Im Clash der Identitäten: Nationalismen im literatur- und kulturgeschichtlichen Diskurs [1 ed.] 9783737011402, 9783847111405

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Im Clash der Identitäten: Nationalismen im literatur- und kulturgeschichtlichen Diskurs [1 ed.]
 9783737011402, 9783847111405

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 1

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Wolfgang Brylla / Cezary Lipin´ski (Hg.)

Im Clash der Identitäten Nationalismen im literatur- und kulturgeschichtlichen Diskurs

Mit 5 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zielona Góra. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Mamert Janion Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1140-2

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Kultur unter Druck Barbara Stambolis (Münster) Wem gehört die Gotik? Historische Facetten einer politisch folgenreichen nationalen Blickverengung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Cezary Lipin´ski (Zielona Góra) Zwischen amor patriae und Nationalismus. Humanistische Schlesien-Projektionen im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .

31

Wolfgang Brylla (Zielona Góra) Die Apolitisierung des deutschen Pop? Oder: Wie die Mainstream-Musik auf den Rechtsruck reagiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Katarzyna Jas´tal (Kraków) Körper und Geschlecht der deutschen Sprache im sprachnationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Dominika Anna Gortych (Poznan´) Zwischen »Sexy-Befreiung« und »frustrierter Fremdenwut«. Nationalistische und rechtspopulistische Denkfiguren im deutschen Pressediskurs zur PEGIDA-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Tobiasz Janikowski (Kraków) Nationalistisch fundierte Emotionalisierungsschemata zur Zeit der Flüchtlingskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

6

Inhalt

Literaturdiskurs I: Deutschland Andrea Rudolph (Opole) Zukunftsorientierte Identitätskonstruktionen in Abgrenzung zu Milieu und Rasse. Ferdinand Wilhelm Bronners Dramenhelden und Nietzsches Lebenskunstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Arletta Szmorhun (Zielona Góra) Jüdische(r) Fremdkörper. Rassistische Stigmatisierungs- und Ausschließungspraktiken in Julia Francks Die Mittagsfrau . . . . . . . . . 173 Albrecht Classen (Tucson, Arizona) Die Gefahren des Massenwahns aus literarhistorischer Sicht: Von Walther von der Vogelweide und Heinrich Wittenwiler zu Thomas Mann und Gustave Le Bon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Magdalena Latkowska (Warszawa) Konföderation oder Nationalismus? Zu Nation und deutscher Einheit in der politischen Publizistik von Günter Grass . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Maria Wojtczak (Poznan´) »Schildern im deutschnationalen Sinne«. Zur bewusstseinsstiftenden Rolle der populären Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Maciej Walkowiak (Poznan´) Der deutsche Nationalismus und seine literarische Resonanz in Ernst von Salomons Roman Der Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Literaturdiskurs II: Schweiz und Österreich Markus Fauser (Vechta) Mit Habermas am Lagerfeuer. Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule – Von der Unzerstörbarkeit des mythischen Bildes . . . . . . . . . . . . . . 249 Monika Szczepaniak (Bydgoszcz) »Um ihre polnischen Dörfer wiederzusehen, zerstören sie das Reich«. Soldatische Nationalismen in den österreichischen Romanen zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

7

Inhalt

Literaturdiskurs III: Osteuropa Małgorzata Dubrowska (Lublin) Klagelied und Aufschrei. Zum Problem des polnischen Antisemitismus in Mordechai Zanins literarischer Reportage Iber sztejn un sztok (1952) . . . 283 Anna Szóstak (Zielona Góra) Trügerischer Reiz des Nationalismus. Zu Ideologieansprüchen und Ideologiefallen in den realsozialistischen Gedichtbänden von Tadeusz Róz˙ewicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Nel Bielniak (Zielona Góra) / Małgorzata Łuczyk (Zielona Góra) Russischer Nationalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts (am Beispiel der Erzählung Masern von Alexander Kuprin) . . . . . . . . . . . . . . . 317

Im Wirkungsradius des Nationalismus Paweł Zimniak (Zielona Góra) Nationalzentrierung als Komplexitätsreduktion . . . . . . . . . . . . . . . 335 Mirosław Kowalski (Zielona Góra) Facetten des Nationalismus aus Sicht der Ideologie und Bildungspraxis Paul Martin Langner (Kraków) Vom »Nationalbegriff« vor dem Nationalbegriff

. 347

. . . . . . . . . . . . . . 365

Jarochna Da˛browska-Burkhardt (Zielona Góra) Das nationalistische Polenbild in der Pressekarikatur der Zwischenkriegszeit. Polarisierung im Satireblatt »Kladderadatsch« (1918– 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Andrey Kotin (Zielona Góra) Von Fichte zu Rosenberg, von Tieck zu Hesse. Metamorphosen der Nationidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Vorwort

»Die Deutschen sind frei von Nationalstolz«, behauptete Mitte des 19. Jahrhunderts Arthur Schopenhauer,1 der für die Vaterlandsliebe als solche wenig übrig hatte. Überhaupt, so der Eindruck, war für den selbst ernannten Schüler von Immanuel Kant der Gedanke bzw. die Vorstellung von einem demokratischliberal regierten deutschen Staat völlig abstrus. Als Anhänger eines (aufgeklärten) Absolutismus äußerte er sich meistens kritisch über die Revolution von 1848 und den damit in Verbindung stehenden Demokratisierungspostulat, der wiederum eine neue Form des Nationalismus implizierte.2 Dieser schlug sich u. a. in den Zeilen »Deutschland, Deutschland über alles« von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1841) nieder. Für Schopenhauer ging wohl der Nationalstolz mit einer Einschränkung der Individualität zugunsten der Zementierung eines nationalen Kollektivs einher. »Die wohlfeilste Art des Stolzes«, erklärte er, hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen.3

Eine blinde Fokussierung auf die Nation und das Nationale, gepaart mit einem Verzicht auf die eigene Persönlichkeit, führt zur Mythisierung und Verfälschung der Geschichte (s)einer Nation. So betrachtet, um auf Kant zurückzugreifen, bleibt der Mensch weiterhin unmündig, weil er die Chance, sich frei seines Verstandes zu bedienen, für eine Idee hingibt.4

1 Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit. Berlin: ELV 2015, S. 37. 2 Siehe dazu: Hardtwig, Wolfgang: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994; Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990. München: C.H. Beck 1996, S. 124–168. 3 Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 37. Hervorhebung im Original. 4 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? und andere kleine Schriften. Berlin: Contumax 2016, S. 4.

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Vorwort

Dem an sich konturlosen Begriff der nationalen Identität haften so viele innere Widersprüche an, dass sich manchmal anbietet, auf das nicht unumstrittene Konzept der »imagined communities«5 zurückzukommen. Nationen wären somit Imaginationen, Fiktionen, ja (Wahn)Vorstellungen, die allerdings jederzeit, da die Grundvoraussetzungen ihres Bestehens mehr oder weniger brüchig sind, selbst zusammenbrechen können. Welche Folgen der Nationalismus bzw. der Nationalsozialismus in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt hatte, braucht nicht detaillierter ausgeführt zu werden. Lange Zeit schien es nach 1945, nach den Entnazifizierungs- und Demokratisierungsprozeduren in der BRD sowie in Anbetracht des aufgezwungenen sozialistischen Weltbildes in der DDR, die sich den Antifaschismus auf ihre Hammer- und Zirkel-Fahnen schrieb, dass Deutschland mit der nationalsozialistischen Geschichte reinen Tisch machte und daraus seine Lehren zog. Nach der Wende und der deutschen Wiedervereinigung keimte aber das rechtsextreme Gedankengut nach jahrzehntelanger Latenz, in die es vorerst abgedrängt wurde, wieder auf. Rassismus, Antisemitismus, Gewalt gegenüber Ausländern u. dgl. beherrschten erneut die Schlagzeilen. Hochrangige Politiker drücken sich vor einer klaren Stellungnahme, und überlassen das Problem der Straße. Verschärft hat sich die Lage durch die Migrationskrise, infolge derer fast eine Million Flüchtlinge in Deutschland untergekommen sind, was den vaterlandsliebenden Kreisen der »besorgten Bürger«, die sich über eine Spaltung der Nation durch Überfremdung beklagen, einen Grund für Hassreden und sogar Hetzjagden lieferte. Im Jahre 2018 zählte der Verfassungsschutz ca. 18.000 »Reichsbürger«, die offenkundig den deutschen Staat in Frage stellen.6 Im Vergleich zum Jahr 2016 hat sich die Reichsbürgerkolonie fast verdoppelt – Tendenz steigend. PEGIDA und die Identitäre Bewegung rekrutieren immer mehr Sympathisanten, die die Phrase »Ich bin kein Nazi, aber…« im Mund führen, sich als ›wahre‹ Deutsche in Szene zu setzen wissen und die Medien als Lügenpresse beschimpfen. Die Alternative für Deutschland mit Alexander Gauland, der die NSDAP-Diktatur als »Vogelschiss« in der deutschen Geschichtsschreibung schönredete,7 zog in den Bundestag ein und erfreut sich derzeit als zweitstärkste Partei hinter der CDU einiger Beliebtheit. Nationalismus ist wieder en vogue vor allem in den ›neuen Bundesländern‹, in denen sich der Traum von »blühenden Landschaften« längst austräumte und nur ›bräunende Landschaften‹ hinterließ. 5 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 2006. 6 URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-04/verfassungsschutz-reichsbuerger-bewegu ng-militanz-zulauf / letzter Zugriff am 9. November 2019. 7 URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauland-hitler-nur-vogelschiss-in-deutscher-ge schichte-15619502.html / letzter Zugriff am 9. November 2019. Siehe auch: Sundermeyer, Olaf: Gauland. Die Rache des alten Mannes. München: C.H. Beck 2018.

Vorwort

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Das Comeback nationaler Ideologien ist kein Spezifikum Deutschlands; auch in anderen europäischen Ländern und in den USA wurde der Nationalstolz zu einem Prinzip der Tagespolitik erhoben. Egal ob Italien, Frankreich, Dänemark, Großbritannien, Russland, Österreich, die Niederlande oder Polen, überall werden rechtskonservative Kräfte gewählt, die aus der Aufwertung des Nationalgefühls ihr politisches Kapital schlagen. Der Rückzug ins Konservative bedeutet einen Rückzug ins »altbewährte« Gestern, als die Verhältnisse in der Familie, zwischen den Geschlechtern, zwischen Staat und Kirche, im Land usw. angeblich noch »gesund« und übersichtlich waren. Durch die Rückbesinnung auf die Vergangenheit und die alten Werte beschwört man die (guten) Geister mit dem Ziel herauf, das Vergangene wiederherzustellen. Wenn man früher in der Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Zukunft Utopien konzipierte, so entscheidet man sich heutzutage für »Retrotopien«, wie sie Zygmunt Bauman nennt, für »Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/ geraubten/ verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«8. Die »Retropisierung« löst die »Nostalgie« aus, die zur Verklärung der (eigenen, nationalen) Geschichte führt und die Wiederherstellung der alten Weltordnung beabsichtigt. Vor dem Brexit-Referendum haben die Befürworter des EU-Austritts den Slogan »Take Back Control« benutzt, in dem das Back eben auf die Überzeugung von vielen sog. Sozialabgehängten »einmal-war-es-besser-und-mit-unsmusste-man-rechnen« anspielte. Im Wahlkampf um das Weiße Haus machte auch Donald Trump von ähnlicher Strategie Gebrauch. Mit »Make America great again« verpflichtete er sich, den Vereinigten Staaten ihre verlorene und ihnen doch zustehende Rolle als Heiland der (Konsum)Welt unter Rückgriff auf die altbewährten Ideen und Vorstellungen zu restituieren. Im mecklenburgischen Jamel, dem weltweit bekannt-berüchtigten Nazi-Dorf, lässt sich diese auf die Vergangenheit geeichte Rückwärtsphilosophie hautnah erleben. Eine Außenwand grüßt die Besucher mit der Aufschrift »frei-sozial-national«, in der Dorfmitte steht ein Straßenwegweiser, auf dem mit Sütterlin-Schrift solche Städte wie Wien/Ostmark, Breslau oder Braunau am Inn (Hitlers Geburtsort) verzeichnet sind. Aus Jamel sind es anscheinend nur wenige Kilometer an die Front… Um die Spannweite in der heutigen Nationalismusdebatte zu erfassen, darf man nicht Yael Tamir vergessen, die neulich mit ihrem Buch Why Nationalism? (2019) für internationales Aufsehen sorgte. Alle heutigen Erscheinungsformen des Nationalismus gehen ihrer Meinung nach auf die Schwäche des modernen Staates zurück.9 Kritisch hinterfragt sie dabei die Stichhaltigkeit jener historischpolitischen Narrationen, die im Nationalismus einseitig eine rückwärtsgewandte 8 Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Übers. von Frank Jakubzik. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 13. 9 Tamir, Yael: Why Nationalism? Princeton: Princeton University Press 2019, S. 8.

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Vorwort

Ideologie oder ihn nur als einen Ausdruck eines populistischen Denkens (populist state of mind) sehen.10 Ohne den Nationalismus, besonders in seinen radikalen, menschenverachtenden Formen glorifizieren zu wollen, versucht Tamir der verpönten Ideologie auch ein menschliches Gesicht und einen konstruktiven Aspekt abzugewinnen. So ist er in ihren Augen heute a u c h als eine Reaktion des sprichwörtlichen kleinen Mannes auf die wachsenden ökonomischen und politischen Ungleichheiten der liberalen Welt und als dessen Protest gegen die Herrschaft der Eliten zu verstehen. [I]t is an expression of a distinct anti-elitist voice that reflects the widening rift between the people and the privileged few, as well as the anger inspired by the growing inequalities and the emergence of »two nations« where there used to be just one.11

Mit diesem Sammelband wollen die Herausgeber vor dem Hintergrund der aktuell geführten Debatte sich der Problematik der Nationalismen aus kultur- und literaturhistorischer Perspektive zuwenden. Die hier versammelten Beiträge widmen sich paradigmatisch den einzelnen Diskursfeldern wie Pop-, Presse- und Sprachkultur sowie Literaturen, in denen man der Frage nach den Erscheinungsformen des Nationalismus, seinen Darstellungsvarianten oder Funktionen nicht nur mit Blick auf die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit, nachgeht. Es wird versucht, einen (Forschungs)Bogen vom Mittelalter bis hin zur Moderne zu spannen, auch um dessen Ästhetisierungsformen in ihrer ganzen Bandbreite zu beleuchten. Wolfgang Brylla und Cezary Lipin´ski

10 Vgl. ebd., S. 26, S. 31. 11 Ebd., S. 31.

Kultur unter Druck

Barbara Stambolis (Münster)

Wem gehört die Gotik? Historische Facetten einer politisch folgenreichen nationalen Blickverengung1

Eine Geschichte der Irrtümer – Anfänge und Dynamiken Im Jahre 1772 äußerte sich Johann Wolfgang von Goethe enthusiastisch über das Straßburger Münster.2 Wen sollte das auf den ersten Blick im 21. Jahrhundert überraschen und verwundern? War nicht diese gotische Kirche in ähnlicher Weise ein bewundernswertes Monument mittelalterlicher Baukunst wie beispielsweise die Kathedrale Notre Dame in Paris, seit 1991 zum Weltkulturerbe gehörend, die nach dem Brand im April 2019 eine Welle der Anteilnahme und Hilfsbereitschaft zum Wiederaufbau bzw. zur Rettung ihrer historischen Substanz auslöste? Wer indes vermag sich heute vorzustellen, dass – mit angestoßen von Goethes Sätzen aus dem Jahre 1772 – in Deutschland im 19. Jahrhundert eine Gotik-Begeisterung ihren Aufschwung genommen hatte, deren Vertreter behaupteten, die Gotik sei spezifisch deutsch? Die nationalistische Indienstnahme der Gotik im 19. und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre nicht in Goethes Sinne gewesen, wenngleich er wörtlich geschrieben hatte, das Straßburger Münster gleiche »einem hocherhabnen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern« die Herrlichkeit des Herrn verkörpere, »wirkend aus starker, rauher, deutscher Seele«3. Wie konnte es dazu kommen, dass die Frage, wem die Gotik ›gehöre‹, die Fantasie derart entzündete, dass selbst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg 1 Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um einen Abdruck von: Stambolis, Barbara: Wem die gehört die Gotik? Historische Facetten einer politisch folgenreichen nationalen Blickverengung. In: »Thalloris« 3 (2018), S. 79–94. 2 Goethe, Johann Wolfgang v.: Von deutscher Baukunst (1772). In: Goethe, Johann Wolfgang v.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1982, S. 7–15. Vgl. Kremer, Detlef: Von deutscher Baukunst. In: Goethe-Handbuch 3. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1997, S. 564–570; Keller, Harald: Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster und die Wiedererweckung der Gotik im 18. Jahrhundert. In: »Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse« H. 4 (1974), S. 3–83. 3 Goethe, Von deutscher Baukunst, S. 10, S. 14.

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Barbara Stambolis

junge Menschen aus Deutschland, die erstmals nach Frankreich reisten, diesem Irrtum aufsaßen? Wie konnten sich Deutsche im 20. Jahrhundert sogar dazu versteigen anzunehmen, es gebe einen idealtypischen gotischen deutschen Menschen? Antworten auf diese uns heute ungeheuerlich und abstrus erscheinenden gedanklichen Konstrukte mit politischen Folgen finden sich in der Geschichte nationalistischer Dynamiken, die erst nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts einer Sichtweise Platz machten, welche den Blick nicht mehr verengte, sondern ihn auf ein europäisches Erbe hin, das es gemeinsam zu würdigen gelte, weitete. Soviel zunächst zur Gotik: Es handelt sich um ein umfassendes architektonisches Konzept, das in zahlreichen Kathedralen, bspw. Westminster Abbey, der Abteikirche St. Denis, den Kathedralen in Chartres und Amiens verkörpert und nicht zuletzt im Straßburger und Ulmer Münster sowie im Kölner Dom variantenreich umgesetzt wurde. Merkmale sind u. a. Spitzbogen, durchbrochene Wände, Gewölbe mit Kreuzrippen, filigran untergliedertes Maßwerk. Es wurde bei den gotischen mittelalterlichen Kirchenbauten so der Eindruck einer Leichtigkeit erzeugt, der auf das Himmlische Jerusalem verweisen, ja sogar die Illusion erzeugen sollte, das irdische Kirchengebäude entspreche der Himmelstadt. Die gotischen Kathedralen des Mittelalters entsprachen also stets einem religiösen Programm, das im 19. Jahrhundert nicht mehr im Mittelpunkt stand. Nachdem die Gotik in der Frühen Neuzeit lange nicht als architektonisches Vorbild gegolten hatte, begann sie um 1800 unter neuen Vorzeichen im Zuge einer Umwertung auf neues Interesse zu stoßen, wobei auf Goethes eingangs erwähnten Text regelmäßig Bezug genommen wurde. Während im 21. Jahrhundert Goethes Text als Abiturthema beliebt ist, um im Deutschunterricht erarbeitete Merkmale des literarischen Sturm und Drang erörtern zu lassen, entfaltete er im 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gänzlich anderes, nationalistisches Deutungspotential, um das es im Folgenden gehen wird. Mit anderen Worten: Die Frage, wem die Gotik gehöre, erweist sich mit Reinhart Koselleck als exemplarisch für »Standortbindung und Zeitlichkeit« historischer Blickweisen.4 Die Vorstellung von der Gotik als »deutschem Stil« war zwar sachlich gesehen falsch, erwies sich jedoch, weil ausgesprochen schillernd, als faszinierend vielseitig ausdeutbar und erfreute sich breiter Aufmerksamkeit und Resonanz. Sie wurde zum Ausgangspunkt – salopp formuliert – einer Gotik-Mania in Deutschland, als Anfang des 19. Jahrhunderts das Heilige Römische Reich zer-

4 Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt; Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 176–207, hier S. 204f.

Wem gehört die Gotik?

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fiel,5 als Preußen sich gegen die napoleonische Besetzung erhob und im Zuge der Befreiungskriege Sehnsüchte nach einer einigen Nation erwachten. Man suchte nach Symbolen, die die noch zersplitterte Nation einen könnten. Die Gotik sollte zum Baustil einer neuen Nationalarchitektur erhoben werden. Zum einen sollten unvollendete gotische Bauten des Mittelalters, allen voran der Kölner Dom, zu Ende gebaut werden, um der Nation ein symbolisches einigendes Zeichen zu setzen. Zum anderen sollte die Gotik stilbildend für neue Architektur werden. Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts erblickten in der Gotik also mehr als nur steinerne Zeugnisse des Mittelalters. Sie eigneten sich einen historischen Stil an und belegten ihn mit Bedeutungen, die der Entstehungszeit fremd waren. Insbesondere die Frühgeschichte nationaler Einheitsträume war vom Gedanken konfessioneller Einheit getragen; nationale Feste, auch solche mit eindeutig kirchlichen Bezügen, sollten ein »heiliges Band um alle christlichen Confessionen«6 schlingen und die politische Zerrissenheit Deutschlands überwinden helfen.7 Wenngleich der Erzbischof-Koadjutor und spätere Kölner Erzbischof Johannes von Geissel diese Vorstellung als »einen königlichen Traum« Friedrich Wilhelms IV. abtat,8 handelte es sich um mehr als den Traum eines romantischen Monarchen. Geteilt wurde er von weiten Teilen einer Nationalbewegung, die sich mit Festhallen und nationalen Denkmälern konfessions- und standesübergreifende nationale Weihestätten schuf. Das Bild einer verklärten, politisch stabilen, künstlerisch fruchtbaren sowie national und konfessionell geeinten »fernen« Vergangenheit sollte für die Gegenwart nutzbar gemacht werden. Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die im 18. Jahrhundert einsetzte, schuf die Grundlage, von der aus das Mittelalter eine neue Bewertung erfuhr.

5 Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft. In: »Archiv für Kulturgeschichte« 61 (1979), S. 154–190. 6 Schäffer, J.H.K.: Der Kölner Dom und seine Vollendung in ihren Beziehungen zum deutschen Vaterland. Magdeburg: Springer 1842, S. 3. 7 Ebd., S. 33. Als Vision sieht der Autor im Dom »die Bischöfe der evangelischen und katholischen Kirche sich am Altare umarmen.« 8 Trippen, Norbert: Das Kölner Dombaufest 1842 und die Absichten Friedrich Wilhelms IV. von Preußen bei der Wiederaufnahme der Arbeiten am Kölner Dom. In: »Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein« 182 (1979), S. 99–115. Zitat: S. 111.

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Barbara Stambolis

Köln im Brennpunkt Die national-religiösen Vorstellungen konzentrierten sich brennspiegelartig in der Vollendungsgeschichte des Kölner Domes als »Denkmal« deutscher »Größe«9 und »Inbegriff des Geistes einer tiefsinnigen, gründlichen, religiösen, in Einheit großen, unüberwindlichen Nation«10. Der Dom verkörpere wie kaum etwas anderes die deutsche »Nationalidee«, seine Vollendung sei der Hebel für die Einigung der Nation und Ansporn, auf »deutschen Thürmen« freie Fahnen wehen zu lassen, hieß es anlässlich des ersten Dombaufestes im Jahre 1842.11 Der Dom sei ein »Wunderbaum«, »wundersame Blüthen treibt er an seinem Gipfel hervor, den die Wolken des Himmels umarmen.«12 In Anlehnung an den Text der Tedeum Verdeutschung Großer Gott, wir loben dich, die zu diesem Zeitpunkt bereits Eingang in katholische und protestantische Gesangbücher gefunden hatte, gelang es bei der Grundsteinlegung in Köln 1842, Christliches »national zu überschreiben«13. In Köln wurde die in der religiösen Hymne vorkommende Prozession von Märtyrern durch nationale Kämpfer unterschiedlicher Herkunft, das Blut Heiliger durch das von Soldaten ersetzt.14 Eine imaginäre Prozession von Märtyrern und Opfern der Jahrhunderte dauernden Glaubenskriege und Zwietracht sahen Zeitgenossen 1842 in Köln in den Dom einziehen und zur Einheit mahnen: Juden als Opfer christlicher Fanatiker, Opfer der Inquisition, »die blutenden Helden aus dem Sachsenkriege Karls des Großen, dem Hussitenkriege«, die »Blutzeugen des schmalkaldischen Krieges«, ferner die Opfer der Schlesischen Kriege, »die braven preußischen, für die Morgenröthe deutscher Bildung und Emporbringung des geschändeten germa9 Schäffer, Der Kölner Dom und seine Vollendung, S. 2. 10 Ebd., S. 3. 11 Ebd., S. 28. Zur Baugeschichte siehe auch: Neite, Werner: Der Kölner Dom als erstes Bauwerk der frühen deutschen Architekturphotographie. In: »Kölner Domblatt. Jahrbuch des ZentralDombauvereins« 36 (1973), S. 115–134; Knorre, Alexander v.: »Und fertig wird er doch!« Zu einem Aquarell der Kölner Domtürme von Vincenz Statz 1861. In: »Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombauvereins« 36 (1973), S. 135–142. 12 Schäffer, Der Kölner Dom und seine Vollendung, S. 5. 13 Kurzke, Hermann: Nationalhymnen als Säkularisate. In: Braungart, Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 1: Um 1800. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1997, S. 201–221, hier S. 204. Näheres in: Kurzke, Hermann: Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1991. 14 Vgl. Kurzke, Hermann: Kirchenlied und Literaturgeschichte. Die Aufklärung und ihre Folgen. In: »Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie« 35 (1994), S. 124–135; Braungart, Wolfgang/ Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred: Vorwort der Herausgeber. In: Braungart, Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 1: Um 1800. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1997, S. 3–16: »Der Kult des Nationalen birgt in der Moderne ein säkularisierendes Potential; die Nationalhymnen beerben in vielfacher Weise die religiöse Hymnik« (S. 15).

Wem gehört die Gotik?

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nischen Elementes streitenden Heere Friedrichs des Großen, […] die wackeren, eines bessern Streites würdig gewesenen Krieger Maria Theresiens. Auch die Gefallenen aus den Armeen des unglücklichen Rheinbundes, dieses Schandflecks der deutschen Geschichte, […] der wackere Schill […]«, die Kämpfer der Befreiungskriege und der Völkerschlacht von Leipzig.15 Der Kölner Dom eignete sich somit als Klammer aller denkbaren Geschichtsmythen, die für eine nationale Wiedergeburt instrumentalisiert wurden.16 180 »Turmvollendungen« schließlich können für das 19. Jahrhundert gezählt werden, von denen neben dem Kölner Dom vor allem das Ulmer Münster genannt werden muss, das als nationales Anliegen par excellence betrachtet wurde;17 wörtlich finden sich in einem Ulmer Spendenaufruf des Jahres 1857 die zeittypischen Formulierungen: »Wir wenden uns an Alle und jeden Einzelnen unserer Brüder in den weiten deutschen Gauen, welches Stammes und welches Bekenntnisses er sein mag, daß er vergesse Dessen, was uns trennt, und eingedenk sei Dessen, was uns einigt, des gemeinsamen Vaterlandes […]«18. Die Vollendung wurde als »prophetisches Zeichen« dafür gewertet, »daß Gott, der keinen Deutschen verlässt, das deutsche Volk durch die Wellenlinie leidenschaftlicher Kämpfe und wilder Erregungen und durch allen Wirrwarr und alle Stürme der Gegenwart hindurch gleichwohl mit allmächtiger Vaterhand einer höheren, gesegneteren, harmonischeren Lebensstufe zuführe.«19 Nationalen Festen wurde immer wieder besondere »Weihe« und Bedeutung verliehen, indem diese programmatisch national-religiös aufgeladen erschienen. So schreibt beispielsweise ein Politiker des Vormärz, Vorstand des Ulmer Liederkranzes und nachhaltiger Förderer des Münsterbaus anlässlich des Deutschen Sängerfestes 1836 in Ulm, zu dem etwa 12000 Teilnehmer in die Stadt kamen: »Und höher steigt die Flamme,/ Es gilt, habt Ihr’s erkannt?/ Das höchste

15 Kurzke, Hymnen und Lieder der Deutschen, S. 31. 16 Vgl. Flacke, Monika: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. Begleitband zur Ausstellung vom 20. 3. 1998–9. 6. 1998. Berlin: Philipp von Zabern 1998; darin Flacke, Monika: Die Begründung der Nation aus der Krise, S. 101–128. 17 Vgl. Knorre, Alexander v.: Turmvollendungen deutscher gotischer Kirchen im 19. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung von Turmabschlüssen mit Maßwerkhelmen. Köln: Kunsthistorisches Institut der Universität Köln 1974. Siehe auch: Borger-Keweloh, Nicola: Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert. München: C.H. Beck 1986. 18 Das Ulmer Münster in Vergangenheit und Gegenwart. Zum hundertjährigen Jubiläum der Vollendung des Hauptturms 1890–1990. Texte ausgewählt und erläutert von Elmar Schmitt. Weißenhorn: Anton H. Konrad 1989, daraus zit. S. 57. 19 »Ulmer Tageblatt. Beilage Festzeitung zur Vollendung des Münsters« vom 29. Juni 1890, Bl. 3, zit. aus: Das Ulmer Münster in Vergangenheit und Gegenwart, S. 82.

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Hoch dem Theuren,/ dem deutschen Vaterland.«20 Festort war sogar das Münster selbst, so dass die nationale und religiöse Färbung der Vereinsveranstaltung nicht zu trennen waren. Im Mittelpunkt des Liederfestes in Ulm am 25. Juli 1836,21 das als Fest aller Stände und Altersgruppen gefeiert wurde, stand ein Festzug zum Münster, an dem die Teilnehmer »mit ernster Miene in feierlich stiller Ruhe und Andacht« teilgenommen haben sollen.22 Es war ausdrücklich von der »Prozession« der Sänger zum Münster die Rede, erst in zweiter Linie dann vom Festzug. Über die Identifikation der Sänger mit dem national-religiösen Symbol, dem Münster, gelang es maßgeblich mit, den Ulmer Münsterbau mit der Zeit zu einem »deutschen Anliegen zu machen.«23

Zunehmende Anspannung: Wettbewerbe unter erschwerten Bedingungen Unter den zahlreichen Turmvollendungen befand sich beispielsweise auch die Soester Wiesenkirche, die ebenfalls in den Sog nationalreligiös aufgeladener Gotikbegeisterung geriet. Im »Soester Wochenblatt« wurde bereits 1836 über den unvollendeten Kölner Dom berichtet.24 1839 besuchte der Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. das westfälische Soest und sorgte als ideeller Unterstützer des Wiesenkirchprojekts für Begeisterung.25 Es folgten Jahrzehnte wiederholter Unterstützung der Wiesenkirchenvollendung durch das preußische Königs- und spätere deutsche Kaiserhaus. Das Fest der Grundsteinlegung für die Vollendung der Wiesenkirche fand am 14. Juli des Jahres 1846, vier Jahre nach der Grundsteinlegung des Weiterbaus des Kölner Domes, statt. An den Soester Feierlichkeiten 1846 beteiligten sich Geistliche beider christlichen Konfessionen sowie die Lehrer der katholischen wie evangelischen Schulen.26 Auch nationale Festsymbolik trat hinzu: »Unter dem Geläute der Glocken und dem Krachen der Böller stimmte die unübersehbare Festmenge die allgeliebte preußische Natio20 Programm für das Liederfest, Ulm 1836, Stadtarchiv Ulm, zit. aus: Hepach, Wolf-Dieter: Ulm im Königreich Württemberg 1810–1848. Wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte. Ulm: Kohlhammer 1979, S. 136. Vgl. Das deutsche Sängerfest. Ulm: Wagner 1836. 21 Specker, Hans Eugen (Hg.): Ulm im 19. Jahrhundert. Aspekte aus dem Leben der Stadt. Zum 100. Geburtstag der Vollendung des Ulmer Münsters. Begleitband zur Ausstellung. Ulm: Kohlhammer 1990, S. 231. 22 Ebd., S. 231. Zit. aus der »Kronik (sic!) der Kreishauptstadt Ulm« Nr. 61 vom 27. Juni 1836. 23 Wiegandt, Herbert: Ulm, Geschichte einer Stadt. Weißenhorn: Anton H. Konrad 1989, S. 199. 24 »Soester Wochenblatt« (SW) vom 26. November 1836 ausführlicher Bericht über Köln und den unvollendeten Dom, zunächst in einem Ölbild: Fortsetzung SW vom 19. November 1836. 25 SW vom 4. Juli 1839: »Worte der Soester Junggesellen bei der Ankunft […], Gedichte, u. a. des Gymnasiums«; SW vom 28. Juni 1839. 26 Ebd., S. 11.

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nalhymne an: Heil Dir im Siegerkranz!«27 Die Kirche war mit Blumen und Eichenlaub, dem nationalen Denkmalgewächs schlechthin, geschmückt. Vieles spricht dafür, dass über die Jahrhundertmitte hinaus Protestanten und Katholiken um ein konfessionelles Miteinander bemüht waren. Um die Mitte der 1860er Jahre jedoch begann der konfessionelle Frieden brüchig zu werden, bevor er im Kulturkampf nachhaltig gestört wurde. Träume von einer konfessionell geeinten Nation, die sich in der Vollendung mittelalterlicher gotischer Kathedralen nationale Weihestätten schuf, verloren vor diesen Hintergründen an Bedeutung. Die Geschichte des Ulmer Münster- und des Kölner Dombaus zeigt, dass die nationalen, konfessionseinigenden Träume im Zuge der Gotikverklärung und -neubelebung Konstrukte waren, die den hochgesteckten Erwartungen nicht entsprachen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit kaum standhielten. 1842 hatte in Köln etwa noch die Spende des Eherings Martin Luthers dazu beitragen sollen, »zur Eintracht und Duldung« aufzufordern, »auf daß sich die verschiedenen Konfessionen in Liebe vereinigen«28. Mehr und mehr indes gerieten nationale Festanlässe unter der politischen Dominanz Preußens in den Sog protestantischen Einflusses. Die Kölner Dombaufeste gerieten im Kaiserreich zur pompösen Selbstinszenierung des »evangelischen Kaisertums«.29 Insbesondere infolge des Kulturkampfes verlor die »konfessionelle Offenheit« als nationalromantisches Ziel an Bedeutung,30 und mit diesem verblasste die Gotik als Nationalstil. Nach der Reichsgründung mischten sich mit der wachsenden symbolischen Bedeutung des protestantischen Ein feste Burg, das auch als protestantische Marseillaise bezeichnet wird, Lobhymnen anlässlich des Sieges über Frankreich und den ultramontanen Katholizismus.31 Die gotischen Kathedralen verloren ihren hohen Symbolwert, wenngleich in Festzügen Gotisches als dekorativ-historisierendes Beiwerk und Attribut des »Altdeutschen« und auch als Stilelement an Krieger- und Ehrenmalen nach wie vor zu finden war. Die Einweihung des Kölner Domes im Jahre 1880 hinterließ bei zahlreichen Katholiken dann gar einen Schock angesichts der preußisch-pro27 Presbyterium der Wiese-Georgs-Gemeinde (Hg.): Die restaurierte und vollendete Wiesenkirche. Denkschrift zur Erinnerung an die am 15. Oktober 1882 vollzogene Einweihung derselben. Soest: Nasse’sche Buchdruckerei 1882, S. 12. 28 Vgl. Rode, Herbert: Die Spende des Eherings Dr. Martin Luthers für den Kölner Dombau 1842 »und was damit zusammenhängt«. In: »Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombauvereins« 36/37 (1973), S. 101–114. 29 Der Kölner Dom wurde gleichsam Ersatz für den nie realisierten, von Schinkel während der Befreiungskriege geplanten preußischen Nationaldom. Vgl. Nipperdey, Thomas: Der Kölner Dom als Nationaldenkmal. In: »Historische Zeitschrift« 233 (1981), S. 595–613. 30 Langewiesche, Dieter: Die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Sängerbewegung im 19. Jahrhundert. In: Schwäbisch Hall. Wiege der deutschen Sängerbewegung. Begleitschrift zur Ausstellung im Foyer des Rathauses, 30.4.–24. 5. 1992, S. 9–30. Vgl. Elben, Otto: Erinnerungen aus der Geschichte des Stuttgarter Liederkranzes. Stuttgart 1894. 31 Elben, Stuttgarter Liederkranz, S. 58.

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testantischen Dominanz der Veranstaltungen. Anders als 1842 wurde trotz des überstandenen Kulturkampfes gar nicht versucht, die religiösen Bedürfnisse katholischer Gläubiger des Erzbistums Köln bei den offiziellen Feierlichkeiten angemessen zu berücksichtigen. Als evangelische Demonstration wurde insbesondere die Tatsache gedeutet, dass ein Dankgottesdienst in der evangelischen Trinitatis-Kirche für den Kaiser und die Reichsfürsten dem Tedeum im Dom vorausging. Die überwiegend katholische Schuljugend musste den Choral Nun danket alle Gott singen. Dieser Choral hatte bereits nach der entscheidenden Schlacht zwischen Preußen und Österreich bei Leuthen 1757 im Siebenjährigen Krieg, die die Legende Friedrichs des Großen wesentlich mitbegründete, eine neue Bedeutung erhalten. Der Alte Fritz soll den Choral in einem preußischen Dankgottesdienst unter offenem Himmel, auf dem Schlachtfeld, nach der Schlacht von Leuthen, haben singen lassen. Der alte protestantische Choral Nun danket alle Gott ging fortan als »Choral von Leuthen« in die protestantischpreußische Liturgie ein.32 Seine Bedeutung als höchstes Bauwerk der Welt musste der Kölner Dom bereits wenige Jahre später an das Ulmer Münster abgeben, das während seiner Baugeschichte im 19. Jahrhundert stets als protestantisches Bauwerk in Konkurrenz zu Köln gestanden hatte. Die Einweihungsfeierlichkeiten am 31. Mai 1890 ließen kein Missverständnis über die konfessionellen Verhältnisse in Ulm aufkommen. Zwar wehten bei den Festlichkeiten einträchtig bayerische, württembergische und deutsche Fahnen, jedoch wurde das Fest mit dem Choral Nun danket alle Gott eingeleitet. Er wurde von Posaunisten intoniert, während der Schlussstein gesetzt wurde. Ihr Auftreten stempelte das Ereignis eindeutig als protestantisches Fest und unvergänglicher Augenblick für die evangelische Kirche. Erwähnt wurde auch, dass der Ulmer Turm »das höchste künstlerische Bauwerk der Erde« sei und den Kölner Dom um fünf Meter überrage. Das Innere erscheine im Vergleich mit anderen Domen schmucklos, dadurch werde jedoch der Eindruck des »Einfach-Großartigen« vermittelt, »eine gesammelte, einheitliche Stimmung, wie solche die sonstige Vielseitigkeit zierender Zuthaten kaum aufkommen lässt«33. Die Anspielung auf die Reformation und ihre Kritik an der Bildhaftigkeit des katholischen Glaubens ist unüberhörbar. Betont wurde in Ulm schließlich, es handele sich um »den einzigen der großen mittelalterlichen Dome, welcher im Eigentum der Evangelischen geblieben ist«34. Der Turm war einst mit einer Madonna gekrönt gewesen, dies war indes für eine protestantische Kirche undenkbar und so wurde sie durch eine Kreuzblume ersetzt. Ein deutlicheres 32 Vgl. Freitag, Werner: Nationale Mythen und kirchliches Heil: Der »Tag von Potsdam«. In: »Westfälische Forschungen« 41 (1991), S. 379–430. 33 »Ulmer Tageblatt. Beilage Festzeitung zur Vollendung des Münsters« vom 29. Juni 1890, Bl. 3, zit. aus: Das Ulmer Münster in Vergangenheit und Gegenwart, S. 81. 34 Zit. aus: Das Ulmer Münster in Vergangenheit und Gegenwart, S. 88f.

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symbolisches Zeichen des Endes steingewordener Gotikträume des Jahrhundertbeginns ist kaum denkbar. In Ulm schien buchstäblich die protestantischpreußisch dominierte Nation den Sieg über alle nationalromantischen konfessionsübergreifenden Träume der ersten Jahrhunderthälfte davongetragen zu haben. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden zwar noch zahlreiche Kirchenneubauten im gotischen Stil fertiggestellt; sie hatten jedoch keinen Symbolwert wie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehr. Es wurden zwar noch Rathäuser im gotischen Stil errichtet, jedoch sahen die Bürger in diesen Bauten mittlerweile mehrheitlich lediglich Repräsentationsgebäude, die mit historisierenden Rathäusern anderer Städte konkurrieren konnten. Sie ließen keinerlei Anklänge an Sehnsüchte nach einem deutschen christlich-mittelalterlichen Nationsideal mehr erkennen.

Der überspannte Bogen: Von der Neugotik zum gotischen Menschen Gleichwohl erlangten mittelalterliche gotische Kathedralbauten im Rahmen der kulturkritischen Bewegung der Jahrhundertwende und in den 1920er Jahren neue Anziehungskraft. Vergangenheitskonstrukte des 19. Jahrhunderts mögen dazu beigetragen haben, dass Gotikvorstellungen, zunehmend eingebettet in eine als vagierend zu bezeichnende Religiosität, im Kontext neuer Facetten nationalen Denkens variationsreich weiterlebten. So heißt es etwa 1913, Italien als Land der Renaissance habe Goethe krank gemacht, inspirierend hingegen habe das Straßburger Münster gewirkt.35 Der Kunsthistoriker Rudolf Benz behauptete 1915, die Renaissance sei »das Verhängnis der deutschen Kultur«, sie sei für Jahrhunderte überfremdet gewesen, man solle sich auf eine nationale Vergangenheit besinnen, diese liege in der Gotik, damals sei der »deutsche Geist zu Weltgeltung« gelangt.36 Der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer schrieb 1919 über »Formprobleme der Gotik«; Gotik sei »eine Haltung«, Inbegriff des nordischen Menschen. Die »eigentliche Gotik«, d. h. die neue, gehöre in eine »nordische Welt«. Insofern sei auch der »gotische Mensch« ein »nordischer« Mensch.37 Der Kulturkritiker Rudolf Pannwitz sah 1917 die Gotik als Gegenwelt gegen alle Renaissancen und forderte ein neues Mittelalter, mithin eine neue Gotik.38 Der Kunstkritiker und Schriftsteller Paul Fechter schrieb vor dem Ersten 35 Scheffler, Karl: Italien. Tagebuch einer Reise. Leipzig: Insel 1913, S. 302. 36 Benz, Rudolf: Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Kultur. In: »Blätter für deutsche Art und Kunst« 1 (1915), S. 1–40. 37 Worringer, Wilhelm: Formprobleme der Gotik. München: Piper 1911. Vgl. Böhringer, Hannes (Hg.): Wilhelm Worringer. München: W. Fink 2002. 38 Pannwitz, Rudolf: Die Krisis der europäischen Kultur. München/Feldafing: Hans Carl 1917.

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Weltkrieg, die »Sehnsucht der Zeit« sei »eine neue Gotik«.39 Um weitere Gotikbegeisterte anzuführen: Walter Gropius bewunderte die gotische Kathedrale, sprach von ihrer Wiedergeburt,40 Bruno Taut betrachtete mittelalterliche Städte als Vorbild für die Gegenwart41 und beschäftigte sich zudem mit Architekturfantasien, in deren Mittelpunkt er eine »Zukunftskathedrale« sah, der ein gotischer Dom Pate gestanden haben könnte.42 Pointiert heißt es in einer seiner Schriften, der »gotische Dom« sei »das Präludium der Glasarchitektur«.43 In ihrer gläsernen Entmaterialisierung entfernten sich die Architekturvisionen allerdings weit von den gotischen Kirchenbauten, die ihnen als Vorbild dienten – und ebenso weit entfernten sich die damit verbundenen Geschichtsbilder von den historiographischen Detaileinsichten in das geschichtliche Mittelalter.44 Insbesondere der bereits erwähnte einflussreiche Kunsthistoriker Worringer wirkte nicht zuletzt impulsgebend für eine ganze Reihe Jugendlicher und junger Erwachsener, die aus seinen Schriften Anregungen für eine innere Haltung ableiteten, die sich vage als »gotisch« bezeichnen ließ. Die Gotik habe in ihrer zeitspezifischen Deutung nicht nur gestalterisch ästhetischen Vorbildcharakter ausgeübt, sondern, so die Kunsthistorikerin Sabiene Autsch, auch einer »damit verbundenen Idealvorstellung eines neuen, reinen, vollendeten, geistigen und willensstarken Menschenbildes« entsprochen, die sich als attraktiv erwies.45 Insbesondere die Figuren des Bamberger Reiters und Uta von Naumburgs avancierten in den 1920er Jahren zu »gotischen« Kultfiguren, die medial verbreitet und »deutsch« interpretiert wurden.46 Deutsche Jugendliche konnten sich in der Zwischenkriegszeit nur selten ein Bild von ihren französischen Nachbarn und also auch kaum von der Gotik in Frankreich machen. In den Jahren 1919 bis 1926 überwogen Auslandsfahrten in Länder Südosteuropas. Anstöße, den Blick über die Grenzen nach Westen zu 39 Fechter, Paul: Der Expressionismus. München: Piper 1914, S. 39; Fechter, Paul: Deutsche Backsteingotik. Königsberg: Gräfe und Unzer (um) 1920; Fechter, Paul: Die Tragödie der Architektur. Jena: Lichtenstein 1921. 40 Gropius, Walter: Der neue Baugedanke. In: »Das Hohe Ufer« 1 (1919), S. 87f. 41 Taut, Bruno: Frühlicht über Magdeburg. In: »Frühlicht« 1 (1921), S. 2, S. 4. 42 Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Frankfurt/M.: Sauerländer 1983, S. 343–368. 43 Ebd., S. 358. 44 Behrenbeck, Sabine: Festarchitektur im Dritten Reich. In: Brock, Bazon/Preiss, Achim (Hg.): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 201–252. 45 Autsch, Sabiene: Visual History und Jugendbewegung. Re-Lektüren, methodische Überlegungen und Perspektiven fotografischer Inszenierung. In: Stambolis, Barbara/Köster, Markus (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 315–338, hier S. 322–331 (Gotisierung – Seh- und Formerlebnisse, hier S. 326). 46 Vgl. Ullrich, Wolfgang: Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone. Berlin: Wagenbach 1998.

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richten, kamen etwa aus England. Nordlandfahrten wurden von Skandinaviern mit angeregt; die Anknüpfung von Beziehungen zwischen deutschen und französischen Jugendlichen gestaltete sich besonders schwierig. Als beispielsweise sächsische Abiturienten und Studenten Kontakt mit französischen Jugendlichen aufnehmen wollten, stand die damals keineswegs geläufige Überlegung im Mittelpunkt, nur »durch eigene Anschauung und Erfahrung im Auslande« könne eine Vorstellung von der Lage Deutschlands in Europa erarbeitet werden.47 Im Juni 1928 trafen sie zu einem einmonatigen Aufenthalt in Caen ein, wo sie in französischen Familien wohnten. Sie nahmen an Universitätsveranstaltungen teil und machten Ausflüge nach Mont St. Michel, Bayeux und Lisieux und knüpften zwanglose Beziehungen.48 Der Teilnehmer einer anderen deutsch-französischen Jugendbegegnung beschrieb treffend die mental eingeengten Perspektiven, ›Grenzen in den Köpfen‹ gleichsam, die nur kleinschrittig und vor allem im persönlichen Austausch zu überwinden waren. Wörtlich heißt es in seinen Impressionen, als Deutsche hätten sie geglaubt, »das Naturgefühl gepachtet zu haben« und seien »nicht wenig überrascht« gewesen, wie »stark und spontan unsere französischen Kameraden die Schönheit« von Natur und Landschaften empfunden hätten.49 Bezeichnend für die daraus resultierende Blickverengung beim Übertreten der deutsch-französischen Grenze in den 1920er Jahren mag die folgende aus der Rückschau formulierte Selbstsicht eines Zeitzeugen und damaligen jugendbewegt Engagierten verdeutlichen, der die Komplexität der hier vorgestellten Konstrukte und Verirrungen deutlich werden lässt. Otto Abetz, Mitglied einer Wandervogelgruppe, zunehmend im Einflussbereich der Freideutschen Jugend, Mitorganisator von deutsch-französischen Jugendtreffen, während der VichyZeit deutscher Botschafter in Paris und aktiv in die Judenvernichtung in Frankreich involviert,50 schrieb im Rückblick 1951: Ich war in der deutschen Jugendbewegung groß geworden, die trotz aller modernen und reformerischen Ideen auch viele romantisch rückwärtsgewandte Züge hatte und deren Lebensgefühl – um ein Modewort von damals zu gebrauchen – »gotisch« war. Im 47 Kindt, Werner (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Köln: Eugen Diederichs 1974, S. 1541. Manuskript aus dem Archiv der Sächsischen Jungenschaft vom Juli 1928. Erste Fahrten sächsischer Jugendlicher sind bereits für 1926 überliefert (ebd., S. 1545). 48 Ebd., S. 1542. 49 Ebd., S. 1584. Vgl. Stambolis, Barbara: »Shared memory«: Erinnerung an deutsch-französische Annäherungen am Beispiel symbolischer Orte der Grenzüberschreitung und ihrer Nachwirkungen. In: »Jahrbuch für Europäische Geschichte« 6 (2005), S. 137–150. 50 Vgl. Conze, Werner: Otto Abetz. In: Stambolis, Barbara (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 55–67; Laqueur, Walter: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie. Köln: Wissenschaft und Politik 1978, S. 264f.

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Mittelalter der Ritterorden und der Handwerkerzünfte, der fahrenden Scholaren und der Mysterienspiele fühlte sie sich innerlich mehr zu Hause als in der Mechanisierung des zwanzigsten Jahrhunderts. Es gab zwischen Südtirol und dem Baltikum, zwischen dem Berner Oberland und Flandern kaum eine Burg, einen Dom, ein altes Städtchen, das sich diese Jugend nicht erwandert und das sie nicht umschwärmt hätte. Wie der junge Goethe in seinem vom Straßburger Münster eingegebenen Hymnus Von deutscher Art und Kunst setzte sie Deutschtum mit Gotik gleich und stellte beides in Gegensatz zu »welschem« Geist und Wesen. Auch mir waren auf vielen Wanderfahrten durch die engere und weitere Heimat die großen Stätten des mittelalterlichen Reiches zu Heiligtümern geworden, und die Gotik war mir als Ausdruck des Deutschtums schlechthin erschienen.51

Erst durch die Kunstwissenschaft sei er belehrt worden, »daß die himmelstrebende Gotik dem einen wie dem anderen Volke eigen war, ja sogar von Frankreich ihren Ausgang genommen […]. Da spannte sich mir ein Bogen zwischen dem Mont St-Michel und der Marienburg, dem nordwestlichen und dem nordöstlichen Vorposten eines trotz vieler Bruderzwiste und lokaler Fehden im Lebensgefühl einigen Abendland«52.

Umdenken und Weitung der Perspektive Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts sehen im Kölner Dom wohl vor allem ein großartiges Bauwerk und ›Weltkulturerbe‹, d. h. seine Bedeutung als »sakrale Weltarchitektur«.53 Dieser Bedeutungswandel und mithin auch die »Standortbindung und Zeitlichkeit« der Antworten auf die Frage, wem die Gotik und ob sie überhaupt jemandem »gehöre«, lässt sich zum einen an Texten belegen, die sich mit Goethes Äußerungen zum Straßburger Münster vor jeweils unterschiedlichen Zeithorizonten befassten. Eine deutliche Zäsur bildete das Kriegsende 1945. Bereits in den »Frankfurter Heften« aus dem Jahre 1947 waren die materiellen und seelischen Erschütterungen inmitten einer Trümmerwelt im Rückblick auf nationalistische Verirrungen und die katastrophenreiche deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts unübersehbar bzw. erkenntlich.54 Dass die einst imaginierten kühnen Varianten deutscher Gotikträume nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Vergangenheit angehörten, zeigte sich auch 51 Abetz, Otto: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik. Köln: Greven 1951, S. 23. 52 Er bezieht sich auf Romain Rolland in Jean Christophe à Paris: »Deutschland und Frankreich sind die beiden Flügel des Abendlandes – wer den einen lähmt, stört den Flug des anderen« (ebd., S. 25). 53 Vgl. Schätze der Menschheit. Kulturdenkmäler und Naturparadiese unter dem Schutz der UNESCO Welterbekonvention. Augsburg: Bechtermünzin: 2000, S. 146f. 54 Gotting, Franz: Goethes Straßburger Credo. In: »Frankfurter Hefte« 2 (1947), S. 490–499.

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anlässlich der 700-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Kölner Doms 1948, bei der sich mit ausdrücklicher Zustimmung Konrad Adenauers die Bischöfe Faulhaber, Suhard (Paris), Van Roey (Mecheln), Imnitzer (Wien) und Griffin (Westminster) trafen und für ein »christliches Abendland« eintraten.55 Das Kölner Domjubiläum des Jahres 1948 stellte einen Versuch dar, Deutschland und auch dem Dom eine Vergangenheit zu geben, aus der man nun dezidiert »stammen wollte«, und zwar in Abgrenzung zu der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft, die zu Krieg und Zerstörung und deutscher Schuld hohen Ausmaßes geführt hatte. Nicht mehr Nürnberg als Stadt der nationalsozialistischen Reichsparteitage, sondern Köln als Inbegriff christlich-abendländischer Kultur, und der Dom, nicht mehr als »Krone auf dem Haupt Germaniens«, sondern als Verkörperung eines christlichen Europa »sprächen nun zur Welt«, so lautete eine zentrale Botschaft.56 Dass es sich um einen keineswegs einfachen Prozess des Umdenkens handelte, ist am Beispiel deutsch-französischer Schülerbegegnungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anzudeuten. Obwohl »Europa« bereits um 1950 »Konjunktur« hatte57 und abgesehen von geradezu euphorischen Kommentaren angesichts der Verbrennung von Grenzpfählen und Schlagbäumen zwischen Frankreich und Deutschland sowie einigen Großkundgebungen, die im Zeichen des Bekenntnisses für ein kulturelles Miteinander standen, bestand etwa bei einem mit hohen Erwartungen verbundenen deutsch-französischen Jugendtreffen 1951 auf der Lorelei am Rhein eine ausgeprägte Unsicherheit im Umgang miteinander. Sie zeigte, dass eine Weitung des Blicks hin auf gemeinsame Traditionen ein Wagnis auf zunächst dünnem Eis darstellte.58 Ein nachdenkliches Fazit sei Leserinnen und Lesern dieses Bandes überlassen.

55 F.B.: Köln in Erwartung des Domfestes. Die letzten Vorbereitungen. Hinweise für die Besucher. In: »Rheinischer Merkur« 33 vom 14. August 1948; Der Dom zu Köln 1248–1948. Beilage des Rheinischen Merkurs zur 700-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Kölner Doms am 15. 08. 1948. In: »Rheinischer Merkur« 33 vom 14. August 1948. 56 Vgl. Stambolis, Barbara: Regionalität und regionale Teilidentitäten in NRW. Eine historiographische Tiefenbohrung. In: Brautmeier, Jürgen/Heinemann, Ulrich (Hg.): Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen. Essen: Klartext 2007, S. 35–59, hier S. 54. 57 Brunn, Gerhard: Das Europäische Jugendtreffen 1951 auf der Loreley und der gescheiterte Versuch einer europäischen Jugendbewegung. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Rückkehr in die Ferne. Die deutsche Jugend in der Nachkriegszeit und das Ausland. Weinheim/München: Beltz Juventa 1997, S. 81–101, hier S. 81. 58 Ebd., S. 99.

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Literatur »Soester Wochenblatt« vom 26. November 1836. »Soester Wochenblatt« vom 28. Juni 1839. »Soester Wochenblatt« vom 4. Juli 1839. Abetz, Otto: Das offene Problem. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutscher Frankreichpolitik. Köln: Greven 1951. Autsch, Sabiene: Visual History und Jugendbewegung. Re-Lektüren, methodische Überlegungen und Perspektiven fotografischer Inszenierung. In: Stambolis, Barbara/Köster, Markus (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 315–338. Behrenbeck, Sabine: Festarchitektur im Dritten Reich. In: Brock, Bazon/Preiss, Achim (Hg.): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 201–252. Benz, Rudolf: Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Kultur. In: »Blätter für deutsche Art und Kunst« 1 (1915), S. 1–40. Böhringer, Hannes (Hg.): Wilhelm Worringer. München: W. Fink 2002. Borger-Keweloh, Nicola: Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert. München: C.H. Beck 1986. Braungart, Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred: Vorwort der Herausgeber. In: Braungart, Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 1: Um 1800. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1997, S. 3–16. Brunn, Gerhard: Das Europäische Jugendtreffen 1951 auf der Loreley und der gescheiterte Versuch einer europäischen Jugendbewegung. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Rückkehr in die Ferne. Die deutsche Jugend in der Nachkriegszeit und das Ausland. Weinheim/ München: Beltz Juventa 1997, S. 81–101. Conze, Werner: Otto Abetz. In: Stambolis, Barbara (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 55–67. Das Ulmer Münster in Vergangenheit und Gegenwart. Zum hundertjährigen Jubiläum der Vollendung des Hauptturms 1890–1990. Texte ausgewählt und erläutert von Elmar Schmitt. Weißenhorn: Anton H. Konrad 1989. Der Dom zu Köln 1248–1948. Beilage des Rheinischen Merkurs zur 700-Jahr-Feier der Grundsteinlegung des Kölner Doms am 15. 08. 1948. In: »Rheinischer Merkur« 33 vom 14. August 1948. Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Frankfurt/M.: Sauerländer 1983. Elben, Otto: Erinnerungen aus der Geschichte des Stuttgarter Liederkranzes, Stuttgart 1894. F.B.: Köln in Erwartung des Domfestes. Die letzten Vorbereitungen. Hinweise für die Besucher. In: »Rheinischer Merkur« 33 vom 14. August 1948. Fechter, Paul: Der Expressionismus. München: Piper 1914. Fechter, Paul: Deutsche Backsteingotik. Königsberg: Gräfe und Unzer (um) 1920. Fechter, Paul: Die Tragödie der Architektur. Jena: Lichtenstein 1921.

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Barbara Stambolis

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Cezary Lipin´ski (Zielona Góra)

Zwischen amor patriae und Nationalismus. Humanistische Schlesien-Projektionen im 15. und 16. Jahrhundert

Im vorliegenden Beitrag geht man der These nach, dass die Idee Schlesiens als eines einheitlichen Kulturraums im 15. und 16. Jahrhundert zuerst in begrenztem Umfang (auf den Humanistenkreis beschränkt) in einem Spannungsfeld von Vaterlandsliebe und Nationalismus verwirklicht wurde. Nur in diesem Sinne passt auf die Erfindung der Schlesier (der »schlesischen Nation«) als einer Folge der Imaginierung Andersons Begriffsbestimmung der Nationen (mit allen notwendigen Einschränkungen)1 als imagined communities2.

Der geschichtliche Kontext Der Herausbildung Schlesiens als einer (wie auch immer verstandenen) homogenen Region standen lange Zeit recht viele Umstände im Weg: »Das grundlegende Anderssein der schles[ischen] Landesgeschichte gegenüber und innerhalb der dt. Reichsgeschichte beruhte auf ständigen Teilungen und häufigen Herrschaftswechseln, die selbst für die europ[äische] Kontinentalgeschichte über ein Normalmaß hinaus gingen.«3 Häufige Grenzveränderungen, die Zweiteilung in (Nieder-)Schlesien und Oberschlesien (zuerst dukatus Opoliensis),4 starke territoriale Fragmentierung 1 Zur Kritik Andersons vgl. Hirschi, Caspar: Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien. In: »Historisches Jahrbuch« 122 (2002), S. 355–396, hier S. 357, S. 362. 2 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London/New York: Verso 2006 (11983). 3 Rüther, Andreas: Schlesien. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch. Teilband I: Dynastien und Höfe. Hg. von Werner Paravicini. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2003, S. 895–905, hier S. 895. 4 Vgl. »Medieval Silesia was divided into three subregions – Lower Silesia, Upper Silesia and Opava Silesia (Opawszczyzna).« Mys´liwski, Grzegorz: Did Silesia constitute an economic region between the 13th and the 15th centuries? A survey of region-integrating and region-disintegrating economic factors. In: Harc, Lucyna/Wiszewski, Przemysław/Z˙erelik, Ros´cisław (Hg.):

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des Landes, sodass es »gewissermaßen niemals einen Singular S[chlesien], sondern stets die S[chlesien] oder besser: schles[ische] Lande«5 gab, schließlich der sich daraus ergebende permanente »Widerstreit zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl und Partikularismus«6 waren dafür verantwortlich, dass es »erst die Folge einer längeren Entwicklung« wurde, »daß Schlesien sich als ein gemeinsames Ganzes begriff und seine Fürsten, Stände und Bewohner sich mit dem größeren Schlesien identifizieren konnten«7. Einen anderen Problemkomplex stellte die aus der Perspektive der Herausbildung eines gemeinsamen regionalen Bewusstseins komplizierte ethnische Situation Schlesiens dar. Noch im 19. Jahrhundert gaben es auch deutschnational gesinnte Historiker zu, die wie Wilhelm Wachsmuth nicht gerade zimperlich waren, wenn es darum ging, den Slaven »polnische[s] Unwesen« und »polnische Uebelstände« vorzuhalten, oder das Stereotyp der polnischen Wirtschaft zu bemühen.8 So soll jene angeblich den Schlesiern anzumerkende »gutmüthige und milde Lebhaftigkeit, Beweglichkeit und Höflichkeit des Slaventhums, zersetzt mit deutscher Kräftigkeit und Biederkeit, als das Product einer Mischung der beiderlei Volksstämme«9 zu betrachten sein. Die Multiethnizität10 des Landes war nicht nur eine Konsequenz eines Nebeneinanders von (kulturell schwer greifbarer) slavischer (größtenteils wohl ländlicher) Bevölkerung und der besonders in den Städten (Nieder-)Schlesiens deutlich überwiegenden deutschen Ethnie. Ebenso bunte Vielfalt ist auf der Seite der ehemaligen, pauschal als deutsch bezeichneten Einwanderer zu beobachten, die ursprünglich aus unterschiedlichen Regionen des Reiches, überwiegend Sachsen, Thüringen, Bayern und Franken stammten.11 (Nicht zu vergessen sind aber auch kleinere Kolonistengruppen, wie Flamen und Wallonen oder Juden – bis zu ihrer Vertreibung 1582 –,

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Cuius regio? Ideological and Territorial Cohesion of the Historical Region of Silesia (c. 1000– 2000). Vol. 1: Wiszewski, Przemysław (Hg.): The Long Formation of the Region Silesia (c. 1000–1526). Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2013, S. 94–128, hier S. 95. Rüther, Schlesien, S. 895. Conrads, Norbert (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien. Berlin: Sieder Verlag 1994, S. 249. Ebd. Wachsmuth, W[ilhelm]: Geschichte der deutschen Nationalität. Bd. 3.2. Braunschweig: Schwetschke und Sohn 1862, S. 151, S. 156. Ebd., S. 156. Lipin´ski, Cezary: Kwestie etniczne i je˛zykowe na S´la˛sku w »długim wieku« XVI. In: »S´la˛ski Kwartalnik Historyczny Sobótka« Nr. 2 (2013), S. 75–84, hier S. 76. Vgl. Wiszewski, Przemysław: The multi-ethnic character of medieval Silesian society and its influence on the region’s cohesion (12th–15th centuries), in: Harc, Lucyna/Wiszewski, Przemysław/Z˙erelik, Ros´cisław (Hg.): Cuius regio? Ideological and Territorial Cohesion of the Historical Region of Silesia (c. 1000–2000). Vol. 1: Wiszewski, Przemysław (Hg.): The Long Formation of the Region Silesia (c. 1000–1526). Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2013, S. 167–192, hier S. 168.

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die auch ihre Andersheit gegenüber der Mehrheitskultur pflegten). In dieser Situation konnte die gebietsweise stärkere sprachliche Diversität zur Reibungsfläche zwischen einzelnen Volksgruppen werden, zumal der schlesische Polylingualismus u. a. drei Kanzel- und vier Amtssprachen umfasste, von Sprachen (Dialekten) als Medium der alltäglichen Kommunikation ganz zu schweigen. Potentiell konfliktträchtige Multiethnizität und Multikulturalität konnten nur dann überwunden werden, wenn die Politik entsprechende Grundlagen für das Zusammenwachsen des Landes und die Entwicklung eines gemeinsamen Landesbewusstseins schafft. Diese erste Etappe vollzog sich in einem sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Prozess der allmählichen Bindung Schlesiens an Böhmen. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts haben sich die ersten Fürsten (u. a. Beuthen Oppeln, Teschen) dem böhmischen König unterstellt. Mit dem Tod Herzogs Bolko II. von Schweidnitz-Jauer (1368) fiel das von ihm regierte Herzogtum als das letzte noch unabhängige Stück Schlesiens an die böhmische Krone. Bereits 1348, nachdem der polnische König Kasimir der Große auf jegliche Ansprüche auf Schlesien verzichtet hatte, verleibte Karl IV. das Land der Böhmischen Krone ein und bestätigte diese Inkorporation nach seiner Kaiserkrönung 1355. Zwar listet die Urkunde als territoriale Errungenschaften des Herrschers einzelne Stücke Schlesiens – nicht Schlesien als ein Ganzes – auf, dennoch entfachte die Unterstellung des gesamten Landes unter das Königreich Böhmen – genauso wie früher der Gewinn der böhmischen Lehnshoheit über Schlesien (1327–1329) durch Johann von Luxemburg – einen starken integrierenden Schub. In der Goldenen Bulle von 1348 wurde Schlesien Böhmen gleichgestellt, was das Land von den böhmischen Ständen unabhängig bleiben und in ein mittelbares Verhältnis zum Reich treten ließ. Dies alles setzte Grundlagen für eine gewisse Autonomie der Region unter den Ländern der Böhmischen Krone. Endgültig stabilisiert hat sich der politische Einigungsprozess 1526, als nach dem Tod des 20-jährigen Ludwigs II. von Böhmen und Ungarn in der Schlacht bei Mohács ganz Böhmen (mit Schlesien) an Ferdinand I. überging, um für über zwei Jahrhunderte ein Teil der Habsburgermonarchie zu werden.

Integrative Momente Über die durch die Politik angebahnte Entwicklung hinaus hatte auch das ökonomische Zusammenwachsen der Provinz ebenso weitreichende Folgen. Seit dem späten 13. Jahrhundert kann man jedenfalls von Schlesien als einer eigenständigen Wirtschaftsregion sprechen.12 Die Lehnsabhängigkeit von Böhmen 12 Mys´liwski, Did Silesia constitute an economic region, S. 93, S. 96, S. 121.

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hatte u. a. die Dominanz (aber keine Ausschließlichkeit) des Prager Groschen als Zahlungs- und Abrechnungsmittel zur Folge. Die wirtschaftliche Kohäsion wirkte sich zweifellos positiv auf die Stabilisierung der lokalen Ökonomie, besonders in den Städten, aus. Der Urbanisierungsgrad, der im 14. Jahrhundert bei über 27 % in Niederschlesien und 23 % in der gesamten Region lag, gehörte schon im Mittelalter zu den höchsten in Mitteleuropa und prädestinierte schlesische Städte für die Rolle der bedeutendsten Kulturträger der Region.13 In diesen Zusammenhang gehört auch die konsolidierende und integrierende Funktion Breslaus als Wirtschafts-, Macht- und Kulturzentrum. Unangefochtene Stellung Breslaus als Landeshauptstadt ergab sich über die bereits genannten Faktoren hinaus aus seiner Rolle als Bistumssitz. Der identitätsstiftenden Wirkung der Kirche und der Religion kommt beim Wecken und im Prozess der Entwicklung eines verbindenden regionalen Bewusstseins der Schlesier eine besondere Bedeutung zu. Die Kirche nutzte zuerst die Möglichkeiten der eigenen Historiographie, in der u. a. der nach dem Vorbild des Verzeichnisses der Päpste gestaltete Bischofskatalog das ununterbrochene Bestehen der zentralisierten kirchlichen Macht in der Region anschaulich vor Augen führte. Er wurde entwickelt »for the purpose of performing a commemorative liturgy for the late bishops, during which their names were read in public«14. (Im Kontext des Beitrags des regionalen Klerus zur Herausbildung eines die Bewohner Schlesiens einenden Bandes muss man auch an die Konflikte zwischen dem polnisch- und deutschsprachigen Klerus erinnern, die die Integration untergruben). Eine starke einheitsstiftende Wirkung entfaltete ferner der lokale Heiligenkult. Schon 1267 bekamen die Schlesier in der Herzogin Hedwig von Andechs ihre erste, im ganzen Land und in allen Bevölkerungskreisen höchste Verehrung genießende Heilige und Schutzpatronin. Ihr Kult, der sich übrigens bis in die Gegenwart hält, ließ niemals nach, was zusammen mit der großen Anzahl der ihr geweihten Kirchen auf ihre besondere brückenbauende Funktion zwischen den (auch ethnisch) verschiedenen Gruppen schließen lässt. Das Kloster Trebnitz (pol. Trzebnica), in dem die sterblichen Überreste der charismatischen Heiligen aufbewahrt werden, entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Wallfahrtsort und übte zusammen mit anderen regionalen Sanktuarien, wie Albendorf (pol. Wambierzyce) oder Wartha (pol. Bardo S´la˛skie), einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Einigungsprozess auf regionaler Ebene aus. 13 Ebd., S. 108. 14 Mrozowicz, Wojciech: Regional identity in Silesia (until 1526), in: Harc, Lucyna/Wiszewski, Przemysław/Z˙erelik, Ros´cisław (eds.): Cuius regio? Ideological and Territorial Cohesion of the Historical Region of Silesia (c. 1000–2000). Vol. 1: Wiszewski, Przemysław (Hg.): The Long Formation of the Region Silesia (c. 1000–1526). Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2013, S. 215–235, hier S. 227.

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Der nächste große Einigungsschub religiösen Charakters, der Schlesien ergriff, war eine Folge der Reformation, zu der innerhalb weniger Jahre der deutlich überwiegende Teil der Schlesier überlief. Eine starke Wirkung entwickelte besonders in den ersten Jahren der Schwenckfeldismus, eine einheimische Art des Protestantismus, deren Namensgeber und Wortführer, Caspar von Schwenckfeld, der deutschen Sprache auch als Sprache der Religion eine besondere Bedeutung beimaß. Aus der Perspektive seiner das evangelische Wort betonenden Lehre wäre es gegen Gott, wenn jemand anordnen würde, »das man daz lautter Euangelion nicht solt predigen/das man nicht solt bey den deutschen deutsche ampt halten/das man nicht deutsch solt tauffen«15. Der Wert einer dem Großteil der Einwohner quer über alle Gesellschaftsschichten verständlichen Sprache im Prozess der Herausbildung und Stärkung eines regionalen Zusammenhalts bedarf keiner besonderen Beweisführung. Ihre kommunikativen, sinn- und identitätsstiftenden Vorzüge gegenüber dem zwar hoch angesehenen, aber elitären Latein (Gebildete, Herrschende und Geistlichkeit) liegen auf der Hand. Die additive Wirkung der Sprache aber, wenn sie in der uns interessierenden Periode in einen untrennbaren Zusammenhang mit dem Religiösen gebracht wird, wird um ein Vielfaches größer, wenn man bedenkt, dass »der einzige wesentliche Faktor, der die Menschen von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts verband, eben die Religion war«16. So stellte die deutsche Sprache das letzte im Kontext des vorliegenden Beitrags zu nennende integrative Moment von zunehmender Bedeutung dar, dessen Rolle in der Region kontinuierlich von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an wuchs. Als Medium des hagiographischen Schrifttums genutzt, dominierte sie bald Stadtbücher und die gesamte städtische Korrespondenz,17 wurde seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts in immer größerem Maße zur Sprache der Höfe und des Rechts, bis sie in der Frühen Neuzeit allmählich das Latein auch von der Führungsrolle als Mittel literarischer Kommunikation verdrängte: There is no question about the fact that German, including its written form, was one of the key determiners of regional identity in Silesia, and that it spurred the formation of a new community of Silesian citizens, in historiography known as ›the new Silesian tribe‹. At the same time, Polish does not seem to play even the slightest role in this context,

15 Schwenckfeld, Caspar v.: Ermanung an alle brüder in Schlesien so dem lauttern Euangelio Jhesu Christi anhangen. In: Schwenckfeld, Caspar v.: Ermanung des mißbrauchs etlicher fürnempsten Artickel des Evangelii auß wölcher vnverstandt der gemayn man inb flayschliche freyhayt unnd yrrung gefüret wirt. [Augsburg] 1524, AiiiJv–Fiiijr, hier Fijv. 16 Romano, Ruggiero/Tenenti, Alberto: Die Grundlegung der modernen Welt. Spätmittelalter, Renaissance, Reformation. Frankfurt/M.: S. Fischer 2002, S. 83 (= Fischer Weltgeschichte, Bd. 12). 17 Am Ende des 13. Jahrhunderts wurde Breslau die erste schlesische Stadt mit dem auf Deutsch niedergeschriebenen Stadtrecht.

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although its position as a language of education in Silesia was strongly defended by the Polish Church. Czech, on the other hand, became widespread as an official language in Upper Silesia only at the close of 15th century.18

Die vielseitige Unterstützung, die das Deutsch seitens der Fürsten und Bischöfe erfuhr, ebnete den Weg der sprachlichen und kulturellen Umorientierung des Landes. Noch im 18. Jahrhundert sah Friedrich Wilhelm Pachaly »[d]ie Ursachen dieser schleunigen Veränderung […] in der mehrern Begünstigung der Herzoge, und in dem durch die Bequemlichkeit zum Handel und Manufakturen herbeygelokten größern Zusammenfluß von Fremden«19. Fürstenhöfe wirkten beispielgebend für den Adel des Landes und veranlassten ihn zur Akkulturation an die favorisierte deutsche Kultur. Dennoch darf die Dominanz der deutschen Sprache als der wichtigsten Schrift- und Kultursprache der Region, indem sie den Eindruck einer ethnischen Homogenität entstehen lässt, nicht über die Multiethnizität Schlesiens hinwegtäuschen. (So ist auch die Absicht des Herzogs Heinrich VI. von Breslau, sein Zollmandat von 1327 bewusst auf Deutsch verfassen zu lassen – »damit es jeder verstehen könne«20, eher als ein Zeugnis der Verbreitung der deutschen Sprache als Kommunikations- und Geschäftssprache zu verstehen, denn als – wie u. a. Friedrich Nösselt21 behauptete – ein Beweis einer ethnisch deutschen Homogenität der Stadt zu verstehen). Die obengenannten Faktoren führten – so der gegenwärtige Stand der Forschung – zu einer besonderen Art der Assimilation, die darauf hinauslief, diverse Ethnien zu einer Einheit werden zu lassen: »This assimilation did not involve complete adoption of the customs and norms of one ethnic group by another, which would result in a unique union of the two and the emergence of a new ethnic community.«22 Das meinte auch früher Wachsmuth, als er über das »eigentümliche Wesen«, »das in Schlesien aus der Verschmelzung des Deutschen und Slavischen hervorgegangen ist«23, schrieb. Auch auf der Höhe der um sich greifenden nationalen Rhetorik des 19. Jahrhunderts gab der aus Schlesien gebürtige Dialektologe und Germanist Karl Weinhold den Einfluss des Polnischen sowohl in der Sprache als auch im Charakter der Schlesier zu und raffte sich zu einer fast emphatischen Schlussfolgerung auf: »Daß das schlesische Wesen auß dem slavischen eine starke Bei18 Mrozowicz, Regional identity in Silesia (until 1526), S. 234. 19 [Pachaly, Friedrich Wilhelm]: Schlesiens älteste Geschichte und Bewohner. Breslau: Korn 1783, S. 35. 20 Herzog Heinrich VI verkündet den breslauer Zolltarif. Breslau den 13. Januar 1327. In: Breslauer Urkundenbuch. Bearb. von Georg Korn. 1. Theil. Breslau: Korn 1870, S. 111–114, hier S. 111. 21 Nösselt, Fr[iedrich]: Breslau und dessen Umgebungen: Beschreibung alles Wissenswürdigsten für Einheimische und Fremde. Mit einer Kartenbeilage. Breslau: Korn 1833, S. 3. 22 Wiszewski, The multi-ethnic character of medieval Silesian society, S. 167. 23 Wachsmuth, Geschichte deutscher Nationalität, S. 161.

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mischung aufnahm, ist nicht zu leugnen; mancher Feler hat dort seinen Ursprung, aber auch manche der guten Eigenschaften. Wir kreuzen und mit den Polen.«24 Der hier angesprochene Prozess, der in der Region im 14. und 15. Jahrhundert ins Laufen gekommen war, sollte um die Wende des Mittelalters zur Frühen Neuzeit beim Versuch, eine schlesische Nation aus der Taufe zu heben, Pate stehen.

Humanistische Schlesien-Erzählungen vs. Wirklichkeit Während die ersten Repräsentanten des Humanismus nördlich der Alpen dem Barbarenverdikt von italienischer Seite noch vorbehaltlos zugestimmt […] haben, beginnt die sog. zweite Generation […], deren Produktion in die Zeit von ca. 1490 bis 1530 fällt, gegen das dominante Heterostereotyp der Deutschen energisch anzukämpfen.25

An diesem gesamteuropäischen Trend beteiligten sich auch aus Schlesien stammende Intellektuelle, unter deren Einfluss ein neues Konzept der Silesia Patria konkrete Gestalt annahm. Es entstand eine Geschichtskultur, die nicht nur Historiographie im engen Sinne, sondern auch lokale Mythologien, Gründungsmythen, Literatur (besonders diverse Formen der Preisdichtung, [poetische] Landesbeschreibungen [»Silesiographie«]) u. dgl. umfasste. Sie lief auf die Gründung einer immer noch elitären, sich auf Gebildete beschränkenden Erinnerungsgemeinschaft hinaus. Entscheidend für das Gelingen des Projektes war eine Greifbarmachung Schlesiens. Dabei leistete zuerst die Politik gute Dienste, wo die Angst vor einer realen Gefahr die schlesischen Fürsten immer wieder zur Stärkung der regionalen Zusammenhalts veranlasste. So verfügte das Land seit der Strehlener Einung (1427), die beim Aufhalten der Hussiten-Einfälle helfen sollte, über eine die ganze Region umfassende politische und militärische Organisation.26 Ähnlich zwang die Türkengefahr den Fürstentag gut hundert Jahre später dazu, die erste gemeinsame Landesverteidigungsordnung (1529) aufzustellen. Im Zusammenhang mit dieser Initiative wurde das Landesbanner mit dem schlesischen Adler geschaffen, unter dem die Schlesier seither kämpften. Der symbolische Wert dieses Aktes im Prozess der Entwicklung eines schlesischen Landesbewusstseins lässt sich kaum überschätzen. Ein genauso folgenreiches und in dieselbe Richtung weisendes Ereignis war früher das Große 24 Weinhold, Karl: Ueber deutsche Dialectforschung. Die Laut- und Wortbildung und die Formen der schlesischen Mundart. Mit Rücksicht auf verwantes in deutschen Dialecten. Ein Versuch. Wien: Carl Gerold und Sohn 1853, S. 18f. Rechtschreibung im Original. 25 Hirschi, Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien, S. 370. 26 Bahlcke, Joachim: Schlesien und die Schlesier. München: Langen Müller 2004, S. 39.

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Landesprivileg (1498), das »zur Voraussetzung [hatte], daß es ganz Schlesien als ein geschlossenes Rechtsgebiet anerkannte«27. Auch die Wissenschaft steuerte ihrerseits Wesentliches zur Herausbildung eines regionalen Bandes bei. Besonders markante Beispiele lieferte die Kartographie, als Sebastian Münster 1544 die erste zwar noch sehr unpräzise, gleichwohl schon »die Schlesy«28 als einen geschlossenen geographischen Raum darstellende Karte vorlegte, auf die 1561 eine gelungenere, die erste auf eigenen Messungen beruhende, von Martin Helwig, einem Schlesier, folgte. Schon früher begannen Gelehrten aus Schlesien auf der europaweiten humanistischen Welle zu schwimmen. Die Spezifik des Humanismus als Verbund von Intellektuellen, die über die Landesgrenzen hinaus miteinander kommunizieren/korrespondieren, erzwang den Gebrauch von Latein als dem eigentlichen Medium der Kommunikation, Dichtung und Literatur. So war das Latein in Schlesien das erste kulturelle Bindeglied, das das Land verband. Aber nicht nur das. Es war das Latein, das den Schlesiern ermöglichte, eine eigene Kultur zu etablieren (und ihr zu einer ersten Blüte zu verhelfen), am internationalen wissenschaftlichen Gedanken- und Ideenaustausch teilzunehmen, eine die gesamte Region umfassende kulturelle Identität zu schaffen, schließlich eigenes Schulund Bildungssystem zu entwickeln und somit das Fortbestehen und die Entfaltung dieser Kultur zu sichern. Schlesien holte Europa ein. Ein untrügliches Zeugnis vom schlagenden Erfolg jener Kultursetzung mag nicht nur eine Reihe von schlesischen, im 16. Jahrhundert lorbeergekrönten Dichtern (der erste – Caspar Ursinus Velius, schon 1517) gewesen sein, sondern auch die konstant hervorragende Stellung Schlesiens unter den Kulturlandschaften Deutschlands des 17. Jahrhunderts: It is no surprise to find very many Silesians among the poets [laureated] – Kliesch notes that in the seventeenth century Silesia was known as ›das Land der 666 Dichter‹ and it was asserted to be a good poet one needed to have been born in Silesia. The profusion of Silesian poets is indeed evident from the present handbook.29

Gleichzeitig lag die größte Schwäche dieser Kultur in ihrer höchst geringen Breitenwirkung und der sich ausschließlich auf die Gebildeten beschränkenden Rezeption. (So war eine weitere Entwicklung ohne den Bezug auf die Volkssprache undenkbar). Zuerst musste aber die entstehende Konstruktion stabilisiert werden. Der ziemlich stark nationalistisch gefärbten Germanophilie eines Conrad Celtes und der von ihm eingeleiteten, im ganzen Reich enthusiastisch 27 Conrads, Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien, S. 250. 28 Münster, Sebastian: Cosmographia. Beschreibung aller Lender. Basel: Henrichum Petri Basel 1544. 29 Flood, John L.: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. Vol. 1: A–C. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2006, S. clxxvi.

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aufgegriffenen Suche nach vergessenen Meisterleistungen der »Nation«, die den Deutschen einen exzellenten Platz unter großen Kulturnationen des Abendlandes einnehmen ließen, verdankte auch Schlesien seine damals wichtigste Stoßrichtung: »Zu den Paradoxien des europäischen Humanismus, der doch sonst die Universalität des Lateinischen so genoß, gehörte, daß er nahezu überall die nationalen Tendenzen gefördert hat.«30 1503 identifizierte der Breslauer Dichter Sigismund Buchwald gen. Fragilucus (1483–ca. 1510) die von Ptolomäus erwähnte Stadt Burdogis mit Breslau (»Budorgis, que iam vuratislavia«)31 und gab damit den entscheidenden Impuls für die Entwicklung einer schlesischen Antike. In einer nicht enden wollenden Reihe folgten darauf weitere »Entdeckungen«. Schlesien musste das altertümliche Elysium sein, ursprünglich bewohnt von den Taciteischen Elysiern (Lugiern), die auf beiden Ufern der Oder – des antiken Viadrus siedelten. Was sich in den alten Schriften nicht finden ließ, wurde erfunden. Edel klingende, antikisierte Toponyme ersetzten die bisher gebräuchlichen: Ziegenhals wurde zu »Civitas Capricollis«, Grünberg zu »Prasia Elysiorum« oder »Thalloris«. Diese erfundene »Silesia Patria« zog Gelehrte und Künstler in ihren Bann, weil sie den in sie gesetzten Erwartungen entsprach, zumindest auf dem Papier. Auch daran erkennt man den gekünstelten Charakter dieses Kulturansatzes. Die alten/neuen Ortsnamen haben sich in der Alltagskommunikation niemals eingebürgert. Lange erfreuten sie sich dafür einer großen Beliebtheit bei den Immatrikulationen schlesischer Studenten an europäischen Universitäten. (Lässt sich die Schöpfung der nach einer kulturellen Identität lechzenden Humanisten noch nachvollziehen, weckt das Tun der Liebhaber dieser mythischen Geographie32 noch im 19. Jahrhundert zumindest gemischte Gefühle). Nichtsdestotrotz betonten nun die Humanisten mit Stolz ihre urbane, regionale, manchmal ethnische Herkunft. Paratexte, wie »Laurentius Corvius Novoforensis«, »Abraham Scultetus Abrahamus Scultetus Grunebergensis Silesius«, »Christoph Pelargus Svidnicensis Silesius«, »Petruss Vachenius Strelicenus«, »Thomas Mawer Tribulensis Silesius«, »Nicolaus Reusnerus Leorinus Silesius«, »Caspar Ursinus Velius Germanus Silesius« drängen sich von den Titelseiten der Drucke auf. Namen und Orte mögen das Gerüst der Historie ausmachen, ihr Wesen, das zur Traditionsbildung führt, stellen erst Erzählungen und Geschichten dar. Den

30 Conrads, Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien, S. 251. 31 Sigismund Buchwald zit. nach: Lambrecht, Karen: Stadt und Geschichtskultur. Breslau und Krakau im 16. Jahrhundert. In: »Zeitschrift für Historische Forschung« Beiheft 29 (2002), S. 245–264, hier S. 251. 32 Vgl. Kruse, Friedrich: Budorgis oder etwas über das alte Schlesien vor Einführung der Christlichen Religion besonders zu den Zeiten der Römer nach gefundenen Alterthümern und Angaben der Alten. Leipzig: Hartknoch 1819.

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Anfang machten Panegyriker.33 Der zur ersten Generation der schlesischen Humanisten gehörende Laurentius Corvius (um 1465–1527) verherrlichte Schlesien und dessen Hauptstadt im Gedicht Slesiae descriptio compendiosa (1496) als ein von der Göttin Ceres geliebtes Land. Das durch seine Unbestimmtheit und Phrasenhaftigkeit den Charakter des bis dahin dichterisch vernachlässigen Vaterlandes verfehlende Lob reicht aber dem etwas jüngeren Pancratius Vulturinus (um 1480–nach 1521) nicht mehr. Neben der Lobpreisung (»Sed Slesita canam patriae non immemor almae«)34 will er nun sein Panorama aufstellen. So entsteht 1506 Panegyricus Sleciacus, die erste Landbeschreibung Schlesiens, deren humanistische Exklusivität auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie von Anfang an nur für einen kleinen, geschlossenen Freundeskreis bestimmt war, und von dem Autor nur ungern zum Druck (1521) freigegeben wurde.35 Es ist ein, an den späteren Beschreibungen der Region gemessen, besonderer Text. Obwohl es nämlich der Klang der deutschen Sprache war, der Vulturinus, den Dichter wider Willen, während seiner Studien in Italien patriotisch stimmte und Erinnerungen an seine Heimat weckte, kommt seine Laudatio ohne nationalistische Momente aus: [I]ch wundere mich, daß kein Sänger bisher Schlesien gefeiert, da Land der Wonnen und Fülle! Es lag ihnen zu fern, zu fremd. So will ich, ein Schlesier, das Vaterland singen, der lieben Heimat eingedenk. […] Hierzu trete Vratislavia, nach dem Gründer benannt, Böhmens sceptertragendem Herrscher, und es sei im lateinischen Verse das l i e b e ( d u l c i s ) S c h l e s i e r l a n d gepriesen, s e i n e S t ä d t e u n d B u r g e n u n d r e g i e r e n d e n F ü r s t e n .36

Dieser Eingangstenor wird konsequent im ganzen Text durchgehalten. Es folgt eine recht formelhafte Darstellung der Schlesier, die heiter, glücklich und reich an Tugenden sind, und des Landes, das generell ein Land des Friedens und der Glückseligkeit ist, wo Milch und Honig fließen. An diese Ausführungen schließen

33 Zu ältesten Beschreibung Schlesiens vgl.: Türk, Gustav: Lateinische Gedichte zum Lobe Breslaus. In: »Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens« 36, H. 1 (1901), 101–120; Z˙erelik, Ros´cisław: Einleitung. In: Z˙erelink, Ros´cisław (Hg.): Bartłomieja Steina renesansowe opisanie Wrocławia/Die Beschreibung der Stadt Breslau der Renaissancezeit durch Bartholomäus Stein. Wrocław: Arboretum 1994, S. 57–60. 34 Pancratius Vulturinus zit. nach: Rostropowicz, Joanna: Pankracego Vulturinusa »Pochwała S´la˛ska«. In: Rostropowicz, Joanna (Hg.): Tradycje kultury antycznej na S´la˛sku. Opole: Drukarnia Wydawnictwa S´w. Krzyz˙a w Opolu 1997, S. 95–125, hier S. 98. 35 Lipin´ski, Cezary: Rom des Nordens. Zur Erfindung von Schlesien im 16. Jahrhundert. In: Nowikiewicz, Elz˙bieta (Hg.): Literarische Topographien in Ostmitteleuropa bis 1945. Frankfurt/M.: Peter Lang 2014, S. 131–150, hier S. 133. Vgl. Rostropowicz, Pankracego Vulturinusa »Pochwała S´la˛ska«, S. 97. 36 Pancratius Vulturinus zit. nach: Drechsler, Paul: Pancratii Vulturini »Panegyricus Slesiacus«, die älteste Landeskunde Schlesiens. In: »Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens« Bd. 35 (1901), S. 35–67, hier S. 39f. Hervorhebungen im Original.

