. In diesem Sinn fungiert das Bekenntnis freilich auch als orientierende und integrierende Instanz, wie immer die dementsprechende Lehrautorität in der Kirche strukturell geordnet werden mag.83 Dass im Horizont lutherisch-reformatorischer Theologie und Kirche das Evangelium als inhaltliches Erst- und Letztkriterium für alle Verkündigung der Kirche und seine sonstigen Applikationsgestalten in der Kirche und damit auch für alle Lehrautorität fungiert, ist damit zugleich gesetzt, ist es doch wesentlich „Lehre vom Glauben an Christum“ (CA XV).84 So ist das Bekenntnis als vorgängiger Konsens85 in Geltung, wenn und weil es seine Selbstunterscheidung von Wort und Sakramenten als den Faktoren des Kircheseins und kirchlicher Einheit leistet, ohne zu unterschlagen, dass es zugleich von diesen Faktoren selbst bestimmt ist und auf sie zurückverweist. In diesem Sinn sind die Aussagen über den zur Einheit der Kirche erforderlichen Konsens „stets reflexiv zu nehmen, nämlich als Ausdruck ihres konfessorischen Eigenverständnisses und als selbstbezügliche Bestimmung ihres Bekenntnisanspruchs“86. Dieser Sachverhalt kann gebündelt werden in der These 4: Der Dienst an der Einheit muss Dienst an der Universalität sein, aber immer zugleich Dienst an der Wahrheit des Evangeliums. Der „consensus de doctrina Evangelii“ ist Faktor der Bestätigung und Betätigung kirchlicher Einheit. Darum hat das „satis est“ von CA VII nicht die Bedeutung eines Minimalkonsenses, sondern des Fundamentalkonsenses, der als Gemeinschaft im Glauben, Lehren und Bekennen in der Einen Christenheit implementiert wird.

3.5

Konsens in der Lehre als Moment kirchlicher Einheit

Eine reduktionistische Sicht, die allein auf die Wirkmittel von Wort und Sakramenten fixiert bleibt, wenn es um die Bestimmung des Grundes und der Einheit der Kirche zu tun ist, wird weder der Confessio Augustana, noch einer Bekenntnishermeneutik gerecht, die das Augsburger Bekenntnis im Gesamtzusammenhang des Konkordienbuchs liest, weil dieses als Corpus Doctrinae verfassungsgemäß den Bekenntnisstand eines Kirchentums (wie z. B. der SELK) markiert. Wenn freilich, wie in den Dokumenten der lutherischen Bekenntnisbildung seit den Katechismen geschehen, „Wort und Sakrament wissbar und erkenntlich bestimmt werden als Medien unbedingter und vorbehaltloser göttlicher Gnade, wel83 84 85

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Meyer/Schütte, Confessio Augustana (wie Anm. 60), 194. A.a.O., 195. Der Ausdruck bei Reiner Preul, Was bedeutet die kirchentheoretische These: Kirche wird durch die Auslegung ihrer Lehre geleitet?, in: Klaus Grünwaldt/Udo Hahn (Hg.), Profil – Bekenntnis – Identität. Was lutherische Kirchen prägt, Hannover 2003, 69–97, hier 79. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 2, Berlin/New York 1998, 148.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

337

che der Glaube ergreift“87, dann sind dieser Wirklichkeit auch die Lehre der Kirche – sowohl unter ihrem Verkündigungsaspekt als auch nach ihrem doktrinellen Gehalt – und der Lehrkonsens zugeordnet. Lehre und Lehrkonsens kommen von den Gnadenmitteln her und laufen auf sie zu, sind ihnen dienend zugeordnet. Lehre und Lehrkonsens dürfen und können dabei die Wirkmittel Gottes nicht ersetzen oder in Konkurrenz zu ihnen treten, wenn sie nicht den ihnen innewohnenden Sinn verfehlen wollen. Indem also nach dem Wortlaut von CA VII zu betonen ist, dass die Übereinstimmung über die Verkündigung/Lehre des Evangeliums und die Verwaltung/Spendung der Sakramente für die wahre Einheit der Kirche hinlänglich sei („ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum“), dann sind nicht bloß die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente in ihrem Vollzug hinreichend für die Einheit der Kirchen. Vielmehr tritt die Verständigung und das Einverständnis über das, was von der Heiligen Schrift her als pura doctrina evangelii und recta administratio sacramentorum zu bestimmen ist, zumindest in explika88 tivem Sinn, hinzu. Für die Confessio Augustana ist zu beobachten, dass sie in der lutherischen Bekenntnisbildung gewiss auch unter dem Gesichtspunkt eines Bekenntnisaktes, also aktualer Rechenschaftslegung und reformatorischen Glaubenszeugnisses gesehen wird.89 In der weiteren Rezeptionsgeschichte der Confessio Augustana wird sie als Lehrcorpus angesehen, das in seiner Textgestalt eine standardisierende und homogenisierende Funktion bildet, mit deren Hilfe die Evaluation der kirchlichen Verkündigung und Praxis, vornehmlich des Gottesdienstes, bezüglich ihrer Schriftkonformität und reformatorischen Ausrichtung vollzogen werden kann.90 Die mit diesem Befund festgestellte Zeitgenossenschaft der lutherischen Bekenntnisbildung ist nicht gegen die universale Geltung ihrer Aussagen auszuspielen.91 In diesem Horizont erscheint das Bekenntnis im Konsens als die von den Gnadenmitteln herkommende und auf sie weisende Ausdrucksgestalt evangeliumsgemäßer Bestimmtheit, nämlich in der Wahrnehmung und Anerkennung, ja, Anwendung der Wort und Sakramenten innewohnenden promissio Dei.92 Darum ist zu behaupten:

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A.a.O., 312. Wenz verkürzt diesen Sachverhalt, wenn er unter Berufung auf Ernst Kinder formuliert: „In diesem Sinne ist die Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament für das Kirchesein der Kirche sowohl notwendig, als Auch hinreichend und als Kriterium kirchlicher Einheit suffizient, was in CA VII nachgerade gegen die ekklesiologisch Notwendigkeit der traditiones humanae und zeremonieller Menschensatzung und ihrer Gleichförmigkeit gewendet wird“ (a.a.O., 313). Robert Kolb, Confessing the Faith: Reformers Define the Church 1530–1580, St. Louis/MO, 1991, 46. A.a.O., 48f. A.a.O., 52f. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften 2 (wie Anm. 86), 149.

338

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

These 5: Der „magnus consensus“ (CA I) ist nicht das Evangelium selbst, aber als Artikulation geglaubter Gewissheit auch nicht bloß menschliche Ausdrucksform, sondern Ausdruck des Evangeliums selbst, das sich auch in menschlichen Sätzen zur Sprache bringt und damit Geltung verschafft. Solcher Konsens ist den Gnadenmitteln dienend zugeordnet, verlangt aber nach verbindlicher und kommunikabler, d. h. fassbarer, überprüfbarer Sprachgestalt.

3.6

Kirchliche Identität als Einheit in der Wahrheit

Evangelium und Sakramente als Faktoren und Indikatoren des Kircheseins der Kirche und ihrer Einheit sind nicht inhaltlich beliebige, sondern in ihrem Gehalt klar bestimmte und bestimmbare Größen und als solche auch konsensfähig formulierbar.93 Auf diesem Hintergrund sind dann auch Lehrentscheide möglich, ja geboten – und werden in den Damnationen schon der Confessio Augustana (und der übrigen Bekenntnisschriften) als Lehrverurteilungen auch vollzogen. Denn die Übernahme der Schriftbindung und Bekenntnisgeltung in Gestalt der Ordinationsverpflichtung ist gleichzusetzen mit dem Eintreten in den Bereich eines vorgängigen Konsenses, in den einstimmt, wer in den Dienst dieser Kirche eintritt; dieser Sachverhalt, das Einstimmen in die vorlaufende Übereinstimmung der kirchlichen Selbstverpflichtung, muss auch einklagbar sein, weil er die Bedingung konsensfähi94 gen kirchlichen Lehrens überhaupt darstellt. Denn Einheit der Kirche ist fundamental und prinzipiell nur als Einheit in der Wahrheit zu fassen, „im Bekenntnis des einen christlichen Glaubens“; dementsprechend ist vorausgesetzt, dass es eindeutige, plausible, nachvollziehbare Kriterien für wahre und falsche Lehre gibt95 – nämlich die aus der Heiligen Schrift erhebbare Wahrheit des Glaubens, Lehrens und Bekennens, und damit auch für wahre und falsche Kirche – folgt man jedenfalls den Überzeugungen der lutherischen Bekenntnisse (übrigens auch den Grundannahmen ihrer Gegner!). Wenngleich zugestanden werden kann, dass kirchliches Lehren eine Reflexionsgestalt des Glaubens darstellt, so muss doch festgehalten werden, dass diese Reflexionsgestalt nicht ablösbar ist von dem Glauben, den sie artikuliert, weil dieser Glaube auch auf seine Selbstartikulation aus ist (2Kor 4, 13). Auch wenn zuzugeben ist, dass „Glaube“ und „Lehre“ einen je „andersgearteten Gegenstandsbezug“ 96 haben, kann doch nie davon abgesehen werden, dass Lehre immer zugleich Reflex des Glaubens selber ist und daher nicht in dem Sinn von dem Vollzug ablösbar, den sie zum Ausdruck bringt („Glauben“), auch nicht von dem übrigens, auf den sie

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Fagerberg, Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften (wie Anm. 68), 286. Vgl. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften 2 (wie Anm. 86), 227f. Ulrich Kühn, Kirche (HST 10), Gütersloh 1990, 208. Hauschildt, Identität (wie Anm. 52), 52.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

339

zielt („Bekennen“), so dass Lehre für Kirchengemeinschaft keine Voraussetzung darstellte.97 Folglich muss aus konkordienlutherischer Sicht eine Distanzierung von „Grund“ und „Ausdruck“ des Glaubens, die nicht wirklich die innere Kohärenz beider Größen beschreiben, sondern nur noch ihre Diastase artikulieren kann, als theologisch unzulässig abgewiesen werden – wenn nämlich allein dem „rechtfertigenden Glauben“ grundlegende und zentrale Bedeutung zugemessen und folglich er allein als zur Begründung kirchlicher Gemeinschaft notwendig angesehen wird, während die lehrhafte Formulierung solchen Glaubens, etwa im Bekenntnis der Kirche, in den Bereich des „Ausdrucks“ gehöre, also randständiger Art und zur Bestimmung kirchlicher Gemeinschaft nicht notwendig sei. Dem setzen wir als lutherische Bekenntniskirche erneut unser „Non possumus“ entgegen und behaupten dies auch im Gegenüber zur Leuenberger Konkordie, so wenig wir bestreiten, dass sie faktisch als kirch-bildender Faktor in Anspruch genommen wird und fungiert.98 Wir bestehen hingegen mit Entschiedenheit darauf, dass die unterschiedliche Konfessionsbestimmtheit verschiedener realhistorisch vorfindlicher Kirchen nach wie vor die Gestaltung verbindlicher kirchlicher Einheit, zumal im Vollzug eucharistischer Gemeinschaft, hindert. Wir halten an der Grundüberzeugung fest, dass das Bekenntnis als Konsens „unentbehrliche Voraussetzung verantwortlicher Erfüllung des kirchlichen Auftrags zur Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung und als solche conditio sine qua non geklärter und erklärter Kirchengemeinschaft“ ist.99 Aufgrund des unauflöslichen Zusammenhangs der Übereinstimmung im Glauben, Lehren und Bekennen mit dem Vollzug gottesdienstlicher, zumal eucharistischer Gemeinschaft ist zu betonen: These 6: Die Gestaltung kirchlicher Einheit hat dem Maßstab des Evangeliums zu entsprechen, wie es im Konsens kirchlich verbindlicher Lehre zum Ausdruck kommt. Die Feststellung der Einmütigkeit im Glauben, Lehren und Bekennen ist unabdingbare Voraussetzung für die Bestätigung und Betätigung von Kirchengemeinschaft im Sinn von Interkommunion und Interzelebration.

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„Aus dieser Unterscheidung von Glaube und Lehre ergibt sich: Die Einigkeit im Glauben ist in der Tat Voraussetzung für Kirchengemeinschaft. Der Konsens in der Lehre ist es nicht“ (ebd.). Werner Klän, Bekennntnis und Sakramentsgemeinschaft, in: ders./Gilberto da Silva (Hg.), Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen (OUH Ergänzungsband 9), Göttingen 2012, 74–91. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften 2 (wie Anm. 86), 149; diese Aussage steht freilich in Spannung zu dem – leicht karikierenden – Gedanken, dass „in CA VII auch nicht anstelle einer ubiquitären Gleichförmigkeit der Zeremonien die doktrinäre Gleichförmigkeit im Sinne gleichlautender Lehrsätze zum Kriterium kirchlicher Einheit erklärt“ werde (a.a.O., 311).

340

4.

Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts für ein Modell lutherischer Identität in kirchlicher Verbindlichkeit

1. Soziologisch-strukturell steht die SELK am Beginn des 21. Jahrhunderts vor ähnlichen Herausforderungen wie die (meisten) anderen Kirchen in Deutschland; dazu zählen: Der sehr wahrscheinliche Rückgang der Bevölkerung in Deutschland bis 2030 um ca. 6% (Zuwanderung nicht gerechnet); der vor diesem Hintergrund zu erwartende Rückgang der Mitgliederzahlen um ca. 1% jährlich (nach den Entwicklungen der zurückliegenden Jahre);100 Besoldungsprobleme im Blick auf die Pfarrerschaft,101 die Mitarbeiter(innen) in den missionarischen und diakonischen Einrichtungen, verbunden mit bzw. gefolgt von Mangel an (hauptamtlichen) Mitarbeitenden,102 außerdem Schwierigkeiten, die Baulasten zu tragen103 sowie zunehmender Kostendruck insgesamt.104 Nicht zuletzt deshalb braucht das Bewusstsein für die Entfaltung und Einbringung geistlicher Gaben in der Gemeinde, Kirche und Mission Anstöße und Förderung; hier ist die „Mündigkeit“ der Gemeinde und ihrer Glieder ernst zu nehmen.105 2. Institutionell steht die SELK am Beginn des 21. Jahrhunderts gleichfalls vor ähnlichen Herausforderungen wie die (meisten) anderen Kirchen in Deutschland; darunter sind zu rechnen: Eine zunehmende Mobilität der Gemeindeglieder; Traditionsverluste und -abbrüche in der jüngeren Generation;106 der Rückgang der Nachfrage bei kirchlichen Handlungen (bei Taufen, Trauungen, weniger bei Beerdigungen); ein erkennbares Nachlassen der Bindekräfte an Kirche und (Orts-)Gemeinde.107

100 Rat der EKD (Hg.), Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Hannover 2006, 21. 101 A.a.O., 28. 102 A.a.O., 22.24f. 103 A.a.O., 26 104 A.a.O., 27. 105 Vgl. etwa Andreas Brummer/Annegret Freund, Freiwilliges Engagement: Motive – Bereiche – klassische und neue Typen, in: Jan Hermelink/Thorsten Latzel (Hg.), Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008, 251–273; Alexandra Eimterbäumer, Pfarrer/innen: Außen- und Innenansichten, a.a.O., 375–394. 106 Rat der EKD, Kirche der Freiheit (wie Anm. 100), 23f.; Hans-Georg Ziebertz, Gibt es einen Tradierungsbruch? Befunde zur Religiosität der jungen Generation, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 44–53, der einen Tradierungsbruch eher bestreitet; dazu: Michael N. Ebertz, Je älter, desto frömmer? Befunde zur Religiosität der älteren Generation, in: a.a.O., 54–63. 107 Vgl. Jan Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung (APTh 38), Göttingen 2000, bes. 95–112.237– 259.260–286.

Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen

341

3. Die SELK besteht in gesellschaftlichen Umfeldern, die zwar nicht vollständig areligiös sind, allerdings von deutlichen Tendenzen zur Säkularisierung108 bzw. Entchristlichung gekennzeichnet sind.109 Dabei ist ein klares Gefälle der Intensität „religiöser“ Praxis (in allgemeinerem Sinn) von den alten zu den neuen Bundesländern festzustellen.110 Daher muss sie sich der Frage nach dem christlichen Zeugnis gegenüber der Gruppe der Konfessionslosen (zum Teil in dritter Generation), stellen.111 Überdies harrt die Frage von christlichem Zeugnis und Dienst im Blick auf die wachsende Zahl jüdischer Mitbürger und gegenüber den Muslimen dringend der Bearbeitung.112 4. Die SELK besteht in einem kirchlichen Umfeld, das seinerseits von einem „religiösen Pluralismus“ auch „unter dem Dach der großen Kirchen“ geprägt ist.113 Hier könnte die bewusste Übernahme und Ansage des geprägten Erbes die Möglichkeit für ein authentisch-kirchliches Zeugnis bieten, gerade im Vergleich zu anderen Angeboten religiöser Sinnstiftung und kirchlich-institutioneller Anbindung. Dazu gehört auch die Einsicht, dass die eigene Angebotsstruktur der Evangeliumsverkündigung, ungeachtet des universalen Charakters des Evangeliums selbst, selektive Momente in sich trägt.114 5. Die SELK findet sich vor in unentrinnbarer Zeitgenossenschaft; Haltungen und Mentalitäten aus Moderne und Postmoderne bleiben ihr selbst nicht äußerlich und führen in verschiedenen Fragen zu unterschiedlichen Positionierungen, auch in den eigenen Reihen. Sie bleibt nicht unbeeinflusst von Tendenzen zur Aufspaltung der Frömmigkeitsgestalten in kirchliche, private/ individuelle, aber auch öffentliche Formen.115 Die SELK muss sich überdies

108 Vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/Main 2009; zur Diskussion um den Säkularisierungsbegriff vgl. Joachim Track/Oliver Schuegraf/Udo Hahn (Hg.), Säkularisierung. Eine ökumenische Herausforderung für die Kirchen, Hannover 2010, 13–29. 109 Vgl. Track/Schuegraf/Hahn, Säkularisierung (wie Anm. 108), 32–36. 110 Vgl. Eberhard Tiefensee, Der homo areligiosus und die Entkonfessionalisierung in der ehemaligen DDR, in: Bildung als Mission? Kirchliche Bildungsarbeit im Kontext einer konfessionslosen Gesellschaft, hg. von Matthias Hahn (Religionspädagogik im Diskurs 12), Jena 2012, 15–30; Matthias Petzold, Intellektuelle Offenheit und religiöse Homogenität? Aufschlüsse über die Situation im Osten Deutschlands, in: Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008 (wie Anm. 106), 85–93. 111 Vgl. Eberhard Tiefensee, Religiöse Indifferenz als interdisziplinäre Herausforderung, in: Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, hg. von Gert Pickel und Kornelia Sammet, Wiesbaden 2011, 79–101; ders., Mission angesichts religiöser Indifferenz: Texte aus der VELKD, o. Jg. (2011), 8–37; Monika Wohlrab-Sahr, Das stabile Drittel jenseits der Religiosität. Religionslosigkeit in Deutschland, in: Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008 (wie Anm. 106), 95–102. 112 Rat der EKD, Kirche der Freiheit (wie Anm. 100), 20; vgl. Die Berichterstattung in MLKM 105 (2012/13), Nr. 1, 6–8; Nr. 2, 16f. 113 Vgl. Karl Gabriel, Religiöser Pluralismus. Die Kirchen in Westdeutschland, in: Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor 2008 (wie Anm. 106), 76–84. 114 Vgl. die – gewiss diskussionswürdigen und diskussionsbedürftigen – Lösungsvorschläge bei Hermelink, Praktische Theologie (wie Anm. 107), 347–380. 115 Vgl. Track/Schuegraf/Hahn, Säkularisierung (wie Anm. 108), 93–101.

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Ekklesiologie und kirchliche Identität: Gegenwärtige Perspektiven

selbstkritisch fragen, inwieweit die in ihrer Schrift- und Bekenntnisgebundenheit vorausgesetzte Homogenität im Sinne der Einmütigkeit im „Glauben, Lehren und Bekennen“ der eigenen kirchlichen Wirklichkeit tatsächlich entspricht.116 6. Die SELK steht mit anderen Christen und Kirchen im Horizont der „Globalisierung“ vor theologischen, nicht zuletzt ethischen Herausforderungen.117 Sie sucht daher verbindliche Gemeinschaft mit solchen Christen und Kirchen, die auf der Grundlage der Heiligen Schrift und des Bekenntnisses der lutherischen Reformation lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit gestalten wollen. Sie arbeitet mit anderen Christen und Kirchen (punktuell) zusammen, wo gemeinsames biblisch-christliches Zeugnis gegenüber der nachchristlichen Welt – über die bisherigen „Sollbruchlinien“ in der Christenheit hinaus – möglich und erforderlich ist. All diese Beobachtungen münden in die These: 7. Die SELK weiß sich bleibend verpflichtet zu „ökumenischer Verantwortung“: D. h., sie vertritt ihre Positionen profiliert im Rahmen zwischenkirchlicher Gremien, Ausschüsse, Arbeitsgemeinschaften. Sie verschweigt dabei einerseits nicht die noch vorhandenen kirchentrennenden Unterschiede und überspringt nicht leichtfertig die dadurch gesetzten Grenzen. Sie sucht aber mit anderen Kirchen in gründlicher theologischer Arbeit nach der Überwindung des Trennenden. Die SELK wird darum offene Kirche für alle sein, die Gottes Freispruch von den Belastungen ihres Lebens erwarten, wenn und weil die biblisch-lutherische Verkündigung alle Menschen meint und sie in der Mitte ihres Daseins angeht.

Summary The history of confessional Lutheran churches, especially in Germany, and their ecclesiastical self-conception in the light of AC VII and VIII is outlined. Furthermore, the Leuenberg Concord is discussed in the light of the Lutheran Confessions, specifically the loci concerning the Lord’s Supper. The differentiation between “foundation” and “expression” of faith is not considered to be a helpful tool to solve the problem of diverging, or even contradictory interpretations of the Lord’s Supper in this context. If the logical and essential connection between faith and its doctrinal formulation were to be dissolved, confessional Lutherans would have to veto this approach. Nevertheless, there are challenges to the Christian witness at the beginning of the 21st century which all churches or denominations in a given (European) context must face, not least with regard to ethical 116 Vgl. Claudia Schulz/Eberhard Hauschildt/Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen ²2009, bes. 49–86.256–280. 117 Track/Schuegraf/Hahn, Säkularisierung (wie Anm. 108), 101–105.

Summary

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issues. Churches of any profile must realise that they are unavoidably contemporary, even in dissenting to societal trends. It is the duty of the Independent Evangelical-Lutheran Church in Germany (SELK) to remain faithful to its historical heritage, combined with sensitivity to present-day developments and true ecumenical responsibility.

Beobachtungen Axel Noack Auch ein wissenschaftliches Buch darf der Dankbarkeit Ausdruck verleihen, dass es bei all den Differenzen und Auseinandersetzungen, die es im Verlauf der Kirchengeschichte gegeben hat, nahezu an ein Wunder grenzt, dass es immer noch Kirche und Verkündigung gibt. Jede intensive Beschäftigung mit dem Weg der Kirche und seinen Abzweigungen sowie Verästelungen zeigt doch: An uns allein kann es gar nicht liegen, dass es immer noch Kirche und Glauben gibt. Sondern wir können nur froh und dankbar sein, dass ein anderer – unserem Bemühen zum Trotz – die Kirche erhalten hat und erhält. Die Beiträge beschäftigen sich – geschuldet der Erinnerung an die Predigt von Reinhold Hildebrandt aus dem Jahr 1967,1 dem Jahr des 150. Jubiläums der preußischen Union – sehr stark mit den geschichtlichen Hintergründen von SELK und EKU/UEK. Es ist angemessen, sich gemeinsam der Geschichte, die auch eine Schuldgeschichte ist, zu stellen. Ein Resümee lautet: Der geschichtliche Rückblick ist sowohl hinsichtlich der zu bedenkenden Zeitspanne wie auch der räumlichen Erstreckung deutlich zu erweitern. Es geht nicht nur um die Regierungszeit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und es geht nicht nur um das ehemalige „altpreußische“ Kirchengebiet. Einige der nötigen Erweiterungen zeigen die Beobachtungen von Roland Ziegler.2

1.

Ein Blick ins 16. Jahrhundert

Ein sehr grundsätzlicher Punkt der Erweiterung wäre hinsichtlich des Verhältnisses des „Konkordienluthertums“ zu den Reformierten vorzunehmen. Gerade im Blick auf die historischen Hintergründe der Konkordienformel von 1577 und den folgenden Jahren haben wir eine gemeinsame Schuldgeschichte aufzuarbeiten, die uns – UEK und SELK – miteinander verbindet, weil sie unsere gemeinsame Geschichte ist. Mit der Konkordienformel wurden wesentlich innerlutherische Streitigkeiten befriedet und zwar um den Preis einer harten Abgrenzung zu den Reformierten. Gerade hier in Wittenberg ist im Blick auf das große Jubiläum 2017 daran zu erinnern, dass etwa beim Jubiläum 1617 der Name Melanchthons nicht genannt werden durfte. Die „Philippisten“ wurden verfolgt und zum Teil hingerichtet (vgl. den

1 2

Vgl. Hildebrandt, Predigt, in diesem Band 19–23. Vgl. Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 343–349.

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Leipziger Calvinisten-Sturm [1593], Hinrichtung des Kanzlers Nikolaus Krell [vollzogen am 9.10.1601]). Melanchthons Schwiegersohn, Caspar Peucker (1525– 1602), saß jahrelang im Gefängnis. Das alles darf nicht ausgeklammert werden. Heute sehen wir viel deutlicher, welchen Anteil das Luthertum daran hatte, die Reformierten von der Confessio Augustana wegzudrängen und zu verhindern, dass sie unter die „Augsburger Konfessionsverwandten“ und damit unter staatlichen Schutz stehenden Religionsgemeinschaften gerechnet wurden. Sie wurden auch nicht als Religionspartei im Augsburger Religionsfrieden anerkannt. Dieser Schuldgeschichte müssen wir uns – möglichst gemeinsam – stellen. Denn wenn heute in der EKD darüber nachgedacht wird, ob die Confessio Augustana (CA) nicht das grundlegende gemeinsame evangelische Bekenntnis sein könnte,3 dann ist ein Grund dafür, dass auch die Reformierten heute selbst ihre Wurzeln viel stärker bei der CA sehen, als das zum Ende des 16. Jahrhunderts der Fall hat sein können. Dazu ist mittlerweile viel Klärung erfolgt.4

2.

Ein Blick auf andere Unionsbildungen

Ein zweiter Vorschlag zur Erweiterung des Themas liegt meines Erachtens im Blick auf die Unionen selbst. Wir haben das eigenartige Phänomen festzuhalten, dass in Deutschland das Zeitfenster für die Gründung von Unionen sehr eng war: 1817 bis maximal 1830. Trotzdem gilt: Die damals begründeten Unionen sind alle stabil geblieben bis zum heutigen Tag. Das gilt für die außerpreußischen Konsensusunionen in Baden, in der Pfalz, in Anhalt und Teilen Hessens wie auch für die preußische Union selbst. Dass es 2003 möglich war, diese Kirchen alle in der „Union Evangelischer Kirchen“ zusammenzuschließen hat in dieser Beständigkeit eine Ursache.5 Seit dieser „Gründerzeit“ im Anfang des 19. Jahrhunderts sind in Deutschland keine Unionen mehr ins Leben getreten. „Union“ war zum Schimpfwort geworden. Es gab andere Formen der Annäherungen aneinander. Die Zeit des Kirchenkampfes war das Thema.6 Man vermied es aber, von „Union“ zu sprechen. Bis hin zur Leuenberger Konkordie von 19737 und der „Gemeinsame Erklärung zu den theologischen

3

4

5 6 7

Vgl. Rat der EKD (Hg.), Soll das Augsburger Bekenntnis Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland werden? Ein Votum der Kammer der EKD für Theologie (EKD-Texte 103), Hannover 2009. Vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Die Geltung der Confessio Augustana im deutschen Protestantismus zwischen 1530 und 1980 (aus lutherischer Sicht), in: ZThK 104 (2007), 172–206; vgl. weiter Jan Rohls, Die Confessio Augustana in den reformierten Kirchen Deutschlands, in: ZThK 104 (2007) 207–245. Vertrag über die Gründung einer Union Evangelischer Kirchen in der EKD, in Kraft getreten am 1.7.2003, http://www.uek-online.de/geschichte/gruendungsvertrag.html [Stand: 2.9.2013]. Vgl. Neddens, Unerwartete Nähe, in diesem Band 232–268. Vgl. Leuenberger Konkordie, http://www.leuenberg.eu/de/node/684 [Stand: 2.9.2013].

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Beobachtungen

Grundlagen der Kirche“ von 19858 wurde das vermieden. Möglicherweise geschah diese Zurückhaltung aus der Sorge, „schlafende Hunde“ zu wecken und eine neue „Kampfsituation“ wie im 19. Jahrhundert heraufzubeschwören. Dennoch: Es darf nicht übersehen werden, dass in vielen anderen Teilen der Welt außerhalb Deutschlands – nahezu bis zum heutigen Tag – Unionen begründet worden sind. Für Nordamerika geben wiederum die Beobachtungen von Roland Ziegler ausführlich Auskunft.9 Zu ergänzen wären Unionen in Europa (Österreich, Tschechische Republik und Niederlande) in Asien (Indien und Korea) Australien und Lateinamerika. Bei den meisten dieser Gründungen galt: Hier gab es keinen staatlichen Druck und keinen mit Zuckerbrot und Peitsche agierenden König. Wer heute über Union reden will, darf diese „freiwilligen“ Unionen, die von den Kirchen selbst geschlossen wurden, nicht unberücksichtigt lassen. Preußen ist nicht der Nabel der Welt. Und das große Thema „Union“ lässt sich nicht auf Preußen und schon gar nicht auf Friedrich Wilhelm III. beschränken.