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sich eine längere Beschreibung Breslaus und kürzere (manchmal sind es nur Erwähnungen) anderer niederschlesischer Städte an. Einen interessanten Bestandteil des Panegyricus bilden Beschreibungen der in Schlesien tradierten Volksbräuche und -feste. Alles schließt mit dreifachem Gebet: »Für Schlesien und seine Städte bitte die heilige Hedwig und beschirme ihr Trebnitz! – Du aber, Gott Vater, segne die Heimath und bewahre sie gnädig vor Krieg und Gefahr!«37 Ein bemerkenswertes Zeichen einer im Vergleich zu Corvinus veränderten patriotischen Gesinnung dieser Generation ist die Betonung der moralischen Überlegenheit der Schlesier über die Römer. Die Letzteren hätten nicht selten ihre hervorragendsten Persönlichkeiten verfolgt und vernichtet. Auch Cicero und Seneca wurden Opfer ihrer Landsleute. Demgegenüber habe man in Schlesien immer die Gelehrten zu schätzen gewusst und ihnen keinen Schaden zugefügt. Die betont pazifistische Haltung Vulturinus’, der den Errungenschaften des Geistes vor militärischen Eroberungen den Vorrang gibt, korrespondiert mit der in der Region offenbar lebendigen Entwicklungsrichtung, die Schlesien innerhalb weniger Generationen in das mythische Land der Dichter und Denker und die schlesische Gelehrtenrepublik verwandeln sollte. Dass Vulturinus’ geistige und intellektuelle Positionen schnell zu einem festen Topos künstlerischen Schrifttums aus Schlesien geworden sind, belegt u. a. die 3. Elegie aus Poematum libri quinque (1522) von Caspar Ursinus Velius. Dieselbe Motivation (Heimweh nach Schlesien) führt hier im ähnlichen situativen Kontext (Rundgang des Dichters durch Rom) zur gleichen Erkenntnis (geistig-kulturelle Größe der Heimat), die in der Exklamation gipfelt, in der die Leistungen der Schlesier denen der Römer gleichgestellt werden: »Aber obgleich du dich, goldenes Rom, an immerwährendem Frühling erwärmst und so viele fromme und edle Dichter nährst, ist dennoch Schlesien nicht geringer als du , mag es auch zur Gänze sich im kalten Norden erstrecken.«38 Vulturinus’ friedfertige Darstellung Schlesiens konnte, von offensichtlichen Einschränkungen deren Rezeption abgesehen, durchaus ein Gemeinschaftsgefühl aufbauen. Indem sie unter den Einwohnern nicht zwischen Besseren und Schlechteren unterscheidet, unterstützt sie ein friedliches Miteinander aller. Die hier vorliegende Verteidigung der Schlesier gegen den Barbareivorwurf (Verse 112–116) gilt dem ganzen Volk. Eine Lösung, die gleichermaßen menschlich schön und nachahmungswürdig wie lebensfern war. Wenige Jahre später als die Utopie des späteren Lektors im Ordenshaus der Augustiner-Einsiedler in Neisse schrieb Bartholomäus Stenus sein Descripcio 37 Pancratius Vulturinus zit. nach: ebd., S. 50. 38 Schmitzer, Ulrich: Rom in der (nach-) antiken Literatur. (Re-)Konstruktion und Transformation der Urbanen Gestalt der Stadt von der augusteischen Zeit bis zur Moderne. In: »Gymnasium« 112 (2005), S. 241–268 hier S. 264.

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Tocius Silesie et Civitatis Regie Vratislaviensis (ca. 1512). Das für seine geographische Akkuratheit hochgeschätzte Werk liefert im krassen Unterschied zu Vulturinus eine stark wertende Vision Schlesiens. Das Land erscheint gespalten in zwei durch die Oder voneinander getrennte Hälften, eine deutsche und eine polnische. Städtenamen, die Sprache vieler Fürstenhöfe, Inschriften an den Kirchen u. dgl. belegen, dass die »Polen einst das ganze Schlesien besetzt hielten«39, während die Deutschen dort Einwanderer sind, ursprünglich »angelockt von dem Handelsgewinn«40. Nicht die Geographie oder Sprache trennt aber die beiden Ethnien, sondern in erster Linie der Unterschied im Kulturniveau: Zwei Volksstämme, die sich nicht nur nach ihren Wohnsitzen, sondern auch nach ihren Sitten scheiden, bewohnen es; den nach Westen und Süden gelegenen, besser angebauten Theil nahmen die Deutschen ein, den waldreicheren und weniger angebauten, auch schlechteren Theil nach Osten und Norden zu die Polen; beide trennt als eine ganz sichere Grenze die Oder […], sodaß auch in den Städten diesseits die deutsche, jenseits die polnische Sprache vorherrscht. Man erkennt zwischen beiden Völkern einen starken Gegensatz; die einen sind bäuerisch, roh, ohne gewerbliche Betriebsamkeit, ohne Geistesbildung, sie bewohnen in Dörfern und Weilern kunstlose Hütten aus Holz und Lehm und haben selten ummauerte Städte; die Unsrigen dagegen, haben offenere Köpfe und leben in befestigten Städten, deren Häuser meistens aus gebrannten Ziegeln errichtet sind, sie sind im Großhandel nämlich erfahren und beherrschen den Kleinhandel, wodurch ihre Städte nicht nur zu bedeutender Größe, sondern auch zu schmuckerem Aussehen gebracht haben.41

Die sicherlich erwähnenswerte Sachlichkeit Stenus’ ändert nichts an seinen über den Regionalpatriotismus hinausgehenden enthozentrischen Positionen. Erkennbar werden sie in der wiederkehrenden Aufwertung des deutschen Elements überall dort, wo keine einleuchtenden Gründe für eine Idealisierung vorliegen. So erfährt man, nachdem schon die auf einem niedrige(re)n Niveau stehende Kultur der Polen auf den ersten Seiten des Textes deutlich gemacht worden ist, dass auf dem am linken Oder-Ufer gelegenen Gebiet »eine gebildetere Sprache und Lebensweise«42 herrsche, und dass Deutsche (generell) in reicheren Dörfern43 sitzen würden usw. Eine der Konstanten der Erzählung Stenus’ ist seine Abneigung gegenüber Polen/den Polen, die er gern in seine Beschreibung immer wieder einfließen lässt.44 Dass es sich weitgehend um persönliche Antipathien handelt, scheinen nicht nur erwähnte Tatsachen, für die es manchmal in polnischen 39 Stenus, Bartholomeus: Descripcio Tocius Silesie et Civitatis Regie Vratislaviensis/ Barthel Steins Beschreibung von Schlesien und seiner Hauptstadt Breslau. In: Scriptores Rerum Silesiacarum. Bd. 17. Breslau: E. Wohlfahrts Buchhandlung 1902. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 9. 42 Ebd., S. 21. 43 Ebd., S. 25. 44 Vgl. Lipin´ski, Rom des Nordens, S. 137.

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Chroniken Bestätigungen gibt, zu bezeugen, sondern die sie begleitenden Wertungen. Nicht also die Feststellung, dass es sich bereits im 13. Jahrhundert »bei unseren Landsleuten [den Schlesiern] ein feindseliger Gegensatz gegen die Polen« entwickelt haben soll, frappiert, sondern eher deren logische Verankerung und argumentative Unhaltbarkeit: »weil diese nicht nur anders, sondern auch schlechter geartete Sitten hatten, an denen sie hartnäckig festhielten, und weil sie so voll schmählichen Hochmuths waren«45. Ein ähnlicher Fall betrifft die fortschreitende Orientierung an den Böhmen, weil »sie mildere Sitten hatten und den Polen feindlich waren, wie ihre vielen Kriege gegen diese zeigten«46. Die Animosität gegen das polnische Element stabilisiert Stenus’ Vision innerhalb des regionalem Diskurses. Neben allen anderen Faktoren, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft aufbauen, wird die regionale Kohäsion als ein Zusammensein gegen andere etabliert. Die Polen stellen in diesem Kontext, wie es scheint, eine sich dafür besonders eignende Zielgruppe dar, weil sie gleichzeitig als innerer (in Schlesien ansässig) und äußerer Feind ( jenseits der Grenze) die nationalschlesische Erzählung unterstützen. Dabei ist jener »Feind« nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Vielmehr handelt es sich um ein dem supponierten schlesischen Wesen von Grund aus fremdes und dadurch es zu sprengen drohendes Element. Polnische Anarchie, Chaotik, Unbildung, Gewalttätigkeit usw. stellen einen Gegenentwurf der in-statu-nascendi-Kultur Schlesiens. Dieses Bewusstsein hilft bei der Entwicklung des Selbstverständnisses, des Autostereotyps der jungen »Nation«, erhöht ihre Wachsamkeit, festigt das innere Band zwischen den (wahren) Schlesiern.47 Spätestens hier sieht man, wie sehr die Nation für Stenus eine Wunschgemeinschaft ist. Die Polen mögen alteingesessene Einwohner der Region sein, Schlesier sind sie in seinem Sinne nicht.48 Denn, obwohl ihm die Geschichte des Landes in der Zeit vor der Ankunft der Deutschen bekannt ist, und er die Präsenz der polnischen Bevölkerung in der Region (am rechten OderUfer sogar mehrheitlich) zugibt, sind für ihn die Schlesier »ein germanischer Stamm«, der »nordwärts den Mährern«49 wohnt. Die Diversität des Landes, sei es ethnischer, sei es kultureller Natur stellt in seinen Augen eine potentielle Gefahr für die (wie auch immer verstandene) Integrität junger (schlesischer) Nation dar. Eine Einsicht in ihre eventuellen Vorzüge, die bei den Gelehrten des 18. und 45 Stenus, Descripcio Tocius Silesie et Civitatis Regie Vratislaviensis, S. 15. 46 Ebd. 47 Vgl. Helmrath, Johannes: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500. In: Werner, Matthias (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2005, S. 333–392, hier S. 373. 48 Skowron´ska, Anna: Z szesnastowiecznych polemik o polskos´c´ S´la˛ska. In: »Sobótka« Nr. 3 (1955), S. 433–445, S. hier 436. 49 Stenus, Descripcio Tocius Silesie et Civitatis Regie Vratislaviensis, S. 11.

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19. Jahrhunderts, die sich gern und größtenteils im positiven Sinne über die slawischen – sprich polnischen – Elemente im Charakter der Schlesier, ihrem Dialekt, Rechtssystem usw. auslassen, leicht zu finden sind, gibt es hier noch nicht. Die zur Replik herausfordernde50 These von der Inferiorität der slawischen Kultur ist auch eines der Leitmotive in Gentis Silesiae annales (1571), der ältesten gedruckten »General-Beschreibung« und Geschichte Schlesiens aus der Feder des aus Freistadt gebürtigen Glogauer Arztes und Geschichtsschreibers Joachim Cureus (1532–1573). 1585 unter dem Titel Des Landes Schlesien Wahrhaffte eigentliche vnd kurtze Beschreibung …, ins Deutsche übersetzt, weckte das Werk das Interesse an schlesischer Geschichte und übte trotz der Befangenheit des Autors einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Sicht der Geschichte Schlesiens aus. Was Cureus’ Arbeit von ihren Vorgängern unterschiedet, ist zunächst das vollends ausgeprägte vaterländische Denken, das hier vorliegt: Wie dagegen die jenigen grobe vnuerstendige Leute sein müssen/ die diese betrachtung vnd bericht von anderer Land/ sonderlich aber jres eigenen Vaterlands gelegenheit verachten vnd im Wind schlagen/ vnd sich umbs das Land/ darinnen sie erstlich das Liecht erblicket/ gezogen vnd geboren/ mehr nicht/ dann als jener vngeheure Cyclops/ der in seiner Spelunck von Menschenfleisch lebete/ bekommen vnd annemen.51

Die innere Instabilität der Konstruktion des Nationalen ist bei Cureus für zeittypische Inkohärenzen verantwortlich. Zum Ausdruck kommen sie u. a. in der Spannbreite des Nation-Mythologems, das hier vom leitmotivisch auftauchenden regionalen über den chauvinistisch gefärbten deutschnationalen Ethnozentrismus bis hin zu modernen Formen der Übersteigerung des Nationalstolzes reicht. Der erste Aspekt lässt sich an (manchmal recht netten, wenn auch immer eindimensionalen) Formen der Landesbeschreibung beobachten, die im Allgemeinen zum Ziel haben, eine der Konstanten der Erzählung – das schlesische Idyll – auszumalen.52 Das Volk in Schlesien sei verständig, arbeitsam und fromm, 50 Vgl. Conrads, Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien, S. 255f; Skowron´ska, Z szesnastowiecznych polemik o polskos´c´ S´la˛ska, S. 438–440. 51 Cureus, Joachim: Des Landes Schlesien Wahrhaffte eigentliche vnd kurtze Beschreibung Darinnen zu finden ein allgemeine General verzeichnis der Gelegenheit des Landes Schlesien, vnd des gemeinen zustandts: Auch was sich besonders bey der weitberümpten Stad Bresslaw, vnd dann auch im Fürstenthumb Glogaw. Übers. von H. Rätel. Bd. 2. Wittenberg: [s.n.] 1585, S. 4. Nachstehend als »Chronica II« (der Druck weist viele Paginierungsfehler auf). 52 Vgl. ebd.: »Es mangelt auch nicht an Holtz/ Heiden vnd Püschen/ darinnen mehr denn anderswo Wild gefunden wird/ zur Speise vnd erlustigung der Menschen.// Es sein auch darinnen viel fischreiche Wasser/ gros vnd klein/ vnd dazu sehr grosse Teiche/ in denen köstliche vnd gesunde Fische gefallen. Also disfals Schlesien keinem Lande in Deutschland etwas zuuor gibt« (S. 12f); »Und weil das Land Schlesien mit solchen herrlichen Gaben der fruchtbarkeit von Gott begnadet vnd versehen/ ist ein grosse menge Volcks/ viel Städte vnd Dörffer darinnen« (S. 13); »Die meisten Städte sein Volckreich/ voller künstler vnd werckleut/

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das Regiment gut, die Wälder reich an Holz und Wild, die Teiche fischreich, die Äcker fruchtbar, die Städte wohlhabend, schön und stark, die Sitten rein und zuchtvoll, sogar die Landesküche gesund. Die narrative Eigenart dieser Darstellung beruht auf dem Einsatz eines komparativen Modus, unter Zuhilfenahme dessen bewusst Überlegenheitsverhältnisse aufgebaut werden. So predigt man in der Region (größtenteils) die »wahre Religion«53, das Land gibt mehr her als anderswo (sogar) in Deutschland, »[m]an kocht vnd speist auch in diesem Land reiniglicher vnd besser als in andern Landen«, Breslau als die Hauptstadt des Landes ist »ordentlich, schmuck vnd vnterschiedlich erbawet […]/ also das in Deutschland keine darüber zu finden«54 und »[m]an finden auch in gantz Schlesien/ vnd in benachbarten Landen/ keine Stad/ da arme Leut besser versorget vnd versehen werden/ als zu Bresslaw«55; überhaupt gibt Breslau »(so viel die Bürgerliche vnd/ innerliche Zierde betriefft) der Stad Massilia gar nichts beuor«56. Generell soll der Eindruck erweckt werden, »das Schlesien […] die Stadt Athen/ vnd andere mit Abgötterey vervnreinigte Lender in der Welt/ weit vbertrifft«57. Der Leim, der diverse Momente des schlesisch-nationalen Identitätsentwurfs Cureus’ zusammenhält, ist die prinzipielle Abneigung gegen das Fremde, wobei sich das slawisch-polnische Element für diese Rolle besonders gut eignet. Schon früh hat man Cureus’ Beharrlichkeit im Schlechtmachen Polens festgestellt. Sie hat sogar den Fürstbischof von Ermland und Autor der wohl besten Darstellung der Geschichte Polens, De origine et rebus gestis Polonorum (1555), Martin Krommer, zur kritischen Stellungnahme herausgefordert.58 Die Tendenziösität von Schlesische […] General Chronica folgt nicht aus der großen Anzahl von Textstellen, an denen »schlesisch-polnische« Themen abgehandelt werden, was

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vnd sein die Städ mehrer teils mit der wahren Religion/ guten Künsten/ guter Disciplin vnd erbarer Zucht im Regiment/ vnd in der Haushaltung begnadet.« (S. 14) »Man helt im Land Schlesien gut Regiment«; (S. 14) »Es ist aber das Volck in Schlesien für andern sehr fleissig vnd embsig« (S. 15); »Man kocht vnd speist auch in diesem Land reiniglicher vnd besser als in andern Landen: Derselb fleis zur reinlichkeit ist lobens wert/ sintemal die saubrigkeit zur Gesundheit dienet/ vnd zu viel guten Sachen« (S. 15); »In der Bürgerlichen Haushaltung gehet es fein Gottseglich/ npchtern/ gesittiglich vnd ordentlich zu/ denn Kinder Gesinde wird teglich zum Gebet vnd Christlicher Vbung gehalten« (S. 40); »Die Hausmütter schön von gestalt/ züchtige vnd vernünfftige Matronen/ vnterweisen jre Töchter in aller Gottseligkeit/ vnd gewehnen sie zur Zucht/ Reinlichkeit vnd fleissiger Haushaltung« (S. 45). Cureus’ Sympathien für den reformierten Protestantismus sind unverkennbar. Chronica II, S. 40. Ebd. Ebd. S. 38. Cureus, Joachim: Schlesische und der herzlichen Statt Bresslaw General Chronica, Das ist Warhaffte eigentliche und kurtze Beschreibug Dess Landes Ober und Nider Schlesien …. Übers. von H. Rätel. Bd. 1. Frankfort am Mayn: Sigmund Feyerabend 1585, S. 3. Nachstehend als »Chronica I«. Skowron´ska, Z szesnastowiecznych polemik o polskos´c´ S´la˛ska, S. 440f.

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aufgrund der gemeinsamen Geschichte nicht verwundern sollte, sondern aus der Parteilichkeit deren Darstellung und ihrer konstant negativen Bewertung. Es lässt den Eindruck entstehen, dass – von persönlichen Antipathien Cureus’ abgesehen – das Bild des (polnischen) Feindes (im Landesinneren und jenseits der Grenze), der als in jeder Hinsicht wesensfremd mit den schwärzesten Farben abgemalt wird, notwendig ist, um die junge schlesische Identität zu mobilisieren und zu festigen. Greift man im Schreckensszenario, das man gerade ausmalt, nicht auf polnische Räuber oder ein polnisches Heer, das einen Teil des schlesischen Elysiums ruiniert, so leistet gute Dienste das aus diversen Negativerscheinungen zusammengeflicktes Narrativ des polnischen (Un)Wesens, auf das zurückzufallen, eine Regression, eine zivilisatorische und kulturelle Degradierung des Vaterlandes bedeuten würde.59 Auf diese Art und Weise etabliert Cureus eine andere Version des Gründungsmythos. Angesichts der Fakten- und Beweislage, die die Tilgung eines slawisch-polnischen Elements aus der Geschichte der Region (und zwar vor den Deutschen) unmöglich macht, hebt er hervor und verstärkt die Unterschiede zwischen den polnischen Missständen60 und den höheren schlesisch-deutschen Verhältnissen61. Die Unüberbrückbarkeit dieser Kluft lässt Konnotationen aufkommen, aus denen sich eine dichotome Sicht von Kultur und Unkultur ergibt. Der Mechanismus setzt ständige Aufwertung der zeitlichen Zäsur – der Einwanderung der Deutschen – voraus. Da beispielsweise schon die Namen der Städte auf ihre Gründung durch die Slawen hinweisen, muss deren Geschichte in der Zeit vor der Ankunft der Deutschen kleingeredet werden, um erst was danach geschah voll zur Geltung treten zu lassen und als ihr Aufblühen und Blütezeit zu mythisieren. Hier zwei paradigmatische Beispiele:

59 Vgl. Chronica II: »Vnd wiewol noch an vielen Orten die Sarmatische Nachlässigkeit im bawen vermerckt wird/ dennoch befleissen sich jtzt jr viel zierliche ordentliche/ vnd zur Gesundheit dienstliche Gebäwe auszuführen« (S. 14); »Damals [im 12. Jahrhundert] hielt sich die stad Bresslaw noch der Polnischen Sprach/ vnd war noch auff Polnische Monir geringschetzig vnd vnansehnlich erbawet« (S. 21); »Also haben die Sclaui das Regiment vber Schlesien bekomen/ vnd ist jr Reich anfenglich nicht allein Barbarisch vnd vnmilt/ sondern auch arm/ vnuermögent vnd schlecht gewest.// Es sind nicht halb grosse zierliche Stedte auffgebawet worden/ sondern man hat etliche nidrige Hüttlein auffgerichtet/ die man bald wider verbrennen/ vnd auch wider erbawen köndte. Vnd wiewol vermuthlich/ das etliche von den alten Einwonern in diesem Lande werden blieben sein/ so haben sie doch der Sclauen Sprach/ gebiet vnd Breuche/ endlich annemen müssen« (S. 65f über die mythologische Zeit des »Lechus vnd Zechus«). 60 U. a. Barbarei (Chronica II, S. 65), »Sarmatische Nachlässigkeit« (Chronica II, S. 14), »auff Polnische Monir geringschetzig vnd vnansehnlich« (Chronica II, S. 21), »Polnische dienstbare beschwerungen« (Chronica II, S. 29)«polnisch[es] Regiment/ das mit Dienstbarkeit vnd Beschwerungen vberhäuffet« (Chronica II, S. 26) . 61 U. a. »rühmlich[e] löblich[e] Thaten vnserer Vorfahren« (Chronica I, S. 3), deutsche »Freyheiten« (Chronica II, S. 29).

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Lignitz hielt Hertzog Henricus Pius S. Hedwigen Son inne/ der erforderte viel Deudschen dahin vnd erzeiget jn allen guten willen/ dardurch nam die Stad zu/ an menge des Volcks vnd an Gebewen. Denn die Städte in Schlesien/ darein sich Deudschen nidergelassen/ haben schnell zugenommen vnd sein ehe denn andere auffkommen.62 Dieselben willigten/ das sich die Stad [Breslau] zu desto zeitlicherm jrem auffnemen/ Deudsches Rechtens gebrauchen möchte da wurden die alten vnbilligen Gesetz vnd die Polnische dienstbare beschwerungen abgeschafft vnd auffgehaben/ vnd die stad mit Freyheiten/ wie andere Deudsche Städte/ begabet vnd versehen: Damit hat die Stad an Einwonern trefflich zugenomen.63

Die beiden ziemlich zufällig ausgewählten Fragmente weisen offensichtliche Übereinstimmungen in der Konstruktion und Wortwahl auf und deuten damit auf einen Schematismus in ihrer narrativen Ausführung hin. In diese Schablone werden auch andere Darstellungen schlesischer Städte gepresst, die auf die Rechtfertigung des Gründungsmythos hinauslaufen, dass die Kultur in Schlesien (zumindest die, die den Namen verdient) mit der Einwanderung der Deutschen angefangen habe: Darnach so haben sich die Sarmatischen Völcker niemals auff zierliche Gebäuwe beflissen/ darum seind fast/ alle Städt in Schlesien gar new/ vnd haben sich angefangen zu der zeit/ als die Schlesi das Christenthumb angenommen: Denn zu der zeit habe die Wahlen vnd Teudschen/ so aus Meissen vnd Sachsen sich hierher begaben/ mit vnd neben der Religion/ auch gute Ordnung vnd Policey in diese Land gebracht vnd angerichtet.64

Oft helfen Cureus dabei die Wiedergründungen der Städte mit deutschem Recht, die von ihm automatisch mit der Übernahme durch die deutsche Ethnie gleichgesetzt werden. Der Modus der historischen Abhandlung funktioniert hier nach einem festen Prinzip, nach dem die Abnahme an einem Ende zwangläufig zur Zunahme am anderen Ende führt. Je mehr also die Polen schlechtgeredet werden, umso heller glänzen die Verdienste der deutschstämmigen Schlesier. Einen wichtigen festen Baustein der erzählerischen Umsetzung des Mythos Schlesiens stellt die expressis verbis formulierte Feindschaft zwischen den Polen und den Schlesiern65 dar. Sie ergänzt all die Textstellen, wo von den barbarischen Gewalttaten berichtet wird, denen schlesische Städte oder Einwohner der Region 62 Chronica II, S. 22. 63 Ebd., S. 29. Vgl. S. 48: »Dagegen hat er [Herzog Konrad I. von Glogau] in der Stadt ein Schlos erbawet/ ist in die Stadt gezogen/ vnd hat/ gleich wie seine Brüder/ Leut aus Teudschland anher berufen/ Vnd hat also die Stadt Glogaw langsamer/ als andere Städte/ die Polnischen Gebräuche vnd Sprache verlassen/ vnd ist erst vnter diesem Cunrado zu einer rechten Stadt worden«. 64 Ebd., S. 42. 65 »Dann es war ein grosser widerwill zwischen Polen und Schlesien« (Chronica I, S. 161); »Polen den Schlesischen Fürsten feind wurden« (Chronica II, S. 23); »ein grosser Widerwill/ Hass vnd Feindschafft zwischen beyden Völckern Polen und Schlesiern« (Chronica II, S. 27).

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zum Opfer fallen, und deren Urheber (oder Teilnehmer) Polen sind. Die Wirkung der Anspielung auf diese fast genetische Feindseligkeit wird dort zusätzlich durch die Anlehnung an willkürlich und undifferenziert erzählte historische Begebenheiten verstärkt. Besonders wichtig scheint dabei dem Chronisten die Stereotypisierung der Sicht dieser Beziehungen bei seinen Lesern, d.i. den »Liebhabern deß Vatterlads« (I, S. 4), zu sein, die die Polen nach einer Einweglogik zwangsläufig in eine Frontstellung gegen Schlesien drängt. So erklärt Cureus beispielsweise, dass die Breslauer Geistlichen im 14. Jahrhundert der Stadt feindlich gesinnt gewesen wären, »d e n n sie waren noch gut Polnisch«66. Gerade jene auch hier augenfällige Undifferenziertheit straft den Autor, der die Polen immer als ein Kollektiv, das sich durch die ihm zugedachten Eigenschaften ausweist, betrachtet, Lügen. Sogar die Könige von Polen, über die Cureus auf eine derart respektlose, missachtende Art und Weise »berichtet«, dass er sich dadurch Maßregelung Martin Krommers eingehandelt hat, schneiden nicht besser ab; im Gegenteil, sie realisieren in vollem Umfang das Stereotyp eines Polen. So ist Wladislaw Jagiello nur »der verschlagene listige Littawe«67, und Wladislaw Łokietek war gantz Schlesien feindt/ sintemal er ein Tyrann vnd verwegener frecher Man/ vnd ein Landsverderber/ darzu war den Teudschen so gram das er sie nicht gern nennen hörte. Item so verfolgete er die Ordensherrn in Preussen/ setzte den Teudschen Städten häfftig zu: Letztlich war er mit höchster verkleinerung der Schlesischen Fürsten/ als die mit grosser vnbilligkeit in der Wahl vbergangen/ vnd dazu in sein des Loci Erwehlung niemals gewilliget hatten zum Königreich komen.68

Zur Unschärfe des Vaterlandsbegriffs Gewisse narrative Wackeligkeit humanistischer Schlesienbeschreibungen ist auf die Containerhaftigkeit des Begriffs des Vaterlandes zurückzuführen. Im Folgenden soll kurz darauf anhand der das reichste Material zur Verfügung stellenden Chronik von Cureus eingegangen werden. So ist es hier zunächst eine sich gleichermaßen aus der Anhänglichkeit zum Herkunftsland (Territorialprinzip – ius soli) und zur Ahnenreihe (Abstammungsprinzip – ius sanguinis) ergebende Tugend69 und Pflicht eines jeden integren Menschen, sein Vaterland zu lieben: 66 67 68 69

Chronica II, S. 27. Hervorhebung – C.L. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 52: »Also auch/ lieb ich diese stad von hertzen […]. In dieser Stad hab ich nicht allein das Leben sondern auch den grund der reinen Göttlichen Lehr/ vnd anfang aller guten Künsten/ geschöpfft/ erlangt vnd bekomen.|| Weil es den ein sonderliche Tugent ist/ das

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Wil ich nun auch eine kurtze Historie verfassen deren Städt/ darin ich geboren/vnd den mehrerntheil meines Lebens zugebracht: Auf das ich hiemit mein Liebe gegen dem Vaterland bezeuge/ als das ich hertzlich liebe/ vnd dem ich wünsche/ das jm Gott viel solche Einwohner verleihe/ die jme als der holdseligten Mutter wol gehorsamen/ als von der sie jren auffenthalt/ gute Gesetz/ Disciplin/ die wahre Religion/ vnd die freien Künste/ empfangen haben/ vnd das sie bedencken/ das sie verpflichtet sein/ diese selige Güter den Nachkommen zu hinterlassen.70

Der Geburtsort als der erste Bedeutungsaspekt des Vaterlandsbegriffs (hier Freistadt in Niederschlesien) baut aber nur die unterste, zugegeben – die wärmste, Stufe, auf der jener gedacht wird. Denn er wird bei Cureus gleichzeitig auch größerflächig – als das Fürstentum Glogau, empfunden. So klagt der Erzähler beispielsweise folgendermaßen über die Verwüstungen, die das kaiserliche Heer 1109 im Glogauischen angerichtet hatte: »Das gantze Fürstenthumb ward durch die Keiserischen schendlich geplündert. Also ist dis mein Vaterland abermal zu Bodem gegangen.«71 Damit ist die Sache aber noch lange nicht vom Tisch. Denn ähnlich oft steigt Cureus noch eine topographische Stufe höher, indem er seine Verehrung dem lieben Vaterland Schlesien ausspricht. So zollt er z. B. die höchste Anerkennung dem Handeln Breslaus, das während der Hussitenkriege im 15. Jahrhundert ganz Schlesien vor den Rotten »[der] Landbeschädiger vnd Strassenreuber von Behmen/Mehrern vnd Polen, die erschlugen die Schulknaben/verbrannten die Kirchen vnd Bilder der Heiligen/sampt den Priestern vnd Leuten/so sie darinnen ergriffen«72, verteidigte. Zusammen mit der Stadt Schweidnitz finanzierte damals Breslau eine Streitmacht, die den Banden erfolgreich Widerstand geleistet haben soll: »In solcher allgemeiner gefahr erzeigete sich die Stad Bresslaw gantz wol/ sie wachete vor das Vaterland nicht anders/ denn vorzeiten die Stad Athen in dem Krieg wider die Persen.«73 Auch als die mythische Geschichte der Region erzählt wird, baut Cureus deren vaterländischen Aspekt auf: »Es habt aber vnser Vaterland Schlesien/ wieviel andere Völcker mehr dem grausamen Tyrannen Attilae vnterthan/ vnd jm in Kriegen zuziehen müssen«74. Ähnliches kommt zur Sprache, als das Gelangen Schlesiens unter die böhmische Lehnshochheit thematisiert wird (»Derhalben halt ich dafür/ das diese ergebung an die Kron Behem/ vnsers Vatterlands Freyheit vnnachtheilig/ vnd das man hierzu notwendige/ vnd diesem land erspiesliche

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Vaterland lieben/ vnd mit allem fleis dazu dienen/ das es in ruhigem Stand vnd Wesen bleibe/ bin ich auch schüldig/ diese Stad zu lieben/ vnd jr dankbar zu sein.« Vgl. Chronica I, S. 1. Chronica II, S. 42. Ebd., S. 86 (Paginierungsfehler). Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 64.

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vrsachen gehabt.«) 75 und mit besonders hoher Frequenz im den ersten Teil der Chronik einleitenden Wort an »deß Vatterlands liebenden Lese[r]«76. Den Überblick über verschiedene Aspekte der semantischen Heterogenität des Vaterlandsbegriffs bei Cureus rundet dessen weitgehend universelle eschatologische Dimension ab. Dort zeigt sich der Verfasser der Chronik vor allem als ein guter Christ, in dessen Wertesystem das Seelenheil im ewigen Vaterland vor selbst größter Vaterlandsliebe in diesem Leben kommt: Solche Gaben Gottes sollen wir erkennen/ vnnd mit dankbarem Gemüth preisen/ diese sollen vns auffmuntern/ in vnsern Vorfahren Fußstapfen zutreten/ derselben Gottseligkeit vnnd Tugent nachzufolgen/ auff daß wir vnsers Vatterlands zierde erhalten vnd vermehren/ Vnd sollen gedencken/ daß vns gebüren will/ in diesem vergänglichen vnd elenden Vatterland dahin zu trachten/ damit wir das rechte Vatterland hernach besitzen mögen.77

Abschließende Gedanken Schlesien, wie es einem in relativ zahlreichen humanistischen Beschreibungen entgegentritt, hat es nie gegeben. Insofern ist das Konstrukt eher als eine Richtungsangabe, ein anzustrebendes Ziel, denn als Abbild der Wirklichkeit zu verstehen. Die Beschreibungen liefern kein Abbild der Wirklichkeit, vielmehr falsifizieren sie sie. Unter der pittoresken Oberfläche der hochtrabenden, idyllischutopischen Imaginationen der überlegenen Kultur der Region prallten Welten aufeinander. Kulturen, Ethnien, Sprachen und Traditionen liegen im Dauerclinch. Das langsam fortschreitende Zusammenwachsen des Landes im Geiste und auf dem Fundament einer deutschsprachigen Kultur war eher ein Zusammenschweißen mit seinen Siegern und Verlierern, Trendsettern und Zwangsangepassten. Und es ging nicht gerade zimperlich zu, wenn es sich um die Durchsetzung seiner Interessen handelte. So befand sich beispielsweise im 15. Jahrhundert »die polnische Bevölkerung, die in der Ottmachauer Pfarrei noch sehr zahlreich war« im Konflikt mit dem Generalkapitel des Kollegiatstiftes um die Predigtsprache.78 Das dauerhaft gespannte Verhältnis zwischen dem polnischen und deutschen Teil der Gemeinde mag 1495 zum befremdlichen Befehl des 75 76 77 78

Ebd., S. 26. Chronica I, S. 1–4. Chronica I, S. 2. Kopietz, [Johannes Anathasius]: Die Pfarr- und Collegiatkirche von St. Nicolaus in Ottmachau. In: »Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens« Bd. 24 (1890), S. 162–176, hier S. 171f. Vgl. Dziewulski, Władysław: Dzieje ludnos´ci polskiej na S´la˛sku Opolskim. Od czasów najdawniejszych do wiosny ludów. Opole: Instytut S´la˛ski w Opolu 1972, S. 34.

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humanistisch gesinnten Breslauer Bischofs und Oberlandeshauptmanns Johann IV. Roth geführt haben: [D]y do von Polnischer Czunge sein unnd der bisher gebraucht habenn, vorschafft, das sy innerhalb funff Yoren, iczt noch enander erfolgend, Dewtscher Sproch uben, reden unnd der Polnischen sich mossenn sollenn und keyn anders thun unnd so yn der Czeit unnd forter Kynder habenn wurdenn, dy sollen durch yre Eldern angehaldenn werdenn, das sye zum ersten Dewtsch wol lernen. So aber ir keiner awfs gemelten Woicziczern sulch seiner Gnodenn Gebot unnd Dewtze Spruch zw ernen vorachten wurde, den Wil seine Gnade aldo unnd anderszwo unnder em nicht doldenn, sunder von dann yagenn.79

Aber nicht allein die extremen Germanisierungsmaßnahmen sind dem besagten Dokument zu entnehmen, sondern auch Informationen über den Akkulturationsprozess. Der Fürstbischof erwähnt nämlich, dass die Einwohner der meisten umliegenden Dörfer schon »gehorend wff Dewtsche Sproch uben unnd der sich haldenn, alleyne sy [die Bauern von Woitz] der fremden Polnischenn Sproch vost gebrauchenn, do durch sy sich mit Dewtschenn unnsern Amachtlewtenn nicht anders, den durch Tolmetschenn beredenn […] konnen«80. Der Sieg der deutschen Kultur war in diesem Kampf sehr ungleicher Kräfte vorprogrammiert und leicht vorauszusehen. Auf der einen Seite die stark auf den Adel des Landes wirkende Unterstützung der Fürsten und des höheren Klerus, Lehnabhängigkeit von Böhmen und fortschreitende Einbeziehung Schlesiens in die böhmische Wirtschaftszone, Privilegierung des deutschen Elements (u. a. Recht, Sprache) in den Städten, Kapitalverflechtung, rege Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, starke Modernisierungsimpulse im zivilisatorischen und kulturellen Bereich, auf der anderen Seite – politische Isolation und wachsende Entfremdung von Polen, der polnischen Kultur und Sprache und in der Folge deren Archaisierung. Aus dieser Sicht ist die Entscheidung für die Zugehörigkeit Schlesiens zum Kreis der weit verstandenen deutschen Kultur als die Wahl einer günstigeren Option anzusehen. Das Ziel verfolgte man mit unterschiedlichen Mitteln. Zweifellos übte die dahinter stehende bereits im Mittelalter hoch entwickelte Zivilisation des Westens eine starke Anziehung auf die aufstrebenden Einwohner der Region aus. 79 Tzschoppe, Gustav Adolf/Stenzel, Gustav Adolf: Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung Deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Ober-Lausitz. Breslau: Graß, Barth und Comp. 1832, S. 622. 80 Ebd. Vgl. Pachaly, Friedrich Wilhelm: Schlesiens älteste Geschichte und Bewohner. Breslau: Korn 1783, S. 36: »Bey diesen Umständen war es wohl sehr natürlich, daß am Ende die mit zahlreichen Deutschen vermischten Slaven eingeschränkt, verdrängt, oder nach einigen Generationen endlich genöthigt wurden, deutsche Sitten und Sprache anzunehmen. Welches Volk hält in die Länge Verachtung und Unterdrückung aus, wovon es sich durch Ausopferung eines Nationalvorurtheils befreyen kan, wenn es nur nicht durch Religionsgrundsätze davon abgehalten wird; überall aber, wo etwa durch einen Zufall die Slaven mit Deutschen nicht vermischt war, behielten sie auch ihre Sitten und Sprache bey.«

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Im Allgemeinen muss man aber im Verlauf des Prozesses nicht nur mit verschiedenen Werbe-, sondern auch Druckmaßnahmen rechnen. In der breiten Palette der letzteren spielten zweifellos Ausschließungs-, Stigmatisierungsstrategien und – auch narrativ transportierte – frühnationalistische Indoktrinationen eine wichtige Rolle. Aus der Perspektive der Einigkeit und Einheit des Landes mobilisierten sie Teile dessen Bevölkerung, organisierten Front gegen das Fremde, ließen bereits Angepasste zusammenrücken, bauten Stolz auf, ermöglichten Prestigeakkumulation. Nicht von ungefähr warnte Weinhold noch im 19. Jahrhundert im Kontext der Homogenisierung Schlesiens vor den »Gefaren eines starren festhaltens am polnischen«81. Humanistische Schlesienbeschreibungen stellten einen Teil der lateinischen Schriftkultur der Region dar und als solche entfalteten einen eher kleinen Wirkungsradius. Ihre Latinität zusammen mit der Tatsache, dass sie teilweise ungedruckt geblieben waren (die Beschreibung von Stein erschien erst 1883), schränkte radikal deren Rezipientenkreis ein. (Eine Ausnahme stellt in diesem Kontext die Chronik von Cureus dar, die schnell ins Deutsche übersetzt und mehrmals aufgelegt wurde.) Auch wenn sich daraus ein geringer persuasiver Wert ergibt, und sie an sich als Imaginationen Schlesiens behandelt werden müssen, liefern sie interessante Einsichten in die frühe Phase der regionalen Identitätsbildung.

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81 Weinhold, Ueber deutsche Dialectforschung, S. 18.

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Wolfgang Brylla (Zielona Góra)

Die Apolitisierung des deutschen Pop? Oder: Wie die Mainstream-Musik auf den Rechtsruck reagiert

»Keinen Millimeter nach rechts« Darf er das eigentlich? So lautete die in den Massenmedien meist gestellte Frage nach Herbert Grönemeyers Auftritt im ausverkauften Wiener Stadion,1 als er während eines Konzerts, im Rahmen seiner Europa-Tour nach der Veröffentlichung des Albums Tumult, in der Pause zwischen den einzelnen Songs mit unverblümter Radikalität, Zorn und (fast schon) Aggressivität eine verbale Attacke gegen die Rechtspopulisten geritten hatte. Grönemeyer, der nie aus seiner liberalen bzw. sogar linksgeprägten, auf jeden Fall jedoch humanen Gesinnung (man erinnere sich an Mensch), sowohl auf der Bühne als auch außerhalb keinen Hehl machte, forderte in einem kurzen Statement die Zuschauer dazu auf, dem wiedererstarkten politischen rechten Flügel die Stirn zu bieten und sich von den Neonazis nicht unterkriegen zu lassen. Anders formuliert: Grönemeyer zeigte den Rechten einen imaginären Mittelfinger. Die Konzertteilnehmer tobten, der Außenminister Heiko Maas unterstützte via Twitter Grönemeyers Appell, wofür er auch Kritik erntete.2 Grönemeyers Wutrede – nicht die erste und wahrscheinlich nicht die letzte von dieser Sorte – wurde in einem historisch wichtigen Moment geäußert, nämlich kurz vor den österreichischen Neuwahlen, bei denen

1 URL: https://www.musikexpress.de/herbert-groenemeyers-anti-rechts-rede-in-wien-koenntihr-ihn-hoeren-1342609/ / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL: https://www.welt.de/ver mischtes/article200310230/Herbert-Groenemeyer-in-Wien-Aufruf-gegen-rechts-loest-Empoe rung-aus.html / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL: https://www.derwesten.de/politik/ herbert-groenemeyer-poltert-gegen-rechts-jetzt-wird-er-mit-goebbels-verglichen-id22709402 1.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 2 URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/heiko-maas-unterstuetzt-politisches-engagem ent-von-herbert-groenemeyer-a-1286917.html / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-09/heiko-maas-aufruf-gegen-rechts-herber t-groenemeyer-konzert-spd / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL https://www.morgen post.de/politik/article227095571/Rede-gegen-Rechts-von-Groenemeyer-Warum-Maas-ihn-verte idigt.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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die ÖVP von »Lieblingsschwiegersohn«3 Sebastian Kurz den Sieg davontrug, kurz vor den Landtagswahlen in Thüringen und nach den in Brandenburg und Sachsen, wo die Alternative für Deutschland zur zweistärksten Partei nach der SPD bzw. der CDU avancierte. Mit einem massiven Zuwachs an Stimmen von ca. 20 % sind die AfDler, versammelt um Alexander Gauland und Co., in Ostdeutschland spätestens im Spätsommer 2019 in der politischen Wahrnehmung angekommen. Und dies trotz der hieb- und stichfesten Beweise gegen Andreas Kalbitz, den brandenburgischen Spitzenkandidaten, der sich, wie es eine journalistische Recherche des »Spiegel« belegte, 2007 an einer Nazi-Demo in Athen beteiligte, davor Jahre lang im faschistischen Milieu unterwegs war.4 An Kalbitz’ Vergangenheit schien sich die Wählerschaft kaum zu stören. In den strukturschwachen neuen Bundesländern, in denen die Provinz nicht nur Provinz ist und als solche abgestempelt wird, sondern zur gesellschaftlich und ökonomisch deklassierten Peripherie abstieg,5 in der sich die Politiker nur kurz vor dem Stichtag blicken lassen und sich als Menschenkenner und Helfer aus der Not zur Schau stellen, mit Hokus-Pokus-Lösungskonzepten um sich werfen, scheinen die klassischen bürgerlichen Parteigruppierungen schon längst ausgedient zu haben. Die anfängliche Politikverdrossenheit, die seit eh und je beklagt wurde, schaut man auf die Wählerbeteiligung und die Erststimmen-Diagramme, veränderte sich in letzter Zeit in eine schon lange nicht mehr registrierte Politikaktivität, die jedoch den Sozialdemokraten, den Christdemokraten und anderen Parteien aus dem demokratischen Spektrum auf Dauer als ein Dorn im Auge erscheinen sollte, weil sie den bisherigen Status quo ins Wanken bringt. Die Bürger verpassten bei den letzten Landtagswahlen ihren langjährigen Parlaments- und Kommunalvertretern nicht nur einen Denkzettel, wie manche die Wahlergebnisse interpretieren wollten,6 sondern, was man in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen beobachten konnte, sie verdeutlichten auch ihre politische Orientierung.7 Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind wieder salonfähig geworden,8 3 URL: https://www.republik.ch/2019/09/26/oesterreichs-wiederholungs-taeter / letzter Zugriff am 12. November 2019. 4 URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-andreas-kalbitz-war-mit-npd-funktionae ren-bei-neonazi-aufmarsch-in-athen-a-1284319.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 5 Siehe dazu die Sammelbände von: Esser, Hartmut (Hg.): Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000; Keuper, Frank/Puchta, Dieter (Hg.): Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall. Rückblick und Ausblick. Wiesbaden: Gabler 2010. 6 URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/afd-erfolge-bei-den-landtagswahlen-sachsen-waehl ten-aus-ueberzeugung-afd-die-brandenburger-aus-protest/24967128.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 7 URL: https://www.vorwaerts.de/blog/wahlergebnis-sachsen-ziemliche-katastrophe / letzter Zugriff am 12. November 2019. 8 Dazu den Sammelband von: Dunkel, Barbara/Gollasch, Christoph/Padberg, Kai (Hg.): Nicht zu fassen. Das Extremismuskonzept und neue rechte Konstellationen. Berlin: Universitätsverlag

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dasselbe gilt für die Nazi-Rhetorik, wie die von Björn Höcke aus Thüringen, der aus der AfD zuerst wegen seiner Sympathien für rechtsextreme Untergruppen ausscheiden musste. Jetzt erlebt er ein Revival und wird – nicht nur parteiintern – hochgehypt, weil man mit dem Abschied von Höcke auch die Gefahr lief, dass die potentiellen Wähler, die an Angela Merkels Flüchtlingspolitik kein gutes Haar lassen, gegen »Refugees welcome« sind, sich für ein ›deutsches Deutschland‹ stark machen und die Floskel »Vollzieht die Wende« herausposaunen, der Partei den Rücken kehren würden. Und dieser Björn Höcke, von Haus aus Geschichtslehrer, spricht auf verschiedenen Parteikongressen und Bürgertreffs von »Keimzelle des Volkes« oder »Bevölkerungsüberschuss«.9 Konfrontiert mit solchen und ähnlichen Aussagen von einem ZDF-Reporter, brach er das Interview ab und drohte, dass in der Zukunft, falls er »vielleicht eine interessante Person« werde, der Journalist keine Chance mehr hätte, ihn zu einem Face-to-face-Gespräch einzuladen (Stichwort: Lügenpresse).10 So sollte die Pressefreiheit nach Gusto der AfD aussehen: Antworten nur auf bequeme Fragen liefern und sich bloß nicht verzetteln. Was Grönemeyer mit dieser politischen Entwicklung in der Bundesrepublik zu tun hat? Viel. Schon Anfang der 1990er, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der DDR, kurz nachdem in einem Stadtteil von Rostock ein vietnamesisches Wohnheim lichterloh brannte und die dort eingetrudelten Menschen nicht nur zuguckten, sondern auch applaudierten und einige von denen weitere Molis in das Feuer fangende Gebäude hineinschleuderten, kurz nach einigen fremdenfeindlichen Ausschreitungen in kleineren Städten sowohl im Osten als auch im Westen des wiedervereinigten Deutschlands,11 schrieb der TU Berlin 2019. Zum Begriff der ›neuen Rechte(n)‹ siehe: Brauner-Orthen, Alice: Die Neue Rechte in Deutschland. Antidemokratische und rassistische Tendenzen. Opladen: Leske +Budrich 2001, S. 17–33. 9 URL: https://www.cicero.de/innenpolitik/hoecke-verfassungsschutz-afd-bjoern-rechtsradikal / letzter Zugriff am 12. November 2019. Mehr zu AfD: Häusler, Alexander (Hg.): Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung. Wiesbaden: Springer VS 2016; Röpke, Andrea/Speit, Andreas: Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos. Berlin: Ch. Links 2019; Bebnowski, David: Die Alternative für Deutschland. Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten populistischen Partei. Wiesbaden: Springer VS 2015. 10 URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/zdf-interview-bjoern-hoecke-abbruchdrohung-afd-politiker / letzter Zugriff am 12. November 2019. 11 Ohlemacher, Thomas: »Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen«: Medien, Bevölkerungsmeinung und fremdenfeindliche Straftaten 1991–1997. In: Dünkel, Frieder/Geng, Bernd (Hg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg 1999, S. 53–68; Brosius, Hans-Bernd/Esser, Frank: Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. In: Falter, Jürgen W./Jaschke, HansGerd/Winkler Jürgen R. (Hg.): Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 204–220 (= Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 27/1996, Jg. 37); Herz, Thomas A.: Rechtsradikalismus und »Basiserzählung«.

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Grönemeyer ein Lied, eine Mischung aus Pop und Ska, in dem er alle Faschisten durch den Kakao zieht, um es mal salopp auszudrücken. Im Song Die Härte (1994) nimmt er Bezug auf die vermeintliche Härte, maskuline Attitüde der Nazis, die in Wirklichkeit nur eine Maske, eine Camouflage sei. »Auf der Straße Knüppel und Blut/ Bei Mami bieder und lieb/ Stark nur in der Meute/ Eng im Weltbild, hart im Schritt«, singt Grönemeyer in der ersten Strophe begleitet von Trompeten, die dem Musikstück außerordentliche Tanzdynamik verleihen, die wiederum mit dem immer wieder mit den Nationalsozialisten konnotierten Marschrhythmus kontrastiert. Unter musikalisch-technischen Gesichtspunkten ist Grönemeyers Die Härte ein Liedstück, das eher zum Hüfteschwingen als zu Fackelzügen animiert. Unterfüttert wird dieser Eindruck durch die ironischhumorvoll konstruierte Sprachebene; im Refrain heißt es: »Hart im Hirn, weich in der Birne/ Ohne Halt, einfältig und klein/ Auf der Suche nach einem Führer/ Es ist hart, allein beschränkt zu sein«. Eigene intellektuelle Beschränktheit wollen die Nazis mit dem übertrieben zur Schau gestellten Männergehabe und exzessiven Tatendrang wettmachen – aber nur im Kollektiv der Gleichgesinnten. Selbstständig zu denken, sich seine eigene Meinung zu bilden, ist, so Grönemeyer, für die Rechten ein kaum zu bewältigendes Hindernis, eine Hirnaufgabe, die mit Hirnleistung gelöst werden müsste. Da jedoch sie in der »Birne weich« sind, ist das Fiasko dieses unerhört schweren Rechensports einkalkuliert. Dieses Miteinander, diese »Meute« von Schlägerkumpanen, bezeichnet Grönemeyer an einer anderen Stelle als »Mob«, derselbe Begriff taucht auch in einem Song von seiner letzten Platte mit dem Titel Fall der Fälle auf. Anders als in Die Härte ist das Schlüsselthema dieses Lieds am Beginn schwer zu erkennen, verfangen zwischen semantischen Wortspielen und ruhigen, balladenähnlichen Klängen. Geht man allerdings ins Detail und beleuchtet die sprachliche Ebene, so fällt auf, dass Grönemeyer gezielt (und bewusst) Wörter, Wortfetzen, im Grunde – Wortsignale – zum Einsatz bringt, deren Bedeutungsfülle und der eigentliche Sinn von Klarheit getragen sind und auf ein klares Verständnis seitens des Publikums abzielen. »Es wird gejagt ohne Moral« ist als eine Anspielung auf Gaulands artikulierten Freudentaumel nach der Bundestagswahl 2017,12 als er vor der Presse verkündete, seine Partei werde die Bundeskanzlerin »jagen« einerseits, und auf die Exzesse in Chemnitz 2018 andeWandlungen in der politischen Kultur Deutschlands. In: Falter, Jürgen W./Jaschke, HansGerd/Winkler Jürgen R. (Hg.): Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 485–501 (= Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 27/1996, Jg. 37). 12 Dazu: Walther, Eva/Isemann Simond D. (Hg.): Die AfD – psychologisch betrachtet. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 35; URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-alexan der-gauland-wir-werden-frau-merkel-jagen-a-1169598.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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rerseits, als einige »besorgte« Ich-bin-kein-Nazi-aber-Bürger auf die Straßen gingen und gegen Ausländer protestierten,13 zu sehen. Die Demo artete aus und eskalierte in Straßenjagden auf Andersaussehende, die von ›Möchtegernguerillakriegern‹ in Gang gesetzt und von anderen (passiv handelten?) Beobachtern des Typus »Hase, du bleibst hier« nicht vorzeitig beendet wurden. Bei Grönemeyer ist auch die Rede von »Grenzen«, »wirrem Hetz- und Hass-Gewühl«; von »bräunender Wut«, vom »kleinen Mob«; von der »Gefahr«, die vor der Tür stehe und sich jederzeit lautlos in die »Gehirne« fressen könne. Mit solchen Wortsegmenten rekurriert Grönemeyer auf die Emigranten-, Grenzschließungs- und Rechtsdebatte. Ganz zum Schluss wird quasi im Unterton, auf vom Chor aufgegriffen, die Parole »keinen Millimeter nach rechts« skandiert, die Grönemeyer auch in Wien gebrüllt hatte. Grönemeyers Plädoyer, den aufs rechte Gedankengut schielenden Gesellschaftsschichten keinen Freiraum für die Weiterverbreitung und das Gedeihen ihrer Ansichten zu geben, mag – vor allem aus demokratischer Sicht betrachtet – nachvollziehbar sein. Solche Aktionen drängen allerdings Grönemeyer in eine Ecke, die bis dato den nationalistischen Rechtshetzern und Hasspredigern vorreserviert war, so viele Kommentatoren.14 Auf der einen Seite würdigt man Grönemeyer als Künstler und einen der wichtigsten, wenn nicht sogar den größten, deutschsprachigen Popsänger, auf der anderen wird offenkundig die Legitimität der Kunst und deren Anspruch, sich in politische Diskussionen einzumischen, in Zweifel gestellt. Giovanni »Flasche leer« Trapattonis Worte paraphrasierend dreht sich diese Frage um folgendes Problem: »was erlaube Musik?« Was erlaubt sich eigentlich der Pop? Welche Funktion wohnt ihm inne? Mit welchem Kraftaufwand (und ob) ist er imstande, die Welt und Gesellschaft zu verbessern? Gibt es von oben – von der Gattung, der Ästhetik, der Machart etc. – oktroyierte Konventionsgrenzen, die der Pop nicht überschreiten kann? Muss die Popmusik jedem gefallen, damit sie immer noch als Pop etikettiert werden kann? Sprich: Muss sie auf ihrem Unterhaltungsfaktor beharrend nur gute Stimmung kolportieren, ohne die Komplexität dieser heutigen Welt zu 13 URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/chemnitz-chronologie-zu-den-ausschreitun gen-in-sachsen-a-1226103.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. Zur Radikalisierung der Masse siehe: Herschinger, Eva/Bozay, Kemal/Decker, Oliver/Drachenfels, Magdalena v./ Joppke, Christian: Die Dynamiken gesellschaftlicher Radikalisierung: Welche Bedrohung besteht für die offene Gesellschaft? In: Daase, Christopher/Deitelhoff, Nicole/Junk, Julian (Hg.): Gesellschaft extrem. Was wir über Radikalisierung wissen. Frankfurt/M./New York: Campus 2019, S. 131–170. 14 URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.herbert-groenemeyer-goebbels-vergleichnach-klarem-statement-gegen-rechts.65bd8927-42c6-4a2d-9614-53219d05b8fb.html / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/her bert-groenemeyer-goebbels-vergleiche-nach-rede-gegen-rechts-16386130.html / letzter Zugriff am 12. November 2019; URL: https://www.stern.de/neon/feierabend/musik-literatur/herbertgroenemeyer-wird-fuer-ansage-gegen-rechts-mit-goebbels-verglichen-8905326.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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durchforsten? Und kann der Pop sich der Politik zuwenden? Fragen über Fragen, die man alle in diesem konzis angelegten Beitrag nicht beantworten kann. Beschäftigen möchte er sich vor allem mit der Politisierung bzw. Apolitisierung des Pop.15 Mit anderen Worten, die Fragestellung lautet: inwieweit ließ sich die deutsche Popmusik (der Gegenwart) politisieren resp. apolitisieren, indem sie auf die sozialen Umwälzungen (Nationalismus, Rechtsruck) nicht reagiert und weiterhin von spießbürgerlicher Liebe, von Jubel, Trubel und Heiterkeit singt. Ausgeklammert werden aus der ganzen Pop-Bandbreite Songs, die man der Rock- oder Punk-Musik sowie dem Rap zuordnen kann – mit diesem Themenfeld hat sich der Autor dieses Aufsatzes schon früher befasst.16 Es muss ausdrücklich unterstrichen werden, dass im Folgenden auf stringente methodologische Vorgehensweisen verzichtet wird, und dies aus zwei Gründen. Erstens fehlt es bis zu diesem Zeitpunkt an aussagekräftigen und schlüssigen analytischen Werkzeugen, anhand derer man den Songs wissenschaftlich beikommen könnte. Es gibt zwar einige sperrige Modelle, die u. a. die Text- mit der Musikebene verknüpfen und darüber hinaus die Konzertperformance wie die Videoclips, falls diese vorliegen, in die Untersuchungen mit einbeziehen.17 Solche Versuche, ein Lied als verschmolzene Gesamtheit, als etwas Ganzes in Augenschein zu nehmen, sind lobenswert, für das Ziel, auf die Verschränkung von Politik und Musik bzw. Musiktext aufmerksam zu machen und sie zu deuten, scheinen sie zu kurz zu greifen, weil in diesem Punkt es sich nicht um eine gewisse Poetizität oder einen Regelvorzug handelt, sondern um die Korrespondenz von Kunst-Text und Welt-Text. Und zweitens visieren solche Konzeptualisierungsvorschläge in erster Linie die vorhandene oder nichtvorhandene Ästhetik an und 15 Dies geschieht unabhängig von der Studie des renommierten Pop-Experten Jens Balzer: Pop und Populismus. Über die Verantwortung in der Musik. Hamburg: Körber 2019. Balzer befasst sich mich allen Aspekten bzw. Seiten des Populismus (nicht nur des Rechtspopulismus), die in der Musik zur Geltung gelangen. Ihm geht es darum, die »Polarisierung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu untersuchen – also den Widerstreit zwischen »reaktionären« und »emanzipatorischen« Positionen, zwischen Vergröberung und Verfeinerung, zwischen der immer drastischer formulierten Beschwörung identitärer Weltbilder und dem immer offensiver vorgetragenen Einspruch gegen die kulturellen und sozialen Traditionen, aus denen diese Weltbilder entspringen« (S. 12). 16 Siehe: Brylla, Wolfgang: FCK NZS – Rock gegen Rechts. In: »Thalloris« 3 (2018), S. 93–116. 17 Als grundlegend für die Analyse von Popsongs erweist sich die sog. Fünf-Feld-Methode von Jens Reisloh, der in: Deutschsprachige Popmusik: Zwischen Morgenrot und Hundekot. Von den Anfängen um 1970 bis ins 21. Jahrhundert. Grundlagenwerk – Neues Deutsches Lied (NLD). Münster: Telos 2011 (S. 41–43) folgende Felder herausdestilliert hatte, die bei PopmusikUntersuchungen in Erwägung zu ziehen seien. Diese sind: Schrift, Sprechen, Gesang, Vertonung übergeordneter Kontext. Petras, Ole: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld: transcript 2011 fokussiert sechs Ebenen, die dazu dienen sollten, die Bedeutungspotentiale der Popmusik offenzulegen; er unterscheidet zwischen folgenden Ebenen: 1) der Komposition, 2) der Produktion, 3) der Illustration, 4) der Distribution, 5) der Akquisition, und 6) der Rezeption.

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reißen sie mehr oder weniger aus dem außenmusikalischen Bedeutungszusammenhang, aus dem Kontext, heraus. Statt eines close reading Foucalt’scher Prägung18 sollte man eher im Falle von analytischen Besprechungen von Liedern jeglicher Couleur und Gattungszugehörigkeit auf die Verfahren des contextual analysis (mit Elementen des distant reading von Franco Moretti19) zurückgreifen, die die Nähe zum Untersuchungsgegenstand nicht durch eine Gegenstandsfokussierung d. h. durch Distanzreduzierung, sondern vielmehr durch ein gewisses Abstandhalten zum Gegenstand erzeugen. Dieses ermöglicht es dem Betrachter, die Ganzheit in den Mittelpunkt zu stellen, Querverweise (z. B. Musikeraussagen in Interviews) zu identifizieren und (optional) sich über- und durchkreuzende genetische (und natürlich auch auf Hybridität basierende) Entwicklungslinien herauszuarbeiten. Bei contextual analysis wird somit Nähe durch ein Aufschließen, ein Ausdehnen der Perspektive evoziert; Nähe dank Distanz, die als Exploration des Gegenstandsumfelds zu verstehen ist. Zeichen solcher wissenschaftlichen Herangehensweise sind schon bei Theodor W. Adorno auffindbar, der sowieso für das Spannungsfeld Unterhaltungsmusik (Pop-Musik) und (geschichtlicher) Rechtsruck20 von Belang ist.

Adornos ›Pop‹-These Adorno einen Fan der Pop-Musik zu nennen, wäre ein waghalsiges Unterfangen, zumal schon in der Dialektik der Aufklärung und von allen Dingen in Über Jazz sowie Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens die Missachtung des Frankfurter Philosophen gegenüber der (trashigen) Gegenwartsmusik klar auf der Hand liegt. Vom Terminus der Pop-Musik macht Adorno zwar keinen Gebrauch,21 stattdessen bevorzugt er solche Begriffe wie Unterhal18 Dazu: Lentricchia, Frank/Dubois, Andrew (Hg.): Close Reading. The Reader. Durham/London: Duke University Press 2003; Gordon, Colin: Question, ethos, event: Foucault on Kant and Enlightenment. In: Gane, Mike/Johnson, Terry (Hg.): Foucault’s New Domains. London/New York: Routledge 2003, S. 19–35. 19 Dazu: Moretti, Franco: Distant Reading. London/New York: Verso 2009. »[B]ut the ambition in now directly proportional to the distance from the text: the more ambitious the project, the greater must the distance be. […] Distant reading: where distance, let me repeat, is a condtion of knowledge: it allows you to focus on units that are much smaller or much langer than the text« (ebd., S. 48f; Hervorhebungen im Original). 20 Am 6. April 1967 gastierte Adorno an der Universität Wien, wo er einen Vortrag zum Thema Rechtsradikalismus hielt, vor allem mit Blick auf die 1950er Jahre und die NPD in Deutschland, der erst 2019 veröffentlicht wurde. Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019. 21 Adorno bevorzugt den Begriff popular music, so auch in seiner Abhandlung On popular music. Unter Mitarbeit von George Simpson. In: »Studies in Philosophy and Social Science« IX (1941), S. 17–48.

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tungsmusik oder Jazz, der für ihn pars pro toto für die neue Musikrichtung steht. Vor dem Hintergrund seiner und Horkheimers Kulturindustrie-These22 demontiert er die musikalische Unterhaltungsbranche mit (transzendentalen) Argumenten; infolge solchen Auseinandernehmens, solcher Dekonstruktion wird der Kern der Kulturindustrie nicht nur enträtselt, sondern vor allem in Einzelteile zerlegt und dank dieser puzzleähnlichen Forschungsmaßnahme bloßgestellt. Adorno setzt Ende der 1930er Jahre die Unterhaltungsmusik, oder das, was er darunter zu subsumieren weiß, mit dem Jazz gleich, der in der Zwischenkriegszeit in der Weimarer Republik in Varietés und Nachtlokalen für Verwirrung, Zerstreuung und Entertainment sorgte.23 Erinnert sei nur an die berühmte amerikanische Bananen-Tänzerin Josephine Baker, die über Aufritte in verschiedenen Pariser Kabaretts nach Deutschland kam und im Nachtleben Berlins so richtig auf die Pauke haute.24 Den Jazz-Musikstil, repräsentiert von Baker oder Orchesterklängen, sei, laut Adorno, »nicht von einem autonomen Formgesetz«, sondern von der »Funktion« beherrscht.25 Nicht ein Anspruch auf Kunst, stattdessen ein Minus-Anspruch auf Wiederholbarkeit und Schematismus sei im Jazz zu diagnostizieren. Über solche Repetition(en) mokiert sich Adorno, denn diese erzeugen keinen Hör- und Musikgenuss; eher hinterlassen sie den faden Beigeschmack der Wiederkehr des Immergleichen. Aus seinem Blickwinkel präsentiere der Jazz nur eine musikalische Gebrauchsform, die auf ihren Gebrauchswert limitiert sei: »Jazz ist nicht, was er »ist« – karg und mit einem Blick zu durchdringen ist sein ästhetisches Gefüge bei sich selber –, er ist, wozu man ihn braucht«26. Auf »Stereotypik« aufbauend sei er als »Massenartikel« dazu prädestiniert, »als Korrektiv der bürgerlichen Vereinsamung der autonomen Kunst« den Gebrauchscharakter zu akzentuieren, indem er selbst sich auf die »Gebrauchsfähigkeit« bezieht und dadurch den Entfremdungseffekt, den er produziert, verstärkt.27 Für Adorno sei die Jazz-Musik bzw. die Unterhaltungsmusik ein nicht »seriöses Amüsierritual«28 mit eindeutigem Hang zur Banalität und auf diesem Wege, so könnte man ergänzen, auch zur Kitschigkeit und Oberflächlichkeit. Dies führt dazu, dass man im Falle des Jazz von der Kom22 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: S. Fischer 1988, S. 128–176. 23 Siehe: Partsch, Cornelius: Schräge Töne. Jazz und Unterhaltungsmusik in der Kultur der Weimarer Republik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2000. 24 Vgl. Martin, Peter/Alonzo, Christine (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. Hamburg: Dölling und Galitz 2004, S. 274–291. 25 Adorno, Theodor W.: Über Jazz. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 74–108, hier S. 76. 26 Ebd., S. 77. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 79.

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merzialisierung der Musik sprechen könne, infolgedessen nicht die Qualität des Musik-Produktes in den Vordergrund rücke, sondern die Qualität der Reklame. Damit die Unterhaltungsmusik verkauft werden kann, muss für sie die Werbetrommel gerührt werden. Im Umkehrschluss heißt dies: »Die moderne Archaik des Jazz ist nichts anderes als sein Warencharakter«29. Statt der Produzierbarkeit fällt mit Blick auf den Jazz die Reproduzierbarkeit ins Gewicht, die wiederum wenig bis gar nichts mit dem (modernen) Kunstverständnis gemeinsam hat. Das sexuell-erotische Moment, das Jazz aufweise,30 wenn es ihm nicht sogar zugrunde liege, überziehe die ganze Gattung mit einem Hauch Laszivität und Frivolität – MTV-Clips lassen grüßen –, die Befriedigung mit unterhaltsamen Musikstücken gipfelt in einem Orgasmus des Hörens, der, und diesen Gedanken spinnt Adorno in Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens – wenn er von der Regressivität schreibt – weiter, zu guter Letzt als ein NichtHören resp. Falsch-Hören zu klassifizieren wäre. Dort setzt sich Adorno mit seiner These des Verstummens in Bezug auf die melodische Unterhaltungsbranche auseinander, als er fragt, »wen die Unterhaltungsmusik noch unterhalte«31. Berechtigt erscheint diese Frage durch den Verweis auf die Rückständigkeit in der zwischenmenschlichen Kommunikation und einen sozusagen ästhetischen Rückgang im Bereich der Kunst oder Musik. »Viel eher scheint sie [die Unterhaltungsmusik] dem Verstummen der Menschen, dem Absterben der Sprache als Ausdruck, der Unfähigkeit, sich überhaupt mitzuteilen, komplementär«32, konstatiert Adorno und umschreibt somit die semantische Leere, eine Null-Message der Unterhaltungsmusik, die zwar mithilfe diverser Kommunikationskanäle zu dem Rezipienten transportiert werde, aber in Wahrheit nichts enthalte, nur »Lücken des Schweigens«33, Parzellen des Unausgesprochenen, könnte man hinzufügen, von standardisierten 08/15-Problemen, die keine sind. Vor diesem Horizont ist es kaum verwunderlich, dass Adorno den Begriff der »Degeneration« ins Feld führt. Von dieser sei die sog. »leichte« Musik betroffen: »Die Gewalt des Gassenhauers, des Melodiösen und all der wimmelnden Figuren des Banalen macht sich seit der bürgerlichen Frühzeit geltend«34; der Kastrationsvorgang der Unterhaltungsmusik läuft auf die interne Gattungsbeschränkung hinaus, die besagt, dass der Genussimperativ der Leichtigkeit und Verständlichkeit einem bedeutungslosen Vakuum zum Opfer fallen soll. Am Schluss 29 Ebd., S. 84. 30 Vgl. ebd., S. 81. 31 Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 14–50, hier S. 15. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 19.

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steht das bloße »Mitmachen«35 im Zentrum, das An-der-Stelle-Tanzen inmitten einer Gemeinschaft von anderen An-der-Stelle-Tanzenden. Das Ausschalten bzw. Depossedierung des persönlichen Denkapparates im Hinblick auf die Unterhaltungsmusik ist nicht deren Konsequenz, sondern schlichte Voraussetzung. Auf diese Weise mutiert sie zum »musikalischen Fetischismus«36, der einerseits auf der Ebene der musikalischen Herstellung zu bemerken ist, der andererseits jedoch auch das Drumherum, die Inszenierung, das »Arrangement« tangiert, das zum »Prinzip der Koloristik« erkoren wird.37 Blingbling-Strategien breiten sich aus, die die Kommerzeinstellung der Musikproduzenten (Profitmaximierung) oder anderer, aus heutiger Sicht, YouTube-User vorantreiben. Am Gegenpol zu dieser Fetischisierung, obwohl es kein Widerpart, vielmehr ein Appendix dazu ist, sieht Adorno die Regression des Hörens, d. h. das »nicht ein Zurückfallen des einzelnen Hörers auf eine frühere Phase der eigenen Entwicklung«, sondern »das zeitgemäße Hören das Regredierter, auf infantiler Stufe Festgehaltener«38. Das Hören ist der Gegenwart, den Musikhörern, die mit Pop-Schlagern39 von allen möglichen Seiten bombardiert werden, abhanden gekommen. Sich auf diesen theoretischen Unterbau berufend gelangt Adorno zum folgenden Schluss: »Der Fetischcharakter der Musik produziert durch Identifikation der Hörer mit den Fetischen seine eigene Verdeckung. Diese Identifikation erst verleiht den Schlagern die Gewalt über ihre Opfer. Sie vollzieht sich in der Folge von Vergessen und Erinnern.«40 Die von Adorno angesprochene (unendliche) Spirale von Indie-Tonne-Werfen und (un)bewusster Reaktualisierung macht eine der Haupteigenschaften der Unterhaltungsmusik aus (Ohrwurm). Solche löst jedoch, und dies ist die Krux in dieser Hinsicht, nicht die Wahrnehmungsprozesse aus. Stattdessen sollte man die »Apperzeption« in Anschlag bringen, die als musikalische Begleiterscheinung zu hypostasieren wäre: »Der übliche kommerzielle Jazz etwa kann seine Funktion bloß ausüben, weil er nicht im Modus der Attentionalität aufgefaßt wird, sondern während des Gesprächs und vor allem als Begleitung zum Tanz«.41 Der Nebenbei-Charakterzug dieser Musikrichtung speist sich aus der Unfähigkeit der Menschen zum ›richtigen‹ Hören – und dieses Hören schließt ein Werten mit ein. Das Abhören nimmt überhand (»Hörmaso-

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Ebd., S. 21, S. 38. Ebd., S. 24. Ebd., S. 28. Ebd., S. 34. Zum Schlagerverständnis von Adorno: Schwaabe, Christian: Kunst und Politik in Zeiten ihrer kulturindustriellen Vereinnahmung. In: Hellinger, Ariane/Waldkirch, Barbara/Buchner, Elisabeth/Batt, Helge (Hg.): Die Politik in der Kunst und die Kunst in der Politik. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 125–180, hier S. 145–147. 40 Ebd., S. 36. 41 Ebd., S. 37.

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chismus«42) zu Ungunsten des wahren Hörens. Masse statt Konsistenz: »Konsumfähige Kunstmusik hat mit dem Preis ihrer Konsistenz zu zahlen, und die Fehler, die sie enthält, sind nicht »artistische«, sondern in jedem falschgesetzten oder rückständigen Akkord spricht sich die Rückständigkeit derer aus, deren Nachfrage man sich anpaßt«43. Die Anpassungstaktik ist ein Bestandteil der Globalisierung, die von der 68erBewegung, dem Woodstock und den »Blumenkindern« in den USA, und dann weltweit, mehr oder weniger mitangespornt wurde. In den 1960er Jahren definierte sich die amerikanische Musikszene über die sog. Protestsongs,44 in denen über die Sinnlosigkeit des Vietnamkrieges, des massenhaften Sterbens gesungen wurde und man sich für Freiheit und Frieden einsetzte. Die Kehrseite dieser Jugendproteste war allerdings eine über die Stränge schlagende Unifizierung und Subkulturalisierung; man trug dieselben Klamotten, um sich von den ›Normalos‹ zu unterscheiden, man kiffte dasselbe, besoff sich mit demselben Alkohol, fuhr denselben VW Käfer als Zeichen von Anarchie. Einen Finger in die Wunde der politischen Protestsongs setzte auch Adorno, der mit seinem auf die Kommerzund Konsumgesellschaft zugeschnittenen philosophischen Analysesystem die Überschneidung von popular music und politischen Ansätzen diffamierte. In einem erhaltenen Videoausschnitt spricht er offen über die Versuche, der Amüsementmusik neue soziale Funktionen hinstellen zu wollen; solche Versuche seien zum Scheitern verurteilt. Nach Adorno könne und dürfe die ›schnulzenhafte‹ Musik das Entsetzen des Vietnamkrieges nicht konsumierbar machen und daraus »Konsumqualitäten«45 hinauspressen. Adornos Überlegungen in puncto apolitischen Layouts der Unterhaltungsmusik sind insofern nachvollziehbar, als man, wie er selbst, von der Unwandelbarkeit der »leichten« Musik ausgeht und die Metamorphose oder deren Anläufe von vornherein als missglückt einstuft. Die Unterhaltungsmusik sei dispersen Richtlinien untergeordnet und darf sich aus dieser Zwangsjacke nicht befreien, weil jeder ›Fluchtversuch‹ kein Lauf gen Freiheit sei, sondern ein SichWidersetzen gegen die Spielregeln; solches Auflehnen bedeute den Untergang

42 Ebd., S. 45. 43 Ebd., S. 47. 44 Vgl. Rodnitzky, Jerome L.: The Evolution of the American Protest Song. In: Scheurer, Timothy E.: American Popular Music: Readings from the Popular Press. Vol. 2: The Age of Rock. Bowling Green State: University Popular Presse 1989, S. 113–123; Weinstein, Deena: Rock protest songs: so many and so few. In: Peddie, Ian (Hg.): The Resisting Muse: Popular Music and Social Protest. Hants: Ashgate 2006, S. 3–16; Rodnitsky, Jerry: The decline and rebirth of folk-protest music. In: Peddie, Ian (Hg.): The Resisting Muse: Popular Music and Social Protest. Hants: Ashgate 2006, S. 17–29. 45 Siehe: URL: https://www.youtube.com/watch?v=Xd7Fhaji8ow / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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der Gattung. Und obwohl Adorno dem Unterhaltungsgenre abgeneigt gegenübersteht, outet er sich keinesfalls als Befürworter dessen Abschaffens. Distanziere man sich jedoch von Adornos Theorie der Apolitisierung des Pop, da er auf andere Funktionen geeicht sei, als die Welt verändern zu wollen, und wagt es, die Pop-Musik als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, in den politischen Diskurs einzugreifen und sich ihrer Massenprofilierung bedienend, bei den Zuhörern eine gewisse Sensibilisierung für gesellschaftsrelevante Themen zu erreichen, so lässt sich von einer medialgesteuerten Politisierungstendenz des Pop sprechen, die im britischen Punk Anfang der 1980er Jahre ihren tastbaren bzw. hörbaren Vertreter gefunden und sich im musikalischen, aber doch massenkonformen Underground niederschlug.46 Es geht nicht mehr oder minder darum, ob die Pop-Musik in Form von Agit-Pop sich einschalten darf, sondern dann eher um die Frage, mit welchen Mitteln und aus welchem Anlass sie es tut. Von links oder von rechts – im Grunde ist die ›Urquelle‹ der politischen Meinungsmache gleichgültig; von Signifikanz ist dabei der Zweck dieser Aussage(n). Ob der deutsche Pop, die deutschsprachige Unterhaltungsmusik Adornos (antinationalem?) Apolitisierungs-Aufruf gefolgt ist und ihm treu blieb, oder in den musikalischen Widerstand ging, soll im Folgenden gezeigt und anhand von Beispielen sowohl auf der diachronischen als auch synchronen Entwicklungsachse des Pop veranschaulicht werden.

Deutscher Pop vs. Politik – diachron Dem Rock-Boom der 1960er Jahre gegenüber stellte sich die deutsche Mainstream-Musikszene lange Zeit taub.47 Elvis Presleys Platten verkauften sich prächtig, die Beatles füllten in den 1960er Jahren die Hallen, sorgten für Furore und bei einigen weiblichen Teeanagern auch für Herzflattern. Allerdings standen die Songs dieser Epoche keinesfalls unter einem politischen oder gesellschaftskritischen Stern. In Love me tender oder Please, please me wurde das scheinbar ewige menschliche Liebesgefühl, die Sehnsucht nach Liebe besungen, die mit Freiheitsidealen gleichgesetzt werden konnten, die wiederum das konservative Wertesystem der Nachkriegsära in seinen Fundamenten zu sprengen vermochte. Das Ankämpfen gegen ein vorgetäuschtes Patriarchat, gegen die Väter und gleichzeitig Mütter, wurde aber nicht durch eine penible Auseinandersetzung mit 46 Vgl. Robb, John: Punk Rock. Die Geschichte einer Revolution. München: Heyne 2009; O’Hara, Craig: The Philosophy of Rock. Die Geschichte einer Kulturrevolte. Mainz: Ventil Verlag 2001; Stephens, Simon: Punk Rock. London: Bloomsbury 2016. 47 Zu der Krabbel-Phase der Rockmusik in Deutschland und deren späteren Entfaltung vgl. Rock! Jugend und Musik in Deutschland. Begleitbuch zur Ausstellung »Rock! Jugend und Musik in Deutschland« in Leipzig (2005/2006) und Bonn (2006). Berlin: Ch. Links 2005.

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der Elterngeneration fundiert, sondern durch die Gegenüberstellung von gegensätzlichen Lebensentwürfen. Mit einem Yeah, Yeah, Yeah konnte man schwer die einen umgebende Welt ändern; mit einem Yeah, Yeah, Yeah war man jedoch in der Lage, ein vollkommen anderes Lebens- und Liebeskonzept herauszuschreien. Inhaltlich hatten solche Lieder wie From me to you (mit der Zeile »Da da da, da da dumb da«), Heartbreak Hotel (mit »I get so lonely, baby, I get so lonely, yeah I get so lonely I could die«) oder sogar The House oft he Rising Sun von The Animals wenig revolutionären Charakter; dieses rebellische Profil wies die musikalische Seite aus, mit ihren Beats, rockigen Rhythmen, die sich quasi schon per definitionem von dem obsoleten Schlagertempus abhob. Der deutsche Schlager nach 1945 blieb seinen Grunddevisen verhaftet und hatte immer ein (exklusives) apolitisches Element inne.48 Gekennzeichnet hatte er sich durch eine gewisse Schmonzettenhaftigkeit, Tendenziösität und Trivialität, die sich nicht nur auf der sprachlichen Textebene, vor allem aber in der abstrusen Simplizität der Melodie widerspiegelten. Die ZDF-Hitparade, später auch den Musikantenstadl,49 stürmten solche Titel wie Er gehört zu mir (Marianne Rosenberg), Danke für die Blumen (Siw Malkwist) oder Junge, komm bald wieder (Freddy Quinn). Über die Welt und ihre Verwandlung(en) wurde nicht gesungen. Der Schlager setzte keinen Spiegel vor, sondern intensivierte das Gefühl der Heimatlichkeit und des Intaktseins der Welt durch das ständige Ausschließen von relevanten sozialen Kategorien.50 Und wenn er – mit Ausnahmen wie einige Udo Jürgens’ Songs (Ich glaube, Griechischer Wein, in denen gesellschaftliche Missstände vor Augen geführt und Themen wie Gastarbeiter aufgegriffen werden) – auf diese zu sprechen kam, verstrickte sich der musikalische Tusch insoweit in den (vermeintlichen) Kitschmodus, dass solche Songs zwar gehört, aber beim Frühstück, im Auto auf der Autobahn oder auf Arbeit im Büro nicht realisiert und perzipiert wurden. Wenn man so will, hat sich der deutsche Schlager, der heutzutage als Popschlager signiert wird, von seiner Affinität zur Rührseligkeit und zum Edelkitsch nicht 48 »Der Schlager ist in jedem Fall durch die Verweigerung jeglicher direkter politischer Stellungnahme charakterisiert« (Löding, Ode: »Deutschland Katastrophenland«. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik. Bielefeld: transcript 2010, S. 103). Löding vertritt auch die Meinung, dass aufgrund der »weitgehenden Verweigerung politischer Stellungnahmen« der Schlager »keine Quelle für die Untersuchung des Nationalsozialismus im Song der Bundesrepublik« darstellen könne (S. 104). 49 Siehe: Bekermann, Oliver: »Wunder gibt es immer wieder«. Eine Untersuchung zur gegenseitigen Abhängigkeit von Alltagskommunikation und Deutschem Schlager. Norderstedt: Books on Demond 2007, S. 46; Wolther, Irving Benoît: Musikformate im Fernsehen. In: Schramm, Holger (Hg.): Handbuch Musik und Medien. Interdisziplinärer Überblick über die Mediengeschichte der Musik. Wiesbaden: Springer VS 2009, S. 123–155, hier 135f. 50 Vgl. Löding, »Deutschland Katastrophenland«, S. 103; Mendivíl, Julio: Ein musikalisches Stück Heimat. Ethonologische Beobachtungen zum deutschen Schlager. Bielefeld: transcript 2008, S. 233–342; Höfig, Eckhart: Heimat in der Popmusik. Identität oder Kulisse in der deutschsprachigen Popmusikszene vor der Jahrtausendwende. Gelnhausen: Triga 2000.

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losgelöst. Er ist einerseits eine gegenwärtige Verkörperung der musikalischen deutschen Vergangenheit, andererseits ein historischer Wegweiser in die Zukunft, denn, schaut man auf die Kastelruther Spatzen, die Amigos, Florian Silbereisen oder auf Helene Fischer, Michael Sie liebt den DJ Wendler, Andrea Berg, Vanessa Mai (Wolke 7) und Beatrice Egli (Le Li La), er setzt weiterhin auf Themenverzicht statt -interesse. Heute kommt es sogar nicht mehr auf eine einschlägige Melodie mit schlichtem Text und amorphen Null-Botschaften an, vielmehr auf die Bühnenperformance, Tanzeinlagen, nackte Haut und Sinnesexplosion. In dieser Hinsicht, im Hinblick auf die Problemverweigerung, hat der deutsche Schlager im Grunde viele Ähnlichkeiten mit The Rattles (La La La), einer deutschen Beatband der 1960er Jahre, und anderen.51 Es wurden nicht nur banale Alltagsthemen kaum angerissen, geschweige denn die sozialgewichtigen wie der Umgang mit Gastarbeitern, vererbtes nationalsozialistisches Gedankengut (NPD) oder Willy Brandts Ost-Politik. Dies alles blendete der Schlager bewusst aus, da er nur für gute Laune und Entspannung stehen wollte. Sogar Sänger mit Migrationshintergrund wie Roberto Blanco (Ein bisschen Spaß muss sein) wagten es nicht, dieser Entwicklung mit anderen Songvarianten entgegenzusteuern und reihten sich einfach in das schablonenmäßig fortlaufende Schlagergeschehen ein. Erst um die Wende der 1970er/1980er Jahre, im Zuge des deutschen Herbsts, der allgegenwärtigen Politisierung der Gesellschaft, und vor allem dank des britischen Punk, hat sich die deutsche Musik Themenbereichen aufgeschlossen, die ihr bis zu diesem Zeitpunkt fremd waren.52 Der deutsche Punk war erstens als Widerpart zur Neuen Deutschen Welle gedacht, der zwar häufig wie Nena mit 99 Luftballons auf aktuelle Diskussionen einging, aber meistens ebenso so apolitisch war wie der Schlager; zweitens als Antidotum auf den gehaltsleeren Kuschelrock der vergangenen Jahre; und drittens, mit Verweis auf Deutschland, als Fortsetzung eines Kristallisierungsvorgangs, der mit Ton Steine Scherben Anfang

51 Irving Wolther unterstreicht zwar, dass es zwischen dem Schlager und der Beatmusik zu einer »Trennung« gekommen ist, aber er geht dabei auf die britischen Beatrhythmen ein und lässt die deutschen außen vor (Wolther, Irving: »Kampf der Kulturen«. Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Repräsentation. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 91). 52 Zur Geschichte der Punk-Musik in der BRD siehe: Hecken, Thomas: Punk-Rezeption in der BRD 1976/77 und ihre teilweise Auflösung 1979. In: Meinert, Philipp/Seeliger, Martin (Hg.): Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript 2013, S. 247–260. Zur Geschichte des Punk in der DDR siehe: Hahn, Anne: Pogo auf dem Altar. Punk in der DDR. In: Meinert, Philipp/Seeliger, Martin (Hg.): Punk in Deutschland. Sozialund kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript 2013, S. 127–154; Paleczny, Gerhard/Wissentz, Katrin/Winter, Robert/Thurm, Alexander/Hesse, Maria/Wagner, Sebastian: Punk und Rock in der DDR. Musik als Rebellion einer überwachten Generation. Norderstedt: ScienceFactory 2014.

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der 1970er Jahre losgetreten wurde.53 Die Scherben Rio Reisers haben mit Keine Macht für Niemand, Der Traum ist aus (mit »Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? […] Dieses [Deutschland] ist es nicht«), Macht kaputt, was euch kaputt macht und Warum geht es mir so dreckig? Position bezogen und meldeten sich im politischen Diskurs kritisch zu Wort. In Die letzte Schlacht gewinnen wir und Menschenjäger arbeiteten sie die deutsche NS- sowie die Gegenwartsgeschichte auf und sträubten sich gegen die wieder aufkeimende nationalsozialistische Ideologie: Ich mein die Menschenjäger und die Schreibtischtäter Die uns Millionen mal ermordet haben Sie zittern schon um ihren weißen Kragen Wenn der Führer ruft, sind sie dabei Sie sind zum Kaufen für die schlecht’ste Schweinerei Und sie killen und denken nicht dabei Sie sind der Grund für jede Schießerei.

Verengung der Denkhorizonte durch eine diktatorische Weltanschauung, Kritik am Nationalsozialismus, Rassismus, Volksdenken und der Menschenfeindlichkeit – dies sind auch die Eckpfeiler des deutschen Punk, der für eine pluralistische, offene, farbige Welt plädierte. Zum Ausdruck kam dieses Weltbild Ende 1970er Jahre auf dem Konzert »Rock gegen Rechts«,54 dem ersten deutschen Musikevent gegen hasserfüllte Nazi-Parolen. Natürlicherweise war diese Geisteshaltung gepaart mit einem Unbehagen bezüglich des Gewaltmonopols des Staates; in der Polizei sah man nicht den Freund und Helfer, sondern den Feind, der mit Staatserlaubnis die demonstrierenden, protestierenden Menschenmassen von den Straßen mit Pauken verjagte. Brandts »wir wollen mehr Demokratie wagen«-Versprechen wollte das Wiedervertrauen der Bevölkerung in die Staatsinstitution aufbauen und dieser Bevölkerung Gestaltungsmöglichkeiten 53 Vgl. Sichtermann, Kai/Johler, Jens/Stahl Christian: Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2008; Seidel, Wolfgang: Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben. Mainz: Ventil Verlag 2005. Ton Steine Scherben lieferten den »Soundtrack zur Revolte einer Generation« und haben sich in den 1970er Jahren selbst-politisiert (Brown, Timothy/Kutschke, Beate: Politisierung, Pop und postmoderne E-Musik. In: Schaffrik, Tobias/Wienges, Sebastian (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? Berlin: LIT Verlag 2008, S. 78–97, hier S. 82). 54 Das erste Rock against Racism-Festival fand 1978 in London statt (dazu: Renton, David: Never Again. Rock Against Racism and the Anti-Nazi League 1976–1982. New York: Routledge 2019). In Frankfurt/M. veranstaltete man 1979 ein Konzert, das als Antwort auf eine Massendemo der NPD gedacht war (Dudek, Peter/Jaschke, Hans-Gerd: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur. Bd. 1. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 332; Peise, Steffen: Zwischen Satan, Odin und Hitler. Rechtsrock und NSBM als Weggefährten im braunen Sumpf. Berlin: epubli 2015, S. 47–48; Rachel, Daniel: Walls Come Tumbling Down. The Music and Politics of Rock Against Racism. 2 Tone and Red Wedge 1976–1992. London: Picador 2016, S. 5–16).

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schaffen. Retourkutschenmäßig ermöglichte solche Demokratisierungspolitik auch fremdenfeindliche Leitsätze, die u. a. von böhse onkelz55 propagiert wurden, die die Türken als Kanaken beschimpft, und sich ein großes Deutschland gewünscht haben. Auf solche verbal-musikalischen Auswüchse replizierte der deutsche Punk mit einer eindeutigen Erklärung. Slime brachte zwei Songs heraus Nazis raus (in den 1980er Jahren) sowie Anfang der 1990er Jahre Schweineherbst (»Deutschland – Ein Land kotzt sich aus/ Einen alten, braunen Brei/ Mir wird schlecht von dieser Heuchelei! Heuchelei!«), die man als Antwort auf böhse onkelz sowie die Re-Nazifizierung der Gesellschaft verstehen kann.56 In derselben Zeit, als Punkbands in den Nachtklubkellern Westberlins und anderen Großstädten mit Gitarrenriffs ihr Publikum begeisterten, liefen im Radio Lieder, die der Neuen Deutschen Welle zugerechnet werden können. Auf der einen Seite bewusst ironisch und verletzend, auf der anderen Seite bewusst verletzend und ironisch. In Reisers König von Deutschland kommen Kohl, Schmidt und Strauß vor, aber auch der Schlagersänger Reinhard Mey. Reiser parodiert das Politikgeschehen mit dem Rüstzeug einer massentauglichen Musik. Auch in, wenn man so will, dadaistischem Da da da von Trio oder Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei von Stephan Remmler greift man auf die ›Waffen‹ der Satire und des Humors zurück, die von der Sprache konstituiert werden, aber erst in der Kombination mit der Synthesizer-Elektro-Musik aufblühen. Bruttosozialprodukt von Geier Sturzflug oder Hurra, hurra, die Schule brennt von Extrabreit nehmen sich sozial-wirtschaftlicher Themen an, verpacken sie jedoch in eine kitschige Musikhülle. Die Folge ist die fehlende Ernsthaftigkeit; solche Songs lassen sich vom Melodiezwang unterdrücken und bleiben botschaftstechnisch auf der Strecke liegen. Sie teilen das Schicksal des Protestsongs der 68er, dessen Wirkungsradius begrenzt war. In den USA legte man jedoch einen größeren Wert nicht auf die Musik, sondern den Text. Mit einschlägigen Balladen, Chansons würde man in Europa sangen, und mit hartem Stoff opponierte man gegen den Vietnamkrieg.57 Anleihen machte man bei der Folkmusik. Protestlieder waren jedoch nicht nur ein Markenzeichen der US-Sänger, auch in der DDR hat sich die Musikgattung – mit Erfolg – etabliert.58 Wolf Biermanns 55 Vgl. Farin, Klaus/Seidel, Eberhard: Skinheads. München: C.H. Beck 1993, S. 80–98, wo jedoch die Anfänge von böhse onkelz mit ihrem Hang zum Radikalen schöngeredet werden. 56 Mit »Nazis raus« beschäftigte sich ausführlicher Ryser, Daniel: Slime. Deutschland muss sterben. München: Heyne 2013. Die Band selbst wird als »wichtigste Polit-Punkband Deutschlands« tituliert (Graf, Christian: Punk! Das Lexikon. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2003, S. 342). 57 Vgl. Perone, James: Songs of the Vietnam Conflict. Westport, Connecticut/London: Greenwood Press 2001. 58 Siehe: Robb, David: Political Song in the GDR: The Cat-and-Mouse Game with Censorship and Institutions. In: Robb, David (Hg.): Protest Song in East and West Germany since the 1960s. Rochester/New York: Camden House 2007, S. 227–254. Zum Rock in der DDR: Wicke, Peter: Zwischen Förderung und Reglementierung – Rockmusik im System der DDR-Kulturbüro-

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Texte oder die von der Klaus Renft Combo richteten sich weniger gegen den sozialistischen Staat, indem sie den Sozialismus beanstandet hätten, sondern gegen dessen praktische Umsetzung. Biermanns Drahtseilakt, sein Spiel mit den Grenzen des politisch-kritisch Machbaren, endete mit seiner Ausbürgerung in die BDR, gegen die er sich heftig gewehrt hatte.59 Die Elektromusik der 1990er Jahre mit ihrem Euro-Disco-Sound und auf Englisch verfassten Reimen – es ist das Zeitalter von MTV und Viva in Deutschland –, die meistens nach dem Muster »Oh, Baby« oder »Boom boom boom« geschnitten waren, wandte sich mehr oder minder gegen die Neue Deutsche Welle und somit auch gegen die german songs. Diese überlebten zwar in Form des deutschsprachigen Light-Pop und dank Grönemeyer oder Markus Müller-Westernhagen, aber sie schwammen scheinbar mit auf der Welle der musikalischen political corectness. Bloß nicht anecken, sondern einfach mitsingen über die Welt, Liebe und seine persönliche Enttäuschung – dies war die dominierende Devise. Andernteils sang man auch über sich selbst, wie Westernhagen, der in sein Revier zurückkam. Der deutsche Pop ließ sich immer weiter popisieren; solch ein Popisierungsverfahren hatte eine Entsemantisierung des musikalischen Textraumes zur Folge. Im Grunde passten sich die Songwriter der allgemein herrschenden Friede-Freude-Eierkuchen-Atmosphäre an und servierten Lieder, die sich auf der Skala ihres politischen Relevanzfaktors bei Null einpendelten. Erst der Hip Hop brachte die Kehrtwende: die einen Rapper gingen in die »I-wanna-be-a-Gangsta«-Stilistik60 und sangen von Gewalttaten gegenüber Frauen, brutalem Vorgehen gegen die Fremden oder Homophobie, die anderen waren zumindest darum bemüht, auf brisante soziale Themenbereiche hinzuweisen und sich zumindest in ihren Songs zu engagieren. Zu diesen Letztgenannten gehören u. a. Eko Fresh und der erwachsen gewordene Sido, die in den 2000er Jahren durchgestartet sind. Mit der steigenden Popularität des deutschen Hip Hop veränderte sich auch die gängige radiotaugliche Musik; deutsche Songs waren wieder cool. Dieter Bohlen produzierte das ein oder andere Sternchen, das auf die deutsche Britney Spears oder Christina Aguilera machte, nicht singen dafür sich auf der Tanzfläche bewegen konnte und ein Fernsehgesicht hatte. Ein paar dezente Beats, zwei, drei Bridges, eine farbenfreudige Aufmachung, ratz kratie. In: Wicke, Peter/Müller, Lothar (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente. Berlin: Ch. Links 1996, S. 11–27; Rauhut, Michael: Ohr an Masse – Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi. In: Wicke, Peter/Müller, Lothar (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente. Berlin: Ch. Links 1996, S. 28–47. 59 Mehr dazu: Pleitgen, Fritz (Hg.): Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Wolf Biermann und andere Autoren. Berlin: Ullstein 2001. 60 Zur Geschichte des deutschsprachigen Hip Hop siehe die Sammelbände von: Seeliger, Martin/ Dietrich, Marc (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen. Bielefeld: transcript 2012 und Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration. Bielefeld: transcript 2017.

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fatz, fertig war ein One-Hit-Wonder von der Stange aus der Bohlen-Werkstatt. Das Diktum der Wiederkehr von immer gleichen Melodiesequenzen, von Textphrasen, die eben nur Phrasen waren, bescherte nicht nur ihm, sondern auch Ralf Siegel großen (finanziellen) Erfolg;61 die Oberflächlichkeit der Musik spiegelte sich in der Oberflächlichkeit des Textes und vice versa. Mit dem ESC-Song Guildo hat euch lieb (von Guildo Horn gesungen) und Wadde-hadde-dudde-da versuchte Stefan Raab latent auf diese Anti-Entwicklung in der Musikbranche aufmerksam zu machen, indem er dieselben technischen Mittel zu benutzen vermochte. Letztendlich beruhte Raabs Erfolgsgeheimnis auf seinem Know-how des Pop. Wie kein anderer kannte er sich in der Unterhaltungsszene aus und wusste, an welchen Hebeln man ziehen musste.62

Deutscher Pop vs. Politik – synchron Die Popbands Juli, Rosenmond, Unheilig – oder wie sie alle heißen – sind das Resultat eines Konzepts der Popmusik, die bis dato an ihren ungeschriebenen Gesetzen gebunden blieb. Schaut man sich die heutigen Texte an, so fällt ins Auge, dass die meisten popkonforme Klischees bedienen. Und dies bewusst. Chöre oder Sowieso von Mark Forster, Wincent Weiss’ Dahinschmelzen-PopBalladen, Max Giesingers 80 Millionen machen einen großen Bogen um politische Aussagen und, eingewickelt in die Popwindel (damit nichts hinausläuft), nehmen sie einen Song nach dem anderen auf, die sich zwar musikalisch voneinander unterscheiden, aber textlich gesehen stets um das Große Nichts kreisen.63 Was man im 21. Jahrhundert observieren kann, ist eine vollkommene Entleerung der Songinhalte; die Zeichenhaftigkeit des einzelnen Wortes wurde ins Reich der Gleichgültigkeit und Apathie verdammt. Ein Lied gleicht dem anderen, von ästhetischen Differenzen kann in diesem Fall kaum die Rede sein. Der ZDF-Haus-und-Hof-Satiriker Jan Böhmermann, der mit seiner VaroufakisAffäre (war es das wirklich?), dem Erdogan-Schmähgedicht (was darf Satire?) oder seiner Kandidatur für den SPD-Vorsitz schon einige sinnlos in Stein gemeißelte Grenzen brach, hat 2017 das konventionelle Format des deutschen Pop 61 Hecken, Thomas: Pop-Konzepte der Gegenwart. In: »POP. Kultur & Kritik« H.1 (2012), S. 80– 107, hier S. 90. Bohlen wird das Siegel eines »minderwertig angesehene[n] Pop-Phänomens« verpasst. 62 Vgl. Knop, Karin: Comedy in Serie. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format. Bielefeld: transcript 2007, S. 171–190 (das Kapitel »Stefan Raab und seine Show TV total«). 63 Auf die Popmoderne schauend nennt Diedrich Diederichsen dieses ›Nichts‹ »Perfektion der Entleerung« (Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1999, S. 284). In: Sexbeat. 1972 bis heute. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1985, S. 177 spricht er vom »Abbau des Überbaus«, an einer anderen Stelle vom »BeatKitsch« (S. 173).

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auf seine ironische Art und Weise karikiert. Böhmermanns Affen-Experiment offenbarte, nach welchen Prinzipien die Musikszene vorgeht. Sein Team ließ fünf Affen aus einem Gelsenkirchener Zoo Karten mit originellen Poptextzeilen oder Werbeslogans ziehen, diese wurden in der Reihenfolge der zufälligen Auslosung chronologisch sortiert.64 So entstand ein neuer Song, der auf schon bekannte Songs referierte, um nicht sozusagen von ihnen klaute, aber in Wirklichkeit von Affen (!) mit gestaltet wurde. Mit einer auf die Schnelle niedergekritzelten popmäßigen Melodie gelang es Böhmermann alias Jim Pandzko (eine Anspielung auf Tim Bendzko) mit Menschen Leben Tanzen Welt eine passable Hitnummer. In diesem von Affen getexteten Song geht es um… Menschen, Leben, Tanzen und Welt – um dieselben Themen, die auch zum Gegenstand des Mainstreampop wurden. So heißt es in den Strophen von Jim Pandzko: Was du hast, können viele haben Aber was du bist, kann keiner sein Es ist ein schönes Gefühl Zu wissen, dass Du da bist Ich brauch mal wieder Zeit mit dir Das schwarze mit der blonden Seele Der gute Stern auf allen Straßen An alle da draußen: Anders sein ist gut Alle Wege führen nach Rom Wir trampen nach Alaska Barfuß durch den Regen,

um im Refrain das Patentrezept für einen qualitativ guten Popsong offenzulegen: »Menschen, Leben, Tanzen, Welt/ O-eo-o, o-o-ehooo!/ Menschen, Leben, Tanzen, Welt/ O-eo-o, o-o-ehooo!« Es muss kaum hinzugefügt werden, dass viele Popsänger auf Böhmermanns Diskreditierungsversuch mit Kopfschütteln reagiert haben. Campino, derselbe Campino, der in den 1980er Jahren mit Die Toten Hosen auf Anti-Establishment machte,65 um im neuen Millennium gelandet, von »Tagen, wie diese« zu trällern und dabei »über den Asphalt vor Freude« zu tanzen über die »Brücken bis hin zur Musik«, äußerte sich kritisch über Böhmermann und warf ihm »Zeitgeistgeplapper« vor.66 Die Frage, ob Campino selbst in den Geplapper-Modus fiel, stellt er sich höchstwahrscheinlich nicht; blickt man auf die neuesten Titel der Toten 64 URL: https://www.stern.de/kultur/musik/jan-boehmermann-laesst-schimpansen-texten-her aus-kommt-ein-popsong-7401078.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 65 So entstand 1996 der Song »Zehn kleine Jägermeister«, eine Art Reaktion auf den 90er-Hit »Zehn kleine Negerlein« von Mike Staab, der einen kleinen medialen Skandal auslöste (URL: https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-13490302.html / letzter Zugriff am 12. November 2019). 66 URL: https://www.spiegel.de/kultur/musik/campino-zum-streit-mit-jan-boehmermann-nachdem-echo-interview-a-1142448.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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Hosen, dann muss leider konstatiert werden, dass der Bandname seine Berechtigung hat. Du lebst nur einmal oder Feier im Regen schließen sich dem im deutschen Pop überwiegenden Null-Nichts-Nada-Trend an. Textlich betrachtet, was eher niemand vor einigen Jahren hätte glauben können, ist Campino viel näher an Helene Fischer dran, als an der Antilopengang (Pizza oder Beate Zschäpe hört U2) oder anderen Punk- und Hip Hop-Combos (Feine Sahne Fischfilet), die auf eine starke einleuchtende Message bauen. Die Hosen traten zwar auf dem Gegen-Rechts-Konzert #wirsindmehr in Chemnitz 2018 auf und ließen Schlagworte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit verlauten, aber dieselben Kategorien scheinen in ihrem musikalischen Œuvre keine Rolle mehr zu spielen. Auch Udo Lindenberg, der in den 1980er Jahren mit einem Sonderzug nach Berlin-Pankow fahren wollte, um mit dem DDR-Indianer eine Angelegenheit zu klären,67 hat sein revolutionäres Flair von Panik-Panther (»Also Faschos verpißt euch,/ keiner vermißt euch./ Wir wolln euch nur noch von hinten sehn«) verloren. Es reicht nicht mehr aus, so der Kabarettist Serdar Somuncu in der Talkshow von Markus Lanz, auf die Bühne zu springen, die Faust in die Höhe zu schwingen, »Nazis raus« zu »rülpsen«68 und dann von einem Herzen, das man reparieren müsse (Ein Herz kann man nicht reparieren), zu schwadronieren. Es reicht nicht mehr aus, #wirsindmehr zu retwitten (Forster, Giesinger), ein Foto der Veranstaltung hochzuposten oder wie Fischer nach tagelanger Funkstille Farbe zu bekennen. Fischers Facebook-Eintrag war jedoch sehr geschickt formuliert, um ihre große Fancommunity nicht zu verärgern und zu stigmatisieren. »Wir können und dürfen nicht ausblenden, was zur Zeit in unserem Land passiert, doch wir können zum Glück auch sehen wie groß der Zusammenhalt gleichzeitig ist – das sollte uns stolz machen«.69 Einerseits positionierte sie sich 67 Zur Relation Lindenberg-DDR siehe: Freitag, Thomas: Udo Lindenberg und der Osten. Berlin: Neues Leben 2011. Sonst Loeck, Thomas: Udo Lindenberg oder was? Berlin: epubli 2013; Stuckrad-Barre, Benjamin v./Uslar, Moritz v.: Am Trallafitti-Tresen. Das Werk von Udo Lindenberg in seinen Texten. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008. 68 Somuncu war in der ZDF-Sendung von Markus Lanz am 2. September 2018 zu Gast. Lindenberg hatte sich 2016 in einem Zeitungsinterview an seine Schlagerkollegen gewendet, öffentlich ein Zeichen gegen Rechtspopulismus zu setzen: »Die [die Schlagersänger] sagen, wir sind reine Entertainer, wir machen nur Unterhaltung nach dem Motto: Mach dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino, vergiss die Welt da draußen« (URL: https://www.n-tv.de/leute/Lindenberg-for dert-Bekenntnis-gegen-Rechts-article18983321.html / letzter Zugriff am 12. November 2019). Anfang November 2019 schrieb er auf Facebook: »nee, wir brauchen keine rückwärtsgewandten rassisten, hetzer und menschenfeindliche brandstifter mehr in unserm schönen land, wir brauchen neue visionen, kreativpower für die zukunft, echte lösungen für die ganzen krassen herausforderungen unserer zeit. keine böcke auf höcke. das rechte gift, das braune gespenst. das grauen geht um im land, nicht nur an halloween« (URL: https://www.thebestsocial.media/de/kei ne-boecke-auf-hoecke-udo-mit-leidenschaftlichem-statement-gegen-rechts / letzter Zugriff am 12. November 2019). 69 Siehe den Facebook-Eintrag von Helene Fischer.

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gegen Fremdenhass, andererseits brüskierte sie auch nicht fremdenfeindliche Aktionen. Konkreter wurde sie auf einem Konzert in Berlin, wo einige Zuschauer wegen des Aufzeigens des strafwidrigen Hitlergrußes in Gewahrsam genommen wurden.70 »Ich äußere mich nicht zu Politik. Meine Sprache ist die Musik«, sagte sie am Anfang, um später draufzusetzen: Doch auch ich verfolge, was in der Welt passiert. Und deswegen heute Abend, jetzt und hier gemeinsam mit euch, wir setzen auch ein Zeichen. Und ich möchte jetzt und hier, dass keiner mehr sitzen bleibt. Erhebt euch. Erhebt gemeinsam mit mir die Stimme. Gegen Gewalt. Gegen Fremdenfeindlichkeit. Und lasst uns gemeinsam dieses Lied singen. Wir brechen das Schweigen hier in Berlin. Seid ihr mit mir? 71

Fischer sei somit engagierter als die gesamte CDU, kommentierte zugespitzt der Comedian Nico Semsrott, der jetzt für die Partei Die Partei im EU-Parlament sitzt.72 Tatsächlich, ähnliche Coming outs sind im Pop-Schlager-Metier Mangelware, denn, was niemanden überraschen mag, rekrutieren sich viele Schlagerhörer aus heimatliebenden, konservativen Kreisen.73 Der Schlager, indem er die Geschichte und die Gegenwart sozusagen wegsingt, nimmt seine Fans auf eine Reise in das glückliche Gestern, in ein musikalisches Refugium, wo man seine alltäglichen Probleme vergessen kann.

Im nationalistischen Musikspektrum: Xavier Naidoo, Andreas Gabalier, Frei.Wild Im März 2018 sorgte der Schlagersänger Heino (ungewollt?) für Schlagzeilen, als er der Heimatministerin von Nordrhein-Westfalen, Ina Scharenbach (CDU), eine alte Schallplatte von 1981 mit »Heimat- und Vaterlandsliedern« überreichte, die er zuvor bei sich zu Hause hortete und die er in der Zwischenzeit vergaß.74 An diesem Geschenk wäre nichts verkehrt gewesen, wenn sich auf dem Vinyl keine suspekten, sich im Ton vergreifenden und auf den Nationalsozialismus anspielenden Lieder wie Der Gott, der Eisen wachsen ließ befunden hätten. Aufge70 URL: https://www.welt.de/vermischtes/article181468922/Berlin-Anzeige-wegen-Hitlergrussbei-Helene-Fischer-Konzert.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 71 URL: https://www.focus.de/kultur/kino_tv/kultur-helene-fischer-bricht-vor-zehntausenden-liv e-ihr-schweigen-zu-chemnitz_id_9533120.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 72 URL: https://twitter.com/nicosemsrott/status/1037230981722329088?lang=de / letzter Zugriff am 12. November 2019. 73 Vgl. Jacke, Christoph/Mendívil, Julio: Heimat 2.0. Über Konstruktionen und Imaginationen von Beheimatung in der deutschsprachigen Schlagermusik. In: Brinkmann, Frank Thomas/ Hammann, Johanna (Hg.): Heimatgedanken. Theologische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 45–66, hier S. 63. 74 URL: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/heino-schenkt-ina-scharrenbach-lie der-mit-ss-vergangenheit-a-1199459.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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nommen wurde sogar Wenn alle untreu werden – ein Stück, das vor allem bei der SS hoch im Kurs stand.75 Heino, der »immerblonde Sonnenbrillenträger«76, bezeichnete seinen Plattenfund als »Rarität aus dem Keller«77; die Lieder können doch nichts dafür, dass sie von der Politik instrumentalisiert worden seien, erklärte er. Einerseits verweist Heino – »blau, blau, blau blüht der Enzian« – auf den artifiziellen und autonomen Charakter der Musik, andererseits macht er sich selbst der Propaganda schuldig, wenn er zugibt, vom Instrumentalisierungsprocedere gewusst und trotzdem das Liedgut verbreitet zu haben. Heino ist ja nicht unbedingt für sein politisches Timing und Händchen bekannt: In den 1980er Jahren, als in Südafrika die Staatsdoktrin der Apartheid herrschte, trat er mit seinem Song Schwarzbraun ist die Haselnuss auf mit den leicht einprägsamen Refrainzeilen »Falleri juwi juwi wi ja ha ha« – ein Cover eines aus dem 18. Jahrhundert stammenden deutschen Volksliedes, in dem – zu Zeiten der deutschen Kolonien in Afrika – ein dunkelhäutiges Mädchen angehimmelt wurde. Derselbe Titel wurde in den 1930er und 40er Jahren von der Hitlerjugend und der Wehrmacht gesungen, allerdings mit einem veränderten Refrainteil.78 Außer dem Fehltritt Heinos wurden in den letzten Jahren auch Exzesse von Xavier Naidoo zum Politikum, der 2014 am Tag der deutschen Einheit an einer Demonstration der Reichsbürger teilnahm und sogar das Wort ergriff;79 er sei »zufällig« auf seinem Fahrrad unterwegs gewesen, wurde angesprochen, ob er dem Publikum vielleicht etwas sagen könne. Naidoo wollte für den Frieden werben, im Endeffekt entstand eine Schimpftirade – adressiert an die Regierung –, die den Reichsbürgern, und somit Deutschland-Verweigerern in den Kram zu passen schien.80 Schon drei Jahre davor hat sich Naidoo, beim ARDMorgenmagazin zu Gast, negativ über den Staat Deutschland geäußert, den er nicht als autarken Freiheitsstaat, sondern als »besetztes Land« verstand.81 Als verbale unbedachte Ausschweifungen ließen sich Naidoos ›Thesen‹ allerdings nur bis 2017 mit einem Schmunzeln im Gesicht abtun – bis zur Veröffentlichung 75 Thieme, Sarah: Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929–1939). Frankfurt/M./New York: Campus 2017, S. 249. 76 URL: https://www.musikexpress.de/heino-tritt-mit-rammstein-live-beim-wacken-2013-auf125042/ / letzter Zugriff am 12. November 2019. 77 URL: https://www.dw.com/de/heino-verschenkte-nazi-lieder/a-43101648 / letzter Zugriff am 12. November 2019. 78 Siehe: Hamburger, Andreas: Das Motiv der Urhorde. Erbliche oder erlebte Erfahrung in »Totem und Tabu«. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Kulturtheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 45–86, hier S. 50. 79 URL: https://www.stern.de/panorama/xavier-naidoo-verteidigt-umstrittene-rede-bei-reichsbu erger-demonstration-3832024.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 80 Geyer, Steven: Naidoos Weg in die rechte Ecke. URL: https://www.fr.de/panorama/naidoosrechte-ecke-11176085.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 81 URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/auftritt-vor-reichsbuergern-xavier-n aidoo-stellt-sich-selbst-ins-abseits/10825166.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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seines umstrittenen Songs Marionetten (zusammen mit den Söhnen Mannheims) – der »Reichsbürger-Hymne«82 –, der so eindeutig undeutlich rüberkommt, dass Xavier Naidoo jeder Verteidigungsversuch zu einfach kommt. In diesem eintönigen auf Provokation justierten Lied, aus mühsamen Elektrobeats zusammenmontiert, finden sich Zeilen, die einerseits Empörung auslösten,83 andererseits in die Karten der Wutbürger- und AfD-Wähler mit ihrem reaktionären Weltbild und der »Sie-haben-mich-ins-Gesicht-gefilmt«-Masche spielen. Naidoo greift die Politiker, die »Puppenspieler«, an, für die die Bürger nur »Marionetten«, »Steigbügelhalter« und »Sachverwalter« sind. Mit dem Puppenspieler-Vermerk begibt sich Naidoo auf das gefährliche Terrain des Antisemitismus (Strippenzieher-Jude als Hasssymbol). Und weiter: »Und weil ihr die Tatsachen schon wieder verdreht/ Werden wir einschreiten/ Und weil ihr euch an Unschuldigen vergeht/ Werden wir unsere Schutzschirme ausbreiten«. Es liegt nahe, die »verdrehten Tatsachen« im Kontext der »Lügenpresse«, das mögliche Einschreiten, also Aktivwerden, wiederum als Bürgerwehr oder politische Resistenz zu lesen; die Bundestagsabgeordneten seien keine Volksvertreter mehr, sondern für »Teile eures Volks« einfach nur »Volksverräter«: »wenn ich nur einen in die Finger bekomme, dann zerreiß ich ihn in Fetzen«. In Der deutsche Michel legt Xavier Naidoo mit Band noch nach, indem er schon wieder einen Lügenpresse-Verweis einschmuggelt (»nachgerichtete Nachrichten«) und – latent – der geschichtlichen Größe Deutschlands nachweint, denn Deutschland demontiere sich selbst. Deutschland sei nicht mehr für Deutsche: »Der Deutsche Michel ist ein Tor für Deutschland/ Der Deutsche Michel ist ein Tor für Deutschland«. Wie diffus Naidoos letztes musikalisches Werk ist, davon zeugt z. B. Nie mehr Krieg, wo er Frieden postuliert, gleichzeitig jedoch erneut Zündstoff mitbringt. Grund dafür sind die Zeilen »Muslime tragen den neuen Judenstern/ Alles Terroristen, wir haben sie nicht mehr gern«, die man entweder eins zu eins interpretieren kann (im Sinne des Islam-Bashings) oder als Karikatur und Kritik an der schichtübergreifenden Pauschalisierung von Muslimen (das Wir), die eben als potentielle Allah-Akbar-Terroristen geächtet werden. Stellung zu den Marionetten nahm Böhmermann, der in einer Musikpersiflage Naidoos Plattitüden an die Wand nagelte und auf den Kopf stellte: »Das Land ist keine Republik, dieses Land ist eine GmbH. […] Der Jud ist schuldig, steht zu 100 Prozent fest, ich sag’ nur Rotschild, schaut man ins Netz«. Als Sahnehäubchen führt Böhmermann 82 URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/xavier-naidoo-provoziert-mit-reichsbuerger-hy mne-der.2156.de.html?dram:article_id=385775 / letzter Zugriff am 12. November 2019. 83 URL: https://www.deutschlandfunk.de/marionetten-song-von-xavier-naidoo-kein-kavaliers delikt-die.807.de.html?dram:article_id=385779 / letzter Zugriff am 12. November 2019. Dazu auch: Speit, Andreas: Reichsbürger – eine facettenreiche, gefährliche Bewegung. Einleitung. In: Speit, Andreas (Hg.): Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr. Berlin: Ch. Links 2017, S. 7–21, hier S. 15f.

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Adolf Hitler, den »Maler und Lebenskünstler«, mit folgendem Fake-Zitat an: »Ich bin ja kein Nazi, aber ich finde die Platte echt stark«84. Von der rechten Szene wird Naidoo für sein ›Engagement‹ gefeiert, dabei stellt man sich nicht die Frage nach der credibility des Mannheimer Pop-Sängers, der zuletzt in der Jury des RTL-Trash-Formats »Deutschland sucht den Superstar« neben Camp-DavidLitfaßsäule Dieter Bohlen saß und hinter seiner dunklen Sonnenbrille die musikalischen Glanz- bzw. No-Go-Performances der angehenden ›Superstars‹ mit einem vielsagenden »Wow« bewertete. Außer Naidoo ist auch der österreichische »Volks-Rock’n’Roller« Andreas Gabalier ins Fadenkreuz geraten. Nachdem ihm im Februar 2019 der Karl-Valentin-Orden verliehen worden war, unterzog man in den Massenmedien Gabaliers Songtexte einer massiven Vivisektion. Auf dem Cover seines dritten Soloalbums aus dem Jahre 2011 erblickt man einen sich auf einer Bergspitze renkenden Gabalier, der letztendlich eine süffisante und unorthodoxe Körperhaltung annimmt, die an das Hakenkreuz erinnert.85 Im Lied Mein Kamerad, von derselben Platte, wird eine Männerfreundschaft besungen, man könnte fast von soldatischer Bruderschaft sprechen, die mit einem »eisernen Kreuz« verglichen wird, das keinem »Sturmwind« weiche. Gabalier greift auf eine durch Sexiness und Xenophobie zementierte Musikästhetik zurück, in der Frauen (fast immer) konservative familiäre Sozialrollen zugeschrieben werden. Außerhalb der Bühne zeigt er sich als heimatliebender, volksnaher Junge aus der »Hulapalu«-Nachbarschaft, der dem »Gender-Wahnsinn«86 trotzt und für eine altbackene Gesellschaftsordnung mit seinem »Hallihallo« steht. In Mein Großvater hat gesagt bezweifelt er im Grunde die Emanzipation und Geschlechtergleichheit: »Warum muss denn a Dirndl heut sein wie a Mann/ Völlig verbissen, schon fast verkrampft emanizpiert/ So dass man die ganze Freud am Knuspern verliert«. Etliche andere Texte weisen einen nationalsozialistisch angehauchten Wortschatz, der auf eine verschleierte Weise reproduziert wird, auf: Es tauchen solche Begriffe wie »Heimatsöhne«, »Heimat« oder sogar die Deutschland-Italien-Japan-Achse (Biker) auf. Gabaliers maskulin-chauvinistische Patriotismuspose wird in Kleine Steile Heile Welt auf die Spitze getrieben, wo er in der Steiermark-Mundart erneut seine nationale Heimatliebe bekundet und auf die Vergangenheit mit weinenden Augen zurückschaut, auf das Früher mit der »Milka-Tender-Werbung«: 84 URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/satire-zum-marionetten-song-jan-boeh mermann-knoepft-sich-xavier-naidoo-vor/19762654.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 85 Einen passenden Rechtfertigungsversuch, aus der Gabalier-Perspektive, findet man in: Zeidler, Thomas: Andreas Gabalier. Aus dem Leben eines VolksRock’n’Rollers. München: riva 2014, S. 98–100. 86 URL: https://www.welt.de/vermischtes/article141535666/Der-Alpen-Elvis-trotzt-dem-GenderWahnsinn.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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I glaub an mei Land und die ewige Liab Nix is mehr Daham als ein Schnitzel aus der Pfann Tradition leben, mit der Zeit gehen […] In einem christlichen Land hängt ein Kreuz an der Wand… I glaub an den Petrus an der Himmelstür Der sagt, komm her zu mir, Bua i muss reden mit dir

Selbstverständlich weist Gabalier den Vorwurf, er würde von der nationalistischen Rhetorik Gebrauch machen, mit Vehemenz zurück,87 allerdings sprechen seine Lieder eine andere (volkstümliche Schlager-)Sprache und bilden einen Nährboden für rechtsaffine Gruppen. Ebenfalls im Verdacht, mit Blick auf ihre Nähe zur rechten Front, steht die Austro-Band Frei.Wild, die selbst mit ihrem Konservatismus oder Heimatgefühl prahlt.88 Frei.Wild mag zwar beteuern, die Neonazis nicht zu unterstützen, aber ihre Songs wurden von den Rechtspopulisten vereinnahmt und für ihre Zwecke ausgeschlachtet. Philipp Burger, Frontmann der Südtiroler Musikantenclique, nimmt Abstand vom rechten Ideengehalt, und begreift sich als »konservativen Antifaschisten«89, der über solche zentralen Kulturwerte wie Sprache und Glaube singt, aus denen sich das Heimatideal, der Heimatsinn zusammensetzen. Für Frei.Wild sei ein zur Geltung gebrachter, sich offenbarender Patriotismus nicht gleichzeitig mit Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen: »Die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat/ Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten/ Wir sind einfach gleich wie Ihr, von hier«. Auf der einen Seite werden sie auf den Konzerten nicht kleinklaut und machen mit solchen Slogans wie »Nie wieder Faschismus« auf sich aufmerksam, auf der anderen Seite verstreuen sie mit solchen Zeilen wie »Sprache, Brauchtum und Glaube sind Werte der Heimat/ Ohne sie gehen wir unter, stirbt unser kleines Volk« (Wahre Werte) Losungen, die auch auf der Agenda der Pegida, der NPD oder AfD zu finden sind. Das christliche Abendland soll mehr oder weniger vor dem Neuen und Fremden gerettet werden, so Frei.Wild in Land der Vollidioten: »Kreuze werden aus Schulen entfernt, aus Respekt/ Vor den andersgläubigen Kindern«. Ihre Lieder zeichnet Selbstreferenz aus, immer wieder wird in Form von Songzeilen eine Art Argumentation und Verteidigung der eigenen Musik vor dem Hintergrund der Kritik, der sich die Band stellen muss, vorgetragen. Frei.Wild betrachten sich als Juden der Gegenwart, die verfemt werden (»Heut gibt es den Stempel, keinen 87 Siehe dazu: Balzer, Jens: Ein Hallihallo mit eisernem Herz. URL: https://www.welt.de/vermisch tes/article141535666/Der-Alpen-Elvis-trotzt-dem-Gender-Wahnsinn.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 88 URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/suedtiroler-band-frei-wild-ein-einfaches-iden titaetsangebot.2177.de.html?dram:article_id=415337 / letzter Zugriff am 12. November 2019. 89 Siehe: URL: https://www.salto.bz/de/article/22062015/freiwild-als-konservative-antifaschisten / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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Stern mehr« aus Wir reiten in den Untergang), sehen sich ständig unter Rechtfertigungszwang und begründen, dass die Nazi-Anschuldigungen in ihre Richtung einfach nur Humbug seien. 2019 brachten sie jedoch ein neues Album mit dem ironischen Titel Unsere Lieblingslieder heraus mit gecoverten Songs von Musikern, die sie früher scharf angegangen haben. So wurde beispielsweise eine der antifaschistischen Linken-Hymne Schrei nach Liebe von den Ärzten neu aufgenommen. Auf Facebook bezeichnen sie die neun Lieder sarkastisch als »Perlen deutscher Moralkultur« und scheinen sich über den ganzen Musikstreit um Frei.Wild zu amüsieren. Was die Soft-Rocker-Band mit ihrer Musik anbietet, lässt sich mit dem Kriterium des Identitätsvorschlags umschreiben, der nicht direkt nach rechts ausgerichtet ist, geschweige denn am rechtsextremen oder nationalsozialistischen Paradigma partizipiert, der allerdings die Kluft zwischen dem Ich-bin-kein-Nazi-aber-Typ, dem Populisten-Typ und Wir-sind-das-VolkTyp füllt und so vor den Karren des Rechtsextremismus gespannt werden kann. Davor schützen auch solche YouTube-Kommentare nicht, wie die von Burger, der nach der Randale in Chemnitz »die hassgesteuerten Geister der Extreme« verurteilt hatte.90

Schwule Veganer gegen Rechts Eigentlich galt Sarah Connor Anfang der 2000er als deutsches Pendant zu den wie am Fließband produzierten US-Popsternchen, die zwar über eine imposante Stimme verfügten, hinter denen eine ganze Maschine von Hitwriters stand, die aber in Wirklichkeit ihre ›gekauften‹ Songs nur heruntergeleiert haben. Connor feierte ihren Durchbruch mit From Sarah with Love, einer balladenähnlichen Liebesschnulze, die sich 20 Wochen lang auf Platz eins der Charts hielt. Im Fernsehen war sie ebenfalls präsent, mit Marc Terenzi liiert, dem ehemaligen Sänger der Boygroup Natural, der derzeit als Magic Mike durch verschiedene Stripteaseklubs tingelt, bildeten sie das Medienpaar schlechthin. Nach einer kurz andauernden kommerziellen Flaute kehrte sie in den 2010er Jahren in die Medienlandschaft zurück dank dem VOX-Musikformat »Sing meinen Song – Das Tauschkonzert«, das im Unterschied zu anderen Trickkisten-Fernsehshows im Feuilleton ordentlich abschnitt und etliche Preise einheimste. Beteiligt hatte sie sich an der Premierenstaffel u. a. neben dem schon verstorbenen Roger Cicero, Sasha und… Gabalier. Moderiert wurde die Klassenfahrt auf Mallorca von… Naidoo. Der Wechsel ins Deutsche bescherte Sarah Connor weitere Achtungserfolge. Dabei sieht sie in den Liedern und Videoclips zu, direkt oder auch 90 URL: https://www.musikexpress.de/extreme-auf-beiden-seiten-frei-wilds-philipp-burger-uebe r-chemnitz-1114872/ / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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unterschwellig ihre politische Haltung zu vermitteln. Wie schön du bist, obwohl sie selbst unterstreicht, dass sie sich von ihrem Sohn inspirieren ließ,91 handelt von einem pubertierenden Mädchen (?), das sich von seinen Eltern, Schulkameraden und der Welt nicht verstanden fühlt und deswegen Reißaus nimmt. Allerdings könnten die Zeilen »Mit all deinen Farben/ Und deinen Narben/ Hintern den Mauern/ Ja ich seh’ dich/ Lass dir nichts sagen/ Nein, lass dir nichts sagen/ Weißt du denn gar nicht/ Wie schön du bist?« auch als Wortmeldung in der Überfremdungs- und Migrantendiskussion gegen die hass- und hetzerfüllten Brüllfloskeln vom rechten Rand fungieren. Diesen Eindruck verstärkt zum ersten das Musikvideo, das Sarah Connor mit einer Spraydose in der Hand vor einer Wand zeigt, die den Schriftzug »Refugees welcome« malt, und zum zweiten das Cover von Caroline Kebekus, einer populären und mehrfach preisgekrönten Comedian aus Köln, die Wie schön du bist modifizierte, die Melodielinie dabei belassend. Kebekus zieht in den Kampf gegen das »Nazi-Allerlei«, wie es heißt, mit Waffen des Wortes. Den originellen Connor-Refrain krempelt sie wie folgt um: »Ich schäm’ mich/ Für all deine Fahnen und deine Narben/ Hinter der Mauer, ja in Dresden/ Lass dir mal sagen, nein lass mir dir sagen/ Weißt du denn gar nicht wie blöd du bist?« Kebekus wusste auch in anderen umgemodelten Songs zu polarisieren, in denen sie auf die Ex-AfD-Vorsitzende Frauke Petry zu sprechen kam, die sie als »sexy Bitch der AfD« (auf der musikalischen Grundlage von Meghan Trainors All About That Bass) veräppelte, um dann in Adel Tawils Manier die Frage zu stellen: »Frauke Petry – ist da jemand?« und (satirisch) Mitleid mit ihr zu haben: Ich war doch die sexy Bitch der AfD Aus und vorbei – Oh, das tut so weh! Keiner hat an mich geglaubt […] Ist da jemand, der mein Herz versteht Und der mit mir bis zum Endsieg geht? Findet dich da draußen irgendwer noch geil? Ist da jemand? Ist da jemand?

Außer Wie schön du bist nahm Sarah Connor 2019 die Single Vincent, wo eine schwule Männerbeziehung angedeutet wird, auf. Schon in der ersten einleitenden Strophe weiß Connor die für die AfD eher unbequeme Thematik anzuschneiden (»Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt/ Er hat es oft versucht und sich echt angestrengt/ Alle seine Freunde spielen GTA/ Vincent taucht lieber ab und tanzt zu Beyoncé«). Dass im Video, das in einer BaptistenKirche mit Gospelchor gedreht wurde, vor allem Afroamerikaner auftreten, ist 91 URL: https://www.vip.de/cms/sarah-connor-ihr-album-muttersprache-gibt-viel-persoenlichespreis-2340442.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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als weiteres Signalzeichen und Affront gegen die Rechten zu taxieren. Ohne Umschweife rennt sie gegen die »AfD-Idioten« in dem Song Ruiniert an – die würden ihr Herz nicht »kriegen« – und macht sich Gedanken über das Abdriften nach rechts. Mit Sarah Connors Worten: Was hat uns so ruiniert, das Hirn so glatt poliert Dass uns nichts mehr berührt? Was ist mit uns passiert? Wo ist denn nur die Liebe, Liebe, Liebe? Warum halten wir nicht zusamm’n und reichen uns die Hand Und fang’n was Neues an? Bisschen mehr als jeder kann Wir brauchen wieder Liebe, Liebe, Liebe.

Auf die AfD ist auch die Band Jennifer Rostock nicht gut zu sprechen, die 2016 vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, ein Unplugged-YouTube-Video hochgeladen hat, in dem Jennifer West vom Kreuz bei der Partei auf dem Wahlzettel abrät: »Und nur die dümmsten Kälber/ wählen ihren Metzger selber«. Für diese politische Erklärung fuhren sie sich heftigen Shitstorm ein, dem sie jedoch in aller Öffentlichkeit entgegentraten.92 In den Texten von Jennifer Rostock sind allerdings politische, auch verdeckte Verweise, rar: So wird in Haarspray beispielsweise eine in die Brüche gehende Liebesbeziehung behandelt, in Tauben aus Porzellan in Wincent Weiss’ Stil von »Feuerwerk« gesungen. An seiner Stilistik hielt Sebastian Krumbiegel von der ostdeutschen A capellaBand Die Prinzen fest, die schon 2001 im Lied Deutschland die stereotypischen deutschen Tugenden belächelt und das Deutschland-Bild revidiert haben (»Es bilden sich viele was auf Deutschland ein/ Und mancher findet es geil, ein Arschloch zu sein/ Es gibt manchen der sich gern’ über Kanaken beschwert/ Und zum Ficken jedes Jahr nach Thailand fährt/ Wir lieben unsere Autos mehr als unsere Frauen/ Denn deutschen Autos können wir vertrauen«). Auch vor historischen Kontexten machten die Leipziger nicht Halt und bezogen sich nicht nur auf die Weltkriege, sondern auch auf die brennenden Flüchtlings- und Asylantenheime, wenn sie die besondere deutsche Fähigkeit des »Auf-die-FresseHauens« und »Feuerlegens« verspotteten. Untermalt und bekräftigt wird dieses ›Anti-Deutschland-Lied‹ durch die Zeilen »Schwein, Schwein, Schwein, Schwein«. 2019 brachte Krumbiegel als Solokünstler den Song Die Demokratie ist weiblich heraus, der Videoclip besteht aus einem Ausschnitt-Medley mit TV-Prominenz, die karaoke- und mini-playbock-show-mäßig ihren Mund zu der abgespielten Musik aufmacht und von Demokratie ›singt‹, die so »verletzlich« sei; man müsse für sie kämpfen, gerade deswegen, weil sie weiblich sei im Gegensatz zum männlichen Krieg, Frieden, Sieg: 92 URL: https://www.welt.de/politik/deutschland/article157940273/Jennifer-Rostock-wird-nachAnti-AfD-Song-beschimpft.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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Ich will ein Leben lang für diese Dinge gradestehn Mit all den Leuten, die auf unsrer Seite sind Ich will ein Leben lang auf dieser Barrikade stehn Mit all den Männern, all den Fraun Mit all den Wesen, die sich gegenseitig vertraun Mit all den Freaks und den Normalos Is egal, los, lass mal machen.

Als »grauenhaft, aber gut« bezeichnete Krumbiegels Poplied die »Zeit«93 (die Melodie verklemmt, die Phrasen zu künstlich gebastelt, die Übergänge zu hektisch). Eine große Empörungswelle löste die im August 2019 veröffentlichte Auskopplung von Das Boot ist voll des Schweizer Musikers Faber, der im Refrain gedroht hatte, dem »besorgten Bürger« einen zu »besorgen« und ihm seinen Schwanz zu zeigen, aus. Nicht nur die Rechten liefen Sturm gegen solche »Vergewaltigungsfantasien«;94 Faber musste sich die Zurechtweisung gefallen lassen, die Grenze des ›guten Geschmacks‹ übertreten zu haben. Infolge dieses PenisGates änderte er den Vers in »Wenn sich 2019 ’33 wieder einschleicht«. So oder so ist Fabers Song einerseits als Mahnruf an die Menschlichkeit, andererseits als Verunglimpfung der neuen Rechten aufzufassen. Auf dem Klavier spielend, mit ansteigender Stärke, setzt er zum Angriff gegen die Populisten an, indem er ihre Argumentationskette verwendet und auf diesem Wege das Sich-Zurückbeamen in die Vergangenheit brandmarkt: Früher war auch nicht alles schlecht Das sieht man an der Autobahn Ihr wärt auch traurig, gäbe es keinen Volkswagen Wolfsburg, Geniestreich Logisch denkt man dann manchmal zurück ans Dritte Das mit den Juden Das muss man erst beweisen Den Scheiß aus den Geschichtsbüchern muss man dir nicht zeigen Du lässt dich nicht für dumm verkaufen Wie schlau von dir.

Faber übernimmt die rechte Perspektive, für die er allerdings kein Verständnis hat; die rechte monokulturelle und monoethnische Sichtweise führe zur Be- und Ausgrenzung, zum unbegründeten Populismus, zum Redeschwall gegen Andersdenkende und Andersaussehende. »›Das Boot ist voll!‹, schreien sie auf dem 93 URL: https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-08/sebastian-krumbiegel-prinzen-landtagswah len-ostdeutschland-demokratie-song / letzter Zugriff am 12. November 2019. 94 URL: https://www.musikexpress.de/fabers-reaktion-auf-die-vergewaltigungs-kritik-ist-enttaeu schend-1320323/ / letzter Zugriff am 12. November 2019.

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Meer/ ›Ja, das Boot ist voll‹, schreist du vor dem Fernseher« – die Diskrepanz zwischen außen (Meer, Flüchtlinge) und innen (Bürger, Deutschland heilig Vaterland) wird durch das ›volle Boot‹ aufgelöst, das wiederum anders, abhängig vom jeweiligen Blickpunkt, bewertet wird. Ein brennendes Haus wird von Faber aus dem Blickwinkel der Rechten als Kollateralschaden (»Ups«) verharmlost, aus derselben Sicht wird Horst Seehofers Entschluss – zu seinem 69. Geburtstag 69 Flüchtlinge abzuschieben – hochgelobt, denn nur so werde man sich nicht mehr »fremd im eig’nen Land« fühlen, »nicht mehr wohl in deiner Haut«. Auf Ironie ist Linksversifft von Andi Valandi & Band getrimmt, ein melodischer, gute Laune verbreitender Song, der im Gegensatz zu Faber oder Sarah Connor nicht auf die Rechten schielt, stattdessen auf seiner »linksversifften« Weltanschauung insistierend sich als »fies, böse und gemein« zu zelebrieren glaubt, dem Herkunft oder Religion einfach nur »scheißegal« sind. »Keine Macht für niemand«, gibt Andi Valandi von sich mit einer an Anarchie grenzenden Gewissheit, und entwirft ein linkes Wohlgefühlkonzept, das eine Lösungsformel für »diese kleine ein bisschen verdrehte Welt« sein könnte; diese lautet: »Pluralistisch – und teilweise vegan,/ wir fahr’n Fahrrad und manchmal mit der Bahn./ Wir sind frech, wir sorgen für Tumult,/ wir sind linksversifft und vegan verschwult«. Mit Selbsthumor gegen Demagogen, die im Lied nicht in Erscheinung treten, weil sie nicht imstande sind zu »lieben, leben, streiten, reden, lachen, schweigen, flenn’« und mit den Links-Zecken, die »Volksverrat« begehen, zu kommunizieren.

»Ein Nazi auf der Party« Die Rammstein-Jungs, denen man lange Zeit unterstellte, mit der rechten Szene zu sympathisieren, haben 2019 mit Deutschland für klare Verhältnisse sorgen wollen. Allerdings ist ihre Single von derselben Polyvalenz bestimmt, die schon für MIAs, eine deklarierte Berliner Alternative-Band, Was es ist symptomatisch ist, nämlich von der Polyvalenz der Gratwanderung. MIA versucht einen Balanceakt heilsam nach Hause zu bringen, in ihr »neues deutsches Haus«. Intendiert wird somit eine Abwendung vom alten Deutschland (dem NaziDeutschland) und ein Zulaufen auf ein verändertes neues Deutschland, auf das man stolz sein könnte: »Es ist, was es ist, sagt die Liebe – was es ist, fragt der Verstand./ Wohin es geht, das woll’n wir wissen – und betreten neues, deutsches Land«. Was allerdings MIA in diesen Songfragmenten unternimmt, lässt sich als moderne Identitätsbildung auslegen, ein Bekenntnis für ein Land, bei dem man mit einem »roten Mund« dabei sein möchte. Im Grunde wird von MIA die Rehabilitierung des Nationalismus-Gedanken gefordert. Auch Rammstein kann sich nicht entscheiden: In Deutschland kommt kein Entweder-Oder, sondern ein

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Sowohl-als-Auch zum Tragen; eine Hassliebe, mit der einerseits die deutsche Geschichte verurteilt wird (»Überheblich, überlegen/ Übernehmen, übergeben/ Überraschen, überfallen/ Deutschland, Deutschland über allen«), mit der man andererseits dem »kalten« Deutschland seine patriotischen Gefühle offen zeigen möchte. Der deutschsprachige Mainstream-Pop zieht sich weitgehend aus dem politischen Disput zurück – mit Extremausnahmen von Naidoo oder Faber. Und dies mit gutem Recht: Ins Fettnäpfchen zu treten, die eine oder die andere Seite in Verruf zu bringen, würde bedeuten, Abstriche bei den Fans zu machen und sich der Kritik auszusetzen. Lieber in ruhigen, entleerten Gefilden weiterschwimmen, als ins Visier von Andersdenkenden, von linken oder rechten zu geraten. Somit erweist sich die Popmusik als entpolitisiert, obwohl über soziale Netzwerke einige Musiker, Künstler etc. versuchen, den Hörern ihre Geisteshaltung einzuhämmern wie Böhmermann, der im November 2019 in Licht an! Licht an!, sich auf die Geburtstagsparty des ehemaligen »Spiegel«-Redakteurs Matthias Matussek beziehend,95 zu der bekannte Neonazis und AfD-Politiker eingeladen waren, im musikalischen Barden- und Protestsong-Duktus (mit Brille und vorgetäuschten Gitarrenspiel) die in der Gesellschaft zu protokollierende Gleichgültigkeit rechtsnationalsozialistischer Ideologie gegenüber an den Pranger stellt. »Licht aus! Licht aus!/ Ein Nazi auf der Party!/ Wegschauen! Wegschauen!/ Alles ganz normal!«, singt Böhmermann und ohrfeigt die politische Praxis, dort Konsens zu suchen, wo keine Übereinstimmung gefunden werden dürfte, wo Opfer mit Tätern verwechselt werden: »Heut’ ist uns egal, was in unsrem Glas ist/, wer noch Demokrat, und wer schon Rassist ist./ Heut’ ist uns egal, was gesund und was krank ist,/ wer Täter, wer Opfer, wer Anne, wer Hans Frank ist«. Von solchen Bestrebungen abgesehen, bleibt die Unterhaltungsmusik der Adorno-Maxime weiterhin verpflichtet. Ob dies jedoch die richtige Richtung ist, in der aktuellen Rechtsdebatte sich selbst ins Abseits zu stellen, abzuwinken und darauf zu pochen »Hey, wir machen nur Mucke«, ob man doch Partei ergreifen sollte, auf diese Frage wird erst die Zukunft eine passende Antwort liefern können.96 Die konsumabhängige und konsumierbare Popmoderne scheint dazu aber nicht in der Lage zu sein.

95 Siehe die kulturanthropologische Studie von: Zˇizˇek, Slavoj: Auf verlorenem Posten. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2009, S. 127. 96 Mehr zu dieser Thematik: Quent, Matthias: Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können. München: Piper 2019.

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Literatur Adorno, Theodor W.: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019. Adorno, Theodor W.: On popular music. Unter Mitarbeit von George Simpson. In: »Studies in Philosophy and Social Science« IX (1941), S. 17–48. Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 14– 50. Adorno, Theodor W.: Über Jazz. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 74–108. Balzer, Jens: Pop und Populismus. Über die Verantwortung in der Musik. Hamburg: Körber 2019. Bebnowski, David: Die Alternative für Deutschland. Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten populistischen Partei. Wiesbaden: Springer VS 2015. Bekermann, Oliver: »Wunder gibt es immer wieder«. Eine Untersuchung zur gegenseitigen Abhängigkeit von Alltagskommunikation und Deutschem Schlager. Norderstedt: Books on Demond 2007. Brauner-Orthen, Alice: Die Neue Rechte in Deutschland. Antidemokratische und rassistische Tendenzen. Opladen: Leske+Budrich 2001, S. 17–33. Brosius, Hans-Bernd/Esser, Frank: Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. In: Falter, Jürgen W./Jaschke, Hans-Gerd/Winkler Jürgen R. (Hg.): Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 204– 220 (= Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 27/1996, Jg. 37). Brown, Timothy/Kutschke, Beate: Politisierung, Pop und postmoderne E-Musik. In: Schaffrik, Tobias/Wienges, Sebastian (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? Berlin: LIT Verlag 2008, S. 78–97. Brylla, Wolfgang: FCK NZS – Rock gegen Rechts. In: »Thalloris« 3 (2018), S. 93–116. Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1999. Diederichsen, Diedrich: Sexbeat. 1972 bis heute. Köln: Kiepenhauer & Witsch 1985. Dietrich, Marc/Seeliger, Martin (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen. Bielefeld: transcript 2012. Dudek, Peter/Jaschke, Hans-Gerd: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur. Bd. 1. Opladen: Westdeutscher Verlag 1984. Dunkel, Barbara/Gollasch, Christoph/Padberg, Kai (Hg.): Nicht zu fassen. Das Extremismuskonzept und neue rechte Konstellationen. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2019. Esser, Hartmut (Hg.): Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. Farin, Klaus/Seidel, Eberhard: Skinheads. München: C.H. Beck 1993. Freitag, Thomas: Udo Lindenberg und der Osten. Berlin: Neues Leben 2011.

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Katarzyna Jas´tal (Kraków)

Körper und Geschlecht der deutschen Sprache im sprachnationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts

Unter den Phänomenen, die bei der Bestimmung der nationalen Identität eine bedeutende Rolle spielen, gehört die Sprache zu den wohl am häufigsten genannten. Die auf die Arbeiten von Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm zurückgehende Erkenntnis, dass die Nation eine Erscheinung sei, deren Konstruktion sich dem Zusammenspiel von historischen Diskursen verdanke, resultierte nicht zuletzt in dem wissenschaftlichen Interesse für die historischen Formen der Auseinandersetzung mit der Muttersprache als Medium nationaler Identitätsstiftung.1 Aufgrund seiner Beschäftigung mit der Geschichte des deutschen Sprachnationalismus stellt Andreas Gardt fest, dass dieser mit drei konstanten argumentativen Mustern einhergeht. Es sind erstens das emphatische Lob und die Hypostasierung der Sprache durch die Zuordnung von Eigenständigkeit, Naturgegebenheit, Homogenität und ahistorischer Statik, zweitens das Übereinanderblenden der Eigenschaften der Sprache und der jeweiligen Ethnie, des jeweiligen Sprachraums, der nationalen Kultur bzw. des Nationalcharakters, bei dem die ethisch-moralischen Zuschreibungen eine besondere Signifikanz erlangen, und drittens die Behauptung der Gefährdung der Integrität bzw. Identität der eigenen Sprach-und damit auch der Volksgemeinschaft durch fremde Sprachen und Nationen. Mit diesem letzteren Kennzeichen verbindet sich oft eine (aggressive) Abwertung des sprachlichen und damit auch des kulturell-ethnischen Fremden.2 1 Vgl. Stukenbrock, Anja: Sprachnationalismus: Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945). Berlin: Walter de Gruyter 2011, S. 3; Stockinger, Ludwig: Sprachkonzept und Kulturnationalismus. Anmerkungen zur Theorie der »Reinheit« der deutschen Sprache bei Herder und Fichte. In: Hertel, Volker/Barz, Irmhild/Metzler, Regine/ Uhlig, Brigitte (Hg.): Sprache und Kommunikation im Kulturkontext. Beiträge zum Ehrenkolloquium aus Anlaß des 60. Geburtstages von Gotthard Lechner. Frankfurt/M.: Peter Lang 1996, S. 71–84, hier S. 71f. 2 Gardt, Andreas: Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen. In: Gardt, Andreas/Haß-Zumkehr, Ulrike/Roelke, Thorsten (Hg.): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1999, S. 89–113, hier S. 92.

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Katarzyna Jas´tal

Was den Forschern als ein weiteres Merkmal der nationalideologisch motivierten Sprachreflexion auffällt, ist ihre metaphorische Verdichtung. Für die aktuelle Nationalismus-Forschung, welche sich den Prozessen des nation building unter besonderer Berücksichtigung der dazugehörigen Symbolisierungspraktiken zuwendet, erscheint die Erschließung des Repertoires sprachbezogener Metaphern der jeweiligen nationalen Gemeinschaft besonders aufschlussreich. Sie werden nicht nur in ihrer expressiven Funktion untersucht, sondern auch als wichtige Formen der Konzeptualisierung der Wirklichkeit, die durch spezifische Verknüpfung von unterschiedlichen Sinnbereichen Aufschlüsse über Orientierungen und Wertvorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft geben.3 Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass Metaphern, die eine effiziente Umsetzung und Popularisierung von Ideologemen ermöglichen, nur dann verstanden werden können, wenn ihre Benutzer und Rezipienten über ein ähnliches Standardwissen und einen ähnlichen Bildervorrat verfügen. Dabei entfalten die Metaphern durch Funktionalisierung von impliziten Präsupositionen, also dessen, was als selbstverständlich vorausgesetzt und unausgesprochen mitgedacht wird, und oft durch eine ungewöhnliche Verknüpfung von semantischen Feldern, eine besondere persuasive Kraft. Die metaphorische Kombination unterschiedlicher Sinnbereiche muss nicht begründet werden, daher ermöglicht sie Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge. Zugleich mobilisiert sie Assoziationen und Emotionen und entfaltet eine integrative und handlungssteuernde Kraft. Manche Metaphernfelder behalten ihre Wirkung über längere Zeiträume, andere erweisen sich als kurzlebig. Daher verspricht die Auseinandersetzung mit der synchronen und diachronen Dimension der Metaphernverwendung vertiefte Einsichten in die Prozesse und Kontexte der nationalen Selbstbeglaubigung. Von dem hier knapp skizzierten Hintergrund situiert sich auch der vorliegende Beitrag, der sich der metaphorischen Engführung der deutschen Sprache mit dem männlichen Körper widmet, wie sie in dem einflussreichen pädagogischen Text des 19. Jahrhunderts, der zentralen Schrift der Turnerbewegung Die deutsche Turnkunst, zur Einrichtung der Turnplätze dargestellt (1816) von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) vorgenommen wurde. Um 1800 definierte sich der unter dem Einfluss von Kriegen formierende moderne Nationalismus wesentlich über die Beziehung zu heroischen Formen der Männlichkeit, denen das Konzept der Nation als eines »Männerbunds von Kriegen« entsprach.4 Eine 3 Zur Bedeutung der metaphorischen sprachnationalen Metareflexion vgl. Stukenbrock, Anja: Sprachnationalismus, S. 24–26; Ziegler, Evelyn: Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts. In: Cherubim, Dieter/Jakob, Karlheinz/Linke, Angelika (Hg.): Neuere deutsche Sprachgeschichte: Mentalitäts-, kultur-und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York: Akademie Verlag 2002, S. 111–138, hier S. 111f. 4 Besonders einflussreich erwiesen sich in dieser Hinsicht die Konzepte von Georg Mosse. Vgl. Mosse, Georg: Nationalismus und Sexualität. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. Zum

Körper und Geschlecht der deutschen Sprache im sprachnationalen Diskurs

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wichtige Rolle bei dessen Entfaltung spielte nicht nur das Militär, sondern auch das männerdominierte Vereinswesen und die dazugehörigen ikonographischen, rituellen und sprachlichen Praktiken.5 Der Nationalpädagoge Friedrich Ludwig Jahn ist sowohl als Begründer der paramilitärischen Turnbewegung als auch fanatischer Sprachpurist bekannt. Wenn er in allen seinen Schriften auf die Gefährdung der deutschen Sprache durch fremde Einflüsse verwies, so verpflichtete er seine Leser zur Sprachpflege: Doch müssen mit strengem Ernst und unerbittlicher Sprachpflege in Bann und Acht getan ewig verfolgt werden: Jene Wälschworte, so Seelengift einschwärzen, unsere Grundansicht verdüstern, die Lebensverhältnisse verwirren, und durch andersartige, sittliche, rechtliche, und staatliche Begriffe das Deutschtum verunstalten, entstellen und schänden.6

Vor dem Hintergrund dieser für Jahns Schriften repräsentativen Äußerung überrascht es wohl nicht, dass Peter von Polenz seine Haltung als einen militanten, auslandsfeindlichen ethnischen Sprachdetermimismus kritisiert.7 Bereits im 19. Jahrhundert wurden Jahn niedriges wissenschaftliches Niveau, normative Verhältnis von Nationalismus, Krieg und Männlichkeit vgl. auch Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck 2000, S. 28–32. Hervorhebung – K.J. Das Bild der Nation als einer »Gemeinschaft von Männern«, war so wirkungsmächtig, dass es noch 1983 in der konstruktivistisch orientierten berühmten Arbeit Imagined Communities von Benedict Andersons nachwirken sollte. In einer der oft zitierten Passagen seines berühmten Buchs schreibt der Autor: »Es war diese Brüderlichkeit, die es in den letzten zwei Jahrhunderten möglich gemacht hat, dass Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind. Dieses Sterben konfrontiert uns mit dem zentralen Problem, vor das uns der Nationalismus stellt: Wie kommt es, dass die kümmerliche Einbildung der jüngeren Geschichte (von kaum mehr als zwei Jahrhunderten) so ungeheure Blutopfer gefordert haben?« (Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M./New York: Campus 1988, S. 17). Mit der Beschreibung des nationalen Engagements reproduziert Anderson unreflektiert die maskulinen Denkmuster des Nationalismus. 5 Zur Untersuchung von Militär- und Männervereinen als Träger der geschlechterspezifischen Vermittlung des Nationalen sowie zur Untersuchung der genderspezifischen Aspekte von nationalen Symbolen und Denkmälern, Ritualen vgl. Brandt, Bettina: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S.16. 6 Jahn, Friedrich Ludwig: Merke zum Deutschen Volksthum. Hildburghausen: J.C.H. Knopf 1833. Die zitierte Passage kann nicht nur als eine repräsentative Stelle der Schriften Jahns Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie gilt als erster nachweisbarer Beleg des Ausdrucks Sprachpflege. 7 Vgl. Polenz, Peter v.: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Berlin: Walter de Gruyter 1999, S. 267. Aufschlussreich erscheint, dass Jahn im 19. Jahrhundert von anderen Ideologen des Nationalen, u. a. Heinrich von Treitschke, wegen seiner »barbarische[n] Sprache«, »Grobheit und Unflätherei« kritisiert wurde. Vgl. Treitschke, Heinrich v.: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig: Hirzel 1897, S. 386. Vgl. auch Jas´tal, Katarzyna: Niemcy: naród i ciało. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2015, S. 139–145.

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Arroganz, Chauvinismus bzw. blinder Radikalismus und Populismus vorgeworfen. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass diese Schriften in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts populär waren.8 Nach den Besatzungskriegen entwickelte sich das Turnerwesen zu einer weit verbreiteten Bewegung. Ihr wichtiger Bestandteil neben den an wehrpolitischen Zwecken orientierten Leibesübungen war die nationale Willensbildung. So wurden Übungen auf dem Turnplatz als eine Art Vorbereitung auf die »deutschen« Heldentaten inszeniert, die ohne leistungsstarke Körper und »nationale« Tugenden wie Mut, Opferbereitschaft, Kameradschaft kaum möglich wären. Die Teilnehmer wurden angehalten, sich gegenseitig Schlachtberichte vorzulesen und sich in ihre eigene Männerrolle hineinzuphantasieren.9 Diese körperbezogenen und narrativen Praktiken erforderten – wie es Jahn in seinem Bestseller, dem ersten auf dem Buchmarkt erhältlichen Handbuch der Turnpraxis Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze festhielt – den Gebrauch einer von fremden Ausdrücken bereinigten deutschen Sprache.10 Die in dem Handbuch zur Vermittlung dieser Ansichten verwendeten rhetorischen Strategien wurden von Jahns Überzeugung getragen, dass die Nation nicht nur durch einen gemeinsamen Raum, eine gemeinsame Sprache und Kultur, sondern auch durch starke Emotionen zusammengehalten werde. In seinem Hauptwerk Deutsches Volkstum (1810) behauptete Jahn, dass »Denken und Fühlen, Lieben und Hassen, Frohseyn und Trauern […] zusammengehören«11 und »einzelne Menschen des Volks ohne daß ihre Freyheit und Selbständigkeit untergeht, sondern gerade noch mehr gestärkt wird, in der Viel und Allverbindung mit den Übrigen zu einer schönverbundenen Gemeinde«12 bringen. Nicht zuletzt, um diese starken Gefühle zu mobilisieren, verwendete Jahn vereinfachte, polare Argumentationsschemata und bildhafte

8 Wie von Polenz nachgewiesen, waren in der Napoleon- und in der Restaurationszeit viele andere Fremdwortpuristen und entsprechende Sprachvereine tätig, die aber meist eigenwillig, weltfremd und ohne feststellbaren Erfolg waren. Vgl. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, S. 268. 9 Blasek, Helmut: Männerbünde: eine Geschichte von Faszination und Macht. Berlin: Ch. Links 1999, S. 128–132. 10 Dass Jahn diese Schrift für programmatisch auch in Bezug auf sprachnationale Belange hielt, beweist u. a. die Tatsache, dass er Belegexemplare an Jacob Grimm versandte. 11 Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum. Lübeck: Niemann u. Comp. 1810, S. 10. Jahn gilt als Erfinder des Neologismus Volkstum, mit dem er das aus dem Lateinischen abgeleitete Substantiv Nation ersetzte. Er definierte es folgendermaßen: »Es ist das Gemeinsame des Volks, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiederzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. Nichts ist ein Staat ohne ein Volk, ein seelenloses Kunstwerk; nichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden. Staat und Volk in Eins ergeben erst ein Reich, und dessen Erhaltungsgewalt bleibt das Volksthum« (ebd., S. 7). 12 Ebd., S. 10.

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Ausdrücke, als er über die Gefährdung des Deutschen durch fremde Ausdrücke, insbesondere französische, sprach, die man strengst ablehnen sollte: Es ist ein unbestrittenes Recht, eine Deutsche Sache in Deutscher Sprache, ein Deutsches Werk mit Deutschem Wort zu benennen. Warum auch bei fremden Sprachen betteln gehn, und im Ausland auf Leih und Borg nehmen, was man im Vaterlande reichlich und besser hat. Kein gründlicher Sprachkenner, kein echtdeutscher Volksmann hat auch je der Wortmengerei die Stange gehalten. Nur Sprachschwache und Afterdeutsche werfen so gern den Zweifel auf: Ob man im Deutschen sich auch Deutsch ausdrücken könne? Ihre Sprachschwäche, Unwissenheit und Verkehrtheit dichten sie der edel Deutschen Heldensprache an, verlassen diese feldflüchtig, ergeben sich der Wälschsucht und meindeutschen. 13

Jahn spart nicht mit harschen Vorwürfen und unterstellt den Fremdwörter-Benutzern eine mangelnde Sprachkompetenz. Aufgrund der fehlenden Bildung seien sie unfähig, die Leistungsfähigkeit und Gewandtheit der deutschen Sprache zu erkennen. Ihr Verhalten gleiche dem Verrat am Vaterland. Was im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags besonders aufschlussreich erscheint, ist das darauffolgende emphatische Lob des Deutschen als einer »edlen Heldensprache«. Damit benennt der »Turnvater« Jahn weitere Merkmale des Sprachnationalismus, die von Andreas Gardt definiert wurden: die Hypostasierung der Mutterzunge sowie die Projektion einer nationalen Selbstzuschreibung (hier: des Heroismus) auf die Sprache. Durch Bezeichnung der Muttersprache als einer Heldensprache wird ihr zugleich – und zwar im Widerspruch zum grammatischen genus – Maskulinität zugesprochen. Diese Konnotation wird von dem Verfasser in dem auf die Passage folgenden Plädoyer gegen den Gebrauch von Fremdwörtern wieder aufgenommen, wobei das semantische Feld Maskulinität mit dem semantischen Feld Körperlichkeit folgendermaßen zusammengeführt werden:

13 Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst Wilhelm: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin: Eigenverlag 1816, S. XXII–XXIII. Hervorhebung im Original. Der von Jahn verwendete Ausdruck »Wälschen« wurde von den romanischen Sprachen, insbesondere aus dem Französischen und Italienischen, – »welsch /wälsch« – abgeleitet. Seit dem 11. Jahrhundert bedeutete »walhisch, welhisch, walsch, welsch« im Althochdeutschen zunächst keltisch, danach auch romanisch. Laut Victor Klemperer funktionierte der Ausdruck im 19. Jahrhundert in zwei Bedeutungen: in den Kreisen der deutschen Nationalisten diente er zu einer negativen Markierung des Französischen. Wie von Ute Schneider belegt, trugen dazu neben den Schriften Jahns auch die Schriften von Ernst Moritz Arndt bei, dessen Vorlesungen Jahn in Greifswald besuchte. Dagegen wurde der Ausdruck »welsch« in den Schriften der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die den liberalen Kreisen angehörten (darunter Heinrich Heine), auf Italien bezogen, wobei er keine negativen Konnotationen mit sich trug. Vgl. Schneider, Ute: Die Erfindung des Bösen: Der Welsche. In: Krumeich, Gerd/Lehmann, Hartmut (Hg.): »Gott mit uns«: Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 34–52, hier S. 46f.

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Was eine lebendige Sprache um Leib und Leben bringt, sollte man ihr doch nicht zu Leide thun. Nimmermehr wird die Deutsche Sprache eine Mangsprache werden. Noch immer behauptet sie im siegreichen Kriege ihr Urrecht als Ursprache. Ihr ist Wortmengerei – Armuth, Reinheit – Reichthum, und Reinigung – Bereicherung. Die Fremdsucht ist ihr Galle, Gift und Greuel […] Fremdwörter gehen als solche und wenn sie hunderttausend Mal eingebürgert heißen, nie in Gut und Blut über. Ein Fremdwort bleibt immer ein Blendling ohne Zeugungskraft; es müßte dann sein Wesen wandeln und selber als Urlaut und Urwort gelten können. Ohne ein Urwort zu werden läuft es als Ächter durch die Sprache. Wälschen ist Fälschen, Entmannen der Urkraft, Vergiften des Sprachquell, Hemmen der Weiterbildsamkeit, und gänzliche Sprachsinnlosigkeit.14

Diese Passage radikalisiert deutlich den Ton der früheren Äußerung, wozu u. a. die konsequente körperbezogene Metaphorisierung beiträgt. Im semantischen Feld der Körperrede situieren sich die Bezeichnungen der Körperflüssigkeiten »Blut« und »Galle«, sowie Ausdrücke, die den Gebrauch von Fremdwörtern mit Verletzung oder gar Tötung des »Sprachkörpers« assoziieren, wie »zu Leide thun«, »Gift«, »um Leib und Leben bringen«. Jahns weiterer Einwand gegen den Gebrauch der Fremdwörter weist eine, meines Erachtens in der Forschung bisher nicht nachgewiesene, Affinität zu Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation auf. In dieser 1808 herausgegebenen und auf die 1806 unter prekären Umständen der französischen Besatzung gehaltenen Berliner Vorlesungen des Philosophen zurückgehenden Schrift, mit der Fichte eine intellektuelle Grundlage für das zu mobilisierende deutsche Nationalgefühl zu erschaffen suchte, wurde der Nationalsprache eine konstitutive Bedeutung zuerkannt. Dabei spielten die für die Romantik grundlegenden Metaphern des Ursprungs, des Lebendigen und Toten sowie des Schöpferischen eine prominente Rolle.15 Fichte erkannte einzelnen Sprachen einen Wert zu, wobei er auf Kategorien des Lebendigen und Toten zurückgriff. Lebendig und entwicklungsfähig sei eine Sprache, wenn sie die Verbindung zu ihrem Ursprung nicht verliert und direkt auf die Wirklichkeit der Nation einwirkt. Während Fichte dem aus dem Lateinischen abgeleiteten Französischen das Merkmal der Lebendigkeit absprach, wies er dieses Merkmal dem seinem Ursprung nahen Deutschen zu, wobei er zugleich seine schöpferische Kraft pries. Im Deutschen – so Fichte – vermehren und verändern die Worte und ihre Bedeutungen sich immerfort. […] und die Sprache, die niemals ist, sondern ewig fort wird, redet sich nicht selbst, sondern wer sie gebrauchen wird, muß eben selber nach seiner Weise und schöpferisch für sein Bedürfnis, sie reden.16

14 Ebd. Hervorhebungen – K.J. 15 Stockinger, Ludwig: Sprachkonzept und Kulturnationalismus, S. 7–10. 16 Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Hg. von Karl-Maria Guth. Berlin: Contumax 2017, S. 75.

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Aufgrund seines Konzepts der nationalen Sprache als einer einzigartigen mit dem Denken, Empfinden und Handeln einer Nation verwobenen Ganzheit, die nie den Bezug zu ihrem Urquell verlieren dürfe, kritisierte der Philosoph den Gebrauch von Fremdwörtern aus der Überzeugung heraus, dass diese nicht nur aus einer anderen Sprache, sondern auch aus einem anderen Denk-Handlungsund Empfindungszusammenhang gerissenen Ausdrücke das schöpferische Potential der Empfängersprache wesentlich beeinträchtigen.17 Diese These scheint auch Jahn mit der oben zitierten Behauptung »Fremdwörter gehen als solche und wenn sie hunderttausend Mal eingebürgert heißen, nie in Gut und Blut« aufzugreifen. Genauso wie Fichte zeigt sich der »Turnvater« überzeugt von dem dynamischen Wesen der Sprache und ihrer fortwährenden Entwicklung, die aber nur in dem seit Anbeginn vorgegebenen Rahmen stattfinden dürfe. Da aber, wo Fichte allgemein über das Schöpferische bzw. vage über das »Vermehren« sprach, bezieht Jahn anschauliche Bilder aus der körperbezogenen Semantik der Fortpflanzung. Empfiehlt er die Fremdwörter zu vermeiden, so greift er auf einen zunächst nur in der Pflanzen-und Tierzucht geltenden und später weiter gefassten Begriff des Blendlings zurück. (Bereits Adelung gebrauchte das Wort für die Bezeichnung eines »von zwei ungleichen Ältern entsprossene[n]«18 Menschen, wobei er es u. a. mit Ausdrücken Bastard und Zwitterwesen synonimisierte.) Der Anführer einer paramilitärisch organisierten, auf Konsolidierung der männlichen Teilnehmer abzielenden Turnbewegung orientiert sich am polaren hierarchisch strukturierten Geschlechterschema, in dem ein »zeugungsunfähiger Mischling« einen Fremdkörper darstellt, der exkludiert werden müsse. Versucht Jahn seine männlichen Anhänger von der Verwendung der Fremdwörter mit den Bildern der Zeugungsunfähigkeit abzuschrecken, so verstärkt er seine Aussage, indem er daraufhin die Sprachmischung mit Kastration gleichsetzt, womit er auf die Mobilisierung tiefverwurzelter Ängste seiner Leser abzuzielen scheint. Auf dem Höhepunkt der Argumentation werden die Prämissen von Jahns Sprachbildlichkeit besonders deutlich: Mit der Vorstellung der Sprache als eines leistungsfähigen, männlichen Körpers, der steten Angriffen von außen ausgesetzt ist, wird ein Identifikationspotential für die Angehörigen seiner Bewegung geschaffen, deren Hauptaktivitäten auf die Ausbildung eines leistungsfähigen Körpers gerichtet waren und für die Männlichkeit eine zentrale Rolle bei der 17 In der Praxis verfuhr der Philosoph in dieser Hinsicht nicht konsequent, was bereits an dem Titel seiner Schrift ablesbar wird: Der von lateinischem »nasci« (Volk, Sprache, Sippschaft, Herkunft bzw. Geburt) abgeleitete Ausdruck »Nation« wurde erst 1400 ins Deutsche übernommen. 18 Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung anderer Mundarten besonders aber der oberdeutschen. Bd. 2. Leipzig: Breitkopf und Sohn, S. 907 (Lemma: Hälberling).

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Auseinandersetzung mit der nationalen Identität spielte. Die Metapher legitimiert eine gewaltsame Abwehr der Angriffe – man handle ja gleichsam im Zustand höherer Notwendigkeit. Jahns hasserfüllte Angriffe gegen Fremdwörter gelten als inhaltliche Steigerung der Argumente früherer Sprachpuristen.19 Trifft aber diese Behauptung nur auf seine harschen Ausfälle gegen das Wälschen oder aber auch auf die von ihm gebrauchte Metaphorik zu? Hat die sprachpuristische Debatte vor Jahn tatsächlich Sinnbilder des Körpers und zwar des männlichen für die deutsche Sprache gebraucht? Wie Gerhard Härle nachgewiesen hat, kann man von einer »sprachpuristisch« motivierten metaphorischen Analogisierung der Sprache mit der Körperlichkeit bereits in der Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichen Stillehre Adelungs sprechen.20 In den der Reinheit der Sprache gewidmeten Kapiteln schreibt ihr Adelung deutlich anthropomorphe Züge zu. Er imaginiert sie als einen vernünftig organisierten Körper, einen, der Sprachbestandteile verschlingt, verarbeitet und ausscheidet. Sprache sei bei Adelung, so Härle, »ganz nach frühmaterialistischer Anschauung, ein maschinisierter Körper, in den Rohstoffe eingegeben werden und der daraus […] Wert und Abfallstoffe produziert.«21 Und es ist ebenfalls Adelung, der das Deutsche als eine maskuline »Heldensprache« reflektiert, indem er diesen zum ersten Mal 1663 in der Grammatik Justus Georg Schottels und später von mehreren Dichtern des 17. Jahrhunderts (Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen) verbürgten Ausdruck 1775 in seinem Versuch eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuches mit folgender Erklärung versieht: [E]in Name, welchen man zuweilen der deutschen Sprache zu geben pfleget, nicht sowohl weil sie ehedem die Muttersprache berühmter Helden war, als vielmehr, weil sie wegen ihres männlichen Ernstes dem Munde und der Denkungsart eines Helden angemessen seyn soll, als andere schlüpfrigere und weichere Sprachen.22

19 Ebd., S. 1096. 20 Härle, Gerhard: Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs »puritas« in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung. Berlin: Walter de Gruyter 2015, S. 230. 21 Ebd. 22 Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches, S. 1091. Zur Geschichte des Ausdrucks im 17. Jahrhundert. Vgl. Eichinger, Ludwig M.: Von der Heldensprache zur Bürgersprache. Wandel der Sprechweisen über Sprache im 18. Jahrhundert. In: »Wirkendes Wort« 40 (1990), S. 74–94, hier S. 77. Neben den hier genannten Autoren des 17. Jahrhunderts beruft sich Eichinger ferner auf die berühmte, um 1697 entstandene, aber erst posthum 1717 veröffentlichte Schrift Georg Wilhelm Leibniz’ Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache wieder aufgenommen. Leibniz’ Überlegungen zu »Sprachreinigkeit und Sprachrichtigkeit« werden von der Reflexion getragen: »Gleichwohl wäre es ewig Schade und Schande, wenn unsere

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Adelung bleibt nicht der einzige Vertreter des 18. Jahrhunderts, der das Deutsche als eine Sprache des »männlichen Ernstes« denkt. Diese an zeitgenössischer Geschlechterstereotypisierung orientierte Formel mit ethischen Konnotationen bleibt bei dem Autor des zitierten Wörterbuchs wie auch seinen Vorgängern und Nachfolgern unreflektiert. So z. B. bei Johann Christoph Gottsched, der im Zueignungsbrief zur Grundlegung einer deutschen Sprachkunst (1748), mit der er »die Schönheiten unsrer uralten, männlichen und lieblichen Mundart mehr in die Uebung bringen, sie von einreißenden Mißbrauchen befreyen und in ihrer Reinigkeit erhalten helfen«23 wollte. Er kritisierte die Zeitgenossen, die sich schämen »eine Sprache zu reden, die von unzählbaren tapfern Helden, größten Geistern und gelehrten Leuten geredet und geschrieben worden«24, womit er die Zuschreibung des Heroischen auf vergangene Leistungen der Deutschen begrenzte. Die Qualität der deutschen Sprache, männlich zu sein, wurde erst von Herder in der 1794 gehaltenen berühmten Rede Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen in einem breiteren Kontext folgendermaßen reflektiert: […] und es schuffen sich tausend Sprachen nach dem Clima und den Sitten von tausend Nationen. […] Dort blüht der Grieche in dem wohllüstigsten und mildesten Himmelstrich auf […], und unter ihnen entstand also jene feine Attische Sprache die Grazie unter ihren Schwestern. […] Die Römer, die Söhne des Mars, sprachen stärker, […]. Noch männlicher redet der kriegerische Deutsche; der muntre Gallier erfindet eine hüpfende und weichere Sprache; der Spanier gibt seiner ein gravitätische Ansehen […], der träge Afrikaner lallet gebrochen und hinsinkend und der Hottentotte verirrt sich endlich in ein Stammeln kalekutischer Töne. So verwandelte sich diese Pflanze, nach dem Boden, der sie nährte, und der Himmelsluft, die sie tränkte.25

Herders Reflexion erscheint als eine geradezu idealtypische Realisierung der von Gardt reflektierten Charakteristika des Sprachnationalismus. Herder betont positive Charakteristika aller europäischen Sprachen. Er hat, im Unterschied zu den Fremdwortpuristen des 19. Jahrhunderts, die im Schatten der Befreiungskriege schrieben, noch keinen politischen Grund, um gegen das Französische aufzutreten, so wird dieses nicht (wie z. B. bei Arndt und Jahn) mit dem Bann des Schlüpfrigen belegt. In Herders Argumentation entscheiden die Eigenschaften des von einer Ethnie bewohnten Raumes, ihre Geschichte und Kultur über den

Haupt- und Heldensprache dergestalt durch unsere Fahrlässigkeit zugrunde gehen sollte« (zit. nach: Eichinger, Von der Heldensprache zur Bürgersprache, S. 77.) 23 Gottsched, Johann Christoph: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts. Leipzig: Breitkopf 1748. Zueignungsbrief ohne Seitenangabe. 24 Ebd. 25 Herder, Johann Gottfried: Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen. Aus den gelehrten Beiträgen zu den Rigischen Anzeigen 1764. In: Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 1. Hildesheim: Olms 1967, S. 1–7, hier S. 1f.

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Nationalcharakter und den Charakter der Sprache. Deswegen zeigt sich Herder zuversichtlich, dass sich das Deutsche durch Kennzeichen des Kriegerischen und damit des Virilen auszeichnet. Wie bereits aufgrund dieser hier knapp zusammengestellten Informationen ersichtlich, rekurriert Jahn mit seiner Imagination der deutschen Sprache als eines männlichen Körpers auf eine tradierte Metapher. Was er in seinen Texten vornimmt, kann daher als eine bildliche Konkretisierung des bereits Vorhandenen bezeichnet werden. Diese nahm allerdings eine andere Form an, als Jahn in seinem späten Text – den bereits zitierten Merken zum Deutschen Volkstum – gegen Fremdwörter ins Feld zog: Die Deutsche Sprache hat ihr eigenes, besonderes Thum für sich, wo sich Alles in eigensten Verhältnisse zusammenfindet, und sich zu einem Gliedbau füget. Sie hat einen Leib von festen und flüssigen Theilen, Kopf und Herz, und keinen Straußenmagen, daß sie alles verdauen könnte, womit Rabenkinder die Alte nudeln und frexen.26

In dieser, einem breiteren Publikum als die Turnkunst zugedachten, späten Schrift wird die deutsche Sprache noch einmal als ein Körper metaphorisiert, doch diesmal aktualisiert Jahn andere Aspekte dieses Bildspenderbereichs. Betont werden nämlich die Ganzheitlichkeit und Funktionalität dieses Sprachleibes, der mit dem deutschen Nationalcharakter und Eigenart, d. h. dem »Thum«, eng-geführt wird. Die im früheren Text Jahn akzentuierten virilen Qualitäten der deutschen Sprache werden hier nicht mehr erwähnt, indes schreibt ihr der 55Jährige weibliche, maternale Züge zu. Sie sei – wie er an einer anderen Stelle der Merke feststellt – »die Muttersprache – Sprachmutter«27. In den 1833 geschriebenen Merken wird nicht mehr die schöpferische Potenz des Deutschen gepriesen, sondern auf dessen altersbedingte Anfälligkeit verwiesen. Das Gefühl, das bei den Lesern diesmal erzeugt werden soll, ist nicht mehr das Solidaritätsgefühl einer Männergemeinschaft, sondern eine innige Zuneigung. Jahn gelingt es, einen weiteren persuasiven Effekt aus dieser Bildlichkeit zu beziehen, indem er sie mit dem Lernen von Fremdsprachen in Zusammenhang bringt: »kein Mensch kann in seiner Mutter Schooß zurückkehren und sich noch einmal gebären lassen. Auch keine zweite Sprachmutter kann er wiederfinden, wenn er sich von der ersten verirrt. […] Es gibt nichts Unheilbringenderes als eine Stieffsprache«28. So grenzt er sich noch einmal dezidiert von dem Fremdsprachengut und dem Fremden ab, das (folgt man der Logik seiner Metaphern) nie als ein Teil des Eigenen affirmativ bestätigt werden darf. In der Engführung der Sprache mit dem Körper verwendete Jahn eine der beliebten metaphorischen Strategien des nationalistischen Diskurses, der gerne 26 Jahn, Merke zum Deutschen Volkstum, S. 182. 27 Ebd., S. 175. 28 Ebd., S. 176.

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auf biologische Phänomene rekurriert, um ein natürliches Nationsverständnis zu suggerieren. Der Nationalpädagoge stützte sich auf ein traditionelles Repertoire und schrieb an bekannten Metaphern fort. Er verdichtete sie, indem er sie mit anschaulichen Details ausstattete. Die von ihm entworfenen Sprachbilder zielten keineswegs auf Nuancierung und wurden funktional an die Bedürfnisse des jeweiligen Publikums angepasst. Dabei zeigt sich die von Jahn entfaltete Metapher des deutschen Sprachkörpers inkonsistent: Während sie in der frühen Schrift Die deutsche Turnkunst männlich konnotiert ist, so schrieb ihr der Verfasser in den späten Merken maternale Züge zu. Konsequenz bewies Jahn nur in der Engführung der Sprache mit dem Körper, womit er auf die Notwendigkeit der Abgrenzung nach außen hinwies und auf der radikalen Ausgrenzung der Fremdkörper bestand. Welche politischen Resultate diese Forderung nach sich ziehen kann, ließ sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht voraussehen.

Literatur Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung anderer Mundarten besonders aber der oberdeutschen. Bd. 2. Leipzig: Breitkopf und Sohn 1775. Anderson: Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M./New York: Campus 1988. Blasek, Helmut: Männerbünde: eine Geschichte von Faszination und Macht. Berlin: Ch. Links 1999. Brandt, Bettina: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Eichinger, Ludwig M.: Von der Heldensprache zur Bürgersprache. Wandel der Sprechweisen über Sprache im 18. Jahrhundert. In: »Wirkendes Wort« 40 (1990), S. 74–94. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Hg. von Karl-Maria Guth. Berlin: Contumax 2017. Gardt, Andreas: Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historischsystematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen. In: Gardt, Andreas/Haß-Zumkehr, Ulrike/Roelke, Thorsten (Hg.): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1999. Gottsched, Johann Christoph: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts. Leipzig: Breitkopf 1748. Herder, Johann Gottfried: Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen. Aus den gelehrten Beiträgen zu den Rigischen Anzeigen 1764. In: Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 1. Hildesheim: Olms 1967, S. 1–7. Härle, Gerhard: Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs »puritas« in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung. Berlin: Walter de Gruyter 2015.

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Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum. Lübeck: Niemann u. Comp. 1810. Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst Wilhelm: Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze. Berlin: Eigenverlag 1816. Jahn, Friedrich Ludwig: Merke zum Deutschen Volksthum. Hildburghausen: J.C.H. Knopf 1833. Jas´tal, Katarzyna: Niemcy: naród i ciało. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2015. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck 2000. Mosse, Georg: Nationalismus und Sexualität. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. Polenz, Peter v.: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Berlin: Walter de Gruyter 1999. Schneider, Ute: Die Erfindung des Bösen: Der Welsche. In: Krumeich, Gerd/Lehmann, Hartmut (Hg.): »Gott mit uns«: Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 2000. Stockinger, Ludwig: Sprachkonzept und Kulturnationalismus. Anmerkungen zur Theorie der »Reinheit« der deutschen Sprache bei Herder und Fichte. In: Hertel Volker/Barz, Irmhild/Metzler, Regine/Uhlig, Brigitte (Hg.): Sprache und Kommunikation im Kulturkontext. Beiträge zum Ehrenkolloquium aus Anlaß des 60. Geburtstages von Gotthard Lechner. Frankfurt/M.: Peter Lang 1996, S. 71–84. Stukenbrock, Anja: Sprachnationalismus: Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945). Berlin: Walter de Gruyter 2011. Treitschke, Heinrich v.: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig: Hirzel 1897. Ziegler, Evelyn: Die Band-Metapher im nationalsprachlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts. In: Cherubim, Dieter/Jakob, Karlheinz/Linke, Angelika (Hg.): Neuere deutsche Sprachgeschichte: Mentalitäts-,kultur-und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002, S. 111–138.