3.

Ein Blick auf innerlutherische Einigungsbemühungen

Zur Erweiterung des geschichtlichen Rückblicks gehört auch die Erinnerung an die vorangegangenen Gespräche zwischen den verschiedenen Gruppen lutherischer Christen. Das Kolloquium zwischen SELK und UEK im Februar 2013, die den Ausgangspunkt für dieses Buch bildet, war nicht erst der Anfang. Vor allem ist – man achte gut auf den Namen! – an die einst berühmte „Allgemeine Lutherische Konferenz“ zu erinnern. Diese Konferenz hat eine lange Gesprächsgeschichte von nahezu 80 Jahren.10 Sie traf alle zwei Jahre zusammen und versammelte bei diesen Tagungen oft sogar mehr als 1.000 teilnehmende lutherische Christen. Eine eigene Zeitschrift wurde herausgegeben. Das „Allgemein“ im Namen meint: Hier trafen sich verschiedene lutherische Gruppen. Die Mehrheit waren freilich Lutheraner aus lutherischen Landeskirchen – aber immer waren auch freikirchliche Lutheraner dabei und ebenso die sogenannten „Vereinslutheraner“ aus unierten Landeskirchen. Jeder erahnt sofort, dass dieses Miteinander nicht spannungsfrei war und immer wieder auch zu Kontroversen führen musste. Aber den „Vätern“ ist zu danken, dass sie dies ausgehalten haben. Ja, sie haben die Konferenz – vor dem Ersten Weltkrieg – auf europäischer Ebene ausgedehnt und immer wieder auch Teilnehmende aus Amerika begrüßen können. Die Konferenzen hatten eine weite thematische Bandbreite. Etliche der hier bei uns angesprochenen 8

9 10

„Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihrem Auftrag in Zeugnis und Dienst“ (vom 23.5.1985), in: Kundgebungen – Worte, Erklärungen und Dokumente des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Bd. 2: 1981–1991, hg. von Manfred Falkenau, Hannover 1996, 189ff. Vgl. Ziegler, Beobachtungen, in diesem Band 343–349, hier 344f. Eine präzise Darstellung der Geschichte dieser Konferenz bietet Paul Fleisch, Für Kirche und Bekenntnis – Geschichte der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz, Berlin 1956.

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Fragen standen schon in den Konferenzen der Jahre nach 1868 auf der Tagesordnung. Diese Konferenz beschäftigte sich immer auch – der Zeit entsprechend – mit sozialen Themen und Fragen („Gotteskastenarbeit“ etc.). Eine bleibende, bis zum heutigen Tag reichende Folge ist, dass die SELK im Kirchlichen Entwicklungsdienst mitarbeitet. (Ich habe viele Jahre neben Bischof Roth im Aufsichtsrat des Entwicklungsdienstes gesessen.) Auch die bis heute bestehende organisatorische Verbindung zum Diakonischen Werk und zu „Brot für die Welt“ rühren letztlich daher. Und wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, wird es so sein, dass auch Diakonie und Entwicklungsdienst sich mit theologisch anspruchsvolleren Themen beschäftigen werden. Und dadurch wird auch unsere Zusammenarbeit als Kirchen eine neue Schubkraft erhalten. Diese Allgemeine Lutherische Konferenz stand in einem hohen Ansehen, trotz der dauernd zu schlichtenden Streitthemen, die es besonders zwischen den freikirchlichen Lutheranern und den „Vereinslutheranern“ um das rechte Kirchenregiment und die spezielle Frage der Bekenntnisbindung gab. Wer ist eigentlich „Träger“ der Bindung an das Bekenntnis: die Kirchengemeinde oder die „Landeskirche“? Es wäre auch an einzelne Akteure dieser Konferenz zu erinnern und ihre so andauernde Bemühung um Einigung unter den Lutheranern, z. B. an den langjährigen Vorsitzenden der „Engeren Konferenz“, der spätere Landesbischof Ludwig Ihmels (1858–1933) aus Sachsen. Hier nur ein Beispiel für die Themenvielfalt dieser Konferenz: 1904 hat Julius Kaftan in eine Debatte um Wertung und Stellenwert der Bekenntnisschriften eingeführt.11 Er hat sehr anschaulich dargestellt, wie die Bekenntnisschriften eine Stellung zwischen dem „feststehenden Evangelium“ (der Heiligen Schrift) auf der einen Seite und der zeitbedingten Theologie (der kirchlichen Lehre) auf der anderen Seite einnehmen. Die konfessionellen Unterschiede innerhalb der evangelischen Tradition lassen sich demnach auch danach beurteilen, wo der jeweilige Akzent gesetzt wird, wo also die Bekenntnisschriften der Reformationszeit auf dieser Skala „angesiedelt“ werden. Die lutherische Tradition weist ihnen einen Platz nahe beim Evangelium zu. Die Reformierten hingegen „rücken“ sie stärker in Richtung der Theologie. Dieses sehr anschauliche Bild lässt meines Erachtens zu, konfessionelle Unterschiede stärker graduell als prinzipiell zu verstehen. Auch die bis heute relevante Frage „Bekenntnisschriften und Volkskirche“ wurde mehrmals auf der Konferenz thematisiert und sollte im Kirchenkampf ein neues Gewicht bekommen. Gleiches gilt für die Fragen nach dem „Parochialzwang“. Auch wenn dies damals noch nicht sogenannt wurde: Die Frage nach „Richtungsgemeinden“ innerhalb einer Landeskirche war durchaus relevant.

11

Julius Kaftan, Taugt das lutherische Bekenntnis noch für das 20. Jahrhundert? – Vortrag auf der XI. Allgemeinen Konferenz vom 26.–29. September 1904 in Rostock. Kurzfassung in: Fleisch, Für Kirche und Bekenntnis (wie Anm. 10), 44f.

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4.

Beobachtungen

Ein Blick auf verstellte Wege nach dem Zweiten Weltkrieg

Leider brach das alles nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 sehr schnell ab. Der Untergang Breslaus, der Stadt die seit den Zeiten Johann Gottfried Scheibels „Hochburg“ der Altlutheraner gewesen war, behinderte eine der die Konferenz tragenden Gruppen wesentlich. Die Altlutheraner waren ihres Zentrums beraubt. Hingegen sahen die Lutheraner in den lutherischen Landeskirchen jetzt die Chance, einen Zusammenschluss dieser Landeskirchen zu vollziehen. Die Debatten dazu wurden außerdem noch im Streit mit den Begründern der EKD geführt und mündeten schließlich in die Gründung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). Die Gründung der VELKD muss im Blick auf das hier zu verhandelnde Thema eindeutig als eine Engführung, ja sogar als ein Abbruch der innerlutherischen Gespräche, die in der Allgemeinen Lutherischen Konferenz wirklich alle Lutheraner in Deutschland erreicht hatten, angesehen werden. Dass z. B. lutherisch geprägte Landeskirchen wie in Württemberg, vor allem aber in Oldenburg es ablehnten (und ablehnen), zur VELKD zu gehören, geschah auch im Protest gegen dieses Engführung. Auch darüber werden wir miteinander und mit der VELKD reden müssen.

5.

Ein Blick auf die anderen lutherischen „Freikirchen“

In diesem Zusammenhang darf außerdem nicht übersehen werden, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Situation eintrat, die wir in den Debatten bisher ausgeklammert haben: die „Separation“ (das wurde damals in der Allgemeinen Lutherischen Konferenz tatsächlich sogenannt!) der altlutherischen Christen in den lutherischen Landeskirchen 1871 in Sachsen und 1878 in Hannover. In Hannover wurde seitens der Breslauer Gemeinde 1880 sogar die Abendmahlsgemeinschaft aufgekündigt.12 Und hier gab es keine Unionen und keinen König, der sich einmischte! Wenn es ein gewisses Verständnis für die Haltung und das Verhalten der konkordienformeltreuen Lutheraner in der auch mit staatlichem Druck unierten Preußischen Landeskirche und in den konsensusunierten Kirchen in Baden, in Hessen und in der Pfalz geben dürfte – jetzt war eine neue Situation eingetreten: innerhalb rein lutherischer Landeskirchen wurde nun unterschieden zwischen „richtigen“ und „falschen“ Lutheranern. Gerade für Hannover lässt sich zeigen, wie die Pastorenschaft der Landeskirche vehement dafür eintrat, sich als neue preußische Provinz Hannover (nach dem „Deutschen Krieg“ von 1866) eben nicht der Preußischen Landeskirche anschließen zu müssen, unter anderem auch deshalb, weil sie keine Übernahme der Union in das ehemalige Königreich Hannover wollten. Sehr zum Leidwesen des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin (EOK) entschied der preußische Kanzler, Otto von Bismarck, im Sinne der hannoverschen 12

Vgl. Fleisch, Für Kirche und Bekenntnis (wie Anm. 10), 54ff.

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Pastorenschaft und gliederte die neuen preußischen Gebiete nicht in die preußische Landeskirche ein. Erstmals wich er damit von dem Prinzip ab, dass die Landesgrenzen mit den Kirchengrenzen identisch sein müssten. Und dennoch: Diese klare Absage an die Union hat die Spaltung innerhalb der hannoverschen Kirche nicht verhindert. Dies war eine neue Qualität der Auseinandersetzungen. Hier ist das Gespräch zwischen SELK und VELKD noch einmal neu aufzunehmen.

6.

Ein Blick auf Neuorientierungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Zum geschichtlichen Rückblick gehört weiter die Umsetzung der Erfahrungen des Kirchenkampfes in der Neubegründung der unierten Landeskirchen nach 1945. Dabei handelt es sich nicht nur um die erlebte Gemeinschaft in der Situation der Anfechtungen des „Dritten Reiches“ – von ihnen wird ausführlich berichtet. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die Evangelische Kirche der altpreußischen Union (APU) sich vollkommen neu strukturierte. Es kam in dieser Kirche, deren Provinzen zu eigenständigen Provinzial- bzw. Landeskirchen wurden, zu einer neuen Hinwendung zum Bekenntnis, inklusive der Bekenntnisschriften. Hier liegt ein wesentliches, wirklich aufgenommenes Erbe der „Bekennenden Kirche“, das als radikale Neubesinnung beschrieben werden muss. Für die evangelischen Kirchen im Osten muss sogar kritisch angemerkt werden, dass sie die schon im 19. Jahrhundert entstandenen (relativ wenigen) unierten Kirchengemeinden – gebildet zumeist durch Vereinigungsverträge zwischen lutherischen und reformierten Kirchengemeinden einer Stadt – nun geradezu unter den Tisch fallen ließen. Diese Kirchen gingen fortan davon aus, dass sie „Kirchen der lutherischen Reformation“ seien, die ihren „besonderen Charakter“ in der Gemeinschaft mit den reformierten Gemeinden ihres Territoriums haben. Von unierten Kirchengemeinden war nicht mehr die Rede.13 Die neue Bewertung des Bekenntnisses der Kirche – einschließlich der aufwändigen Bemühungen innerhalb der späteren Evangelischen Kirche der Union um die Interpretation der Barmer Theologischen Erklärung von 193414 – zeigt meines Erachtens sehr deutlich, dass der alte (schon auf der Allgemeinen Lutherischen Konferenz geäußerte) Verdacht: „Die Union ist ein trojanisches Pferd, in dessen Bauch Protestantenvereinler und Freireligiöse stecken“, so nicht mehr zu halten ist. Gerade den manchmal bis heute geschmähten „Vermittlungstheologen“ wie Karl 13

14

Grundordnung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 2004 (ABl. der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen 2004, 78), Vorspruch, Ziffer 3: „Sie ist eine Kirche der lutherischen Reformation und hat ihren besonderen Charakter in der kirchlichen Gemeinschaft mit den reformierten Gemeinden ihres Bereiches.“ Vgl. die Voten des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union zu den einzelnen Thesen der Theologischen Erklärung von Barmen in den Bänden „Barmen I“ bis „Barmen VI“, Gütersloh 1974ff.

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Beobachtungen

Immanuel Nitzsch, aber auch August Tholuck und Martin Kähler ist es gelungen, zu zeigen, dass bibel- und bekenntnistreue Theologie in der preußischen Union durchaus ihren Platz finden konnte. Ja, sie ging geläutert aus den Verwerfungen des 19. Jahrhunderts hervor, in denen es – nicht zuletzt durch die viele verunsichernde neu aufgekommene Bibelkritik – zu Abspaltungen nach „rechts“ und „links“ gekommen war. Hier eine (etwas) steile These: Der Weg – auf dem Hintergrund wissenschaftlich fundierter Bibelkritik – zwischen Orthodoxie einerseits und den rationalistischen „Lichtfreunden“ andererseits ist vor allem in der preußischen Union debattiert und beschritten worden. Nicht zuletzt steht die Theologische Fakultät der Universität Halle/Saale für diese Auseinandersetzung. Hier lehrten neben August Tholuck und Julius Müller, Martin Kähler und der Altlutheraner Ferdinand Gericke15 sowie der den „Lichtfreunden“ nahestehende Carl Schwarz. Die weitere Entwicklung der nun selbstständigen Kirchen der ehemaligen EKapU sollte nach nahezu vierzig Jahren deutlich zeigen, dass sich in den einzelnen Provinzialkirchen auch verschiedene „Typen“ von Unionsverständnis herausgebildet hatten. Die wichtige und ausführliche „Erklärung zur theologischen Grundbestimmung der Evangelischen Kirche der Union“ von 1991 zählt vier „Typen“ von Unionsverständnis auf und stellt fest, dass sich die „theologischen Grundlagen der EKU als ganzer […] in den gliedkirchlichen Grundordnungen unterschiedlich […] brechen“16.

7.

Ein Blick auf Herausforderungen der Gegenwart

In den Beobachtungen von Roland Ziegler werden schon die heute verschärft zu stellenden Fragen und Herausforderungen unserer sich so säkular verstehenden Zeit angedeutet: Wenn Jesus im hohepriesterlichen Gebet (Johannes 17) darum bittet, „dass alle eins seien“, „damit die Welt glaube“, dann darf im Umkehrschluss gefolgert werden: Der Unglaube der Welt hat auch eine seiner Ursachen in der Uneinigkeit der Glaubenden. Das ist eine große Herausforderung für uns heute. Die konfessionelle Vielfalt – so bunt und anregend sie für den Disput unter „Insidern“ auch sein mag – ist für die heute neu im Fokus stehenden „Konfessionslosen“ eher verwirrend als hilfreich. Wir stehen unserer Mission selbst im Wege, wenn es nicht gelingt, zu zeigen, dass wir zunächst und zuerst Christen sind, bevor wir auf Unterschiede verweisen. 15

16

Ferdinand Gericke (1803–1878) verlor 1835 seine Professur an der Hallischen Universität unter Friedrich Wilhelm III., wurde sodann Pfarrer der altlutherischen Gemeinde in Halle und 1840 von Friedrich Wilhelm IV. wieder in sein Amt als Professor eingesetzt. Erklärung zur theologischen Grundbestimmung der Evangelischen Kirche der Union (EKU) von 1991, in: Verhandlungen der 3. (gemeinsamen) Tagung der 7. Synode der Evangelischen Kirche der Union vom 19. bis 21. April 1991, hg. im Auftrag der Räte von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin 1992, 153—168.

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Es wächst – gerade hier im Osten – die Zahl der Menschen, die sagen: „Bloß gut, dass wir keine Religion mehr haben.“ „Der Spiegel“ fasst schon 2007 eine Leserbriefdebatte über Religion mit folgenden Worten zusammen: „Alle Gottheiten sind von Menschen gemachte Konstrukte, die der Identitätsstiftung dienen und die somit alle gleich wahr oder besser gleich falsch sind. Diese Erkenntnis würde unseren Planeten zu einem friedlicheren, sichereren und lebenswerteren Ort machen!“17 Gerade hier treffen wir verstärkt auf die Meinung, Religion sei der Grund allen Übels; man müsse nur einmal nach Nordirland, in den Nahen Osten sowie in verschiedene afrikanische Staaten schauen: Dort schlügen sich die Anhänger der verschiedenen Religionen gegenseitig die Köpfe ein und brandschatzten ihre Kirchen und Moscheen. Wenn es nicht gelingt, den Menschen zu zeigen, dass vom Glauben Friedfertigkeit ausgeht, werden wir die Menschen mit der Botschaft des Evangeliums nicht erreichen können. Alle Christen – unabhängig ihrer konfessionellen Zugehörigkeit – stehen in einer Bringschuld vor den Menschen der Welt.

8.

Ein Blick auf neue Ansätze zur Verständigung

In verschiedenen Beiträgen klang es an:18 Wir brauchen einander zur gegenseitigen Korrektur und als Ergänzung im Sinne einer „Komplementarität“. Diese besteht darin, dass wir uns gegenseitig darauf hinweisen, wo unsere eigenen Positionen in der Gefahr stehen, exzentrisch zu werden. Ein besonders gelungenes, heute leider nahezu vergessenes Beispiel, das wir in Parallele zu den Gesprächen zwischen UEK und SELK sehen könnten, lässt sich in Westfalen finden: Schon im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Westfälischen Kirchenordnung hatte die dortige Landessynode einen Ausschuss zum Thema „Bekenntnis und Einheit der Kirche“ eingesetzt. Nach fünfjähriger Tätigkeit legte dieser Ausschuss 1959 ein Papier gleichen Titels vor.19 Darin geht es um „Unio und Confessio“ in einer unierten Landeskirche, also um das Gespräch zwischen Reformierten und Lutheranern. In den einzelnen theologisch umstrittenen Topoi (Abendmahl, Prädestination, Amt, etc.) vollzog man jeweils einen „Dreischritt“: Zum einen stellte man fest, worin man sich einig war und wovon man sich gemeinsam abgrenzen wollte (römisch-katholische Orthodoxie einerseits, die „Schwärmer“ andererseits). Im zweiten Schritt wir das Unterscheidende herausgestellt. Und dann folgte der wichtige dritte Schritt: Man stellte heraus, wie gerade das Unterscheidende dem jeweils anderen Partner zum Achtungszeichen werden könne und woran dieses Zeichen den Partner mahnt, 17 18 19

Der Spiegel 2007, Nr. 52 vom 22.12.2007. Vgl. Geleitwort, in diesem Band 16–18; Barnbrock, Im Raum der (entstehenden) altlutherischen Kirche, in diesem Band 132–157; Neddens, Unerwartete Nähe, in diesem Band 232–268. Bekenntnis und Einheit der Kirche – zusammenfassender Bericht des von der Landesynode der Evangelischen Kirche von Westfalen im Jahre 1953 eingesetzten Ausschusses, Witten 1959.

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Beobachtungen

erinnert und orientiert. Hier wird wirklich deutlich wie sehr die unterschiedlichen Positionen aufeinander angewiesen sind: Eins ist ohne das andere nicht genug. Zu einem Ausblick gehört für mich schließlich auch der deutliche Hinweis auf ein Thema, das des Öfteren angeklungen ist: Die Spannung zwischen „Wahrheit“ und „Liebe“. Diese Spannung ist angelegt im Doppelgebot Jesu: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten. Das kann durchaus in Spannung zu einander geraten. Wahrheit ohne Liebe ist dogmatischer Fanatismus und also in der Nachfolge Jesu ausgeschlossen. Liebe ohne Wahrheit ist Anbiederei und muss ebenfalls als ausgeschlossen gelten. Gibt es eine Brücke über dieses Spannungsfeld? Ja, und wir kennen sie aus den Psalmen und sogar als Tischgebet: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte und seine Wahrheit währen ewiglich.“ Die Freundlichkeit ist die Brücke zwischen Wahrheit und Liebe. Ich bescheinige diesen Beiträgen gerne und aufrichtig: Wir sind freundlich miteinander umgegangen, in Wahrheit und Liebe.

Summary The review pays tribute to the papers, their various approaches and structures, and suggests themes for further discussion, in particular with regard to the historical background: the Lutheran involvement in the expulsion of the Reformed from the community of sympathizers with the Augsburg Confession in 16th Century; the significance of the “Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz” from 1868 to 1945; the significance of the “Unionskirchen” in the theological debate in the second half of the 19th Century; the new situation after the “separation” of the Old Lutherans in the areas of the purely Lutheran state churches (Saxonia, Hannover); the renewed orientation toward scripture and confession which took place in the “corrupted” Union Churches after 1945; the challenge to the relationship between Christian confessions presented by the secular environment; the role played by non-German and non-European Unions in the world church today.

Beobachtungen Roland Ziegler Welchen Sinn haben Jubiläen? Es geht in ihnen sicherlich nicht einfach um die Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart. Kirchliche Jubiläen sind keine Ausnahme. Das Augsburger Bekenntnis redet zwar nicht von Jubiläen, sondern von einem andauernden Gedächtnis in seinem Artikel zur Heiligenverehrung, aber seine Ermutigung zur rechten Heiligenverehrung kann als Rechtfertigung auch kirchlicher Jubiläen gelesen werden. Das Gedächtnis der Heiligen soll gepflegt werden, da dadurch der Glaube gestärkt werde, indem Gottes Gnade in ihrem Leben sichtbar werde. Das Beispiel der Heiligen dient auch der Lebensgestaltung im Glauben.1 Aber kirchliche Jubiläen haben es nicht nur mit Heiligen zu tun. Es liegt nahe, ein solches Jubiläum zum Zweck der Identitätsstiftung oder der Identitätsvergewisserung zu benutzen. Es ist daher bemerkenswert und ein geistlich bedeutendes Ereignis, dass Franz-Reinhold Hildebrandt in seiner Predigt zum Unionsjubiläum 1967 nicht einfach diesen Weg gegangen ist. Er hat nicht nur derer gedacht, die unter der Union gelitten haben, sondern auch die „altlutherischen Brüder“ um Vergebung gebeten.2

1.

Ein Blick über Preußen und Deutschland hinaus

1817–2017: Für die Kirchen, die ihren geschichtlichen Ursprung in der preußischen Union haben, ein wichtiges Jahr. Aber nicht nur für sie, sondern auch für Lutheraner außerhalb der Union: für die „Altlutheraner“, die aus dem Widerstand gegen die Union als selbstständige Kirche entstanden sind und sich lange aus diesem Gegenüber definiert haben. Auch für die anderen Lutheraner in Deutschland außerhalb Preußens ist seither die Union ein unabweisbares Thema. Für einige wurde mit dem Jahr 1866 die Frage von Union und Bekenntnis neu relevant, als sie sich in Preußen wiederfanden. Die theologischen Fragen, die die Union stellte, nämlich nach dem Verhältnis von Kircheneinheit und Lehre, und nach der Identität des Luthertums entweder als einer theologischen Schule innerhalb einer evangelischen Kirche oder als einer selbstständigen Konfessionskirche neben der römisch-katholischen und

1 2

CA XXI, § 1–2, BSLK 83b, 1–13. Friedrich Winter (Hg.), … daß Jesus Christus allein unser Heil ist. Brandenburgische Predigten aus drei Jahrhunderten, Berlin (DDR) 1989, 152–157, hier 154.

354

Beobachtungen

der reformierten Kirche, stellten sich seither den lutherischen Kirchen Deutschlands mit unausweichlicher Dringlichkeit.3 Doch die Bedeutung der preußischen Union ist nicht auf Deutschland beschränkt; Fernwirkungen reichten bis in die USA. Am 15. Oktober 1840 wurde in Gravois Settlement, heute Mehlville, einer Vorstadt von St. Louis, der Evangelische Kirchenverein des Westens gegründet, der sich später „Deutsche Evangelische Synode von Nord-Amerika“ nannte. Zwar war nur einer der sechs Gründerväter, Louis Nollau, aus Preußen, entsandt von der Rheinischen Mission. Aber er organisierte das Treffen. Die Hälfte der Pastoren waren Württemberger, die die Baseler Mission in die USA entsandt hatte. Aber der Kirchenverein war theologisch ein Kind der preußischen Union. Bekenntnisgrundlage waren die Heilige Schrift und die lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften, soweit sie übereinstimmten. Wo sie nicht übereinstimmten, galt das, was die Heilige Schrift sagte. Die Evangelische Synode von Nord-Amerika – das „Deutsch“ im Namen wurde während des Ersten Weltkriegs abgelegt – bewegte sich im Prozess der Amerikanisierung mehr zum reformierten Spektrum hin. 1934 fusionierte sie mit der „Reformierten Kirche in den Vereinigten Staaten“ zur „Evangelischen und Reformierten Kirche“, 1957 mit der „Kongregationalistischen christlichen Kirche“, zur „United Church of Christ“ (UCC), mit der die Kirchen der EKU seit 1980/81 Kirchengemeinschaft festgestellt haben und nun die UEK bis heute in diesem Sinn partnerschaftliche Kontakte pflegt. Die lutherische Prägung dieser Kirche nahm ab, auch wenn bis heute Luthers Kleiner Katechismus unter den Bekenntnisschriften der UCC aufgeführt wird.4 Auch in den USA lassen sich so bis heute Nachwirkungen aus dem Erbe der preußischen Union feststellen. Aber auch die lutherischen Kirchen in den USA, insbesondere das Luthertum des Mittleren Westens, wurde von der Union beeinflusst. Nicht nur in Gestalt der Buffalo-Synode, die aus – vor der Union geflohenen – preußischen Emigranten bestand. Auch andere deutschsprachige Synoden waren theologisch durch die Ablehnung der Union bestimmt. Bis auf den heutigen Tag ist die Absage an Unionismus in der Verfassung der Lutheran Church – Missouri Synod festgeschrieben.

2.

Ein Blick auf zweifelhafte Durchsetzungsstrategien

In den Beiträgen wird ausführlich die Geschichte des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet. Einigkeit besteht darin, dass die Art der Einführung der Union, so wohlmeinend und so interessiert Friedrich Wilhelm III. an würdiger Gottesdienstgestaltung war, er doch in spätabsolutistischer Weise sein Pläne in einer Art und Weise durchsetzte, dass letztlich das gewünschte Ergebnis nur teilweise erzielt wurde. Zwar vereinigten 3 4

Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der Christliche Glaube, § 24, Zusatz, hg. von Martin 2 Redeker, Berlin 1960, 142. Vgl. http://www.ucc.org/beliefs/ [Stand: 19.08.2013].

Roland Ziegler

355

sich die evangelisch-lutherische und die evangelisch-reformierte Kirche in Preußen – aber nicht gänzlich, auch wenn zahlenmäßig die „Altlutheraner“ eine kleine Minorität waren. Die Gewalt und der Zwang der preußischen Behörden gegen unionsunwillige Lutheraner, die Märtyrer, die so geschaffen wurden, schadeten der Union. Sie schufen eine Gedächtniskultur der selbstständigen Lutheraner, in denen das Beispiel der verfolgten Vorväter zur Identitätsabsicherung benutzt wurde. Für die heutige Identität der Kirchglieder der SELK hat Hönigern, um es in dieser Chiffre zusammenzufassen, aber keine Bedeutung mehr, wie im Beitrag von Volker Stolle deutlich wird.5 Die Einführung der preußischen Union hat keineswegs das Monopol auf die Anwendung von staatlicher Gewalt für die Durchsetzung kirchenpolitischer Ziele. In der Kirchengeschichte gibt es manche Entscheidung, die mit zweifelhaften Mitteln erreicht, von späteren Generationen jedoch als theologisch sachgerecht rezipiert wurde. Cyrill von Alexandrien arbeitete mit Bestechung, Intrigen und Einschüchterung, aber das Ephesinum gehört zum altkirchlichen Konsens. Konkordienlutheraner sehen den Sturz des Kryptocalvinismus in Sachsen unter Kurfürst August (1526[1553]–1586) positiv, obwohl dies nicht ohne Amtsenthebung und Gefängnis ablief. Es ist also gewiss unberechtigt, die Union allein wegen ihres staatskirchlichen Ursprungs und der Art und Weise, wie sie eingeführt wurde, abzulehnen.

3.

Ein Blick auf die „Vereinslutheraner“

Was in der historischen Betrachtung dieses Kolloquiums nicht vorkam, waren die Vereinslutheraner, die nach dem Erlass von 18526 argumentierten, dass die lutherische Kirche in der Union fortexistiere und die selbstständigen Lutheraner in Preußen eine falsche, unlutherische Ekklesiologie hätten,7 da ihnen die Bekenntnisbindung in der Gemeinde nicht genügte, sie vielmehr ein bekenntnisgebundenes Kirchenregiment forderten. Die Fragen, ob die lutherische Kirche ein lutherisches Kirchenregiment brauche, ob die Kirchenleitung bekenntnisgebunden sein müsse, entwickelten sich zu einem zusätzlichen Differenzpunkt. Hier ergaben sich dann auch später Verbindungen zur Diskussion im Kirchenkampf8 in der Evangelischen Kirche, als die Frage der Berechtigung staatlicher Kirchenausschüsse gegenüber eines bekenntnisgebundenen Kirchenregimentes bedacht werden musste.