Dominika Anna Gortych (Poznan´)

Zwischen »Sexy-Befreiung« und »frustrierter Fremdenwut«. Nationalistische und rechtspopulistische Denkfiguren im deutschen Pressediskurs zur PEGIDA-Bewegung

I Im Herbst 2017 geschah in Deutschland, woran viele PolitikerInnen und BürgerInnen lange nicht glauben wollten: die Partei Alternative für Deutschland – kurz AfD –, gegründet am 6. Februar 2013 in Berlin, seit 2014 in etlichen Landesparlamenten vertreten (in Thüringen als Vorreiter),1 schaffte den Sprung in den Bundestag. Nach über vier Jahren geführten Wahlkampfes wurde sie mit 12,6 Prozent die drittstärkste Partei im Bund (nach der CDU/CSU mit 33 % und der SPD mit 20,5 %). Volksabstimmung auf der Bundesebene, Austritt aus der Euro-Zone, Stärkung der inneren Sicherheit, Änderungen im Bereich des Strafgesetzes, vollständige Schließung der Außengrenzen sowie »Mindestabschiebequote« beim Umgang mit MigrantInnen und Unterstützung traditionell-konservativer Familienformen sind nur einige der Postulate, die diesem relativ jungen und – wie man sieht – erfolgreichen politischen, nach Meinung einiger KommentatorInnen rechtspopulistischen2 Gebilde, den Weg über die FünfProzent-Hürde ebneten. Es lässt sich kaum bestreiten, dass die globalpolitische Situation der letzten Jahre (womit vor allem die Migrationswellen gemeint werden, für die keine geeignete und bei der breiten Bevölkerung willkommene systemische Lösung herausgearbeitet werden konnte), der AfD einen enormen Zulauf bescherte. Denn ausgerechnet aus denjenigen Kreisen der Bevölkerung, die während der »Abendspaziergänge gegen Islamisierung des Abendlandes und 1 Stimmenanteile der AfD bei den jeweils letzten Landtagswahlen in den Bundesländern bis September 2019. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/320946/umfrage/ergebnis se-der-afd-bei-den-landtagswahlen / letzter Zugriff am 22. Oktober 2019. 2 Vgl. Amann, Melanie: Angst für Deutschland: Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert. München: Droemer 2017; Dietl, Stefan: Die AfD und die soziale Frage: Zwischen Marktradikalismus und »völkischem Antikapitalismus«. Münster: UNRASTVerlag 2017; Häusler, Alexander/Roeser, Rainer: Die rechten »Mut«-Bürger: Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der »Alternative für Deutschland«. Hamburg: VSA Verlag Hamburg 2015.

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Stellvertreterkriege auf deutschem Boden« (die von der sog. PEGIDA – Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes – veranstaltet wurden) im Jahre 2015 in großen Mengen zu sehen waren, rekrutierten sich vorwiegend die Wähler der neuen Partei (Männer zwischen 30 und 60 Jahren, ehemalige ostdeutsche Bürger mit einem Hauptschulabschluss oder Mittlerer Reife, die Angst vor Zuwanderung und fremden Kulturen haben).3 Die PEGIDA-Bewegung bot der aufsteigenden AfD die Möglichkeit, mit einer großen Menge der künftigen WählerInnen in Kontakt zu treten, ihre – auch fremdenfeindlichen – Ideen zu kommunizieren und diese salonfähig zu machen.4 Die relativ kurze Zeitspanne zwischen dem Aufstieg der Bewegung und dem Wahlerfolg der Partei lässt vermuten, dass die beiden Tatsachen in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen.5 Dass PEGIDA zu einem Massenphänomen wurde, verdankte sie u. a. den Massenmedien, die zu einem gewissen Zeitpunkt eine recht aktive Kampagne für oder gegen die Bewegung führten bzw. immer noch führen. Deswegen kommt vor allem ihnen das gebührende Interesse im vorliegenden Beitrag zu. Doch im Hintergrund all der kurz angedeuteten Erscheinungen steht das Problem des in Deutschland (und anderen Staaten Europas) wiederaufsteigenden Nationalismus im Zeichen des Völkischen sowie der sog. Neuen Rechten, was im Folgenden schlaglichtartig skizziert werden soll.

II Die sog. Neue Rechte, in deren weitem Umfeld man sowohl die PEGIDA-Bewegung als auch die AfD-Partei platzieren kann, schöpft aus der Tradition der französischen Denkschule »Nouvelle Droite«, die in den 1960er Jahren entstand. Als Vordenker dieses Konzeptes im Deutschland der 1970er Jahre gilt der Schweizer Publizist, Schriftsteller und Journalist Armin Mohler, ein großer Verfechter der sog. Konservativen Revolution. Mithilfe nationalistischer und völkischer Topoi aus der Zeit der Weimarer Republik wollte Mohler durch die Einflussnahme auf Meinungseliten und die Infiltration der öffentlichen Debatte die Grundlage für eine »Kulturrevolution von rechts« in der Bundesrepublik 3 Naumann, Florian: Fast 13 Prozent bei der Bundestagswahl: Wer hat die AfD gewählt? URL: https://www.merkur.de/politik/wer-hat-afd-gewaehlt-fast-13-prozent-bei-bundestagswahl-20 17-zr-8715057.html / letzter Zugriff am 15. Februar 2018. 4 Das offizielle Treffen der VertreterInnen von PEGIDA und AfD fand am Mittwoch den 7. Januar 2015 statt und soll sich durch eine Dialogbereitschaft ausgezeichnet haben. Vgl. Geiges, Lars: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript 2015, S. 18. 5 Zum Verhältnis von Pegida und AfD vgl. das Kapitel Alternative Annäherungen? in: Geiges/ Stine/Walter, PEGIDA, S. 151–161.

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vorbereiten.6 Besonders präsent war Mohler im rechtskonservativen deutschen Abonnentenmagazin »Criticón« (gegründet 1970), er schrieb aber auch für die Wochenzeitung »Junge Freiheit« (gegründet 1986), die als Nachfolgerin von »Criticón« und – neben der Zeitschrift »Sezession« (gegründet 2001) – heute als das wichtigste Medium und Think tank der Neuen Rechten in Deutschland gilt. Diese Medien, die sich als »rechtsintellektuell«7 verstehen, sollen im Vorfeld der Politik agieren und auf diese Art und Weise das intellektuelle Klima in Deutschland beeinflussen. Zu erwähnen in diesem Kontext ist noch das Institut für Staatspolitik, gegründet im Jahre 2000 von Götz Kubitschek und Karlheinz Weißmann – das wichtigste institutionelle Zentrum der Neuen Rechten, das durch unterschiedliche Projekte und Arbeit mit jungen Menschen sich an der Ausbildung der neuen rechtsgestimmten Eliten beteiligen möchte. Die Tätigkeiten der neurechten Eliten sollen – wie in der Forschung bereits dargelegt – hauptsächlich der nationalen Selbstbehauptung dienen, welche als Antwort auf Krisen und Verfallsdiagnosen einer modernen Gesellschaft und somit als höchster Wert über andere gesellschaftliche Prinzipien herausragt.8 Die mit den negativen Gegenwartsdiagnosen einhergehenden: Haltung des Fatalismus und Technik des Angsteinjagens wecken Bedürfnis nach einfachen Lösungen, die nicht selten von der rechtspopulistischen Rhetorik angeboten werden. Der hier zu treffende Identitätsbegriff, der laut Aleida Assmann neben dem der Kultur und dem des Gedächtnisses als Schlüsselbegriff unseres Weltverständnisses und unserer Geschichtsorientierung fungiere,9 nimmt im Rahmen eines solchen Narrativs eine stark essentialistische Form an und wird auf den Begriff der (Kultur-)Nation als Volksgemeinschaft10 (im Gegensatz zur Staatsnation) zurückgeführt, die sich gemäß der Denktradition von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky durch Volks-Homogenität auszeichnen sollte.11 Die eine Nation konstruierenden imaginierten Selbstbilder mit meistens affirmativem Charakter12 dienen infolgedessen nicht nur der Stiftung eines Zusammengehörigkeitsbe6 Vgl. Schmidt, Friedemann: Die neue Rechte und die Berliner Republik. Parallel laufende Wege im Normalisierungsdiskurs. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 17f, S. 39f. 7 Homepage der Zeitschrift »Sezession«. URL: https://sezession.de/konzept/ / letzter Zugriff am 22. Oktober 2019. 8 Vgl. Lenk, Kurt/Meuter, Günter/Otten, Henrique Ricardo: Vordenker der neuen Rechten. Frankfurt/M.: Campus 1997, S. 12f; Alter, Peter: Nationalismus. Ein Essay über Europa. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2016, S. 78. 9 Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser 2013, S. 288. 10 Vgl. Fiedler, Juliane: Konstruktion und Fiktion der Nation. Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, S. 8; Jahn, Egbert: Nation/Nationalismus. In: Fuchs, Dieter (Hg.): Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Philipp Reclam junior 2009, S. 171–177, hier S. 175. 11 Lenk/Meuter/Otten, Vordenker der neuen Rechten, S. 77. 12 Vgl. Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, S. 293, S. 308.

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wusstseins,13 sondern auch der Abgrenzung von den Anderen durch die Abwertung der Unterschiede (in der Herkunft, Sprache, Religion etc.)14 und durch die plumpen Feindbestimmungen.15 Auch der schön und beinahe harmlos klingende Begriff des Ethnopluralismus,16 mit dem die Neue Rechte ihre intellektualistisch anmutende Rhetorik schmückt, wird in der Forschung explizit als moderner Rassismus definiert (wegen der mit ihm einhergehenden Festschreibung der politischen, sozialen und rechtlichen Segmentierung der Völker sowie deren Hierarchisierung).17 Die PEGIDA-Bewegung bediente selbst mit ihrem Namen und erst recht mit ihren Parolen all die negativen Fremdbilder, die aus dem so verstandenen nationalen Narrativ resultierten.18 Doch diese populistische Rhetorik kam nicht erst mit der Krise der Europäischen Union oder den Migrationswellen zum Vorschein. Wie Schmidt zu beweisen wusste, wurde sie bereits nach der Wende 1989 sichtbar, bedingt und begleitet durch die bundesdeutsche Flüchtlings- und Aussiedlungspolitik. Laut seinen Ausführungen ist die These vom neuerwachten deutschen Nationalismus auf jene Jahre nach der Wiedervereinigung zurückzuführen, in denen völkisch-nationalistische Topoi in konkrete rassistische Gewaltakte gegenüber den in Ostdeutschland lebenden AusländerInnen mündeten.19 In einer gemilderten und verschlüsselten Version setzten sich diese Denkfiguren in der sog. Normalisierungsdebatte und Normalisierungspolitik durch (gefordert und gefördert von Teilen der politischen Mitte und des rechten Lagers), die sich für eine endgültige Distanzierung von der NS-Vergangenheit

13 Jahn, Nation/Nationalismus, S. 175. 14 Schilling, Ruth: Kollektive Identität – Repräsentation von Kollektiven: Zwei Modelle zur Auffassung von den Gruppenprojektionen in der Frühen Neuzeit? In: Baberowski, Jörg (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt/M.: Campus 2009, S. 101–116, hier S. 101f. 15 Schmidt, Die neue Rechte und die Berliner Republik, S. 223; Schönfelder, Sven: Rechtspopulismus. Teil gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2008, S. 12; Lenk, Kurt/Meuter, Günter/Otten, Henrique Ricardo: Vordenker der neuen Rechten, S. 17. 16 Globisch, Claudia: »Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türker, Israelis raus aus Palästina. Ethnopluralismus und sein Verhältnis zum Antisemitismus. In: Globisch, Claudia/Pufelska, Agnieszka/Weiß, Volker (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 203–225, hier. S. 203, S. 217. 17 Schmidt, Die neue Rechte und die Berliner Republik, S. 18. 18 Zur Entwicklung und zu den Forderungen der Bewegung vgl. Kapitel 1. Pegida, was? in: Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 11–31. 19 Schmidt, Die neue Rechte und die Berliner Republik, S. 11f.

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aussprach, einen Elitenwechsel anstrebte und gegen den verfassungspatriotischen Ansatz gerichtet war.20 Wenn man nach Gründen der im heutigen Deutschland präsenten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (in der Forschungsliteratur als GMF bezeichnet und u. a. aus Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechten und sekundärem Antisemitismus bestehend)21 in den Ergebnissen der Feldforschung sucht, stehen die kollektive relative Deprivation (vor allem gegenüber den in Deutschland ansässigen Ausländergruppen) und die Politikdeprivation (gegenüber dem politischen Establishment) breiter Bevölkerungsschichten vom rechten Spektrum bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft als Hauptschuldige da.22 Aus dieser Gruppe bildet sich das Publikum der rechtspopulistischen Parteien (wie etwa der AfD) und ebensolcher Bewegungen (wie etwa der PEGIDA), das nicht selten aus den sog. ProtestwählerInnen bestehe.23 Obwohl sich PEGIDA als »liberal, konservativ, leistungsorientiert und freiheitlich«24 darstellen wollte, hafteten ihr von Beginn an Vorwürfe einer antiwestlichen Haltung, des Antiliberalismus und des Antiparlamentarismus (alles Merkmale des rechtspopulistischen Denkens) an. Für diese und andere Zuschreibungen ist in einem nicht geringen Maße die mediale Berichterstattung über PEGIDA verantwortlich, die um die Jahreswende 2014 und 2015 zu einem regelrechten Schlachtfeld der deutschen Öffentlichkeit wurde.

III In der zweiten Ausgabe seiner weit gefassten empirischen Studie zur politischen Kommunikation25 macht der Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz auf vielschichtige funktionale Verschränkungen von Politik und Medien aufmerksam. Ausgehend von den beiden von ihm festgestellten Modi der Politik – ihrer Herstellung im Verborgenen durch das alltägliche politische 20 Vgl. ebd., S. 174 sowie Projektgruppe Nationalismuskritik (Hg.): Irrsinn der Normalität. Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot 2016, S. 9f. 21 Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. In: »Deutsche Zustände« Bd. 1 (2002), S. 15–33. 22 Schönfelder, Rechtspopulismus, S. 218. 23 Vgl. Sternhell, Zeev: Von der Gegenaufklärung zu Faschismus und Nazismus. Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. In: Globisch, Claudia/Pufelska, Agnieszka/ Weiß, Volker (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 19–40, hier S. 17. 24 Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 13. 25 Schulz, Winfried: Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008.

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Handeln und ihrer Darstellung, ja gegebenenfalls Inszenierung, in den (Massen-) Medien,26 untersucht Schulz sowohl die Logik als auch die Funktion der politischen Medienberichterstattung und kommt zu Schlussfolgerungen, die für die hier verfolgte Fragestellung zum medialen Diskurs über die PEGIDA-Bewegung von einer nicht zu übersehenden Relevanz sind. Neben der Hauptfunktion der Massenmedien, die in der Information und Orientierung im Alltag bestehe und neben dem Fernsehen und dem Rundfunk immer noch im Großteil von den Printmedien realisiert werde ( jedenfalls nicht von der jungen Generation gelesen, was an mangelnden Vorbildern aus dem Elternhaus und der Unzugänglichkeit der Zeitungen liegen soll)27, nennt der Kommunikationsexperte zwei weitere bedeutungsvolle Funktionen. Erstens fungieren die Massenmedien als Werkzeug der Beeinflussung politischer Kommunikation. Durch eingesetzte PR-Methoden und gezielte Tätigkeiten der Mediensprecher werde die politische Berichterstattung zugunsten der Parteien, politischer Institutionen und anderer Interessengruppen instrumentalisiert, was in der Gesellschaft eine skeptische Einstellung gegenüber den Massenmedien hervorrufe.28 Zweitens beeinflussen die Medien immer mehr die Leistungen der Politik durch Aggregation von Interessen, durch Mobilisierung von politischer Unterstützung und durch Implementierung politischer Entscheidungen.29 All diese Prozesse werden enorm durch die Logik der Massenmedien bedingt und unterstützt, die auf die Erregung der Aufmerksamkeit beim Publikum durch die Betonung des Negativismus und die Steigerung des Konfliktpotenzials der politischen Interaktion und der Medieninhalte abzielt.30 In Bezug auf das hier zu untersuchende Thema erscheint das negative Medienbild von AusländerInnen und MigrantInnen in Deutschland, bestehend aus der Darstellung von Normverstößen, kriminellen und konflikthaltigen Ereignissen, in denen nicht selten Araber und Muslime eine Rolle spielen sollen,31 als ein dankbarer Nährboden für die Mobilisierung großer Bevölkerungsmassen, die 2014 ihren Protest gegen »Wirtschaftsflüchtlinge«, »Salafisten«, »Glaubenskriege« und die »Lügenpresse« (wie das der Gründungsmythos von PEGIDA voraussetzte)32 auszusprechen versuchten. Eine Logik, die auf die Steigerung der Verkaufszahlen ausgerichtet ist, lässt Medien in ihrer Repräsentationsfunktion empfindliche Einbußen hinnehmen. Die im Rahmen vieler empirischer Studien festgestellten einseitigen Berichte, 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 37, S. 163. Vgl. ebd., S. 14, S. 31. Vgl. ebd., S. 35. Ebd., S. 37. Ebd., S. 69. Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 11.

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tendenziöse Weltsicht, Ungenauigkeit des Berichtens und Verzerrung der Realität, weiterhin Erzeugung politischer Illusion statt tatsachenbasierter politischer Berichterstattung, Fragmentierung des dargestellten Geschehens gemäß der Sichtweise der westlich-atlantischen Welt sowie die sog. Bias in den Köpfen der JournalistInnen und VerlegerInnen, die als die größte Sünde der Medienwelt gelten und die mediale Berichterstattung stark beeinflussen, lassen die Forscher vom strukturellen Unvermögen der Medien sowie von einer »Medienrealität« statt der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit sprechen.33 Hinzu kommt, dass die EmpfängerInnen des politischen Informationsangebotes nur das wahrnehmen und behalten, was für sie einen erkennbaren Nutzen und eine persönliche Relevanz haben.34 Vorwissen und Vorurteile, die bereits in den Köpfen der Menschen vorhanden sind, entscheiden über die Perzeptions- und Rezeptionspraxis der BürgerInnen. Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheinen die im Folgenden darzustellenden Ergebnisse der eigenen Presseanalyse zur PEGIDA-Bewegung als eine logische und zu erwartete Folge eines Prozesses, den man mit Schulz als ›Medialisierung der Realität‹ bezeichnen kann. Nichtsdestotrotz scheint es nötig, nach den vorherrschenden Denkfiguren und Topoi im PEGIDA-Diskurs sowie nach der Sprache dieses Diskurses zu fragen, weil diese Elemente konstitutiv für das sich mehr und mehr in seinem Selbstbild nationalisierende Deutschland (vielleicht auch Europa) zu sein scheinen.

IV Die deutsche Presselandschaft scheint mit einer gewissen Verzögerung auf die seit Oktober 2014 in Dresden stattfindenden Umzüge der PEGIDA reagiert zu haben. Doch kurz vor Weihnachten, als sich bei den Demonstrationen zwischen 10.000 und 20.000 Menschen versammelten, brach ein facettenreicher Diskurskrieg aus, in dessen Rahmen ganz unterschiedliche und auch extreme Weltansichten um eine Deutungshoheit kämpften. Mit welchen sprachlichen Mitteln, symbolischen Formen und mithilfe von welchen Kontexten die PEGIDA-Gegner und -Verfechter ihre Argumente gegenseitig zu entkräften suchten, steht im Folgenden zur Erörterung. Die Grundlage der Analyse bilden vier Titel, die in der Zeitspanne vom 1. November 2014 bis zum 30. April 2015 untersucht wurden.35 Es handelt sich 33 Schulz, Politische Kommunikation, S. 65. 34 Ebd., S. 177. 35 Die zwei ersten sog. Spaziergänge fanden am 20. und 27. Oktober 2014 statt und versammelten einige Hundert Menschen; erst beim dritten Umzug am 3. November verzeichnete man über 1.000 Protestierende, wodurch das neue Phänomen auch Interesse der Massenmedien fand.

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dabei um zwei der auflagenstärksten Tageszeitungen Deutschlands: die als gemäßigt konservativ geltende »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ, gegründet 1949) und die liberale »Süddeutsche Zeitung« (SZ, gegründet 1945)36, weiterhin die linke Tageszeitung »junge Welt« ( jW, gegründet 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone, nach 1949 in der DDR herausgegeben) und die neokonservative Wochenzeitung »Junge Freiheit« (JF, gegründet 1986). Eine solche Auswahl sollte einen breiten Überblick über den Diskurs vermitteln. Im Vorfeld der Inhaltsanalyse der jeweiligen Zeitung sollen ein paar statistische, klärende Informationen geliefert werden. In der untersuchten Zeitspanne kam die erste bemerkenswerte Reaktion auf PEGIDA vonseiten der »Süddeutschen Zeitung«. Am 12. November 2014 erschien ein ausführlicher Bericht und Kommentar zugleich von Cornelius Pollmer mit einem Zitat als Titel: Das ist nicht mehr dumpf. Erst sieben Tage später erschien in der FAZ der erste Artikel von Stefan Locke Von einer diffusen Angst beseelt. Kurz danach, am 21. November, reagierte die wöchentlich erscheinende »Junge Freiheit« mit dem Text von Henning Hoffgaard Schweigend gegen Islamismus. Und erst am 26. November, also genau zwei Wochen später als im Falle der SZ, erschien der erste Artikel in der Tageszeitung »junge Welt«: Montagsdemos 3.0 von Sebastian Carlens. Eine so späte Reaktion dürfte vielleicht damit zu erklären sein, dass die linke, marxistisch orientierte Zeitung dem als rechtspopulistisch definierten PEGIDA-Phänomen kein Interesse schenken wollte und durch diese Nichtachtung ihre Ablehnung ihm gegenüber manifestierte. Seit dieser Zeit bis zum Ende April 2015 erschienen über 90 Artikel und Kommentare zu PEGIDABewegung in der FAZ, über 60 in der SZ, 49 in der »Jungen Freiheit« und 42 in der »jungen Welt«. Die Zahlen sollen nur der Orientierung dienen, denn im Falle der auflagenstärksten Tageszeitungen wurde bei der Aufzählung und somit auch bei der Analyse auf die gewöhnlichen Kurzmeldungen verzichtet. Erwähnen sollte man jedoch die eindeutige Dynamik des Diskurses. Wie man dem folgenden Schema entnehmen kann, erschienen die meisten Texte um die Jahreswende, also im Dezember 2014 und im Januar 2015, dann brach der Diskurs fast abrupt ab. Die Art der zu analysierenden Artikel sollte hier auch Erwähnung finden, weil sie über den Charakter des Diskurses mitentscheidet und damit aussagekräftig ist. In der FAZ erschienen die meisten Texte in der Rubrik »Politik« – 60 Artikel (meistens kurze oder mittellange Meldungen und Berichte), 26 in der FAZ am Sonntag (vorwiegend ausführlichere Kommentare) und nur 5 im Feuilleton-Teil (längere Analysen zu benachbarten Themen, nicht direkt über PEGIDA). In der SZ überwogen auch Texte aus der Rubrik »Politik«, doch unter ihnen fand man mehrere längere Kommentare, als dass bei der FAZ der Fall war. Daneben gab es 36 Beide meistbeachteten Titel unter den deutschen Parlamentariern und damit auch für die Öffentlichkeit ohne Zweifel meinungsbildend. Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 30.

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Abb. 1. Die Dynamik des Diskurses über die PEGIDA-Bewegung in den analysierten Zeitungen

in der besprochenen Zeitspanne neun Artikel im Feuilleton-Teil (samt Reportagen), sechs Meinungen, drei »Thema-des-Tages«-Texte und zwei Beiträge in der Sparte »Gesellschaft«. In der »jungen Welt« mischen sich oft Kommentare, Berichte und Analysen miteinander; alle erschienen im Teil »Politik«. Eine Besonderheit hingegen wies die »Junge Freiheit« auf: Nur dort fand man ausführliche Interviews mit den Anführern der PEGIDA-Bewegung, Lutz Bachmann und Kathrin Oertel. Dies bestätigt einen Zusammenhang zwischen der ideologischen Ausrichtung dieser Wochenzeitung einerseits und dem politischen Charakter der Bewegung andererseits. Es ist auch ein Hinweis dafür, welche Zeitungen von PEGIDA nicht als »Lügenpresse«37 diffamiert wurden (die häufigsten Kampfbegriffe werden im weiteren Teil der Analyse dargestellt). Darüber hinaus ist festzustellen, dass bereits die ersten Artikel zum Thema PEGIDA die Hauptargumentationslinien der Diskussionen erkennen ließen und deren Ton in dem jeweiligen Medium bestimmten – einen Ton, der sich in allen weiteren Texten niederschlug. Es tauchten auch die wichtigsten Kampfbegriffe auf, die für den Verlauf der Debatte ausschlaggebend waren. Bereits bei der ersten Reaktion der »Süddeutschen Zeitung« am 12. November 2014 handelt es sich keineswegs um eine einfache, unvoreingenommene Berichterstattung. Davon, dass es ein durchaus kritischer Kommentar war, mögen einige Formulierungen zeugen:

37 Zum Verhältnis von PEGIDA und den Massenmedien sowie zur Tradition des Begriffes »Lügenpresse« vgl. Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 100f.

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PEGIDA gibt vor, sich gegen Glaubens- und Stellvertreterkriege auf deutschem Boden einzusetzen, zudem für das Recht auf freie Rede und, irgendwie, für den Erhalt der deutschen Sprache. […] Höflich formuliert geht es PEGIDA vor allem um eine konsequente Auslegung des Asylrechts sowie um eine Verschärfung desselben. […] PEGIDA legt großen Wert auf eine friedliche Außenwirkung. Und wenn einer aus der Masse doch mal »Ausländer raus!« brüllt, dann schnellen sofort zwei Ordner heran und pfeifen ihn zurück. […] Als Erzählung bietet PEGIDA eher den behaupteten Mut an, die »Verantwortung« zu übernehmen und sich gegen den ebenso behaupteten Medien-Mainstream zu wenden.38

Der Bewegung wurde unterstellt, etwas im Schilde zu führen (»PEGIDA gibt vor«), keine konkreten oder aber doch verdeckte Ziele zu verfolgen (»irgendwie«, »höflich formuliert«), sich als eine friedliche Bewegung auszugeben (und in Wirklichkeit ein Gewaltpotenzial aufzuweisen – »legt großen Wert auf friedliche Außenwirkung«) und dem Publikum etwas vorzugaukeln (»als Erzählung«, also eine Art Fiktion). Um den Ernst der Sache zu betonen, wurde der Theologe, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Frank Richter zitiert: »Das hier macht mir Angst. […] das ist nicht mehr dumpf, das ist intelligent und gesteuert«. Somit identifizierte die SZ also bereits im ersten Text die Bewegung als einen hinterlistigen, gewaltbereiten, gezielt handelnden, verlogenen und rechtspopulistisch anmutenden Gegner, vor dem man sich, wenn nicht gar fürchten, dann zumindest in Acht nehmen sollte. Damit lenkte sie die Diskussion in die Bahnen der für dieses Organ traditionellen Auseinandersetzung der »guten Linken« mit den »bösen Rechten«, obwohl die beiden Kategorien damals noch nicht explizit erwähnt wurden. Viel vorsichtiger hingegen schien die FAZ vorzugehen. Am 19. November 2014 erschien, ebenfalls im Teil »Politik«, der Artikel von Stefan Locke. Sein Titel (Von einer diffusen Angst beseelt)39 deutete zwar auf die Unklarheiten in den Motivationen und Zielen der ProtestteilnehmerInnen hin (»diffuse Angst«), doch der Bericht gestaltete sich sachlicher und weniger emotional als der Text in der SZ. Im schlichten Ton wurde auf einige Probleme aufmerksam gemacht, u. a. auf die mangelnde Distanzierung der VeranstalterInnen von den Neonazis und Hooligans, die »unübersehbar in der Menge mitspazieren«, auf die Abneigung der PEGIDA gegenüber der »links-liberalen Mainstream-Presse« sowie auf die umstrittene Nutzung der Parole »Wir sind das Volk«, die 1989 entstand und 2014 die Ähnlichkeit zwischen damaliger und heutiger »Bürgerbewegung« hätte bestätigen bzw. herstellen sollen. Die von der hierbei zitierten Dresdner Oberbürgermeisterin Orosz erwähnten Werte des Herbstes aus der Zeit vor 25 Jahren wurden 38 Pollmer, Cornelius: »Das ist nicht mehr dumpf«. In »Süddeutsche Zeitung« vom 12. November 2014. Alle Hervorhebungen in den Zitaten hier und im weiteren Verlauf des Textes – D.G. 39 Locke, Stefan: Von einer diffusen Angst beseelt. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 19. November 2014.

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indirekt den Anforderungen von PEGIDA gegenübergestellt, was die Bewegung als undemokratisch erscheinen ließ (»Der berühmte Ruf des Herbstes [1989 – D.G.] stehe vielmehr für Freiheit, Menschenwürde und Demokratie«). Darüber hinaus wurde die Verwunderung über die Tatsache ausgedrückt, dass die Proteste ausgerechnet in dem Teil Deutschlands stattfinden, wo die AusländerInnen eine vergleichsweise kleine Minderheit bilden. In diesem Ausdruck der »Verwunderung« über einen offensichtlichen Widerspruch schwingt unterschwellig die Unterstellung mit, PEGIDA suche nach Ersatzproblemen, nach tragenden Parolen, die als Mittel im Kampf um andere, möglicherweise noch verdeckte Ziele dienen sollen. Obwohl also der Text viel sachlicher als der SZ-Artikel wirkte, konnte man ihm auch eine gewisse Distanz anmerken, wenn nicht eine Abneigung des Autors dem beschriebenen Phänomen gegenüber. Um einiges schärfer war der Ton der jW. In Montagsdemos 3.0 vom 26. November 2014 scheute Sebastian Carlens nicht davor zurück, ausgesprochene Kampfbegriffe zu verwenden oder die Forderungen der Bewegung zu blamieren. In Anführungszeichen etwa wurde der Zentralbegriff der PEGIDA, die »Islamisierung«, gesetzt, was dem gefürchteten Phänomen die Existenzgrundlage und Rationalität entziehen sollte. Die Lächerlichkeit der Forderungen sollte durch den Vergleich eines Minaretts mit einem Schornstein erreicht werden. Hinzu kam eine an Tatsachen angelehnte Diskussion: Statistiken und historische Fakten wurden herangezogen, um die Schwachstellen des PEGIDA-Protestes zu entblößen: Droht die »Islamisierung« Sachsens, gar die Einführung der Scharia im schönen Elbflorenz? Wohl kaum: Das einzige »Minarett« in der Stadt ist der Schornstein der vor über 100 Jahren im Stil einer Moschee errichteten einstigen Tabakfabrik »Yenidze«. Migranten machen nur rund fünf Prozent der Stadtbevölkerung aus, von ihnen kommen nur wenige aus muslimisch geprägten Ländern. Ähnlich sieht es in weiten Teilen Ostdeutschlands aus. Dies ist auch das Resultat rassistischer Pogrome in den 90er Jahren.40

Die »junge Welt« ist auch die einzige Zeitung, in der in jedem Bericht über PEGIDA-Demonstrationen auch wenigstens ein Satz zu Gegendemonstrationen fiel, sowie vergleichsweise viele Berichte über die Reaktion der linken Szene auf PEGIDA erschienen. Dabei übernahm die Zeitung das Gewaltvokabular der PEGIDA-Gegner und sprach (erstens auch in Anführungszeichen, später mehrmals ganz direkt) vom Rassismus unter den Dresdener Demonstranten: Auf der Gegendemonstration in der Dresdner Altstadt wurde das Geschehen als »verkappter Rassismus« kritisiert; »Islamisierung« sei nur eine Chiffre, gemeint seien Ausländer insgesamt.41

40 Carlens, Sebastian: Montagsdemos 3.0. In: »junge Welt« vom 26. November 2014. 41 Ebd.

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Schließlich bemühte sich der jW-Publizist um die Diffamierung der sich als bürgerlich ausgebenden PEGIDA-Bewegung durch deren Vergleich mit den rechtsextremen Bewegungen (wie Hogesa – Hooligans gegen Salafisten) und unterstellte ihr das intentionelle Spiel mit symbolischen Assoziationsräumen: Doch auch die Analogie der Abkürzungen »gegen Salafisten« bzw. »Islamisierung« dürfte kein Zufall sein: Die Dresdner Veranstalter nutzen das Mobilisierungspotenzial solcher »neuen« Bewegungen, die bundesweit seit Jahresbeginn unter vielfältigen Labels auftreten.42

So bildeten Rassismus, Rechtsextremismus und Unsinnigkeit der Forderungen den symbolischen Rahmen, in dem sich der PEGIDA-Diskurs auf den Blättern der marxistisch orientierten Tageszeitung entfaltete. Dabei ging die »junge Welt« ähnlich vor, wie die »Süddeutsche Zeitung« oder die »Junge Freiheit«: Die emotional gesteuerten Diskussionen verhinderten einen offenen, auf Fakten basierenden Dialog. Am deutlichsten war das Spiel mit Emotionen und somit der beinahe populistische Zugang zu der Thematik in der »Jungen Freiheit« sichtbar. In dem Wochenblatt erschien am 21. November der Artikel Schweigend gegen Islamismus. Seinem Autor, Henning Hoffgaard, merkte man sofort eine Sympathie gegenüber der neuen Bewegung an. Er zog mit einer klaren und die Gegner der PEGIDA verurteilenden Gegenüberstellung von »Linksextremisten« und »normalen Bürgern« ins Feld, für die sinnbildlich eine ältere Dame im Rollstuhl stand. Der Text begann folgendermaßen: Langsam fährt der Rollstuhl nach vorne. Dann ist Schluß. Vor der etwa 60 Jahre alten Dame mit einer kleinen Deutschlandfahne in der Hand haben sich zehn schwarzgekleidete Linksextremisten aufgebaut. Sie beschimpfen und bedrohen die Frau. »Hau ab, hau ab«. Von einem Helfer und der Polizei eskortiert, schafft es die Rollstuhlfahrerin durch die aggressive Menge. Der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben.43

Eine kleine Deutschlandfahne als unschuldiges Manifest des bürgerlichen Patriotismus begegnete dem ewigen Feind – dem Linksextremismus samt seinen Beschimpfungen, Bedrohungen und seiner Aggressivität. Die Fronten wurden also von Anfang an klar umrissen, die LeserInnen waren sich im Bilde, mit wem sie sich identifizieren sollen – zumal ein paar Sätze später wieder eine gewöhnliche Szene aus dem Leben des friedlichen, patriotischen, europäischen Bürgertums geschildert wurde: Keine Parolen, keine aggressiven Sprüche. Ein paar Transparente und Deutschlandfahnen. Das ist alles. »Hiernach gehen wir noch einen Glühwein trinken«, sagt eine 42 Ebd. 43 Hoffgaard, Henning: Schweigend gegen Islamismus. In: »Junge Freiheit« vom 21. November 2014.

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Mutter zu ihrem Begleiter. Ihre Kinder hat sie auch mitgenommen. »Ich fühle mich einfach von der Politik nicht mehr ernstgenommen«. Täglich lese sie von gewaltbereiten Islamisten und aggressiven Asylbewerbern. »Das möchte ich nicht«, sagt sie mit ihrem entwaffnenden sächsischen Dialekt.44

Natürlich waren es auch nur die linken GegendemonstrantInnen, die gewaltbereit und provokativ in Erscheinung traten: An einigen Straßenecken stehen linke Gegendemonstranten mit Trillerpfeifen. Sie versuchen, die »PEGIDA«-Anhänger zu provozieren. »Ihr seid peinlich«. »Jesus würde euch hassen«. Der aggressive Ton verfängt nicht. Als die Polizei die Störer abdrängt, brandet kurz Applaus auf.45

Bereits in den ersten zwei Wochen der Berichterstattung über die PEGIDA-Bewegung zogen JournalistInnen mit ihren härtesten ideologischen Waffen gestrickt nach dem alten Muster »links gegen rechts« in den symbolischen Kampf um die Deutungshoheit. Die Presselandschaft wurde zum Schlachtfeld der Emotionen, seltener der sachlichen Argumente, was eine potenziell anspruchsvolle Diskussion zu einer eher populistischen Auseinandersetzung mutieren ließ. Wie durch die Forschung auch bereits belegt wurde, glichen die ersten Reaktionen der Presse einem panischen Alarmismus und prognostizierten den baldigen Zerfall der Bewegung. Es wurde auch auf den verstörenden Charakter der Bewegung und auf eine sich anbahnende Zeitenwende aufmerksam gemacht.46 Der vorausgesagte Zerfall erfolgte jedoch nicht, so dass sich die deutsche Presse in den nachfolgenden Monaten zu neuen Diagnosen und Prognosen gezwungen sah. Im Rahmen der hier vorgenommenen Analyse wurde deutlich, wie emotional die genannten Medien in ihrer Berichterstattung vorgingen. Des Weiteren wurden die Zeitungsartikel in dreierlei Hinsicht analysiert: in Bezug auf die Bezeichnungen für PEGIDA und ihre Charakteristik, in Bezug auf die Charakteristik ihrer GegnerInnen sowie in Bezug auf weitere Begrifflichkeiten und Kontexte, deren sich die DiskutantInnen bedienten. In einer der Zeitungen riefen alle Bezeichnungen der PEGIDA-Bewegung eindeutig positive Konnotationen hervor. Es war die »Junge Freiheit«: »die Demonstranten«47, »die Bürger«48, »die Andersdenkenden«49 (im Sinne die Mündigen, die Mutigen), »Plattform eines Aufbegehrens gegen die Arroganz und 44 45 46 47 48 49

Ebd. Ebd. Vgl. Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 133. »Junge Freiheit«, etliche Stellen. Ebd. Hinz, Torsten: Die Furcht, überflüssig zu werden. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015; Paulwitz, Michael: Bürgerrechte auf der Kippe. In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015; Paulwitz, Michael: Stell’ dir vor… In: »Junge Freiheit« vom 6. Februar 2015.

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Abgehobenheit eines als kompakte Einheit wahrgenommenen Kartells aus etablierten Parteien und Medien«50. In der letzten Bezeichnung versteckt sich bereits der Hinweis auf das Verhältnis der Bewegung und der mit ihr sympathisierenden Wochenzeitung zu den potenziellen GegnerInnen von PEGIDA. In erster Linie sind das natürlich die »Linksextremisten«51, dann »das globale Bevölkerungsmanagement«52, womit etablierte Parteien und die »Lügenpresse«53 gemeint werden. Neben der »Diffamierung der Andersdenkenden«54 warf die Zeitung der »politisch-medialen Klasse«55 vor, sie mache sich »des Mißbrauchs stattlicher Macht«56 schuldig, indem sie zu Gegendemonstrationen aufrufe. Darüber hinaus degradiere sie den Bürger »zum unmündigen Untertanen und Betreuungsfall«57. Im Kreuzfeuer der Kritik stand die Kanzlerin Angela Merkel, die in ihrer Neujahrsansprache die DemonstrantInnen »ausgrenzte« und »stigmatisierte« und damit den »politischen Diskurs [hätte] ersticken«58 wollen. Die »Junge Freiheit« warf darüber hinaus anderen Medien vor, deren Berichterstattung wäre »einseitig« und »tendenziös«59 gewesen. Sie vertrat dabei voll und ganz die Ansichten der Bewegung, die sich – wie Zitate darlegen – dem rechtspopulistischen Diskurs und der Ideologie der Neuen Rechten zuordnen ließen. Diffuse Ängste wurden durch genauso diffuse Diagnosen der krisenhaften sozialen Wirklichkeit und Vorwürfe gegenüber den Regierenden geschürt. Durch Berufung auf die Meinungsfreiheit versuchte man, rassistische Vorurteile salonfähig zu machen. Auch eine strikte Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe (deutsches Bürgertum aus der politischen Mitte) und ihren Feinden (gewalttätige LinksextremistInnen, AusländerInnen – vor allem Muslime – und das politische Establishment) entsprach der Schwarz-Weiß-Malerei eines populistischen Narrativs. Als Kampfblatt der GegendemonstrantInnen kann hingegen die »junge Welt« bezeichnet werden. Die Bewegung wurde auf ihren Blättern eindeutig in die 50 Paulwitz, Michael: Gegen die Arroganten. In: »Junge Freiheit« vom 2. Januar 2015. 51 Hoffgaard, Schweigend gegen Islamismus; Hoffgaard, Henning: Wie eine Massenbewegung die Politik vor sich hertreibt. In: »Junge Freiheit« vom 12. Dezember 2014; Edler, Lion: Die »Mischpoke« macht weiter. In: »Junge Freiheit« vom 19. Dezember 2014; Gläser, Ronald: Zweifel an der Neutralität. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015. 52 Hinz, Thorsten: Der Staat auf Feindfahrt. In: »Junge Freiheit« vom 19. Dezember 2014. 53 Edler, Lion: Die »Mischpoke« macht weiter; Paulwitz, Michael: Gegen die Arroganten; Schwarz, Moritz: »Wir haben einen Nerv getroffen« (ein Interview mit Lutz Bachmann). In: »Junge Freiheit« vom 12. Dezember 2014. 54 Hinz, Der Staat auf Feindfahrt. 55 Ebd.; Paulwitz, Michael: Gegen die Arroganten; Paulwitz, Michael: Wir sind Europa. In: »Junge Freiheit« vom 16. Januar 2015. 56 Hinz, Der Staat auf Feindfahrt. 57 Paulwitz, Gegen die Arroganten. 58 Rosen, Paul: Rätselraten an der Spree. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015. 59 Berthold, Ronald: Wieviel Lüge steckt in unserer Presse? In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015.

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rechte, wenn nicht rechtsextreme Ecke gestellt, wovon folgende Aussagen der AutorenInnen von jW-Artikeln sowie ihren GesprächspartnerInnen zeugen mögen: Die PEGIDA sei eine Antiislamische Allianz aus »besorgten Bürgern«, Neonazis und Demagogen,60 sowie eine »rechtspopulistische Bewegung«61, die »nur knapp unter der Schwelle des organisierten Neofaschismus«62 funktioniere. Die Montagsspaziergänge wurden als »rechtslastige Demonstrationen mit bürgerlichem Anstrich«63, »Abendspaziergänge mit rassistischen Redebeiträgen«64 und »fremdenfeindliche und antiislamische Demonstrationen«65 bezeichnet. Interessanterweise wurde gleichzeitig auf vergleichsweise poetische Bezeichnungen für die linke Szene eher verzichtet. Der Diskurs in den beiden Zeitungen verlief also in alten Bahnen und bediente sich fest verankerter Klischees. Keine Brüche, keine Anknüpfungspunkte, keine Bereitschaft zu einer Diskussion, auch kein Wille, die andere Partei wenigstens ansatzweise zu verstehen, konnten im Rahmen der Analyse verzeichnet werden. Die Fronten hielten, man harrte bei bekannten und gut geschützten Positionen aus. Um einiges gemäßigter verhielten sich die auflagenstarken Zeitungen. Doch die JournalistInnen der »Süddeutschen Zeitung« bedienten sich trotzdem häufig eindeutig pejorativer Bezeichnungen und Argumente: Es hieß, PEGIDA trage »Ansätze einer rechtsextreminspirierten Bewegung«66 und habe »offensichtlich rechtsextremen Hintergrund«67, den die meisten ihrer Anhänger – unter ihnen auch »Fremdenhasser, Rassisten und Hooligans«68 nicht zu merken scheinen. Allgemein weise die Bewegung ein »sehr unterschiedlich motiviertes Potenzial in einem populistischen Register« auf, sei also »als politischer Gegner […] kaum ernst zu nehmen«69. »Das Gegröle von Dresden«70, der »völkische Zwergenaufstand«71 habe, so die letzte Diagnose, »eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islamismus in Deutschland bis auf Weiteres erschwert bis unmöglich gemacht«72. Die Schwachstellen der Bewegung, die bisher nicht behoben wurden,

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Merz, Michael: Wettlauf nach rechts. In: »junge Welt« vom 17. Dezember 2014. Pegida-Spaltung besiegelt. In: »junge Welt« vom 30. Januar 2015. Carlens, Sebastian: Rechte Pressure-Groups. In: »junge Welt« vom 1. Dezember 2014. Merz, Wettlauf nach rechts. Bernhardt, Markus: Hetze gegen Nächstenliebe. In: »junge Welt« vom 24./26. Dezember 2014. Pegida bekommt kontra. In: »junge Welt« vom 7. Januar 2015. Pollmer, Cornelius/Schneider, Jens/Bielicki, Jan: »Da braut sich etwas Neues zusammen«. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 3. Dezember 2014. Ebd. Schlauch, Rezzo: Empört Euch richtig! In: »Süddeutsche Zeitung« vom 31 Januar 2015. Bude, Heinz/Lantermann, Ernst-Dieter: Besorgt, beleidigt und zurückgesetzt. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 23. Dezember 2014. Richter, Peter: Schlund. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 7. Januar 2015. Schlauch, Empört Euch richtig! Richter, Schlund.

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seien »Absurdität und Widersprüchlichkeit«73, ihre Todessünden – »Übermut und Rausch«74. In ihrem Ton und ihrer Aussage ähnelten diese Texte den Beiträgen in der jW. Unparteilich – und dem journalistischen Ethos der objektiven Berichterstattung verpflichtet – versuchte anscheinend nur die FAZ zu bleiben. Wenn auf ihren Seiten von »Rattenfängern«75 oder »rechtsextremen Dumpfbacken«76 die Rede war, standen die Bezeichnungen immer in Anführungsstrichen und wurden als aus dem Politikermund übernommene Aussagen apostrophiert, die die Zeitung an sich weder verfocht noch bestritt. Die eigene Wahl der Sprachmittel war tatsächlich gemäßigter und fiel relativierender aus als in den übrigen untersuchten Print-Medien. PEGIDA sei laut KommentatorInnen der FAZ »ein Sammelbecken für alles, was mit Frust und Fremden zu tun hat«, d. h. sie vereinige »wütende, frustrierte und verunsicherte Bürger sowie Asylkritiker, ThiloSarrazin-Jünger, aber auch Islamgegner, Ausländerfeinde, Amerikahasser, Putinfreunde, Verschwörungstheoretiker, Systemverweigerer«77. Von der Beschreibung rechtsextremer Sympathien der SpaziergängerInnen wurde abgesehen, dafür eher auf Orientierungslosigkeit des heutigen Individuums und soziale Frustrationen aufmerksam gemacht. Wenn überhaupt Fehler vonseiten der Anführer der PEGIDA-Bewegung oder ihrer Ankläger explizit Erwähnung fanden, wurden beide Parteien einer scharfen Kritik (nicht ohne ironische Untertöne) unterzogen: Ob sie nun »Bewegung für direkte Demokratie in Europa« heißen wird oder anders – die Geburtsfehler PEGIDAs, die Doppelbödigkeit und die Orientierungslosigkeit, werden ihre Mitbegründer dadurch nicht los.78 PEGIDA tut nur friedlich.79 Es hört sich gut an, was die Innenminister von Bund und Ländern gegen das sogenannte PEGIDA-Bündnis unternehmen wollen: »Es müsse demaskiert werden«, sagte Ralf Jäger (SPD), der Innenminister von Nordrhein-Westfallen. Jäger selbst hatte in den vergangenen Tagen allerdings schon so intensiv demaskiert, dass sich die montäglichen Demonstranten fragen mussten, ob sie nicht recht haben: Uns hört eh niemand zu. […] Wie soll denn der Islam zu Deutschland gehören, ohne dass unsere Gesellschaft we73 Pollmer, Cornelius: Abend im Land. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 17. Dezember 2014. 74 Ebd. 75 Kohler, Berthold: Ernst nehmen. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 16. Dezember 2014. 76 CSU: Maas verunglimpft friedliche Demonstranten. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 16. Dezember 2014. 77 Locke, Stefan: Masse und Ohnmacht. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20. Dezember 2014. 78 Altenbockum, Jasper v.: Reste des Christstollens. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 30. Januar 2015. 79 Jäger, Franziska: Der faule Frieden von Dresden. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 12. April 2015.

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nigstens in Teilen eine »islamisierte« sein wird? Das eine zu sagen ist schick, das andere aber frivol? Die Motive, die in Dresden Tausende, woanders Hunderte seit Wochen auf die Straßen treiben, haben jedenfalls sehr viel damit zu tun, dass stammtischhafte Beschreibungen einer mit Sorge wahrgenommenen Wirklichkeit als extremistisches Fehlverhalten »demaskiert« werden. Das ist arrogant, obrigkeitsstaatlich und demaskiert sich selbst. Denn jeder Bürger dieses Landes hat Anspruch darauf, zu erfahren, welcher Islam und welche Migration zu Deutschland gehören sollen. Wie auch immer die Antwort ausfällt: Jeder Bürger hat das Recht, dagegen zu demonstrieren.80

Als eines der wichtigsten meinungsbildenden Medien in Deutschland versuchte die FAZ den Anschein einer differenzierten und vorurteilslosen Sicht auf die neue Entwicklung zu bewahren. Dennoch scheuten sich ihre RedakteurInnen nicht, nach kontroversen, dem politischen Mainstream nicht entsprechenden Antworten zu greifen. Dieses Urteil betrifft auch die Schilderung und Spezifizierung der Kontexte, die PEGIDA in ihren wöchentlichen Auftritten am häufigsten ansprach (gemeint ist vor allem die Migrationsproblematik). Parolen, die auf den Bannern und Schildern der PEGIDA-DemonstrantInnen zu lesen waren, wurden in unveränderter Form von der »Jungen Freiheit« übernommen und mit vollem Ernst in den Kommentaren eingesetzt: »Wirtschaftsflüchtlinge«81, »Identitätsverlust«82 und »Überfremdung«83 skandierte man sowohl in den Straßen Dresdens als auch auf den Zeitungsseiten der JF, was zu erwarten war, zumal beide sich als Sprachrohre des konservativen Bürgertums verstanden und somit ins Umfeld der neurechten Ideologie zu rücken sind. Die »junge Welt« distanzierte sich natürlich ausdrücklich davon und schrieb von der »angeblichen Islamisierung«84 (wobei Islamisierung, genauso wie »Wirtschaftsflüchtlinge«, immer in Anführungszeichen gesetzt wurden). Die Befürchtungen der »besorgten Bürger« wurden als »Paranoia« oder »Phantasien«85 diskreditiert und die Redebeiträge während der Demonstrationen als »hetzerisch«, »rassistisch« und MigrantInnen sowie Politik »pauschal verunglimpfend«86 abgetan. Auf eine »eindeutig rechtsextreme (weil fremden-, islam- und flüchtlingsfeindliche) Codierung« der PEGIDA-Parolen wies auch die »Süddeutsche Zeitung« hin 80 Altenbockum, Jasper v.: Demaskiert. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 13. Dezember 2014. 81 Henning: Wie eine Massenbewegung die Politik vor sich hertreibt; Schwarz, Moritz; »Nicht nur Haßkappen« (ein Interview mit Prof. Werner Patzelt). In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015. 82 Leonhard, Paul: Tiefempfundene Vorbehalte gegen die da oben. In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015. 83 Leonhard, Paul: Massenzustrom von Ausländern unerwünscht. In: »Junge Freiheit« vom 16. Januar 2015. 84 Bonath, Susan: Demonstrationen und Gewalt. In: »junge Welt« vom 2. Januar 2015. 85 Merz, Wettlauf nach rechts. 86 Bernhardt, Hetze gegen Nächstenliebe.

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und nannte diese eine »Auslegware«, die »Ressentiments mobilisiert«87. Die SZKommentatorInnen sahen auch keine ernste Gefahr der »Islamisierung« – diese stelle sich »bei einer rationalen Analyse als Phantom heraus«88. Sie setzten auch Ironie gegen die PEGIDA-Anführer ein: »Weihnachtslieder gegen die Islamisierung des Abendlandes. Alles klar?«89 Differenzierter fiel die Diagnose der FAZ aus, obwohl man nach einer positiven Beurteilung eher zwischen den Zeilen suchen sollte. Auf jeden Fall war das Urteil milder: »PEGIDA jongliert mit provokanten Thesen«90 (die jedoch nicht eindeutig als rechtsextrem abgetan werden dürfen); »PEGIDA lebt nicht von Argumenten, sondern von Verachtung und Tunnelblick«91 (ist zwar eine populistische Sünde, doch auch eine menschliche); »PEGIDA setzt auf ein antibürgerliches Führer-Prinzip«92 (keine direkte Nazi-Bezeichnung, eher milde Umschreibung); »[d]ie Demonstranten sagen nicht ausschließlich, aber doch viele schlichte, vereinfachte, falsche, hysterische Dinge«93 (aber auch nicht ausschließlich! Vermutlich also auch etwas Differenziertes); »[e]s ist der rückwärtsgewandte Traum von der Wiederkehr einer vormodernen Welt christlicher Heilsgewissheit«94 (was in Europa mit seinen antiken, jüdischen und christlichen Wurzeln keiner ernsten Kritik unterzogen werden sollte); »[d]as Geheimnis von PEGIDA: sie bedient die Sehnsucht nach simplen Lösungen«95 (es wurde doch das Wort »simpel« und nicht »populistisch« gewählt); »[d]ie Masche ist also so: Ist jemand anderer Meinung und äußert diese auch noch, bezichtigen sie ihn, gegen Meinungsfreiheit zu sein«96 (eindeutige Kritik in Bezug auf die mangelnde kritische Selbstreflexion unter den PEGIDA-Anhängern).

87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Pollmer/Schneider/Bielicki, »Da braut sich etwas Neues zusammen«. Schlauch, Empört Euch richtig! Pollmer, Abend im Land. Locke, Stefan: Aus sicherer Entfernung. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 17. Dezember 2014. Altenbockum, Jasper v.: Die Verdummung des Abendlandes. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20. Dezember 2014. Ebd. Haupt, Friederike: Dummheit ist keine Schande. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 21. Dezember 2014. Hank, Rainer: Abendland. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 21. Dezember 2014. Kohler, Berthold: Schrecklich einfach. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 5. Januar 2015. Locke, Stefan: Die neue Wut aus dem Osten. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 7. Dezember 2014.

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V Am 20. Oktober 2019, dem fünften Jahrestag des ersten PEGIDA-Umzuges in Dresden, protestierten die BürgerInnen aus Sachsen unter dem Motto »Herz statt Hetze« gegen die rechtspopulistische Bewegung. Obwohl diese seit 2014 an BesucherInnenzahlen stark einbüßte und mehrmals pausieren musste, sind die von ihr vertretenen Inhalte und geäußerten Forderungen immer noch in der Öffentlichkeit präsent – auch in der offiziellen Politik dank den Aussagen der AfDMitglieder. Und die Repräsentation bestimmter Inhalte in der Öffentlichkeit stellte doch eines der Ziele dieser Bürgerbewegung dar: Durch das Gefühl, von der Politik nicht mehr ernst- und wahrgenommen zu werden, wollten die EinwohnerInnen Sachsens u. a. durch ihr Engagement bei PEGIDA auf das Versagen der Politik in deren Repräsentationsfunktion aufmerksam machen. Egal, ob das PEGIDA-Phänomen auf die Spezifik des sächsischen Freistaates zurückzuführen oder als Ergebnis der politischen Normalisierung der deutschen Parteidemokratie zu deuten ist,97 ist eine durch sie erweckte Atmosphäre einer allgegenwärtigen Bedrohung nicht zu bestreiten. Ihren Beitrag zu diesem Zustand lieferte ohne Zweifel die deutsche Presselandschaft, die in den Montagsdemonstrationen ein Thema fand, das die Auflagen potenziell in die Höhe zu treiben vermochte. Die Analyse der vier mit Absicht ausgewählten Printmedien zeigte, dass kaum eine Zeitung eine vorurteilsfreie und emotionslose Berichterstattung über die PEGIDA-Bewegung liefern konnte. Es ist natürlich nicht zu erwarten, dass die sich als »meinungsbildend« verstehenden Zeitungen von einer Diagnose oder Bewertung des beschriebenen Phänomens absähen. Doch die Emotionalität einiger Aussagen und das Bedienen von althergebrachten Klischees, auch in den auflagenstärksten Blättern, oder aber die mangelnde Differenzierung zwischen stark emotionsgeladenen und breit konnotierten Begriffen dürfte bei den nach Wahrheit suchenden LeserInnen einige Wünsche offen lassen. Ob dies jedoch in einer bereits medialisierten Realität und damit auch medialisierten Demokratie überhaupt noch möglich sei, bleibt dahingestellt. Seit Ende Oktober 2019 wälzt sich durch die bundesdeutsche Presse eine durch die Vorfälle in Halle/Saale98 und Hamburg99 ausgelöste Debatte über die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik. Und wieder zitieren die JournalistInnen Umfragen, die von der Sorge der BürgerInnen berichten, man dürfe in Deutschland seine kritische Meinung zu bestimmten Themen (etwa Islam oder 97 Geiges/Stine/Walter, PEGIDA, S. 134f. 98 Ein Attentat auf eine Synagoge am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Infolge des Attentates verloren zwei Personen ihr Leben. 99 Der Gründer und ehemaliger Mitglied der AfD, Bernd Lucke, wurde am 25. Oktober bei seiner Vorlesung an der Hamburger Uni durch eine Gruppe von 30 schwarz gekleideten Menschen heftig gestört und bedrängt.

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Israel) nicht mehr in der Öffentlichkeit vertreten.100 Einem solchen Deprivationsgefühl, das in den Medien durch diffuse und manchmal allzu schnelle Diagnosen zur Krise der deutschen Demokratie mit verbreitet wird, entwachsen populistische Tendenzen und Bewegungen. Das zeigt die Wichtigkeit einer souveränen, auf Fakten basierenden und seriösen medialen Berichterstattung, die die Medien in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen den Regierenden und den Regierten und in der Repräsentationsfunktion von Interessen der jeweiligen Gruppen erfüllen würden.

Literatur Alter, Peter: Nationalismus. Ein Essay über Europa. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2016. Amann, Melanie: Angst für Deutschland: die Wahrheit über die AfD: Wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert. München: Droemer 2017. Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser 2013. Dietl, Stefan: Die AfD und die soziale Frage: Zwischen Marktradikalismus und »völkischem Antikapitalismus«. Münster: UNRAST-Verlag 2017. Fiedler, Juliane: Konstruktion und Fiktion der Nation. Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: J.B. Metzler 2018. Geiges, Lars/Stine, Marg/Walter, Franz: PEGIDA. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript 2015. Globisch, Claudia: »Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türker, Israelis raus aus Palästina. Ethnopluralismus und sein Verhältnis zum Antisemitismus. In: Globisch, Claudia/Pufelska, Agnieszka/Weiß, Volker (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 203–225. Häusler, Alexander/Roeser, Rainer: Die rechten »Mut«-Bürger: Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der »Alternative für Deutschland«. Hamburg: VSA Verlag Hamburg 2015. Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. In: »Deutsche Zustände« Bd. 1 (2002), S. 15–33. Jahn, Egbert: Nation/Nationalismus. In: Fuchs, Dieter (Hg.): Lexikon Politik: Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Philipp Reclam junior 2009, S. 171–177. Lenk, Kurt/Meuter, Günter/Otten, Henrique Ricardo: Vordenker der neuen Rechten. Frankfurt/M.: Campus 1997. Projektgruppe Nationalismuskritik (Hg.): Irrsinn der Normalität. Aspekte der Reartikulation des deutschen Nationalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot 2016. 100 Parnack, Charlotte: Die Schreispirale. In: »Zeit Online«. URL: https://www.zeit.de/politik/ 2019-10/meinungsfreiheit-politische-korrektheit-oeffentlichkeit-empoerung-streit-schwei gespirale/ / letzter Zugriff am 25. Oktober 2019.

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Schilling, Ruth: Kollektive Identität – Repräsentation von Kollektiven: Zwei Modelle zur Auffassung von den Gruppenprojektionen in der Frühen Neuzeit? Baberowski, Jörg (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft? Frankfurt/M.: Campus 2009, S. 101–116. Schmidt, Friedemann: Die neue Rechte und die Berliner Republik. Parallel laufende Wege im Normalisierungsdiskurs. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001. Schönfelder, Sven: Rechtspopulismus. Teil gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2008. Schulz, Winfried: Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Sternhell, Zeev: Von der Gegenaufklärung zu Faschismus und Nazismus. Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. In: Globisch, Claudia/Pufelska, Agnieszka/ Weiß, Volker (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 19–40.

Analysierte und zitierte Zeitungsartikel Altenbockum, Jasper v.: Demaskiert. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 13. Dezember 2014. Altenbockum, Jasper v.: Die Verdummung des Abendlandes. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20. Dezember 2014. Altenbockum, Jasper v.: Reste des Christstollens. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 30. Januar 2015. Bernhardt, Markus: Hetze gegen Nächstenliebe. In: »junge Welt« vom 24./26. Dezember 2014. Berthold, Ronald: Wieviel Lüge steckt in unserer Presse? In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015. Bonath, Susan: Demonstrationen und Gewalt. In: »junge Welt« vom 2. Januar 2015. Bude, Heinz/Lantermann, Ernst-Dieter: Besorgt, beleidigt und zurückgesetzt. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 23. Dezember 2014. Carlens, Sebastian: Montagsdemos 3.0. In: »junge Welt« vom 26. November 2014. Carlens, Sebastian: Rechte Pressure-Groups. In: »junge Welt« vom 1. Dezember 2014. CSU: Maas verunglimpft friedliche Demonstranten. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 16. Dezember 2014. Edler, Lion: Die »Mischpoke« macht weiter. In: »Junge Freiheit« vom 19. Dezember 2014. Gläser, Ronald: Zweifel an der Neutralität. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015. Hank, Rainer: Abendland. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 21. Dezember 2014. Haupt, Friederike: Dummheit ist keine Schande. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 21. Dezember 2014. Henning: Wie eine Massenbewegung die Politik vor sich hertreibt. In: »Junge Freiheit« vom 12. Dezember 2014. Hinz, Thorsten: Der Staat auf Feindfahrt. In: »Junge Freiheit« vom 19. Dezember 2014. Hinz, Torsten: Die Furcht, überflüssig zu werden. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015.

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Hoffgaard, Henning: Schweigend gegen Islamismus. In: »Junge Freiheit« vom 21. November 2014. Jäger, Franziska: Der faule Frieden von Dresden. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 12. April 2015. Kohler, Berthold: Ernst nehmen. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 16. Dezember 2014. Kohler, Berthold: Schrecklich einfach. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 5. Januar 2015. Leonhard, Paul: Massenzustrom von Ausländern unerwünscht. In: »Junge Freiheit« vom 16. Januar 2015. Leonhard, Paul: Tiefempfundene Vorbehalte gegen die da oben. In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015. Locke, Stefan: Aus sicherer Entfernung. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 17. Dezember 2014. Locke, Stefan: Die neue Wut aus dem Osten. In: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« vom 7. Dezember 2014. Locke, Stefan: Masse und Ohnmacht. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 20. Dezember 2014. Locke, Stefan: Von einer diffusen Angst beseelt. In: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 19. November 2014. Merz, Michael: Wettlauf nach rechts. In: »junge Welt« vom 17. Dezember 2014. Paulwitz, Michael: Bürgerrechte auf der Kippe. In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015. Paulwitz, Michael: Gegen die Arroganten. In: »Junge Freiheit« vom 2. Januar 2015. Paulwitz, Michael: Stell’ dir vor… In: »Junge Freiheit« vom 6. Februar 2015. Paulwitz, Michael: Wir sind Europa. In: »Junge Freiheit« vom 16. Januar 2015. Pegida bekommt kontra. In: »junge Welt« vom 7. Januar 2015. Pegida-Spaltung besiegelt. In: »junge Welt« vom 30. Januar 2015. Pollmer, Cornelius/Schneider, Jens/Bielicki, Jan: »Da braut sich etwas Neues zusammen«. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 3. Dezember 2014. Pollmer, Cornelius: »Das ist nicht mehr dumpf«. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 12. November 2014. Pollmer, Cornelius: Abend im Land. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 17. Dezember 2014. Richter, Peter: Schlund. In: »Süddeutsche Zeitung« vom 7. Januar 2015. Rosen, Paul: Rätselraten an der Spree. In: »Junge Freiheit« vom 9. Januar 2015. Schlauch, Rezzo: Empört Euch richtig! In: »Süddeutsche Zeitung« vom 31. Januar 2015. Schwarz, Moritz: »Wir haben einen Nerv getroffen« (ein Interview mit Lutz Bachmann). In: »Junge Freiheit« vom 12. Dezember 2014. Schwarz, Moritz; »Nicht nur Haßkappen« (ein Interview mit Prof. Werner Patzelt). In: »Junge Freiheit« vom 23. Januar 2015.

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Internetquellen Naumann, Florian: Fast 13 Prozent bei der Bundestagswahl: Wer hat die AfD gewählt? URL: https://www.merkur.de/politik/wer-hat-afd-gewaehlt-fast-13-prozent-bei-bundestags wahl-2017-zr-8715057.html / letzter Zugriff am 15. Februar 2018. Parnack, Charlotte: Die Schreispirale. In: »Zeit Online«. URL: https://www.zeit.de/politik/ 2019-10/meinungsfreiheit-politische-korrektheit-oeffentlichkeit-empoerung-streit-schwe igespirale / letzter Zugriff am 25. Oktober 2019. Stimmenanteile der AfD bei den jeweils letzten Landtagswahlen in den Bundesländern bis September 2019. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/320946/umfrage/er gebnisse-der-afd-bei-den-landtagswahlen / letzter Zugriff am 22. Oktober 2019.

Tobiasz Janikowski (Kraków)

Nationalistisch fundierte Emotionalisierungsschemata zur Zeit der Flüchtlingskrise

Der sozial-politische Hintergrund heutiger Migrationsprozesse Die globalen Flüchtlingszahlen haben in den letzten Jahren den höchsten Stand seit 1945 erreicht.1 Das Ausmaß der Migration nach Europa, insbesondere als Folge des sog. »arabischen Frühlings«, kann man in Bezug auf zahlreiche Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas zeigen; besonders anschaulich lässt es sich jedoch am Beispiel von Syrien darstellen: Nur zwischen August und November 2015 kamen rund eine halbe Million Syrer alleine auf die Mittelmeerinsel Lesbos. Die Flüchtlingskrise ist – was nicht verwundern kann – rasch zu einem leitenden politischen Ereignis und zum medialen Thema Nummer eins geworden. Dies blieb naturgemäß nicht ohne Auswirkung auf den Inhalt zahlreicher Fernsehberichte, Pressetitel und überhaupt auf die ikonographische Gestaltung der Printmedien. Die in Millionenauflagen veröffentlichten Bilder zeigen nicht nur das Ausmaß des Elends2 der vor dem Krieg und sozialer Unsicherheit Fliehenden, sie deuten auch die Spannungen zwischen den Aufnahme- und Zielländern an. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang ein häufig abgebildetes 1 Aleksander Betts und Paul Collier schätzen die Anzahl der Geflüchteten auf 21,3 Millionen. Vgl. Betts, Alexander/Collier, Paul: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. Übers. von H. Dierlamm und N. Juraschitz. München: Siedler Verlag 2017, S. 31. Deutlich höhere Zahlen erscheinen hingegen in der statistischen Zusammenstellung von Sybille Reinke de Buitrago, die in Anlehnung an die Angaben des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) die weltweite Zahl von Flüchtenden auf ungefähr 60 Millionen Ende 2015 und auf 65 Millionen zur Jahresmitte 2016 schätzt (vgl. Reinke de Buitrago, Sybille: Europäische Einwanderungsdiskurse zwischen Solidarität und integrationspolitischer Überdehnung. In: Bitzegeio, Ursula/Decker, Frank/Fischer, Sandra (Hg.): Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Dietz Verlag 2018, S. 67–88, hier S. 67). 2 Auf die humanitäre Problematik – die mit der Flüchtlingskrise eng verbunden ist – sowie auf die voranschreitende kulturelle und wirtschaftliche Polarisierung der heutigen Welt verweisen Collier und Betts: »Die globale Moderne hat nicht nur technische Wunder wie das iPhone und mehr als 1800 Milliardäre hervorgebracht, sondern bricht auch alle Rekorde in Bezug auf die menschlichen Tragödien, die durch Vertreibung entstehen.« (Betts/Collier, Gestrandet, S. 31).

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Foto angeführt werden, das ein Schild mit einem Pfeil zeigt, das an einer Straße die Richtung weist und auf dem lediglich ein englisches Wort steht: »Germany«. Solch eine ikonographische Darstellung erscheint bestimmt nicht als Zufall, denn Statistiken zufolge wurden ausgerechnet in Deutschland im Dezember 2015 über eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende gemeldet, wobei ungefähr 300 000 Migranten überhaupt nicht registriert wurden.3 Massenmigrationen sind in der neuesten deutschen Geschichte nichts Ungewöhnliches; alleine vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Zeit der deutschen Vereinigung (1990) kamen nach Westdeutschland rund 15 Millionen Vertriebene, Flüchtlinge, Aus- und Übersiedler, was rein rechnerisch gesehen, mehr als einem Viertel der deutschen Wohnbevölkerung im Westen am Vorabend der Vereinigung bzw. fast der Gesamtzahl der ehemaligen DDR-Einwohner entspricht.4 Unabhängig davon wird ausgerechnet Deutschland heute mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die auf die soziale, kulturelle und politische Wirklichkeit Einfluss haben. Immer sichtbarer werden vor allem scharfe Abgrenzungen zwischen den ›Einheimischen‹ und ›Fremden‹, die oft – worauf Klaus J. Bade aufmerksam macht – beunruhigend und zugleich wirklichkeitsund geschichtsfremd sind. Wirklichkeitsfremd, weil sie im merkwürdigen Gegensatz zu der im Alltagsdialog pragmatisch eingeübten interkulturellen Kompetenz stehen, »geschichtsfremd, weil die Begegnung von Einheimischen und Fremden gerade in Deutschland ein Zentrum der allgemeinen historischen Erfahrungsdimension und zum Teil, in je verschiedenen Ausschnitten, auch der persönlichen Erlebniswelt bildet.«5 Die Flüchtlingskrise der letzten Jahre provoziert ebenso das Entstehen von weitestgehend polarisierten Meinungen und politischen Interpretationen. Obwohl das Phänomen viele Kontroversen auslöst und immer wieder die Frage gestellt wird, ob der demographische Transfer auf den Alten Kontinent eingedämmt werden könnte, lehrt ein Blick in die Geschichte, so die Linke-Parteivorsitzende Katja Kipping, dass die Migration im heutigen Europa unumgänglich ist und eventuelle »Reinheitsgebote« in Bezug auf Kultur nur schwer durch3 Vgl. ebd., S. 124f. 4 Vgl. Bade, Klaus J.: Einführung: Zuwanderung und Eingliederung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. In: Bade, Klaus J. (Hg.): Fremde im Land: Zuwanderung und Eingliederung im Raum Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1997, S. 9–44, hier S. 11. Mit Hervorhebung anderer Aspekte beurteilt die Migration im 20. Jahrhundert Paul Collier: »Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs haben die Länder ihre Grenzen für ein halbes Jahrhundert geschlossen. Kriege und Wirtschaftskrisen behinderten die Migration und hatten zur Folge, dass Einwanderer unwillkommen waren. In den 1960erJahren lebten die meisten Menschen in dem Land, in dem sie geboren waren« (Collier, Paul: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Übers. von K.-D. Schmidt. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2015, S. 33). 5 Bade, Einführung, S. 11.

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setzbar wären. Zirkuläre und dauerhafte Migration und die damit einhergehende kulturelle Hybridisierung sind der historische Regelfall; »der Homo sapiens ist immer auch »Homo migrans««6 gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint freilich auch die Frage relevant, welche Rolle die nationalistischen Tendenzen und Ideologien zur Zeit der massenhaften Migrationsbewegungen spielen. Als eine der möglichen Antworten kann zunächst die von Paul Collier in den Raum gestellte These dienen, laut der die Eindämmung und der Niedergang des europäischen Nationalismus bereits als vollzogene Tatsache anzunehmen seien.7 Der Autor der Publikation mit dem provokanten Titel Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen bedient sich kontinuierlich einer äußerst optimistisch anstimmenden Argumentation und verweist voller Hoffnung auf das sich europaweit verringernde Gewaltpotenzial: Seit dem Niedergang des europäischen Nationalismus hat Europa eine beispiellose Friedenszeit erlebt. Wegen dieses Zusammenhangs heben Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel die Symbole der europäischen Einheit hervor, insbesondere den Euro, denn sie sehen in ihnen einen Schutz gegen das Wiederaufkleben kriegerischer Auseinandersetzungen. Doch die Auffassung, dass der Niedergang des Nationalismus einen Niedergang der Gewalt nach sich gezogen habe, verkennt die Kausalität, denn die Ablehnung der Gewalt hat umgekehrt den Niedergang des Nationalismus bewirkt. Noch wichtiger ist, dass der Abscheu vor Gewalt die Gefahr der Gewaltanwendung drastisch verringert hat. Die Einstellung zur Gewalt hat sich derart radikal geändert, dass ein Krieg innerhalb Europas heute undenkbar ist.8

Die These vom Ende des europäischen Nationalismus kann man naturgemäß mit zahlreichen stark kontrastiv positionierten Ansichten und Interpretationen konfrontieren. Bereits vor 25 Jahren diagnostizierte Christian Stockmann die voranschreitende Entwicklung der nationalistischen Bewegungen in Europa (insbesondere in Deutschland) und verwies dabei u. a. darauf, dass für die an6 Kipping, Katja: Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt/M.: Westend Verlag 2016, S. 130. In den Darstellungsschemata, die sich auf die heutige Migration beziehen, fehlt es nicht an häufiger Verwendung der lateinischen Bezeichnung für die menschliche Gattung. Dies ist auch für die kulturpessimistische Position von Christian Stockmann signifikant: »Der Computer besitzende Homo Sapiens, mit den hypergalaktischen Möglichkeiten, in wenigen Stunden um die ganze Erde zu reisen oder zum Mond zu fliegen, ist nur einen Kieselsteinwurf vom dunklen Mittelalter und der Hexenverbrennung entfernt« (Stockmann, Christian: Sozialdiagnose Deutschland – doch nur ein Rassismusmärchen? In: Brodorotti, Helene v./Stockmann, Christian (Hg.): Rassismus und deutsche Asylpolitik – Deutschland wohin?! Gesellschaftliche Kräfte gegen ethnische Randgruppen und Abbau von (Bürger-)Rechten. Frankfurt/M.: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1995, S. 229–241, hier S. 235). 7 Eine solche Diagnose wurde, was besonders auffällig ist, ausgerechnet in der Anfangsphase der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 gestellt. Vgl. Collier, Exodus, S. 25. 8 Ebd.

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gespannte sozialpolitische Lage das permanente Wegsehen und die fehlende konsequente Entnazifizierung sowie der kollektive Gedächtnisschwund verantwortlich seien. »Der braune Dämon«, so der Autor der »Sozialdiagnose«, »war nicht verscheucht, der Alptraum geht weiter. […] Wir geben den ethnischen Randgruppen selbst die Schuld dafür, daß sie diskriminiert und aus dem Land geekelt werden (›Sie sind doch selbst schuld, wir haben sie nicht eingeladen‹)«9. Dies veranlasst Stockmann zu einer bitteren Schlussfolgerung, dass es trotz der Befreiung Deutschlands vom Dritten-Reich nicht zum endgültigen Untergang des Bösen kam und die »Anfälligkeit für Ethnozentrismus und Rassismus«10 immer noch gegeben ist. Die mehr oder weniger unterschwellig spürbare Präsenz von rassistischen und ethnozentrischen Tendenzen ist nicht der einzige Umstand, der sich unmittelbar auf die Wahrnehmung der Fremdheit sowie den Verlauf der Integration der Migranten und deren Akkulturation auswirkt. Diana Carolina Tobo geht in ihren Überlegungen davon aus, dass zum grundsätzlichen Stolperstein auf dem Weg der politischen Partizipation von Migranten die Erblast eines aus einer »völkischen Ideologie« stammenden und lange nachwirkenden Konzeptes eines homogenen Staatsvolkes gehört.11 Dieses Konzept, so die Autorin einer der politischen Teilhabe der Neuankömmlinge gewidmeten Publikation, wird vorwiegend durch solche Elemente wie territorialer Geburtsort (»Vaterland«) oder Sprache gebildet. Beide Phänomene werden gleichzeitig als Umstände aufgefasst, die seit langem auf das Selbstverständnis der Deutschen als Nation einwirken und mit Abwehrhaltungen gegenüber den Immigranten einhergehen, »da sie grundsätzlich als Bedrohung dieser nationalen Homogenität angesehen werden.«12 Die Richtlinien und Wahrnehmungsmuster in Bezug auf Asylsuchende und Vertreter der Fremdheit im weiteren Sinne haben sich in den letzten Jahren weitgehend verändert. Nach Bade sind die Zeiten der sozialtherapeutischen Integrationsförderung durch Maßnahmen und von ›kultureller Toleranz‹ als Zugeständnis von ›Einheimischen‹ gegenüber aus anderen Kulturen stammenden ›Fremden‹ schon längst vorbei.13 Die kulturelle Toleranz gegenüber den Fremden in der Einwanderungsgesellschaft, die nur als Akzeptanz kultureller Vielfalt auf Augenhöhe funktionieren kann,14 erscheint aus der heutigen Perspektive als ein 9 Stockmann, Sozialdiagnose Deutschland – doch nur ein Rassismusmärchen?, S. 231. 10 Ebd., S. 239. 11 Vgl. Tobo, Diana Carolina: Alte Stolpersteine bei der politischen Teilhabe der Neuankömmlinge. In: Bitzegeio, Ursula/Decker, Frank/Fischer, Sandra (Hg.): Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz 2018, S. 345–358, hier S. 347. 12 Ebd. 13 Vgl. Bade, Klaus J.: Historische Migrationsforschung. Eine autobiografische Perspektive. Köln: GESIS –Leibniz Institute for the Social Sciences 2018, S. 335. 14 Vgl. ebd.

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anachronistisches, wenn nicht gar undurchsetzbares Modell. Die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft provoziert auch Collier zu der Feststellung, dass moralische Einstellungen zur Einwanderung auf verwirrende Weise mit Ansichten zu Armut, Nationalismus und Rassismus verknüpft werden.15 Folglich ist die aktuelle Haltung zur Immigration immer häufiger durch eine Schuldreaktion auf verschiedene Verfehlungen geprägt, die sich in der Vergangenheit ereigneten.16 Die seit 2015 die Weltöffentlichkeit mit unterschiedlicher Intensität beschäftigende Flüchtlingskrise zieht weitgehende kulturelle Konsequenzen nach sich und wirft kontinuierlich neue Fragen auf. Heftig diskutiert wird der Umstand der internen Sicherheit der EU-Länder, immer wieder ist die Argumentation zu vernehmen, dass sich eine halbe Milliarde europäischer Bürger auf Dauer nicht mit dem Kontrollverlust an den Grenzen und einer fehlkonzipierten Ausländerpolitik abfinden wird.17 Auffällig sind des Weiteren die Stimmen und Kommentare, die sich einer aggressiven Rhetorik bedienen, beziehungsweise die neue sozialpolitische Lage in Deutschland ironisch, wenn nicht gar sarkastisch, darstellen: »Eine Bundesregierung, die allein im Jahr 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge aus den dschihadistisch verseuchten Kriegsgebieten Syriens, des Irak und Libyens weitgehend unkontrolliert einreisen läßt und aufnimmt«, so HansPeter Schwarz, »bekundet damit ein starkes Gottvertrauen. Kritischere Beobachter seufzten schon damals: eine solche Regierung handelt wahnsinnig.«18

Die Wahrnehmung von Fremden unter dem Einfluss von Emotionalisierungsschemata Der sich seit gut vier Jahren intensiv entwickelnde Diskurs, in dessen Zentrum die Migrationspolitik und die Flüchtlingskrise stehen, basiert – und dies ist wahrlich keine bahnbrechende Entdeckung – nicht ausschließlich auf sachlichen Gutachten, Prognosen und Kommentaren. Die Flüchtlingskrise generiert nämlich von Anfang an eine heftige Emotionalisierung. Tonangebend sind folglich Darstellungsstrategien und -schemata, in denen affektive Komponenten in den Vordergrund rücken, welche die kollektive Wahrnehmung unmittelbar beeinflussen.

15 Vgl. Collier, Exodus, S. 21. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheit. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017, S. 14. 18 Ebd., S. 180.

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Um die weit verzweigten Kontexte besser zu verstehen, erscheint zunächst die Frage relevant, wie man Emotionen überhaupt verstehen und definieren kann, welche Funktion ihnen gewöhnlich zugeschrieben wird und welche Rolle sie im sozialpolitischen Gefüge spielen. Nach Thomas Hülshoff – und in dieser Definition spielt vor allem die psychosomatische Dimension des Phänomens eine bedeutende Rolle – sind Emotionen körperlich-seelische Reaktionen, »durch die ein Umweltereignis aufgenommen, verarbeitet, klassifiziert und interpretiert wird, wobei eine Bewertung stattfindet.«19 Wenn man die Eigenart der emotional fundierten Wahrnehmung und Bewertung in breiterer Perspektive betrachtet, kommt man rasch zu der Überzeugung, dass Emotionen entsprechend vermittelt und transferiert werden müssen. Gewöhnlich sind sie auch entsprechend medial verankert, erscheinen mittels Bildmaterial, beziehungsweise (simultan) auf der rhetorischen Ebene. Die Verbalisierung der affektiven Inhalte und Zusammenhänge ist aus der Perspektive des Erscheinens von Emotionalisierungsschemata besonders wichtig, was zur Folge hat, dass eine separate Kategorie entsteht – nämlich Emotionswörter –, die das grundsätzliche Vokabular von Menschen bilden, die schließlich nahezu ohne Ausnahmen in ihrem Alltag Enttäuschung, Freude, Furcht und andere Emotionen erleben.20 Die verbale Sphäre ist auch insofern von Belang, als das darin enthaltene Wort zugleich die Funktion eines Verhaltenssubstituts erfüllt, weswegen sprachliches Verhalten den gleichen Bedingungen wie allgemein praktisches Verhalten unterliegt und sich in Konditionierungsprozessen aufbaut.21 Gerade mit dieser Ebene, was ergänzend festgestellt werden kann, beschäftigt sich eine philosophische Untersuchung der Emotionen, die vor allem »Erörterung und Erklärung jener Emotionsbegriffe bedeutet, die sich im alltäglichen Umgang mit unserem Emotionsvokabular manifestieren.«22 Emotionen und die unter dem Einfluss von sozial-politischen Impulsen entstehenden Darstellungsschemata tragen des Weiteren zur Bildung kollektiver Identität und zur Integration der Gesellschaft bei. Vor diesem Horizont wundert nicht die Annahme von Rainer Schützeichel, der konstatiert: »Viele Indizien deuten darauf hin, dass die Vergesellschaftung der Individuen immer mehr und immer stärker über Emotionen hergestellt wird.«23 Emotionale Wahrnehmungen 19 Hülshoff, Thomas: Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2006, S. 14. 20 Vgl. Müller, Winfried Anselm/Reisenzein, Rainer: Emotionen – Natur und Funktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 9. 21 Vgl. Bottenberg, Ernst Heinrich: Emotionspsychologie. Ein Beitrag zur empirischen Dimensionierung emotionaler Vorgänge. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1972, S. 151. 22 Müller/Reisenzein, Emotionen – Natur und Funktion, S. 10. 23 Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie – eine Einleitung. In: Schützeichel, Rainer (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt/M./New York: Campus 2006, S. 7–21, hier S. 7.

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verzahnen sich zweifelsohne auch mit politischen Prozessen und Hintergründen sowie mit historischen Kontexten. Schwarz nennt eine ganze Reihe von Umständen und Ereignissen, welche die heutige Wahrnehmung von Fremdheit unmittelbar beeinflussen, wobei den Emotionen eine besondere Rolle zugeschrieben wird: Europaweit wächst die Erkenntnis, in einer bedrohlichen Welt zu leben, in der immer öfter unerwartet Gefahren auftauchen, auf die man schlecht vorbereitet ist: Schock der Finanzkrise vom Früherbst 2008 mit den bis heute nicht bewältigten Auswirkungen, Schock der Eurokrise vom Frühjahr 2010, die im Sommer 2015 mühsam vertagt, aber noch nicht bewältigt wurde, Schock der Ukrainekrise von 2013, danach im Spätsommer und Herbst 2015 gleich zwei Schocks kurz hintereinander: der »Massenzustrom« von Flüchtlingen über die offenen Außengrenzen der EU und die dschihadistischen Mordanschläge (die Massaker vom 23. November 2015 in Paris, am 22. März 2016 in Brüssel, am 14. Juli in Nizza und die ferngesteuerten Attacken in Deutschland.)24

Die sozial verankerte Emotionalisierung, die sich häufig in der Steigerung der kollektiven Angstpotenziale manifestiert, wird des Weiteren durch soziale Ausgrenzung, ökologische Katastrophen und, wie es Kipping nennt, »postdemokratische Verhärtung der Institutionen«25 beeinflusst. Sie alle machen die aufklärerischen Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit unrealistisch. Düster gestalten sich in diesem Zusammenhang ebenso die Zukunftsprognosen, die im Grunde noch pessimistischer und bedrohlicher als die heutige Wirklichkeit aussehen. Dies wirkt sich auf das Entstehen einer »neuen Angst« aus, die nicht als etwas Substantielles und Messbares, sondern »vor allem als etwas Atmosphärisches, als eine Stimmung, eine bange Beklommenheit deherkommt.«26 Im emotionalen Gefüge spielt die Angst eine Schlüsselrolle. Weil sie eine ausgesprochen stark entwickelte Warn- und Schutzfunktion hat, ermöglicht sie dem Individuum, rechtzeitig die Gefahren zu erkennen und ihnen auszuweichen. Von daher ist sie von überlebenswichtiger Bedeutung, konnte sich evolutionär behaupten und wird nach wie vor als ein bequemes und politisch wirksames Instrument genutzt.27 Dies hat zur Folge, dass eine neue Gesellschaftsform entsteht, in der Abstiegs- und Existenzängste allgegenwärtig sind, was einen fruchtbaren Boden für rassistische Propaganda und Fremdenfeindlichkeit vorbereitet. Wenn man nach Kipping annimmt, dass der von Neoliberalismus angeheizte Leistungsdruck und die Zunahme von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einander begünstigen, erscheinen auch Rassismus und Chauvi24 25 26 27

Schwarz, Hans-Peter: Die neue Völkerwanderung nach Europa, S. 189. Kipping, Wer flüchtet schon freiwillig, S. 138. Ebd. Vgl. Hülshoff, Emotionen, S. 16.

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nismus als eine besonders stark ausgeprägte Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit,28 deren Wurzeln in sozialen Angstpotenzialen zu suchen sind. Bei der Betrachtung der affektiven Komponenten in der sozial-politischen Wirklichkeit und bei der Entstehung von Emotionalisierungsschemata kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gefühle, die sowohl auf politischen Erfahrungen beruhen, als auch aus der persönlichen Sphäre erwachsen, häufig in den öffentlichen Raum treten und erst dadurch in einem größeren Kontext sichtbar und kommunizierbar werden.29 Die »Politisierung« von Gefühlen, die Frank Nullmeier in seinen Betrachtungen erwähnt, und »die Entstehung politikrelevanter Gefühlslagen aus der Politikerfahrung heraus [sind] entsprechend von dem Öffentlichwerden der politischen Sichtbarkeit dieser Emotionen zu unterscheiden.«30 Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise muss man aber auch darauf aufmerksam machen, dass die kollektiv geteilten Emotionen und Affekte erst durch entsprechende Emotionalisierungsschemata vermittelt und verstärkt werden, die gleichzeitig unmittelbar aus dem Gefühlsvokabular schöpfen. Nicht selten positionieren sie sich auf der rhetorischen Skala als äußerst offensiv und radikal. Dies lässt sich u. a. bei der Betrachtung der Anfangsjahre der Flüchtlingskrise (2014–2015) feststellen, was von Umfragen zu dem sog. »Extremismus der Mitte« belegt wurde.31 Als Beispiel kann die Reaktion auf Meldungen über den Brandanschlag auf ein noch unbewohntes Asylbewerberheim in Tröglitz (Sachsen-Anhalt) Anfang April 2015 dienen und die in sozialen Medien (auf Facebook) erschienenen unflätigen Beschimpfungen, wie »Scheiß Asylbetrüger« oder »Dreckspack«.32 Zu den häufig genutzten und sich mit großer Regelmäßigkeit wiederholenden Schemata gehören ebenso solche Bezeichnungen und lexikalische Konstruktionen wie »ausländische Sozialschmarotzer«, »Armutswanderer« oder »Wirtschaftsflüchtlinge«.33 Die Aufmerksamkeit der letzten soll angeblich nahezu ausschließlich auf das vermeintliche soziale Paradies in der Mitte Europas ge28 Vgl. Kipping, Wer flüchtet schon freiwillig, S. 139. 29 Vgl. Nullmeier, Frank: Politik und Emotion. In: Schützeichel, Rainer (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt/M./New York: Campus 2006, S. 84–103, hier S. 90. 30 Ebd. 31 Vgl. Bade, Klaus J.: Von Unworten zu Untaten: Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ›Gastarbeiterfrage‹ und ›Flüchtlingskrise‹. Köln: GESIS –Leibniz Institute for the Social Sciences 2018, S. 345. 32 Einen besonderen Grund zur Beunruhigung liefert der Umstand, dass der hasserfüllte Eintrag eines der Internetuser: »Bedauern, dass zum Zeitpunkt des Feuers noch keine Flüchtlinge im Heim waren«, auf Anhieb eine dreistellige Zahl von ›Likes‹ erhielt (vgl. ebd.). 33 Ebd., S. 346.