5 6 7

8

Vgl. Stolle, Eine Auslegung/Analyse, in diesem Band 32–42, hier 36. Kabinettsordre vom 6. März 1852, die in Konfessionsfragen die itio in partes regelte; vgl. Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.), Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2, 35–39. Vgl. Friedrich Julius Stahl, Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, Erlangen 1840; zu Stahl vgl. Arie Nabrings, Friedrich Julius Stahl. Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik (UnCo 9), Bielefeld 1983. Vgl. Neddens, Unerwartete Nähe, in diesem Band 232–268, hier 239–241.

356

4.

Beobachtungen

Ein Blick auf Unionsbestrebungen in Nordamerika

Die Union lag im 19. Jahrhundert in der Luft, Friedrich Wilhelm III. war auch darin ein Kind seiner Zeit. Das zeigt auch die Gründung der Evangelischen Synode von Nordamerika. In seiner Geschichte der Synode schreibt Albert Schory: „[…] die Ehrwürdigen Gründer unserer Evangelischen Synode standen weder im Dienste des preußischen Königs, noch eines königlich preußischen Oberkirchenrates als sie nach dem Westen unseres Landes kamen. Sie waren Sendboten der Baseler Missionsgesellschaft, welcher von Anfang ihres Bestehens an die Liebe zu Christo und das Verlangen, unsterblichen Seelen den Weg des Heils zu verkündigen wichtiger war, als den Hader über konfessionelle Meinungsverschiedenheiten, bei dem zur Freude des Feindes die eine große Hauptsache in den Hintergrund tritt.“9

In diesem Zitat wird auch deutlich, dass die Frage nach dem Recht der bestehenden Kirchentrennung angesichts der missionarischen Herausforderung keineswegs neu ist. Angesichts knapper Ressourcen – sei es bei den Pionieren des Mittleren Westens im 19. Jahrhundert oder heute im Deutschland des 21. Jahrhunderts – scheint es nötig, Doppelungen in der kirchlichen Infrastruktur kritisch zu überprüfen. Die Bevölkerung im Raum St. Louis der 1840er Jahre war zu einem guten Teil entchristlicht, sogar antikirchlich gestimmt. Die Gründung des Evangelischen Kirchenvereins des Westens wurde in der deutschsprachigen Presse von St. Louis, wie „Der Anzeiger des Westens“, und „Der Antipfaff“, herausgegeben von Heinrich Koch, bekämpft.10 Damals wie heute muss daher gefragt werden, ob das Beharren auf dem lutherischen Bekenntnis gegenüber einer Vereinigung aller Kräfte zur Re-Evangelisierung gerechtfertigt ist. Jenseits pragmatischer Erwägungen stellt sich die Frage nach der Berechtigung der Union als eines Modells kirchlicher Einheit, wie Albert Schory sie beschreibt: „Haben diese frommen und ehrwürdigen Brüder dabei den Gedanken aufgegriffen, welchen Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1817 zu verwirklichen gesucht hat, so thaten sie das weder aus preußischem Unterthanengefühl, noch aus irgend welchen selbstsüchtigen und unlauteren Motiven, sondern vielmehr aus dem einzigen Grunde, weil sie in dem Gedanken jenes frommen Königs ihre eigene Überzeugung vertreten fanden und darin den Anfang der Verwirklichung des hohenpriesterlichen Gebetes ihres Heilandes erblickten: ‚Auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, auf daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt.‘“11

9 10 11

Albert Schory, Geschichte der Evangelischen Synode von Nord-Amerika. St. Charles/MO 1889, 5. Carl E. Schneider, The German Church on the American Frontier, St. Louis/MO 1939, 127. Schory, Geschichte (wie Anm. 9), 6.

Roland Ziegler

5.

357

Ein Blick auf die Frage nach Einheit und Wahrheit

Hier bricht der Dissens auf, der bis heute andauert. Ist die Union eine Verleiblichung der Einheit in Christus und damit eine Erfüllung des Hohepriesterlichen Gebetes (Joh. 17)? Oder aber, weil zur Einheit der Kirche Einheit in der Lehre gehört, ist die Union defizitär und der konfessionell-lutherische Widerspruch berechtigt? Die Frage nach der Lehreinheit als Gabe und Aufgabe für das Leben der Kirche und des Zerbrechens kirchlicher Gemeinschaft wegen eines Lehrdissenses bleibt umstritten unter uns. Damit verbunden ist die Frage der Stellung der Bekenntnisschriften in der Gegenwart. Sind sie Zeugnisse, wie das Evangelium in einer konkreten geschichtlichen Situation bekannt wurde, die uns heute helfen zu bekennen, aber in ihrer sprachlichen Gestalt und auch in konkreten einzelnen Lehraussagen nicht bindend sein können, oder erheben sie den Anspruch, auch für künftige Generationen gültige Auslegung der Heiligen Schrift zu sein?12 Kann es eine solche lehrhafte Tradition im Wandel der Zeiten überhaupt geben? Besteht die Identität des Glaubens durch die Zeiten nicht nur in Bezug auf Christus, wie er durch Wort und Sakrament diesen Glauben schafft und erhält, oder ist der Glaube

12

Es ist die Spannung zwischen den Bekenntnisschriften als Zeugnissen des Glaubens in einer bestimmten Situation (BSLK 769, 28–35) und dem Anspruch, dass die Bekenntnisse gesammelt im Konkordienbuch zur Einheit der Kirche nötig sind: „Weil zu gründlicher beständiger Einigkeit in der Kirchen vor allen Dingen vonnöten ist, daß man ein summarischen, einhelligen Begriff und Form habe, darin die allgemeine summarische Lehre, darzu die Kirchen, so der wahrhaftigen christlichen Religion sind, sich bekennen, aus Gottes Wort zusammengezogen, wie dann die alte Kirche allwege zu solchem Brauch ihre gewisse Symbola gehabt, und aber solchs nicht auf Privatschriften, sondern auf solche Bücher gesetzt werden solle, die in Namen der Kirchen, so zu einer Lehr und Religion sich bekennen, gestellt, approbiert und angenummen: so haben wir uns gegeneinander mit Herzen und Munde erkläret, daß wir kein sunderliche oder neue Bekenntnus unsers Glaubens machen oder annehmen wollen, sondern uns zu den öffentlichen, allgemeinen Schriften bekennen, so für solche Symbola oder gemeine Bekenntnussen, in allen Kirchen der Augsburgischen Konfession je und allwege, eh denn die Zweispalt unter denen, so sich zur Augsburgischen Konfession bekannt, entstanden, und solang man einhelliglich allenthalben in allen Artikeln bei der reinen Lehr göttlichs Worts (wie sie D. Luther seliger erkläret) geblieben, gehalten und gebraucht worden“ (BSLK 833, 9–834, 9). Vgl. dazu auch Ausführung in der Apologie des Konkordienbuchs zum verpflichtenden Charakter der Bekenntnisse: „Wie nun das Christliche Concordibuch solchen vnterscheid [sc. zwischen Hl. Schrift und allen andern Schriften] in gemein ausdrücklich gesetzt / also hat es auch in specie vnd normatim von den Symbolis der Kirchen: Apostolico, Nyceno & Athanasiano, & c. sich erkleret / vnd wo für es dieselben achte / vnterschiedlich angezeiget / nemlich für runde bekendtnüssen des allgemeinen Christlichen Glaubens in der Hl. Schrifft starck vnd fest gegründet / welchen man derentwegen beyzupflichten schüldig / dieweil sie auß der H. Schrifft zusamen gezogen / vnd mit derselben durchaus überein stimmen […]“ (Apologie Oder Verantwortung des Christlichen ConcordienBuchs / In welcher die ware Christliche Lehre / so im ConcordiBuch verfasset / mit gutem Grunde heiliger Göttlicher Schrifft vertheidiget: Die Verkehrung aber vnd Calumnien / so von vnrühigen Leuhten wider gedachtes Christlich Buch im Bruck ausgesprenget / widerlegt werden […] Magdeburg 1584, 244).

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Beobachtungen

auch aussagbar im Bekenntnis, in das spätere Generationen nicht nur einstimmen können, sondern auch einstimmen sollen?13 Das Verständnis der kirchlichen Einheit nach CA VII ist daher, das überrascht nicht, ebenfalls kontrovers. Ich habe meine Anfrage, ob das pure und recte nur nach innen gerichtet sind.14 Für die Reformatoren war jedenfalls klar, dass in weiten Teilen der römisch-katholischen Kirche das Evangelium nicht rein gepredigt und die Sakramente nicht gemäß der Einsetzung verwaltet wurden. Gehört zudem nicht zur reinen Predigt des Evangeliums auch die rechte Lehre vom Evangelium?15 Gehört zur rechten Verwaltung des Sakraments nicht auch die rechte Katechese und Lehre, die rechte Explikation der Einsetzungsworte? Luther fügte nicht umsonst die Stücke zu Taufe und Abendmahl den traditionellen Teilen kirchlicher Unterweisung hinzu. Und gehört so zur kirchlichen Gemeinschaft nicht auch Einheit in der Lehre? Zur kirchlichen Einheit zwischen Obersachsen und Oberdeutschen kam es schließlich erst, als eine Lehrkonkordie, die Wittenberger Konkordie von 1536, erreicht wurde.16

6.

Ein Blick auf neue Herausforderungen

Wie es mit der Durchführung der Prüfung des Bekenntnisses an der Schrift stehe, ist eine Frage, die in jeder und an jede Kirche, gleich welcher konfessionellen Ausprägung, gestellt werden muss. Ulrich Kühn hat in seinem Aufsatz „Welche Bedeutung hat das lutherische Bekenntnis heute“ eine Relecture der Bekenntnisschriften gefordert, da die lutherische Rechtfertigungslehre in Spannung zu Paulus, erst recht zum Matthäusevangelium und dem Jakobusbrief stehe. Aber auch die lutherische Abendmahlslehre sieht er von der Heiligen Schrift her infrage gestellt.17 Hier

13 14

15

16 17

Vgl. dazu Kurt Marquart, The Church and Her Fellowship, Ministry and Governance, Fort Wayne 1990, 50–53. Vgl. Theißen, Systematisch-theologische Näherbestimmung, in diesem Band 213–231, hier 213– 218; Klän, Konfessionalisierung, in diesem Band 16–342, hier 333–338; Herms, Luthers Abendmahlsverständnis, in diesem Band 269–287, hier 283–287. „Man sage nicht, das Bekenntnis werde in CA 7 nicht als Merkmal genannt. Nun gewiß nicht ausdrücklich, aber was ist das Bekenntnis, wenn es nicht mehr die Erklärung der Kirche ist: Das glauben, lehren und bekennen wir, weil es die rechte Lehre des Evangeliums ist, die, weil sie die biblische Wahrheit ist, auf allen Kanzeln gepredigt werden soll“ (Hermann Sasse, Der Siebente Artikel der Augustana in der gegenwärtigen Krise des Luthertums, in: ders., In statu confessionis. Gesammelte Aufsätze, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Berlin 1966, 53). Vgl. dagegen Gerhard Ebeling, Die kirchentrennende Bedeutung von Lehrdifferenzen, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 1962, 187: „Keine Bekenntnisformulierung kann als das Symbolon der vera unitas ecclesiae gelten.“ BSLK 977, 11–978, 19. Ulrich Kühn, Welche Bedeutung hat das lutherische Bekenntnis heute?, in: Gebundene Freihheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, hg. von Peter Gemeinhardt und Bernd Oberdorfer, Gütersloh 2008, 122–140. Zur lebhaften Diskussion um die sog. Neue Paulusperspek-

Summary

359

hat besonders die akademische Theologie eine Aufgabe, die Aussagen der Bekenntnisschriften in der gegenwärtigen Diskussion zu verantworten. Bindung an das Bekenntnis ist zuerst Bindung an die Heilige Schrift, und die lutherische Kirche bindet sich an das Bekenntnis, weil es „aus Gottes Wort zusammengezogen“ ist.18 Dass dies nicht nur eine leere Behauptung ist, muss in der Tat immer wieder neu gezeigt werden.19

Summary In his concluding remarks, Roland Ziegler points out that historically the topic of “union” is not restricted to Prussia and Germany. He describes similar movements in North America which resulted in the formation of churches that exist to this day, similar to Germany. The use of governmental force to implement goals in the realm of the church is not a singular event connected with the Prussian Union, but rather a feature of church history going back to the early church. For further work he suggests the topic of the confessional nature of church government which was controversial between the Lutherans organized in associations in the Prussian Union and Lutherans in independent churches. Finally he points to the dissent in the evaluation of the united church which appears also in this colloquy: Is it rightfully seen as a realization of the unity in Christ? Or is it lacking doctrinal unity which is necessary for such a unity? Also, how do confessional standards and exegesis, commitment to Scripture and commitment to the confessions relate to each other?

18 19

tive vgl. z. B. Christof Landmesser, Umstrittener Paulus. Die gegenwärtige Diskussion um die paulinische Theologie, ZThK 105 (2008), 387–410. BSLK 833, 15f. Vgl. dazu auch den immer noch lesenswerten Aufsatz von Peter Brunner, Was bedeutet Bindung an das lutherische Bekenntnis heute? in: ders., Pro Ecclesia. Gesammelte Aufsätze zur dogmatischen Theologie, Bd. 1, Berlin/Hamburg 1962, 46–55.

Anhang

Verzeichnis der Bildquellen Autoren, Herausgeber und Verlag haben sich bemüht, für urheberrechtlich geschützte Abbildungen die derzeitigen Rechteinhaber ausfindig zu machen. Diejenigen Rechteinhaber, bei denen dieses nicht gelungen ist, bitten wir auf diesem Weg um Kontaktaufnahme mit dem Verlag. 17

Spätgotisches Altarkreuz, Foto © Michael Junker 2013.

52

Jugendbildnis Friedrich Wilhelm III., Datum unbekannt © Wikimedia Commons.

55

Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche. Deckblatt. Aus: Friedrich Wilhelm III., Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin ²1822.

71

Allerhöchster Erlass, Deckblatt © GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, III Sekt. 15 Abt. XVII Nr. 44 Bd. 4 (nicht foliiert).

76

Beschlüsse der Generalsynode, Deckblatt. Aus: Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen im September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode, Leipzig 1842.

96

Hönigern, Kirche, Zeichnung, unbekannter Künstler. Aus: Johannes Greve, Lutheraner auf Vorposten. Die sieben Aufrechten Schlesiens im Kampf um ihre Glaubensfreiheit. Eine Erzählung aus den Jahren 1830–1845, Hannover 1949, gegenüber Titelblatt.

97

Schwirz bei Hönigern, Gottesdienstort, Zeichnung, unbekannter Künstler. Aus: Johannes Greve, Lutheraner auf Vorposten. Die sieben Aufrechten Schlesiens im Kampf um ihre Glaubensfreiheit. Eine Erzählung aus den Jahren 1830–1845, Hannover 1949, nach Seite 176. Wieder abgedruckt in: Iselin Gundermann/ Dietrich Meyer/Hartmut Sander (Hg.), Die Evangelische Kirche der preußischen Union 1817–2003, Veröffentlichungen des Evangelischen Zentralarchivs, Bd. 11, Berlin 2013, 42.