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richtet werden, sie werden demnächst tendenziell als jene dargestellt, die sich allzu gern in die »sozialen Hängematten« legen bzw. sich im deutschen »Sozialamt der Welt«, wie es Horst Seehofer (CSU) formulierte, »als Faultiere in die üppigen Bäume des Wohlfahrtsstaates hängen und unverdient deren Früchte verzehren, die doch nur denen zustünden, die sich diese Früchte durch ihre Leistungen verdient hätten.«34 Was bei der Analyse der Emotionalisierungsschemata verwundern kann, ist die Tatsache, dass negativ belastete Bilder der Migranten und klischeehafte Darstellungen der Geflüchteten nicht nur in europäischen Zielländern, sondern auch in Herkunftsländern in Afrika entstehen. Als Exemplifizierung dieser Erscheinung kann die Aussage des Präsidenten von Senegal, Abdou Diouf, dienen, der in einer affektgeladenen Mahnung die Aufmerksamkeit der westlichen Welt auf die akute Gefahr der massenhaften und uneingeschränkten Migration lenkte. Seiner Meinung nach läge es im Interesse Europas, Afrika wirtschaftlich zu unterstützen, denn sonst wird der Kontinent »von Horden wie im Mittelalter überrollt«35 werden. In Europa, das in der kollektiven Imagination der vor Krieg und Misswirtschaft Fliehenden nach wie vor als eine sichere Enklave des Wohlstands gilt, verläuft die auf Fremdbildern beruhende Emotionalisierung immer häufiger unter Anwendung stark exkludierender Schemata. Die Migranten, denen einerseits Arbeit und Notwendiges, andererseits die Möglichkeit einer effizienten Integration verweigert werden, werden gewöhnlich als soziale und kulturelle Belastung gesehen und als moderne »Aussätzige« abgestempelt. Auf der Basis der soziokulturellen Stigmatisierung entwickeln sich in der Folge rassistische Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata.36 Anderl und Usaty charakterisieren 34 Ebd. Ethnozentrische und fremdenfeindliche Positionen sind in diesem Zusammenhang insofern gefährlich, als sie häufig mehr oder weniger direkt die unmittelbare Gewaltanwendung einleiten: »Ende Oktober 2015 fanden mehrere gewalttätige Übergriffe auf Geflüchtete statt. Gruppen von Neonazis bewaffneten sich in Magdeburg und Wismar mit Baseballschlägern und gingen damit auf Menschen los, die sie als Nicht-Deutsche einordneten. Mindestens fünfzig Schläger waren daran beteiligt. Es kam aber lediglich zu zwei Festnahmen« (Kipping, Wer flüchtet schon freiwillig, S. 146). 35 Zit. nach: Werner, Jan: Die Invasion der Armen. Asylanten und illegale Einwanderer. Mainz: V. Hase & Koehler Verlag 1992, S. 225. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen empfiehlt er als ein wirksames und effizientes Gegenmittel wirtschaftsbezogene Handlungen zu unternehmen, um die Lebensverhältnisse der Armen in Afrika dermaßen zu verbessern, dass die potenziellen Asylbewerber in ihren Heimatländern bleiben und folglich für Europa keine Bedrohung mehr bilden (vgl. ebd.). 36 Nicht anders sieht die Lage in Polen aus, wo am Anfang der Flüchtlingskrise zahlreiche fremdenfeindliche, im Grunde antiarabische Manifestationen stattgefunden haben. Als Beispiel kann die Protestaktion vom 12. Oktober 2015 »Polacy przeciwko imigrantom« [Polen gegen Migranten] genannt werden. An dem in Warschau organisierten Marsch nahmen vor allem die Anhänger der nationalen Bewegung und Fußballfans teil, die solchen Parolen Ausdruck gaben, wie »Polska dla Polaków« [Polen den Polen], »Stop islamizacji Polski«

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diesen Prozess, indem sie den einzelnen Fremden als Pars pro toto für die ganze fremde Gemeinschaft stehend darstellen: Seine Schande ist ein Gestank, und niemand will und kann ihn noch riechen. Er wird unterscheidbar, denn das ist die ursprünglichste Bedeutung von Diskriminieren. Im Boulevard wird davon voll wohligem Schaudern berichtet. Gegenüber den Ausgestoßenen erstirbt das Mitgefühl. Der Flüchtling wird zum Bösen; zur Gefahr, zur Flut.37

Die Entstehung von Fremdbildern, die sich naturgemäß aus affektiven Darstellungen und Emotionalisierungsschemata speisen, hat einen politischen Hintergrund und findet in der medialen Vermittlung eine bedeutende Verstärkung. Erneut kann man hier auf die Diktion und Handlungsweise des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer hinweisen. Schon im Oktober 2010 empfahl er explizit, die Grenzen vor Türken und Arabern zu schließen; anschließend votierte er entschieden gegen eine Zuwanderung »aus fremden Kulturkreisen«. In seiner Rede zum politischen Aschermittwoch am 9. März 2011, also noch lange vor dem tatsächlichen Ausbruch der Flüchtlingskrise, plädierte er sogar unter tosendem Applaus für einen Kampf »bis zur letzten Patrone« gegen kulturfremde Einwanderung.38 Die politisch fundierte Rhetorik wirkt sich naturgemäß auf die kollektive Wahrnehmung der Fremdheit sowie auf die Entwicklung einer einzigartigen, gesellschaftlich geteilten Metaphorik und Idiomatik aus. Dies hat zur Folge, dass sich als Lieblingsvokabular solche Begriffe wie »Flüchtlinge«, »Geflüchtete«, »Asylsuchende«, aber auch »Asylbetrüger«, »Armutswanderer«, »Schlepper« und »Schlepperbanden« etablieren. Die letztgenannten erfreuten sich einer besonderen Popularität u. a. in den Spalten der »Kronen Zeitung« in Österreich, wo schon in der Zeitperiode zwischen den Jahren 2000 und 2013 zahlreiche stark affektgeladene Schlagzeilen die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zogen: »Schlepper-Boss verdiente Millionen« (4. Mai 2000), »Flucht nach Maß in den Westen: Die Tricks der Schlepperbanden« (17. Februar 2002), »Schlepperboss

[Stopp der Islamisierung Polens], »Islam to s´mierc´« [Islam ist der Tod], »Uchodz´cy muzułman´scy to kon´ trojan´ski dla Europy« [Muslimische Flüchtlinge sind ein trojanisches Pferd für Europa]. Einer der Teilnehmer, Robert Winnicki, erklärte sogar, dass der Betrag, den Polen von der Europäischen Kommission empfangen sollte, nicht weniger und nicht mehr sondern Null betragen solle, denn Polen wolle keine Verantwortung für die Fehler der Migrationspolitik westlicher Länder tragen (vgl. Pasamonik, Barbara: »Malowanie strasznego diabła« – metamorfoza obrazu uchodz´cy w Polsce. In: Pasamonik, Barbara/MarkowskaManista, Urszula (Hg.): Kryzys migracyjny. Perspektywa społeczno-kulturowa. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 15–45, hier S. 24). 37 Anderl, Gabriele/Usaty, Simon: Vorwort. In: Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 10f. 38 Vgl. Bade, Historische Migrationsforschung, S. 336.

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tarnte sich als Wirt« (28. Juni 2011) oder »Schlepperbanden bringen Kinder in Heiligen Krieg« (27. April 2014).39 In Bezug auf die Flüchtlingskrise wird darüber hinaus häufig das europäische Drogenproblem thematisiert, das insbesondere afrikanische MigrantInnen negativ belastet, vor allem angesichts des Umstands, dass »das florierende Drogengeschäft in Europa Anfang der 1990er Jahre junge AfrikanerInnen für die Tätigkeit als kleine Straßendealer entdeckte«40. Und obwohl tatsächlich nur ein unbedeutender Anteil aller AfrikanerInnen von den großen Dealern für dieses Geschäft angeheuert wurde, werden sie nach wie vor vielfach generell, ganz besonders in Wien, als Drogenhändler abgestempelt.41 Die Flüchtlingsproblematik und -rhetorik sind ohne Zweifel auch dann mit nationalen bzw. rassistischen Hintergründen eng verknüpft, wenn die Zugehörigkeit zu einer Ethnie mit anscheinend neutralen Merkmalen wie Vermögen, Religion und Kultur verknüpft wird. Von daher kann jeder Versuch, so Collier, »die Einwanderung aufgrund dieser Kriterien zu beschränken, als trojanisches Pferd des Rassismus betrachtet werden. Aus diesem Grund ist eine offene Debatte über die Einwanderung immer noch unmöglich.«42 Angesichts der oben erwähnten Emotionsbegriffe und Darstellungsschemata, die sich mit dem Prozess der Sozialisation und mit sozialer Praxis selbst eng verzahnen, kann man in Anlehnung an Winfried Anselm Müller und Rainer Reisenzein noch ergänzend darauf aufmerksam machen, »dass Interessen, Gewohnheiten und sonstige im Leben wurzelnde Bezüge uns dazu führen, die Realität mit Hilfe von komplexen begrifflichen Konturen zu artikulieren.«43 Die rhetorische Verankerung der Begriffe ergibt sich dementsprechend häufig – auch wenn es selbstverständlich erscheinen mag – aus keiner einfachen Kategorisierung, die man aufgrund eines alltäglichen Vorurteils hätte erwarten können. Äußerst komplex und vieldimensional erscheint nicht nur die Migrationsproblematik selbst, sondern auch die mit ihr verbundene rhetorische Ebene. Außerdem, wie es Collier etwas zugespitzt formuliert: »Die Irrungen und Wirrungen der Migrationspolitik sind auf eine giftige Mischung aus aufgestachelten Gefühlen und verbreitetem Unwissen zurückzuführen.«44 Sie sind aber auch als 39 Vgl. Hausjell, Fritz: Kritik und Plädoyer. Wie österreichische Medien gegenwärtig über »Schlepperei« und »Fluchthilfe« berichten – und wie sie berichten sollten. In: Anderl, Gabriele/ Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 534–540, hier S. 535. 40 Bulayumi, Espérance-François: Lampedusa – von der Globalisierung der Gleichgültigkeit. In: Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 437–448, hier S. 440. 41 Vgl. ebd. 42 Collier, Exodus, S. 27. 43 Müller/Reisenzein, Emotionen – Natur und Funktion, S. 10. 44 Collier, Exodus, S. 18.

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Folge der soziotechnischen und rhetorischen Strategien zu betrachten, deren Effizienz größtenteils von der Durchschlagskraft der angewandten Rhetorik abhängig ist, die gezielt mit Emotionen und Affekten operiert.

Literatur Anderl, Gabriele/Usaty, Simon: Vorwort. In: Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 10f. Bade, Klaus J.: Historische Migrationsforschung. Eine autobiografische Perspektive. Köln: GESIS – Leibniz Institute for the Social Sciences 2018. Bade, Klaus J.: Von Unworten zu Untaten: Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ›Gastarbeiterfrage‹ und ›Flüchtlingskrise‹. Köln: GESIS – Leibniz Institute for the Social Sciences 2018. Bade, Klaus J.: Einführung: Zuwanderung und Eingliederung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. In: Bade, Klaus J. (Hg.): Fremde im Land: Zuwanderung und Eingliederung im Raum Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1997, S. 9–44. Betts, Alexander/Collier, Paul: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist. Übers. von H. Dierlamm und N. Juraschitz. München: Siedler Verlag 2017. Bottenberg, Ernst Heinrich: Emotionspsychologie. Ein Beitrag zur empirischen Dimensionierung emotionaler Vorgänge. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1972. Bulayumi, Espérance-François: Lampedusa – von der Globalisierung der Gleichgültigkeit. In: Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 437–448. Collier, Paul: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Übers. von K.-D. Schmidt. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2015. Hausjell, Fritz: Kritik und Plädoyer. Wie österreichische Medien gegenwärtig über »Schlepperei« und »Fluchthilfe« berichten – und wie sie berichten sollten. In: Anderl, Gabriele/Usaty, Simon (Hg.): Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Wien: Mandelbaum Verlag 2016, S. 534–540. Hülshoff, Thomas: Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag 2006. Kipping, Katja: Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt/M.: Westend Verlag 2016. Müller, Winfried Anselm/Reisenzein, Rainer: Emotionen – Natur und Funktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. Nullmeier, Frank: Politik und Emotion. In: Schützeichel, Rainer (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt/M./New York: Campus 2006, S. 84–103. Pasamonik, Barbara: »Malowanie strasznego diabła« – metamorfoza obrazu uchodz´cy w Polsce. In: Pasamonik, Barbara/Markowska-Manista, Urszula (Hg.): Kryzys migracyjny.

Nationalistisch fundierte Emotionalisierungsschemata zur Zeit der Flüchtlingskrise

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Perspektywa społeczno-kulturowa. Bd. 1. Warszawa: Wydawnictwo Akademii Pedagogiki Specjalnej 2017, S. 15–45. Reinke de Buitrago, Sybille: Europäische Einwanderungsdiskurse zwischen Solidarität und integrationspolitischer Überdehnung. In: Bitzegeio, Ursula/Decker, Frank/Fischer, Sandra (Hg.): Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Dietz Verlag 2018, S. 67–88. Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie – eine Einleitung. In: Schützeichel, Rainer (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze. Frankfurt/M./New York: Campus 2006, S. 7–21. Schwarz, Hans-Peter: Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheit. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017. Stockmann, Christian: Sozialdiagnose Deutschland – doch nur ein Rassismusmärchen? In: Brodorotti, Helene v./Stockmann, Christian (Hg.): Rassismus und deutsche Asylpolitik – Deutschland wohin?! Gesellschaftliche Kräfte gegen ethnische Randgruppen und Abbau von (Bürger-)Rechten. Frankfurt/M.: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1995, S. 229–241. Tobo, Diana Carolina: Alte Stolpersteine bei der politischen Teilhabe der Neuankömmlinge. In: Bitzegeio, Ursula/Decker, Frank/Fischer, Sandra (Hg.): Flucht, Transit, Asyl. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein europäisches Versprechen. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz 2018, S. 345–358. Werner, Jan: Die Invasion der Armen. Asylanten und illegale Einwanderer. Mainz: V. Hase & Koehler Verlag 1992.

Literaturdiskurs I: Deutschland

Andrea Rudolph (Opole)

Zukunftsorientierte Identitätskonstruktionen in Abgrenzung zu Milieu und Rasse. Ferdinand Wilhelm Bronners Dramenhelden und Nietzsches Lebenskunstphilosophie

I Von der epochalen historischen Alternative »Sozioökonomische wie kulturellreligiöse Akkulturation versus jüdische Eigenart«, die das Schicksal von Juden insbesondere im deutschsprachigen Raum prägte,1 war Ferdinand Wilhelm Bronner, der Vater von Arnold Bronnen, vor dem Hintergrund eines sich durch alle gesellschaftlichen Milieus nach unten durchpressenden Antisemitismus unmittelbar betroffen. Dieser Konflikt prägte die Existierkunst seiner Dramenhelden, aber auch seine eigene. Mit seinem Dramenzyklus Jahrhundertwende, dieser umfasste die drei Werke Familie Wawroch (1899), Schmelz, der Nibelunge (1905) und Neues Leben (1902), leistete Bronner tatsächlich einen Beitrag zur Jahrhundertwende-Literatur.2 Bronners auf Dramenfiguren angewandte Lebenskunst Nietzsches strebte in Jahrhundertwende eine Überwindung des naturalistischen Gesetzesbegriffs an: »im betonten Gegensatz zu den zeitläufigen leidenschaftlichen Erörterungen über Rasse, Bodenständigkeit und dgl.«3 Seine 1 Jüdische Geschichte vollzog sich im deutschen Sprach- und Kulturraum als Aufwärtsassimilation und Teil einer allgemeinen Bürgertumsgeschichte. Dass Juden sich im deutschen Sprach- und Kulturraum in einem hohen Maß im Bürgertum etablieren konnten, indem sie – unter Aufgabe von Traditionen – bürgerliche Normen, Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen, Lebensstilkonzepte und habituelle Praktiken übernahmen, geht ursächlich auf den stärkeren Modernisierungsdruck zurück, den deutsche Regierungen mit etatistischen Erziehungskonzepten ausübten. Zugewanderte näherten sich spätestens in der zweiten Generation den verschiedenen Referenzgruppen der Mehrheitsgesellschaft an. Im Unterschied hierzu blieb die staatlicherseits ebenfalls erstrebte Integration in Frankreich und in den Niederlanden dem freien Spiel der Kräfte überlassen, was den Assimilatinsdruck minderte. Siehe: Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 15. 2 In seiner Autobiographie schrieb Bronner seinem Dramenzyklus das Ziel zu, »[…] ein möglichst getreues dramatisches Gemälde der Zeit sine ira et studio zu entwerfen« (Bronner, Ferdinand Wilhelm: Nichts als die Wahrheit! Blätter der Erinnerung. o. J., Marbacher Literaturarchiv, ungedrucktes Manuskript, S. 476). 3 Zit. aus einer Äußerung Bronners über sein Drama Neues Leben (ebd., S. 362).

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Familiendramen lassen sich dabei auch als diskrete Selbstinszenierungen und Masken eines Schriftstellers rezipieren, der nicht durch Herkunft festgehalten werden will. Der 1867 zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie geborene jüdische Junge Eliezer Feiwel Bronner, der als Sohn eines Rabbiners direkt an der Grenze zwischen Österreichisch- und Preußisch-Schlesien im Schtetl von Auschwitz aufgewachsen war, wurde während seiner Wiener Studienjahre, er studierte Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin, zum Arier Ferdinand Wilhelm Bronner (Pseud. Franz Adamus). Bronner trat 1886 aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft aus, der seine Eltern Etiel und Hinde Ester angehörten, und konvertierte 1887 zum evangelischen Glauben.4 Dass Bronner zum protestantischen und nicht zum katholischen Glauben übertrat, mag mit der Attraktivität des politischen Programms des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker zusammenhängen. Wiewohl Antisemit, argumentierte Stoecker frei von völkischem oder rassischem Eifertum. War ein Jude konvertiert, war er »vollwertiger« Staatsbürger.5 Bronner, der in Wien als bekennender Deutsch-Österreicher mit Deutschnationalen sympathisiert hatte, unterrichtete als Dr. Ferdinand Bronner ab 1896 in Jägerndorf (heute Krnov, Tschechische Republik). Aus seiner Ehe mit der blonden und blauäugigen Martha Schelle aus Wolgast gingen zwei Kinder hervor. 1900 folgte ein erneuter Umzug der Familie nach Wien, wo er als Gymnasialprofessor das Lehramt in deutscher und klassischer Philologie und Französisch inne hatte. Er verstarb 1948 in Bad Ischl. Sein Sohn Arnolt Bronnen (1895–1959) hatte 1935 öffentlich energisch bestritten, sich jemals als Jude bezeichnet zu haben und bestand zudem darauf, dass sein Vater Ferdinand Wilhelm Bronner ein Findelkind und auch er keineswegs jüdischer Abstammung sei, sondern Resultat eines vorehelichen Ehebruchs seiner Mutter mit einem Pfarrer.6 Bronners Dramen, sie behandeln Streiks im Bergbau, deutschnationale Zwänge gegen Juden, aber auch gegen Slawen, die Suche nach Heimat und Identität, Missstände im Theaterleben und die verzweifelte Lage schlechtbezahlter Lehrerschaft, wurden trotz der editorischen Bemühungen des österrei-

4 Siehe diesbezüglich das Verzeichnis von: Staudacher, Anna L.: »… meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben«. 18 000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868–1914: Namen – Quellen – Daten. Frankfurt/M.: Peter Lang 2009, S. 83. 5 Siehe diese These bei: Krappmann, Jörg: Allerhand Übergänge: Interkulturelle Analysen der regionalen Literatur in Böhmen und Mähren sowie der deutschen Literatur in Prag (1890– 1918). Berlin: Walter de Gruyter 2013, S. 207. 6 Scheit, Gerhard: Väter und Söhne. Ferdinand Bronner und Arnolt Bronnen. In: Fritsch, Gerhard/Henz, Rudolf/Kruntorad, Paul/Gauß, Karl Markus (Hg.): Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift, Salzburg: Otto Müller 1995, S. 41–49. Siehe auch die eidesstattliche Erklärung vom 18. November 1930, die Arnolt Bronnen von seiner Mutter Martha Bronner erbat. Sie sollte Bronnens Ariertum belegen, abgedruckt in: Aspetsberger, Friedbert: Bronnen: Biographie. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995, S. 34.

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chischen Literaturwissenschaftlers Friedbert Aspetsberger7 eher spärlich betrachtet.8 Stärkere Beachtung fanden Bronners unveröffentlichte Autobiographie Nur Wahrheit! Blätter der Erinnerung (1941–1947) und Zeugnisse von Verwandten, die nachzuweisen suchten, dass Bronner auch dort eine schöngezeichnete Wahrheit bot. Der Geschichte des Verschweigens jüdischer Herkunft bei Großvater und Vater spürte Barbara Bronnen zuletzt in ihrem Roman Meine Väter, Insel Verlag (Berlin 2012), nach.

II Es empfiehlt sich, die wegen ihrer Spektakularität in der Öffentlichkeit eher wahrgenommenen familialen Aussagen und Vaterschaftsprozesse auf Bronners kaum bekannte Dramen zu beziehen. An diesen kann der Zusammenfall von individuell biografischer Geschichte, Zeitgeschichte und dramenästhetischer Entwicklungsgeschichte nachgezeichnet werden. Mein Beitrag unternimmt es zu zeigen, dass das Werk des Eliezer Feiwel Bronner alias Ferdinand Wilhelm Bronner (Pseud. Franz Adamus) auf diesen Schwerpunkt ausgerichtet war – auf das Einspielen einer von Herkunft befreiten Identität. Mein Beitrag zeichnet nach, wie junge Dramenhelden unter je verschiedenen Lebensbedingungen in Interaktionen zumeist mit Väterfiguren Konflikte austragen zwischen ihrer durch Geburt erworbenen Zugehörigkeit und ihrem Anliegen, Selbstfreiheit außerhalb von Herkunft zu finden. Die auf Dramenhelden angewandte Lebenskunstphilosophie Nietzsches macht diese eine zeitlang über Verfangenheiten in Herkunft erhaben. Mein Beitrag erörtert die immense Bedeutung, die 7 Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Jahrhundertwende. Ein Dramencyklus von Franz Adamus. Innsbruck/WienBozen: Studien Verlag 2008. 8 Zu einer Neubeschäftigung mit dem Werk Bronners trugen Oppelner Germanisten bei. Siehe z. B.: Rudolph, Andrea: Zwischen naturalistischer Revolution und humanistischer Tradition. Zur ethischen Überwindung des Naturalismus in Dramen Gerhart Hauptmanns und Ferdinand Bronners. In: Kmiec, Bogumiła (Hg.): Spotkania Polska-Austria. Begegnungen Polen-Österreich. Czestochowa: Centrum Je˛zyków Europejskich. Nauczycielskie Kolegium Je˛zyków Obcych w Cze˛stochowie 2005, S. 33–48; Błach, Małgorzata: Franz Adamus’ »Familie Wawroch«. Die reale Frage in archivarischen Quellen. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/Ksie˛z˙yk, Felicja (Hg.): Germanistische Werkstatt 4. Deutsche Sprache und Literatur im Wandel. Nachwuchswissenschaftler für Maria Katarzyna Lasatowicz. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2011, S. 143–156; Blach, Malgorzata: Franz Adamus’ »Jahrhundertwende« in der zeitgenössischen Kritik. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/Ksie˛z˙yk, Felicija (Hg.): Germanistische Werkstatt 5. Gegenwärtige Forschungsrichtungen in den sprach-, literatur- und kulurwissenschaftlichen Diskursen von Nachwuchswissenschaftlern. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2013, S. 159–167. Die Verfasserin dieses Beitrags betreute eine 2015 an der Oppelner Universität erfolgreich verteidigte Dissertation von Malgorzata Blach: Zum künstlerischen Entwicklungsweg von Franz Adamus in seinem Dramenzyklus »Die Jahrhundertwende« (Manuskript ungedruckt, Universitätsbibliothek Opole).

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Nietzsches lebenskunstphilosophische Absage an Bindungen durch Blut, Heimat und Nation für die Selbstgestaltung von Bronners Dramenhelden gewinnt. Veranschaulicht wird, dass die Jahrhundertwende-Dramen zusammengehalten werden durch den Kult des Individuums in der nietzscheanischen Subjektform zugunsten seiner Rettung in Lebensräumen, die um die Jahrhundertwende von der Klassengemeinschaft des Sozialen, des Blutes und der Nation bestimmt sind.

III Adamus-Bronner schrieb zweiunddreißigjährig ein Arbeiterdrama. Nach seiner Lektüre von Familie Wawroch war der Leiter der »Freien Bühne« in München Ernst Freiherr von Wolzogen (1855–1934) sicher, dass »[…] hier ein neues starkes Talent eine unzweifelhafte Kraftprobe abgelegt« habe.9 Er hob die große Anzahl der durch Dialekte gekennzeichneten Repräsentanten ethnischer Gruppen hervor.10 Doch ging es Bronner nicht um das Eintauchen in dialektale Welten. Vielmehr überwiegt bei ihm die Überlagerung der landschaftlichen durch die soziale Charakteristik. Alles wird bestimmt durch die im 1. Akt omnipräsente Arbeitswelt der Kohleförderung und Verkokung. In der Wirtschaft »Zum Schwarzen Diamanten«, die von einer jüdischen Familie geführt wird, konzentriert sich die Essenz der Gesellschaft. Der Reigen beginnt mit dem verkommenen Sproß einer Adelsfamilie aus Bielitz, die sich bereits dem Zug der Zeit angepaßt hat und selbst Fabriken besitzt. Der Alkohol verbindet ihn mit tschechischen und deutschen Bergarbeitern, die mit klassenkämpferischen Parolen den Ersten Mai feiern wollen. Abseits halten sich die Steirer von der SalomonsHütte, die besser gekleidet sind. Deutlich heben sich die Agitatoren der Sozialdemokratischen Partei aus Wien ab, die im französischen Maschinisten eine lokale Stütze finden. Auch das ärmste Proletariat (Stocklassa, hungernde Frauen) ist vertreten. Den Besitzenden begegnet man erst im 2. Akt in Gestalt des Sohnes des Grubenbesitzers Anastasius und am Ende bei einer Feierstunde anläßlich der niedergeschlagenen Erhebung. Die Preußen sind nur indirekt präsent, zum einen in der Schilderung von Olgas Aufenthalt in Berlin und zum anderen als Streikbrecher. Der Autor bietet somit ein fast vollständiges Panorama der vielschichtigen ethnischen und sozialen Strukturen der Region. In scheinbar objektivanalytischer Distanz beschreibt er mit fast naturwissenschaftlicher Präzision die 9 Wolzogen, Ernst Freiherr v.: Ein Wort zur Einführung. In: Adamus, Franz: Familie Wawroch. Ein österreichisches Drama in vier Akten. Paris/Leipzig/München: Verlag von Albert Langen 1899, S. VIII. 10 Wolzogen, Ein Wort zur Einführung, S. VII, S. IX.

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Spielvoraussetzungen der Personen, die auf den ersten Blick außerhalb ihres Charakters den Umständen, dem sozialen Milieu und der ethnischen Zugehörigkeit, geschuldet sind. Mit antimetaphysischer Radikalität motiviert er die Handlung aus Realgegebenheiten, die er im 1. Akt fast unproportional detailliert ausbreitet. So nimmt dieser Akt, der eine Expositionsfunktion hat, mehr als ein Drittel des gesamten vieraktigen Stückes ein. Allein schon dies illustriert eine gleichermaßen inhaltliche wie formelle Entscheidung für eine Kunstfunktion, die im Sinne der modernen Weltanschauung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis das objektive Konstatieren des Tatsächlichen über ideelle Deutungsansprüche stellt. Bronner Autor löst damit ein, was sein Herausgeber von Wolzogen als Kernaufgabe spezifisch moderner Literatur auffasst: »auf allen Gebieten des Denkens und Lebens unerschrocken die Folgerungen aus unserer wissenschaftlichen Erkenntnis der Naturgesetze« zu ziehen.11 Doch bleibt Bronner dabei nicht stehen. Neben der ethnischen und der sozialen bietet er noch eine ideelle Motivebene an. Sie realisiert sich im Stück durch zahlreiche Monologe und Agitationsreden. Die ärmsten Schichten folgen der Logik des leeren Magens. Ideelle Deutungsangebote bieten die Sozialdemokraten, Robert Wawroch und die Familie der Grubenbesitzer sowie die Vertreter der Staatsmacht an, die allesamt mehr als bloße Illustrationen sozialer Interessen sind. Die Sozialdemokraten12 stellen neben sozialen Forderungen wie: Achtstundentag, Lohnerhöhung, Selbstverwaltung der von den Bergleuten selbst finanzierten Versicherung, auch Wertmuster zur Deutung der gezeichneten sozialen und ethnischen Situation zur Verfügung. Sie gründen auf den Ideen, die seit der Französischen Revolution soziale Bewegungen begleiteten, nämlich: Recht und Gerechtigkeit13, Menschenwürde14, Versammlungs- und Redefreiheit15, Freiheit und Gleichheit,16 eine neue und bessere Welt ohne Unterdrückung mit kommunistischen Zügen17 und Verbrüderung.18

11 So Ernst Freiherr von Wolzogen in seinem Geleitwort, Wawroch S. X. Von Wolzogen hatte mit seiner Tragikomödie Das Lumpengesindel (1892) selbst einen Beitrag zum naturalistischen Drama geleistet. 12 Jörg Wawroch und die Wiener Agitatoren. Siehe die negative Figurenbeschreibung in: Adamus, Familie Wawroch, S. 29. 13 Ebd., S. 44. 14 Ebd., S. 48. 15 Ebd., S. 49. 16 So lautet es aus dem Munde des Sozialdemokraten Kalischer: »Frei hat die Natur den Menschen geschaffen und alle gleich gemacht! Wo ist an eurem Körper ein Unterschied zwischen euch und dem Schildermann oder dem Worlicˇek oder dem Goldgraf, wo? […] Und es gibt Rufe: Jo, a gleiches Racht muß ok sein! – Rownost! Gerachtigket wull’ wer!« (ebd.). 17 Solche entwickelt Schmölzer: »Und haben wir erst gesiegt, dann sollen sie sehen, die Herr’n Bourgeois mit ihren Gedsäcken, w a s w i r f ü r e i n e n e u e , b e s s e r e We l t z u s t a n d e

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Auf der anderen Seite stehen die Besitzenden, die ebenfalls eine deutende Weltanschauung verbreiten. Anastasius beruft sich auf die Religion,19 die auf Ausgleich und Unterwerfung unter die gottgewollte Ordnung orientiert ist,20 denn die revoltierenden Arbeiter hätten gegen »göttliches und menschliches Recht« verstoßen, und »gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit« und das »von Gott geheiligte Eigentum« rebelliert.21 Sie sind so »dem strafenden Arm der himmlischen Gerechtigkeit anheimgefallen«22. Doch »Verzeihung und Vergebung« heile die Kluft zwischen »Arbeitgebern und Arbeitnehmern«23, der »sociale Friede« wird zur »unumgänglichen Voraussetzung aller bürgerlichen Freiheiten und Rechte«24 erklärt. Die dritte Position vertritt Robert Wawroch, eine der wenigen positiv gezeichneten Figuren des Stücks. In der Regieanweisung heißt es: »junger Mann mit intelligentem Gesichtsausdruck, dunkelgelocktem Haar, rötlichem, starkem Schnurrbart, gekleidet wie ein besserer Arbeiter«25. Während die Positionen der Sozialdemokraten und die der Besitzenden in einer gewissen Relation zu ihren sozialen Interessen stehen, scheint Robert außerhalb des sozialen Gefüges zu agieren. Er hat eine gediegene Schulausbildung (siehe im 2. Akt sein Gespräch mit Anastasius), hätte studieren können, wenn er nicht die Familie hätte unterstützen müssen. Er grenzt sich deutlich von beiden Positionen ab. Den Sozialdemokraten wirft er vor, daß ihre Utopie von der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit in der Diktatur und der Aufhebung des Individuums münden würde: »Ja, Gleichheit wie im Grabe! Nur e i n e Meinung im ganzen Land, auf der ganzen Erde […] . Ihr aber wollt auch die Gedanken, Gefühle, Wünsche, kurz alles, alles in eire schwarze Uniform stecken und die ganze Welt in eine Kaserne verwandeln!«26 Aber auch seinem Schulfreund Anastasius steht er nicht freundlicher gegenüber. Für Anastasius’ Religiosität hat er nur ein Lächeln übrig27 und ent-

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b r i n g e n « (ebd., S. 50, Hervorhebung im Original). Kalischer fährt fort: »Ja, Genossen, Brüder, eine neue und bessere Welt werden wir heraufbringen, wo die Niederträchtigkeit und Unterdrückung keinen Platz mehr haben wird, wo nicht mehr der eine sich von früh bis spät schinden muß, damit der andere auf seinem Geldsack liegen und sich vom blutigen Schweiße seiner Mitmenschen nähren kann. Nein! Alle werden arbeiten müssen […]« (ebd.). Siehe: ebd., S. 51: »Franzosen und Deutsche und Czechen und Polen, alle werden Brüder sein und keine Grenzen mehr und keinen Krieg wird es mehr geben […]. Dann wird wirklich die goldene Zeit anbrechen, von der die Dichter singen. Das Paradies! Das Paradies«. Ebd., S. 88. Ebd., S. 160. Ebd. Ebd. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 46. Ebd., S. 55. Hervorhebung im Original. Siehe die Regieanweisung: ebd., S. 88.

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hüllt sie als Taktik, den Ausbeutungsdruck noch zu erhöhen: »Damit ihr ihnen dafür wöchentlich fünf Kreuzer vom Lohn abziehen könnt! O, ihr seid feine Psychologen«.28 Robert entzieht sich scheinbar jeder deterministischen Logik, die ihn entweder auf die Seite der Arbeiter oder auf die Seite der Besitzenden verweisen würde. Angebote bekommt er von beiden Seiten. Mit ihm stellt der Autor die Frage nach dem Entscheidungs- und Handlungsspielraum des einzelnen innerhalb der sozialen und ethnischen Determination. Auch andere Gestalten unternehmen Ausbruchsversuche aus den vorgeschriebenen Rollenmustern, aber keine formuliert das Bedürfnis nach Selbstbestimmung so bewußt wie Robert: »[…] wollt ihr denn zeitlebens an mir hängen, wie – wie diese Gewichte an der Uhr! […] Ich hab eich bewiesen, daß ich’s tragen k a n n ; aber es steht nirgends, daß ich’s tragen m u ß , was ich nicht w i l l .«29 Viele der zahlreichen Monologe Robert lesen sich wie sprachlich bearbeitete Passagen aus dem Zarathustra. Friedrich Nietzsche erweist sich in seinem ab 1881 entstehenden Hauptwerk als entschiedener Kritiker der modernen Massengesellschaft. Diese zielt auf den gesamten Gesellschaftstypus. Schon in der Vorrede zum Zarathustra wendet er sich ab vom Markt als dem symbolischen Ort der modernen Austauschbeziehungen, in denen alle ideellen Werte zu materiellen Tauschwerten werden, die vom Erfolg bei der Masse abhängen.30 Mit Ekel wendet sich das große Individuum vom Materialismus der Moderne ab, wie auch Robert: »Ich hasse und verachte den da (Vater) wie eich alle!«31 Enstprechend dazu lautet die Regieanweisung im späteren Teil des Textes: »wendet ihm (dem Vater) mit sichtlichen Zeichen des Ekels wieder den Rücken«. Mit Ekel und Verachtung wendet sich Nietzsches Übermensch sowohl gegen die Reichen wie die Armen, die in ihrem Kampf um die Verteilung von Geld und Macht nur zwei Seiten der gleichen materialistischen Grundgesinnung sind. Nietzsches Postulate werden von Robert vertreten und stehen somit hinter seiner Rebellion gegen die erwartete soziale Klassenassimilation und seine Abkunft von einem Vater, den er verachtet. Im 1. Akt fühlt er sich von der sozialdemokratischen Lehre von der Gleichheit aller provoziert und verkündet prononciert die These von der Überwindung der Masse durch den großen einzelnen: »Eire Not! Immer eire Not! Was liegt daran, wenn auch ein paar zu Grunde gehen! 28 Ebd., S. 91. 29 Ebd., S. 78f. Hervorhebungen im Original. 30 Siehe auch: Nietzsche, Friedrich: Von den Fliegen des Marktes. In: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Teil. Mit einem Essay von Thomas Mann. Leipzig: Insel Verlag 1976, S. 54–58, hier S. 55: »Abseits von Markte und Ruhme begiebt sich alles Große: abseits vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Werte«. 31 Adamus, Familie Wawroch, S. 61.

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Es sterben noch viel zu wenig! Wenn dafir nur andere freie und große Menschen werden könnten! E s g i e b t z u v i e l V i e h a u f d i e s e r We l t .«32 Robert erblickt in Arm und Reich nur die zwei Seiten des Materialismus, dem er den »freien Menschen« entgegensetzt: »Ja, was ist denn also der Unterschied zwischen eich und den vielgeschmähten Geldprotzen? Gar keiner! Denn nach Geld und Gut schreit ihr eich die Kehle heiser! genau so wie jene!«33 Auch der Zukunftsstaat, der scheinbar gerecht verteilt, erscheint in seiner Rede als Moloch, dem das große Individuum geopfert wird: »E i n e Maschine wollt ihr aus der ganzen großen Welt machen zum Brotbacken und zur Fabrikation von Kleidern und Stiefeln, und alles, was noch Großes ist am Menschen, soll zu Brennholz zerkleinert werden, um diesen Moloch damit zu heizen!«34 Er will etwas anderes sein als ein Tier: »Ihr mit eirem Zwerggehirn, das nicht weiter reicht als eier Magen, der gleicht eher noch jenen allerkleinsten Tieren, die zu Millionen in einem Tropfen Wasser schwimmen und bei denen noch Gehirn und Magen eins ist!«35

IV Robert ist die literarische Verkörperung der Frage Bronners nach der ideellen Identität des Individuums innerhalb einer scheinbar totalen Herrschaft des Tatsächlichen. Neben die illustrierende Beschreibung der sozialen und ethnischen Verhältnisse, die die Handlungen der Protagonisten ganz unmittelbar bestimmen, tritt die tragisch aufgehöhte Einzelperson, die für das Recht ideeller Wertbestimmung wirbt. Der Aufeinanderprall beider Seiten erfolgt handlungsmäßig im 3. Akt, in dem die Olmützer Soldaten den streikenden Arbeitern direkt gegenüberstehen. Die Soldaten eröffnen das Feuer, dem einige sofort zum Opfer fallen, aber es ist ausdrücklich ein »verspäteter Schuß«, der den alten Wawroch trifft, begleitet von dem Ausruf: »Jesus Maria, ich hab’ meinen Vatter erschossen!«36 Die ideelle Dimension entfaltet sich erst im 4. Akt. In der Bühnenanweisung erscheint er als gebrochene Person, die von den Strafgeistern der antiken Tragödie umgetrieben wird. Hierfür unterstreicht Bronner die Familienähnlichkeit, die als vererbte qualifiziert wird: »Robert in ziemlich verwahrlostem Aufzuge; sein bleiches und nervös zuckendes Gesicht erinnert durch einen rötlichen Vollbart stark an seinen Vater«37. Das sozialdemokratische Deutungsan32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 56f. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Ebd., S. 153. Ebd., S. 160.

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gebot, sich als Opfer des Machtmißbrauchs der Reichen zu sehen, lehnt Robert ab. Sein Gewissen treibt ihn zum Bekenntnis.38 Theatralisch wird dieser Zwang mit dem shakespearischen Mittel einer Halluzination unterstrichen, in der ihm der Geist seines Vaters erscheint.39 Das Geständnis findet dann auf dem öffentlichen Forum statt: »Kummt’s her! kummt’s olle her […]. Ich hob’ eich b e l o g e n – olle – olle – belogen! […] I c h h o b ’ s m i t W i l l ’ n g e t h o n ! I c h h o b ’ m e i n ’ Vo t t e r m i t A b s i c h t e r s c h o s s ’ n […].«40 Das Strafgericht ist – in der Tradition der klassischen Tragödie – kein menschliches, sondern eines im Namen eines übergeordneten Sittengesetzes. Robert, der sich am Ende seiner Beichte schon erleichtert fühlt, stirbt. Summierend läßt sich festhalten: Das Stück bezieht seine Spannung aus der Frage, wie der einzelne sich aus der ihn völlig determinierenden und wie ein Naturgesetz auf ihn lastenden sozialen Not befreien kann. Die Figur setzt auf den freien Willen und die Überwindung des naturalistischen Gesetzesbegriffs der Determination durch das Milieu. Sie beruft sich dabei auf den von Nietzsche getragenen Utopismus einer radikalen Neusetzung des Menschen als einer abstrakten Daseinsform der Freiheit. Thematisiert Bronner das Verhältnis von Herkunft und Freiheit in Wawroch in der Maske des Sozialen, gestaltet er in Schmelz, der Nibelunge41 die Attitüde des Anspruchs auf einen eigenen Lebenshorizont in distanzierter Überlegenheit zur jüdischen Abkunft.

V Der namhafte Kritiker Hermann Bahr bot in seiner Besprechung der Komödie Schmelz, der Nibelunge42 auch eine Übersicht über die Werke der Jahrhundertwende-Trilogie, indem er mit Hilfe der Figur des Wilhelm eine Verbindung zwischen den Dramen herstellte. Der junge Wilhelm Schmelz, welcher in Familie Wawroch seinem jüdischen Vater in der Schanke half, dort Beleidigungen seines Glaubens wegen erdulden musste, bricht in Schmelz, der Nibelunge (1905) nach Wien auf, um an der Universität ein Philosophie-Studium aufzunehmen. Bahr zufolge ist Schmelz ein »[…] Stück von den Juden, die sich schämen, wenn sie Juden geschimpft werden, und die stolz sind, wenn man sie nicht als Juden erkennt«. Es sei ein »Stück von den armen, halben Menschen ohne Heimat«, weil 38 39 40 41 42

Der sittliche Begriff »Gewissen« wird auf: ebd, S. 172f mehrfach wiederholt. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175. Hervorhebungen im Original. Adamus, Franz: Schmelz, der Nibelunge. Komödie in vier Akten. Wien: Wiener Verlag 1905. Bahr, Hermann: Schmelz, der Nibelunge. Komödie in vier Akten von Franz Adamus. Zum ersten Mal aufgeführt im Raimund = Theater am 6. März 1905. In: Bahr, Hermann: Glossen zum Wiener Theater (1903–1906). Berlin: S. Fischer 1907, S. 454–462.

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sie doch »nicht die Kraft haben, sich eine neue zu schaffen«43. Sichtlich zweifelte Bahr an dem neu gewordenen Individuum. Die Komödie zeigt, wie sich der kurz vor 1900 in Wien aus dem schlesischen Schönau anlangende Philosophiestudent Willusch Schmelz der Burschenschaft der rassisch antisemitischen wie antislavischen »Nibelungen« als Wilhelm anschließt.44 Im Blick des Zuschauers enthält die gegebene Situation bereits was geschehen wird. Gelänge die für den Abend geplante Aufnahme Willuschs als deutschnationales Korpsmitglied, wäre dies eine Schwellenüberschreitung von dem Status eines in Wien konvertierten und seine Herkunft verbergenden Juden zu einem vollwertigen arischen Deutschen. Auf der Schwelle dieses Übergangs steht unerwartet der aus Schönau angereiste Vater, ein Kaftan-Jude. Die Komödie schürzt diesen Stoff auf die Szene hin, in welcher der angehende Nibelunge seinen Vater vor seinen Corpsbrüdern verleugnet, worauf dieser zusammenbricht. Zuvor im Drama erfuhr Schmelz die Anerkennung der Nibelungen für seine vermeintliche »Heldentat«, während ihrer deutschnationalen Protestaktion gegen die Sprachverordnung Badenis einen Polizisten schwer verletzt zu haben. Doch als Schmelz als Jude entlarvt und exkludiert jenen Nibelungen fordert, der seine Braut getäuscht und geschwängert hatte, wird ihm die Satisfaktionsfähigkeit mit Berufung auf den Waidhofener Beschluss abgesprochen. Soweit die stoffliche Beschreibung. Zwei zeitgeschichtliche Faktoren wirken in das 1905 veröffentlichte Drama hinein: der post-emanzipatorische Antisemitismus und die Badeni-Verordnungen. Es gehört zu den Widersprüchen jüdischer Emanzipation, dass deren außergewöhnliche Erfolgsgeschichte im deutschsprachigen Raum den post-emanzipatorischen Antisemitismus als einen folgenreichen Affekt hervorbrachte. Nachdem der oftmals durch Konversion erkaufte sozialökonomische Aufstieg Juden über zwei, drei Generationen in die Mittelstandskreise, nicht selten in die Oberschicht und die Eliten geführt hatte, für Wien sind Wohnortswechsel von der Leopoldstadt in gut angesehene Bezirke nachweisbar,45 und Juden aus Galizien und Ungarn zuwanderten,46 entstand in der deutschen Gemeinschaft eine Aversionsmentalität. Bald strebten Deutschnationale danach, die Gemeinschaft 43 Ebd., S. 456. 44 Norbert Kampe bezeichnet schon im Titel seines Buches die Studentenverbindungen als ›Trägerschicht des Antisemitismus‹. Vgl. Kampe, Norbert: Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988. 45 Schweighofer, Astrid: Religiöse Sucher in der Moderne: Konversion vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900. Berlin/München/Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 84. 46 Siehe hierzu: Wistrich, Robert S.: Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 1999, S. 59.

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mit härteren Kriterien gegen die Juden abzugrenzen. Rasse wurde zum Inklusions- und also auch Exklusionsmedium, welches Zugang zur Nation verschaffte oder verschloss. »Nation« war demnach nicht mehr Ergebnis des gemeinsamen Besitzes einer Kultur und Sprache, wie dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grimms, Brentano, Arnim, basierend auf Herder, gedacht hatten. Das biologistische Abstammungsprinzip hob ein kulturelles Nationsverständnis auf, das Juden zur Übernahme der deutschen Sprache und Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins veranlasst hatte, sprechend hierfür bereits der Titel von Eugen Dührungs Schrift: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort (1881). Und nicht zufällig rückte die Universität als eine bürgerliche Sozialisierungsinstanz ins Zentrum des rassischen Antisemitismus, dessen Mittelpunkt um 1900 Wien war. In Wien, wie auch in Breslau, waren Juden an der medizinischen und juristischen Fakultät zahlreich vertreten. 1875 veröffentlichte Theodor Billroth (1829–1894) sein Werk Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaft an den Universitäten der Deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Eine culturhistorische Studie, bekundend: Alles in Allem genommen wurzelt das leider nicht ganz auszurottende Unkraut der Wiener Studentenschaft nicht in der Wiener Universität und ihren Einrichtungen, sondern in der mit den verschiedensten nationalen Elementen überfüllten Weltstadt Wien, in welche die Universität nun einmal hineingesetzt ist. Ich habe wiederholt der Wahrheit entsprechend hervorgehoben, dass es meistens nicht deutsche, sondern vorwiegend schlimme galizische und ungarische jüdische Elemente sind, welche in früher erwähnter Weise nur in Wien gedeihen können.47

Billroth klagte: »Wir Deutschen sind hier ja nur geduldet, der Staat wir (sic!) ja immer slavischer und ungarischer.«48 Der sich unter den deutschen Studierenden festigende Konkurrenzgedanke hatte Anteil daran, dass Rassenantisemitismus zum festen Bestandteil ihrer Gruppenidentität wurde. Im Jahr 1878 beschloss die Burschenschaft Libertas, »daß Juden als Deutsche nicht angesehen werden können, und zwar auch dann nicht, wenn sie getauft sind«49. Diesem Beispiel folgten Burschenschaften wie Teutonia, Bruna und Silesia. Georg Heinrich Schönerer (1842–1921), österreichischer Gutsherr und Politiker, Führer der Deutschnationalen, setzte gezielt Rasse vor Sprache und Religion: »Ob Jud, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei«50. Karl Lueger (1844–1910) 47 Zit. nach: Rathkolb, Oliver: Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert. Wien: V&R unipress 2013, S. 72. 48 Zit. nach: ebd. 49 Zit. nach: ebd. 50 Zit. nach: Pape, Christian: Deutschnationale Bewegung in Österreich-Ungarn. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegen-

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und die Christlichsoziale Partei forderten im Jahr 1904, den ›deutschen Charakter‹ der Universität Wien wieder herzustellen. Diese Forderung richtete sich hauptsächlich gegen tschechische und jüdische Studenten.51

VI Adamus-Bronners Drama wirft ein Licht auf den Wiener Antisemitismus, zudem auch auf die Ausschreitungen im Reichsrat und die Massendemonstrationen in Wien, nachdem der 1846 in Surochów/Galizien geborene Graf Kasimir Felix von Badeni, Ministerpräsident des österreichischen Teils der k. u. k. Monarchie seit 1895, von den Beamten in Böhmen und Mähren verlangt hatte, in Zukunft doppelsprachig zu arbeiten.52 Badeni, der den Jungtschechen den Wind aus den Segeln nehmen und vermitteln wollte, wurde beschimpft, den Slaven Vorrechte einzuräumen, da die deutschen Beamten nur selten tschechisch beherrschten. Der lange schon währende nationale Kampf zwischen Deutschen und Slawen fand in Ausschreitungen einen neuen Kulminationspunkt. Badeni reichte darauf im November 1897 sein Rücktrittsgesuch ein.

VII All dies kann als Folie hinter ein Drama gestellt werden, das keine Fotografie dieser Verhältnisse bietet, sondern eine abstrahierende und in dieser Abstraktion reichere, weil als Zusammenfassung dieser Erscheinungen tiefere Auslotung der Zeittendenzen. Eine tektonische Form, ein eng verfugter kontinuierlicher Zusammenhang, bei dem die Endphase einer Entwicklung sichtbar vorgeführt wird, zeichnet Bronners Drama aus. Außenliegende, berichtend eingeholte Nebenhandlungen wie der große Trutzaufzug der studentischen Nibelungen vor dem Wiener Abgeordnetenhaus gegen die »tschechisch-polnische Bande«53 und die »deutschen Volksverräter«, Straßentumulte, der Informationsfluss aus Wien nach Schönau oder die Schwängerung des geliebten Mädchens durch den Nibelungen Siegfried – dienen der Haupthandlung,indem sie diese erklären und wart. Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. Berlin/Boston: Walter de Gruyter und K.G.Saur 2012, S. 187–189, hier S. 188. 51 Siehe: Rathkolb, Der lange Schatten, S. 85. 52 Die Sprachverordnungen, erlassen für Böhmen am 5. April und für Mähren am 22. April 1897, intendierten einen nationalen Ausgleich. Deutsche Oppositionsgruppen inszenierten daraufhin außerparlamentarische Protestaktionen in Prag, Wien, Graz und in deutschsprachigen Gebieten Böhmens. 53 Adamus, Schmelz, der Nibelunge, S. 63.

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bewegen. Tektonische Ordnung legt nahe, dass es sich um ein Ideen- oder Problemstück handelt. Der 1. Akt nimmt die Vorgeschichte der dramatischen Aktion auf, die väterliche Ablehnung der christlichen Braut aus dem ostschlesischen Schönau, die Konversion des jungen Schmelz, Schmelz besteht darauf, dass diese frei und selbstbestimmt erfolgte, also nicht den Zweck hatte, Ehehindernisse aus dem Weg zu räumen54, die selbst vorgenommene Arisierung des Namens in Franz Wilhelm sowie den bevorstehenden Eintritt in die »Nibelungen«. Dies bringt eine auf den Ausgang dieser Handlung ausgerichtete Spannung hervor. Was in Dialogen verhandelt wird, entspricht dieser Zielstrebigkeit. Schmelz ist Idealist und Träumer. Sein Zimmerkamerad Deubner tritt als nietzeanischer Spötter in Erscheinung. In dieser Rolle unterstützt die Deubner-Figur das Ansichtigwerden von Verstellungen und gesellschaftlichen Verkleidungen. Schmelz schwänzt seine Universitätsvorlesung »Das Publikum über Heine« demonstrativ;55 »Aha! Der Antisemit«, spottet Deubner sogleich und nutzt diesmal die Komik der Heraufsetzung, um Schmelzens Hakenschlagen beim Betrug an sich selbst und an Deubner auf die Schippe zu nehmen. Schmelz hatte die Flucht ins Geschmäcklerisch-Dichterische angetreten: »ich kann einmal zu Heine kein Verhältnis gewinnen«, und wird nun von Deubner aufgezogen: »Ich und Heine – Schmelz und Heine«. Derart spielt Deubner das Nichtige, Schmelz nämlich, gegen das von ihm anerkannt Wichtige, gegen Heine als »einen wirklichen, großen Dichter«56, wie Deubner mit Nietzsche nachsetzt, aus.57 Als der in die 54 Vergleiche: »Wenn man sich eines Mädchen wegen taufen lässt – das halte ich für charakterlos – da ist sogar die Liebe ein schmutziges Motiv […]« (ebd., S. 116). Gegen die stets auf Nutzen und Vorteil sehenden Volksgenossen unterstreicht Schmelz: »Dass man etwas aus reiner Begeisterung für eine Idee tun kann, glaubt das Lumpenvolk natürlich nicht! Immer muß etwas Persönliches dahinter stecken – irgendein schmutziges Motiv –« (ebd.). 55 »Das Publikum über Heine« und dabei insbesondere der Jude Heine bildeten um 1890 bereits einen größeren Argumentationskomplex, was die Zusammenstellung der Rezeptionsdokumente von Karl Theodor Kleinknecht erkennen lässt, die unter anderen auch Urteile von Heinrich von Treitschke (1885, 1889, 1894), von Xanthippus (1888), von Conrad Alberti (1888), von Franz Mehring (1894), Peter Rosegger (1894) versammelt. Siehe: Kleinknecht, Karl Theodor (Hg.): Heine in Deutschland. Dokumente seiner Rezeption 1834–1956. Mit einer Einleitung von K.Th. Kleinknecht. Tübingen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1976. 56 Adamus, Schmelz, der Nibelunge, S. 17. 57 Deubner, der selbst kein substantielles Bedürfnis hat, dessen Witz sich in Heine-Manier gegen jede Sentimentalität (auch gegen den romantischen Volksbegriff des Schmelz) richtet, betrachtet Idealismen jedweder Coleur als Jugendeseleien. Er alludiert mit »Heine und ich« sicher den Ecce homo Nietzsches. Nietzsche hatte 1889 im Abschnitt »Warum ich so klug bin« geschrieben: »den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag – ich schätze den Wert des Menschen, von Rassen danach ab, wie notwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen. – Und wie er das Deutsche handhabt!

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Enge Getriebene emotional ausbricht – er mag den Juden Heine nicht – zwingt Deubner seinen Zimmerkameraden wiederum in eine komische Situation. Er identifiziert ihn mit Heines Einzelhelden Schnabelowopski,58 bekannt als ein Müßiggänger mit Weltbeglückungsgedanken, ehelich abstammend von Herrn Schnabelewopski und Frau Schnabelewopska. Aus Polen kommend reist er in die weite Welt, versehen mit väterlichen Zetteln, wie er sich in der Welt zu verhalten habe, bald sitzt er bei einer matronenhaften Wirtin in Leiden, wo er schmarotzt und philosophiert. Dieses alludierende Umspielen der Situation des Schmelz führt dann zu deren Explikation. Schmelz drängt Deubner, ihm sein arisches Äußeres zu bestätigen. Er tischt ihm eine »Sage« auf, wonach die Mutter »Prototyp einer schlesischen Bäuerin« gewesen sei. Sie hätte »allem eher ähnlich gesehen als einer Jüdin«,59 Deubner bespöttelt die nebulöse Vaterkonstruktion: »›ah, so hast du dir’s also zurechtgelegt? […] Du wärst imstande, deinen eignen Vater zu verleugnen […].‹ Er blickt ironisch auf: ›Oder meinst Du vielleicht – der heilige Geist –?‹«60

VIII Die Einheit der folgenden Auftritte besteht darin, dass in ihnen nationalistische Positionen vorgetragen werden. Dieser Akzent wird nur insofern jeweils anders gesetzt, als er einmal auf die Gruppe der Juden, der Polen und auf die der Deutschnationalen fällt. Ausnahmegestalten sind der jüdische Medizinstudent Zeidler, Schmelzens Braut Marie und Deubner, der als desillusionierter Spötter jedweden Nationalstolz zur Seite schiebt. Die starke Wertladung des Nationalen wird vom Nihilisten Deubner jedes Mal destruiert, der den nationalstolzen Baron Wutkowski als »seine Schlachtschitzenschaft«61, den eintretenden Wiener Jurastudent Perlesam als Bruder Davidsbündler aufzieht. Dass Schmelz und Perlesam klar zugespitzt auf offener Bühne gegeneinander reden, hebt die kompositionsbestimmende Rolle des Weltanschaulich-Symmetrischen hervor, die gemeinhin auf den prägnanten Punkt einer Lösung weist. Eine symbolisch zu nehmende Familienähnlichkeit beider ist ebenso deutlich wie deren Spal-

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Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, was bloße Deutsche mit ihr gemacht haben« (Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Werke IV. Hg. von Karl Schlechta. München: Ullstein 1980, S. 1088f). Heines Prosawerk Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski, verfasst 1834, schreibt sich mit seinen pikaresken und karnevalistischen Motiven in die Tradionslinie des Schelmenromans ein. Adamus, Schmelz, der Nibelunge, S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40.

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tung in einander widersprechende Identitätswahloptionen. Perlesam verachtet Schmelz’ selbstgesetzte deutschnationale Identifikation als Verrat am jüdischen Volk, gerade in einer Zeit, in der die Pogromstimmung des Mittelalters neu aufersteht. Schmelz spricht den Juden einen Volksbegriff ab, auf dem Perlesam insistiert, der sichtlich Leo Pinskers Aufruf zur nationalen Selbstwürde folgt.62 Schmelz postuliert, er lebe »inmitten des tolerantesten Volkes, das die Erde kennt« und wenn sich in diesem eine antijüdische Stimmung aufgemacht habe, dann seien die Juden selbst daran schuld, da diese nicht »hart und unnachsichtig« an sich gearbeitet haben.63 Er erklärt mit hässlicher jüdischer Handelsschaft, die er auch in verbürgerlichten Juden erblickt, warum ihm ein Auskommen mit seiner Herkunft nicht gelingt: »Die ganze Welt haben sie in eine Trödelbude verwandelt, und was bisher dem menschlichen Geist als das Edelste, das Höchste erschienen ist, damit treiben sie ebenso respektlos den Schacher wie früher mit den alten Hosen in ihren Ghettobuden!« Statt geistiger Warenverkehr der weltweite Schacher, zu dem sich der liberale Geist der Aufklärung bei ihnen entfremdet haben soll. Die verbürgerlichten jüdischen (Geschäfts-)Existenzen erscheinen so wie aus der Humanitätsepoche hervor gestiegene Missgestaltungen idealistischer Prinzipien. Und er setzt fort: »Sehen Sie, das ist der tiefere Grund unseres heutigen Antisemitismus, warum sich heute jeder feinere Geist vom Judentum abgestoßen fühlt – warum man es – als Unglück empfinden kann, von – Juden geboren zu sein – –.«64 Perlesam widerspricht Schmelz nun nicht darin, dass Juden durch ihr Verhalten die Verachtung der anderen gewissermaßen rechtfertigen. Aber er stellt der alten Assimilationsforderung nach protestantischem Muster wie der Judenverachtung der Deutschnationalen die nationalistisch-ideologische Bewegung des Zionismus gegenüber. Die Juden werden, was ja auch Schmelz als notwendig ansah, an sich arbeiten, nicht aber in Richtung gelingender Assimilation, sondern als pädagogische Arbeit an einer gesicherten Nation. Anders als der abtrünnige Cousin repräsentiert der stammestreue Cousin jene Auto-Emanzipation, die der Pionier des Frühzionismus Leon Pinsker gefordert hatte und die der Wiener akademische Verein Kadimah mit seinem Bestreben, gegen die

62 Vgl. Pinsker, Leon: Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Berlin: W. Issleib 1882. Pinsker, geboren 1821 . in Tomaszów Lubelski, damals Königreich Polen im Russischen Kaiserreich, gestorben 1891 . in Odessa, war ein Arzt und Journalist sowie Vorläufer und Wegbereiter des Zionismus. Unter dem Eindruck der Progrome in Russland 1881 und seiner Europareisen, die ihm eine zunehmende »Judäphobie’ auch in den bereisten Ländern vor Augen führten, wandelte er sich von einem Befürworter von Aufklärung, Haskala und Assimilation zu einem Verfechter jüdischer Nationalität und jüdischer Selbständigkeit und Emanzipation. 63 Adamus, Schmelz, der Nibelunge, S. 111. 64 Ebd., S. 112.

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Assimilation ostwärts in die alte Heimat in eine neue Freiheit zu schreiten,65 der fehlgeschlagenen liberalen Emanzipation entgegenstellte. Auch der 1860 in Budapest geborene Jurist und spätere Pariser Korrespondent der »Wiener neuen Presse« Theodor Herzl gelangte aufgrund eigener Erfahrungen zur Erkenntnis, dass die Assimilation gescheitert sei.66 Zur Hebung jüdischen Selbstbewusstseins gehörte um 1890 auch ein Muskeljudentum, ein aktives Vorgehen gegen das Vorurteil, Juden seien weibisch und furchtsam. Duellieren galt als unverzichtbares Mittel, den antisemitischen Vorwurf der Feigheit zu widerlegen. Tatsächlich war es jüdischen Studenten gelungen, sich Respekt zu verschaffen, worüber Arthur Schnitzler noch in seinem autobiografischen Erlebnisbericht Aufzeichnungen aus meiner Jugend berichtet.67 Nicht zufällig also stattete Adamus Perlesam mit dem Gefühl jüdischer Eigenwürde und mit Schmissen als Spuren gefochtener Mensur aus. Dass der Antisemitismus mit seinem postulierten Rassenunterschied jüdische Bindungen sowohl schwächte als auch stärkte, lässt sich an den Identitätsentscheidungen der Kontrahenten Schmelz und Perlesam gut ersehen. Entsprechend nehmen beide neue Namen bzw. Namenzusätze an. Willusch Schmelz geht als Franz Wilhelm unter den Nibelungen, Perlesam mit dem neuen Namenszusatz Isidor als senior unter den Davidbündlern einher. Bald treten die Nibelungen ein. Sie wollen eine außerparlamentarische Kundgebung vor dem Parlament inszenieren, die das Ministerium Badeni zur Abdankung zwingen soll und laden den vermeintlichen Franz Wilhelm zur Mitwirkung ein. Die deutschnationale Gruppenidentifikation reicht, angesiedelt in der »Rasse«, über Regionen hinweg. Zur Bruderschaft gehören: Deutschböhmen, Kärtner, Schlesier, Tiroler, »Deutsche aus allen Ländern Österreichs«68. Adamus-Bronner steuert mit sicherem Blick auf den tragischen Kern zu, um den herum Szenen aufgebaut werden, die die Dichte der politischen Atmosphäre vermitteln. Die Gastwirtschaft »Zum Roten Löwen« in der Porzellangasse bildet das Gemisch der 65 Die jüdisch-nationalen Korporationen wie die Kadimah in Wien sahen die Versuche zur Integration der Juden in die deutsche Nation wie die rechtliche Emanzipation der Juden in Deutschland als gescheitert an. Sie teilten zionistische Bestrebungen der Bildung eines jüdischen Staates in Palästina. Ihr Verbleib in Mitteleuropa hatte ihrer Auffassung nach nur provisorischen Charakter. Kadimah (hebräisch ‫ קדימה‬qa¯dı¯ma¯h, deutsch: nach Osten, vorwärts) war eine nationaljüdische, bald zionistische Studentenverbindung in Wien, deren Wahlspruch »Mit Wort und Wehr für Juda’s Ehr!« lautete. Am 25. Oktober 1882 in Wien gegründet, Leo Pinsker war Ehrenmitglied, wurde sie am 13. August 1938 behördlich aufgelöst. 66 In seinem Buch Der Judenstaat formulierte Herzl seine konkreten Ideen eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina. Der erste Zionistenkongreß fand 1897 in Basel statt. 67 Siehe: Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Autobiografie. Prag: e-artnow 2017, S. 82. 68 Schnitzler, Jugend in Wien. Autobiografie, S. 147.

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Nationen in Wien ab, in dem die politischen Spannungen ausgetragen werden, unter denen sich der Rücktritt Baldenis abspielt. Adamus lässt Deutschnationale, darunter stramm-patriotisches Wiener Durchschnittsbürgertum, Polen und Tschechen mittels nationaler Gesänge aus diesem Tiegel heraustreten, die Gesänge allesamt politische Allegorien um Freiheit und Zwang. Während die Nibelungen gemeinsam mit den in den Gesang einfallenden Wienern das Vaterlandslied »der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte« schmettern – es entstand, als Napoleon die Beteiligung deutscher Heere an seinem Russlandfeldzug 1812 erzwang – und O du mein Österreich anhebt, erklingt unter den zusammen sitzenden Polen das 1816 entstandene und bald von der polnischen Bevölkerung modifizierte Boz˙e, cos´ Polske˛ mit seinem dringlichen Flehen an Gott, den Polen die Heimat zurückzugeben. Während die Nibelungen noch rätseln: ist das tschechisch, ist das kroatisch, entfährt es Schmelz unwillkürlich, »nein das ist polnisch«, was ihm den Anwurf einbringt: »na, ja ihr in Ostschlesien seids eh halbe Polacken«.69 Die Polen werden niedergezwungen »hier wird deutsch gesungen«, »wir sind nicht in der Polackei«. Die Aggression steigert sich: »Polnisches Gesindel! Lumpenvolk«70, »wir singen sie nieder«71 und kulminiert in der Forderung, Wutkowski, der beim Einreiten der Polizei in die Demonstration der Nibelungen am Fenster des Parlamentsgebäudes gelacht haben soll, am Laternenpfahl aufzuknüpfen72. Nun halten die Polen dagegen: »Wer hat uns gestohlen Vaterland, daß wir müssen gehen in Fremden?« Ein panslawisches Lied, »Hej Slaven, noch lebt Ihr, noch lebt ihr […] Solange für das Volk das Herz ihrer Söhne schlägt«, erklingt gegen Werkende bei einer tschechischen Manifestation. Diese 1848 beim Slawenkongress in Prag entstandene Hymne der Slawen bringt in ein akustisches Bild, dass die Slawen auch nach Badenis Niederlage weiter danach streben werden, ihre Kultur aus der aufgezwungenen habsburgischen heraus zu lösen. Adamus konzentriert das Geschehen innerhalb der Nibelungen auf zwei baldige Entlarvungen, die von Schmelz und die jenes inzwischen zurückgekehrten Nibelungen, der nach Marias Schwängerung ein Semester nach Graz verschwand und nach dem Schmelz mit Duellwunsch sucht. Die schwere Verletzung, die Schmelz einem Polizisten während der Demonstration zugefügt hatte, resultierte nicht aus seiner Bindung an die deutschnationale Aktion, wie die Nibelungen meinen, die diese zur Initiationstat hochwerten, sondern aus dem Gefühl für Maria, die – zufällig vor dem Parlamentsgebäude – in dem Augenblick unter die Pferde geriet, in dem die Verlassene den getürmten Vater ihres Kindes 69 70 71 72

Ebd., S. 165. Ebd., S. 167. Ebd., S. 166. Ebd., S. 171.

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wieder erkannte. Ohne Enge und Prüderie schloss Schmelz Maria in die Arme, als sie ihre Mutterschaft gestand, aber er will ihre Ehre und seine persönliche Mannesehre wiedererlangen, indem er sich zum Kampf stellt. Die Bundesbrüder reden über die Grundlagen ihrer Juden und Slawen ausschließenden Identitätsbildung. Mutmaßt man erst, deutsch sein heißt arbeiten,73 heißt an Gott glauben,74 wirkt die jüdische Figur eines Hausierers, die ihren Taufschein vorweist, als Katalysator. »Rasse« wächst zum überbetonten nationalen Wert auf. Der jüdische Hausierer wird nicht allein durch biologistische Stigmatisierung aus der Nation verbannt. Er wird durch Verhöhnung, die an Volksbelustigungen der Judenposse erinnert, aus der Gemeinschaft hinausgetrieben. Es ist Siegfried, bürgerlich Baron Hercyner aus dem schlesischen Schönau und Antagonist Wilhelms, der diesen Juden in Anähnlichung an den fremden Jargon und an mauschelnde Gesten parodiert und nebenher über die merkwürdigen, zwischen Wilhelm und Juden hin- und herlaufenden Verbindungen tuschelt, während senior Hoppe Wilhelm gegen derartige Verdächtigungen in Schutz nimmt. Als ein Korpsbruder den alten sprachbasierten Nationenbegriff ansetzt, in Böhmen hielten die Juden zu den Deutschen, nicht zu den Tschechen, wird Heuchelei unterstellt: Juden glitten in solche Konflikte als ihr Element hinein, um in kalter Zweckrationalität beide Seiten auszunehmen. Schmelz’ Identitätsbewältigung, es käme doch »in nationalen Dingen« vor allem auf die »Reinheit der Gesinnung« an, wird als – »Altweibertratsch! Spinnweben« – also als nicht zeitgemäß zurückgewiesen und mit dem postidealistischen Prinzip »Rasse« beantwortet. Durch »Reinheit zur Einheit!«, das sei »das ist das einzige Heilmittel, wie unser großer Führer«, gemeint ist Schönerer, »gesagt hat«75. Damit korrespondiert dann auch die an Schmelz ergehende Ermahnung, bei dem Menschen, den er sucht, um sich mit diesem zu schlagen, den »studentischen Ehrbegriff in aller Strenge« zu sichern.76 Als mit Vater Schmelz dann die jüdische Abkunft ins Blickfeld tritt, Adamus zeigt einen vormodernen, jiddisch sprechenden Kaftan-Juden, wird Wilhelms Rolle in ihrer Schwindelhaftigkeit offenbar. Offenbar wird aber auch, dass Siegfried jener gesuchte Nibelunge ist, der an Maria zum Schurken wurde. Zwar verteidigt Schmelz noch einmal den prätendierten arischen Anspruch. Er verleugnet seinen Vater: »Wer sind Sie – was wollen Sie von mir?«77 Als der Vater am Herzen getroffen mit den Worten zusammenbricht: »E wildes Tier kennt seine Familie, aber mein Kind – mein eigenes Kind –«78, vermag Wilhelm diese Rolle 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 176. Ebd., S. 178. Ebd., S. 155. Ebd., S. 157. Ebd., S. 193. Ebd., S. 194.

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nicht mehr zu spielen. Nun sei »die falsche Maske heruntergerissen« von der Judenvisage,79 frohlockt Siegfried. Ein Hinsturz vermittelt dem Zusammenbruch des Vaters die für die Bühne wichtige Körperlichkeit, das einsetzende Nervenfieber dessen Unfähigkeit, beide Dinge zusammenzubekommen, das Bild seines Jungen in Schönau und das Bild seines Jungen als kalten Leugner seiner Wurzeln. Maria hatte voller Angst den alten Mann, der aus Schlesien angereist war, in die Gastwirtschaft begleitet. Siegfried verrät sich beim Anblick Marias als derjenige, der sie schwanger sitzen gelassen hatte und dann ein Semester lang in Graz untergetaucht war. Was zum Vehikel eines nationalistischen Anspruchs wurde, Treue als Element der Lebensführung eines Nibelungen, erkennt Schmelz nun als Fassade. Es gehört zur Komödie, dass zuvor Werte destruiert werden. Schmelz »schlägt eine schreckliche Lache an«: »Ha, ha! Deutsche Treue! Nibelungen! Ha, ha!«80 Sie hauen aufeinander los. Dass es nicht zum Duell mit dem satisfaktionsunfähigen »Saujuden«81 kommt, dafür sorgen die Nibelungen selbst. Mit alledem erlebt Wilhelm: Identität und Zugehörigkeit sind nicht optional verfügbar, sondern durch Setzung des Prinzips »Rasse« der Wählbarkeit entzogen. Gibt es am Ende eine dramatische Sinngebung? Es gibt zwei Lösungen. Eine alludiert ein Zukunftsprojekt Nietsches, die andere erneuert Aufklärungshumanismus. Zur ersten Lösung, die im Drama ihren Ort hat: An das orthodoxe Judentum, das der Vater vertreten hatte, konnte weder von diesem noch von Schmelz unmittelbar angeknüpft werden. Seinen Sohn will der Fiebernde nicht sehen, aber er ergreift die Hand der Christin Maria, die er als Schwiegertochter zuvor strenggläubig abgelehnt hatte. Nur sie will der Todkranke um sich wissen. Adamus hat damit ins Bild gesetzt, dass scheinbar fertige Dinge im Kopf des Vaters eine Veränderung durchmachen, Marias Aufnahme in die Familie setzt Dogmen außer Kraft. Dies kündet von einem gewandelten Schmelz senior, während Schmelz junior das Zerrissenwerden durch die Gegensätze – Vaterliebe, Nibelungenidentifikation – durchströmt und er sein Seelendrama der Identitätsbewältigung am liebsten mit einem Pistolenschuss beenden möchte, was ihm seitens Zeidlers und Marias den Vorwurf mangelnder Verantwortung einträgt. Die Nibelungen-Bundesbrüder, aber auch der Davidbündler Perlesam, werfen pharisäisch den Stein. Von beiden Seiten »mit Schande« bedeckt82 sehnt Schmelz sich einen Schuldentscheid quasi im Sinne eines metaphysischen Ordals: Hätte er sich schlagen können, dann hätte er es als Wink von oben betrachten können, wenn er am Leben geblieben wäre, das alles wieder gut werden kann. Im modernen Drama muss die Lösung allerdings der menschlichen Brust entsteigen. 79 80 81 82

Ebd., S. 195. Ebd., S. 199. Ebd., S. 198. Ebd., S. 223.

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Als eintretende Polizisten ihn als denjenigen erkennen, der während der Demonstration einen Polizisten schwer verletzte, schlägt er jede Flucht aus dieser Situation aus. Er sichert sich Selbstverfügbarkeit moralisch und restituiert so sein Indivuduum. Er will »mit reiner Hand und mit reinem Herzen« wieder anfangen können – so Wilhelms mit Goethes Goetz hoch gehängter Geistadel. Das angedeutete Geistadelstum, für die Affekttat mit Blick auf den ›letzten Ritter‹ Götz einstehen zu wollen, erscheint als intellektuelles Deutsch-Bekenntnis und als Antwort auf Gemeinschaften, die geistig tiefer stehend sich rassisch und national gebärdenden. Ein Bezug auf Nietzsches Adelsmenschentum, gefaßt als seelische Vornehmheit, ist nicht von der Hand zu weisen. Diese Noblesse findet beim Vater Anerkennung. Hatte der Fiebernde zuvor in einer symmetrischen Umkehrhandlung seinen Sohn verleugnet: »Wer bist du? Hinaus!«83, ertönt in dem Moment nun, in dem sich Schmelz den Beamten stellt, die nach dem Sohn rufende Stimme des Genesendenden: »Willusch«. Die heimatlich wie kindsgerecht gebräuchliche Form des deutschen Vornamens ist zugleich das letzte Wort im Drama. Es sei erinnert, dass Friedrich Nietzsche im »Kinder Land« eine Zukunft sah, in das freilich nur jene Starken aufbrechen, die den Mut zur absoluten Vereinsamung und die Kraft zur Herauslösung aus den gewohnten Verhältnissen mitbringen. Die Vornehmen, die dorthin unterwegs sind, lassen Urväter- und Vaterländer samt der alten väterlichen Tafeln zurück.84 Ob sich am Ende bei dem jungen Schmelz ein Geistadelstum im Sinne Nietzsches abzeichnet, läßt sich nicht sicher entscheiden. In einem tektonischen Drama werden Probleme nicht durch den Filter der Persönlichkeit geführt, sie werden nicht psychologisiert.

IX Zur zweiten Lösung, die ebenfalls auf die Zukunft bezogen ist, diese wird vom jüdischen Mitstudenten Zeidler formuliert. Zeidler, der die Arbeiterzeitung hält, wird von Nietzscheaner Deubner deshalb scherzend zum Moritz,85 aber auch zum Bundesgenossen der Anarchisten gemacht, die ihm poetisch vorkommen, sind Dynamitarden doch Durcheinanderwerfer, Ordnungszerstörer, ähnlich ihm, einem ironischen Spielvermassler. Doch Zeidler wehrt ab, sieht sich gerade als 83 Ebd., S. 229. 84 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 4. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/New York: Walter de Gryter 1980, S. 255. 85 Die Verwurzelung ironischer Anwürfe im literarischen Wissen zeigen Deubner hier wie andernorts als Intellektuellen. Zeidler nennt er Moritzleben, über Moritz Leben schrieb Varnhagen von Ense, dieser hatte Moritz eine »edle, sinnvolle Geistigkeit« zugeschrieben. Siehe: Varnhagen von Ense, Karl August: Deutsche Erzählungen, Stuttgart/Tübingen: J.F.Cotta’sche Buchhandlung 1815, S. 259.

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Feind der Unabhängigen. Seiner Rolle nach ist er Demokrat. Als er in der Arbeiterzeitung las, dass man »die Polizei aufmarschieren« lässt »gegen unverletzliche Volksvertreter«86, ist er empört. Darin differiert sein Staatsbegriff mit dem deutschnationalen. Staat=Nation=Volk: Diese Formel gilt für beide. Doch für Nationalisten leiten sich diese politischen Einheiten aus der vorausgehenden Existenz einer Gemeinschaft ab, die sich von Fremdlingen abgrenzt.87 Für Demokraten hingen ist der Zentralbegriff das souveräne Volk von Staatsbürgern gleich dem Staat. Dieses bildet im Verhältnis zur übrigen Menschheit eine Nation. In Bezug auf den Staat stellen die Bürger das Volk dar. Als Demokrat also formulierte Zeidler eine Lösung für die friedvolle Beheimatung von Ethnien und Glaubensrichtungen in einem Staat. Als Mittlerfigur durchbricht er die Einseitigkeit und Erstarrung beider Kontrahenten: Wilhelm und Perlesam. Symmetrie erreicht die Durchsichtigkeit zu einer utopischen Lösung des Konflikts, die ins Gesellschaftliche soll: Was, Judentum, Christentum! Ich sag’ euch, es wird eine Zeit kommen, wo man das nicht kennen wird – das eine, wie das andere! In der Öffentlichkeit mein ich. Bei sich zu Haus soll jeder sein was er will, e Christ, e Jud, e Deutscher oder e Tschech’ – das geht niemanden was an – aber im öffentlichen, im sozialen Leben, sa mein’ ich, gibt’s bloß, oder sollt’s geben, Menschen!88

Perlesam wehrt dies als abgenutzte, nicht länger für Juden brauchbare Formeln aus 200 Jahren bürgerlichen Fortschritts ab: »Alter Humanitätsdusel!«, der Iro-

86 Adamus, Familie Wawroch, S. 23. 87 So brandete während ihrer Kneipe nach dieser Rede unter den Nibelungen Jubel auf: »Und so wollen wir schwören, Nibelungen […] und du Allvater da droben hör uns, waltender Gott, unser Volk nicht zu verlassen in seiner schweren Bedrängnis und nicht zu ruhen und zu rasten, ehe wir nicht sein Rechte wiedererkämpft, die ihm so feige und hinterhältig entrissen wurden, das Recht vor allem: Herr zu sein im eigenen Hause! – Gleich jenen ersten Nibelungen, die hohnlachend dem Schwertestod entgegenschritten, wollen auch wir lieber zugrunde gehen, als dass wir auch nur einen Fußbreit völkischer Erde den barbarischen Horden überlassen« (ebd., S. 142). Wiederholt wurde deutsche Identität im Blick zurück auf die Hermannschlacht gesucht, Kleists Drama derart mit gegenwärtigem Sinn versehen: »Deutsche Hände haben diesen Staat gezimmert«, und bezogen auf den »Fremdling« Badeni, der »so verwegen« am deutschen Volk gefrevelt, heißt es: »Nieder mit seinen Schergen.« Auf ihn gemünzt werden die Verse Kleists vorgetragen: »wir litten menschlich seit dem Tage,/ da jener Fremdling eingerückt,/ wir rächten nicht die erste Plage,/ Mit Hohn auf uns herabgeschickt./ wir übten nach der Götter Lehre/ uns durch viele Jahre im Verzeihn,/ doch endlich drückt des Joches Schwere/Und abgeschüttelt will es sein!« (ebd.). Das völkisch inspirierte Verständnis von staatlicher Identität als Gleichheit der Rasse bricht sich in Durcheinanderrufen Bahn: »Wir dulden nicht länger das Fremdenjoch! Deutsch muß dieser Staat sein, oder er wird nicht sein!«, einer konkretisiert: »Eh er vertschecht und verwelscht, eh soll er zugrunde gehn!« (ebd., S. 141). 88 Ebd., S. 230.

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niker Deubner setzt hinzu: »Und den Katzenjammer spüren wir noch heute«89, worauf Zeidler seine neue Hoffnung auf Vernunft konkretisiert: »Aber einmal wird sie’s auch nüchternerweis’ verstehn – bis sie reif geworden is – die Wahrheit zu vertragen –«. Die universelle Sprache der Aufklärung nüchtern zu sprechen – das wäre reflexive Aufklärung als kritisches Verständnis von Aufklärung. Dass öffentlich alle in rechtlich gezügelter Freiheit leben, während Religiöses, das gleichberechtigt neben anderen Varianten steht, privat auszuleben ist – ist eine ebenfalls antizipierte Lösung. Sie weist über den nicht reflexiven Emanzipationsrausch der historischen Aufklärung, den post-emanzipatorischen Antisemitismus und Rassismus und Zionismus mit seiner Wiederherstellung nationaler Ehre hinaus. Wenn man in gedanklicher Abstraktion diesen Stufen folgt, wird Triplizität als dialektische Bewegung erkennbar, von Deubner freilich diffamiert als Begeisterungsschraube. Nach rauschhaftem Aufklärungsenthusiasmus, dem Katzenjammer anhaltender religiöser und nationaler Teilungen müsse nun eine nüchterne Arbeit am gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen.

X In Neues Leben wirft Bronner noch einmal die Frage nach der wahren Heimat eines jungen Mannes auf. Erneut fesseln Kontinuitäten die Aufmerksamkeit des Lesers. Diese verbinden Neues Leben mit dem Dramenzyklus Jahrhundertwende und heben es innerhalb desselben zugleich hervor. Die verbindene Figur ist der Hauslehrer Dr. Wilhelm. Seiner äußeren Charakteristik nach ist es Willusch, der nun erwachsene Sohn des jüdischen Wirts Schmelz aus Familie Wawroch, der in Schmelz, der Nibelunge als Student Franz Wilhelm seinen Vater verleumdete und der nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sein Studium beendete und als Hauslehrer bei der Familie Zossen tätig ist. Die stoffliche Anregung bezog Bronner von einem älteren Ehepaar, bei dem er als Privatlehrer in Wien arbeitete. Dieses offenbarte ihm, dass sein Zögling das Kind einer Landarmen war, die den Jungen in ihre Obhut übergab. Dieses Geständnis fesselte Bronner: »Immer wieder stellte ich mir die Frage: Wie würde es werden, wenn der feinfühlige Junge die Wahrheit erführe? Würde die Stimme des Blutes stärker sein, als das Gefühl unzertrennlicher seelischer Verbundenheit?«90 Im naturalistischen Sinne wollte er das Drama nicht enden lassen. Zu dessen Lösung inspirierten ihn Nietzsches Worte vom »[…] ›guten Europäer‹, dessen 89 Deubner bleibt Nihilist: Dreck und Teufel, also Teufelsdreck, sind ihm die »einzigen Lebensmächte« (ebd., S. 231). 90 Bronner, Nichts als die Wahrheit!, S. 363.

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Heimat nur in einer geistigen Sphäre liegen kann […]«91. Während sich die Geburtstagsgesellschaft des seinen 18. Geburtstag begehenden Jungen im Salon versammelt, trägt sein Lehrer Dr. Wilhelm die Schlusszeilen von Nietzsches Land der Bildung vor: »Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meer; nach ihm heiße ich meine Segel suchen und suchen.«92 Daraufhin wird ›Heimat‹ von den Gästen als Gesprächsthema aufgegriffen. Nicht zufällig schreibt die Bühnenanweisung »eine gewisse Überladung« des bürgerlich-adeligen Ambientes vor, geht es doch um das Verkleinern, Verengen, Vermittelmäßigen der versammelten Gesellschaft als Möglichkeit, Ideen aktiver Lebensgestaltung dagegen zu setzen. So faßt Oberst von Rantzow Heimat mit Bildungsversatzstücken als einen patriotischen Wert: »Nee, das ist ja verrücktes Zeuch! Ich glaube jeder Mensch hat sein Vaterland […] Wie sagt doch nur – äh – Schiller […] ›Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen!‹ Sehen Sie, das ist meine Meinung […]«93 Anderen erscheint Heimat rein sozialtechnisch bestimmbar: »– aber die Kinder haben doch ihre Heimat dort, wo ihre Eltern sie haben – juristisch genommen […].«94 Den meisten aber ist Heimat fraglos gegebene Tatsache. Der Geburtagsgsanlaß und die schließlich auf biologische Herkunft reduzierte Heimatfrage münden in die Enthüllung des bislang sorgsam gehüteten Geheimnisses. Der Junge erfährt, ein lediges mittelloses Mädchen vom Lande hatte den Zossens ihr Kind gegen eine Geldsumme überlassen. Von dieser Mitteilung überwältigt, fällt er in einen traumreichen Schlaf. Ein erster Traum offenbart nicht nur seine Gefühle für Marietta von Rantzow, sondern auch seine Furcht, diese könnten nicht erwidert werden. Im Traum geht Mariettas Gestalt der seinen voran: »Plötzlich, sowie die zweite Gestalt sich dem Höhepunkte nähert, schwebt sie empor, die Brücke teilt sich und stürzt in sich zusammen, Freds Gestalt mit sich begrabend.«95 Das Traumzeichen allegorisiert die gesellschaftliche Kluft, die ihn nach Zutagetreten der plebejischen Herkunft von Marietta trennt. Die Traumgestalt verhöhnt ihn und ergreift die Hand von Herrn Dobrowolsky. Im zweiten Traumbild steht eine Tischtafel im Mittelpunkt, an deren Stirnseite Fred lauschend sitzt. In seiner 91 Ebd., S. 364. 92 Nietzsche, Friedrich: Vom Lande der Bildung. In: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Teil. Mit einem Essay von Thomas Mann. Leipzig: Insel Verlag 1976, S. 122–124, hier S. 124. 93 Adamus, Franz: Neues Leben. In: Aspetsberger, Friedbert: Jahrhundertwende. Ein Dramenzyklus von Franz Adamus. Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2008, S. 365–471, hier S. 370. 94 Ebd., S. 375. 95 Ebd., S. 407.

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Ansprache betont der Sozialist und Pflegevater von Zossen, dass Erziehung den Makel der Abstammung beheben kann: »So bist du nun, mein lieber Fred, obwohl durch Geburt anderen Lebenskreisen entstammend, durch Erziehung und gemeinsame Lebensarbeit unser Sohn geworden.«96 Die Aufhebung der BlutFrage mittels Aufklärungspädagogik emport die adligen Gäste. Sie brechen demonstrativ auf, man verkehre nur in »reinadeligen Kreisen«. Bronners Übersetzung der Blutfrage in die ständegesellschaftliche ist notwendig, um Nietzsches Idee vom neuen Adel als seelische Noblesse gegen die Realität des alten historischen Adels setzen zu können, der sich über blutmäßige Abstammung definiert, aber auch gegen die Realität sozialtechnischer Aufklärungsillusionen. Während auf den historischen und zeitgenössischen Adel und den Aufklärungshumanismus nicht zurückgegriffen werden kann, setzt der neue Adel Werte. Nietzsches Forderung: »Vertriebene sollt ihr sein aus aller Väter- und Urväterländern« ist als eine Absage an das moderne, nationalistisch denkende Europa lesbar. Sie bestimmt Zukunft als neue »Kinder Land«. Nietzsche dekretiert: »diese Liebe sei euer neuer Adel«97. Nietzsche sah die gegenwärtige Gesellschaft quasi zwischen den Meeresungeheuern Skylla und Charybdis strudelnd: Zum einen könne sich ein ›Gewalt-Herr‹ erheben, welcher die Vergangenheit seinen Zwecken gemäß interpretiert und sich als Höhepunkt der Menschenentwicklung darstellt. Zum anderen könne der Pöbel an die Macht gelangen, welcher die Vergangenheit ganz ignorieren werde: »Darum, o meine Brüder, bedarf es einen neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹«98. Zu diesem ›neuen Adel‹ werden Zarathustras Anhänger gehören: O meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern hinaus! Vertrieben sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte in fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!99

Solche Träume sollen weisen. Doch Fred träumt fort. Er flieht in die Arme seiner Ziehmutter, die ihn einer Sohnesprüfung unterzieht. In die Höhe schwebend, wendet diese sich ihm mit den Worten zu: »Komm, mein Pumpele, komm! – Flieg doch, mein Vögelchen, flieg! – Zeig’ doch, daß du mein Sohn bist! – Was von

96 Ebd., S. 408. 97 Nietzsche, Friedrich: Von Alten und Neuen Tafeln, In: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Teil. Mit einem Essay von Thomas Mann, S. 196–218, hier S. 204 (Nr. 11). 98 Ebd., S. 203 (hier Nr. 11). 99 Ebd., S. 204 (hier Nr. 12). Hervorhebungen im Original.

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hoher Art ist, muß fliegen können –«100. Als ihr Fred offenbart, dass er die Kunst des Fliegens nicht beherrscht, stößt sie ihn weg: »Ich bin nicht deine Mutter – und du bist auch mein Sohn nicht.«101 Die existentielle Situation wird mit Hamlet vertieft. Der träumende Fred rezitiert die Passagen: »Sein oder Nichtsein! […] Wo ist die Wurzel, die mein Sein verkettet? Wer bin ich denn? – Und wo gehör ich hin?«102 Und noch einmal in einen tiefen Traum fallend, begibt er sich auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter. Seinen Weg kreuzt eine gebeugte männliche Gestalt am Wanderstabe, Ahasver. In der Sicht Nietzsches sind die von der Bindung an Nation und Klima gelösten »guten Europäer« eine übernationale, nomadische Art Mensch.103 Daher endet der Traum mit einer Warnung des Wanderers an den Jungen, der unterwegs ist, sein Blut aufzusuchen: »Wohl denen, die vollendet haben! – Doch wehe, wer den Weg nicht heim gefunden!«104 Doch zunächst findet Fred seine leibliche Mutter. Die in kümmerlicher Beschränktheit mit einem tschechischen Trinker hausende Frau weist die Wärmeund Geborgenheitssehnsucht des Jungen zurück. Dieser rackert sich ab, um regelmäßig Lohn nach Hause zu bringen. Vergeblich wirbt er um die Liebe seiner Mutter, die es ablehnt, ihrem Mann den vermeintlichen Untermieter als ihren Sohn vorzustellen. Sie benutzt ihren Sohn als Geldquelle, und auch der Trinker grabscht nach dem Auffliegen ihrer Verstellung nach den Groschen, die Fred – im Innern zutiefst verletzt – aus seinen Taschen schaufelt. Das gemeinsame Blut bietet keine Heimat. Daher will der junge Mann zusammen mit seinem Lehrer Dr. Wilhelm – sehr wahrscheinlich Franz Wilhelm, der sein Studium in Wien beendete und nun als Lehrer arbeitet – nach Brasilien auswandern. Zuvor sagt er seinen Adoptiveltern Lebewohl, nicht ohne von Dr. Steinhorst zu schwärmen, dem er und der Lehrer sich anschließen möchten: »Ein herrlicher Mensch! Wir sind alle von ihm begeistert! Und wie er alles so wunderbar zu schildern versteht! Das Land »Unserer Kinder Land«, wie er es mit Vorliebe nennt – der rauschende Urwald – mittendrin der neue Kulturboden – drauf, von Gärten umgeben, die schmucken Hütten der Volksgenossen – alle in Gemeinschaft lebend – und bei der Arbeit die Klänge eines alten deutschen Liedes! – Da ist nichts von dem Elend der alten Heimat, von der alten unausrottbaren sozialen Mißwirtschaft – man ist wie neugeboren – der neue Mensch!«105

100 101 102 103

Adamus, Neues Leben, S. 410. Ebd. Ebd., S. 412. Nietzsche-Wörterbuch: Abbreviatur – einfach. Hg. von der Nietzsche-Ahasver-Forschungsgruppe unter Leitung von P. von Tongeren, G. Schank und H. Siemens. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004, S. 43. 104 Adamus, Neues Leben, S. 423. 105 Ebd., S. 464.