103

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer ID6967, Datum unbekannt © Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin.

105

Carl Immanuel Nitzsch, Zeichnung, G. Engelbach, Datum unbekannt © Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin.

108

Friedrich Julius Stahl, Fotografische Reproduktion einer Lithographie, G. Engelbach, Datum unbekannt © Wikimedia Commons.

192

Grafik © Frank Martin Brunn 2013.

232

Berlin-Wilmersdorf, Evangelisch-Lutherische Kirche „Zum Heiligen Kreuz“, ca. 1935 © Archiv der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel.

234

Dietrich Bonhoeffer, Datum der Aufnahme unbekannt © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 299 (Bonhoeffer), Erg. 1 (Fotos), K. 1, Mp. 3.

236

George Bell und Franz Hildebrandt in London, 1. Juli 1941 © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 299 (Bonhoeffer), Erg. 1 (Fotos), K. 1, Mp. 7.

Verzeichnis der Bildquellen

363

237

Oberkirchenrat Gottfried Nagel, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

242

Wilhelm Freiherr von Pechmann, Goldenes Dienstjubiläum in der Bayerischen Handelsbank 1936, Datum der Aufnahme unbekannt © Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Familienarchiv v. Pechmann Nr. 31.

244

Friedrich Grube, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

244

Lic. Johannes Stier, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

246

Berlin-Mitte, Annenstraße, Evangelisch-Lutherische Kirche, ca. 1935 (?) © Archiv der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel.

248

Ankündigung des ersten Gottesdienstes der Bekenntnisgemeinde BerlinWilmersdorf in der Ev.-Luth. Kreuzkirche, 1934 © Archiv der Ev. Kirche am Hohenzollernplatz.

249

Berlin-Wedding, Usedomer Straße, Ev.-Luth. Kirche, Datum der Aufnahme unbekannt © Gemeindearchiv der Ev.-Luth. Augustana-Kirchengemeinde Wedding.

250

Paul Mintzlaff, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

257

Wilhelm Jungermann, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

259

Willibald Meyer, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

260

Frithjof Nagel, Datum der Aufnahme unbekannt © Archiv der Kirchenleitung der SELK.

262

Abschrift einer Denunziation der „altlutherischen“ Gemeinde Gotha, 16.10.1939 © Archiv der Ev.-Luth. Kreuzgemeinde Gotha.

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Verzeichnis weiterer Teilnehmer des Kolloquiums Zum Kolloquium „Union, Bekenntnis und kirchliche Identität 1817–2017“ (26.–28.2.2013, Leucorea in Wittenberg) waren neben den Referenten die nachfolgend genannten Teilnehmer als geladene Gäste anwesend. Professor Dr. Achim Behrens Professor Dr. Joachim Conrad Oberkirchenrat Norbert Denecke Pfarrer Rudolf Ehrmanntraut Kirchenrat Professor Dr. Gottfried Gerner-Wolfhard Oberkirchenrat Dr. Martin Heimbucher Propst Klaus Pahlen Propst Johannes Rehr Professor Dr. Jorg-Christian Salzmann Kirchenrat Michael Schätzel Propst Dr. Johann Schneider Bischof i.R. Dr. Jobst Schöne DD Pfarrer Johannes Sparsbrod Dekan Professor Dr. Helmut Umbach

Register Personenregister Altenstein, Karl Freiherr von 47, 53, 57, 59, 61–65, 68, 70, 72–75, 83, 85, 93, 95f. Althaus, Paul 227, 243 Asmussen, Hans 228, 248 Barth, Karl 177, 196, 227–229, 233, 235, 239, 241, 293 Beckmann, Joachim 26, 33, 180 Bethge, Eberhard 235 Bonhoeffer, Dietrich 21, 32, 232–235, 239, 248, 254, 266, 269 Boor, Werner de 256 Brunner, Peter 180, 289f., 300 Bultmann, Rudolf 314 Calvin, Johannes 49, 114, 292 Cölln, Daniel Georg Conrad von 53f., 79, 118, 123 Dibelius, Otto 17, 20, 180, 233 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich 76–78 Elert, Werner 290, 295, 335 Eylert, Rulemann Friedrich 52, 64, 113, 116, 164 Forck, Gottfried 35 Friedrich Wilhelm III. 9f., 36, 52, 54–57, 61–63, 74f., 81f., 84, 87f., 93, 95, 99, 113, 133, 137f., 140, 152f., 157– 160, 162–166, 168–172, 318, 344, 346, 350, 354, 356 Friedrich Wilhelm IV. 36, 75, 78, 96, 106, 169, 350 Froböß, Joachim Friedrich 68 Grube, Friedrich 37, 244, 253 Harleß, Adolf 77 Heimbucher, Martin 14, 18 Heydt, Friedrich von der 250 Hildebrandt, Franz-Reinhold 9, 16, 19, 24–33, 35, 37, 39, 41f., 232f., 344, 353 Hirschfeld, Adolph Friedrich 68, 133, 140, 142, 145–147, 152, 155 Hund, Johannes 82

Huschke, Georg Philipp Eduard 61f., 71, 76f., 129, 133, 139f., 143, 150, 319f. Iwand, Hans Joachim 218, 248, 265 Jungermann, Wilhelm 257f. Kahnis, Karl Friedrich August 40 Kampmann, Jürgen 14f., 18 Kellner, Eduard Gustav 67, 71f. Klän, Werner 14f., 18 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 35 Löhe, Wilhelm 73, 77, 125, 150–152 Luther, Martin 51, 55, 85, 107, 114, 117, 126, 129, 134–136, 139f., 152, 162, 181, 188, 190f., 193, 207, 209f., 222, 228, 270–285, 288, 290, 298f., 306, 309, 311, 354, 357f. Melanchthon, Philipp 114, 129, 134, 191, 200, 207, 291, 308, 311, 344 Merckel, Friedrich Theodor von 56–60, 63, 72, 95 Meyer, Willibald 258f. Mintzlaff, Paul 244, 250f. Müller, Julius 106, 350 Müller, Ludwig 233, 238, 241 Nagel, Frithjof 260f. Nagel, Gottfried 233, 236–238, 241– 243, 256, 260f., 263f. Neander, Daniel Amadeus 64, 85 Niemöller, Martin 17, 247, 259 Nitzsch, Carl Immanuel 40, 103, 105f., 109, 111, 138, 350 Pechmann, Wilhelm Freiherr von 241– 243, 253 Ritschl, Albrecht 217f., 310 Rost, Gerhard 34 Sasse, Hermann 128, 233f., 239–241, 243, 248, 265f., 289f., 296 Schätzel, Michael 18 Scheibel, Johann Gottfried 40, 43–51, 53–68, 74–80, 82, 84f., 89, 91, 95, 97, 124, 127–129, 133–136, 139– 147, 318f., 348 Schindehütte, Martin 14, 18

Sachregister

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 55, 86–88, 92f., 97f., 103–105, 108, 115, 120–122, 138, 217f., 280, 308, 321 Schöne, Jobst 179, 299 Schönherr, Albrecht 234, 247, 251 Schulz, David 54, 79, 80, 118, 123 Silva, Gilberto da 14 Söhngen, Oskar 25, 30, 32, 34 Stahl, Friedrich Julius 108, 111 Steffens, Henrich 48, 61f., 75–77

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Stier, Johannes 244f., 253, 266 Stolle, Volker 26, 152, 355 Theißen, Henning 14 Tholuck, Friedrich August Gotttreu 66, 101, 114, 350 Voigt, Hans-Jörg 14, 18 Winter, Friedrich 24, 28f., 32, 35 Ziegler, Roland 344, 346, 350, 359 Zwingli, Ulrich 49, 114, 117, 280, 288, 292

Sachregister Abendmahl 17, 43, 49f., 52f., 60, 66, 68, 70, 75, 77, 104, 111, 125, 138, 142, 144, 161, 164, 169, 175, 178, 180, 183f., 201, 242, 270–276, 279f., 283f., 286, 288–291, 294, 296, 298–300, 308–310, 318, 330, 332, 342, 351, 358 Abendmahlsgemeinschaft 10, 12, 20, 25, 30, 58, 84, 109, 137, 164, 179, 202, 264, 270, 289f., 294f., 297– 299, 324, 326f., 330, 339, 348 Abendmahlsgottesdienst 27, 60, 142, 155, 161 Abendmahlsliturgie 83, 128, 136, 138, 140, 142, 144, 148, 151, 169, 175, 180, 292, 296, 322 Abendmahlsschriften 25, 55, 271f., 279f., 290 Abendmahlsverständnis 25, 30, 45– 49, 54, 80, 107, 139, 142, 144, 270, 272–274, 279–283, 290, 292, 318, 358 Abgrenzung, abgrenzen 9, 34, 105, 119f., 122, 189, 193, 198, 210, 229f., 302, 304, 344, 351 AC → Augsburger Bekenntnis Agende, agendarisch 10, 43, 51, 54–61, 63–68, 75f., 80, 83–90, 92–95, 98, 102, 125, 128, 132–161, 166–181, 183–185, 197, 292, 317, 330 Agendenentwurf 133, 140, 149f., 165, 167, 170

Agendenreform 10, 169, 171, 219 Agendentradition 135f., 143, 148f., 151f., 157 Agendenwerk 93, 138, 153, 162, 167, 170 Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz 13, 346–349, 352 Allgemeines Preußisches Landrecht 56, 59, 61, 88f., 91, 144, 190 Alte Kirche, altkirchlich → Kirche, kirchlich Altes Testament → Bibel, biblisch Altlutheraner, altlutherisch → Lutheraner, lutherisch Altpreußen, altpreußisch → Preußen, preußisch Amt, Ämter 25, 41, 47, 59f., 62, 64, 67, 71, 75, 91, 126, 142, 163, 183, 208, 217, 223, 227, 244, 259, 274, 285, 291, 298, 300, 311, 323, 326, 328, 350f. Amtsenthebung 57, 72, 219f., 247, 249, 259f., 266, 355 Amtsträger 102, 126, 162, 168, 219– 224, 246, 248, 289 Anglikanische Kirche, anglikanisch 118, 137, 139, 153, 163 Apologie des Augsburger Bekenntnisses 85, 107, 110, 195, 207, 210, 290, 311, 357 Apostolikumstreit 169f., 213, 218–220, 222–224, 226

368

Register

Apostolisches Bekenntnis 106f., 162, 168, 202, 208, 210, 219, 221, 225f., 230f., 304, 309 Apostolizität, apostolisch 145, 209, 302, 312, 316 APU → Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) Athanasianisches Bekenntnis 107, 210, 357 Aufklärung, aufklärerisch 44–46, 51, 79, 101, 112, 114–116, 119, 121, 123, 161 Augsburger Bekenntnis 12, 41, 85–88, 93, 97, 107, 117, 120, 125f., 128, 130, 134, 179, 188, 192, 195f., 199f., 203, 206, 208, 210, 214–217, 223f., 226, 230, 290f., 293, 295–298, 308–311, 316, 331–339, 342, 345, 352, 357f. Augsburger Religionsfrieden 55, 90, 215, 221, 345 Augustana-Jubiläum 43, 57–60, 80, 82– 84, 86, 105, 112, 118, 138, 164 Auslegung, auslegen 12, 26, 53, 104, 119, 121, 197, 202, 209, 220, 278– 280, 303, 305, 309, 313–315, 317, 330, 332, 357 Barmer Theologische Erklärung 89, 188, 195f., 211, 213, 218, 225–227, 229–231, 239–241, 245, 262, 264, 267f., 307, 349 Bekennende Kirche 11, 16f., 19, 27f., 31f., 37, 89, 205, 213, 218, 224, 229, 232, 235, 237, 239–241, 243–256, 258–261, 263–267, 269, 349 Bekenntnis, Bekenntnisse 9–12, 16, 21, 40–42, 70, 75, 84–87, 89, 91, 95, 97, 99, 101–111, 115–119, 121–123, 125, 127–131, 135, 142, 155f., 161, 168, 170–172, 179, 187–198, 200– 203, 205–211, 213–215, 217–221, 225–230, 233, 235, 238–241, 245, 251–253, 256, 262–268, 270, 273, 279, 284, 286–290, 293–295, 297– 300, 303–307, 309f., 312f., 315, 319f., 322, 325, 329–342, 345, 347, 349, 351–353, 356–359

Bekenntnisbildung 49, 79, 86, 105, 194, 200, 211, 239, 268, 290, 304f., 336f. Bekenntnisbindung 9f., 13f., 52, 56, 69, 90, 101f., 110, 114, 116, 119f., 122f., 126, 130, 142, 157, 169, 171, 187f., 193, 208, 219, 221f., 239, 262, 268, 293, 297, 304, 325, 327, 329f., 336, 342, 347, 355 Bekenntnisgemeinschaft 12, 39f., 85, 102f., 130, 202, 205, 240, 247, 249, 254, 256, 258, 260, 266, 282, 289, 296, 298, 303 Bekenntnishermeneutik 41, 188, 267, 336 Bekenntniskanon 194, 200, 203 bekenntnisverschieden 188, 201– 203, 215, 244, 287f., 301, 303, 329 Bekenntnisgemeinde → Bekennende Kirche Bekenntnisgottesdienste → Bekennende Kirche Bekenntnisschriften 13f., 30, 41, 54, 65f., 69, 76f., 85, 90, 95, 102, 106f., 111f., 115f., 118–124, 127–129, 142, 188, 191, 194–197, 200–202, 205, 207, 211, 239, 292, 297, 303, 305f., 313f., 317, 332, 338, 347, 349, 354, 357f. Bekenntnissynode → Synode, synodal Berlin 15, 24–29, 31f., 34–36, 38, 54– 57, 59, 61f., 64f., 75, 95, 100–102, 104, 114, 137, 139f., 143–148, 151, 153, 156, 159, 166, 168, 172, 180, 232–235, 243–249, 251–254, 259, 266, 269, 290, 317, 321, 331, 348, 362 Bibel, biblisch 11–13, 45f., 48–50, 79, 86, 93, 102, 118, 121, 124–128, 146, 151, 175, 179f., 185, 193, 195–198, 203, 209–212, 220, 224, 228–230, 233, 235, 241f., 264f., 294, 297, 309, 311–317, 325, 329–334, 337f., 342, 347, 354, 357–359