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Von solchen Bildern ergriffen, bemerkt Fred nicht die Veränderungen, die das Herrenhaus Hohenegg gezeichnet haben. Erst als er von anderen darauf gestoßen wird, erkennt er: Die Zossens verfolgten mit seiner Adoption keine materiellen Werte, sondern waren nur auf das Wohl des Kindes bedacht, weshalb sie auf dem Besitz von Freds leiblichem Vater ansässig wurden. Freds Heimat wurde zu ihrer Heimat und das Kind zu ihrem Lebensinhalt, den sie mit seinem Auszug verlieren. Die Stationen auf Freds Weg – vom unbewußten Leben im Herrenhaus Hohenegg über die ärmliche Wohnstätte der leiblichen Mutter und die Auswanderungspläne bis hin zur bewußten Bindung an die Adoptiveltern – sollen als Stufen im Wachstum des Jungen begriffen werden.

XI Wo liegt der historische Stellenwert der besprochenen Dramen Adamus-Bronners? Zunächst geht aus ihnen hervor, dass der fortdauernde und zunehmend sich antisemitisch radikalisierende Nationalismus auf jüdische Deutsche einen starken Druck ausübte, der sie zwang, sich Identitätskonstruktionen aufzubauen. Mit Anleihen an die Sprache Nietzsches suchen Bronners junge Dramenhelden vaterverweigernd ihr ärmliches soziales oder rassisches Bedingtsein zu überwinden, durch einen weiten Blick geistige Freiheitspielräume zu gewinnen. Die Entfernung vom Naturalismus und die aus dem Hadern mit jüdischen Wurzeln heraus angestrebte Entfernung vom biologistischen Menschenbild fallen gewissermaßen zusammen. Der Denker der Spätmoderne Nietzsche hatte vom Subjekt verlangt, dass es sich von Normen und Gegebenheiten losreißt, die eine ›freie Kunst‹ bzw. ein ›souveränes Individuum‹ einengen. »Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund«, rief er in Ecce homo seinen Lesern zu.106 Das große, gesund und frei gewordene Selbst ist über Verfangenheiten in Herkunft erhaben. Diese emphatisch-pathetische Höhe der Selbstverfügbarkeit erreichen die weniger kraftvoll wirkenden Figuren AdamusBronners nicht. Sie spielen Nietzsches Attidüde eines durch Herauslösung aus den gewohnten Verhältnissen neu gewordenenen Individuums nicht als erfolgreiche oder dauerhafte ein, so als ließen sie ab einem gewissen Zeitpunkt Prägungen durch soziale Armut, Blut oder Nation vollens hinter sich. Vielmehr spiegeln die Jahrhundertwende-Dramen den schmerzhaften Prozeßcharakter personaler Selbstverhältnisse und den psychologischen wie ästhetischen Nutzwert der Lebenskunstphilosophie Nietzsches auch für Bronner selbst wider. Nicht zufällig bedrohen Väter wie Wawroch und Schmelz das neu gewonnene 106 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 6. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/New York: Walter de Gruyter 1980, S. 266.

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Selbstverhältnis ihrer Söhne mit Erschütterung. Daß die Dramenfiguren für ihr »Ich-selber-sein« eine geistige Form und Ferne bemühen, das Reich des Zarathustra war ja noch nicht von dieser Welt, zeigt ebenso wie der dabei bemerkbare starke Affekt der Selbstgestaltung, wie stark sie sich innerlich und äußerlich durch den gesellschaftlichen Kontext herausgefordert fühlen. Aspetsberger gibt im Vorwort seiner Herausgabe der Dramen Bronners zu bedenken: Es muß für Adamus schon lange und über die Mitte der Achtziger in den Bielitzer Schulzeiten, in der Klasse und in seinem Verkehr als Nachhilfelehrer in den guten Häusern und mit deren Personal in einer Weise bedrängend gewesen sein, dass er nicht seine Intelligenz und seinen Fleiß als seine Leistung, sondern ständig ein Bild seiner Herkunft über sich erfuhr […].107

Bedenkt man die zunehmende Verbreiterung des Rassismus zu einem Alltagsdruck, befördert durch kirchliche, christlich-soziale und deutschnationale Politik, nimmt es nicht wunder, dass der sich zum Deutschtum bekennende Bronner anläßlich der Jahrhundertfeier des Burgtheaters mit einem Drama aus Tiroler Heldenzeit zu reüssieren sucht.108

Literatur Adamus, Franz (= Bronner, Ferdinand Wilhelm): Familie Wawroch. Ein österreichisches Drama in vier Akten. Mit einem Geleitwort von Ernst Freiherr von Wolzogen. Paris/ Leipzig/München: Verlag von Albert von Langen 1899. Adamus, Franz: Schmelz, der Nibelunge. Komödie in vier Akten. Wien: Wiener Verlag 1905. Adamus, Franz: Neues Leben. In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Jahrhundertwende. Ein Dramencyklus von Franz Adamus. Innsbruck-Wien-Bozen: Studien Verlag 2008, S. 365– 471. Aspetsberger, Friedbert: Arnolt Bronnen: Biographie. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995. Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Jahrhundertwende. Ein Dramenzyklus von Franz Adamus. Innsbruck-Wien-Bozen: Studien Verlag 2008. Bahr, Hermann: Schmelz, der Nibelunge. Komödie in vier Akten von Franz Adamus. Zum ersten Mal aufgeführt im Raimund = Theater am 6. März 1905. In: Bahr, Hermann: Glossen zum Wiener Theater (1903–1906). Berlin: S. Fischer 1907, S. 454–462. Błach, Małgorzata: Franz Adamus’ »Familie Wawroch«. Die reale Frage in archivarischen Quellen. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/Ksie˛z˙yk, Felicja (Hg.): Germanistische Werkstatt 4. Deutsche Sprache und Literatur im Wandel. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2011, S. 143–156. Błach, Małgorzata: Franz Adamus’ »Jahrhundertwende« in der zeitgenössischen Kritik. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/Ksie˛z˙yk, Felicja (Hg.): Germanistische Werkstatt 5. Gegen107 Aspetsberger, Jahrhundertwende, S. 27. 108 Er beendet Vaterland, einem Drama aus Tiroler Heldenzeit aber nicht 1909, sondern erst 1911.

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wärtige Forschungsrichtungen in den sprach-, literatur- und kulurwissenschaftlichen Diskursen von Nachwuchswissenschaftlern. Opole: Wydawnictwo Uniwersytetu Opolskiego 2013, S. 159–167. Bronner, Ferdinand Wilhelm: Nichts als die Wahrheit! Blätter der Erinnerung. o. J., Marbacher Literaturarchiv, ungedrucktes Manuskript. Fritsch, Gerhard/Henz, Rudolf/Kruntorad, Paul/Gauß, Karl Markus (Hg.): Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift. Salzburg: Otto Müller 1995. Krappmann, Jörg: Allerhand Übergänge: Interkulturelle Analysen der regionalen Literatur in Böhmen und Mähren sowie der deutschen Literatur in Prag (1890–1918). Bielefeld: Walter de Gruyter 2013. Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 4 und 6. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/New York: Walter de Gruyter 1980. Nietzsche-Wörterbuch: Abbreviatur – einfach. Hg. von der Nietzsche-Ahasver-Forschungsgruppe unter Leitung von P. von Tongeren, G. Schank und H. Siemens. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2004. Nietzsche, Friedrich: Von den Fliegen des Marktes. In: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Teil. Mit einem Essay von Thomas Mann. Leipzig: Insel Verlag 1976, S. 54–58. Nietzsche, Friedrich: Vom Lande der Bildung. In: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Teil. Mit einem Essay von Thomas Mann. Leipzig: Insel Verlag 1976, S. 122–124. Pinsker, Leon: Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Berlin: W. Issleib 1882. Rudolph, Andrea: Zwischen naturalistischer Revolution und humanistischer Tradition. Zur ethischen Überwindung des Naturalismus in Dramen Gerhart Hauptmanns und Ferdinand Bronners. In: Kmiec, Bogumiła (Hg.): Spotkania Polska-Austria. Begegnungen Polen-Österreich. Czestochowa Centrum Je˛zyków Europejskich. Nauczycielskie Kolegium Je˛zyków Obcych w Cze˛stochowie 2005, S. 33–38. Scheit, Gerhard: Väter und Söhne. Ferdinand Bronner und Arnolt Bronnen. In: Fritsch, Gerhard (Hg.): Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift. Salzburg: Otto Müller 1995, S. 295–296. Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Autobiografie. Prag: eartnow 2017. Staudacher, Anna L.: »… meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben«. 18 000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868–1914: Namen – Quellen – Daten. Frankfurt/M.: Peter Lang 2009. Varnhagen von Ense, Karl August: Deutsche Erzählungen. Stuttgart/Tübingen: J.F.Cotta’sche Buchhandlung 1815.

Arletta Szmorhun (Zielona Góra)

Jüdische(r) Fremdkörper. Rassistische Stigmatisierungs- und Ausschließungspraktiken in Julia Francks Die Mittagsfrau

Strukturelle Vorbedingungen für Stigma und Ausgliederung – Einleitung In seiner vielzitierten Studie Stigma weist Erving Goffman darauf hin, dass jede Gesellschaftsordnung von einem dichten Kategorisierungsraster durchzogen ist, das Orientierungsformen kreiert und die soziale Umwelt auf ein begreifbares und überschaubares Komplexitätsniveau reduziert: »Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet.«1 Diese antizipierten und als gewöhnlich empfundenen Merkmale schaffen einen normativen Erwartungshorizont, der den Anderen und dessen Anerkennung kategorial mit einbezieht. Manche Kategorien begleiten den Menschen ein Leben lang, etwa das Geschlecht, die Rasse oder die Nation, und werden immer wieder zur Einordnung bestimmter Situationen als Anhaltspunkt(e) herangezogen. Andere wie z. B. Bildungsniveau, Weltanschauung oder finanzieller Status werden dagegen nur in einem einzigen Kontext relevant und gleich danach durch andere Kategorien in den Hintergrund der Selbst- und Fremdwahrnehmung gerückt. Der Prozess der Kategorisierung ist dabei immer durch Ambivalenz gekennzeichnet: Auf der einen Seite ordnen sich die Menschen bestimmten Kategorien selbst zu, auf der anderen Seite werden ihnen durch die Gesellschaft und ihre Mitmenschen bestimmte Kategorien zugewiesen.2 Ein Auseinanderklaffen von Selbst- und Fremdkategorisierung ist aus diesem Prozess nicht wegzudenken, zumal die mit einer Kategorie verwendeten Attribute oft einen herablassenden Charakter haben, so dass die negativen Vorstellungen vom abgewerteten Individuum oder von der abgewerteten Gruppe 1 Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2016, S. 9f. 2 Vgl. Klein, Michael: Die nationale Identität der Deutschen: Commitment, Grenzkonstruktionen und Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 24.

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in spürbaren Konsequenzen verfestigt werden. Goffman spricht in diesem Zusammenhang vom Stigma, das in seiner Theorie in Bezug auf eine Eigenschaft gebraucht wird, die zutiefst diskreditierend ist und einen begründeten Anlass darstellt, Diskriminierungsprozesse in Gang zu setzen, um die Lebenschancen des Diskriminierten wirksam zu reduzieren und ihn aus dem moralischen Universum der Gruppe auszuschließen. Es wird zu diesem Zweck eine StigmaTheorie, eine Ideologie, konstruiert, die seine Inferiorität erklären und die Gefährdung durch den Stigmatisierten nachweisen soll.3 Dies veranlasst dazu, die Stigmatisierung von Personen oder Gruppen als eine Exklusionshandlung zu begreifen, die sich als Zuschreibung von Verhaltensweisen, Denkmustern oder Eigenschaften vollzieht und dafür sorgt, dass der Stigmatisierte schließlich aus dem »Gemeinsamkeitsbewußtsein der Gleichgearteten«4 verbannt wird. Die Exklusion setzt voraus – so Horst Stenger –, dass ein inkludierender, gemeinsamer Horizont der Zugehörigkeit unterstellt werden kann. Die Erfahrung der Stigmatisierung bezieht sich demnach auf eine Figur, bei der die Erfahrung der Ausgrenzung mit der Zuschreibung der Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe verknüpft wird. Die Gruppenzugehörigkeit legitimiert bereits die Behandlung der Person als nicht-zugehörig. Offenkundig ist ein solches Verfahren sozial hinreichend, wenn im Wissensbestand die zugeschriebene Gruppenzugehörigkeit mit einem relativ niedrigen Status und der möglichen Stigmatisierbarkeit verbunden ist. Die Verankerung der Stigmatisierbarkeit einer Gruppe im Wirklichkeitswissen stellt eine strukturelle Grundlage dar, auf die individuelles Handeln in routinisierter Form zurückgreifen kann.5 Der Prozess der Stigmatisierung und die Erfahrung der Exklusion sowie die Techniken der Bewältigung der beschädigten Identität sollen im Folgenden am Beispiel des 2007 erschienenen Romans Die Mittagsfrau von Julia Franck veranschaulicht werden. Die Handlung spielt sich vor dem Hintergrund zweier Weltkriege ab, so dass das Schicksal der einzelnen Figuren vom permanenten Umschwung der historischen Verhältnisse geprägt ist und verschiedenartige Fremdheitserfahrungen generiert. Franck setzt zwei weibliche Figuren (halb)jüdischer Herkunft – Selma Würsich (Mutter) und Helene Semisch (Tochter) – auf die Bühne, die in ihrem sozialen Umfeld »den phylogenetischen Stigmata«6 von Rasse und Religion zum Opfer fallen, wenn auch die Erfahrungen von Fremdheit und Distanz in beiden Fällen unterschiedliche Ausprägungen annehmen. An beiden Beispielen soll illustriert 3 Vgl. Goffman, Stigma, S. 11. 4 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr 1985, S. 236. 5 Vgl. Stenger, Horst: Deutungsmuster der Fremdheit. In: Münkler, Herfried/Ladwig, Bernd (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 159– 221, hier S. 189. 6 Goffman, Stigma, S. 13.

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werden, dass die wiederholte Anwendung ethnischer Kategorien zur Ordnung der sozialen Umwelt in der »Institutionalisierung ethnischer Differenzen«7 mündet und durch verschiedene Mechanismen – z. B. das Aufkommen von ethnisch konnotierten Gerüchten oder das Erlassen von Rassengesetzen – historisch legitimiert wird und dazu führt, dass sich die der Ethnie zugeschriebenen Attribute »mit der Weitergabe an eine neue Generation objektivieren«8 und den Alltag der abgewerteten Gruppe nachhaltig beeinträchtigen.

Fremdheit als Exklusionsverhältnis – Zu Fremdheitserfahrungen im Kaiserreich Das Judentum Selmas und ihrer Familie wird in Francks Roman nur am Rande thematisiert. Es kommt lediglich als Spurenelement vor, symbolisiert in einzelnen Gegenständen, mit denen Helene und ihre ältere Schwester Martha im christlich geprägten Haus des Vaters nichts anzufangen wissen oder in einem leise gesprochenen Kaddisch, das erstaunlich und zugleich befremdlich anmutet, weil es in Helenes Ohren »wie eine ausgedachte Sprache«9 klingt und somit keinerlei Bedeutung besitzt. Die reduktionistische Darstellungsweise von judenbezogenen Sachverhalten gilt auch den antisemitischen Tendenzen, mit denen Selma in Bautzen vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs konfrontiert wird. Die erzählerische Zurückhaltung in der Darstellung der rassistisch geprägten Antagonismen geht jedoch nicht so weit, dass man an diesem Problem gleichgültig vorbeigehen kann. Die von Franck literarisch entworfenen Antisemitismen artikulieren sich vor allem in Gesten, Verhaltensweisen und Reaktionen der Bautzener Gesellschaft, die sich keineswegs bereit zeigt, ihre Eindrücke von Fremdheit und Distanz zu revidieren und Selma Würsich eine Chance zu geben, als vollwertige Bürgerin angesehen zu werden: Helene wunderte sich über die vielen Bekannten, die grußlos an ihnen vorübereilten, sobald sie mit der Mutter auf die Straße trat. Der Mutter schien das nicht aufzufallen. Helene zählte still und heimisch, wobei sie oft nicht über eine Begrüßung hinaus kam. […] Vermutlich war es Martha, von der Helene eines Tages erfahren hatte, dass die Mutter keineswegs Frau Würsich genannt wurde. Die Bewohner der Tuchmacherstraße sprachen von der Fremden, die Fremde, die zwar den angesehenen Bautzener Bürger

7 Müller, Marion/Zifonun, Dariusˇ: Wissenssoziologische Perspektiven auf ethnische Differenzierung und Migration: Eine Einführung. In: Müller, Marion/Zifonun, Dariusˇ (Hg.): Ethnowissen. Soziologische Beiträge zur ethnischer Differenzierung und Migration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 9–36, hier S. 16. 8 Ebd., S. 14. 9 Franck, Julia: Die Mittagsfrau. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011, S. 64.

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und Buchdruckmeister Würsich geheiratet hatte, aber selbst hinter dessen Landtheke und auf der Straße mit den gemeinsamen Töchtern an der Hand eine Fremde blieb.10

In ihrem sozialen Umfeld fällt Selma zum Opfer einer kategorialen Diskriminierung, die sowohl verbales Verhalten als auch nonverbale Handlungsakte mit einbezieht und sich in der eindeutigen Zurückweisung äußert. Obwohl sie den angesehenen Bautzener Bürger und Buchdruckmeister, Ernst Ludwig Würsich, geheiratet und gemeinsame Kinder zur Welt gebracht hat, weigern sich die Bewohner Bautzens, sie nicht nur als gleichberechtigtes Mitglied der dortigen Gesellschaft, sondern vielmehr als Frau Würsich anzuerkennen. Sie wird nicht mal mit deren Namen angesprochen, sondern durch ein indirektes Über-jemandenSprechen als Fremde etikettiert. Durch solche Operationen des Trennens wird eine symbolische Grenze gezogen und eine Unterscheidung zwischen »wir« und »sie« geschaffen, die ihrerseits einen sozialen Abstand zwischen den Sprechern und der (Nicht)Angesprochenen erzeugt und ihn letztendlich durch herabwürdigende Gesten verfestigt und naturalisiert. Die getroffene Unterscheidung sorgt im nächsten Schritt dafür, dass die Bautzener Bekannten als höherwertig erscheinen und Selma als Teil der minderwertigen Gruppe diskriminiert und auf diese festgeschrieben wird. Das substantivierende Etikett »die Fremde«, das in Bezug auf ihre Person konsequent verwendet wird, schreibt sie als einen typischen Repräsentanten einer sozialen Kategorie fest und beschränkt damit die Perspektive, aus der sie betrachtet und behandelt wird. Diese perspektivische Enge kann in ihrem Fall keineswegs verlassen werden. Selbst die eheliche Verbundenheit mit einem der anerkannten Mitglieder der Bautzener Gesellschaft und die gemeinsamen Kinder vermögen es nicht, das etikettierende Substantiv abzuschwächen und das Recht auf soziale Eingliederung zu gewährleisten. Um das Eigene und das Fremde effektiv voneinander getrennt zu halten, wird eine kühle Distanz geschaffen, die eine klare (Rang)Ordnung herstellt und das Gefühl der Nichtzugehörigkeit erzeugt. Auf diese Weise wird Selma im Bekanntenkreis weder als Frau Würsich noch als Individuum mit verschiedenen Seinsweisen und Handlungen angesehen, sondern als ein Störfall betrachtet, der die Bautzener ›Normalität‹ irritiert. Auf die Wahrnehmung und Benennung einer Normabweichung erfolgt die Zuschreibung negativer Stereotype, die zu einer Abgrenzung gegenüber Selma führt und eine Diskriminierung bewirkt, die verschiedene Techniken und Modalitäten der Benachteiligung inkludiert. Die Bautzener Bekannten sind nicht nur darum bemüht, einen engen oder persönlichen Kontakt mit ihr zu vermeiden, sondern auch – falls direkter Kontakt unvermeidbar ist – ihr gleiches Ansehen und gleichberechtigte Teilhabe an der Kommunikation vorzuenthalten. Sie wird auf der Straße nicht mal begrüßt, was ihre jüngere 10 Ebd.

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Tochter Helene mit Unbehagen registriert. Das permanente Angeschwiegen-, Ignoriert- und Verachtetwerden folgen dabei einer Logik sozialer Ortsverschiebungen, die eine zentrifugale Ausrichtung hat: Sie zieht ihre Adressatin an den sozialen Rand hin.11 Das Ausbleiben der Ansprache weist Selma zwar einen Platz im Bautzener Raum zu, aber es ist ein minderwertiger und unsicherer Platz, der eine Gewissheit darüber, ob sie noch ein Teil des Sozialen ist, nicht entwickeln lässt. Hinter dieser symbolischen Verachtung und Geringschätzung, die das soziale Sein von Selma verletzen, indem sie ihr Recht auf Gleichbehandlung und Gleichberechtigung demonstrativ mit Füßen treten, stecken in erster Linie die mit der Ethnie verbundenen Glaubensfragen, die in Francks Roman nur vage Konturen bekommen. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang insbesondere das Abweichen von der in Lausitz gepflegten Tradition, am Herkunftsort der Frau kirchlich zu heiraten, was als ein gottloser Akt auf gesellschaftliche Missbilligung stößt und tiefe Verachtung der Betroffenen nach sich zieht. Die standesamtliche Trauung, die in dieser Perspektive »einer ehrrührigen Verbindung«12 gleichkommt und die Tatsache, dass »die Fremde ihrem Mann sonntags nicht in den Petridom folgt«13, sind der Bautzener Gemeinschaft ein Dorn im Auge, weil sie das Ansehen ihres Bürgerstandes lädieren und als sozialer Missstand angeprangert werden: Die Bewohner Bautzens empfanden offenbar die nicht stattgefundene kirchliche Trauung als Schmach für das Ansehen ihres Bürgerstandes. Niemand würdigte die Fremde eines Grußes. Jeder Blick, auch wenn er Selma Würsich nicht treffen konnte, weil sie wie in weiser Voraussicht den raren Fundstücken zwischen den Pflastersteinen mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Bürgern der Stadt, war abschätzig von einem Kopfschütteln und Flüstern begleitet. Ob stolz oder verlegen, die Passanten blickten an Helene und ihrer Mutter vorbei, hinweg über die am Boden hockende Frau und durch sie hindurch. Begegnete Helene an der Hand der Mutter dem Bürgermeister Koban, einem Freund des Vaters, so wechselte dieser grußlos die Straßenseite. Die Söhne vom Richter Fiebinger lachten und drehten sich um, weil sie die im Sommer dünnen Stoffe anstößig und die im Winter ausladenden Kleider der Mutter seltsam fanden.14

Die Verletzung der Norm, die für das Bautzener Kollektiv von Belang und deren Bekräftigung ihm wichtig ist, scheint ein berechtigter Grund dafür zu sein, Selma einer veritablen Demütigung und Beschämung auszusetzen, die mit Anstand und Würde wenig zu tun haben. Ihre Anprangerung und Brandmarkung vollzieht sich geplant, koordiniert und öffentlich. Sie erfolgt weder spontan noch situativ11 Vgl. Kuch, Hannes/Hermann, Steffen Kitty: Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt. In: Hermann, Steffen K./Krämer, Sybille/Kuch, Hannes (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld: transcript 2007, S. 179–210, hier S. 192. 12 Franck, Die Mittagsfrau, S. 37. 13 Ebd. 14 Ebd.

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willkürlich, sondern hält sich an ein wohlüberlegtes Skript und weist eine ritualisierte Struktur auf.15 Ständig wiederholt werden ihre einzelnen Elemente variabel eingesetzt und auf die jeweilige Situation abgestimmt, um Selma vor Zeugen als minderwertig bloßzustellen und ihre Nichtzugehörigkeit nicht nur zu bekräftigen, sondern sie auch zur Schau zu tragen. Auf der Straße wird entweder an ihr vorbei-, über sie hinweg- und durch sie hindurchgesehen oder man reagiert auf sie mit abschätzigem Kopfschütteln und Geflüster. Selbst die Freunde ihres Mannes wechseln grußlos die Straße, wenn sie ihr begegnen. Die Eheschließung mit dem angesehenen Bautzener Bürger und damit auch die Familie, der man sich zugehörig fühlt, sowie die gemeinsame Sprache und der gleiche Wohnort oder die Bereitschaft, eingemeindet zu werden, erweisen sich in diesem Fall als unbedeutend im Vergleich zu Kategorien, mit denen die soziale Welt Bautzens geordnet und strukturiert wird. Selmas jüdische Abstammung und damit auch ihre Identifikation mit der jüdischen Religion hindern die Bautzener Gemeinschaft daran, ihre rassistisch geprägten Wahrnehmungsmuster kritisch zu hinterfragen und eine Vorstellung von Ähnlichkeit und Nähe zuzulassen. Die Bautzener definieren ihre Identität durch die Bindung an die deutsche Nation und die Identifikation mit dem christlichen Glauben, die auch den Rahmen oder den Horizont abgeben, innerhalb dessen Gleichheit und Verschiedenheit bzw. Norm und Abweichung von der Norm festgestellt und Deutungsmuster für die Artikulierung sozialer Vergleiche vorgeschrieben werden. Die Kategorien Nation und Religion gelten damit als Wahrnehmungsschablonen, die eine bestimmte Sicht auf die Welt aufdrängen und den Beurteilungsmaßstab beeinflussen. Sie sind eine Art Filter, der Wissensbestände strukturiert und dafür sorgt, dass das Orientierungswissen generationsübergreifend aufrechterhalten und verfestigt wird. Etwas zugespitzt könnte man formulieren, dass die Bautzener in Die Mittagsfrau antijüdischen Vorurteilen und/oder Tendenzen verhaftet bleiben, die sie gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen haben. So erfährt Selma Diskriminierung und Demütigung nicht nur von Seiten der Erwachsenen, sondern auch von deren Kindern, die sie dem anerzogenen Schema gemäß beurteilen und aufgrund von festgestellten Unterschieden auslachen. Selbst der von ihr kreierte Modestil – die im Sommer dünnen Stoffe und die im Winter ausladenden Kleider – scheint den festgelegten Anstandsrahmen zu sprengen und irritiert (auch) die jungen Gemüter dermaßen, dass Selmas Outfit einen zusätzlichen Grund darstellt, sie an den gesellschaftlichen Pranger zu stellen. Antijüdische Vorbehalte und Vorurteile fließen jedoch nicht nur in die Rede und in das Verhalten der Bautzener Bekannten ein, sondern sind auch in der familiären Kommunikation zu finden, die den rassistischen Hintergrund der Antagonis15 Frevert, Ute: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt/ M.: S. Fischer 2017, S. 15.

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men gegenüber Selma aufdecken lässt. Als Helene von ihrer älteren Schwester Martha eines Tages erfährt, dass ihre Mutter Jüdin ist, reagiert sie mit Skepsis und Entsetzen: Helene sah Martha ungläubig an. Das ist sie nicht. Zur Bekräftigung schüttelte sie den Kopf. Nicht richtig. […] Aber natürlich ist sie eine. Du glaubst, sie wird in Bautzen die Fremde genannt, weil sie mit Breslauer Akzent spricht. Glaubst du das? Glaubst du, das ist Breslauer Akzent? Ich glaube das nicht, es ist die Sprache ihrer Sippschaft. […] Was glaubst du, warum sie nie mit in die Kirche kommt? Einen großen Bogen macht sie um den Dom. Das liegt an dem Fleischmarkt. Sie sagt, die Fleischbänke riechen übel. Helene wollte, dass Martha schwieg.16

Dem trauten Schwestergespräch ist zu entnehmen, dass die jüdische Herkunft der Mutter im christlich geprägten Haus des Vaters ein absolutes Tabuthema ist, an das sich die erwachsenen Familienmitglieder wie im stillen Einvernehmen nicht heranwagen und stattdessen Ausreden formulieren, die den Schein der christlich-deutschen ›Musternormalität‹ wahren (sollen). Sowohl die familiäre Geheimnistuerei mit den sie begleitenden fadenscheinigen Begründungen als auch Marthas Argumentationsweise und Helenes heftige Reaktionen entlarven die in der wilhelminischen Gesellschaft fortlebenden antijüdischen Ressentiments als einen Gewaltmechanismus, der seine Dynamik aus der Überzeugung bezieht, dass der Volkscharakter durch die germanische Herkunft und die christliche Religion geprägt ist. So wachsen germanische und religiöse Elemente zu einem Ganzen zusammen und bereiten den Boden für Judenfeindschaft und Ausgrenzung. Martha macht keinen Hehl daraus, dass es nicht der Breslauer Akzent der Mutter ist, der sie als Fremdkörper ins soziale Abseits stellt. Es sind ethnische und religiöse Kategorien, die dafür sorgen, dass ihre Integration in die christlich-bürgerliche Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist. Selbst Marthas Sprache ist ein guter Indikator dafür, dass gehässige Vorurteile gegenüber Juden in der Mentalität und im gesellschaftlichen Bewusstsein der Zeitgenossen fest verwurzelt waren. Der von ihr verwendete und eine negative Konnotation aufweisende Begriff »Sippschaft« entblößt ihre Mutter als Repräsentantin einer verachteten Minderheit am Rande der Gesellschaft und konserviert das sich im Volk verbergende antijüdische Potenzial. Die Auffassung von einer unüberwindbaren Kluft zwischen Deutschtum und Judentum und die sich daran anschließenden dauerhaften, kollektiven und nahezu rituell vollzogenen Praktiken der Abweisung – wie Distanzieren, Nichtbemerkenwollen, Verachten, Auslachen und/oder Kontaktvermeiden – treiben Selma in den »sozialen Tod«17, der sich als 16 Franck, Die Mittagsfrau, S. 50. 17 Gehring, Petra: Über die Körperkraft von Sprache. Studien zum Sprechakt. Frankfurt/M.: Campus 2019, S. 99.

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ein vollkommener gesellschaftlicher Ausschluss vollzieht und zur (Selbst)Isolation führt. Man ist in diesem Zusammenhang geneigt zu pointieren, dass Julia Franck ihre Protagonistin Selma zwei Mal sterben lässt: Im Deutschen Kaiserreich stirbt die Frau sozial, indem ihr aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit ein gleichberechtigter Platz innerhalb der christlich-deutschen ›Mustergesellschaft‹ verweigert wird, um im Dritten Reich physisch eliminiert zu werden, weil sie den NS-Staat nicht nur als Jüdin, sondern auch als krankes und damit lebensunwertes Wesen belastet.

Fremdheit zwischen Inklusion und Exklusion – Zu Fremdheitserfahrungen im Dritten Reich Während Selma nach dem Tod ihrer vier Söhne und aufgrund der sozialen Ausgrenzung immer tiefer in Depression verfällt, um schließlich dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer zu fallen, überlebt ihre Tochter Helene das Naziregime nur, weil ihr arischer Ehemann Wilhelm ihr neue Papiere und damit eine falsche Identität besorgt. Mit dem Ariernachweis wird zwar Helenes jüdische Vergangenheit ›ausgelöscht‹ und dadurch eine gesetzliche Grundlage sozialer Inklusion im öffentlichen Bereich geschaffen, aber die gefälschte Ahnentafel vermag es nicht, grenzziehendem Verhalten in Form von Benachteiligung, Verachtung und Stigmatisierung auch im privaten Raum entgegenzuwirken. Von permanenter Angst begleitet, dass ihre Tarnung jederzeit auffliegen könnte, erlebt Helene mit Entsetzen die zunehmende Begeisterung Wilhelms für das nationalsozialistische Gedankengut, den Boykott jüdischer Geschäfte und das Verschwinden der Juden in Berlin. Der Antisemitismus, der ihr persönlich im Nazi-Deutschland entgegenschlägt, ist jedoch vorwiegend sexistisch geprägt und bleibt auf den privaten Raum beschränkt. Mit seiner Erfahrung, dass Helene nicht jungfräulich in die Ehe geht und in der ersten gemeinsamen Nacht freizügig Initiative ergreift, werden die Weichen für eine gewaltvolle Beziehung gestellt, in der sie nicht nur als halbjüdischer, sondern auch als unkeuscher Körper gedemütigt, stigmatisiert und schließlich verlassen wird. Helenes voreheliches Sexualleben löst in Wilhelm wilde Wut aus, die er durch nichts aufzuwiegen weiß und sie gegen die Sexualität seiner Frau richtet, weil er sich von ihr auf dieser Ebene betrogen sieht.18 Von diesem Moment an wird ihre Ehe zur Manifestation einer Verbindung von Sexualität und Gewalt. Regelmäßige Vergewaltigungen durch ihren Mann, bei denen sie seinen Befehlen folgen muss, dienen jedoch nicht primär dazu, libidinöse Energie loszuwerden. Sie sind vielmehr durch ein 18 Vgl. Szmorhun, Arletta: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza Uniwersytetu Zielonogórskiego 2016, S. 85.

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männliches Bedürfnis motiviert, seine Frau systematisch einzuschüchtern und ihre Angst auch im privaten Raum als Strafe dafür anzufachen, dass ein anderer Mann sich ihres Körpers bemächtigt und ihn auf diese Weise für Wilhelm ›minderwertig‹ gemacht hat. Man kann sogar einen Schritt weiter gehen und feststellen, dass die NS-Ideologie ihm den perfekten psychologischen Hintergrund liefert, um der Verachtung gegenüber seiner Frau Ausdruck zu verleihen und sie nach allen Regeln der ›braunen Peinigungskunst‹ zu demütigen. Wilhelms Schandpraktiken korrespondieren aufs Engste mit den nationalsozialistischen Genderkonzeptionen und ihren bürgerlichen Rollen- und Verhaltensvorstellungen, die sich für die gesellschaftlich geschlechtsspezifische Normierung von Weiblichkeit und Männlichkeit als grundlegend erweisen. Mit der Idealisierung der Frau als Hüterin der Moral und der gesellschaftlichen Ordnung wird ein System der sozialen Kontrolle über weibliche Sexualität bereitgestellt, das auf Diskriminierung, männlicher Herrschaft und Aggression, Frauenfeindlichkeit und gesellschaftlicher Verankerung sexueller Mythen basiert. Die Sexualpolitik des Nationalsozialismus mit ihrer Prämisse, die weibliche Selbstbestimmung zu verhindern bzw. zu unterminieren, geht mit der Überhöhung der deutschen ›arischen‹ Frau bei gleichzeitiger Konstruktion der Triebhaftigkeit und Animalität der ›anderen Frau‹ einher, die es zu kontrollieren und zu domestizieren gilt.19 Gewalt gegen Frauen zählt in dieser Perspektive nicht nur zum Traditionsbestand des Geschlechterverhältnisses, sondern auch zum akzeptierten Normgefüge der Kriegsführung. Obwohl Eheschließungen dem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre unterliegen und Liebesbeziehungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes unter Strafe stehen, zeigt sich Wilhelm bereit, Helenes halbjüdische Abstammung in Kauf zu nehmen und ihr eine neue sichere Identität zu verleihen. Er bereut aber diesen Schritt, sobald er erfährt, dass sie auch in sexueller Hinsicht dem Weiblichkeitsideal nicht entspricht und aus diesem Grund bestraft werden muss. Mit seinen Worten: »und dafür habe ich mir die Hände schmutzig gemacht«20 und der darauf folgenden Brutalität wird sie nicht nur wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit stigmatisiert, sondern auch als Ehefrau in Frage gestellt, gedemütigt und als ›minderwertiger‹ Körper und Irritation auslösendes Objekt zusätzlich entwertet. Dass solche (Gewalt)Maßnahmen sowohl inkludierend als auch exkludierend wirken, ist Wilhelm bewusst. Sein Anliegen besteht einerseits darin, die von ihm begangene ›Rassenschande‹ und somit den Verrat an der ›deutschen Ehrengemeinschaft‹ geheim zu halten, was Helene gleichzeitig die Chance bietet, als ebenbürtiges Mitglied der Ariergesellschaft 19 Vgl. Amesberger, Helga/Auer, Katrin/Halbmayr, Brigitte: Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern. Wien: Mandelbaum Verlag 2007, S. 28f. 20 Franck, Die Mittagsfrau, S. 348.

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akzeptiert zu werden und dem öffentlichen Pranger zu entkommen. Andererseits veranstaltet er im Gegenzug für ihre Unkeuschheit und Zügellosigkeit ein Spektakel ehelicher Beschämung und Demütigung, das eine Exklusion im privaten Raum intendiert. Er sieht sich als betrogener Ehemann im Recht, ein »sittliches Unwerturteil«21 über Helene zu fällen und ihr damit den Status als Ehefrau und gleichwertiges Familienmitglied abzusprechen. Die Gnade, von Wilhelm nicht denunziert zu werden und in die arische Gesellschaft eintauchen und mit ihr verschmelzen zu können, generiert keineswegs Sicherheit und Stabilität. Helenes biographische Lebenslinie wird nämlich nicht nur in dem Kopf ihres Mannes aufbewahrt, sondern auch in den Köpfen derjenigen, die ihm dabei geholfen haben, seiner Frau die ›arische Maske‹ aufzusetzen. Für sie ist es ein Problem ihrer sozialen Identität, eine ›Schandvergangenheit‹ mit sich zu schleppen und unter Menschen leben zu müssen, die – von ihrer Herkunft nicht wissend – sie wegen ihres charakterologischen Profils und ihrer beruflichen Qualitäten hoch schätzen und sie dem Eigenen zurechnen. Der Besitz eines diskreditierenden ›Fehlers‹, dessen Entdeckung nicht nur ihre soziale Situation, sondern auch ihre (immer noch) bestehenden Beziehungen gefährden würde, versetzt sie in einen Angstzustand, dem sie auch nach Kriegsende nicht entkommen kann. Das Stigma der Herkunft und die Bemühung, es verbergen zu müssen, zermürben Helene dermaßen, dass der Wandel vom stigmatisierten zum normalen Status nicht stattfinden kann. Mit Bernhard Waldenfels könnte man abrunden, dass das Dritte Reich mit seiner verbrecherischen menschenverachtenden Politik und seinem denunziatorischen Stil in ihrem Fall zu einem »Zwischenreich« wird, in dem es zwar Relationen, Knotenpunkte, Anschlussstellen und Verbindungswege gibt, aber keine Zentralstation, in der die Grundregeln von Moral und Recht eingehalten und Gleichwertigkeitsansprüche respektiert werden.22

Fazit In Die Mittagsfrau wird den Lesern vor Augen geführt, dass die Geschichte der Juden und der Judenfeindschaft – auch wenn sie nur am Rande thematisiert wird – in Deutschland eine lange Tradition hat und der Übergang zu neuen Formen des gesellschaftlich-politischen Lebens eine moderne Form des Antisemitismus mit sich brachte, der dem Holocaust einen nahrhaften Boden lieferte. An Selmas Beispiel wird veranschaulicht, dass bereits im Kaiserreich die rassis21 Frevert, Die Politik der Demütigung, S. 61. 22 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016, S. 85.

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tische Doktrin den Hass gegen die jüdische Minderheit schürte und die Juden in ihrem Alltag mit Diskriminierungspraktiken und Ausschlussmechanismen konfrontiert wurden. So setzen sich rassistisch geprägte Beschämungen, Brandmarkungen und Demütigungen in Francks Geschichte über Jahrzehnte hinaus fort, um in unfassbaren Judenmorden des 20. Jahrhunderts zu kulminieren, denen Selmas Tochter Helene zwar entkommen kann, aber sie bleibt genauso wie ihre Mutter von Schandpraktiken und Stigmatisierungen nicht verschont. Die (halb)jüdische Herkunft der beiden weiblichen Figuren wird zu einem allgemeinen Stigmapotential, zumal die politischen Verhältnisse – vor allem die nationalsozialistische Rassenpolitik – das Judentum als Fehlentwicklung und eine allgemeine Belastung definieren. Das Schicksal der Mutter und der Tochter, das sich über zwei Weltkriege erstreckt, liefert ein Beispiel für die Situation, dass die Zurechnung zu einer anderen (verachteten) Gruppe selbst zu einer Art »Master-Stigma« wird bzw. werden kann, aus dem sich bei Bedarf detaillierte Zuschreibungen von Eigenschaften, Charakterzügen Verhaltens- und Behandlungsweisen etc. ableiten lassen.23 Bezogen auf die Biographie von Francks weiblichen Figuren, die als Vergangenheitsbelastung begriffen wird, heißt das, dass die Tatsache einer (halb)jüdischen Herkunft einen hinreichenden Anlass nicht nur für die Erfahrung der symbolischen Ausgrenzung darstellt, sondern vielmehr die Extermination berechtigt. Thematisiert wird damit eine wichtige Folge von Stigmatisierung und Stigmatisierbarkeit, die den sozialen und kulturellen Fremdheitserfahrungen sowie Exklusionshandlungen zugrunde liegen. Die Identität der beiden Frauen gerät in der judenfeindlichen Umwelt unter Druck, und es bedarf kognitiver und sozialer Anstrengung, sie unter der ständigen Bedrohung der Exklusion zu stabilisieren, ohne dass dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen wird. Während Selma ab und zu die Flucht in die Provokation ergreift und sich bei feierlichen Spaziergängen ins Gras wirft oder über die Wiese den Hang hinabrollt, um die Gewissheit zu erhalten, jemand zu sein, dessen Tun auf irgendeine Resonanz bei den Bautzenern stößt, erlebt Helene ihr Schicksal passiv. Sie zieht sich immer mehr in ihr Innenleben zurück, um schließlich angesichts der Zeitumstände zu verstummen, so dass der Naziterror in Francks Roman nur leise erklingt, ohne jedoch an Bedrohlichkeit zu verlieren. Die (halb)jüdische Herkunft erweist sich in beiden politischen Systemen als inakzeptabel und markiert den Kern der symbolischen Exklusion durch Stigmatisierung, was Helenes ältere Schwester Martha mit den Worten »Der Makel war die Herkunft, nicht das Initial«24 auf den Punkt bringt. Gemeint ist damit, dass die Stigmatisierbarkeit nicht in der Person der Mutter gründet, sondern es in diesem Fall ihre ethnische Herkunft ist, die eine generalisierende Abneigung und 23 Vgl. Stenger, Deutungsmuster der Fremdheit, S. 189. 24 Franck, Die Mittagsfrau, S. 51.

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Verachtung gegenüber jedem generiert, der diese Herkunft mit ihr teilt. Obwohl der Antisemitismus in Francks Roman angesichts des relativ ausführlich thematisierten historischen Hintergrunds einer problematischen Verkürzung gleichkommt, gelingt es der Autorin zu zeigen, dass die Aggressionen, die sich im Kaiserreich angestaut hatten, der politischen Instrumentalisierung des Antisemitismus den Weg bahnten, die in die Schrecken des Holocaust mündete.

Literatur Amesberger, Helga/Auer, Katrin/Halbmayr, Brigitte: Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern. Wien: Mandelbaum Verlag 2007. Franck, Julia: Die Mittagsfrau. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011. Frevert, Ute: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt/M.: S. Fischer 2017. Gehring, Petra: Über die Körperkraft von Sprache. Studien zum Sprechakt. Frankfurt/M.: Campus 2019. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016. Klein, Michael: Die nationale Identität der Deutschen: Commitment, Grenzkonstruktionen und Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden: Springer VS 2014. Kuch, Hannes/Hermann, Steffen Kitty: Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt. In: Hermann, Steffen K./Krämer, Sybille/Kuch, Hannes (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 179–210. Müller, Marion/Zifonun, Dariusˇ: Wissenssoziologische Perspektiven auf ethnische Differenzierung und Migration: Eine Einführung. In: Müller, Marion/Zifonun, Dariusˇ (Hg.): Ethnowissen. Soziologische Beiträge zur ethnischer Differenzierung und Migration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 9–36. Stenger, Horst: Deutungsmuster der Fremdheit. In: Münkler, Herfried/Ladwig, Bernd (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 159– 221. Szmorhun, Arletta: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Zielona Góra: Oficyna Wydawnicza Uniwersytetu Zielonogórskiego 2016. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2016. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr 1985.

Albrecht Classen (Tucson, Arizona)

Die Gefahren des Massenwahns aus literarhistorischer Sicht: Von Walther von der Vogelweide und Heinrich Wittenwiler zu Thomas Mann und Gustave Le Bon

I Der folgende Beitrag verfolgt zunächst mehrere recht unterschiedliche Ziele, die aber gebündelt eine Einheit ausmachen werden. Zunächst greife ich auf zwei in unserem Kontext scheinbar merkwürdige mittelalterliche literarische Beispiele zurück, wo einerseits Spuren eines nationalistischen Denkens zu erkennen sind, und dies schon lange vor dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts, andererseits der Ausbruch von Kollektivverhalten mit anschließender Massengewalt zum Thema gemacht wird. Anschließend soll Thomas Mann mit seinem berühmten Roman Der Zauberberg zur Sprache kommen, der fein ziseliert, fast zu vornehm und bedächtig angesichts der gegenwärtigen politischen Problematik, den Finger auf die Wunde unserer Gesellschaft legt und ein literarisches Monument präsentiert, in dem letztlich die traditionellen kulturellen Ideale kläglich scheitern, weil Nationalismus und eine Massenbewegung alle Bedenken oder Warnungen davonschwemmen. Zuletzt wende ich mich zur theoretischen Fundierung des hier zu analysierenden Phänomens, den Gedanken des französischen Philosophen Gustave Le Bon zu, der wesentliche Erkenntnisse zur Masse und ihrer psychologischen Struktur formulierte, die ausgezeichnet die heutigen Phänomene des Populismus und Nationalismus mit zu deuten vermögen, schon aber lange nicht mehr kritisch diskutiert worden sind, obwohl genau dessen Einsichten für unser heutiges Verständnis der politischen Probleme in vielen Ländern der modernen Welt von zentraler Bedeutung sein dürften.

II Es ist überhaupt nicht überraschend, dass sich in der ganzen Menschheitsgeschichte immer wieder, wenn nicht sogar konstant, Bestrebungen durchgesetzt haben, identitäre Ausdrucksformen zu bilden, indem man sich bewusst von andersartigen Gruppen distanzierte. Die heutigen Rechtsextremisten verweisen

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auf solche nebulösen Vorstellungen, ohne sich wirklich in der Geschichte oder Kultur auszukennen, und schaffen damit höchst gefährliche ideologische Konzepte, die rassistisch und fremdenfeindlich bestimmt sind und letztlich tiefe innere Ängste reflektieren.1 Bereits relativ rasch machte sich schon im hohen Mittelalter ein erstes Nationalbewusstsein bemerkbar, auch wenn es nicht unbedingt mit dem modernen in eins zu setzen wäre. Der Nationalismus, der heute den politischen Alltag bestimmt, ist dagegen weitgehend ein Produkt des späten 18. und vor allem frühen 19. Jahrhunderts, so wenn wir an Herder, Fichte, Arndt, Jahn, Görres und viele andere, der Romantik zuneigende Dichter und Politiker denken.2 Deutliche Spuren dafür lassen sich aber bereits viel früher identifizieren. Mein wichtigster Zeuge dafür ist der berühmte Minnesänger und Verfasser von Sangsprüchen, Walther von der Vogelweide (gest. ca. 1220), der über die Jahrhunderte hinweg immer wieder als der »Dichter des Reiches« apostrophiert wurde, was in unserem Zusammenhang gar nicht so abwegig sein mag.3 In seinem viel beachteten Lied »Ir sult sprechen willekomen« (Nr. 32, 56,14) formulierte er in recht überraschender Weise geradezu nationalistisch klingende Gedanken, indem er ›die‹ deutsche Frau und ›den‹ deutschen Mann als die besten in der Welt charakterisierte.4 Zwar hat die Forschung viele verschiedene Interpretationsansätze verfolgt, sei es, dass man den Schwerpunkt auf die Botenrolle des Dichters setzte, sei es, dass man sein poetologisches Programm betonte, mit dem er sich selbst in Szene setzen wollte, aber es bleibt unübersehbar, dass Walther hier ein geradezu politisches, wenn nicht polemisches Manifesto entwickelte, um sich selbst am Hof ins beste Licht zu rücken. Er sei derjenige, der neue Kunden vermitteln würde, wie es im zweiten Vers lautet. Alles Bisherige sei ein Nichts gegenüber seinen eigenen Nachrichten, die er gerne mitteilen würde, wenn er eine entsprechende Belohnung dafür erhielte (1. Strophe). Nirgends gäbe es ansehnlichere und würdigere Frauen als in dem Raum, den wir traditionell als Deutschland bezeichnen: »Von der Elbe biz an den Rîn,/ wider her biz an Engellant« (III, 1–3). Er bleibt zwar bewusst etwas unbestimmt, differenziert er ja zwischen den »wîp« in Deutschland und den »frowen« anderswo (III, 7, 8), aber unverkennbar hebt er die deutschen Frauen als die 1 URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4re_Bewegung / letzter Zugriff am 12. März 2019. 2 URL: https://en.wikipedia.org/wiki/German_nationalism / letzter Zugriff am 11. März 2019. 3 Richter, Roland: Wie Walther von der Vogelweide ein »Sänger des Reiches« wurde: Eine sozialund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Rezeption seiner ›Reichsidee‹ im 19. und 20. Jahrhundert. Göppingen: Kümmerle 1988 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 484). 4 Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungseditionen erweiterte Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Hg. von Thomas Bein. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013. Zur Einführung siehe u. a.: Ehrismann, Otfrid: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 104–106.

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schönsten der Welt hervor. Genauso urteilt er über die deutschen Männer, die vorbildlich erzogen seien (IV, 3), während er die Frauen nur als »engel« (IV, 4) bezeichnen kann. Das höchste höfische Ideal bestehe darin, »Fröide und reine minne« (IV, 5) zu finden bzw. zu entwickeln, wobei der Dichter sein Publikum dazu einlädt, sich auf der Suche nach diesen zwei Werten »in unser lant« (IV, 7) zu begeben, denn »dâ ist wunne vil« (IV, 7).5 Um seine eigene Aussage zu rechtfertigen, gibt Walther zuletzt an, dass er bisher schon viel gereist sei, viele Länder gesehen habe, wo er überall Ausschau nach den Besten gehalten habe. Seine Schlussfolgerung besteht jedoch darin, »tiusche zuht gefellet mir vor in allen« (V, 8). So sehr man auch Walther für viele verschiedene poetische Leistungen rühmen muss, wirkt doch dieses Lied in mancherlei Hinsicht etwas verstörend. Es gibt keine Berechtigung für die hier formulierten Thesen; der Sänger behauptet schlicht, dass die Deutschen die besten Menschen der ganzen Welt seien, ob dies ihre innere Bildung, ihren Charakter, ihre Erscheinungsweise oder ihre Erziehung betreffe. Walther erwähnt zwar auch England, aber nur als die westliche Grenze, bis wohin eben Deutsche anzutreffen seien, die sich durch ihre »güete, gelâz und lîp« (III, 6) auszeichneten. Über die Männer hat er hingegen nur wenig zu sagen, außer eben, dass sie eine ausgezeichnete Erziehung genossen haben und sich damit von allen anderen unterschieden. Der Dichter schmeichelt sich also hemmungslos beim Publikum ein und entwirft dabei ein fast unerträglich patriotisches Bild von den Menschen in Deutschland, die nicht ihresgleichen besäßen. Zugestehen könnte man Walther höchstens, dass er sich mehr auf ein Charakterbild bezog, weniger auf ein politisches Konzept, das sowieso noch nicht in der Weise bestand. Trotzdem wirkt seine Polemik eigenartig und findet auch bei seinen Zeitgenossen keine wirkliche Parallele. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass Walther auch andernorts ein hohes Preislied auf die würdigen Damen entwirft und mit Absicht darauf insistiert, genau zwischen guten und schlechten Frauen zu differenzieren. In »Die zwîvelære sprechent, ez sî allez tô« (Nr. 34) vernehmen wir etwa: »daz ich scheide/ die guoten und die bœsen, seht, daz ist ir haz« (IV, 6–7). Es geht ihm also darum, moralische und ethische Urteile zu fällen, die Zuhörer anhand des von ihm entworfenen Modells zu schulen und Idealbilder zu entwerfen, die aber, wie wir aus heutiger Sicht nur zu leicht bemerken, ins nationalistische Lager abrutschen können, auch wenn Walther dies wohl nicht so eng gemeint haben mag. Vielmehr ist er ständig darum bemüht, einen Abstand zwischen sich selbst und denjenigen 5 Christoph, Siegfried: The Language and Culture of Joy. In: Classen, Albrecht (Hg.): Words of Love and Love of Words in the Middle Ages and the Renaissance. Tempe: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2008, S. 319–333 (= Medieval and Renaissance Texts and Studies, 347).

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herzustellen, deren Ansehen und soziale Stellung nicht seinen eigenen Ansprüchen genügen, so in »Die schamelôsen, liezen si mich âne nôt« (Nr. 40; 64,4), aber dann vernehmen wir keine nationalistischen Töne mehr. Auch in »Ir reiniu wîp, ir werden man« (Nr. 43; 66,21) spricht der Dichter den ethischen Kanon an, der es ihm ermöglicht, gute von bösen Menschen zu unterscheiden, aber dies hat dann nichts mehr mit dem Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zu tun. Andernorts äußert sich dieser Sänger freilich ganz anders, macht sich als Kritiker vieler sozialer Missstände große Sorgen und drängt seine Mitmenschen zur inneren und äußeren Reform, wie etwa in seinen Reichstönen oder in seinem Leich. War also »Ir sult sprechen willekomen« ein Ausrutscher von ihm, oder zeichnete sich bereits hier, d. h. im frühen 13. Jahrhundert, ein Menetekel ab, das allerdings erst im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte reifen sollte?6 Soweit ich es aber überblicken kann, blieb dieses Thema auf lange Sicht eher unikal in der deutschen Literaturgeschichte, ungeachtet so mancher Bemühungen etwa unter den Humanisten wie Conrad Celtis (1459–1508), eine nationale Perspektive zu entwickeln, was aber angesichts der sich schnell verändernden politischen Verhältnisse, insbesondere der Transformation des Kaiserreichs in ein Bündel von Territorialstaaten, wenig Konsequenzen hatte. Die langen Türkenkriege positionierten mehr Gesamteuropa christlicher Provenienz gegen das Osmanenreich, und so dümpelte das deutsche Kaiserreich mehr oder weniger vor sich hin, bis es dann unter den Schlägen Napoleons 1806 plötzlich auseinander brach und sein Ende fand.7 Weder die Renaissance- noch die Barockdichter scheinen sich speziell zum Thema der Nation oder des deutschen Volkes geäußert zu haben, sehen wir hier von chronikalischer Literatur, wie das Chronicon Helveticum (vor 1556) von Aegidius Tschudi (1505–1572) ab.8 Freilich sehen wir 6 Reinitzer, Heimo: Politisches Nachtgebet: Zum »Leich« Walthers von der Vogelweide. In: Müller, Jan-Dirk/Worstbruck, Franz Josef (Hg.): Walther von der Vogelweide: Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1989, S. 159–175. 7 Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: »Neue politische Literatur« 40 (1995), S. 190–236; Langewiesche, Dieter: »Nation«, »Nationalismus«, »Nationalstaat« in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz. In: Langewiesche, Dieter/Schmidt, Georg (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg 2000, S. 9–32; Stauber, Reinhard: Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu »Nation« und »Nationalismus« in der Frühen Neuzeit. In: »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« 47 (1996), S. 139–165. Einen ausgezeichneten Überblick bietet Planert, Ute: Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte. In: »Aus Politik und Zeitgeschichte« 39 (2004). URL: https://www.bpb.de/apuz/28089/nation-und-natio nalismus-in-der-deutschen-geschichte?p=all / letzter Zugriff am 11. März 2019. 8 Hess, Peter: Poetry in Germany, 1450–1700. In: Reinhart, Max (Hg.): Early Modern German Literature 1350–1700. Rochester, NY/Woodbridge, Suffolk: Camden House 2007, S. 394–465, hier S. 409.

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uns hier einem riesigen Feld von literarischen und historiographischen Texten gegenüber, was so globale Behauptungen als problematisch erscheinen lässt, wie ich selbst gerne zugeben will. Wir beobachten allerdings in der Literatur des Spätmittelalters noch ein anderes Phänomen, das auf die Entwicklungen der Moderne hindeuten könnte, nämlich den Ausbruch des Massendenkens, das rapide zur Gewaltbereitschaft führt. In der allegorischen Versdichtung Der Ring des Konstanzer Notars Heinrich Wittenwiler von ca. 1400 begegnen wir zunächst einer deftigen und derben Bauernsatire, die aber bei genauerer Betrachtung gar nicht so sehr diese untere Bevölkerungsschicht anzielt, sondern auf übertragende Weise global menschliche Verhaltensweisen kritisiert, die durch die Vermassung auftreten.9 Nach vielen Problemen zwischen dem männlichen Protagonisten Bertschi und seiner von ihm geliebten Mätzli kommt es zur Hochzeit, die festlich gefeiert wird. Bald bricht aber unter den Gästen Gewalt aus, die sehr schnell immer weitere Kreise zieht und in einen Krieg mündet, bei dem die Gemeinden von zwei Dörfern, Lappenhausen und Nissingen, brutal aufeinander prallen. Der Ausgang ist katastrophal. Diejenigen von Nissingen erringen einen vollkommenen Sieg, indem sie praktisch die gesamte Bevölkerung des feindlichen Dorfes abmetzeln. Was sagt uns hier Wittenwiler über das Verhalten der Bauern auf dieser Hochzeit, und wie ist dieses literarische Modell für unsere Analyse von der Masse in der Moderne übertragbar? Zunächst ist zwar die gesamte bäuerliche Gesellschaft zu dieser Hochzeit zusammengekommen, aber nicht wirklich, um das freudige Ereignis richtig zu begehen.Jeder denkt nur an sich selbst, schluckt gierig das Essen runter und trinkt so viel wie möglich. Die Geschenke an das Brautpaar sind nichts als elendige kaputte Objekte, und die Feierlichkeiten erweisen sich bloß als ein heftiges Gelage. Als dann einer der Bauern, Eisengrein, versehentlich seiner Tanzpartnerin Greduln die Handfläche blutig kratzt, nur weil er damit seine erotische Empfindung für sie ausdrücken möchte, was für sich genommen bereits vollkommen töricht ist, entwickelt sich sofort eine gewalttätige Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang. Die Lappenhausener ergreift geradezu ein Blutrausch, der sie dazu antreibt, mörderisch mit ihren Gegnern umzugehen, die 9 Wittenwiler, Heinrich: Der Ring: Text – Übersetzung – Kommentar. Hg. von Werner Röcke. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2012. Vgl. dazu: Lutz, Eckart Conrad: Spiritualis fornicatio: Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹. Sigmaringen: J. Thorbecke Verlag 1990 (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 32); Classen, Albrecht: Heinrich Wittenwiler. In: Hardin, James/Reinhart, Max (Hg.): German Writers of the Renaissance and Reformation 1280–1580. Detroit, Washington, DC/London: Gale Research 1997, S. 326–331 (= Dictionary of Literary Biographies, 179); Laude, Corinna: »Daz in swindelt in den sinnen …«: Die Poetik der Perspektive bei Heinrich Wittenwiler und Giovanni Boccacio. Berlin: Erich Schmidt 2002 (= Philologische Studien und Quellen, 173).

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sie ihrerseits genauso brutal behandeln. Überall fallen Menschen tot zu Boden. Die einen schlagen und reißen einander blutig, die anderen ertränken, erstechen oder ersticken die Feinde. Die Festlichkeiten verwandeln sich in ein furchtbares Gefecht, bei dem aber zunächst die Lappenhausener den Sieg davon tragen, können sie ja die Nissinger vertreiben und bis zu den Toren ihres Dorfes verfolgen (VV. 6650–6652). Zurückgekehrt ergreifen die triumphierenden Bauern die Frauen und Mädchen der Gegner und vergewaltigen sie allesamt (VV. 6680– 6681). Anschließend bereiten sich die Männer beider Dörfer auf einen regelrechten Krieg vor, rufen ihre Freunde und Alliierten zur Hilfe, bekommen aber nur von Fabelwesen (Zwergen, Riesen, Hexen, Heroen) Unterstützung, während die klugen Städter im ganzen Reich Abstand von diesem Chaos nehmen und sich nicht hineinziehen lassen. Der Ausgang ist uns schon bekannt, es bleibt nur noch, kurz die Situation kritisch zu überprüfen und sie mit unseren globalen Überlegungen zu verbinden. Zwar legt Wittenwiler keine soziologische Latte an, präsentiert aber in unverkennbarer Weise ein Phänomen, das noch allenthalben bis ins 21. Jahrhundert seine Wirkung gezeigt hat: zwei Gruppen, die zutiefst gewaltbereit zusammentreffen, um bei der ersten Differenz sofort zu Gewaltmitteln zu greifen, was in ein fürchterliches Gemetzel mündet. Die Masse hat die Kontrolle übernommen und die Individuen vollkommen in sich hineingezogen, was allenthalben eine Verfremdung bewirkt, durch die die Anwendung von blutigster Gewalt an erster Stelle möglich wird. Wittenwiler projiziert mithin eine satirische, zugleich aber eine erschütternde Szenerie, in der das Kollektiv, von dem Walther ja in seinem Lied so lobpreisend gesprochen hatte, sich in einen Moloch verwandelt, der die Gemeinschaft insgesamt vernichtet.10 Von hier springe ich über viele Jahrhunderte und wende mich kurz Thomas Manns Der Zauberberg (1924) zu, wo wir einen eigentümlichen Ausgang beobachten, der uns bei der weiteren Betrachtung des globalen Themas weiterhelfen kann, auch wenn Mann keineswegs eine nationalistische Perspektive verfolgte. Die Forschung zu diesem 1929 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Roman ist überwältigend, wie auch viele verschiedene Online-Datenbanken

10 Ich habe mich bereits früher mit diesem Thema enger auseinandergesetzt, siehe: Classen, Albrecht: Eine einsame Stimme für den Frieden im Mittelalter. Der erstaunliche Fall von »Kudrun«. In: »Thalloris« 1 (2016), S. 69–90. Vgl. dazu jetzt die Beiträge in: Rogge, Jörg (Hg.): Kriegserfahrungen erzählen: Geschichts- und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript 2017 (= Mainzer historische Kulturwissenschaften, 37). Siehe auch: Homann, Ursula: Der Krieg in der Literatur. URL: http://www.ursulahomann.de/DerKriegInDerLitera tur/kap001.html / letzter Zugriff am 12. März 2019.

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reichhaltig bestätigen.11 Mir geht es hier aber nur um das gleiche dialektische Modell, wie wir es auch bei Walther von der Vogelweide beobachten konnten. Der Moloch Masse, die anonyme Identität, das Übergroße, was wir heute die ›Nation‹ nennen würden, oder ›Gott‹ etc., macht sich am Ende von Manns großem Roman auch bemerkbar, was mit der Titelüberschrift »Der Donnerschlag« nach weit mehr als 1000 Seiten eingeleitet wird und dann schnell zum katastrophalen Ende führt. In diesem Bildungsroman hat sich der gewöhnliche Sterbliche Hans Castorp zu einem gebildeten Menschen entwickelt, der mit den verschiedenen ideologischen Standpunkten der westlichen Kulturgeschichte vertraut gemacht worden ist und sich dort oben im Sanatorium ein gemächliches Leben eingerichtet hat, das ihm fast erlaubt, alles, was von außen auf ihn eindringen könnte, gelinde zu missachten. Trotzdem lässt ihn diese äußere Welt nicht in Ruhe, denn zuerst erhält er die Nachricht vom Ableben seines Großonkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, was ihn aber noch nicht aus seiner bequemen Lage und seiner Fassung wachrütteln würde. Dann aber bricht der Erste Weltkrieg aus, und Castorp findet sich auf einmal vor das metaphorische Tor des Sanatoriums versetzt: »der Donnerschlag, der den Zauberberg sprengt und den Siebenschläfer unsanft vor seine Tore setzt«12. In den Gesprächen mit seinem humanistischen Tutor Lodovico Settembrini klingt das politische Thema ebenfalls deutlich an, allerdings sogleich mit etwas Absolutem gemischt, das uns an Walthers Aussagen erinnert und unheimlich wirkt: »Seine Rede ging wie auf Taubenfüßen, aber bald, wenn er etwa von der Vereinigung der befreiten Völker zum allgemeinen Glücke sprach, so mischte sich … etwas wie Rauschen von Adlersschwingen hinein«13. Ein militärischer Missklang mischt sich ein, wie der Erzähler selbst betont, von »Sieges- und Herrschaftsidee«14 ist die Rede, und letztlich überwiegt die »Adlerskühnheit« über die »Taubenmilde«15. Hans Castorp fungiert nun als der Repräsentant eines alten Europas, kultiviert, tief gebildet jedoch lebensfremd, ein einfaches Opfer der politischen Gewalt, die überall aufflackert und das Abendland in die eigene Vernichtung zieht. Der Zauberberg zerfällt, aufgerissen von den schrecklichen Nachrichten; die Isolation bricht in sich zusammen, ein kalter Luftzug bläst durch das gesamte Sanatorium, und Castorp sieht sich gezwungen, die Koffer zu packen und in die Heimat, ins Flachland, zurückzureisen, wo nationalistische Gedanken die intellektuelle Gemeinschaft oben auf den Bergen zerreißen: »Die ›Heimat‹ glich 11 Mann, Thomas: Der Zauberberg. In: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5.1. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt/M.: S. Fischer 2002. Der Kommentar erscheint in dem gesonderten Band 5.2. 12 Ebd., S. 1075. 13 Ebd., S. 1076. 14 Ebd., S. 1077. 15 Ebd.

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einem Ameisenhaufen in Panik. Fünftausend Fuß tief stürzte das Völkchen Derer hier oben sich kopfüber ins Flachland der Heimsuchung«16. Mann sagt uns kein Wort darüber, was in den Köpfen der Dahineilenden vor sich geht, ob Castorp überhaupt versteht, welche politischen und militärischen Dinge vor sich gegangen sind, denn selbst Settembrini verliert seine klare Sicht und lässt sich von nationalistischen Gefühlen dahinreißen. Der Kampf, der Blutrausch, der Gedanke an die große Nation, das Volk, die Blutsgemeinschaft, all dies reißt die gesamte intellektuelle und humanistische Bildung dahin. Schnell geht die Reise fort vom Sanatorium ins Flachland, dorthin, wo die Masse wartet und der Krieg seine Opfer fordert. Die Schlussworte erweisen sich als grauenhafte Anklage gegen die Verrohung der Menschheit, gegen das Massenmorden, gegen den totalen Missbrauch der jungen idealistischen Männer, wie Castorp, die sich dem Ideal der Masse unterworfen hatten, von denen aber die meisten nichts als Kanonenfutter sind. Um den Protagonisten herum sterben die Soldaten, er selber stürzt sich hin, steht wieder auf, stürmt weiter und verschwindet dann im Nebel der Handlung. Die Folgen des Weltkrieges stehen deutlich vor unseren Augen: »Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fährt dreißig Schritte schräg vor ihm wie der Teufel selbst tief in den Grund, zerplatz dort unten mit gräßlicher Übergewalt und reißt einen haushohen Springbrunnen von Erdreich, Feuer, Eisen, Blei und zerstückeltem Menschentum in die Luft«17. Im Namen eines Molochs, der hier gar nicht genau bezeichnet wird, wodurch er sich gerade besonders eindringlich bemerkbar macht, wird Castorp aus seiner geistigen und physischen Insel in der Bergwelt herausgerissen und in das Getriebe der Welt zurückgeführt. Dort unterwirft er sich halt- und orientierungslos einer Ideologie, die das Nationale, das Völkische oder dergleichen auf die Banner geschrieben hat. Ob er den Krieg überlebt oder nicht, der Schutzschirm der Bildung, der Literatur oder der Künste, dann aber auch der artifiziellen Pflegeanstalt für Menschen mit entsprechendem Einkommen zerbirst unter dem Aufschlag der Granaten und Bomben. Aber es geht Mann gar nicht so sehr um die Darstellung des kriegerischen Grauens, Leidens und Sterbens, sondern um die Frage, wie sich das Individuum gegenüber der Masse mit ihren Idealen und Werten verhält, ob es seine kritische Distanz bewahrt oder nicht. Selbst Settembrini bricht unter der Last des ideologischen Wahns zusammen, denn die Vorstellung einer nationalen Größe, der sich das Individuum zu unterwerfen hat, spielt eine größere Rolle als der gesamte von ihm gepredigte Humanismus.

16 Ebd., S. 1079. 17 Ebd., S. 1084.

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III Ob wir auch bei Walther von der Vogelweide von solchen ideologischen Verirrungen sprechen können, lässt sich nicht so einfach beantworten, aber erste Ansätze zu einer Form des Nationalismus sind gewiss selbst bei ihm schon zu konstatieren. Während Walther noch relativ schlicht von einer nationalen Identität ausgeht, greif Mann diese wieder auf und zerstört sie in seinen Reflexionen über die Folgen des Ersten Weltkriegs. Damit bewegen wir uns natürlich auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen, die sich aber in dem einen Punkt begegnen, dass das literarische Werk dafür benutzt wird, und zwar aus sehr diversen Perspektiven, um das Wesen des Volkes, der Nation sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Mann könnte kaum zynischer darauf reagieren, während Walther noch sehr naiv einem einfachen Glauben anhing, dass es so etwas wie ein überragendes Volk, nämlich das deutsche, geben könnte. Es bleibt aber unerfindlich, wie dieser mittelhochdeutsche Dichter bereits auf solche politisch verbrämten Gedanken hatte kommen können, denn seine Zeitgenossen verfolgten keineswegs eine solche Vorstellung. Zwar entdecken wir viele Belegstellen, in denen auf die deutsche Sprache, deutsche Ritter oder Deutschland generell Bezug genommen wird, aber diesen typisch nationalistische Tonfall im Lied Walthers findet man, soweit ich dies zu überblicken vermag, praktisch nicht noch einmal.18 Sogar dieser nahm im Übrigen Abstand davon, wenngleich er öfters auf Deutschland, die deutsche Sprache oder politische oder soziale Verhältnisse unter den Deutschen rekurrierte. So weit voneinander auch Walther und Mann in ihrer Behandlung dieses Themas auseinanderliegen, gehören ihre Aussagen zum gleichen Spektrum eines sich ausschälenden Nationalismus, der im 19. und vor allem frühen 20. Jahrhundert grell und brutal ausbrach.

18 Siehe z. B.: die Mittelhochdeutsche Datenbank (Salzburg). URL: http://mhdbdb.sbg.ac.at/ mhdbdb/App?action=TextQueryModule&string=deutsche&filter=&texts=%21&startButto n=Suche+starten&contextSelectListSize=1&contextUnit=1&verticalDetail=3&maxTableSiz e=100&horizontalDetail=3&nrTextLines=3 / letzter Zugriff am 11. März 2019. Vgl. dazu: Classen, Albrecht: Kartographie und Nationsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Buschinger, Danielle/Rosenstein, Roy (Hg.): De Christine de Pizan à Hans Robert Jauss: Etudes offertes à Earl Jeffrey Richards par ses collègues et amis à l’occasion de son soixante-cinquième anniversaire. Amiens: Presses du Centre d’Études Mediévales de Picardie 2017, S. 182–193.

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IV Wie aber sollen wir uns die Grundlagen des nationalen Populismus aus historischer oder gar psychologischer Sicht vorstellen? Dafür greife ich hier auf die Thesen von Gustave Le Bon (1841–1931) zurück, die dieser in seinem grundlegenden Werk Psychologie des Foules (1895; Psychologie der Massen) entwickelte und die eine ungeheure Wirkung international erzielten, sowohl auf der Seite derjenigen, die die schlimmsten Folgen aus der Massenentwicklung befürchteten, als auch auf der von denjenigen, die genau die Macht der Masse für ihre eigenen Zwecke einzusetzen bestrebt waren.19 Nicht von ungefähr beeinflusste er daher solche Persönlichkeiten wie Theodore Roosevelt, Benito Mussolini, Sigmund Freud, José Ortega y Gasset, Adolf Hitler und Wladimir Lenin, die alle in einer oder anderen Weise von Le Bons Theorien, bezogen auf das psychologische Verhalten der Massen, tief beeindruckt waren.20 Walther von der Vogelweide, den wir sehr weit von diesem Phänomen stehend deuten würden, bot bereits ein beredtes Beispiel für die Wirkung von kollektiven Kategorien, um ein Gemeinschaftsgefühl zu wecken, das wiederum zur eigenen Machtsteigerung diente. Thomas Mann entwarf zwar einen Bildungsroman, in dem er sich ganz auf den Weg seines Protagonisten konzentrierte, aber der tragische Abschluss illustrierte ebenfalls das Phänomen eines Massenwahns, der alle in den Tod treibt. Wie hat dies nun Le Bon gedeutet? Le Bon betont sogleich zu Beginn seiner Studie, dass alle Individuen ihren eigenen Charakter besitzen, aber sobald sie sich in einer Masse zusammenfinden, verändert sich dieser und schließt sich zu einem Kollektiv, einer organisierten, d. h., wie er es formulierte, einer psychologischen Masse, zusammen. Diese folgt ihren eigenen Gesetzen und operiert als eine Einheit sui generis.21 Reine Quantität freilich verschmilzt noch nicht all diese Individuen zu einer Masse, vielmehr bedarf es bestimmter Umstände und Kräfte, um dieses Phänomen in die Tat umzusetzen. Ganz unabhängig davon, welche Individuen sich in der Masse zusammenfügen, auch wenn sie noch so unterschiedlich sein mögen, die Masse selbst etabliert einen neuen Charakter, dem sich alleunterwerfen, so sehr sie vorher Individuen gewesen sein mögen. Aus einer großen Heterogenität entwickelt sich, meist 19 Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ist sein Werk immer wieder neu ediert und übersetzt worden, siehe z. B.: Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Übers. von R. Eisler. Hamburg: Nikol Verlag 2018. Hier bediene ich mich der englischen Übersetzung: Le Bon, Gustave: The Crowd: A Study of the Popular Mind. Marietta, GA: Larlin Corporation 1982. 20 Siehe z. B.: Nye, Robert: The Origins of Crowd Psychology – Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic. London: Sage 1975 (= Sage Studies in 20th Century History, 2); Marpeau, Benoît: Gustave Le Bon: parcours d’un intellectuel, 1841–1931. Paris: CNRS Ed. 2000 (= CNRS histoire). 21 Le Bon, The Crowd, S. 2.

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schlagartig, eine Homogenität, die undurchdringlich zu sein scheint und unabhängig agiert,22 weil sich in der Masse eine innovative Identität herausschält, die alle einschließt. All dies sei möglich, so Le Bon, weil jeder Mensch von einem Unterbewusstsein mitbestimmt sei, das sich gerade bei der Massenbildung herausbilde und prägenden Einfluss gewinne.23 Das Heterogene schwächt sich dabei ab und macht Platz für das Homogene, womit also selbst die größten individuellen Unterschiede ausgeglichen würden. Während das Individuum in den meisten Fällen sich vor gewissen Handlungen aus moralischen oder ethischen Erwägungen heraus hüten würde (Verantwortung), folgt die Masse anderen Prinzipien, weil sie anonym operiert und keinen externen Gesetzen unterworfen ist.24 Ein Individuum, das sich der Masse angeschlossen hat, wird von den Charakteristiken dieser Gruppe infiziert und fügt sich ihnen, auch wenn es für sich alleine genau diese nicht akzeptieren würde.25 Das dritte entscheidende Element besteht in der Suggestion, durch die das Individuum mit der Masse verschmolzen wird und die sehr ähnlich wie die Hypnose funktioniert26: »All feelings and thoughts are bent in the direction determined by the hypnotiser«27. Eine Masse erweist sich als wesentlich gefügiger und willens, bestimmte Handlungen durchzuführen, die ein Individuum kaum jemals tun würde, und denen selbst eine hypnotisierte Person widerstreben würde.28 Kurz zusammengefasst formuliert dann Le Bon über das in die Masse eingeschmolzene Individuum: »He is no longer himself, but has become an automaton who has ceased to be guided by his will«29. Damit aber nicht genug, der soziologisch und psychologisch denkende Philosoph konstatiert sogar, dass der Mensch, der sich von der Masse vereinnahmen lässt, mehrere Stufen auf der Zivilisationsleiter zurückfällt: »Isolated, he may be a cultivated individual; in a crowd, he is a barbarian – that is, a creature acting by instinct«30. So furchtbar es auch klingen mag, es steht sehr zu befürchten, dass Le Bon hier genau den Finger auf die Wunde legt, denn das Individuum verliert sich selbst, wird zu einem Instrumentarium der Masse und ist damit u. a. bereit, jegliche Tat zu vollbringen, die von der Masse von ihm oder ihr verlangt wird. Alle Errungenschaften der Aufklärung oder des Humanismus werden dabei über Bord geworfen, denn die Barbarei setzt sich als alles bestimmende Macht durch 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd.

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über das Individuum, das sich auf einmal nicht nur autorisiert sieht, sondern sogar motiviert fühlt, Taten zu begehen, die nur aus der Masse heraus gerechtfertigt zu sein scheinen, in Wirklichkeit aber barbarisch sind und vom Individuum selbst niemals begangen werden würden.31 Allerdings muss man auch zugeben, dass Le Bon nicht einfach ein einseitig negatives Licht auf die Masse wirft, denn sehr viel hänge von den Umständen ab. Schließlich würde nicht jede Masse sich einfach der Kriminalität überlassen. Vielmehr gebe es viele Konditionen, unter denen die Masse heroische Heldentaten unternimmt und sich für religiöse oder politische Ideale bereitwillig der Todesgefahr stellt. Der Autor verweist u. a. auch auf die Kreuzzüge oder die Französische Revolution und schließt dieses erste Kapitel seiner Untersuchung mit den folgenden Gedanken: »Such heroism is without doubt somewhat unconscious, but it is of such heroism that history is made«32.

V Ich breche hier mit meinen Überlegungen und Analysen ab und komme zur Schlussfolgerung, bei der ich danach strebe, so diverse und zeitlich weit auseinanderliegende literarische Werke doch wieder zusammenzuführen. Walther von der Vogelweide strebte nicht an, was man sicherlich so behaupten darf, ein nationalistisches Massenbewusstsein gleich dem in der Moderne zu wecken, aber er formulierte dennoch unzweideutig, dass die Menschen in Deutschland, als Teil einer Masse, dem Ideal des höfischen Individuum entsprechen würden. Seine erstaunliche Betonung des Deutschtums sollte aber in seinem Kontext nicht zu politischen oder militärischen Handlungen führen, sondern ein ethisches Programm festschreiben, wonach deutsche Männer und deutsche Frauen ein ethisches, moralisches und physisches Ideal darstellten, dem alle anderen Europäer folgen sollten. Heinrich Wittenwiler gestaltete hingegen drastische Bilder von den Folgen der Massenbildung, und dies ganz ohne nationale Untertöne. Umso schlimmer erweist sich dagegen in Der Ring die vollständige Unterwerfung des Individuums unter die gewaltbereite und blutrünstige dörfliche Masse, die töricht und unbedacht das Risiko der eigenen Vernichtung auf sich nimmt und damit vollkommen ausgelöscht wird, hier mit der Ausnahme von Bertschi, der aber die Welt nicht mehr zu begreifen vermag. Auch Thomas Mann gestaltete natürlich einen vollkommen anders gearteten Roman, aber auch Der Zauberberg passt in das hier verfolgte Interpretations31 Ebd., S. 14. 32 Ebd.

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muster, denn wenngleich Hans Castorp sich zunächst aus der Masse aufsteigend zu einem humanistisch geprägten Individuum entwickelt, zerstören doch die politischen und militärischen Nachrichten die illusionäre Fassade seiner Sanatoriumseinsamkeit. Daher finden wir ihn am Ende unter den ideologisch völlig missbrauchten jungen Soldaten, die alle zum Opfer der Kriegsmaschinerie werden und im Dunst der Geschichte verschwinden. Die Masse lässt sich, wie Mann anzudeuten scheint, nur kurzzeitig zurückdrängen, und selbst die beste Bildung kann nicht den Ansturm der Gefühle blockieren, die das Individuum in die Zwänge der Masse hineinziehen. Gustave Le Bon kommt zuletzt das Verdienst zu, als hervorragender Analytiker das Phänomen der Masse theoretisch durchdrungen zu haben, womit er die Grundlage schuf, um die Situation sowohl in der Vergangenheit als auch in unserer Gegenwart abstrakt und praktisch zu untersuchen und zu begreifen. All dies stimmt uns leider sehr bedenklich, denn wir alle wissen von den Konsequenzen, die schlicht mit den Begriffen Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust umschrieben sind. Es geht aber, wie Karl Marx zurecht im Eingang zu seinem Kommunistischen Manifest von 1848 formulierte, ein Gespenst in Europe herum, das mittlerweile globale Dimensionen erreicht hat, denn der Populismus und Neoliberalismus, der brutale Nationalismus und die Xenophobie machen sich heute erneut überall auf der Welt breit. Ich würde natürlich weder Walther von der Vogelweide noch Heinrich Wittenwiler als Brandstifter bezeichnen, und auch Thomas Mann trifft keine Verantwortung, denn der Zauberberg ist eine tiefsinnige Analyse, die genau wie Brechts Ballade präzise die Konfliktsituation zu Tage fördert und bloßstellt. Indem wir nun Gustave Le Bons theoretische Reflexionen über die Masse hinzuziehen, stehen uns nicht nur eine Reihe von wichtigen literarischen Werken für die Untersuchung zur Verfügung, sondern auch das interpretative Instrumentarium, um konkrete Schritte zu unternehmen, zumindest im akademischen Kontext in enger Zusammenarbeit mit unseren Studenten und Kollegen vorbeugend vorzugehen, uns rhetorisch und intellektuell zu schulen und selbstkritisch die literarischen Werke zu beurteilen, die wir bisher oft eher naiv und unpolitisch betrachtet haben. Die Masse lauert überall, im Mittelalter und in der Gegenwart, und ihr Einfluss ist wesentlich stärker, als es das Individuum, ganz alleine auf sich gestellt, wahrnehmen würde. Die deutsche Literaturgeschichte bietet aber viele Beispiele, um in das gefährliche Geflecht von politischer Ideologisierung einzudringen und deutliches Licht auf die Gefahren des Kollektivs bzw. der Masse zu werfen.

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Literatur Christoph, Siegfried: The Language and Culture of Joy. In: Classen, Albrecht (Hg.): Words of Love and Love of Words in the Middle Ages and the Renaissance. Tempe: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies 2008, S. 319–333 (= Medieval and Renaissance Texts and Studies, 347). Classen, Albrecht: Eine einsame Stimme für den Frieden im Mittelalter. Der erstaunliche Fall von »Kudrun«. In: »Thalloris« 1 (2016), S. 69–90. Classen, Albrecht: Heinrich Wittenwiler. In: Hardin, James/Reinhart, Max (Hg.): German Writers of the Renaissance and Reformation 1280–1580. Detroit, Washington, DC/ London: Gale Research 1997, S. 326–331 (= Dictionary of Literary Biographies, 179). Classen, Albrecht: Kartographie und Nationsbewusstsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Buschinger, Danielle/Rosenstein, Roy (Hg.) : De Christine de Pizan à Hans Robert Jauss: Etudes offertes à Earl Jeffrey Richards par ses collègues et amis à l’occasion de son soixante-cinquième anniversaire. Amiens: Presses du Centre d’Études Mediévales de Picardie 2017, S. 182–193. Ehrismann, Otfrid: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008. Hess, Peter: Poetry in Germany, 1450–1700. In: Reinhart, Max (Hg.): Early Modern German Literature 1350–1700. Rochester, NY/Woodbridge, Suffolk: Camden House 2007, S. 394–465. Langewiesche, Dieter: »Nation«, »Nationalismus«, »Nationalstaat« in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz. In: Langewiesche, Dieter/ Schmidt, Georg (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg 2000, S. 9–32. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: »Neue politische Literatur« 40 (1995), S. 190–236. Laude, Corinna: »Daz in swindelt in den sinnen …«: Die Poetik der Perspektive bei Heinrich Wittenwiler und Giovanni Boccacio. Berlin: Erich Schmidt 2002 (= Philologische Studien und Quellen, 173). Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Übersetung von Rudolf Eisler. Hamburg: Nikol Verlag 2018. Le Bon, Gustave: The Crowd: A Study of the Popular Mind. Marietta, GA: Larlin Corporation 1982. Lutz, Eckart Conrad: Spiritualis fornicatio: Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹. Sigmaringen: J. Thorbecke Verlag 1990 (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 32). Mann, Thomas: Der Zauberberg. In: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5.1. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt/ M.: S. Fischer 2002. Marpeau, Benoît: Gustave Le Bon: parcours d’un intellectuel, 1841–1931. Paris: CNRS Ed. 2000 (= CNRS histoire). Nye, Robert: The Origins of Crowd Psychology – Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic. London: Sage 1975 (= Sage Studies in 20th Century History, 2).

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Magdalena Latkowska (Warszawa)

Konföderation oder Nationalismus? Zu Nation und deutscher Einheit in der politischen Publizistik von Günter Grass

Was ist Nationalismus? Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass dieser Begriff heutzutage übermäßig und nicht immer in seiner eigentlichen Bedeutung benutzt wird. Die Boulevardisierungs- und Vereinfachungstendenzen in der medialen Berichterstattung führen dabei oft nicht nur zu Sinnverzerrungen, sondern auch zur Gleichsetzung des Nationalismus mit dem Begriff »Nation«; im besten Falle zur Akzentuierung der Grund-Folge-Beziehung zwischen beiden Begriffen, die nicht näher erklärt wird. Dabei geht es in beiden Fällen um recht unterschiedliche und komplexe Phänomene, die eine lange Geschichte und Tradition haben und landespezifische Merkmale tragen. So hatte der Nationalismus, der heute eindeutig negativ konnotiert wird, ursprünglich in vielen europäischen Ländern eine recht positive Bedeutung: während der deutschen Märzrevolution 1848 z. B. bezeichneten sich als »Nationalisten« diejenigen Gegner der alten Ordnung, die sich für eine moderne Staatsform und die nationale Einheit Deutschlands einsetzten. Nationalistisch bedeutete zugleich patriotisch, aufgeklärt und fortschrittlich. Der Nationalismus gehörte bald zu den populärsten modernen Strömungen, die sich langsam als eine gleichberechtigte politische Weltanschauung neben dem Liberalismus und Sozialismus in den europäischen Gesellschaften fest zu etablieren begann. Erst Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die politische Situation in Europa verhärtete und in auf den Ersten Weltkrieg zusteuerte, näherte sich der Nationalismus in vielen europäischen Ländern, darunter in Deutschland, seiner heutigen Bedeutung, die eine Fokussierung auf die eigene Nation bei gleichzeitiger Abneigung gegenüber den Anderen beinhaltet. In Deutschland waren es zunächst die pangermanische und später die national-sozialistische Bewegung, die einen übersteigerten Nationalismus schließlich in brutale Politik und Herrschaft umsetzten. Man kann also erst im 20. Jahrhundert in Deutschland von chauvinistisch-national motivierten Ausgrenzungsverhaltensweisen und einer staatlich tolerierten und schließlich auch inspirierten Form der Gewalt gegen alles »Fremde« sprechen. Das Verhältnis zwischen dem Nationalismus in all seinen Phasen und dem Konzept der Nation ist dabei sehr komplex und muss im geschichtlichen Kontext

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des jeweiligen Landes betrachtet werden. Die Deutschen etwa haben mit der Nationsbildung eine viel kürzere Erfahrung als andere europäische Völker, deshalb wird die deutsche Nation von namhaften Historikern als eine »verspätete Nation« bezeichnet. Wegen der anhaltenden separatistischen Macht absolutistischer Fürsten und des sich daraus ergebenden Territorialismus konnten sich nämlich in Deutschland viel später als z. B. in Frankreich philosophische und politische Strömungen herausbilden und durchsetzen, auf denen ein moderner, national konzipierter Staat aufgebaut werden konnte. Alle europäischen Nationen, selbst die bis heute »unvollendeten« (z. B. Katalonien, Korsika), sind ihren jeweils eigenen Weg durch dieses Zeitalter des Nationalen gegangen, der überall geprägt war von Aushandlungsprozessen zwischen dem Wert ›Nation‹ und anderen Werten wie ›Humanismus‹, ›Demokratie‹, ›Frieden‹ oder ›Völkerverständigung‹. Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, dem Verständnis der Begriffe Nation/Nationalismus am deutschen Beispiel einen kleinen Schritt näher zu kommen, indem ihre Entwicklungsgeschichte und verschiedene Deutungsweisen anhand der Essays von Günter Grass unter die Lupe genommen werden. Auch wenn die Erwägungen von Grass aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen und in einen gewissen zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet sind, stellen sie eine aufschlussreiche und an vielen Stellen tiefgreifende Analyse der Entstehungsgeschichte der Nationsbildung samt ihrer Konsequenzen in Deutschland dar. Nicht zuletzt weisen sie auf wichtige Veränderungen hin, denen sowohl das Konzept der Nation als auch das Phänomen des Nationalismus in der deutschen Geschichte unterlagen; nicht zuletzt präsentieren sie eine Sichtweise, die in dieser Zeit viele deutsche Intellektuelle mit Grass teilten. Die Essays zum Thema deutsche Nation und Nationalismus hat Grass in den frühen 1960er Jahren zu verfassen begonnen, als die Wiedervereinigung Deutschlands zwar in bestimmten Kreisen immer noch intensiv diskutiert wurde, aber keine realpolitische Option und deshalb nur rein theoretisch zu sein schien. Seine frühen Ausführungen sind daher als eine Stimme in der Wiedervereinigungsdebatte zu verstehen und beziehen sich größtenteils auf die Plausibilität der Bildung einer zukünftigen gemeinsamen Nation durch die Deutschen aus der BRD und der DDR im Rahmen eines Nationalstaates. Gegen die Bildung eines Staates basierend auf dem Nationskonzept, behauptet Grass in einem seiner Essays, sprächen jedoch zahlreiche Argumente, die nicht außer Acht gelassen werden könnten. Eine mögliche Wiedervereinigung müsse nämlich vor allem eine tiefgreifende politische, ethnische und religiöse Spaltung Deutschlands berücksichtigen, sowie auch die Tatsache, dass für den Aufbau eines Einheitsstaates nach dem Vorbild Frankreichs in Deutschland eine entsprechende Tradition fehle. Die zwischen der DDR und der BRD bestehende

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Staatsgrenze sei dabei seiner Meinung nach nur ein materieller Ausdruck der faktisch bestehenden religiösen und kulturellen Grenzen zwischen den Ländern westlich und östlich der Elbe. Nicht kleinere Unterschiede bestünden übrigens auch innerhalb beider Länder in der Nord-Süd-Achse. All dies führt Grass zur Frage nach dem Sinn der deutschen Vereinigung auf der Grundlage des Begriffs der Nation: »Ist Deutschland eine Nation? Sollte sie eine Nation bilden?« – fragt er rhetorisch.1 Bezugnehmend auf die deutsche Geschichte meint er, dass nur das Erste Deutsche Reich, das Heilige Römische Reich der Deutschen Nation, auf die mythische (aber nicht die politische) Einheit rekurrierte. Jedoch bereits seit Beginn des 16. Jahrhunderts kann man von einem endgültigen Ende dieser Einheit sprechen: »Doch seit Beginn des Konfessionsstreites im sechszehnten Jahrhundert und spätestens seit Abschluss des Westfälischen Friedens war das Römische Reich Deutscher Nation konfessionell und also politisch in zwei Hälften geteilt«.2 All das führt Grass zu der Überzeugung, dass im Falle der Wiedervereinigung als die adäquatere Staatsform eine Konföderation beider deutscher Staaten nach dem Beispiel der Schweiz in Erwägung gezogen werden sollte. Das Konzept einer Konföderation bräuchte jedoch seiner Ansicht nach einen anderen Gründungsmythos als bisher, ein neu zu definierendes Bindeglied, welches die Deutschen faktisch verbinden würde. Dies könnte die gemeinsame Kultur (Literatur und Sprache) sein und solch eine Gemeinschaft könnte sich, genauso wie die Schweiz, auf das Konzept des »Nationalbewusstseins« und nicht – wie im Falle Frankreichs – auf das »Nationalgefühl« stützen. Die alte Definition der Staatsnation ist daher seiner Meinung nach im Falle Deutschlands abzulehnen. Er unterstreicht: »Wir sollten begreifen, dass der Begriff Nation an sich keinen Wert darstellt«.3 An anderer Stelle präzisiert er: Meine These heißt: Da wir, gemessen an unserer Veranlagung, keine Nation bilden können, da wir, belehrt durch geschichtliche Erkenntnis – und unserer kulturellen Vielgestalt bewusst – keine Nation bilden sollten, müssen wir endlich den Föderalismus als einzige Chance begreifen.4

Eine Nation, die auf der Vorstellung einer im Staat zentrierten ethnischen Gemeinschaft beruht, soll durch eine Nation ersetzt werden, deren Existenz auf

1 Grass, Günter: Die kommunizierende Mehrzahl (1967). In: Grass, Günter: Essays und Reden I. 1955–1969. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 243–256, hier S. 244. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 254. 4 Ebd., S. 255.