Sachregister

Altes Testament, alttestamentlich 13, 180, 195f. Neues Testament, neutestamentlich 13, 90f., 101, 188, 196f., 209f., 271, 273, 276, 318 Bittschriften 40, 61f., 72, 84, 89, 124f., 130, 318f. BK → Bekennende Kirche Brandenburg 26, 32, 34, 51, 74, 100, 139, 252f., 265, 269 Breslau 34, 40f., 43, 44, 46–48, 53, 54– 56, 58–68, 71f., 75, 77–80, 84f., 89f., 118, 123, 125, 130, 132, 134– 137, 139, 146–149, 151f., 234, 237, 240–242, 256, 260, 263, 267, 269, 317f., 321, 348 CA → Augsburger Bekenntnis Calvinismus, calvinistisch 51, 69, 98, 172, 308, 345 Christologie, christologisch 85, 106, 243, 281, 283, 288 Deutsche Christen, deutschchristlich 28, 226f., 229, 233, 235f., 238–240, 243, 248–251, 254f., 258, 261, 263, 267, 269 Deutsche Evangelische Kirche (DEK) 229f., 232f., 236–243, 246, 263f., 269 Dogma, dogmatisch 10, 54, 63, 84f., 98, 103f., 111, 114f., 123, 141, 146, 155f., 162, 171, 174f., 197, 214, 217, 226, 265, 280f., 283, 288, 290, 302f., 308, 310, 335, 352 Einheit 12, 19–23, 27, 29f., 40, 52, 84, 86, 88f., 92, 95, 98, 104–107, 127, 130, 133f., 143, 163, 168, 170, 172, 179, 183–185, 200, 211, 213f., 216– 218, 221, 231, 233, 238, 256, 264, 266, 270, 274–276, 278, 285f., 288, 293, 295, 300, 303, 308–311, 315, 317f., 322, 324, 326, 328f., 331, 333–339, 351, 356–359 Einheitsbekenntnis 87, 149, 200, 264, 295 Ekklesiologie, ekklesiologisch 12, 36, 41, 82–85, 88, 97, 119, 124, 146, 155, 180, 187f., 192, 202, 211, 215,

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217, 224, 226, 262, 296, 301–303, 310, 315, 317f., 320, 323, 326, 328– 332, 335, 337, 355 EKU → Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) ELKAp → Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche ELKP → Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche Erster Weltkrieg → Krieg Erweckung, erwecklich 47, 67, 101, 112, 239, 244, 265, 267, 293, 320 Eschatologie, eschatologisch 127, 200f., 203f., 206, 212, 331 Evangelische Kirche der altpreußischen Union (APU) → Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) Evangelische Kirche der Union (EKU) → Union evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 13, 18, 26, 40, 188, 211, 213f., 268, 293, 295, 307, 324, 327f., 345, 348 Evangelisches Gottesdienstbuch (EGB) → Agende, agendarisch Evangelischer Oberkirchenrat (EOK) 109, 193, 321f., 348 Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche 37, 78, 293, 324–326 Evangelisch-lutherische Kirche Altpreußens (ELKAp) 238–244, 252, 254, 256, 260f., 263–266, 269 Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen (ELKP) 9, 11, 43, 63, 75–78, 80, 132, 135, 141, 148– 151, 153f., 156, 233–235, 237– 239, 319–324 Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland 187f., 196, 214 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs 35, 259 Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 188 Pommersche Evangelische Kirche 35, 188

370

Register

Evangelisch-Lutherische Kirchenagende → Agende, agendarisch Evangelium 12, 21f., 28, 40f., 117, 119, 121, 127, 156, 171, 180, 182, 185, 187, 192, 194–197, 199–202, 216, 230, 235, 240, 245, 249, 254, 296, 298, 304–307, 309–312, 315, 326, 329, 332–339, 341, 347, 351, 357f. FC → Konkordienformel Freikirche, freikirchlich 9, 26, 37, 39, 125, 232–235, 238, 240, 243, 246, 251, 257, 263–265, 294f., 323–326, 346, 348 Frömmigkeit, fromm 10, 100f., 114f., 120f., 130, 147, 154f., 164, 267, 341, 356 Gastfreundschaft, gastfreundlich 9, 17, 37, 39, 247, 251 Gebet, beten 23, 27, 43, 50, 54, 125, 134, 138, 142, 145–148, 161, 167, 174f., 180–182, 191f., 240, 273f., 350, 352, 356f. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 40, 303, 305–307, 315 Generalsynode → Synode, synodal Gewissen 10, 46, 58f., 68, 85, 90, 93, 109, 115, 117, 120, 122, 124–128, 130f., 220, 222–224, 306, 311 Gewissensfreiheit 11, 59, 124–126, 220, 222, 225 Gewissenszwang 58, 63, 95, 124, 126, 130, 225, 331 Glaube, glauben 11f., 15, 19–22, 26, 29, 33, 42 f., 45, 50 f., 55, 57 f., 60, 62, 65 f., 70, 74, 79, 85–89, 101–104, 109, 114–117, 119, 121–124, 127, 129–131, 136, 142, 146f., 155, 162, 170, 172, 179, 182, 189, 191–193, 196–198, 200f., 203, 206–209, 211, 217, 220, 222f., 243, 245, 262, 267, 270f., 273f., 278f., 281–283, 286, 288, 292, 295, 299, 304f., 308–313, 315, 318, 322, 325–327, 329–334, 336–339, 342, 344, 350f., 353, 357f.

Glaubensbekenntnis 22, 41, 62, 85, 102, 129f., 192, 218, 226, 304, 309 Glaubensbewegung 236, 243 Glaubensfreiheit 59, 63, 86, 90, 95 Glaubensgemeinschaft 201, 267, 279, 296 Gnade, gnädig 21, 26, 29, 119, 129, 182, 198, 206, 217, 240, 271, 282, 310, 336, 353 Gottesdienst, gottesdienstlich 10, 11, 13, 16, 21, 27–29, 31–33, 37, 53, 58, 61f., 64, 67f., 72–75, 83f., 86, 88– 91, 97, 100, 110, 124, 127, 129, 133, 135, 138–140, 143–149, 151, 153– 156, 158–161, 163–166, 168, 171f., 174–176, 179–185, 190, 199f., 219, 226, 232, 234, 247–250, 252–255, 257–259, 261, 267, 275f., 281f., 289, 291, 298f., 304, 306, 310, 317f., 320, 322, 325, 327, 329, 332, 337, 339, 354 Bekenntnisgottesdienste 244, 246– 248, 251, 254f., 259 Gottesdienstform 114, 144, 152, 155, 161, 166, 169f., 177, 182, 267 Gottesdienstordnung 59, 134f., 140, 151, 156, 174f., 177, 179–181, 184 Großer Katechismus → Katechismus, Katechismen Halle an der Saale 34f., 44f., 48f., 66, 73, 79f., 114, 264, 293, 297, 350 Heidelberger Katechismus → Katechismus, Katechismen Heilige Schrift → Bibel, biblisch Heiliger Geist 12, 48, 50, 172, 197, 271, 276, 277, 279, 281f., 286, 304, 312f., 333f. Hermeneutik, hermeneutisch 11, 41f., 50, 104, 120, 124, 188, 191, 196– 198, 201, 203, 209f., 213, 225, 280, 313–315, 336 Historisch-kritische Methode 139–141, 219, 279f. Hönigern 20, 27, 67, 72, 75, 81, 96f., 168, 355 Idealismus, idealistisch 48, 115, 121

Sachregister

Identität 10–13, 16, 99, 117, 119f., 122, 128, 132, 152, 156–160, 162–164, 168, 171, 173, 176–178, 183, 185, 187, 284, 286, 301–305, 307f., 310, 312, 315, 317, 320, 326, 328f., 331f., 338, 340, 342, 351, 353, 355, 357 ILC → Internationaler Lutherischer Rat Inkarnation, inkarniert 49f., 128, 271, 273–279, 281f. Internationaler Lutherischer Rat (ILC) 18, 289, 327, 329, 331 Interpretation, interpretieren 46, 113, 116, 122, 126, 195, 198f., 203, 223, 231, 274, 296, 307, 310, 313–315, 327, 342, 349 ius in sacra – ius circa sacra 56, 65, 77, 79, 91, 93 ius liturgicum 55, 76, 167, 321 Kabinettsorder 57, 63, 69, 81, 83, 97, 109 27.9.1817 9, 20, 52f., 81f., 84, 88, 90, 92f., 98–102, 104, 111, 113–116, 124, 137, 164f., 170, 217, 317 28.2.1834 70f., 95f., 102, 109 30.4.1830 57 Kanon, kanonisch 120, 193f., 275, 279, 284–286, 290f. Katechismus, Katechismen 85, 107, 148, 285, 299, 336 Heidelberger Katechismus 102, 107, 110, 227 Luthers Großer Katechismus 110, 209f., 273f., 309 Luthers Kleiner Katechismus 102, 110, 210, 298, 354 Katholizismus, katholisch 26, 49, 90, 103, 116, 119f., 123, 127, 129, 131, 162, 193, 201, 243, 272, 284, 288, 291, 302, 312, 316, 328f., 331, 351, 358 Katholizität 207, 296, 312 Kirche, kirchlich 9–13, 16f., 19–25, 27, 30, 34–37, 40–42, 51–54, 57, 59f., 62, 65–67, 69, 72–74, 77, 82, 84–86, 88–90, 94–96, 98–100, 105, 108f., 113, 116, 118, 120, 122, 125–132, 137, 140, 143, 145, 147, 150, 153–

371

156, 158–161, 167f., 171, 173, 176– 179, 181–203, 205, 207–213, 216– 218, 220f., 223–226, 228–230, 233f., 236–244, 246f., 249, 252– 255, 260, 262, 265–267, 272, 281f., 284, 286, 288, 296–298, 301–315, 317–321, 323–329, 331–342, 344, 347–349, 351, 353f., 356–358 Alte Kirche, altkirchlich 10, 149, 205, 224, 290, 295, 297, 309, 313, 331, 335, 355, 359 Kirchenbund 188, 237f., 262 Kirchengemeinschaft, kirchliche Gemeinschaft 11f., 21, 30, 40, 65, 77, 82, 85, 87–89, 96–98, 102, 108, 122, 155, 188, 200–203, 211, 214–216, 218, 226, 268, 285–289, 292–295, 297–300, 304, 307f., 315, 324–329, 331f., 339, 349, 354, 357f. Kirchenkampf 12, 27f., 180f., 195, 213, 232, 238, 240, 243, 247, 250, 255, 268, 320, 345, 347, 349, 355 Kirchenkanzlei 16, 19, 25, 27, 30, 32, 34 Kirchenleitung, kirchenleitend 24f., 35, 47, 78, 92, 94, 98, 113, 154, 187, 233, 235, 239, 243, 249, 258, 265f., 269, 323, 325, 327, 355 Kirchenregiment 52, 56, 63, 79, 84, 90, 92, 96, 100, 109, 213, 220, 263, 264f., 347, 355 Kirchentrennung, kirchentrennend 9, 17, 21, 23, 27, 33, 87, 111, 123, 130, 201, 203, 214, 233, 265, 300, 331, 352 Kirchenverfassung 10, 41, 89, 91f., 94, 98, 201, 303, 318, 321 Kirchenverständnis 82–86, 88, 91, 93, 97f., 218, 230, 263, 290, 310, 312 Kirchwerdung 17, 43, 74, 78, 82, 89, 153 Volkskirche, volkskirchlich 235, 268 Kirchenpolitik, kirchenpolitisch → Politik, politisch

372

Register

Kleiner Katechismus → Katechismus, Katechismen Kommunion → Abendmahl Konfession, konfessionell 9–11, 13, 16, 26, 33, 38–40, 43, 47f., 51–53, 56f., 60, 67, 69, 77, 79f., 83–91, 93, 95, 98, 102–104, 106, 108–111, 115, 121f., 131, 137, 141, 143, 149, 153, 156, 160, 162, 164, 169–172, 177, 181, 184f., 188, 191, 199f., 202f., 205, 210f., 213–215, 217f., 221, 226–228, 230f., 234, 236, 239f., 243, 244, 257, 263–265, 268f., 288, 293, 296f., 299f., 303, 317f., 320f., 323, 325f., 328f., 331f., 341, 342, 345, 347, 350–352, 356–359 konfessionsbestimmt 89, 91, 320, 323, 339 Konfessionskirche 94, 164, 268, 329, 353 konfessionsübergreifend 86, 92 Konkordienbuch → Bekenntnisschriften Konkordienformel 85, 193, 195, 206– 210, 212, 290f., 296, 308, 313, 344 Konkordienluthertum, konkordienlutherisch 12, 14, 215, 289f., 292, 295, 320, 323f., 326– 329, 331f., 339, 344, 355 Konsens, Konsensus 12, 101, 105–107, 109, 111, 114, 122, 128, 130f., 184, 188, 192, 197, 200f., 204, 207, 213, 291, 296, 303, 325, 327, 329, 331f., 335–339, 345, 355 Lehrkonsens 108, 129, 295, 337 Konsensusunion → Union, uniert Konsistorium, konsistorial 26, 34, 52f., 56–60, 62, 65f., 69, 71f., 75, 91, 94, 138, 164f., 177, 249, 254, 320f. Krieg 21, 91, 108, 163, 348 Erster Weltkrieg 218, 346, 354 Zweiter Weltkrieg 27, 37, 180, 182, 213–215, 221, 247, 251f., 258, 261, 289, 295f., 324, 348f. Kryptocalvinismus, kryptocalvinistisch 291, 355 Landeskirche, landeskirchlich 9, 13f., 37, 39f., 42, 56, 73, 78, 81, 83, 89f.,

98, 100f., 107, 109f., 113, 120, 136, 158, 169–171, 177, 183, 185, 188, 208, 215, 221, 229, 234, 236–238, 240f., 244, 246, 251–253, 255, 257– 259, 261–263, 265, 268, 293f., 299, 320–324, 327, 346–349, 351 Landeskirchliche Gemeinschaft 255, 265 Lehre, lehren 11f., 23, 44f., 50, 54, 65, 77, 79, 84, 86f., 101f., 104–107, 115, 118, 120f., 123, 128f., 131, 139, 171, 179, 193f., 196–201, 203–211, 213– 218, 221f., 225–227, 231, 285, 288– 290, 294–298, 300, 302f., 305–315, 317f., 324f., 327, 329, 332, 334– 339, 342, 353, 357–359 kirchliche Lehre 161, 179, 193, 196f., 199, 208f., 222, 286, 297, 303, 311–315, 337f., 347 Lehrgespräche 297, 303, 305f. Lehrverurteilung 22, 201, 211, 228, 290, 296, 338 Leuenberger Konkordie 14, 30, 40, 89, 188, 195, 200, 201f., 214, 268, 283, 287f., 290, 292, 294, 300, 304f., 327f., 339, 342, 345 Liturgie, liturgisch 10f., 27, 55f., 68, 84f., 89, 93f., 98, 132f., 136–146, 149–168, 170f., 173–181, 183–186, 208, 219, 225, 267, 289, 303, 318, 328, 330 Liturgiereform 137, 141, 149, 157, 160, 165, 172, 178, 181, 267 Liturgik 137, 147, 151, 153, 155 Lutheraner, lutherisch 9, 20f., 28–31, 33, 35–37, 39–42, 44, 47–49, 51– 53, 55–57, 59–63, 65–75, 77–79, 81, 83–85, 88–90, 96, 98, 100f., 105, 107, 109f., 116, 118, 124–130, 133, 135–145, 147, 149–153, 156f., 161, 163–166, 169–171, 173, 176f., 179–181, 188, 192, 194–197, 203, 207, 211, 214, 227, 232, 236–240, 242–246, 251–254, 256f., 262–267, 270, 289–295, 297, 299, 303, 305, 308, 310, 314, 317–320, 322–325,