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einer gemeinsamen Kultur beruht – nach Johann Gottfried Herder nennt er sie eine »Kulturnation« (»Kulturgemeinschaft«)5. Das Plädoyer für die Bildung einer Konföderation auf der Basis der Kulturnation ergänzt der Schriftsteller noch um ein weiteres Begriffspaar: »Einigkeit« vs. »Einheit«. Er ist der Ansicht, dass sowohl die europäische als auch die deutsche Einigkeit nicht unbedingt Einheit bedeuten müsse, da letztere die Freiheit der Bürger einschränke. »Nationalbewusstsein« und »Einigkeit« betrachtet er also als die Begriffe, die dem Aufbau einer religiös und kulturell vielfältigen Konföderation zugrunde liegen könnten. Zur Idee einer auf der Kulturnation gestützten Konföderation pflegte Grass im Laufe der 1960er Jahre mehrmals in seinen Essays und Reden zurückzukehren; er passte lediglich die Ansätze seiner Theorie an laufende politische Ereignisse an bzw. präzisierte seine Aussagen. Während der Studentenproteste im Jahre 1968 vertrat er die Meinung, dass der Weg für den Konföderationsvertrag auch dann offen bleiben sollte, wenn der zweite deutsche Staat (d. h. die DDR) anerkannt würde. Ein Jahr später, anlässlich der Bundestagswahlen von 1969 unterstrich er wieder die Notwendigkeit, in der Zukunft eine Konföderation zu bilden: Zwei deutsche Staaten deutscher Nation, die im Sinne europäischer Entspannungspolitik locker miteinander konföderiert sind: Das ist keine Utopie, sondern der einzig realistische Beitrag, den Deutschland zur Einigung Europas anbieten könnte.6

Neben den politisch, religiös und kulturbedingten Argumenten kommt in den frühen Essays von Grass auch ein anderes Argument zum Ausdruck, und zwar die geschichtliche Erfahrung der Deutschen mit der Nationsbildung, die seiner Meinung nach nicht als besonders gelungen betrachtet werden kann. Die zentral regierten Nationalstaaten, das zweite Kaiserreich und das Dritte Reich, entfesselten nämlich zwei Kriege und haben sie verloren. Ein mächtiger Nationalstaat mit seiner militärischen Macht könnte erneut die Nachbarländer bedrohen und somit den Weltfrieden stören. Im Gegensatz dazu würde eine Konföderation den Nachbarländern viel mehr internationale Sicherheit gewährleisten: Ich glaube, es dürfte klar sein, dass unsere Nachbarn in Ost und West an einer Wiedervereinigung im Sinne eines Nationalstaates kein Interesse haben, allein aus Sicherheitsbedürfnis. Diese europäischen Nachbarstaaten in West und Ost sind zu Recht von dem Trauma gezeichnet, dass ein Deutsches Reich in der Mitte Europas in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege angefangen und verschuldet hat. Das belastet uns nach wie

5 Augstein, Rudolf/Grass, Günter: Deutschland, einig Vaterland? Ein Streitgespräch. Göttingen: Steidl 1990, S. 60. 6 Grass, Günter: Rede von den begrenzten Möglichkeiten (1969). In: Grass, Günter: Essays und Reden I. 1955–1969. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 499–513, hier S. 510.

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vor, das belastet auch, auch wenn die Nachkriegsgeneration unbeteiligt ist, auch die Nachkriegsgeneration.7

Auch in den 1970er und 80er Jahren hielt Grass an seinen Vorschlägen und Konzepten fest und äußerte wiederholt seine Überzeugung, dass ein »alter« Begriff der Nation zwangsweise den Nationalismus zur Folge hätte. Die zukünftige Konföderation müsste sich deshalb von diesem Nationalismus lösen: »Zwei Staaten deutscher Nation würden den Nationalismus alter Schule überwinden müssen«.8 Dies werde laut Grass allerdings dadurch erschwert, dass sowohl die BRD als auch die DDR zwei separatistische Systeme aufbauen, was ein weiterer Beweis für die These der Unfähigkeit der Deutschen zur Bildung einer Nation sei. Noch deutlicher als in den 1960er Jahren betonte Grass, dass die von den Deutschen in der Geschichte aufgebauten ›Versionen‹ von Nation auf negativen Annahmen beruhten, die viele Mängel aufwiesen: »Nur im Negativen bilden die Deutschen gelegentlich eine Nation. Zweimal haben sie aus ihrem Unvermögen, sich selbst zu begreifen, Weltkriege entfesselt und sich als eine Nation eingeprägt, die nur im Krieg oder im Hinblick auf Krieg bestehen kann«.9 Zur Zeit der Wende 1989 propagierte Grass sein Konzept der Konföderation und der Kulturnation noch intensiver und lehnte die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Basis des Nationskonzepts – angesichts der sich real ergebenden Möglichkeit – noch stärker als zuvor ab. Er wiederholte dabei die schon früher angeführten Argumente und fügte neue hinzu, die sich auf die laufenden politischen Entwicklungen bezogen. So kehrte er zu seiner These über die Friedensstörung durch eine »geballte Macht« zurück: Die Deutschen würden dann wieder annähernd achtzig Millionen zählen. Ihr vereinigtes Wirtschaftspotential wäre, besonders für unsere östlichen Nachbarn, erdrückend. Das militärische Potential wüchse, selbst wenn es nicht ausgeschöpft werde, für alle Nachbarländer auf ein unerträgliches Maß. Zudem würde eine solche Wiedervereinigung, nahezu zwangsläufig, dem Wunsch und Anspruch auf die Rückgewinnung der verlorenen Ostprovinzen Auftrieb geben.10

In einem Gespräch mit dem Herausgeber der Wochenzeitung »Der Spiegel«, Rudolf Augstein, betonte Grass wenig überraschend, dass eine Konföderation der DDR und der BRD die beste Lösung sei, die jedoch eine Neudefinition der Identität beider Länder erfordere. Er unterstrich dabei die Rolle des neuen 7 Ebd. 8 Grass, Günter: Deutschland – zwei Staaten – eine Nation? (1970). In: Grass, Günter: Essays und Reden II. 1970–1979. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 39–48, hier S. 44. 9 Grass, Günter: Politisches Tagebuch. In Ermangelung (1971). In: Grass, Günter: Essays und Reden II. 1970–1979. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 86–88, hier S. 87. 10 Grass, Günter: Folgenreich. In: »Frankfurter Rundschau« vom 14. Oktober 1989, S. 12.

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Gründungsmythos und stellte fest, dass das Gedenken an und die Schlussfolgerungen aus Auschwitz integraler Bestandteil einer neuen politischen Staatskonzeption sein müssen: Auschwitz ist kein Ressentiment, Auschwitz ist die große Schamschwelle […] Ein modernes Verbrechen von diesem Ausmaß, und Auschwitz ist ja nur eine Kennziffer für all das, ist nur von einem Einheitsstaat zu machen […] Es ist doch so, dass man einen einzigen, großen Staat braucht, um so etwas zu realisieren; und es ist realisiert worden.11

Unter den neuen, sich aus der Besonderheit der damaligen Situation ergebenden Argumenten führte Grass ein ökonomisches an. In seinem bekannten Aufsatz Lastenausgleich gab er seinem Bedauern Ausdruck, dass Deutschland »die Konkursmasse DDR« kauft,12 anstatt durch Einschnitte in den Ausgaben für das Militär und die Einführung einer Sondersteuer die Last auszugleichen. Solche Entschädigung wäre seiner Meinung nach viel besser als die Wiedervereinigung, weil sie die Wirtschaft vor dem Zerfall schützen und den Nachteil ausgleichen würde, den die DDR nach dem Krieg davongetragen hat.13 Eine rasche Einführung der westdeutschen Währung in der DDR bezeichnete er als einen »wirtschaftlichen Anschluss« und stellte fest, dass die Gewohnheiten der Einwohner nicht mit entsprechendem Respekt behandelt worden seien und die DDR als Territorium der Expansion der Hartwährung im Kolonialstil ausgenutzt wurde. Er sah voraus, dass die ›Kollision‹ der D-Mark mit einem unvorbereiteten Markt dazu führen würde, dass viele ostdeutsche Unternehmen Bankrott gehen werden und die Arbeitslosigkeit zunehmen würde.14 Während öffentliche Aussagen von Grass zum Thema Nation und Wiedervereinigung in früheren Jahrzehnten nur vereinzelte Reaktionen hervorriefen, weckte sein Parteiergreifen von 1989 – womöglich der bahnbrechenden Natur der Ereignisse wegen – reges Interesse unter anderen Intellektuellen sowie in der Öffentlichkeit und stieß dabei nicht selten auf Kritik. Zu den heftigsten prominenten Widersachern Grass’ gehörten u. a. der oben bereits erwähnte Rudolf Augstein und der Schriftsteller Martin Walser.15 Letzterer warf Grass vor allem vor, den Volkswillen zu ignorieren, der durch die Demonstranten in Leipzig, Dresden und anderen Orten lautstark bekundet wurde. Aus dem Volke, so

11 Augstein/Grass, Deutschland, einig Vaterland?, S. 60. 12 Grass, Günter: Lastenausgleich (1989). In: Grass, Günter: Essays und Reden III. 1980–1997. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 225–229, hier S. 227. 13 Ebd. 14 Vgl. Grass, Günter: Einige Ausblicke vom Platz der Angeschmierten. In: Grass, Günter: Ein Schnäppchen namens DDR. Frankfurt/M. Luchterhand 1990, S. 27f. 15 Vgl. Müller, Helmut L.: Wir könnten der Welt erträglich sein. Günter Grass und Martin Walser im Streit über die deutsche Einheit. In: »Politik und Kultur« Nr. 6 (1990), S. 29–34.

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Walser, kam doch der Wille zur Vereinigung, der erst von den Politikern aufgegriffen wurde.16 Doch allein mit seinen Ansichten war Grass nun auch wieder nicht, gab es doch recht viele Intellektuelle in der BRD und ganze Schriftstellerkreise in der DDR, die genauso wie er, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, der Wiedervereinigung skeptisch oder gar völlig ablehnend gegenüber standen.17 Genannt seien die Historiker Heinrich August Winkler und Hans-Ulrich Wehler, der Philosoph Jürgen Habermas oder der Schriftsteller Christoph Hein. Hein stellte übrigens fest, dass auch ihm vor einigen Jahren die Idee der Konföderation in den Sinn gekommen sei, jetzt aber, befürchtete er, würde die Geschichte in eine andere Richtung gehen: »Das sind möglicherweise Hoffnungen, die heute schon Illusionen sind«.18 Im Gegensatz zu ihm wollte Günter Grass jedoch keinen Abschied von solchen »Illusionen« nehmen. Er bedauerte, dass eine Chance für eine Konföderation nach der Wiedervereinigung verspielt worden sei: »Der Zug ist abgefahren«, hieß es, »und niemand kann ihn aufhalten«. […] Als jemand, der seit Jahren die Konföderation vorschlägt, also die Einigung höher bewertet als eine Einheit, die er zu fürchten gelernt hat, stehe auch ich auf dem Bahnsteig und wiederhole papageienhaft meine Warnungen, ahne ich doch, dass dem abgefahrenen Zug Unglück vorprogrammiert ist.19

In einem Essay beklagt sich Grass darüber, seiner Ansichten wegen als »Verräter seiner Heimat« bezeichnet worden zu sein. In Erwiderung darauf nannte er sich selbst einen »vaterlandslosen Gesellen«, der seine Heimat – sollte sie so aussehen wie die früheren deutschen Nationalstaaten – schon jetzt verraten will: Am Ende werden wir knapp achtzig Millionen zählen. Wir werden wieder einig, stark und – selbst beim Versuch, leise zu sprechen – laut vernehmlich sein. Schließlich – weil genug nie genug ist – wird es uns gelingen, mit bewährt harter D-Mark – und nach Anerkennung der polnischen Westgrenze – ein gut Stück Schlesien, ein Stückchen Pommern wirtschaftlich untertänig zu machen und – nach deutschem Bilderbuchmuster – wieder einmal zum Fürchten und isoliert sein. Dieses Vaterland verrate ich jetzt schon: mein Vaterland müsste vielfältiger, bunter, nachbarlicher, durch Schaden klüger und europäisch verträglicher sein.20

16 Ebd., S. 32. 17 Vgl. Scharf, Wilfried: Vereinheitlichung der öffentlichen Meinung in Meinungsführermedien? Schriftsteller und Intellektuelle über Deutschland 1988–1991. In: »Communications: The European Journal of Communication« Bd. 17 (1992), S. 5–42. 18 Hein, Christoph: Auszug aus der Diskussion. In: Keller, Dietmar (Hg.): Nachdenken über Deutschland: Reden. Berlin: Verlag der Nation 1990, S. 39–46, hier S. 40. 19 Grass, Einige Ausblicke vom Platz der Angeschmierten, S. 20. 20 Grass, Günter: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen (1990). In: Grass, Günter: Essays und Reden III. 1980–1997. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 230–134, hier S. 231.

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Da die einmalige Chance für eine völlig neue Öffnung in der Geschichte vertan worden sei, bleiben als einzige Hoffnung auf den Erhalt der kulturellen Vielfalt – laut Grass – die Zuwanderer: »Sie erweitern unseren kulturellen Begriff. Sie können helfen, unser nach wie vor diffuses Bewusstsein von Nation neu zu erleben. Mit ihrem Beistand sind wir als Deutsche zugleich Europäer«.21 Die Multikulturalität als Mittel gegen den Nationalismus war übrigens schon in seinen früheren Essays anzutreffen. Es scheint angebracht, ein Fragment an dieser Stelle zu zitieren, in dem Grass die »Utopie« einer Multikulti-Gesellschaft zeichnet: Vom Kreuzberg aus eine Utopie entwerfen. Ich denke an türkische, kroatische, spanische, griechische und italienische Straßenzüge und Stadtteile. Direkt neben Schultheiß am Fuße des Kreuzbergs lasse ich eine Moschee samt Minarett wachsen. Schon in der zweiten Generation sind Türken, Kroaten und Italiener geborene und gelernte Berliner. Alle Grundrechte stehen ihnen zu. Sie wählen und werden gewählt. Vorurteile sind nur noch Legende; und selbst die Meierei Bolle kann ohne Scheu, also werbewirksam, auf den türkischen Ursprung des Wortes Joghurt hinweisen. Eine Utopie? Neben uns stand ein junges türkisches Paar. Am Sockel der Gußeisengothik erklärte ein Westberliner Student einem jungen Spanier die Aufschriften des Denkmals: Katzbach, Leipzig, BelleAlliance. Später, bergab, sahen wir griechische Kinder spielen. Wenn das nicht die Zukunft ist!22

Im Kontext der hier nur verkürzt dargestellten Überlegungen von Grass aus drei Jahrzehnten, die sich auf die Nation und den Nationalismus beziehen, ergeben sich Fragen, die auch heute nicht leicht zu beantworten sind. Haben sich die Prognosen von Grass in Bezug auf die deutsche Nation im Kontext der Wiedervereinigung bestätigt? Ist die Bildung der Nationalstaaten eine feste oder eine eher vorübergehende Erscheinung in Europa, die früher oder später zwangsweise den Nationalismus zur Folge hat? Und schließlich: ist die Multikulturalität, die als politisches Credo von Grass verstanden werden kann, tatsächlich ein Heilmittel gegen »die Krankheit Nationalismus« geworden? Es scheint am einfachsten, auf die Befürchtungen und Prognosen von Grass gleich eine negative Antwort zu geben, da sie durch die seitherigen Entwicklungen eher falsifiziert als verifiziert wurden. Kein ernstzunehmender Analytiker würde z. B. heute die Entstehung der Partei Alternative für Deutschland mit deutschem »angeborenen« Nationalismus begründen; vielmehr wird die (Re)Nationalisierung der politischen Parteien sowie die deutliche Zunahme ihrer Popularität in den letzten Jahren als ein Teil eines gesamteuropäischen, wenn nicht gar weltweiten

21 Grass, Einige Ausblicke vom Platz der Angeschmierten, S. 27f. 22 Grass, Günter: Politisches Tagebuch. In Kreuzberg fehlt ein Minarett (1971). In: Grass, Günter: Essays und Reden II. 1980–1997. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 89–91, hier S. 91.

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Trends gesehen und – paradoxerweise mit der von Grass als positiv eingeschätzten Erscheinung der Migration – eher im negativen Sinne in Verbindung gebracht. Die Frage, ob die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten als ein vorübergehendes Phänomen betrachtet werden kann, das überdies den Nationalismus zwingend zur Folge hat, kann nicht leicht beantwortet werden. Wie anhand der Ausführungen von Grass gezeigt wurde, kann der Begriff der »Nation« auf unterschiedliche Art und Weise verstanden und aus verschiedenen weltanschaulichen Positionen heraus gedeutet werden. Die in den Ausführungen von Grass geschilderte Deutungsvielfalt der Begrifflichkeit – seinen Annahmen zum Trotz – kann eben auch als ein Argument dafür verstanden werden, dass die Nationsbildung nicht zwangsweise den Nationalismus nach sich zieht. Vielleicht könnte man sogar die These wagen, dass die Krisen der heutigen Welt nicht vornehmlich von einem nationsbedingten Nationalismus herrühren, sondern eher im Chauvinismus, Rassismus, in den neuen, gefährlichen radikalen gesellschaftlichen Bewegungen und nicht zuletzt in einer destruktiven Politik begründet sind, besonders in den durch sie geweckten Ängsten, die von den Regierenden instrumentalisiert und für politische Zwecke missbraucht werden – mit der Brexit-Kampagne als Musterbeispiel. In Bezug auf die Migration und die Multikulturalität, in denen Grass ein Heilmittel gegen den deutschen Nationalismus sehen wollte, sehen wir den Autor geradezu eklatant widerlegt. Nur allzu leicht kann man die von Grass geschilderte »utopische« Vision fast schon als naiv bewerten und ihr bittere Bilder gegenüberstellen: Ghetto-Viertel, Parallelgesellschaften, Drogenhandel, Kriminalität, Gewalt und andere Probleme, die sich – der politischen Korrektheit zum Trotz – beim besten Willen nicht als Erfolge einer musterhaft funktionierenden Migrationspolitik und der Bewältigung der Flüchtlingskrise in Europa bezeichnen lassen. Die Ideen von einer friedlich und problemlos funktionierenden und integrierten Multi-Kulti-Gesellschaft, einem quasi »von selbst« reibungslosen und konfliktfreien Miteinander, geschweige denn der »heilenden« Kraft der Migration als Mittel gegen den Nationalismus, haben sich als nicht realitätstauglich erwiesen. Was Grass allerdings im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung sehr richtig »erspürt« hat, ist die Problematik der realen und mentalen Degradierung vieler Ostdeutscher durch den schroffen Anschluss der DDR an die BRD. Dieser Schritt – ob alternativlos oder nicht – hat durch die Produktion von Millionen tatsächlicher oder gefühlter »Wendeverlierer« zu politischen Tendenzen geführt, welche heute die Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls erheblich trüben. Und genau davor, dass nämlich soziale Marginalisierung – in Deutschland, aber nicht nur dort – immer den Nährboden u. a. für fremdenfeindliche und nationalistische Parolen bildet, wurde Günter Grass nicht müde zu warnen.

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Literatur Augstein, Rudolf/Grass, Günter: Deutschland, einig Vaterland? Ein Streitgespräch. Göttingen: Steidl 1990. Grass, Günter: Die kommunizierende Mehrzahl (1967). In: Grass, Günter: Essays und Reden I. 1955–1969. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 243–256. Grass, Günter: Rede von den begrenzten Möglichkeiten (1969). In: Grass, Günter: Essays und Reden I. 1955–1969. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 499–513. Grass, Günter: Deutschland – zwei Staaten – eine Nation? (1970): In: Grass, Günter: Essays und Reden II. 1970–1979. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 38–48. Grass, Günter: Politisches Tagebuch. In Kreuzberg fehlt ein Minarett (1971): In: Grass, Günter: Essays und Reden II. 1970–1979. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 89–91. Grass, Günter: Folgenreich. In: »Frankfurter Rundschau« vom 14. Oktober 1989, S. 12. Grass, Günter: Lastenausgleich (1989). In: Grass, Günter: Essays und Reden III. 1980–1997. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 225–229. Grass, Günter: Einige Ausblicke vom Platz der Angeschmierten. In: Grass, Günter: Ein Schnäppchen namens DDR. Frankfurt/M.: Luchterhand 1990, S. 20–28. Grass, Günter: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen (1990). In: Grass, Günter: Essays und Reden III. 1980–1997. Hg. von Daniela Hermes. Göttingen: Steidl 1997, S. 230–234. Hein, Christoph: Auszug aus der Diskussion. In: Keller, Dietmar (Hg.): Nachdenken über Deutschland: Reden. Berlin: Verlag der Nation 1990, S. 39–46. Müller, Helmut L.: Wir könnten der Welt erträglich sein. Günter Grass und Martin Walser im Streit über die deutsche Einheit. In: »Politik und Kultur« Nr. 6 (1990), S. 29–34. Scharf, Wilfried: Vereinheitlichung der öffentlichen Meinung in Meinungsführermedien?. Schriftsteller und Intellektuelle über Deutschland 1988–1991. In: »Communications: The European Journal of Communication« Bd. 17 (1992), S. 5–42.

Maria Wojtczak (Poznan´)

»Schildern im deutschnationalen Sinne«. Zur bewusstseinsstiftenden Rolle der populären Literatur

»Mit einer Großdemonstration in Warschau und kleineren Gedenkveranstaltungen im ganzen Land hat Polen seinen 100. Unabhängigkeitstag gefeiert. An einem ›Unabhängigkeitsmarsch‹ in Warschau nahmen nach Schätzung der Polizei rund 200.000 Menschen teil«1 – meldete die »Tagesschau« am 11. November 2018. Eine junge polnische Fotografin schoss damals, an dem Tag also, als Polen sein großes Fest feierte, ein ganz besonderes Foto des »Unabhängigkeitsmarsches« in Warschau, das in den sozialen Medien tausendhaft gelikt und weitergeleitet wurde. Es zeigt eine einsam an einem Fenster in der oberen Etage eines Hotels sitzende junge Frau, die auf die marschierende Menschenmenge herunterschaut: auf ein Meer von polnischen Flaggen getaucht in den von den Feuerwerkskörpern erzeugten weiß-roten Rauch. Die Fotografin äußerte sich über ihren Schnappschuss wie folgt: »Ich habe kein derartiges Interesse erwartet. Ich wollte die zwei Gesichter Polens in einem Frame zeigen«2. Man könnte ein solches Foto auch woanders, wo große Demonstrationen stattfinden, schießen. Hier geht es jedoch um den Gegensatz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Diese im Bild enthaltene Erzählung, die auf dem Kontrast zwischen der bewegten Welt hinter dem Fenster und der individuellen, distanzierten statisch wirkenden Frauengestalt zwischen den bipolar nebeneinander gestellten Realitäten beruht, ist bewegend. Der Zusammenstoß beider Welten wirkt wie eine »spirituelle Konfrontation von Innen- und Außenraum«3. Die Verknüpfung des Fenstermotivs mit einer Rückenfigur ruft Assoziationen mit einer Reihe von künstlerischen Bildern hervor: mit Jacobus Vrels Frau am Fenster von 1654 angefangen, über Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Zeichnung Goethe am Fenster der römischen Wohnung am Corso (1787) bis zu Um1 URL: https://www.tagesschau.de/ausland/demo-polen-103.html / letzter Zugriff am 12. November 2018. 2 URL:https://dorzeczy.pl/kraj/83624/Chcialam-w-jednym-kadrze-pokazac-dwie-Polski-To-zdjecie-podbija-siec.html / letzter Zugriff am 12. November 2019. 3 Vgl. Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München: C.H. Beck 2000, S. 110.

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berto Boccionis Gemälde Die Straße dringt ins Haus (1911) und wurde längst zum Symbol für eine Unvereinbarkeit mit der Außenwelt. Man kann die Bilder, in denen man wieder die einmalige Grenzerfahrung zwischen Innen und Außen, Geborgenheit und Gefahr, Einsamkeit und Gemeinschaft erblicken kann, durch Jahrhunderte hindurch verfolgen. Das offene Fenster kann als apriorisches Medium betrachtet werden: Es kann geöffnet oder geschlossen werden, durch dieses Fenster wird die Außenwelt entweder wahrgenommen oder abgelehnt. Gerade in der Fotografie aus Warschau und in ihrer blitzschnellen medialen Popularität spiegeln sich die Welten des Populären und des Individuellen, des trivial-zugänglichen und des anspruchsvoll individualisierten, wider. Das Triviale, da wo sich trivia überkreuzend einen gemein zugänglichen Platz bilden, kann als ›Etwas‹ von der Straße und der gemeinen Außenwelt repräsentiert und parallel dazu auch gesucht werden – es wird ja, gerade in der Literatur, mit Unterhaltung assoziiert, also mit einer gezielten Abweichung von dem gewohnten Alltag, mit populären und deswegen leichten Lesestoffen. Seit dem 19. Jahrhundert, als sich die unterhaltende und populäre Literatur etabliert hatte und Antworten auf bestehende Bedürfnisse lieferte, begleitet sie die hohe Literatur und bildet einen Diskurs, in dem die Brüche der hohen Literatur laufend stattfinden, in dem sie antizipierend angedeutet werden, weil hier die Normen der Kunst nicht verpflichtend sind. Die populäre Literatur vermag nicht nur die Gefühle darzustellen, sondern sie intentional zu produzieren, um in der Stille der privaten Rezeption die massenhafte Emotionalisierung der Leser zu betreiben. Sie wurde somit zu einem stark emotional gefärbten, bewusstseinsstiftenden Werkzeug. Unabhängig von der literarischen Qualität, ob trivial oder unterhaltend, präsentiert ein Text immer nur Vorstellungsschemata, Phantasieinhalte mit (unberechenbaren) zahlreichen »Unbestimmtheitsstellen« (Ingarden) und »Leerstellen, die die zu erwartende Geordnetheit des Textes unterbrechen«4. Ein trivial-populärer Text erfüllt auch diese Aufgabe oberflächlich und schablonenhaft – er kompensiert und manchmal sogar »ersetzt« die Wirklichkeit und wird dabei – mit Blick auf C.G. Jungs Theorie vom »kollektiven Unbewussten« – zum Träger nicht persönlicher Erfahrungen5. Jung versteht das »kollektive Unbewusste« als Lagerstätte des mentalen Erbes, das sich – zusammen mit der biologischen Evolution – stets entwickelt. Sein Konzept basiert hauptsächlich auf diversen Motiven der Kulturgeschichte, vor allem auf Mythen (religiösen oder märchenhaften Ursprungs), die stets geformt werden.

4 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: W. Fink 1976, S. 302. 5 Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 9. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1958– 1981, S. 88.

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Das 19. Jahrhundert begünstigte nationalisierte Mythenbildungen der neugeschaffenen Nationen, die sich als Traditionsgemeinschaften zu etablieren versuchten. Peter Alter folgend, können gerade Nationalismen eine besondere Form der kollektiven Identität6 stiften, wenn die mit der nationalen Zugehörigkeit verbundenen Empfindungen von ethischer Bedeutung sind. Karl Reimund Popper7, der den Nationalstaat als Mythos bezeichnete und in ihm eine irrationale Vorstellung und einen romantisch geprägten Traum von der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sah, brachte die These von der ›Verschmelzung‹ der Kollektivität mit der nationalen Zugehörigkeit und mit dem Mythischen in Anschlag. Solcher Blick auf Nationalismen erlaubt sie als Relikte eines urinstinktiven Gefühls aufzufassen, die, zusammen mit dem nostalgischen Bedürfnis nach Ersatz bzw. Entlastung von individueller Verantwortung, und zusammen mit den Leidenschaften bzw. Vorurteilen und Stereotypen, dem Bereich des Emotionalen angehören. Nationalismen können insofern eine (mythisch fundierte) Form des kollektiven Unbewusstseins bilden. Die auf die Erfüllung der Lesererwartungen zielende populäre Literatur, die dem Erfahrungsraum der Leser unkritisch entgegenkommt, bietet eine uneingeschränkte Möglichkeit für die Gefühlsprojektionen des Publikums. Sie reproduziert das allgemein Akzeptierte sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher und stilistischer Hinsicht. Insbesondere auffällig wird es da, wo das PopulärTriviale auf das Nationale, sogar auf das Ur-Nationale, trifft. Diese Literatur kann also eine Doppelfunktion ausüben: Während sie kognitiv entlastet, belastet sie emotional, was für die Leser eine besondere Anziehungskraft hat. Das Rationale setzt sie in das Sinnliche um und ersetzt damit die Reflexion durch Aktion, was zuletzt zur Trivialisierung führt.8 Ganz gegen Goethes 1832 formulierte Warnung vor jeglicher »politischen Wirkung«9 der Dichter, deren politisches Schreiben »mit dem freien Geiste und dem unbefangenen Überblick«10 nicht zu vereinen sei, waren die trivialen Autoren und ihre Verleger gerade an politischen Themen interessiert. »So wie ein Dichter politisch wirken will, muss er sich einer Partei hingeben, und so wie er dieses tut, ist er als Poet verloren«11, war Goethe überzeugt. Seine Vorstellung, gegen die Politik solle man »die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses 6 Alter, Peter: Nationalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 14. 7 Popper, Karl R.: Gesammelte Werke in deutscher Sprache. Bd. 5. Hg. von Hubert Kiesewetter. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. 8 Vgl. Nusser, Peter: Trivialliteratur. Stuttgart: J.B. Metzler 1991, S. 57. 9 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig: F.A. Brockhaus 1836, S. 356–357. URL: http://www.deutschestextarchiv.de/book/ show/eckermann_goethe01_1836 / letzter Zugriff am 18. November 2019. 10 Ebd. 11 Ebd.

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über die Ohren ziehen«12, zeigt, wieviel Mut es bedurfte, unpolitisch zu bleiben. Demgegenüber wurden politische Unterhaltungsromane schnell zu Bestsellern. Nach 1870 gerieten viele Verlagsunternehmen in den Taumel des nationalen Engagements und sahen gerade in der Partizipation an der Begeisterung für politische Ideen eine kommerzielle Chance für sich. Nationale Verbundenheit und kühles Geschäftsinteresse bewogen die Verleger, sich an diesem Boom zu beteiligen. Nach Ritter- und Räubergeschichten, der Reiseliteratur, unterhaltenden Frauenromanen, immer mehr erotisch ausufernden Sittenromanen, Wild-West-Erzählungen und Detektivromanen fand auch die Darstellung des politischen und gesellschaftlichen Lebens Eingang in die unterhaltenden Texte. Die Produzenten dieser Literatur, die stets die Hand am Puls der Zeit hatten, kümmerten sich lieber um die Produktion von »behördlich empfohlenen […] Erzählungen aus der Feder namhafter Schriftsteller, welche dem Leser die ruhmreichen Taten des deutschen Landheeres und der deutschen Flotte in spannenden, hochinteressanten Schilderungen vor Augen führen sollten«13. In diesem bereits erwähnten »Taumel des nationalen Engagements« gab es, verstreut in vielen deutschen Städten, Verlagshäuser, die »um die Förderung des Deutschtums auf ernstliche bemüht«14 bereit waren, sich für »Deutschlands Osten«15 einzusetzen und mit ihren Verlagsprogrammen, »deutsche Art und deutsche Bildung zu stärken, da wo sie zu schwinden drohten sie neu zu beleben«16. Die von 1815 bis 1920 bestehende Provinz Posen, auch Großherzogtum Posen genannt, gehörte ab 1871 zum Deutschen Reich. In der deutschen Literatur ist diese Provinz jedoch kulturell und literaturgeschichtlich einzigartig dokumentiert: In der Zeit von 1890 bis 1939 thematisierten deutschsprachige Autorinnen und Autoren dieses Gebiet in mehr als 100 unterhaltenden, populären Romanen und Erzählungen.17 Sie sollten vor allem, wie es 1913 ein »Aufruf an die deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sich an einem Preisausschreiben für einen 12 Ebd. 13 Vgl. Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane. Vom Kaiserreich zum »Dritten Reich« – 40 Jahre populäre Lesestoffe. Bd. 2. Lüneburg: Dieter von Reeken 2006, S. 93f. 14 Focke, Rudolf : Das Volksbibliothekswesen in der Provinz Posen/ Leipzig: O. Harrassowitz 1909, S. 14. 15 Manke, Arthur: Liederbuch für Deutschlands Osten. Lissa i.P.: Oskar Eulitz, o. J. 16 Focke, Das Volksbibliothekswesen in der Provinz Posen, S. 14. 17 Vgl. mehr zur deutschen Literatur über die Provinz Posen: Chodera, Jan: Die deutsche Polenliteratur 1918–1939. Stoff- und Motivgeschichte. Poznan´: Uniwersytet im. A. Mickiewicza w Poznaniu 1966; Połczyn´ska, Edyta: Im polnischen Wind. Beiträge zum deutschen Zeitungswesen, Theaterleben und zur deutschen Literatur im Großherzogtum Posen (1815–1918). Poznan´: Uniwersytet im. A. Mickiewicza w Poznaniu 1988; Wojtczak, Maria: Literatur der Ostmark. Posener Heimatliteratur (1890–1918). Poznan´: Wydawnictwo Naukowe UAM 1998; Józwiak, Maria: Das Grenzland in der deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit 1918–1939, unveröffentlichte Dissertation an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ (2008).

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Ostmarkenroman zu beteiligen«18, ausdrückte: »das Ostmarkenproblem im deutschnationalen Sinne« behandeln und »in lebenswahren Farben Land und Leute der Ostmark sowie die schweren Aufgaben […], die unseren braven deutschen Provinzen im Osten obliegen«19, schildern. Mit der Produktion der unterhaltenden Literatur über die Provinz Posen bzw. die »Ostmark« begannen zahlreiche Autoren und Verlage. Die Gründe, warum die Verlage solche populären Romane veröffentlichten, lassen sich anhand der Werbetexte, die zum Kauf gerade dieser Literatur animieren und in denen die Verlagsziele erläutert werden sollten, gut rekonstruieren. »Versäumen Sie nicht, sich durch die Lektüre des spannend geschriebenen Romans über die wahren Verhältnisse in der Ostmark zu unterrichten«, sprach der Verlag Oskar-Eulitz in Lissa i.P. seine Leser auf dem Cover des 1908 herausgegebenen Romans von Traugott Pilf (1866–1940) Geschichten aus der Ostmark an. Im anderen Fall warb der Verlag Engelhorn aus Stuttgart u. a. für die von ihm herausgegebenen »Posener-Romane« von Autoren wie Paul Oskar Höcker (1865–1944), Carl Busse (1872–1918), Marianne Mewis (1866–1938) und Clara Hofer (1875–1955) wie folgt: Fast kein Haus, keine Familie, wo die soliden Bände nicht ihren Einzug gehalten hätten; fast keine, noch so klein angelegte Privatbibliothek mochte die sich so freundlich präsentierenden roten [Farbe des Buchumschlags – M.W.] Freunde aus ihrer Mitte missen. Doch, noch gibt es viel zu tun! Noch gibt es Häuser, in denen die vermorschten und verrotteten Hintertreppenromane lieber gelesen werden. Hier wäre es Pflicht jedes Nächststehenden, die giftige Saat zu verdrängen und an ihre Stelle die gesunde und durchweg gute Kost der Engelhornschen Romanbibliothek zu legen. Der glücklich Geheilte wird, wenn er erst klar sieht, dem freundlichen Helfer sicher Dank wissen.20

Zu dem politisch-nationalen Zweck, »die wahren Verhältnisse« im Lande belletristisch zu schildern, kam also noch der didaktische hinzu: »Heilung« durch Lektüre. Gerade die Verbindung des Belehrenden (bzw. des Heilenden) mit dem Nationalen stellt eine gemeinsame Determinante der gesamten Ostmarkenliteratur dar und führt direkt zu ihrem Ernst, der gerade ihrem populär-unterhaltenden Ansatz entgegensteht. Die politischen und nationalistischen Komponenten scheinen hier stärker und vor allem dominierender als die unterhaltende Funktion dieser Literatur zu sein und kommen somit in dieser »versteckten« Funktion auch den Erwartungen des Publikums mehr entgegen.

18 Vgl. Krysiak, Franciszek: Hinter den Kulissen des Ostmarkenvereins. Aus den Geheimakten der preußischen Nebenregierung für die Polenausrottung. Posen: Selbstverlag d. Verfassers 1919, S. 254. 19 Preisausschreiben. In: »Die Ostmark. Monatsblatt des Deutschen Ostmarken-Vereins« Nr. 11 (November 1913), S. 1. 20 Das Vorsatzblatt in dem Roman von Busse, Carl: Jugendstürme. Stuttgart: J. Engelhorn 1916.

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Einer der Ostmarkenromane, Die Spinne (1902) von Albert Liepe21, liefert belletristisch verarbeitete Hinweise, mit welchen (literarischen) Mitteln der (unterhaltende) Ernst erreicht werden sollte: In einer fast 30 Seiten umfassenden, in den Plot des Romans geschickt eingeflochtenen detaillierten Schilderung des Verlaufs einer Sitzung der Königshorster Ortsgruppe des Deutschen Ostmarkenvereins, wird neben vielen aktuellen Sorgen und Aufgaben des Vereins, folgender Vorschlag des örtlichen Schulaufsichtsbeamten beschrieben: Es würde sich empfehlen, in aufklärendem Sinne abzufassende Volks-und Jugendschriften unterhaltender Art zu schaffen und zu verbreiten. Obwohl diese das Bedürfnis der Zeit zu bestimmtem Zwecke gebären würde, ließe es sich sehr wohl vermeiden, dass sie die Tendenz an der Stirn trügen: sie könnten künstlerisch angelegte und durchgeführte Schöpfungen von bleibendem literarischen Werte sein. […] Dichter im wahren Sinne des Wortes, welche die nötige Begeisterung, für diese dankbare Aufgabe hätten, fänden sich, wenn vaterländisch gesinnte Verleger oder die Staatsregierung bereit wären, diese Männer in entsprechender Weise zu belohnen; denn auch wirkliche Künstler bedürfen des täglichen Brotes und sind genötigt, es sich durch Ausübung ihrer Kunst zu erwerben.22

Diese Anweisungen, u. a. wie »künstlerisch angelegte Schöpfungen von bleibendem literarischen Wert« zu schreiben wären, bilden die Grundlage sowohl für die Ostmarkenliteratur als auch für die unzähligen populär-trivialen Texte, die um das Belehrend-Unterhaltende zum politischen Zweck mithilfe von entsprechenden Erzählstrategien und Darstellungskonventionen bemüht sind.23 Besonders interessant erscheint die unterhaltende Darstellung des Posener Aufstands von 1918 und dessen erfolgreicher Verlauf, der die Hoffnung auf die Eingliederung der Provinz Posen in den neuen polnischen Staat mit sich brachte. Die Erinnerung an diesen Aufstand lebt im polnischen Geschichtsnarrativ fort als eine der wenigen erfolgreichen Volkserhebungen gegen eine Fremdherrschaft. Der Posener Aufstand von 1918 hat zuerst keine literarische Verarbeitung gefunden, wenigstens keine zeitnahe. Die deutschsprachigen Texte über dieses Ereignis sind erst viele Jahre später entstanden. Der Posener Germanist Jan Chodera (1915–1975) weist in seiner Geschichte der deutschen Polenliteratur24 auf den einzigen Titel hin, der »den Aufstand von 1918/19 und die angeblichen Leiden deutscher Gutsbesitzer bis zur Ausweisung«25 in den Mittelpunkt stellt, nämlich auf den Roman von Friede H. Kraze26 Land im Schatten (1929), der in 21 22 23 24 25 26

Liepe, Albert: Die Spinne. Berlin: F. Zillessen 1902. Ebd., S. 193f. Vgl. Nusser, Trivialliteratur, S. 119–130. Chodera, Die deutsche Polenliteratur 1918–1939, S. 101. Ebd. Friede Henriette Kraze (1870–1936) wurde in Krotoszyn, in der Nähe von Posen geboren, war Verfasserin von Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern, Gedichten und Theaterstücken, in

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mehreren Auflagen erschienen und sogar ins Niederländische übersetzt worden ist. Chronologisch gesehen, gab es vor Krazes Roman schon einige Berichte in der Form geschichtlicher Nachschriften wie z. B. die Schrift Die Loslösung Posens von Robert Coester aus dem Jahre 1921, die Max Kollenscher 1925 teilweise überbearbeitet und in Auszügen in den Band Jüdisches aus der deutsch-polnischen Übergangszeit. Posen 1918–1920 übernommen hat, oder das in Tagebuchform in den 1930er Jahren für seine Familie aufgezeichnete Zeitzeugnis Lebenserinnerungen eines Posener Pastors (1860–1930) von Johannes Staemmler. Überraschenderweise erschien 1983 im Erb Verlag in Düsseldorf noch ein weiterer literarischer Versuch über den Posener Aufstand von 1918 aus der Feder des deutschen Journalisten Michael Biebrach (1914–1983) unter dem Titel Piroggen und Pistolen. Biebrachs Roman erschien im Folgejahr ohne den Untertitel Wie es war, als der Kaiser ging und der polnische Adler das Fliegen versuchte mit veränderter Seitenzahl (224 Seiten) als »Fischer Taschenbuch« und wurde als solches zuletzt 2016 nachgedruckt.27 Somit wird dem deutschsprachigen Leser ein recht eingeschränktes Bild von Posens Umbruch Anno 1918 angeboten. Anhand dieser von der Erzählkonvention her sehr unterschiedlichen Texte wird insbesondere deutlich, dass gerade die triviale Unterhaltungsliteratur bei aller – durch das Genre selbst, aber auch durch den historischen Kontext und die Leserzielgruppen bewirkten – Verschiedenartigkeit doch eine konstante Erzählstruktur aufweist und sich bestimmter, immer derselben Erzählstrategien bedient. Henriette Kraze, 1870 in der damaligen preußischen Provinz Posen geboren, erzählt von dem Großpolnischen Aufstand nur knapp, ohne auf konkrete Protagonisten bzw. Sieger und Besiegte zu sprechen zu kommen. Die Erzählung beginnt am Weihnachtsabend des Jahres 1918. Die Darstellung des Aufstandes, den Kraze bloß auf die historische Kulisse reduziert, vor der sich das Leben einer deutschen Pastorenfamilie in Großpolen abspielt, betrifft nicht die Stadt Posen, sondern die dörfliche Provinz. Als am Ende des Romans von der doch gewonnenen Unabhängigkeit Polens und dem erfolgreichen Aufstand die Rede ist, sind die Protagonisten bereit, anstelle der verlorenen »großen deutschen Heimat« ihre »private« Heimat in dem »Glauben der Väter« zu sehen28 und sich auf diese religiöse Art und Weise mit der neuen Lebenssituation zu verdenen sie eine Vielzahl von historischen, sozialen und religiösen Problemen behandelte. An den Tag legte sie zu Zeiten des Nationalsozialismus eine fast mystische Faszination für Adolf Hitler. Ihre Romane, u. a. Land im Schatten, standen nach 1945 in der Sowjetzone auf der Liste der auszusondernden Literatur. 27 Die Publikation in einer verbreiteten Taschenbuch-Serie in mehreren Auflagen widerlegt die Aussage Karol Górskis, das Buch sei »nur einem begrenzten Leserkreis in Deutschland« zugänglich gewesen (Górski, Karol: Der Posener Geschichtsroman »Piroggen und Pistolen« von Michael Biebrach. In: »Jahrbuch Weichsel-Warthe« 64 (2018), S. 61–74, hier S. 96). 28 Kraze, Friede H.: Land im Schatten. Gütersloh: C. Bertelsmann 1929, S. 466.

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söhnen. Szenen aus den Kampftagen, in denen tote Aufständische vor dem Haus im Schnee liegen, Landgüter von den polnischen Aufständischen geplündert oder Hausbewohner gezwungen werden, nachts ihre Wohnung zu verlassen, gehen mit hoffnungsvollen Bemerkungen über die guten Deutschen, die endlich wieder Ordnung schaffen werden29, einher. Die bipolare Figurenkonstellation bildet hier eine Erzählstrategie von starker Wirkungskraft, die dem Leser »erleichtern« soll, sich auf die »richtige« Seite zu stellen. Es ist nicht schwer, in einem Roman, in dem zwei Nationen dargestellt werden, die Protagonisten in ein Polarisierungsverhältnis zu setzen. In allen Erzählungen deutscher Autorinnen oder Autoren aus der Provinz und der Stadt Posen aus der Zeit um 1918 besteht das gesamte Figurenpersonal ausschließlich aus (tadellosen) Deutschen und (zumeist) schlechten Polen. Das den Erwartungen der Leser entgegenkommende Happy End in diesen Erzählungen entscheidet darüber, dass das Böse (und damit die bösen Protagonisten) irgendwann, bestraft wird, während das Gute siegt. Die Möglichkeit, diese Bestrafung mitzuerleben, wird dem Leser als disziplinierendes Mittel angeboten, sie erlaubt ihm all das, was ihn beunruhigt oder ängstigt oder seinen Wünschen und Erwartungen einfach nicht entgegenkommt – zweckmäßig zu lösen. Dieses beklemmende ›Bestrafungsangebot‹, das der Leserschaft unterbreitet wird, zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Trivialliteratur an der Disziplinierung der Gesellschaft beteiligt ist bzw. sein kann.30 Hinter dem unterhaltend trivial erzählten Geschehen ist eine ausgeprägte Strategie verborgen, die die Wirklichkeit auf »grobe Raster sinnlicher Wahrnehmbarkeit verkürzt. Sie […] schafft […] die Voraussetzung […] für schnellen und wirksamen Konsum«31. Eine nicht weniger wirksame Strategie des trivialen Erzählens bildet die die Bestrafung begleitende eindringliche Emotionalisierung des Dargestellten, die die Erlebnisse verstärken soll. In Kratzes Roman wird die emotionalisierende Rolle der Religion zugeschrieben. Da wo die deutschen Protagonisten machtlos den (dieses Mal) siegenden Polen gegenüberstehen, greifen sie auf das Gebet zurück und auf die Vorstellung von der »ewigen Heimat« anstelle der gerade verlorenen (deutschen) Provinz Posen. Genau das Gegenteil bieten jedoch solche Texte, die sich von dem trivial-populären Erzählen distanzieren und in ihren Erzählstrukturen eher nach sachlich-inspirierenden Konventionen greifen, die kaum emotionalisierend bzw. manipulierend wirken, an. In den Kreis der literarischen Darstellungen der Posener Umbruchzeit von 1918/19 gehören auch Tagebücher, wie sie der in der Provinz Posen geborene und wirkende deutsche evangelisch-unierte Pastor Johannes Staemmler (1860–1946) 29 Ebd., S. 157. 30 Vgl. Nusser, Trivialliteratur, S. 125. 31 Ebd.

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aus seinen Erinnerungen aufgezeichnet hat. Er war einer der bekanntesten und aktivsten evangelischen Geistlichen in der Provinz. Seine Lebenserinnerungen eines Posener Pastors (1860–1930)32 bieten, literarisch gesehen, einen leichten und unterhaltend erzählten Text. Staemmler berichtet, ohne bewusst von Erzählstrategien Gebrauch zu machen, beinahe monoton, doch keineswegs langweilig – und eben darin und in der daraus resultierenden Authentizität seiner Aufzeichnungen liegt die Seriosität und Objektivität seiner Erinnerungen. Sein Bericht entspricht der gängigen Vorstellung vom sachlichen Erzählen und entlarvt damit die List des trivial-unterhaltenden Erzählens. Eine Szene aus dem mit »1918« überschriebenen Kapitel erzählt kurz und eindrucksvoll von dem Aufruhr in der Stadt Posen. Staemmler berichtet von dem Umzug Ignacy Paderewskis, eines polnischen Exilpolitikers, der 1919 zum Ministerpräsidenten des unabhängigen Polens ernannt wurde,33 durch die Stadt, von der stürmischen Begrüßung, von der Flucht des Oberpräsidenten der preußischen Provinz Hans von Eisenhart-Rothe34 aus seiner Wohnung und von den ersten Schüssen des Aufstands, die ausgerechnet in Staemmlers Wohnung einschlugen. Er erzählt auch über das Eindringen polnischer Aufständischer in das Pfarrhaus, die die Wohnung durchsuchten und androhten, einen Sohn Staemmlers zu erschießen. Diese Passage schließt er damit, wie die Erklärung der Pfarrersfrau, dass die gerade auf ihrem Schreibtisch liegende größere von dem deutschen Nationalen Frauendienst zur Unterstützung sowohl polnischer als auch deutscher Soldatenfrauen und -familien gesammelte Geldsumme, die Aufständischen in solches Erstaunen versetzte, dass sie von der Absicht, das Geld zu rauben, Abstand nahmen und »sogar unseren Silberkasten stehen ließen und sich entfernten«35. Staemmler stellt sich auf keine der beiden nationalen Seiten und vermeidet jegliche Polarisierung im nationalistischen Sinne sowie jegliche spürbare Emotionalisierung. Er liefert also eine völlig andere Erzählung über die gleiche Stadt, die gleichen Nationen und die gleiche Zeit als die OstmarkenRomane. Seine Haltung ist trotzdem konsequent; die für seine Familie, nicht für die Öffentlichkeit, bestimmte Darstellung, ist nicht auf effektiven Konsum seitens der Leser zugeschnitten. Er sieht die Welt mit den Augen eines »nachdenklichen und für sein Volk aktiv wirkenden« Deutschen36. 32 Staemmler, Johannes: Lebenserinnerungen eines Posener Pastors (1860–1930). Herne: Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek 2018 (polnische Ausgabe: Staemmler, Johannes: Wspomnienia poznan´skiego pastora. Übers. von O. Kiec. Poznan´: Wydawnictwo Instytutu Kultury Popularnej 2017). 33 Ignacy Jan Paderewski (1860–1941) war polnischer Komponist und Politiker. Seine Ankunft in Posen am 27. Dezember 1918 gilt als Beginn des Großpolnischen Aufstands. 34 Hans von Eisenhart-Rothe (1862–1942) war 1914–1918 Oberpräsident der Provinz Posen. 35 Staemmler, Lebenserinnerungen eines Posener Pastors (1860–1930), S. 259. 36 Vgl. das Vorwort zur polnischen Ausgabe der Erinnerungen Staemmlers.

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Interessant erscheint im Kontext des Berichts des Protestanten Staemmler auch die Perspektive der drittgrößten Bevölkerungs- und Konfessionsgruppe der Provinz Posen, nämlich der Juden, wie sie in Max Kollenschers Studie Jüdisches aus der deutsch-polnischen Übergangszeit. Posen 1918–1920 zu finden ist. Der 1875 in Posen geborene Politiker und Autor zahlreicher Schriften berichtet in dem 1925 in Berlin herausgegebenen Band, insbesondere im Kapitel »Die polnische Revolution«37, ebenfalls vom großpolnischen Dezember 1918. In diesem angenehm verfassten Bericht überwiegt ein ruhiger Ton. Kollenscher erzählt von den Erwartungen der Bewohner der Stadt Posen, dass eine »Revolution in Frack und Zylinder«38 kommen werde – eine Revolution, die weiterhin die »Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben, Mitwirkung polnischer Beamter, Anerkennung des Charakters des Landes als eines gemischt-nationalen«39 grundsätzlich fixieren werde, weil deren Berechtigung »kein Mensch mehr anzuzweifeln wagte«40. Diese Ausgangslage habe sich bald darauf verändert, als Paderewski in die Stadt kam, während die Deutschen sich »größter Zurückhaltung befleißigten«41, um den Ausbruch des polnischen Enthusiasmus nicht zu stören, befand sich doch die gesamte polnische Bevölkerung in festlicher Stimmung. Mit einem Schlage besetzten dann polnische Soldaten die Ämter und brachten Gewalt in die Stadt. Der letzte Satz dieser nüchternen Situationsbeschreibung lautet: »Am 29. Dezember 1918 war die Stadt Posen vollständig und fest in polnischer Hand.«42 Kollenscher stützt sich dabei auf Robert Coesters Die Loslösung Posens (Berlin 1921)43, weil er – Kollenscher – am 24. Dezember zu einer Zionistischen Vereinigung für Deutschland nach Berlin gefahren und deshalb nicht in der Stadt Posen gewesen war. Um das »unmittelbare persönliche Erlebnis der äußeren Vorgänge dieser wenigen Tage«44 wiederzugeben, greift er auf die Darstellung Coesters zurück, die ihm von allen bekannt gewordenen Darstellungen »der Wahrheit am nächsten gekommen zu sein«45 scheint. Lange Zitate aus Coesters Bericht schildern die Posener Ereignisse im Zeitraum vom 24. bis zum und 28. Dezember, über die spätere Zeit berichtet er dann aus eigener Erfahrung, so über den »gewaltigen Jubel in Posen über die Ankunft Paderewskis und den ihm 37 Kollenscher, Max: Jüdisches aus der deutsch-polnischen Übergangszeit. Posen 1918–1920. Berlin: »Ewer« Buchh. H. Werner 1925. 38 Ebd., S. 44. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 45. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 46. 43 Die Titelseite der 64 Seiten umfassenden Schrift beinhaltet folgende Informationen: Robert Coester, vormals ein Landrat in Jarotschin: Die Loslösung Posens. Berlin: Verlag von Georg Stilke 1921. 44 Kollenscher, Jüdisches aus der deutsch-polnischen Übergangszeit, S. 46 45 Ebd.

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bereiteten königlichen Empfang«46, aber auch über die Hausdurchsuchungen und Plünderungen seitens der Aufständischen – zwar nicht so detailliert wie bei Staemmler, aber vom juristischen Standpunkt aus. Kollenscher war an einigen Verhandlungen und Vermittlungen zwischen der preußischen, jüdischen und polnischen Seite des Konfliktes beteiligt, er erzählt berichtend, weder unterhaltend noch populär, doch nicht belehrend. Der Bericht wirkt an keiner Stelle auktorial – der Verfasser beleuchtet alle Seiten und die Rechte der Konfliktbeteiligten. Damit schließt er jede Bipolarität aus und erfüllt nicht die emotionalen Erwartungen der Leser. Nun könnte man mit Recht annehmen, dass eine Erzählung, die die Ereignisse aus einer wesentlich größeren zeitlichen Distanz als die bisher vorgestellten Texte beschreibt, nämlich mit einem zeitlichen Abstand von 85 (!) Jahren, objektiver und frei von Polarisierungen wäre… Der 1983 erschienene Roman Michael Biebrachs Piroggen und Pistolen nimmt das Thema des Umbruchs von 1917/1918 in Posen erneut auf. Auf dem Buchumschlag wird Biebrachs Leistung mit einem Zitat aus der »Neuen Zürcher Zeitung« gelobt: »Bewegend ist dieser Roman zweifellos…, weil er den Zusammenbruch des alten Europa im Brennspiegel Posens vorführt, gleichzeitig auch anrührend«47. Der Titel des Romans erinnert direkt an den Italowestern Pizza, Pater und Pistolen aus der Spätphase des Genres (Originaltitel: Posate le pistole reverendo), bei dem 1972 den Leopoldo Savon Regie führte, und an die Fortsetzungen wie: Pizza, Pasta und Pistolen: Mörderische Geschichten mit Rezepten (2007) (»ein vergnügliches italienisches Kriminalbuffet mit Erzählungen«) oder Muscheln, Mousse und Messer: Eine kulinarische Krimi-Anthologie (Conte Krimi, 2010), beide herausgegeben von Ingrid Schmitz. Es handelt sich dabei um einen Titel, der zwar anziehend wirkt, doch nichts Seriöses verspricht und nur eine »SalesPromotion für ein Produkt der literarischen Ästhetik«48 ist. Immerhin liegt hier ein Titel vor, der bipolar konstruiert ist – und das nicht nur wegen seiner Alliteration – und der stellvertretend für die Erzählkonvention des Romans steht. Piroggen gehören in die polnische kulinarische Tradition, aber Pistolen…? Ein kleiner deutscher Junge namens M. (als Alter ego des Verfassers konzipiert) erzählt in der Ich-Form von seiner Hass-Freundschaft mit einem kleinen polnischen Jungen namens Schemko. Im demselben Haus im Herzen der Stadt Posen 1918 wohnend, wo, folgt man der Verlagswerbung auf dem Buchumschlag, sich »in dem Mikrokosmos eines Mietshauses, in dem Deutsche und Polen nebeneinander wohnen, […] die wachsenden Spannungen jener Tage [spiegeln]. […] Die Polen träumen nach langer Fremdherrschaft von einem eigenen Na46 Ebd., S. 47. 47 Biebrach, Michael: Piroggen und Pistolen. Frankfurt/M.: S. Fischer 1984. 48 Leser als Kritiker. Dokumentation einer Umfrage. Düsseldorf: Erb Verlag 1983, S. 57.

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tionalstaat«49, erleben die beiden Jungen den Dezember 1918 in Posen. Der Verfasser, 1914 im schlesischen Glogau als Kind eines Eisenbahners geboren, verlebte seine ersten fünf Lebensjahre in Posen, die übrige Kindheit und Jugend in Schlesien. 1918, in dem Jahr, in dem der Roman spielt, war er vier Jahre alt, zu jung um nach 65 Jahren aus dem Reservoire des eigenen Gedächtnisses zu schöpfen, doch alt genug, um nicht nur das im Laufe seines Geschichtsstudiums an der Universität in Breslau erworbene Wissen über das Umbruchsjahr später als freier Journalist und Werbeberater in Düsseldorf in seinem einzigen Buch literarisch zu verarbeiten. Leider erschien es erst im Todesjahr des Verfassers. In einem der letzten Romankapitel, »Der Aufstand«, berichtet endlich, vom Leser lange erwartet, der kleine deutsche Beobachter sehr knapp und kurz über das Ereignis – nach mehr als 200 Seiten ausführlicher Schilderung von mehr oder weniger misslungenen Vorbereitungen auf den von polnischer Seite ersehnten Aufstand. Auch in Biebrachs Roman kommt Paderewski im Dezember 1918 nach Posen und Schemko, der p o l n i s c h e Held, wird von seinem d e u t s c h e n Freund M. aus einem sehr trivialen Grund eingeladen (!), dieses Ereignis zu beobachten, nämlich um zu »sehen, ob dieser Paderewski wirklich so einen Eindruck auf Mädchen machen würde«50. Schemko erzählt, was er in der großen Menschenmenge am Alten Markt über diesen bedeutenden polnischen Freiheitskämpfer und Politiker, den »Vater der polnischen Unabhängigkeit« gehört hatte. Die Urteile schwanken zwischen Klatsch und Kolportage wie: »Er war kein Mann, der einem kleinen Jungen imponieren konnte, aber es ging ein Gerücht, dass er so ungeheure Erfolge bei den amerikanischen Damen haben sollte«51 oder: »Sieh ihn dir an! Das ist der Mann, dem Polen seine endgültige Freiheit verdankt. Ein ganz großer Politiker! […] Aber nein, er ist ein ganz großer Musiker! […] Was, ein Musiker ist er? […] Ja, aber auf besondere Art, eben als Musiker, und daher auch seine Erfolge bei den Frauen.«52 Die Erzählung über Paderewski, dessen große Rede eben an diesem Abend den siegreichen großpolnischen Aufstand auslöste, besteht hier aus lose zusammengetragenen Aussagen, infolgedessen jeder positive Zug in einen negativen umschlägt, und das Ganze im Bereich des Klatsches bleibt mit dem versteckten Ziel, das Deutsch-Nationale als glaubwürdig hervorzuheben. Biebrach benutzt wiederholt alle stereotypen Vorstellungen über »die Polen« wie »polnisches Blut«, »polnische Trunkenheit«, »polnische Untertänigkeit«, vor allem aber »polnische Wirtschaft«53, wie sie jahrzehntelang von ostmärkischen Autoren in ihren Romanen gepflegt und wiederholt wurden: »Je weiter ich in den 49 50 51 52 53

Biebrach, Piroggen und Pistolen, S. 206. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 197.

»Schildern im deutschnationalen Sinne«

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Straßen umherschweifte, je klarer wurde mein Eindruck von der Revolution. Viel Schnaps und viel Dreck! Gearbeitet wurde auch nicht. Neu war nur der Anblick der verschiedenen Wachposten. Die sahen lottriger aus«54. Trivial, populär, scheinbar lustig und unter einem prickelnd-fesselnden Romantitel berichtet Biebrach von den »nationalistischen Leidenschaften der Erwachsenen […] aus der Perspektive eines kleinen deutschen Jungen«55. Das Weltbild der trivial-unterhaltenden Literatur will, um den Erwartungen ihrer Leser entgegenzukommen und ihre Identifikation mit dem Erzählten zu bewirken, der Erhaltung des Bestehenden und Bekannten dienen. Es ist der Leser, der von solcher Lektüre das Einfache, Bekannte und Unterhaltende erwartet, der sich ohne größere Anstrengung im Dargestellten orientieren will, während der Verfasser allen diesen Wünschen entspricht, sich an die ihm vom Verlag vorgesetzten Regeln hält und in die Versuchung der Selbstinszenierung kommt. Er holt sein eigenes vereinfachtes Weltbild aus der rückwärtsgewandten Perspektive heraus, um es den Erwartungen der Leser gemäß darzustellen. Die trivial-unterhaltende Literatur ist deswegen, trotz aller narrativen Mängel, als Zeitkapsel im doppelten Sinne zu betrachten. Erstens deckt sie, da sie von einem viel breiteren Publikum gelesen wird als Werke der hohen Literatur – und nicht selten die Funktion der Massenliteratur übernimmt – die Erwartungen dieses Publikums auf. Zweitens zeigt sie neben den vom Publikum bevorzugten Inhalten all das auf, was sie aus der Realität aufgesogen hat.56 Sie fixiert mehr oder weniger aussagekräftige Bilder, die dann in der Erzählung Jahre und Jahrzehnte überdauern können. Indem der Autor für das Bestehende plädiert, auf Erkenntnis und Wissen auf Kosten der Emotionen verzichtet und die absolut dominierende rückwärtsgewandte Perspektive betont, betreibt er ein Spiel mit den Urbildern. Er wird zum Machthaber, der an der nationalen Identität arbeitet, sie gezielt kreiert. Die Bilder aus der Posener Vergangenheit beweisen, wie stark die literarische Konstruktion von politischen Themen sich gerade in der populären, unterhaltenden Welt vollzieht. Die vom breiten Publikum gelesenen Botschaften, die soziotechnische Strategien befolgen, werden zum Forum, in dem die Identitäten inszeniert werden. Es ist DIE Bühne, auf der sich ein Kampf um Meinungen und Emotionen abspielt. Der systemerhaltende Einfluss auf die Massen bahnt sich seit Jahrhunderten die konformsten und trivialsten Wege.

54 Ebd., S. 173. 55 Biebrach, Piroggen und Pistolen. Klappentext. 56 Vgl. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1951, Aphorismus 51.

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Literatur Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1951. Alter, Peter: Nationalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. Biebrach, Michael: Piroggen und Pistolen. Frankfurt/M.: S. Fischer 1984. Busse, Carl: Jugendstürme. Stuttgart: J. Engelhorn 1916. Chodera, Jan: Die deutsche Polenliteratur 1918–1939. Stoff- und Motivgeschichte. Poznan´: Uniwersytet im. A. Mickiewicza w Poznaniu 1966. Focke, Rudolf : Das Volksbibliothekswesen in der Provinz Posen/ Leipzig: O. Harrassowitz 1909. Galle, Heinz J.: Volksbücher und Heftromane. Vom Kaiserreich zum »Dritten Reich« – 40 Jahre populäre Lesestoffe. Bd. 2. Lüneburg: Dieter von Reeken 2006. Górski, Karol: Der Posener Geschichtsroman »Piroggen und Pistolen« von Michael Biebrach. In: »Jahrbuch Weichsel-Warthe« 64 (2018), S. 61–74. Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München: C.H. Beck 2000. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: W. Fink 1976. Józwiak, Maria: Das Grenzland in der deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit 1918– 1939, unveröffentlichte Dissertation an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ (2008). Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 9. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1958– 1981. Kollenscher, Max: Jüdisches aus der deutsch-polnischen Übergangszeit. Posen 1918–1920. Berlin: »Ewer« Buchh. H. Werner 1925. Kraze, Friede H.: Land im Schatten. Gütersloh: C. Bertelsmann 1929. Krysiak, Franciszek: Hinter den Kulissen des Ostmarkenvereins. Aus den Geheimakten der preußischen Nebenregierung für die Polenausrottung. Posen: Selbstverlag d. Verfassers 1919. Leser als Kritiker. Dokumentation einer Umfrage. Düsseldorf: Erb Verlag 1983. Liepe, Albert: Die Spinne. Berlin: F. Zillessen 1902. Manke, Arthur: Liederbuch für Deutschlands Osten. Lissa i.P.: Oskar Eulitz, o. J. Nusser, Peter: Trivialliteratur. Stuttgart: J.B. Metzler 1991. Połczyn´ska, Edyta: Im polnischen Wind. Beiträge zum deutschen Zeitungswesen, Theaterleben und zur deutschen Literatur im Großherzogtum Posen (1815–1918). Poznan´: Uniwersytet im. A. Mickiewicza w Poznaniu 1988. Popper, Karl R.: Gesammelte Werke in deutscher Sprache. Bd. 5. Hg. von Hubert Kiesewetter. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. Preisausschreiben. In: »Die Ostmark. Monatsblatt des Deutschen Ostmarken-Vereins« Nr. 11 (November 1913), S. 1. Staemmler, Johannes: Lebenserinnerungen eines Posener Pastors (1860–1930). Herne: Freunde der Martin-Opitz-Bibliothek 2018 (polnische Ausgabe: Staemmler, Johannes: Wspomnienia poznan´skiego pastora. Übers. von O. Kiec. Poznan´: Wydawnictwo Instytutu Kultury Popularnej 2017). Wojtczak, Maria: Literatur der Ostmark. Posener Heimatliteratur (1890–1918). Poznan´: Wydawnictwo Naukowe UAM 1998.

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Internetquellen Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig: F.A. Brockhaus 1836, S. 356–357. URL: http://www.deutschestextarchiv.de/ book/show/eckermann_goethe01_1836 / letzter Zugriff am 18. November 2019. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/demo-polen-103.html / letzter Zugriff am 12. November 2018. URL: https://dorzeczy.pl/kraj/83624/Chcialam-w-jednym-kadrze-pokazac-dwie-Polski-To-zdjeciepodbija-siec.html / letzter Zugriff am 12. November 2019.

Maciej Walkowiak (Poznan´)

Der deutsche Nationalismus und seine literarische Resonanz in Ernst von Salomons Roman Der Fragebogen

Der Autor und sein Roman: Der Fragebogen – Versuch einer Positionierung Über den deutschen Nationalismus wurde schon sehr viel geschrieben und der Grund dafür scheint offensichtlich zu sein.1 Zwar wird er auch im Kontext anderer europäischer Nationalismen positioniert oder in puncto Massenverbrechen gegen die Menschheit mit dem sowjetischen Massenmord verglichen (was auch die Grundlage des sog. Historikerstreits war), aber im westlichen Kulturkreis bleibt seine Extremität in allen ideologischen Dimensionen ein Präzedenzfall ohnegleichen. So nimmt es nicht wunder, dass die Ausmaße der von ihm verursachten Barbarei mit den deutschen zivilisatorischen Errungenschaften über die Jahrhunderte hinweg kontrastieren. Ernst von Salomons autobiographischer Roman Der Fragebogen (1951), der einerseits zum ersten Bestseller der Bundesrepublik Deutschland wurde, und andererseits eine recht bescheidene Rezeption nicht nur in den akademischen Kreisen auslöste, verdient in meiner Perspektive auch heute noch Aufmerksamkeit.2 Erstens handelt es sich dabei um ein gelungenes und hochinteressantes Werk im Schaffen eines Autors, der sich vielseitig und nicht nur literarisch mit dem deutschen und preußisch-deutschen Nationalismus auseinandersetzte. Zweitens ist zu fragen, wie von diesem Autor die deutsche Katastrophe 1945 literarisch wahrgenommen und autobiographisch aufgearbeitet wurde und ob die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg ihm ebenso ein endgültiges Ende 1 Hans-Ulrich Wehler konstatiert allerdings mit Staunen, dass eine modernen Ansprüchen genügende Geschichte des deutschen Nationalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sowie eine Geschichte des deutschen Nationalstaates an sich eigentlich fehlen. Vgl. dazu: Wehler Hans-Ulrich: Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. In: Wehler HansUlrich: Die Gegenwart als Geschichte. Essays. München: C.H. Beck 1995, S. 175–180, hier S. 175. 2 Über die geringe Rezeption des Salomonschen Nachlasses, darin auch des Romans Der Fragebogen, schreibt u. a.: Fröhlich, Gregor: Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 396–403.

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des deutschen Nationalismus und der Reichsidee bedeutete. Und drittens, wie positioniert er sich dem Dritten Reich gegenüber mit seiner nationalen Idee, die ihren Ursprung ja im Postulat der »Genesung« durch den borussischen Faktor hatte. Für alle diese Kontexte ist auch bedeutend, wie der Autor die nationale (nationalistische?) Problematik im Hinblick auf seine autobiographische Selbstinszenierung literarisierte. Ernst von Salomons literarische (und publizistische) Texte gehören zum Bereich der politisch-historischen Literatur und somit zu der großen Strömung der Literatur und des Schrifttums der Konservativen Revolution in Deutschland nach 1918. Trotz ihrer bescheidenen Rezeption bildeten sie eine hörbare Stimme in der großen politisch-literarischen Diskussion über die deutsche Zukunft in der Weimarer Republik und in der späteren Zeit. Gregor Fröhlich betrachtet von Salomons Texte im Hinblick auf den sog. soldatischen Nationalismus, der schon Gegenstand der literaturhistorischen Forschung war.3 Armin Mohler positioniert ihn dagegen mit Recht in dem Lager der Nationalrevolutionäre: Mit dem Wort »Bewegung« oder mit »In-Bewegung-Sein« ist jedoch das nationalrevolutionäre Leitbild noch nicht genügend umrissen. Von den drei genannten Namen »Soldatischer Nationalismus«, »Neuer Nationalismus«, »nationalrevolutionär« haben wir den letzteren nicht nur darum an die Spitze gestellt, weil er von den dreien die größte Spannweite besitzt. Er bezeichnet zugleich etwas, was noch näher an das Leitbild dieser Gruppe heranführt. In »nationalrevolutionär« klingt nämlich etwas von dem Erstaunen über eine bisher ungewohnte Mischung nach: über die Verwischung der bisherigen starren Scheidung in »Rechts« und »Links«, welche ja schon in dem Sammelbegriff »Konservative Revolution« zum Ausdruck kommt.4

Ausgehend von der (politischen) Positionierung der Literatur von Salomons, die einen Sachbereich umreißt, lässt sich ein Ausgangspunkt für weitere Betrachtungen ausmachen. Seine Einstellung zu der Frage des deutschen Nationalismus verändert sich im Laufe der Jahrzehnte, so dass sie etwa in seinem frühen Roman Die Kadetten anders ist als in Der Fragebogen. Alle drei oben genannten Fragen, die zentrale Schwerpunkte dieser kurzen Betrachtung darstellen, sind zugleich als Kontexte aufzufassen, die weiterleitende Aspekte eröffnen. Der Fragebogen scheint in von Salomons Nachlass besonders dazu geeignet zu sein, seine Auffassung von der nationalen Idee zu analysieren und schließlich auch sein Verhältnis zum deutschen Nationalismus zu durchleuchten. Die panoramaartige Erzählweise in diesem Roman bildet ein recht ausgebautes Spektrum von Ideen, Autoren, Ereignissen und Tendenzen, die im Medium des Autobiographischen 3 Vgl. dazu: Prümm, Karl: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918– 1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. 2 Bde. Kronberg (Taunus): Scriptor Verlag 1974. 4 Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Graz/ Stuttgart: Leopold Stocker Verlag 1999, S. 145.

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literarisch profiliert werden. Der Zentralbegriff scheint in diesem Kontext die »nationale Revolution« zu sein, obwohl sie in Der Fragebogen schon in einer defensiven Perspektive des Autors erscheint und nur noch einen Kontext für viele andere Fragen darstellt. Die schriftstellerische Tätigkeit von Salomons ist mit seinem politischen Engagement verkoppelt. Diese zwei Bereiche bedingen einander so, dass der eine ohne den anderen nicht denkbar wäre. In dem folgenden Zitat aus Der Fragebogen lesen wir, vor dem nationalen Hintergrund, von der Spannung zwischen dem Individualismus und Kollektivismus. Der Autor versucht sich hier selbstmanipulativ im autobiographischen Spiel zu verorten: Meine Versuche, ein individuelles Leben zu führen, ein Leben aus mir selber heraus, ohne Verpflichtung zu einer Gemeinschaft, waren gescheitert. Ich hatte es ehrlich versucht, die Umstände kamen mir entgegen, sei es in den Jahren der Einzelhaft, sei es in denen einer mehr oder weniger freiwilligen Isolierung, aber sie vermochten nicht mir auch nur für einen Tag die Gewißheit zu geben, daß mein Seins-Habitus individualistisch sei. So mochte es heißen, mich selber falsch zu bestimmen, wenn ich nicht in der Einsicht lebte, daß ich recht eigentlich ein politischer Mensch war, genauer: ein kollektivistischer Mensch. Meine eigentliche Tragik war, daß ich das echte Kollektiv nicht fand. Ich suchte es in der Nation, in eben der Nation, welche jetzt ihrem Ende entgegendämmerte, und welch einer Nation! – einer, die so stark war, daß trotz ihres verfälschten Anspruches und ihres verfälschten Konzeptes die ganze Welt gegen sie antreten musste, um ihre Kraft zu brechen!5

Deutlich kommt hier die Ambivalenz des autobiographischen Ichs zur Frage des Nationalsozialismus zum Ausdruck, das sich für qualifiziert hält, zu politischen und historischen Angelegenheiten Stellung zu beziehen, zumal ihm »die Organe für Religion, Musik, Mathematik und Lyrik ganz fehlen würden«6. In der literaturhistorischen Landschaft, die in Der Fragebogen thematisiert wird, erscheinen viele bekannte Namen. Sie sind ausgebaute Kontexte für die narrative Handlung. Kontextualisiert werden etwa solche Autoren wie Ernst Jünger, Othmar Spann, Arnolt Bronnen, Hans Zehrer, Ernst Niekisch oder Walther von Rathenau. Für sie alle ist das Nationale ein gemeinsamer Nenner, obwohl es bei den einzelnen Autoren in unterschiedlichen Erscheinungsformen und subjektiven Profilierungen auftritt. Es lassen sich auch im Voraus einige biographische Determinanten aussondern, die für von Salomons autobiographische Perspektive in Der Fragebogen in Bezug auf die nationale Problematik Schlüsselbedeutung haben. Es sind: Seine Kadettenanstalterziehung und daher seine Apotheose des Preußischen, seine Antibürgerlichkeit und sein Nonkonformismus sowie seine antidemokratische 5 Salomon, Ernst v.: Der Fragebogen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 409f. 6 Vgl. dazu: ebd., S. 86f.

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Einstellung, die besonders extreme Formen in seinem Verhältnis zur Weimarer Republik angenommen hatte.7

Geschichte und Literatur: Zur Semantik der historischen Hauptbegriffe, die die Narration in Der Fragebogen konstituieren Heinrich August Winkler eröffnet seine zweibändige Monographie Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte mit einem recht aufschlussreichen Übersichtskapitel »Prägungen«.8 Von den drei Hauptprägungen, die von ihm in diesem Kapitel analysiert werden – Martin Luther und die Reformation, die Reichsidee und der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich – interessieren uns hier die zwei letzteren. Alle drei korrespondieren zwar mit der nationalen Problematik, aber nur die zwei beziehen sich direkt auf die Problematik in Der Fragebogen. Nation, Preußen (und als Pendant Österreich) sowie nationale Revolution sind Hauptbegriffe, deren Semantik in diesem Roman subjektiv und spezifisch generiert wurde. Preußen verfügt als ein historischer Begriff über eine facettenreiche Semantik, die auch in vielerlei Hinsicht literarische Verwendung finden kann.9 Ernst von Salomon wählt die in seiner Perspektive positiven Aspekte aus dem umfangreichen Reservoir von »preußischen Tugenden«. Er ist nicht nur ein gebürtiger Preuße, er konstruiert bewusst seine subjektive preußische Identität, worauf sich seine Einstellung zur deutschen Geschichte und zu Deutschland selbst gründet. Es wird auch grundsätzlich wichtig für die Narration in Der Fragebogen sein: »Ich bin Preuße. Die Farben meiner Fahne sind schwarz und weiß. Sie deuten an, daß meine Väter für die Freiheit starben, und fordern von mir, nicht nur bei hellem Sonnenschein, sondern auch an trüben Tagen, ein Preuße zu sein. Es ist dies nicht immer einfach.«10 Das historisch-politische Spektrum von Fragen, die für die Entwicklung des modernen deutschen Nationalismus relevant sind, zeichnet sich auch in literarisierten Formen im Roman Der Fragebogen ab. Für die Geburtsstunde dieses 7 Vgl. dazu: Walkowiak, Maciej: Zu Ernst von Salomons autobiographischen Selbstgestaltungsstrategien im Roman »Der Fragebogen«. In: »Annales Neophilologiarum« Nr. 6 (2012), S. 27–34. 8 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. Bd. 1. München: C.H. Beck 2001, S. 5–39. 9 Von »Glanz und Elend« der preußischen Geschichte schreibt überzeugend u. a. Christopher Clark. Aus seinen Recherchen ergibt sich ein mehrdimensionales Bild des Preußischen. Vgl. dazu: Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947. München: Pantheon Verlag 2008. 10 Salomon, Der Fragebogen, S. 45f.

Der deutsche Nationalismus und seine literarische Resonanz

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Nationalismus können im Prinzip die Napoleonischen Kriege und die französische Besatzung der deutschen Gebiete gehalten werden – darüber sind sich die meisten Historiker einig. Unter dem französischen Joch »entdeckten« die Deutschen ihre nationale Identität: Zwar hatte das Adjektiv deutsch damals noch eine andere Bedeutung als etwa ein Jahrhundert später, aber der Prozess der semantischen Verwandlung hatte sich in dieser Zeitspanne beschleunigt. Dabei spielten aber noch viele andere Faktoren mit, die im Kristallisierungsprozess des modernen Deutschtums und des deutschen Nationalismus zwischen 1815 und dem Ende des 19. Jahrhunderts mitwirkten. Es handelt sich hier im Großen und Ganzen um die sprachliche, kulturelle und konfessionelle Vielfalt des deutschsprachigen Raumes, die auch in der politischen Gestalt Ausdruck fand. Das Nichtvorhandensein eines großen, deutschen und einheitlichen Staates bedeutete nach dem Wiener Kongress, dass zwar die deutsche Nation auf dem Wege ist, sich eine neue, moderne Identität anzueignen, aber sie war immer noch eine staatenlose Nation. Auch die Nation selbst war nach Helmuth Plessner »verspätet«.11 Im Vergleich mit anderen prämodernen und modernen Nationen, wie den Engländern und Franzosen, befanden sich die Deutschen damals immer noch in einer früheren Entwicklungsphase. Im Zusammenhang mit dieser Reflexion ergeben sich noch zwei weitere historische Begriffe, die für Ernst von Salomon von Belang waren: Das deutsche Reich und der deutsche Sonderweg. Sie sind natürlich ohne Preußen kaum denkbar und sollen deshalb zusammen betrachtet werden. Die Idealisierung der preußischen Rolle im allmählichen Einigungsprozess über die Zäsur des Jahres 1871 hinweg sollte eigentlich charakteristisch für die Denkweise dieses Autors bleiben. Bei ihm wäre es aussichtslos, nach negativen Dimensionen des Preußentums zu suchen. Militarismus, Expansionismus und Obrigkeitsstaat kommen bei ihm als Ansätze zur Kritik kaum vor. Preußen bleibt eindeutig ein Positivum und ein bedeutender Bestandteil seiner Identität. Der Begriff des deutschen Reiches war bei von Salomon generell ebenfalls positiv besetzt, mit der Einschränkung des Dritten Reiches, zu dem er ein kompliziertes und ambivalentes Verhältnis hatte. Das Reich bedeutete ihm vor allem (nationale) Konsolidierung, Weltmachtposition und identitätsbezogene Erstarkung. Karriere machte nach der Reichsgründung im Jahre 1871 das Adjektiv »ebenbürtig«, durch das Deutschland den Weltmachtstatus und den gleichen Rang den westlichen Weltmächten gegenüber anstrebte, um sie dann ca. um die Jahrhundertwende zu erreichen. Golo Mann schreibt beispielsweise kritisch über das Entwicklungsstadium des Deutschen

11 Vgl. dazu: Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.

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Reiches, indem er den damaligen deutschen Staat ironisch als »die deutsche Macht im Kommen bezeichnet«12. Es können disperse Entwicklungsstadien des deutschen Nationalismus unterschieden werden. Für Ernst von Salomon scheinen eigentlich folgende vier Hauptphasen entscheidend zu sein: die erste – die Konsolidierungsphase 1815– 1871, in der die Rolle Preußens und Otto von Bismarcks nicht zu unterschätzen ist. Die zweite – der sog. Reichsnationalismus – brachte Entwicklungen, wie den Kulturkampf, die die historische Politik mit dem Ziel forcierte, alle deutschen Traditionen in allen Regionen unter ein gemeinsames Dach zu bringen und den Konkurrenzkampf mit anderen Weltmächten voranzutreiben. Die dritte Phase, die des revanchistischen Nationalismus, trat nach der deutschen Niederlage 1918 und dem Versailler Vertrag ein. Die vierte – des Nationalsozialismus – war mit dem Dritten Reich verbunden. Eigentlich müsste bei von Salomon noch eine Nachkriegsphase des Linksnationalismus hinzugefügt werden, die nach 1945 aufkam. Zwar war er in dieser Zeit keine massenhafte Erscheinung, trotzdem war er in der Biographie des Autors ein bedeutender Faktor.13 Als ein Pendant zu allen diesen Entwicklungsstadien fungiert Österreich, was vor allem bei solchen Fragen mitspielte, wie etwa den deutschen Vereinigungsdiskursen im 19. Jahrhundert, der deutsch-österreichischen Identität, der österreichischen Repräsentanz im deutschsprachigen Bereich und der dynastischen Konkurrenz zwischen den Hohenzollern und den Habsburgern. Bei von Salomon funktioniert Österreich auch in Der Fragebogen als ein relevanter Kontext der geführten Deutschlanddebatten der 1920er und 30er Jahre. Eine beachtenswerte Rolle spielten dabei die Postulate Othmar Spanns, den von Salomon persönlich kannte. Die Nation ist für den Autor von Der Fragebogen eine ethnische, preußisch geprägte Gemeinschaft, die zugleich Träger von Werten sein soll. Die letzteren tragen national-soldatischen Charakter – mit dem Drill der preußisch-deutschen Kadettenanstalten sowie den strengen Erziehungsmethoden. Der Leser kann sich davon überzeugen, wenn er einen anderen Roman dieses Autors, Die Kadetten, in die Hand nimmt. Nation und Preußen sind für Ernst von Salomon untrennbar, auch nach 1947 noch, als Preußen offiziell von der britischen Siegermacht endgültig aufgelöst wurde. Schließlich muss noch die von ihm postulierte nationale Revolution erwähnt werden, in der er eine Möglichkeit erblickte, die Weimarer Republik zu Fall zu bringen und an ihrer Stelle eine autoritäre Macht zu errichten, die antibürgerlich und antiwestlich gewesen wäre. Damit schrieb er sich 12 Vgl. dazu: Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: S. Fischer 2011, S. 529. Dort auch Das Kapitel »Weltpolitik«, S. 506–530. 13 Über die Wandlungen des deutschen Nationalismus schreibt ausführlich u. a.: Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, S. 213–265.