Sachregister

327–332, 334, 336–339, 342, 345– 349, 352–359 Altlutheraner, altlutherisch 9f., 12–14, 16f., 19, 21, 24–30, 32–38, 41, 43, 63f., 67–78, 81f., 85, 89, 91, 94f., 97f., 132, 133f., 136f., 139–143, 148–153, 156f., 171, 179, 232– 234, 236, 238–241, 243–267, 292–294, 319f., 322, 324, 348, 350, 353, 355 Lutherische Kirche – Missouri-Synode (LC-MS) 29, 35, 323, 354 Mentalität, Mentalitäten 10, 112–116, 119f., 122, 130f., 341 Ministerium, ministerial 52f., 56, 62, 64f., 76, 78, 91, 93, 113, 238, 263 Mission, missionarisch 13, 41, 197, 252, 256, 282, 286, 299, 310, 340, 350, 354, 356 Moral, moralisch 45, 114f., 126, 130, 299 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch 11, 16, 19, 21, 28, 31, 226, 233, 238, 242f., 246, 253, 258–260, 267 Neues Testament → Bibel, biblisch Nizänisches Bekenntnis 107, 208, 210 norma normans – norma normata 197, 209, 212f. Oberkirchenkollegium 34–36, 77f., 233, 237f., 240, 245, 253, 263, 320, 324 Ökumene, ökumenisch 14f., 18–20, 25f., 28, 30, 34f., 38f., 42, 105, 107, 110f., 130f., 137, 143, 153, 175f., 182, 184, 188, 198, 200f., 213f., 245, 270, 289f., 297, 299, 324, 326, 328– 332, 342f. Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK) 40, 253, 268 Ökumenizität 12, 144, 153, 297 Old Lutherans → Lutheraner, lutherisch Opposition, oppositionell 50, 80, 111, 114, 124, 126, 130f., 138, 233, 235, 241, 243, 249, 265, 269, 300, 318, 321 Ordination, ordinieren 17, 48, 52, 68, 73–75, 102, 106f., 116, 126, 132,

373

134, 142f., 162, 169, 210, 251, 264, 274, 282, 285, 291, 298, 320, 325f., 330, 338 Orthodoxie, orthodox 44, 47, 49, 101, 115, 228, 297, 328f., 331, 350f. russisch-orthodox 137, 153, 163, 166, 172 Papst, Papsttum 117, 119f., 131, 306 Pietismus, pietistisch 44, 46f., 101, 112, 114–116, 123, 197 Politik, politisch 35, 38, 53, 75, 79, 81– 83, 90, 93, 96, 98f., 101, 108, 113, 116, 121, 131, 154, 163, 183, 195, 207, 214, 234, 236f., 240f., 243, 252f., 256, 258, 261, 266f., 269, 303, 307, 325f. Kirchenpolitik, kirchenpolitisch 10, 57, 81, 83f., 86, 88, 93f., 98, 170, 257, 317, 320f., 324, 355 Pommern, pommersch 28f., 74, 256f. Predigt, predigen 9, 16f., 19, 22, 24–29, 32f., 35, 53, 57, 60, 86–88, 93, 114, 138, 156, 162, 170, 178, 193, 196f., 199f., 208, 216, 228–230, 254, 258, 282, 296–299, 307, 310f., 332–335, 344, 353, 358 Prediger 26f., 29, 32, 45, 47, 52f., 57, 60, 62f., 73, 84, 86, 88f., 113, 116, 128f., 144, 162, 164, 178, 239, 250f., 254f., 259, 265, 298 Preußen, preußisch 9, 10, 12f., 24, 27f., 32f., 35, 47, 51–54, 56, 58, 61, 64, 66f., 72–76, 78, 82–84, 88–94, 98– 102, 104, 106, 109, 111f., 114, 116, 118, 124, 131, 135, 137, 140–142, 154, 157–160, 163, 167, 169, 170– 172, 184f., 219, 221, 234, 236f., 245, 265, 269, 290, 292, 308, 317, 319– 322, 346, 348, 353–356, 359 Altpreußen, altpreußisch 14, 16, 21, 27, 32, 34, 161, 256, 263f., 267, 293, 324, 344 Preußische Union → Union, uniert Priester, Priestertum 185, 223, 274, 311 Protestantismus, protestantisch 40, 46, 87, 89, 91–94, 98, 101, 103f., 106f., 112–124, 127–131, 137, 162, 164,

374

Register

166, 178, 185, 194f., 213–215, 217, 218, 220, 231, 234, 243, 269f., 288, 290, 300, 308, 313, 315, 318, 324, 327, 349 Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 263 Rationalismus, rationalistisch 10, 45, 47–51, 53–55, 69, 79f., 85, 105, 112, 114f., 119, 130, 143, 350 Realpräsenz 12, 50, 69f., 128, 142, 201, 271, 273f., 276–279, 281–283, 286, 292, 296 Rechtfertigung, gerechtfertigt 73, 79, 87f., 106, 117, 119, 195, 207, 214, 219, 265, 309, 335, 339, 353, 356, 358 Reform, Reformen 91f., 94, 98, 100, 104, 120, 137, 171f., 179, 194f., 209, 301, 318 Reformation, reformatorisch 10, 13, 17, 24, 30, 49, 58, 79f., 87f., 90, 93, 103–107, 116f., 121–123, 135, 158, 175, 181, 188, 195, 198, 205, 207f., 211, 265, 270f., 285, 290, 303, 305, 309, 312, 316f., 323, 325, 331f., 335, 337, 342, 349 Reformationsjubiläum 9, 24f., 52f., 80, 93, 100, 112, 164 Reformationszeit 111, 135–137, 140, 144, 191, 195, 270, 296, 303, 305, 313, 347 Reformator, Reformatoren 23, 51f., 104, 114, 117f., 197, 270f., 291, 312, 358 Reformierte, reformiert 9f., 20, 35, 47, 50–53, 55f., 60, 66, 69, 75, 79–81, 84, 86, 88, 91f., 94, 100, 107, 109– 111, 137, 139–142, 158, 160, 162– 166, 169–171, 176, 180, 194–197, 200, 202f., 211, 217, 226f., 237, 264, 270, 290–292, 295, 297, 300, 303, 305, 308, 322, 344f., 347, 349, 351f., 354f. Reformierter Bund 214, 237 Religion, religiös 38, 44, 52f., 57, 59, 70f., 75, 78, 83, 96, 98, 114f., 121f., 128, 144, 189f., 243, 245, 268, 290,

301f., 304, 313, 321, 341, 345, 351, 357 Religionsfreiheit 122, 293, 321 Renitenz, renitent 60, 72, 81, 234, 264, 322 Revolution, revolutionär 51, 70, 95f., 98, 108, 120, 129, 272 Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung 94, 110f., 169 Römisch-katholische Kirche 105, 119f., 122, 131, 243, 291, 300, 353, 358 Sachsen, sächsisch 28, 36, 58, 67, 73– 75, 134, 139, 147, 191, 195, 254, 258, 261, 323, 347f., 355, 358 Sakrament des Altars → Abendmahl Sakramente, sakramental 10, 88, 106, 110, 127, 129f., 134, 171, 179, 192, 199f., 212, 216f., 219, 230f., 245, 271–276, 278, 281–283, 286, 288, 292, 296–298, 308–312, 326, 330, 332–338, 357f. Sakramentsgemeinschaft 10, 330 Sakramentsverwaltung 162, 192, 208, 215f., 296, 309, 329, 337, 339 Schlesien, schlesisch 20, 27, 29, 44, 51, 53, 55–58, 60, 63, 65, 67–70, 72, 74, 81f., 85f., 89, 91f., 94f., 97, 124, 132f., 135f., 138–140, 143–146, 151, 157, 168, 171, 229, 256, 318–320, 322 Schmalkaldische Artikel 85, 107, 110, 191, 207, 210, 291 Schuld, schuldig 16, 21, 33f., 63, 81, 95, 97, 189, 234, 307 Schuldbekenntnis 19, 24, 27, 32, 176, 195 Schuldgeschichte 344 Schwärmer, schwärmerisch 118, 129, 273, 351 Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) 13f., 16–18, 30, 37f., 40, 42, 130, 154, 156, 173, 179, 187, 202, 205, 208, 210f., 245, 268, 293– 295, 297–299, 301–303, 324–331, 336, 340–342, 344, 346f., 349, 351, 355

Sachregister

Separation, separiert 25, 28, 63f., 77, 89, 95, 136, 192, 232, 322, 348, 352 Solidarität, solidarisch 37, 241, 243, 249, 252f., 258, 266, 269 Staat, staatlich 9, 13, 26, 28, 35f., 38, 51f., 65–67, 70f., 76–79, 81, 85–88, 91–96, 99, 104, 107, 112–116, 129, 131, 137f., 143, 145, 190, 205, 213, 220, 233, 235–238, 240, 242–247, 251f., 254, 256, 265, 268, 293, 301, 308, 319, 321, 325, 345f., 348, 351, 354f. Staatsfreiheit, staatsfrei 10, 36, 263, 302, 319, 321 Staatskirche, staatskirchlich 9, 36f., 86, 89f., 138, 221, 238f., 265, 302, 317, 321–323, 355 Stein-Hardenbergsche Reformen 52, 91, 112 Sünde, Sünder 27, 45, 49, 51, 54, 119, 142, 182, 195, 207, 276–298, 311f., 335 Symbol, symbolisch 46, 49, 58, 60, 83, 118, 121, 151 Symbolische Bücher → Bekenntnisschriften Synode, synodal 24, 26, 35, 53f., 71, 74– 77, 91–93, 98, 100f., 104, 110f., 117, 148f., 164f., 167, 177, 179, 226–228, 233, 235, 238, 246, 298, 308, 321, 325f., 351, 354, 356 Bekenntnissynode 21, 211, 218, 225– 228, 230, 239, 241–243, 253, 264, 269, 293, 297 Generalsynode 34, 76–78, 100, 103, 106, 109, 148–150, 170, 193, 219, 237, 263, 293, 319 Synodalbeschlüsse 74, 77, 106, 136, 148, 164, 219, 264, 293 Synodalordnung 92–94, 308, 321 Unionssynode 55, 70, 79 Taufe, taufen 15, 19, 50, 62, 73, 107, 127, 132, 142, 148f., 151, 155f., 162, 185, 219, 223, 225, 245, 273, 286, 299, 327, 330, 340, 358 Thüringen 239, 258, 260, 269

375

Tradition, traditionell 10, 44, 47–49, 79, 92, 118, 123, 126, 131, 133–137, 140f., 147, 150, 152f., 157, 165f., 169f., 175–177, 179–182, 184f., 191, 194, 197–199, 201–203, 206, 208f., 217, 239, 244, 268, 275, 279, 285, 288, 299, 302f., 305, 307, 310, 312f., 315, 325, 332, 337, 340, 347, 357f. Trinität, trinitarisch 106, 179, 276, 278, 280f., 283, 288 Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) 13f., 16, 18, 30, 33, 154, 187f., 268, 301–303, 307, 344–346, 351, 354 Evangelische Kirche der altpreußischen Union (APU) 9, 232f., 238, 263–265, 289, 349 Evangelische Kirche der Union (EKU) 9, 16, 19–21, 23–32, 34f., 173, 179f., 183, 222, 226, 303, 307, 344, 349f., 354 Union, uniert 9f., 12, 14, 16, 19f., 23, 25, 27–30, 32–34, 37, 39f., 42f., 51–66, 68f., 71–74, 76, 78–85, 87f., 90, 92– 95, 97–104, 106–116, 121, 123– 125, 127–131, 133, 135, 138, 140– 146, 148,f., 151f., 164, 171, 173, 176f., 180f., 184f., 187f., 192, 202, 211, 215–218, 221, 230, 236–238, 240, 243–245, 252f., 255, 257, 263– 265, 269–271, 284, 286f., 289f., 292f., 295, 297, 300f., 317, 320, 322–324, 328f., 345f., 348–357 Konsensusunion 54, 101f., 110f., 345, 348 Preußische Union 9f., 14, 24f., 30f., 39, 42, 62, 78, 82f., 88, 92, 97f., 113, 124, 141, 165, 169, 171, 217, 265, 290, 300, 318, 344f., 350, 353–355, 359 Unionismus, unionistisch 170, 239, 300, 323f., 327, 354 Unionsgegner 56, 98, 104f., 128, 355 Unionsjubiläum 24, 30, 35, 41, 90, 353

376

Register

Unionskirche 20f., 27, 37, 39, 90, 170, 239, 287, 303, 352 Unionspolitik 82, 98 Unionstheologie 99, 101, 103, 105, 235, 300 Verwaltungsunion 92, 109, 221, 303 Unionsaufruf → Kabinettsorder Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) 30, 37, 173, 179, 183, 188, 222, 226f., 294f., 324, 328, 348f. Vereinigung, vereinigen 9, 19, 29, 39, 43, 51f., 60, 83f., 101f., 104, 106, 114, 123, 125, 137, 164f., 190, 236– 238, 242, 268, 287, 318, 324f., 333, 349, 354, 356 Verfolgung, verfolgt 13, 19, 28, 33, 42, 67, 71, 73–75, 80, 95, 113, 129, 233, 235, 243–245, 251, 256, 263, 344, 355 Verfolgungszeit 37, 43, 75, 78, 267, 320 Vergebung, vergeben 21, 26, 28f., 33, 230, 277, 298, 312, 353

Vergebungsbitte 26–29, 35, 37, 230 Verhaftung, verhaften 21, 68, 73, 75, 248, 250, 252, 258, 319 Vermittlungstheologie 101, 108, 115f., 349 Vernunft, vernünftig 43, 48–50, 56, 69, 79, 101, 114f., 117, 126, 161, 315 Versöhnung, versöhnen 9, 16, 18f., 25f., 28, 37, 117, 201, 276–279, 312 Verständigung, verständigen 124, 133, 152f., 283, 302, 337, 351 Verwaltungsunion → Union, uniert Volkskirche → Kirche, kirchlich Widerstand, widerstehen 10, 21, 43f., 51, 55f., 78, 94, 138, 146, 167f., 226, 233, 238, 241, 243, 245, 253, 265, 267f., 292, 322, 353 Wittenberg 13f., 16, 18, 24, 51, 58, 61, 65, 79f., 85, 89, 132–136, 143f., 148f., 151f., 187, 195, 197, 233, 271, 291, 344, 358 Worms 126 Zweiter Weltkrieg → Krieg Zwei-Regimente-Lehre 56, 226