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in den sog. Sonderweg-Diskurs hinein. Diese Frage und die anderen Debatten der 1920er und 30er Jahre finden Resonanz in Der Fragebogen. Und davon wird noch die Rede sein. Für die Nationalismus-Debatte und für die Nachkriegsdiskussion über die deutsche Schuld, an der sich auch von Salomon mit Der Fragebogen beteiligte, sind auch Entwicklungslinien bedeutsam, die oft nicht stark genug betont werden. Dazu gehört auch die rassistische Komponente des deutschen Nationalismus, die sich im 19. Jahrhundert herauskristallisierte, um ihren Gipfelpunkt in der nationalsozialistischen Rassenlehre zu finden. Und dies betrifft nicht nur den deutschen Antisemitismus, wie Winkler mit Recht konstatiert: Von den beiden Gesetzen von 1876 und 1877 waren nicht nur die Polen, sondern auch die Dänen in Nordschleswig betroffen, vom Gerichtsverfassungsgesetz des Reiches von 1877 auch die französischsprachigen Bewohner des Gebiets um Metz. Doch von einem »Volkstumskampf« konnte man nur im Osten des Reiches sprechen, wo »Germanen« und »Slawen« aufeinanderstießen. Dänen und Franzosen gegenüber gab es nicht jenen Anspruch auf kulturelle Überlegenheit, dem sich die Polen ausgesetzt sahen. Das deutsche Verhältnis zu Polen war von rassischen Vorurteilen geprägt; es glich darin eher dem Antisemitismus als »normalen« Äußerungen von Nationalismus. Niemand wäre freilich auf den Gedanken gekommen, den Polen dasselbe zu unterstellen wie den Juden: Sie erstrebten die Herrschaft über Deutschland, ja die Weltherrschaft. Eine solche Beimischung von Unterlegenheitsgefühlen gab es nur im Antisemitismus. So gesehen war der Judenhaß nochmals etwas anderes als der »normale« Rassismus, wie er den Polen gegenüber zum Ausdruck kam.14

Es wird oft verkannt, wie viele Entwicklungslinien des modernen deutschen Nationalismus ihren Ursprung im Wilhelminischen Reich haben. So kann das Dritte Reich als ein Staat angesehen werden, in dem die nationalistisch-rassistischen Ideen des zweiten Reiches ins Extrem getrieben worden sind. Nun wollen wir uns einigen repräsentativen Bereichen aus Der Fragebogen zuwenden, die charakteristisch für von Salomons Haltung in Bezug auf Fragen des deutschen Nationalismus und des Nationalen sind. Wie bereits angedeutet, veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte sowohl sein Verständnis dieser Problemfelder als auch sein Bedürfnis, sie zu literarisieren.15 Da aber Der Fragebogen 14 Ebd., S. 253. Gemeint sind zwei Gesetze: »Mit der »Germanisierung des Bodens« ging die sprachliche Germanisierung des Ostens einher. 1876 hatten Preußen durch das Geschäftssprachengesetz und 1877 das Reich durch das Gerichtsverfassungsgesetz den Vorrang des Deutschen als Amtssprache im Behördenverkehr und vor Gericht festgelegt« (ebd., S. 253). Zur Frage des modernen deutschen Antisemitismus als einen wesentlichen Bestandteil des deutschen Nationalismus vgl. auch: Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler Verlag 1996, S. 71–105. 15 Vgl. dazu: Walkowiak, Maciej: Ernst von Salomons autobiographische Romane als literarische Selbstgestaltungsstrategien im Kontext der historisch-politischen Semantik. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007. In dieser Monographie wurden eingehend fünf autobiographische Romane

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auch Bezüge zu seinen anderen Romanen aufweist, scheint er besonders gut geeignet zu sein, die Problematik in summarischer Form zu analysieren. Dieses Spätwerk enthält die Summe seiner persönlichen Erfahrungen und bietet ein umfangreiches, historisch-politisches Panorama. Bei von Salomon fällt es generell nicht immer leicht, eine klare Trennungslinie zwischen dem Nationalen und dem Nationalismus zu ziehen. Dies gilt auch für Der Fragebogen. Für die Positionierung des Autors kann der Begriff Partisan bemüht werden, was auch Gregor Fröhlich in seiner Monographie vorschlägt.16 Diese Kategorie entspricht von Salomons biographisch belegten politischen Aktivitäten. Im Rahmen dieses kurzen Beitrags können natürlich nur ausgewählte Schlüsselbereiche aus Der Fragebogen einer analytischen Betrachtung unterzogen werden. Da der Roman der erste Bestseller der BRD wurde, macht die hier in Betracht kommenden Fragen noch interessanter. Aus dem historisch-politischen Bereich ergeben sich vier thematische Sachkomplexe, die besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die auch in diesem Roman als biographischer Stoff thematisiert wurden: 1. der identitätsrelevante Preußen-Komplex, in dem das Preußentum idealisiert wurde; 2. der sog. deutsche Nachkrieg mit dem Freikorpsmythos, vor allem die Kämpfe der deutschen Freikorps gegen den dritten polnischen Aufstand in Oberschlesien im Jahre 1921; 3. das Attentat auf Walther von Rathenau als ein extremes Exempel für Ernst von Salomons antidemokratische und verschwörerische Aktivitäten in der Anfangsphase der Weimarer Republik; und 4. die Kontroversen um das Dritte Reich und uneindeutige autobiographische Konstrukte im Hinblick auf die NS-Ideologie und die deutsche Expansion im Zweiten Weltkrieg. Der gemeinsame Nenner bleibt für alle diese thematischen Schwerpunkte der Partisan als eine Metapher, die bei diesem Autor biographisch bedingt ist und bewirkt, dass er als Jahrgang 1902 weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg Soldat werden konnte. Daher ergeben sich bei ihm andere Kanalisierungswege seines politischen Ehrgeizes: politisch und historisch motivierte Literatur, politisches Schrifttum und politisches Engagement unter dem (immer noch) funkenden Stern der (antidemokratischen) Postromantik.

dieses Autors auch im Hinblick auf das Nationale und das Nationalistische analysiert, die Schlüsselbedeutung in seinem Nachlass haben. Aber auch andere Texte wurden berücksichtigt, die publizistisch-historisch geprägt sind wie etwa Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer. Berlin: Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur 1938. Es ist eine Art Chronik der deutschen Freikorps, die in dem sog. deutschen Nachkrieg 1918–1922 aktiv waren. 16 Fröhlich, Soldat ohne Befehl, S. 401.

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Der Fragebogen zwischen Geschichte, Politik und Autobiographie: Ausgewählte Themenkomplexe im Spiegel des Nationalen und des deutschen Nationalismus Der Roman benutzt die Fragenstruktur des amerikanischen Fragebogens aus der Zeit der Entnazifizierungsverfahren nach 1945. Der Autor nahm sich vor, die 131 Fragen detailliert und ironisch zu beantworten. So entstand ein umfassender, autobiographisch gezeichneter Überblick über die wichtigsten Themen der Zeitgeschichte, der subjektive Konstrukte enthält. Zuerst ist mit Hans-Ulrich Wehler festzustellen, dass der deutsche Nationalismus ein Kontinuum in der Geschichte des deutschsprachigen Mitteleuropa darstellt. Er prägt auch im Wesentlichen die Literatur und das Schrifttum von Salomons. Wehlers Bemerkungen können insofern als ein geschichtlicher Rahmen auch für diese kurze Analyse gelten: Nicht einmal die äußerlich in vielem verwandte Geschichte Italiens, geschweige denn die irgendeines anderen westlichen Landes im 20. Jahrhundert, kann mit dieser Fülle tumultuarischer Umbrüche in Deutschland verglichen werden. Selbst die tiefreichenden Transformationsprozesse im 16. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben […] nicht so radikal in das politische und gesellschaftliche Gefüge des deutschsprachigen Mitteleuropa eingegriffen. Hinter dem Wirbel der Ereignisse hielt sich aber bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine strukturelle Kontinuität von prägendem Einfluß: Das war der deutsche Nationalismus. Er hatte bereits das Kaiserreich bestimmt, ehe er im Weltkrieg extreme Formen der Integration, aber auch der Polarisierung hervorbrachte. Ein ressentimentgeladener Radikalnationalismus durchzog dann die Weimarer Republik, begierig auf die Renaissance nationaler Größe und Geltung drängend, ehe er im »Dritten Reich« einen vorbildlosen Kulminationspunkt erreichte.17

Vorausschickend soll noch darauf hingewiesen werden, dass Ernst von Salomon den Roman Der Fragebogen in einer spezifischen persönlichen Situation verfasste. Er erlebte eine existentielle Krise in den späten 1940er Jahren. Daraufhin erblickte er im amerikanischen Entnazifizierungsfragebogen eine Möglichkeit, einen autobiographischen Roman zu schreiben, der u. a. erlauben würde, die Entnazifizierungsidee sarkastisch zu behandeln. Wie bereits erwähnt, spielt der borussische Faktor bei von Salomon eine Schlüsselrolle. Aus dem Geist des Kadettenkorps heraus wird Salomon antibürgerlich und antiwestlich geprägt. Der im Sinne des Reichsnationalismus fungierende Begriff des Vaterlands ist preußisch kodiert. Diese Auffassung erscheint in seinem Roman Die Kadetten und findet dann wieder Ausdruck im 17 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914–1949. Bd. 4. München: C.H. Beck 2003, S. 989.

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Titel seines posthum im Jahre 1973 herausgebrachten Romans Der tote Preuße. Roman einer Staatsidee. Um sie richtig zu verstehen, muss man auf von Salomons Biographie zurückgreifen und auf die Zäsur des Jahres 1918 verweisen. Insofern ist es Gregor Fröhlich zuzustimmen, der unter Berufung auf von Salomons Aussage schreibt, er habe (nach 1918) ein Leben ohne Funktion geführt.18 Es korrespondiert auch mit dem Bild des Partisanen oder eines Verstoßenen. In diesem Kontext kommt seine wirkliche preußische Herkunft, sowie seine im Literarischen kondensierte preußische Identität als ein orientierender Punkt im Chaos der Moderne vor. Seine preußische Identität und die idealisierte Welt der »preußischen Tugenden« lassen den Titel seines letzten Romans auch in persönlicher Hinsicht deuten: In seinen eigenen Augen ist er auch der »tote Preuße«, der in der BRD-Wirklichkeit keinen großen Spielraum für sich fand: Sein letzter, erst posthum veröffentlichter, Roman verdeutlicht noch einmal Ernst von Salomons Gefühl, ein Leben ohne Funktion geführt zu haben. Dessen Titel – Der tote Preuße – ist in seiner Doppeldeutigkeit auch als Anspielung auf sein Leben nach 1918 zu verstehen. […] Damit war das Grab des anonymen preußischen Soldaten im Kurpark von Bad Kissingen gemeint. Dieser sei »nicht sinnlos gestorben, da er als Krieger starb, wenn auch als ungenannter und unbekannter«. Sein Opfer blieb für die Nation bestehen und erhielt dadurch eine höhere Weihe.19

In der »höheren« Weihe äußert sich die Sehnsucht danach, einem nationalen Kollektiv anzugehören. Dem oben angeführten Zitat aus Der Fragebogen ist zu entnehmen, dass es ihm nicht gelungen sei, einen Anschluss daran zu finden. Aus anderen Textstellen lässt sich ferner ersehen, wie sein Preußentum zum deutschen Nationalismus steht. So z. B. äußert sich von Salomon zur preußischen Staatsidee: Der erste Versuch im deutschen Bereiche, aus dem Schatten fremder Geschichte in den Tag eigener Setzung zu treten, geschah durch Preußen. Ein Blick auf die Karte Preußens unter Friedrich Wilhelm I läßt erkennen, warum gerade hier der Gedanke des Staates als abstraktes Gebilde eine so zentrale Bedeutung gewinnen mußte: ein Gewirr von Länderund Völkerfetzchen reichte quer durch den Norden Mitteleuropas, von Litauen bis ins Bergische Land, zusammenhanglos, verstreut, durch den Zufall dynastischer Geburten, Ehen und Todesfälle, aneinandergekoppelt. Keine Landschaft ist natürlich gesichert, kein Stammestum in geschlossenen Grenzen geschützt. Der Bestand des Staates reichte genau so weit, wie in der Brust des Einzelnen das Bewußtsein des Staates lebendig war.20

Die staatsbildende Kraft Preußens wird hier eindeutig mythisiert und darin manifestiert sich bei von Salomon zum wiederholten Mal ein Bedürfnis, Teil einer 18 Vgl. dazu: Fröhlich, Soldat ohne Befehl, S. 394. 19 Ebd., S. 402. Fröhlich zitiert in diesem Abschnitt Salomon, Ernst v.: Der tote Preuße. Roman einer Staatsidee. Stuttgart: Verlag Langen Müller 1973, S. 12. 20 Salomon, Der Fragebogen, S. 51.

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nationalen Gemeinschaft zu sein, die dem Einzelnen eine sinnstiftende Lebensform bieten würde. Die existentiell unerträgliche Kontingenz wäre dadurch gebrochen und der preußische Untertan würde für sich selbst und für die königlich-preußische Gemeinschaft in kreativem Austauschverhältnis leben. Die Apotheose Preußens findet auch anderenorts Fortsetzung: Preußen hat den Staat gelebt. Es gibt keinen Augenblick preußischer Geschichte, in welchem sich nicht, wer immer für Preußen verantwortlich war, mit dem Staate, mit der Idee des Staates befassen mußte. Preußen hat jeden Tag vor harten Wirklichkeiten gestanden. Die Gefährdung war ebenso ungeheuer wie die Aufgabe. Vielleicht ist es darum gewesen, daß sich ein Bündel edler Namen aus allen deutschen Geschlechtern zu Preußen hingezogen fühlte, preußisch wurde aus Wahl, durch Bekenntnis, daß die besten Preußen ihrer Herkunft nach nicht preußisch waren, nicht preußisch durch den Zufall ihrer Geburt. Da war ein Geheimnis um Preußen, welches eine so große Reihe von Dokumenten entstehen ließ, zu denen es sich wohl bekennen läßt, und die alle von dem eigentümlichen Bewußtsein der Pflichten handeln, durch die allein die innere, auf sich selber ruhende Ordnung zu gründen ist. Preußen hat den Staat gelebt.21

»Ein Geheimnis um Preußen« ist ein Schritt weiter: Es ergänzt die staatsorientierte quasi-Mystik um das Element des Apologetischen. Das »preußische Geheimnis« prädisponiert diesen Staat für besondere Ziele und Aufgaben. Umweht von der Aura des Besonderen und Außerordentlichen ist Preußen für von Salomon ein Staat, für den man bereit sein soll zu sterben. In diesem Kontext ist es wohl nicht ganz verfehlt festzustellen, dass Preußen in dieser Konfiguration eine quasi-mythisch-mystische Ableitung der Reichsidee ist. Damit ist das deutsche Reich wieder einmal der Kernpunkt des deutschen Sonderwegs. Ernst von Salomon schafft eine axiologische Segmentierung, die zur Basis seiner Narrationen wurde. Er verwendet semantisch subjektivierte Begriffe und Handlungen, die ein erwünschtes Endprodukt hervorbringen lassen. Und es heißt: Preußen als ein Staat, der von Salomons wirkliche und geistige Heimat und Vaterland zugleich ist. Preußen als der Sinn des Lebens und des Sterbens. Er sieht nur allzu gerne von den negativen oder kontroversen Aspekten der preußischen Geschichte und des Preußentums weg. Preußen als eine treibende nationale Kraft bis 1871 und sein entscheidender Beitrag zur deutschen Vereinigung und Reichsgründung wird bei diesem Autor einseitig positiv gedeutet. Dasselbe gilt für die preußische Dimension des Kaiserreichs und generell für das zweite Reich. Was wurde hier nicht registriert? Es war erstens die negative Auswirkung des expansiven Reichsnationalismus auf den europäischen Frieden. Zweitens waren es die Unstimmigkeiten und Konflikte zwischen Preußen und dem Reich. Golo Mann schreibt mit Recht über den lärmenden deutschen Nationalismus mit Preußen im Hintergrund: 21 Ebd.

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Der Gegensatz zwischen Preußen und dem Reich, der in Wahrheit ein sozialer war, drapierte sich als Gegensatz zwischen Staatswesen, die zugleich sich deckten und nicht deckten. […] Jeder machte seine eigene Sache; Bürokratie, Heer, Flotte, Außenamt, Agrarier, Industrielle, Handwerker, Bauern, Arbeiter; Zentrum, Konservative, Sozialdemokraten. Fast möchte man sagen: Es gab im Grunde noch immer keine Nation, so wie die älteren Nationalstaaten sie geprägt haben. Daher das ungestüme Sichsuchen, das nationalistische Lärmen, die phantastischen Forderungen und Pläne der Alldeutschen.22

Drittens war es die protestantisch forcierte Konfessionalisierung des neuen deutschen Nationalismus, im Rahmen derer die Weltgeschichte als die gubernatio dei und das deutsche Kaiserreich als der Sonderbeauftragte Gottes auf Erden betrachtet wurden – eine zusätzliche Dimension des deutschen Sonderwegs.23 Preußen bleibt auch in Der Fragebogen eine Inspirationsquelle für von Salomon. Seine Lesart des Wesens des Preußentums variiert zwar in einzelnen Nebenaspekten, aber der Kern seiner Denkart bleibt eigentlich konstant. Seine Preußen-Faszination bleibt im Prinzip staatsorientiert und der preußische Staat (dann auch der deutsche Staat als nationale Gemeinschaft) ist für ihn ein attraktives intellektuell-emotionales Angebot für seine identitätsrelevanten Konstrukte. Es sollten allerdings zwei Ebenen in dieser Hinsicht unterschieden werden: Der wirkliche (preußisch-)deutsche (National-)Staat in Form des Kaiserreichs und intellektuelle hypothetische Konstrukte nach 1918, die als modellhafte Gegensätze zur Weimarer Republik (in seinem Fall handelt es sich hier um das national-revolutionäre Konzept im Großrahmen der Konservativen Revolution in Deutschland 1918–1933) dann weitgehend zum Dritten Reich und schließlich zur BRD anzusehen sind. Diese Perspektive wurde dann auch in den zwei späteren Romanen Die Kette der tausend Kraniche (1972) und Der tote Preuße. Roman einer Staatsidee deutlich. Von Salomons »preußische« Selbstinszenierung war durch Idealismus und Selbstlosigkeit determiniert. So äußerte sich bei ihm – auch in diesem Roman – seine postromantisch-patriotische Antibürgerlichkeit und Antiwestlichkeit. Und der deutsche Nationalismus als ein Bestandteil dieser Selbstinszenierung wird nicht nur positiv gedeutet, er wird zu ihrer Triebkraft. Zum Abschluss des ersten Teils – Preußen – seien noch zwei kurze Passagen aus Der Fragebogen zitiert, die für von Salomons subjektive (und kontroverse) Diagnosen charakteristisch sind. Die erste bezieht sich auf das Attentat auf Hitler vom 20. Juni 1944 und dessen Folgen: 22 Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 545. 23 Vgl. dazu: Brakelmann, Günter: Konfessionalismus und Nationalismus. In: Faulenbach, Bernd/Rudolph, Karsten/Schlösser, Manfred (Hg.): Bochumer Beiträge zur Nationalismusdebatte. Essen: Verlag Klartext 1997, S. 36–50, hier S. 36f.

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Von den Kadettenkameraden meines Jahrganges sind alle jene, welche dem Berufe treublieben, auf den ihre Erziehung hinzielte, und welche das Ende des zweiten Weltkrieges in diesem Beruf überlebten, General geworden. Ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz der ehemaligen Kadetten ist vor dem Feind gefallen. Und es hieße das Bild der Kadettenerziehung unvollständig in seinen schließlichen Ergebnissen lassen, wenn ich darauf hinzuweisen verzichtete, ein wie unverhältnismäßig hoher Prozentsatz ehemaliger Kadetten in jene tragischen Ereignisse des 20. Juli 1944 verwickelt war.24

Und: »Am 20. Juli 1944 ging nicht nur die preußische Armee, es ging auch die Bildungswelt des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde.«25 In der Verherrlichung der preußischen Kadettenerziehung sowie in der wehmütigen und allzu generalisierenden Diagnose der Katastrophe der alten, guten, preußischen Welt werden die – nicht nur für die deutsche Geschichte – tragischen Folgen des preußischen Militarismus verkannt. Preußische Generäle, früher Absolventen der Kadettenanstalten, die dann für das Dritte Reich kämpften, begingen unbeschreibliche Kriegsverbrechen, die nur symbolisch in den Nürnberger Prozessen geahndet wurden. Bei von Salomon findet sich davon keine Spur. Typisch für seine »preußische Denkweise« ist auch die Überwertung des Attentats vom 20. Juli 1944. Übrigens muss man hier ergänzend zugeben, dass auch viele bundesdeutsche Historiker dazu neigen, dieses Ereignis zu idealisieren. Der erste thematische Komplex verdient etwas mehr Aufmerksamkeit, denn er bildet das Fundament, auf dem andere Komplexe aufbauen. Der zweite, der sog. deutsche Nachkrieg mit dem Freikorpsmythos, wurde in Der Fragebogen auch im nationalistischen Sinne ausgebaut. Zur eigentlichen Front, an der der preußische Kadett von Salomon endlich einmal seine kriegerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte,26 wurden die Kämpfe um die neuen Grenzen in Mitteleuropa nach 1918. Sein Vaterland wartete an der Grenze. Sein Einsatz in den deutschen Freikorps, zuerst im Baltikum und dann in Oberschlesien, wurde von ihm zuerst in der sog. Freikorpstrilogie im postromantischen Sinne heroisiert. In Der Fragebogen wurde er aber schon in einer leicht resignativen Tonart dargestellt:27 24 Salomon, Der Fragebogen, S. 150. 25 Ebd., S. 151. 26 Über diese Periode wurde schon recht viel geschrieben und diskutiert. Als grundlegend rudimentär sei hier auf ein Handbuch hingewiesen, in dem die deutschen Freikorps 1918– 1922 datenmäßig präsentiert wurden: Thoms, Robert/Pochanke, Stefan: Handbuch zur Geschichte der deutschen Freikorps. Berlin/München: MTM Verlag 2001. Vgl. dazu auch: Böhler, Jochen: Wojna domowa. Nowe spojrzenie na odrodzenie Polski 1918–1921. Kraków: Znak Horyzont 2018. Böhler bietet in seiner Monographie einen narrativen Rahmen, der methodologisch und begriffsmäßig schwer zu halten ist: er betrachtet nämlich die Nachkriegskämpfe in Mitteleuropa nach dem ersten Weltkrieg als einen Bürgerkrieg. 27 Die Freikorpstrilogie enthält drei autobiographische Romane: Die Geächteten (1930), Die Stadt (1932) und Die Kadetten (1943).

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Zweifellos empfand ich bei der Revolution von 1918 sehr bitter das Schwinden meiner bevorrechtigten Stellung. Aber ich war zu jung, um in ihr verwurzelt zu sein, und jung genug, um überall eine Chance zu wittern. Daß ich sofort und ohne einen Augenblick zu zögern in ein Freikorps eintrat, war nicht durch den Versuch bestimmt, einfach der bisherigen, vorgezeichneten Linie zu folgen, es war auch keine einfache Abenteurerlust, eine Regung, die ich immerhin niemals für verächtlich hielt, es war sehr eindeutig der Wunsch, nun wirklich ohne Vorteil dem Staate zu dienen. Die Freikorps waren bestimmt, in aufgewühlten Zeiten im Innern des Reiches Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, sie waren ferner bestimmt, die flüssig gewordenen Grenzen zu schützen und zu befestigen, sie waren also zu echten staatlichen Aufgaben bestellt, und sie wurden, zumindest in ihrer Führung und zumindest in ihrer anfänglichen Bedeutung, ausdrücklich so begriffen.28

Die nationalistische Erzählperspektive von Salomons ist aber in Bezug auf die Kämpfe in Oberschlesien eigenartig. Er zeigt einerseits Respekt für den Gegner, um ihn dann wieder als ein kleineres Volk einzustufen. Es war schon sein großes Thema in dem früheren Roman Die Geächteten und diese Sicht der Dinge ging dann in einer etwas abgeschwächten Form in die Erzählweise von Der Fragebogen über.29 Von Salomon pflegte dann, in einer Doppelperspektive, die Erfahrungen der deutschen Freikorps darzustellen. Erstens thematisierte er sie in seinen autobiographischen Romanen, und zweitens bemühte er sich auch um die Archivierung der Freikorpsgeschichte. Diese Arbeit brachte dann einen umfangreichen Band unter dem Titel Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer (1938) hervor. Dieser Aktivität schenkt er auch relativ viel Aufmerksamkeit in Der Fragebogen. So heißt es da u. a.: »Ein kurzer Blick auf die Zeittafel genügte, um erkennen zu lassen, daß die Geschichte von etwa fünfundachtzig Freikorps geschrieben werden mußte, um dem Stoff einigermaßen gerecht zu werden.«30 Von Salomons Nationalismus spitzte sich in der Freikorps-Phase zu. Die Weimarer Republik – obwohl Deutschland offiziell immer noch »das Deutsche Reich« hieß – war für ihn eine inakzeptable Staatsform, die man – je früher desto besser – zu Fall bringen sollte. Aus seiner Sicht war es kein deutsches Reich mehr, es war eher ein Phantom des Reiches, ein Staatskörper nach einer schmerzhaften Amputation. Die in der Zeit der Weimarer Republik in ihm wachsenden Nationalismus und Rechtsextremismus ließen ihn zu einem Verschwörer werden. Damit wurde der dritte große Themenkomplex angesprochen: Ernst von Salomons verschwörerische Aktivitäten gegen die Weimarer Republik und seine Beteiligung am Attentat auf den damaligen Außenminister Walther von Rathe-

28 Salomon, Der Fragebogen, S. 327. 29 Vgl. dazu: Salomon, Ernst v.: Die Geächteten. Berlin: Rowohlt 1930, S. 288. 30 Salomon, Der Fragebogen, S. 287.

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nau, deren Aspekte in Der Fragebogen durchdiskutiert wurden. Wenden wir uns nun dem Wichtigsten im Hinblick auf die Problematik dieses Textes zu. Der Hass gegen die erste deutsche Demokratie erreichte allmählich im Jahre 1922 seinen Gipfelpunkt. Die antidemokratischen Tendenzen, durch die beispiellose Wirtschaftskrise begünstigt, nahmen immer häufiger terroristische Formen an. Ziel dieser Attacken waren die Erfüllungspolitik und ihre Vollstrecker. Es entstand die Organisation Consul, die in Wirklichkeit »ein überaus loser Zusammenschluß ehemaliger Soldaten und Offiziere der Marine-Brigade war«31. Von Salomon, als ihr Mitglied, beteiligte sich aktiv an der Durchführung dieses Attentats, wurde danach festgenommen und in einem Gerichtsprozess zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. In Der Fragebogen wird darüber ausführlich berichtet. Von Rathenaus Tod sollte ein Signal zur Intensivierung der Gewaltaktionen und Anschläge werden, die schließlich die Weimarer Republik zerstören sollten. Und in von Salomons Biographie ist es zugleich eine Zäsur, eine Art negative Kulmination.32 In Der Fragebogen gibt der Erzähler zu, dass die Verschwörer Antisemiten gewesen seien. Mehr noch: Die ganze nationale Bewegung sei in jenen Jahren antisemitisch gewesen.33 Im Grunde genommen starb von Rathenau sowohl als Erfüllungspolitiker als auch als Jude: Er war zwar der hervorragendste Erfüllungspolitiker, – aber zu einer Zeit, in welcher an allen Straßenecken stand: »Schlagt ihn tot, den Rathenau, die gottverdammte Judensau«, mußte das Attentat notwendig insofern seine gedachte Wirkung verfehlen, als es geradezu in die Augen springen mußte, daß er nicht als Erfüllungspolitiker fiel, sondern eben als Jude – und so geschah es ja auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit.34 Das Attentat sollte ein Fanal sein, das die Entstehung des neuen Nationalismus begünstigt. Sein Programm sollte in die Richtung aktualisiert werden, das verhasste »System Weimar« zu vernichten. Allen diesen Gruppen, die über Massengefolgschaften in keinem Falle verfügten, war gemeinsam, daß ihnen die Bezeichnung »Nationalrevolutionär« insofern paßte, als sie bestrebt waren, nicht als National-Reaktionäre betrachtet zu werden, und daß ihnen der Name »Neuer Nationalismus« eine Verpflichtung bedeutete, sich sowohl von dem Wortschatz als auch von dem Gefühlsinhalt des alten, sich in den nationalen Parteien verschleißenden Nationalismus deutlich abzusetzen.35

Der aggressiv antidemokratische neue deutsche Nationalismus war ein Radikalnationalismus (Wehler), der im Inneren der neuen, deutschen Staatlichkeit sich zum Ziel setzte, eine Destabilisierung und Dekonstruktion der Weimarer 31 32 33 34 35

Ebd., S. 328. Vgl. dazu: Walkowiak, Ernst von Salomons autobiographische Romane, S. 222–236. Vgl. dazu: Salomon, Der Fragebogen, S. 107f. Ebd., S. 108. Ebd., S. 245.

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Republik zu erwirken, und – in der Außenpolitik – die im Versailler Vertrag abgetretenen Gebiete wieder an Deutschland anzuschließen. Es war also ein Revisionismus in den zwei wichtigsten Bereichen. Ernst von Salomon befürwortete diese Tendenz; eine Bestätigung dafür findet sich auch in Der Fragebogen. Von Rathenaus Tod brachte aber unerwartet die Konsolidierung der Republik mit sich. Im Reichstag wurden extraordinäre Gesetze zum Schutz der bedrohten Republik erlassen. Diese Krise sollte die Republik noch überstehen, aber an der nächsten wird sie schon scheitern. Das Dritte Reich, das aus ihr hervorging, ist der nächste, vierte und letzte Themenkomplex, der besprochen werden soll. Der Nationalsozialismus wird im Roman unter vielerlei Aspekten diskutiert. Und der national-revolutionäre Salomon wird hier mit einer Ideologie konfrontiert, die ihm gewisse Schwierigkeiten bereitete. Der Nationalsozialismus, eine Ideologie, die linke und rechte Komponenten enthielt, hätte für Ernst von Salomon allem Anschein nach attraktiv werden können. Dieser zeigte jedoch nach 1933 keinen großen Enthusiasmus für die neuen Machthaber. Sein Verhältnis zu der NS-Ideologie war alles andere als eindeutig. Noch nach der deutschen Niederlage von 1945 blieb seine Einstellung zum Dritten Reich ambivalent. Der Ton der Narration ist in Der Fragebogen ironisch und distanziert, was auf die oben erwähnte Zäsur des Jahres 1918 in seiner Biographie zurückzuführen ist. In seiner Ambivalenz verrät von Salomon seine Neigung, auf bestimmte Art und Weise die NS-Massenverbrechen zu verharmlosen. Er war also wieder da, dieser Mann Hitler, er war sehr da. Nicht einen Augenblick in meinem Leben hatte ich mich zu ihm bekennen können, nicht ein Augenblick aber auch ging dahin, ohne daß die bloße Existenz dieses Mannes nicht doch in der einen oder anderen Form mein Verhalten bestimmte. Ich verstand ihn nicht, ich verstand weder seinen Charakter noch seine Lehre, ich hielt sie nicht einfach für falsch, ich begriff nicht, was er eigentlich wollte.36

Nach dem Kriegsausbruch im Jahre 1939 wollte er trotz gewisser Vorbehalte den deutschen Sieg. Einst deutete er den Krieg im Jünger’schen Sinne als elementares Ereignis und bewertete ihn auch diesmal insofern eigentlich positiv. Krieg war ja eine grundsätzliche und konstituierende Lebenserfahrung im Rahmen des schon hier erwähnten soldatischen Nationalismus. Da er aber die Ziele dieses Krieges nicht ganz »verstehen« konnte, blieb sein Verhältnis zu ihm widersprüchlich: Es war absurd zu sagen, daß dies nicht »mein« Krieg war und nicht »meine« nationale Revolution, aber eben dies Absurde war das einzige, was mir zu sagen blieb. Es stimmte auch nicht, wenn ich versuchte, für romantischen Unsinn zu halten, was ich geschrieben hatte: ich hielt es immer noch für richtig, nur durfte ich es nicht sagen und nicht danach

36 Ebd., S. 351.

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handeln. Ich bekam Verständnis für die entsetzliche, die einzig wirklich tragische Situation so vieler Patrioten, die gezwungen waren, den eigenen Sieg nicht zu wünschen. Ich wünschte den deutschen Sieg, trotzdem und alledem, und ich konnte nichts für ihn tun.37

Sein größtes ethisches Dilemma im Dritten Reich baute auf der Frage auf, ob man dumm oder feige handeln sollte. Eine dritte Möglichkeit fand er nicht. In Der Fragebogen stellt der Erzähler im plauderhaften Ton unterschiedliche Alltagsszenen aus seinem Leben, die diese Zweifel illustrieren sollen, dar. Ironie und Sarkasmus lassen hier vermuten, dass er selbst dieses Dilemma nicht ganz ernst nahm. Es scheint erneut ein Ausdruck einer Verharmlosungstendenz zu sein: Da war der Bericht, den der ehemalige Freikorpsoffizier Rittmeister Rickmers kurz vor seinem Tode, durch einen Schuß an der Feldherrnhalle schwer verletzt, einer Krankenschwester diktierte und in welchem er sich ungemein aufschlussreich und unmissverständlich über das Verhalten der nationalsozialistischen Führer während des Feuerüberfalles der Landespolizei ausließ, – und da war endlich als Kuriosum neben vielem anderen auch eine Tischkarte, ausgestellt für »Herrn Hitler«, auf deren Rückseite dieser bei einem Zusammentreffen ehemaliger Freikorpsführer im Jahre 1922 sich einige Stichworte zu der von ihm dann gehaltenen Rede notiert hatte, sehr allgemeine und bedeutungslose Stichworte wie »Unser Weg« und »Bereit sein ist alles«, ein Dokument, welches mich immerhin darum interessierte, weil Hitler, wahrscheinlich während der Reden der anderen, träumerisch auf der Rückseite der Tischkarte einige Linien und Skizzen gekritzelt hatte, die bei einigermaßen gutem Willen Profil und Linienführung einer Autobahn erkennen ließen.38

Von Salomon reflektiert zwar in seinem Roman über die deutsche Katastrophe 1945, indem er sich beispielsweise die Frage nach der Bedeutung des Adjektivs deutsch stellt und sie mit dem Gedanken, dass es entweder veraltet oder verfrüht sei, beantwortet.39 Er hatte aber als ein Nationalist in der Defensive ein recht zwiespältiges Verhältnis zum Dritten Reich. Sein Zusammenbruch löst zwar bei ihm Gedankengänge aus, die teilweise auch systemkritisch sind, aber generell beschränkt er sich in seiner trotzigen Haltung der US-Besatzungsmacht gegenüber auf ironische Distanz und sarkastisch-resignative Selbstbeobachtungen. Aus einem in Der Fragebogen angeführten Gespräch zwischen ihm und seiner damaligen jüdischen Lebensgefährtin Ille erfährt der Leser, dass nichts aus ihrem historischen Bewusstsein verdrängt wurde und dass sie genau wussten, welche Ausmaße der deutsche Genozid hatte: »Natürlich habe ich genauso gut gewusst wie du, was mit den Juden geschah, mit der polnischen Intelligenz, mit den russischen Kommissaren, mit den tschechischen Studenten und den deutschen

37 Ebd., S. 305f. 38 Ebd., S. 289. 39 Ebd., S. 43.

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Kommunisten und all denen, die plötzlich verschwanden.«40 Andererseits sympathisiert der Erzähler mit Hanns Ludin, dem NS-Gesandten in der Slowakei, der 1947 von einem tschechoslowakischen Gericht für seine verbrecherischen Taten zum Tode verurteilt wurde.41 Zwar wäre hier die Gleichsetzung des Autors mit dem Erzähler eine Vereinfachung, aber die Ergebnisse der Salomon-Forschung lassen in bestimmten Fällen (z. B. Markus Josef Klein) solch eine Lesart zu, wohl mit der relevanten Einschränkung, dass seine Romane als autobiographische Prosa anzusehen sind, in der es gilt, die angegebene »faktenorientierte« Dimension durch andere nichtfiktionale Quellen zu verifizieren. Alle vier Themenkomplexe aus Der Fragebogen, die hier kurz analysiert wurden, verbindet das Motiv des deutschen Nationalismus und des Nationalen. Der »Versprengte« Ernst von Salomon betrachtete sich sein Leben lang als jemand, der der nationalen Idee verpflichtet war. Insofern bildet das Nationale einen Großrahmen für alle seine literarischen und politischen Aktivitäten. In diesen Großrahmen ist sein mehrdimensionaler Nationalismus zu platzieren. Sein anfänglicher soldatischer Nationalismus verwandelte sich im Laufe der Zeit in den Linksnationalismus der Nachkriegsjahre, was jedoch in Der Fragebogen nicht mehr thematisiert wurde. Es sei aber im Schlussteil dieses Beitrags erwähnt, damit das Bild seines Nationalismus vollständig skizziert ist. Der Linksnationalismus von Salomons trug ein deutliches antiamerikanisches Gepräge. Es mag an seinen biographischen Erfahrungen liegen, die er in dem US-Internierungslager Natternberg machte. Er wurde von der US-Besatzungsmacht als ein deutscher Nationalist festgenommen und für ein Jahr interniert. Nach der Befreiung wuchs dann sein antiamerikanischer Affekt weiter und fand seinen Ausdruck u. a. in seinem anderen autobiographischen Roman Die Kette der tausend Kraniche.42 Die hier vier behandelten Themenkomplexe: vom Preußentum über die Freikorpslegende und den deutschen Nachkrieg, das Attentat auf Walther von Rathenau bis hin zum Dritten Reich bilden bei Ernst von Salomon eine Kette, die in Der Fragebogen literarisiert wurde. Was die Motive verbindet, ist der nationalistisch gesinnte Partisan – der Autor selbst. Im Literarischen und im Politischen fand er einen lebenswichtigen Ausgleich für seine »soldatischen Defizite«. Er war in der Perspektive seiner autobiographischen Selbstinszenierung ein preußischer Kadett, dann ein Freikorpskämpfer, Verschwörer, Attentäter, schließlich ein zurückgezogener und defensiver Nationalist. Von Salomons differentia specifica wurde hier anhand der Fragebogen-Aspekte kurz analysiert. 40 Ebd., S. 539. 41 Vgl. dazu ausgebaute Passagen in: ebd., S. 633–668. 42 Vgl. dazu: von Salomon, Ernst v.: Die Kette der tausend Kraniche. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972.

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Sein Lebensweg und seine (nicht nur) literarischen Texte bewirken, dass seine Rezeption bis heute bescheiden ist.

Schlussbetrachtungen Der Fragebogen ist eine bedeutende Stimme in der großen Nationalismus-Debatte – auch im literaturhistorischen Kontext. Es enthält ein groß angelegtes historisch-politisches Panorama. Insofern wird dort die Geschichte des modernen deutschen Nationalismus vom 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein mit literarischen Mitteln dargestellt. War er noch im 19. Jahrhundert nach Wolfgang Mommsen »eine bürgerliche Emanzipationsideologie gegenüber aristokratischer Bevormundung«43, so entwickelte er sich dann in eine aggressive Massenideologie in der Periode des »30jährigen Krieges des 20. Jahrhunderts«. Sie gipfelte im Dritten Reich u. a. in Form des sog. eliminatorischen Antisemitismus (Goldhagen). Die Debatten der 1920er und der frühen 30er Jahre erloschen in Deutschland nach der Machtübernahme Hitlers. Und dies betrifft auch Österreich mit der Zäsur des Jahres 1938. Ernst von Salomon war ein aktiver Teilnehmer dieser Diskussionen, bevor er dann nach 1933 in die defensive Haltung zurückfiel. Er präsentierte sie auch nach 1945, was in Der Fragebogen seinen Ausdruck fand. Seine sarkastische defensive Position äußerte sich auch in seinem Verhältnis zu der deutschen Nachkriegsrealität, und insbesondere zu der amerikanischen Entnazifizierungspragmatik. Hinter dieser Ironie steckte aber wohl auch seine Enttäuschung – weitgehend über sich selbst und ebenso über die neueste Entwicklung der deutschen Geschichte. Der amerikanische Entnazifizierungsfragebogen musste ihm insofern sehr gelegen kommen. Zu fragen bleibt noch schließlich, ob die Zäsur des Jahres 1945 zugleich ein endgültiges Ende des deutschen Sonderwegs und der Reichsidee bedeutet? Und ob sie gleichzeitig ein Ende des deutschen Nationalismus im preußischen Sinne ist?

Literatur Böhler, Jochen: Wojna domowa. Nowe spojrzenie na odrodzenie Polski 1918–1921. Kraków: Znak Horyzont 2018.

43 Mommsen, Wolfgang J.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt/M.: S. Fischer 1972, S. 255.

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Literaturdiskurs II: Schweiz und Österreich

Markus Fauser (Vechta)

Mit Habermas am Lagerfeuer. Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule – Von der Unzerstörbarkeit des mythischen Bildes

Max Frischs kleines Buch von 1971, das viele zeitgenössische Kritiker als typisch linke Mythenzertrümmerung bezeichneten, genießt kein hohes Ansehen. Im besten Falle hält man es für überflüssig. Schließlich waren Destruktionen damals nicht nur auf den Bühnen an der Tagesordnung, es schien sogar so, als habe Frisch gar nichts Eigenständiges zu der längst bekannten Mythenkritik beizutragen. Und kam man nicht in den Zeitungsartikeln von Otto Marchi, in der Schweizer Geschichte für Ketzer aus demselben Jahr 1971 gedruckt, besser auf seine Kosten? Von konservativer Seite nahm die Ablehnung des Textes vor allem in der Schweiz aggressive Züge an, während ein Festhalten an mythischer Überlieferung bei links gerichteten Lesern sich von selbst verbot. Bei einer so klaren Frontstellung waren vermittelnde Positionen weder zu erwarten noch erwünscht. Wenige Jahre danach widersprach die Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger dem Bild Tells bei Frisch mit dem Beitrag Das verlorene Monument in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (1979), den erst viele Jahre später Peter von Matt als bahnbrechend einordnen konnte, weil er diesen neuen Blick auf den Schweizer Gründungsmythos lenkte. Leutenegger hielt Frisch vor, er verhalte sich »so ausländisch, dass ihm Tell die Augen verbunden hätte« und er habe Tell überflüssigerweise »von seinem Zwielicht entlastet«, ihn damit auch vom »letzten beunruhigenden Stachel […] gesäubert«1. Leuteneggers ›Rettung‹ des mythischen Bildes vor dem ideologiekritischen Diskurs brachte eine Wende im Kampf der Bilder. Matt weist mit Nachdruck darauf hin, dass Leutenegger den TellMythos in seinem »Zwielicht« belassen, sich gleichzeitig aber von seiner nationalen Vereinnahmung distanzieren wollte. Derartige Restitutionen des Mythos für die Poesie erlauben auch eine neue Lektüre des Buches von Frisch, wenn der Leser seine eigentliche Stoßrichtung 1 Leutenegger, Gertrud: Das verlorene Monument. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 46f; Matt, Peter v.: Kritischer Patriotismus. In: Matt, Peter v.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München/Wien: Hanser 2001, S. 137–141.

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anerkennt und seine über die argumentativen Fronten der 1960er Jahre hinaus weisende Absicht freilegt. Es geht um die jeweils gewählte Methode: Während Frisch in seinem Erzähl-Essay radikal rational herangeht, indem er die mythische Erzählung von der Sprache des »emotionalen« in die des »kritischen Patriotismus« transponiert und Tell mit Witz als »Wesen von kläglicher Gewöhnlichkeit« präsentiert, so von Matt, antworte Leutenegger darauf wieder mit der Re-Poetisierung des Stoffes. Ein schönes Beispiel für das grundsätzliche Paradox der »Arbeit am Mythos« (Blumenberg), ihren nicht endenden Umbesetzungen, Destruktionen und Transformationen. Der nicht hintergehbare Streit um Bedeutsamkeit, zu dem seit der Antike immer auch Mythenparodien gehörten, erzwingt zwar die Figur eines letzten, total ausgeschöpften Mythos, die aber selber nur eine Fiktion sein kann. Dieser kurze Blick auf die Folgen des Tell von Frisch wird hier ergänzt um den Rückblick auf seine unmittelbare Vorgeschichte. Alle Wege der Auseinandersetzung mit Tell kann der Beitrag unmöglich nachzeichnen, sie sind auch leicht nachzulesen in der mittlerweile stattlich angewachsenen und reichhaltigen Forschung.2 Vielmehr beschränken sich die folgenden Ausführungen auf ein weniger bekanntes und selten in seinem ganzen Ausmaß beachtetes Kapitel aus der Schweizer Gebrauchsgeschichte, wie sie der Historiker Guy Marchal in seinem Standardwerk 2006 genannt hat. In seinem Sinne verknüpfen sich konkrete Bilder mit dem in einer Gemeinschaft eingelagerten Geschichtsbild zu einem historisch geprägten Imaginären (»imaginaire historique«).3 Der Begriff bezeichnet die in der Gemeinschaft weiterlebenden Geschichtsbilder, unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Insofern war mit der Sage um Wilhelm Tell immer ein größerer Vorstellungskomplex verbunden, der, ohnehin verwoben mit den wesentlichen Elementen der nationalen Geschichtskultur, auch den Text des Buches von Max Frisch mit hervorbrachte. Ganz ohne Zweifel bringt das »imaginaire historique« auch eingebildete Geschichtsbilder hervor. Wie die anderen Nationen hat die Schweiz diese lange Tradition der Erfindung von Traditionen aufzuweisen. Sie musste einen Autor lange in Atem halten, der die wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts miterlebte und kommentierte.

2 Stunzi, Lilly: Tell – Werden und Wandern eines Mythos. Bern: Hallwag 1973; Bergier, JeanFrançois: Wilhelm Tell. Realität und Mythos. Aus dem Französischen von J. Winiger. München: List 1988; Kreis, Georg: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Zürich: Orell Füssli Verlag 2004; Piatti, Barbara: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers »Wilhelm Tell«. Basel: Schwabe Verlag 2004; Barkhoff, Jürgen/Heffernan, Valerie (Hg.): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin: Walter de Gruyter 2010; Blatter Michael/Groebner, Valentin: Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held unterwegs. Baden: hier + jetzt 2016. 3 Marchal, Guy P.: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel: Schwabe Verlag 2006, S. 413.

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Die Bilder des Mythos im frühen 20. Jahrhundert Unter den zahlreichen Bildern, die der Mythos hervorbrachte, sind im Wesentlichen zwei bedeutsam, weil sie zwei verschiedene ikonographische Wege markieren. Einmal die Bronzeskulptur von Richard Kissling in Altdorf 1895, reproduziert auf Plakaten ab 1899, und zum andern das Monumentalgemälde Wilhelm Tell von Ferdinand Hodler aus dem Jahre 1897 (Format 255,5 x 195,5). Während Kisslings Denkmal, seine Gruppenskulptur Tells mit Sohn Walter, das Bild des liebenden Vaters präsentiert, wurde Hodlers Einzelporträt, sein überlebensgroßer Gladiator, für viele Jahre zum Symbol der wehrhaften Schweiz. Die Darstellung als zorniger Krieger in der Tracht des Alphirten präsentiert einen furchterregenden Aggressor mit flammend rotem Haar und Bart, einer weißen Bauernkutte, einfachen Holzschuhen und einem ganz besonderen Markenzeichen: der Armbrust in der linken Hand, während die rechte scheinbar grüßend und zugleich abwehrend hoch gehalten wird.4 Auffällig ist die Pose, beeindruckend der weit ausfallende Schritt, die muskulösen Beine, die monolithisch wirkende, vor Kraft strotzende athletische Gestalt. Seine magische Erscheinung verdankt er der axialsymmetrischen Stellung im Bild, der ihn umrahmenden Wolkenaureole und den Nebeln, die ihn aus den Bergen wie aus dem Nichts heraustreten lassen. Unübersehbar sind die religiösen Konnotationen. Dieser klobig wirkende Fels von einem Mann bei Hodler braucht den historischen Kontext gar nicht, die Figur ist der geschichtlichen Überlieferung und Einordnung ohnehin entrückt, in ihrer Stellung isoliert, die gesamte Darstellung sakral. Die im Hintergrund angedeutete Landschaft ist nicht bestimmt, so dass dieser Tell wie eine mythische Gestalt auftritt. Die frontal auf den Betrachter zuschreitende Ganzfigur hält die Armbrust so, dass sie Ähnlichkeit mit dem Kreuz bekommt und die Gebärde seiner rechten Hand bleibt vage zwischen dem Sieges-, Segens- oder Warngestus.5 Charakteristische Elemente wie Frontalstellung, Schreitstellung, erhobene Hand und Attribut verweisen auf den vielfach belegten Typus des Verkünders, Lichtbringers, Freiheitshelden. Nicht nur im Gesicht, auch durch die sie umgebende Mandorla erinnert die Figur an Dürers Auferstehung Christi aus der Großen Passion von 1510.6 4 Zur Vorgeschichte des Bildes vgl. den Ausstellungskatalog mit Abbildungen und mehreren Beiträgen: Heuser, Mechthild/Wirtz, Irmgard (Hg.): Tell im Visier. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 37–39 und darin Christen, Gabriela: Wilhelm und seine Brüder, S. 257–266 über Hodler. 5 Stückelberger, Johannes: Hodlers Weg zum Nationalmaler am Beispiel seines »Wilhelm Tell«. In: »Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte« 53 (1996), S. 323–334, hier S. 326. 6 Stückelberger, Hodlers weg zum Nationalmaler, S. 328.

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Schon vor der Kriegszeit wurde dieser Bildtypus wirkmächtiger als Kisslings Altdorfer Denkmal, das erst später Hodlers Darstellung verdrängte. Zahlreiche Plakate der 1920er und 30er Jahre verwenden Hodlers Figur, alle Kontrafakturen zeigen die Instrumentalisierung, gerade bei den politischen Parteien. Selbst die internationale Avantgarde findet sich darunter; der mythische Tell war für konservative wie für linke Zwecke brauchbar. Denn das Bild selbst ist nicht festgelegt.7 Zuletzt sorgt noch die Übernahme der zum Kreuz stilisierten Armbrust als Chiffre beim Schweizerischen Gütezeichen, mit dem seit 1932 bis heute für Qualität geworben wird, für die Anerkennung Hodlers als Nationalmaler. Bilder von Hodler wurden selbstverständlich auf der schweizerischen Landesausstellung 1939 gebraucht. Frisch hat die Ausstellung mehrfach erwähnt und er konnte natürlich bei der Ausstellung auch dem Tell-Mythos nicht entgehen. In einer umfassenden Würdigung in achtung: Die Schweiz ordnet er sie noch 1954 als »letzte schweizerische Manifestation« ein, die klar wie seit 1848 nicht mehr die »schweizerische Lebensform«, gerade in der Verteidigungshaltung, gezeigt hätte.8 Er gesteht der »Landi« von 1939 sogar den Status einer Initiation in ein modernes Selbstverständnis für die Vätergeneration zu. Weitere zwanzig Jahre später kommt er in seinem Dienstbüchlein 1974 darauf zu sprechen und erinnert jetzt nur noch den angestrengten Versuch, »nationales Selbstvertrauen festigen« zu wollen. Ihm sei der »dezente Geruch von Blut- und Boden – helvetisch« damals aber noch nicht aufgefallen!9 Dem Besucher der Ausstellung wurde am »Tag der Urschweiz« obendrein ein lebendes Bild präsentiert. Eine Knabenschar, genau nach Hodlers Bild kostümiert, mit Holzpantoletten, Kniehosen, weißer Sennenkutte mit Kapuze, die Armbrust in der Hand, schwärmte aus und mischte sich unter die Volksmenge.10 Die »Tellenbübchen«, selbst wenn sie in ihrer körperlichen Statur an das Vorbild noch nicht oder nie heranreichten, sorgten für das Gefühl, der Held sei lebendiger Teil der Volksgemeinschaft. Dieser Akt einer ›living history‹, die Verlebendigung des kraftvollen Tell im Hodler-Look der Knaben belegt die enorme Bedeutung dieses Bildes für die Selbstverständigung der Schweizer, die sich im »Landigeist« umfassend ausdrückte, und zeigt die bereits etablierte Vorstellung vom Aussehen des Helden. Hodlers stilisierter Bildtypus, die politischen Plakate und der »Landigeist« im Kontext des Schweizer Nationalismus bilden jene, über 7 Heuser/Wirtz (Hg.), Tell im Visier. Katalogteil mit ca. 150 Plakaten. 8 Frisch, Max: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 138–142. 9 Frisch, Max: Dienstbüchlein. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 72–74. Zu Frischs früherer Begeisterung über die Ausstellung vgl. auch seine 1940 veröffentlichten Blätter aus dem Brotsack. Zürich: Atlantis 1969, S. 37. Zur Ausstellung 1939 vgl. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 155–162. 10 Foto bei: Piatti, Tells Theater, S. 222.

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Jahrzehnte hinweg entstandene Imagination, bei der Marchi und Frisch ansetzen konnten.

»Unser Tell«? Max Frisch und der Militärdiskurs Eine unvoreingenommene Lektüre muss freilich zuerst den Spuren folgen, die zeitgenössische Debatten hinterlassen haben. Frisch untermauert seine den Stoff zersetzende Erzählung gerne mit Anmerkungen, die aktuelle politische Entwicklungen kommentieren. Sobald er im Text auf das Vater-Sohn-Thema, auf Generationenfragen überhaupt zu sprechen kommt, erläutert die Anmerkung 38: »Vgl. hierzu die Publikationen der Schweizerischen Offiziersgesellschaft: Die geistige Landesverteidigung, 1967.«11 Derartige (ironische) Kommentare belegen die Stoßrichtung, die sich Frisch vorstellt, im vorliegenden Fall die SOG, die auch in der Nachkriegszeit eine bestimmte Version des Mythos beibehalten wollte. Tell ist für Max Frisch zwar nicht direkt, aber dennoch untrennbar verbunden mit der Rolle der Schweizer Armee im 20. Jahrhundert. Immer wieder kommt er in seinen Essays auf die Frage nach dem »rechten Schweizer« zu sprechen, die oft unzeitgemäßen Erwartungen an den modernen Staatsbürger.12 Das zeitgenössische »Tabu«, das »wie nirgends sonst« eine Debatte über die Armee verhindere, rühre daher, dass die Armee »einem Mythos angehört«13. Als wesentlichen Bestandteil dieser »Sage« benennt Frisch im eben zitierten Essay Überfremdung II von 1966 den Glauben seiner Zeitgenossen an die Armee als Beschützerin der (ältesten) Demokratie. Ausgehend von der typischen »Verteidigungs-Mentalität« der Schweizer äußerte sich das direkt im »Vokabular der Geistigen Landesverteidigung in den dreißiger Jahren«. Ein Produkt völkischen Denkens, wie Frisch sagt, mit dem das Völkische sich dem Völkischen des Faschismus widersetzen wollte. Jenes Amalgam der schweizerischen »Eigenart«14, einer geradezu zwanghaften Selbstbestätigung geschuldet, spürt Frisch nun in der Vergangenheit auf und sieht es in der Tell-Figur zum ersten Mal ausgeprägt. Oder umgekehrt: Im Tell-Mythos lassen sich eben auch alle wesentlichen Bestandteile jener gesuchten »Eigenart« finden.

11 Frisch, Max: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/M: Suhrkamp 1971, S. 62. Alle Zitate nach dieser Ausgabe. Der Text findet sich zu Recht auch in der in Anm. 8 erwähnten Ausgabe: Schweiz als Heimat? (von 1990), in der man den Zusammenhang mit den älteren Essays rekonstruieren kann. 12 Frisch, Dienstbüchlein, S. 46–49; Frisch, Schweiz als Heimat?, S. 240. 13 Frisch, Schweiz als Heimat?, S. 240. 14 Ebd., S. 227–229. Zum Problem der Überfremdungsangst und der Überfremdungs-Initiative von 1970 vgl. Frisch, Wilhelm Tell, S. 78f.

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Die für die Mitte des 20. Jahrhunderts gültige Verschränkung von Tell-Sage und Militärdiskurs leisteten die Verfechter der »geistigen Landesverteidigung«, allen voran Philipp Etter und Karl Schmid, letzterer Offizier. Beginnend in den 1920er Jahren mit dem Aufstieg der faschistischen Regime in Europa formierte sich in der Schweiz ein neuer politischer Diskurs, der zwischen 1933 und 1945 auf alle kulturellen Felder übergriff. Verstanden als verbindliche Vorgabe von Wertvorstellungen für vaterländisches Verhalten und vorbereitet seit den 1920er Jahren, erklärte der Bundesrat Philipp Etter in einer Rede im Mai 1936 an der ETH Zürich diesen nationalen Konsens, zu dem vier Elemente gehörten: die geistig-kulturelle Eigenständigkeit, die Besinnung auf das historische Erbe, die Aktivierung der Demokratie und die Abwehr von fremden Einflüssen.15 Ein solcher »Diskurs der Mitte« sollte alle mentalen Voraussetzungen für das Standhalten bei einer drohenden militärischen Invasion schaffen. Im »Landigeist« waren seit der Ausstellung von 1939 literarische Tradition und militärischer Diskurs eine untrennbare Einheit eingegangen. Als Beispiel für eine differenzierte Sicht auf die kulturelle Tradition, die selbst in einer solchen Ausnahmesituation möglich war, dient Karl Schmid. Der mit einer Arbeit über Schiller 1934 promovierte Germanist hielt am 16. Januar 1939 auf dem IX. Kulturabend der Freisinnigen Partei der Stadt Zürich den Vortrag Schillers Tell, Unser Tell zur Vorbereitung der Premiere im Schauspielhaus. Der kurze Essay ist mit der Titelvignette des Tell von Hodler im selben Jahr als Druck erschienen unter dem Titel Unser Tell. Ein Wort zur Besinnung in ernsten Zeiten. Die Aufführung des Stückes geriet dann auch zu einer patriotischen Manifestation mit anschließendem Absingen der Nationalhymne.16 Dieser absehbaren Vereinnahmung Schillers begegnet Schmid differenziert, ohne sie grundsätzlich abzulehnen. Er kritisiert die Annahme, Schiller habe der Schweiz einen vaterländischen Stoff schenken wollen (übrigens wie später Max Frisch) als »angenehmen Selbstbetrug«.17 Er erkennt aber die Rezeption des Stückes an, die sich von der Intention des Autors vollständig gelöst hätte, und verweist auf die Reaktion der Zuschauer, die nur noch den Mythos sehen wollten. Dem habe Meinrad Inglin im Roman Jugend eines Volkes von 1933 mit einer 15 Sandberg, Beatrice: Geistige Landesverteidigung. In: Rusterholz, Peter/Solbach, Andreas (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 208–231, hier S. 211. Und zur Einordnung Karl Schmids: ebd., S. 221. 16 Schmid, Karl: Gesammelte Werke. Bd. I: 1926–1950. Hg. von Thomas Sprecher und Judith Niederberger. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1998, S. 412–417. Der Kommentar erläutert die Hintergründe der Zeit mit Zitaten aus der Presse. Der schwer zugängliche Text Schmids wird nach dieser Ausgabe zitiert (S. 45–51). Zu der Aufführung: Piatti, Tells Theater, S. 218–221. Alle zeitgenössischen Reaktionen bestätigen, wie genau Schmid die Stimmung getroffen hatte. Siehe: Sprecher, Thomas: Karl Schmid (1907–1974). Ein Schweizer Citoyen. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2013, S. 81–84. 17 Schmid, Gesammelte Werke. Bd. I, S. 45.

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»Neuschöpfung des Tell-Mythos« Vorschub geleistet. Bei ihm werde Tell so gezeigt, wie man ihn »heute« sehen müsse und wie er dem genialen Hodler schon vor Jahrzehnten erschien: als Jäger von gewaltigem Wuchs, der vom Rücken der Erde herniedersteigt und hinter dem die Nebel aufgerissen bleiben. In sich das Erdhaft-Beständige, Uralt-Ewige, weit unter dem Wellenschlage des Gesprächs, und in sich eine ungeheure Kraft.18

In einem Amalgam – Goethe wird gegen Schiller ausgespielt – aus Naturkult, lebensreformerischem Vitalismus und faustisch Urwüchsigem entsteht die Selbsthelfer-Figur, bei der »uns« gewichtiger ist, »dass er von den Bergen herniedersteigt mit genagelten Sohlen, als dass er die Sprache der Menschenrechte spricht«19. Schmid stützt dieses zeitgenössische Bild und sieht in Tell das Sinnbild seines eigenen Volkes in Kriegszeiten, »das verletzte Tier, das sich fürchterlich aufrichtet«20. Im letzten Abschnitt des Essays deutet Schmid allerdings die doppelte »Wurzel« des Schweizer Mythos an. Aus dem Rütli-Schwur lasse sich die rationale Seite des Rechts- und Verfassungsdenkens (politischer Wille des Volkes) im Sinne des Liberalismus seit dem 19. Jahrhundert herleiten, während der Mythos vom Tell, der beim Schwur gar nicht dabei war und also auch nicht mit politischer Rede bekämpft werden kann, den »Widerstand selber« verkörpert. Er muss »ergänzend, vollendend« hinzutreten: »… der Mythos vom Tell. Denn Tell: das ist der Widerstand selber«21. Wenn die vernünftige Rede nicht mehr wirkt, Resolution und Räsonnement nicht mehr tragen, müsse »die Lawine« losgehen. Wenn staatsbürgerliches Gespräch und Verfassungsdiskussion nicht mehr helfen, müsse jeder den »Gang in die Seele« tun, dessen »mythisches Vorbild der einsame Jäger ist.« Und noch einmal verweist Schmid auf »die mächtige Gebärde Hodlers«22 als das Vorbild für Landesverteidigung schlechthin. Diese Umwertung des Tell zum Instrument der kulturellen Landesverteidigung entsprach weitgehend dem Selbstverständnis von Schmid – und auch von Frisch –, Teil des deutschsprachigen Kulturkreises zu sein und unter den widrigen Bedingungen auch bleiben zu wollen. Allerdings war die Gratwanderung zwischen der Besinnung auf das Eigene und der stupiden Vorstellung von Autarkie schwierig zu bewerkstelligen.23 Aus dieser Zeit der Verquickung des Hod-

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Ebd., S. 48. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Meier, Bruno (Hg.): Das Unbehagen im Kleinstaat Schweiz. Der Germanist und politische Denker Karl Schmid (1907–1974). Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007, S. 63.

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ler’schen Bildes mit dem Militärdiskurs stammt das Motto, das bei den Kritikern von Frischs Buch unterschwellig immer mitschwang: Wer Tell angreift, greift auch das Schweizer Selbstverteidigungsrecht an. Deshalb reduziert Frisch in sarkastischer Absicht seinen Tell auf den ganz und gar gewöhnlichen, zufällig und ohne weitergehende (schon gar nicht demokratische) Absichten handelnden Hinterwäldler, einen nicht zeitgebundenen Typus, weil ihn alleine die Ambivalenz der mythischen Figur im Kontext ihrer modernen Rezeption beschäftigt. Frisch betont das Alltägliche, die Langeweile unter den Waldleuten und im Quartier des Landvogts, er psychologisiert und lässt stattdessen den Landvogt sympathischer wirken. In der Apfelschussszene gerät Tell wie zufällig in etwas hinein, das für den Vogt schon erledigt war. Die Beleidigung bleibt aus, wieder einmal raubt der Föhn aus den Bergen allen die Sinne. Walter, der seinem Vater beistehen will, prahlt vorlaut von seiner Treffsicherheit, die eigentlich niemanden interessiert. Beinahe muss eine »Begnadigung mangels Apfel« die Szene beschließen, doch der dickliche Ritter greift ein, nimmt Tell den Pfeil von »seiner zitternden Armbrust«, damit kein Unfug passiere, und verhöhnt ihn damit. Allein aus gekränkter Eitelkeit wird der später den Meuchelmord begehen, und zwar völlig überflüssig, denn der Vogt wäre an seiner von der Depression zerfressenen Leber (Gelbsucht) wenig später sowieso gestorben.24 Als Hintergrund seiner verzerrten Darstellung darf man die Erfahrung des Schweizer Soldaten von 1939 bis 1945 und damit die eigene Militärzeit des Autors annehmen. Tell als unentschlossener, unfreiwillig mutiger, unerwartet siegreicher, im Grunde jedoch reaktionärer, gänzlich allein und daher ohne eidgenössischkollektive Legitimation handelnder Haudegen – das war Frisch wichtig –, zielt in dieser Version auf den gerade 1967 wieder erneuerten Diskurs der »geistigen Landesverteidigung«, den die Schweizerische Offiziersgesellschaft in Publikationen hoch hielt. Die gesamte Kontur der Figur Tells bei Frisch beruht auf der verkehrten Version des Bildes, das die SOG nach dem Kriege wieder aufleben lassen wollte, weil sie den Mythos für ihre Zwecke gut brauchen konnte. Es reicht nur das Zentralorgan der SOG aufzuschlagen, die »Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift«. Im Verzeichnis des Jahrgangs 1967 weist sie eine Vielzahl von Publikationen dazu aus, bis hin zum Bericht der SOG zur »Pflege einer geistigen Landesverteidigung«, so dass der Eindruck einer nahtlosen Kontinuität entsteht. Und 1969 lässt der Bundesrat das kleine rote Buch Zivilverteidigung kostenlos an sämtliche Haushalte verschicken. Frisch zitiert daraus lange Passagen im Tagebuch 1966–1971.25 Den Geist der darin detailliert beschriebenen Selbstschutzmentalität samt den am Ende des 20. Jahrhunderts vollkommen aber24 Frisch, Wilhelm Tell, S. 92f. Über die Krankheit des Ritters siehe: S. 72 und S. 76. 25 Frisch, Max: Tagebuch 1966–1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 267–274.

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witzigen Selbsthelfermaßnahmen bis hin zum Schnüren eines »Notgepäcks« nimmt er eben auch in seinem Wilhelm Tell für die Schule aufs Korn. Er geht den Übeln gewissermaßen auf ihren mythischen Grund.26 Aber Frischs mentalitätskritischer Umgang mit der Mythenrezeption umfasst auch die wissenschaftliche Beschäftigung, deren Verfahren er in seinem Text mit teils erfundenen Anmerkungen ironisch zur Schau stellt. Damit will er umfassend alle Bereiche der Auseinandersetzung einbeziehen. Gerade in der Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg sieht er eine unzulässige Verwischung der Grenzen von Wissenschaft und Fiktion. Zentral war dabei Edgar Bonjours Geschichte der schweizerischen Neutralität in drei Bänden, die Frisch auch noch einmal im Dienstbüchlein widerlegt.27 Den Oberbefehlshaber General Guisan betrachtet er als Kollaborateur, sein Rütli-Rapport ist ihm nichts als der erneuerte »Kampf störrischer Hirten gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung.«28 Guisans Doppelstrategie der taktischen Anpassung an das übermächtige deutsche Reich und der Beginn des Reduit (Bau von Bunkern zur Verteidigung in den Bergen bei gleichzeitiger Preisgabe des Mittellandes mit fast allen Städten im Falle des Durchmarschs der Deutschen) erschien Frisch um 1970 als völlig sinnlose Maßnahme: Schon nach einem Vierteljahrhundert werden Vorkommnisse vergessen oder zumindest nicht überliefert, die etwa unsere Gewißheit, die Schweiz sei immun gegen Faschismus, erschweren könnten. Die mündliche Überlieferung setzt sich sogar gegen Dokumentationen durch, wie sie dem mittelalterlichen Chronisten nicht zur Verfügung standen.29

Die Methode, nach der sich (falsche) mündliche Überlieferung leichter durchsetzt, sieht er in der Überlieferungsgeschichte um Tell vorgebildet. Der Schock, den die Publikation geheimer Dokumente nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachte, konnte ihn nicht mehr überraschen. Max Frischs schon am Beginn seines Textes genüsslich zitierte Nachweise der Unsicherheit beim Namen des habsburgischen Vogts und die wissenschaftlichen Belege zu den Quellen der Tell-Sage, die aus der Schweiz hinaus führen, gehören zu seiner Strategie, das Possessivpronomen Unser Tell in Frage zu stellen. Die 26 In seiner Rezension schreibt Adolf Muschg über diese »ungesuchte Provokation« des Buches von Frisch. Siehe: Muschg, Adolf: Apfelschuß war nicht gefragt. In: »Der Spiegel« Nr. 33 vom 9. August 1971, S. 98. 27 Frisch, Dienstbüchlein, S. 144f. In: Frisch, Wilhelm Tell, S. 37, Anmerkung 23. 28 Frisch, Wilhelm Tell, S. 63 und Dienstbüchlein, S. 63f. Das Foto bei: Piatti, Tells Theater, S. 223 zeigt die Versammlung der Armeeführung auf der Rütli-Wiese am 25. Juli 1940, den Rapport, bei dem die Offiziere mit einem hoch symbolischen Akt im Halbkreis Aufstellung nahmen und auf den Vierwaldstädter See sowie die Schwyzer Berge schauten. Dort auch zum Reduit, General Guisan und den Kontroversen um diese Ereignisse (S. 224–227). 29 Frisch, Wilhelm Tell, S. 37.

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Austreibung derartiger Unwahrheiten und Halbheiten müsste die wahre Aufgabe für die Schule sein. Denn geblieben war die Legende, um die es eigentlich geht: die Neutralität der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Eine – zugestanden – damals auch vom Kanonier Frisch geglaubte Legende, aber eine Legende, die nun endlich korrigiert werden musste.30

Mit Habermas am Lagerfeuer oder: Intellektuelle Fronten im »Schweiz-Dilemma« In der bereits erwähnten Textstelle aus der Anmerkung 38 distanziert sich Frisch nicht nur von der SOG, sondern auch von Friedrich Engels, dem ersten und härtesten Kritiker des politischen Tell-Mythos, dessen Schärfe Frisch nicht nur nicht erreichen will, sondern auch zurückweist mit der Begründung, sie sei »unhaltbar, weil undialektisch«. Engels politische Essays von 1847 und 1853 waren gerade im Verlag der Arche Zürich in der Reihe »Edition Arche Nova« unter dem Titel Über die Schweiz 1970 neu herausgegeben worden; sie sollten die jüngsten Kritiker der Schweiz unterstützen mit Materialien aus der Zeit der Entstehung des Schweizer Bundesstaats. Das führt unmittelbar in die Auseinandersetzungen hinein, die von den Intellektuellen der Nachkriegszeit geführt wurden. Frisch stellt sich nicht nur gegen Friedrich Engels und Bertolt Brecht, der ihm 1947 selber im Sinne von Engels vorgeschlagen hatte, Tell als »reaktionär gegenüber der Habsburger-Utopie« darzustellen,31 sondern auch gegen die konservative Geschichtsklitterung der staatstragenden Parteien und deutet einen Mittelweg an. Dabei muss er sich auch gegen die Schelte eines Karl Schmid verteidigen, der in seinem Traktat Unbehagen im Kleinstaat von 1963 ein spezifisches Problem der Schweizer Intellektuellen seit Conrad Ferdinand Meyer behandelt, das nun bei Frisch erneut virulent geworden sei. Schmid präpariert aus den Texten Frischs (schon lange vor dem Tell-Buch) die Furcht vor dem Spießertum, die Faszination für alles Antibürgerliche und dessen Überzeugung heraus, die Schweiz wäre dem Faschismus »sicher erlegen, wenn sie wirklich in Versuchung gestanden hätte«32. Und dieses »Bildnis« von der Schweiz, das sich Frisch nur geschaffen hätte, um es zu vernichten, zwinge ihn zu teilweise grotesken Verdächtigungen. Schmid spitzt seine messerscharfe und treffsichere Analyse zu, indem er seinem durchaus 30 Frisch, Max: Dienstbüchlein, S. 95. 31 Frisch, Max: Tagebuch 1966–1971, S. 30. 32 Schmid, Karl: Unbehagen im Kleinstaat. Untersuchungen über Conrad Ferdinand Meyer, Henri-Frédéric Amiel, Jakob Schaffner, Max Frisch, Jacob Burckhardt. Zürich/Stuttgart: Artemis 1963, S. 189. Hervorhebungen im Original.

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geschätzten und damals befreundeten Autor Frisch den »Anti-Mythos des Kleinstaats« vorrechnet: …der Kleinstaat als Modell und Symbol für den mutlosen Menschen, der sich zu Recht oder zu Unrecht seine Kompromisse vorwirft. Die Neutralität dieses Staates kann dann nur ärgerlich sein, weil in ihr etwas zu einem kollektiven Werte umstilisiert erscheint, woran man als an einer individuellen Schwäche leidet: die Unentschiedenheit, die Unfähigkeit zur Entscheidung, auch zu derjenigen Entscheidung, die in der Selbstannahme bestünde.33

Das klingt, als würde Karl Schmid, freilich ohne das zu meinen, bereits die Umrisse der Tell-Figur vorgeben, wie sie Frisch in seinem Buch nur noch ausfüllen musste. Solche Kritik wird nicht bloß von einem frühen Anhänger der »geistigen Landesverteidigung« geäußert, der jetzt eine Professur für Germanistik in Zürich und wichtige Ämter im Wissenschaftsmanagement innehatte. Sie drängt Frisch in eine Ecke, in der er sich selbst nicht sehen möchte. Vielleicht war diese von ihm als ungerechtfertigte Unterstellung verstandene Kritik mit ein Anlass, nun mit dem Tell-Thema ein für alle Mal Position zu beziehen und sich der Herausforderung des Schweizer Mythos unmissverständlich zu stellen. Das legt auch die Abrechnung mit der jüngeren Geschichte und der eigenen Biographie im Dienstbüchlein von 1974 nahe, das in der unmittelbaren Folge entstand. Frisch schildert die Lage in der Nachkriegszeit: »eigentlich kommt man viel mit Offizieren zusammen«, heißt es lapidar im Rahmen der Abrechnung mit Karl Schmid.34 Im Krieg »ein Oberst, wie ich weiß, aber jetzt in Zivil«, sagt Frisch und betont deshalb die unterschiedenen Erinnerungskulturen. Natürlich hatte der Generalstabsoberst und Divisionskommandeur Schmid andere Einblicke und Erinnerungen, wie Frisch bestätigt: »Nur erwarte ich nicht, daß unsere Erinnerungen sich decken.«35 Je nach Zugehörigkeiten zu Dienstgraden in der Armee und späterer Bereitschaft zur Aufarbeitung der Vergangenheit sah die jüngere Geschichte anders aus.36 Ein interessantes Detail bestätigt Frischs Lagebeschreibung. In seinem Gedenkbeitrag über Karl Schmid erinnert sich Peter von Matt, dass während seiner Studienzeit 1958 bis 1964 »die Germanistikprofessoren ihre Vorlesungen gelegentlich in Uniform« abhielten. Emil Staiger, Max 33 Ebd., S. 191. Zur Aufnahme des Buches und zum Briefwechsel Schmid–Frisch vgl. Sprecher, Thomas: Karl Schmid, S. 290–292. Zur Attacke Frischs gegen Schmid in seiner Rede Die Schweiz als Heimat 1974 (ebd., S. 407–409). Die Biographie bietet eine umfassende Rehabilitierung des Germanisten gegenüber Frischs Vorwürfen und eine salomonische Haltung bei der Frage nach dem richtigen Patriotismus. 34 Frisch, Dienstbüchlein, S. 129. 35 Ebd. 36 Zum Thema kommunikatives Gedächtnis vgl. Pabis, Eszter: Die Schweiz als Erzählung. Nationale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs »Stiller«, »Wilhelm Tell für die Schule« und »Dienstbüchlein«. Frankfurt/M.: Peter Lang 2010.

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Wehrli und Karl Schmid, alle der gleichen Generation wie Frisch zugehörig, hätten damals immer noch den »Anhauch der geistigen Landesverteidigung« verbreitet.37 Und am Ende seiner Reminiszenz erläutert Matt, dass eben diese Erzählung von der Einheit des Ganzen, die über den Parteien stehe, in den 1960er Jahren rapide an Überzeugungskraft verlor. Die Rehabilitation des Germanisten Schmid kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein anfangs enges Verhältnis zu Frisch mit dem Buch von 1963 beendet war, der Briefwechsel abbrach und der erinnerungspolitische Konflikt über die Kriegszeit nun öffentlich ausgetragen wurde. Dabei warfen konservative Kreise Schmid eine zu kritische Haltung gegenüber dem Schweiz-Mythos vor, während Frisch ihm vorhielt, ein Kleinstaatennostalgiker zu sein.38 Frisch seinerseits tat alles, um, in Abwehr gedrängt, eine eigene, differenzierte Position zu finden, eine Position zwischen der unkritisch die nationale Gemeinsamkeit fordernden (von den ehemaligen Offizieren vorgetragen) und einer scharf antietatistischen, linken Sicht, eine Mittelstellung also, die sich nicht mehr einfach als Ablehnung brandmarken ließ, sondern das »Dilemma« bewusst herausarbeitet. Bis hin zur letzten großen Stellungnahme Schweiz ohne Armee? von 1989 reicht die Auseinandersetzung mit dem diskutierten Problem. In seinem eigenen Wort: »ein Dilemma«, mit dem er immer wieder die Schwierigkeit bezeichnet, zu erklären, wie der »Patriot (ohne Anführungszeichen)« im 20. Jahrhundert beschaffen sein müsste.39 Die Kontroverse mit Karl Schmid ist hier nur der letzte äußere Anlass für das Ringen um die nie verleugnete enge Zugehörigkeit zur Schweiz. Ob Frisch tatsächlich danach strebte, »der Repräsentationsdichter dieses Landes zu sein«40, bleibe dahingestellt. Die hitzigen Debatten beim Erscheinen des Buches haben den Blick auf sein eigentliches Thema, die mentale Kontinuität der Kriegszeit, eher verdeckt, denn erhellt. Und im Unterschied zu den in der Schweiz lebenden Ausländern, so Frisch 1966, hänge ihm dieser Teil der Geschichte noch nach. Für die Ausländer sei das kein Thema: »Was sie genießen: Geschichtslosigkeit als Komfort.«41 Er hingegen verspüre das »Bedürfnis nach Tradition«.42 Und wie schwierig der Umgang sowie die Umwertung einer Tradition seien, das zeige eben das »National-Drama der Schweiz im Zweiten Weltkrieg«, das nun einmal der Tell abgegeben hätte.43 37 38 39 40

Matt, Peter v.: Lehrer, Denker, Zeitgenosse. In: »Schweizer Monat« 11 (2013), S. 2. Meier, Unbehagen, S. 97–104. Dort auch zum Briefwechsel Schmids mit Frisch. Frisch, Schweiz als Heimat?, S. 371. Weidermann, Volker: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S. 276. 41 Frisch, Tagebuch 1966–1971, S. 14. 42 Ebd., S. 119. 43 Ebd., S. 319.

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Das ganze »Dilemma« bricht sofort auf, wenn eine entsprechende Situation eintritt. Max Frisch erzählt eine Anekdote über seine eigene »bemerkenswerte Empfindlichkeit, wenn Ausländer meinen sich zur schweizerischen Armee äußern zu können«, nach. Die Episode mit Habermas am Lagerfeuer ist einschlägig: Warum eine Schweiz ohne Armee nicht denkbar ist, habe ich noch keinem Ausländer zu erklären versucht; ich weiß es. Ferner stimmt es ja, daß die schweizerische Armee, wie trefflich sie heutzutage gerüstet ist, niemand bedroht, jedenfalls keine anderen Länder. Ein andermal bin ich mit einem deutschen Gast und seiner Familie an einem heimischen Bach, Picnic, ich baue da eine ordentliche Feuerstelle und mache Feuer, um Würste zu braten. DER SCHWEIZER WEHRMANN! lächelt der verehrte Gast (Jürgen Habermas) arglos, und schon werde ich wieder sauer, wortlos sauer –44

Die Sottise des achtzehn Jahre jüngeren, geschätzten deutschen Philosophen trifft den Schweizer Schriftsteller gerade an der Stelle, an der die gemeinsame rationale Arbeit gegen jeden Mythos eine vom Verstand geleitete Distanz, wenn nicht gänzliche Unempfindlichkeit vorfinden sollte. Hier kommt nicht nur ein generationsbedingter Unterschied zum Tragen (Habermas musste für wenige Monate zu den Flakhelfern), sondern auch ein nationaler. Ganz offensichtlich lässt sich für Frisch die Militärzeit leichter in sein Erinnerungskonzept integrieren als für deutsche Autoren. Immer wieder spricht Frisch vom »Bedürfnis nach Zugehörigkeit, […] ein kritisches Bewußtsein, das die Zugehörigkeit keineswegs aufhebt.«45 Mit einer Formel, die deutschen Autoren so nicht über die Lippen gekommen wäre. Das »Dilemma« zieht sich durch die Essayistik seit den frühen 1960er Jahren. Der 1990 herausgegebene Sammelband Schweiz als Heimat? belegt dies eindrucksvoll. Wie im Brennglas bündelt Frisch das gesamte, in immer wieder neuen Anläufen behandelte Problem in seiner Auseinandersetzung mit dem TellMythos. Mit diesem Text erreicht er zum ersten Male eine größere Freiheit bei dem bedrängenden Thema. Die den Titel gebende Züricher Schiller-Preis-Rede von 1974 beginnt mit dem Verweis auf die beiden eingangs genannten ikonographischen Traditionen: Wilhelm Tell. Es ließe sich darlegen, warum dieser Armbrust – Vater mit Sohn (bei Hodler ohne Sohn, nie aber ohne Armbrust) von Zeit zu Zeit demontiert werden muss: nicht weil er nie existiert hat – das kann man ihm nicht verargen –, sondern weil er […] einem schweizerischen Selbstverständnis heute eher im Wege steht – Ich möchte aber von etwas anderem reden.46

44 Frisch, Dienstbüchlein, S. 117–119. Hervorhebungen im Original. 45 Ebd., S. 150. 46 Frisch, Schweiz als Heimat?, S. 365.

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IV

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Nachhutgefechte

Das von Frisch in der Rede dann bearbeitete »Dilemma« führt aber wieder mitten in das Thema hinein, es schien eben immer noch nicht erledigt. Ein Ergebnis ist: Die Ambivalenz des Mythos ist heute anerkannt. Kein Autor entkommt der Paradoxie im Umgang mit Mythen. Peter von Matt konnte daher gerade Max Frisch zum 75. Geburtstag an »das verdeckte Fundament des Mythenbeseitigers«, die »Bilderrede des Bilderzertrümmerers« erinnern. Und er ordnete andererseits seinen Tell als Zeitdokument ein, bei dem es um die Beseitigung der Verblendung einer »geistigen Landesverteidigung« ging. Deren falsches Pathos fegte Frisch mit einer lächerlich gemachten Tell-Figur hinweg. Das beweist: Es ging Max Frisch nicht darum, den Mythos überhaupt zu vernichten, sondern sein Nachleben oder unreflektiertes Wiederaufleben zu stören. Die Geschichte vom Tell hatte ja jahrhundertelang im Prozess der Überwindung feudaler Herrschaft gewirkt und war im Grunde »ein Ferment der Modernisierung«.47 Das hat Frisch nie bestritten. Auch Peter Bichsel sah es so. Im Anhang zu Otto Marchis Schweizer Geschichte für Ketzer stellte er »die Notwendigkeit Tells« heraus. Die alte Eidgenossenschaft habe »ein Symbol der Unabhängigkeit« gebraucht, freilich »nicht mehr«. Und auch Bichsel gesteht, er könne, bei aller Einschränkung, den Tell »nicht ganz abwerfen.«48 Nur Kurt Marti plädiert in seiner Stellungnahme, ebenfalls im Anhang gedruckt, für die Entsorgung im Museum. Eine zeitgemäße Lektüre muss nicht nur die unmittelbaren Kontexte der Parodie berücksichtigen, sondern nach der Bedeutung des Textes für eine Schweizer Literatur n a c h dem Zeitalter der Mythen fragen. Dass dies heute geschehen kann, war ein Ergebnis der Experimente mit dem Stoff um 1970. Frischs Versuch, mit einer »Irritation« zwischen den verhärteten Fronten hindurch zu schreiben,49 sein »lockeres Spiel mit Alternativen«50, hat die Entheroisierung der Schweizer Geschichte entscheidend befördert. Dafür kann man heute, ausgehend vom europäischen Ursprung der Sage, über einen Schweizer Europadiskurs im Zeichen der Tell-Figur (Schillers) nachdenken. Dass an dieser Stelle wieder Utopien, wenn nicht sentimentalisch-elegische Ideen zum

47 Matt, Die tintenblauen Eidgenossen, S. 12, S. 226. 48 Marchi, Otto: Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft. Zürich: Edition Praeger AG 1971, S. 184f. 49 Schröder, Jürgen: Wilhelm Tell für die Schule als Max Frisch für die Schule. In: Knapp, Gerhard P. (Hg.): Max Frisch. Aspekte des Prosawerks. Frankfurt/M.: Peter Lang 1978, S. 237–249, hier 246f. 50 Charbon, Rémy: Tells literarische Metamorphosen. In: Heuser, Mechthild/Wirtz, Irmgard (Hg.): Tell im Visier. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 221–256, hier S. 247.

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Tragen kommen, schränkt den Wert solcher Ansätze freilich ein.51 Immerhin hat die Schiller-Feier 2004 eine gemeinsame Aufführung von Weimar und Urschweiz auf der Rütli-Wiese gebracht, mit Bühnenskulpturen von Günther Uecker.52 Neben einem solcherart entspannten Umgang mit einer historisch-mythischen Tradition flammt immer wieder der Streit darüber auf, wie aller Entmythisierung zum Trotz die richtige Erzählung von Geschichte aussehen soll. In seinen, vor allem die nationalistischen Politiker provozierenden Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt, 2010 in Baden erschienen, demonstriert der Schweizer Historiker Thomas Maissen, dass selbstverständlich viele weiterhin an solche Heldenerzählungen glauben und sie für ihre Zwecke nutzen, seien es touristische, mediale oder politische. Sie können sich aber nicht länger auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen. Auch in den jüngst zurückliegenden Jahren stritten Historiker, Politiker und Journalisten, vorwiegend im Internet, wieder einmal trefflich über Erinnerungspolitik und den Stellenwert der Schweizer Geschichten. Man hatte 2015 sogar einen »Historikerstreit« ausgerufen, in dem es um weit mehr zu gehen schien, als nur um Wilhelm Tell. Dabei bewirkte die Tatsache, dass es sich um eine erfundene Figur handelt, so gut wie nichts. Mehr und mehr betonen Kritiker, dass gerade die obsessive Haltung einer wie auch immer gearteten »Landesverteidigung« keinen Weg in die Zukunft eröffne. Und das erinnert an die hitzigen Debatten um 1970. Max Frisch formulierte das in seinem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold so: Ich wollte einfach den Missbrauch dieses Mythos für die Schule – drum heißt es auch »Wilhelm Tell für die Schule« – ein bißchen angehen, gar nicht bitterbös – aber die Reaktion darauf war dann zum Teil bitterbös.53

Literatur Arnold, Heinz Ludwig: Gespräch mit Max Frisch. In: Arnold, Heinz Ludwig: Gespräche mit Schriftstellern. München: C.H. Beck 1975, S. 9–73. Barkhoff, Jürgen/Heffernan, Valerie (Hg.): Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin: Walter de Gruyter 2010.

51 Barkhoff, Jürgen: Wilhelm Tell als Schweizer und als Europäer – im Kontext des Schweizer Europadiskurses. In: Alt, Peter-André/Lepper, Marcel (Hg.): Schillers Europa. Berlin: Walter de Gruyter 2017, S. 241–259, hier S. 257–259. 52 Piatti, Tells Theater, S. 241–258. 53 Arnold, Heinz Ludwig: Gespräch mit Max Frisch. In: Arnold, Heinz Ludwig: Gespräche mit Schriftstellern. München: C.H. Beck 1975, S. 9–73, hier S. 57.

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Barkhoff, Jürgen: Wilhelm Tell als Schweizer und als Europäer – im Kontext des Schweizer Europadiskurses. In: Alt, Peter-André/Lepper, Marcel (Hg.): Schillers Europa. Berlin: Walter de Gruyter 2017, S. 241–259. Bergier, Jean-François: Wilhelm Tell. Realität und Mythos. Aus dem Französischen von J. Winiger. München: List 1988. Blatter Michael/Groebner, Valentin: Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held unterwegs. Baden: hier + jetzt 2016. Charbon, Rémy: Tells literarische Metamorphosen. In: Heuser, Mechthild/Wirtz, Irmgard (Hg.): Tell im Visier. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 221–256. Christen, Gabriela: Wilhelm und seine Brüder. In: Heuser, Mechthild/Wirtz, Irmgard (Hg.): Tell im Visier. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 257–266. Frisch, Max: Blätter aus dem Brotsack. Zürich: Atlantis 1969. Frisch, Max: Dienstbüchlein. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974. Frisch, Max: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. Frisch, Max: Tagebuch 1966–1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972. Frisch, Max: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/M: Suhrkamp 1971. Heuser, Mechthild/Wirtz, Irmgard (Hg.): Tell im Visier. Zürich: Scheidegger & Spiess 2007. Kreis, Georg: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Zürich: Orell Füssli Verlag 2004. Leutenegger, Gertrud: Das verlorene Monument. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. Marchal, Guy P.: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel: Schwabe Verlag 2006. Marchi, Otto: Schweizer Geschichte für Ketzer oder Die wundersame Entstehung der Eidgenossenschaft. Zürich: Edition Praeger AG 1971. Matt, Peter v.: Kritischer Patriotismus. In: Matt, Peter v.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München/Wien: Hanser 2001, S. 137–141. Matt, Peter v.: Lehrer, Denker, Zeitgenosse. In: »Schweizer Monat« 11 (2013), S. 2. Meier, Bruno (Hg.): Das Unbehagen im Kleinstaat Schweiz. Der Germanist und politische Denker Karl Schmid (1907–1974). Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007. Muschg, Adolf: Apfelschuß war nicht gefragt. In: »Der Spiegel« Nr. 33 vom 9. August 1971, S. 98. Pabis, Eszter: Die Schweiz als Erzählung. Nationale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs »Stiller«, »Wilhelm Tell für die Schule« und »Dienstbüchlein«. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2010. Piatti, Barbara: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers »Wilhelm Tell«. Basel: Schwabe Verlag 2004. Sandberg, Beatrice: Geistige Landesverteidigung. In: Rusterholz, Peter/Solbach, Andreas (Hg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 208–231. Schmid, Karl: Gesammelte Werke. Bd. I: 1926–1950. Hg. von Thomas Sprecher und Judith Niederberger. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1998. Schmid, Karl: Unbehagen im Kleinstaat. Untersuchungen über Conrad Ferdinand Meyer, Henri-Frédéric Amiel, Jakob Schaffner, Max Frisch, Jacob Burckhardt. Zürich/Stuttgart: Artemis 1963.

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Schröder, Jürgen: Wilhelm Tell für die Schule als Max Frisch für die Schule. In: Knapp, Gerhard P. (Hg.): Max Frisch. Aspekte des Prosawerks. Frankfurt/M.: Peter Lang 1978, S. 237–249. Sprecher, Thomas: Karl Schmid (1907–1974). Ein Schweizer Citoyen. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2013. Stückelberger, Johannes: Hodlers Weg zum Nationalmaler am Beispiel seines »Wilhelm Tell«. In: »Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte« 53 (1996), S. 323–334. Stunzi, Lilly: Tell – Werden und Wandern eines Mythos. Bern: Hallwag 1973. Weidermann, Volker: Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010.

Monika Szczepaniak (Bydgoszcz)

»Um ihre polnischen Dörfer wiederzusehen, zerstören sie das Reich«. Soldatische Nationalismen in den österreichischen Romanen zum Ersten Weltkrieg

Der aufkeimende Nationalismus Das bekannte Diktum vom Ersten Weltkrieg als einer »Urkatastrophe«1 des 20. Jahrhunderts diente dem österreichischen Historiker Manfried Rauchensteiner im Jahre 2014 als Ausgangspunkt zum folgenden Urteil: Die Urkatastrophe war nicht die Entfesselung des Krieges, sondern der aufkeimende Nationalismus. Wenn sich Völker national determinieren, wenn sich die Menschen nur noch einer Nationalität zugehörig fühlen und ein größeres, multinationales Gefüge nicht mehr als sinnvoll ansehen, dann wird es gefährlich. Insofern bin ich derzeit gar nicht fröhlich. Denn der Nationalismus scheint in Europa wieder eine bestimmende Kraft zu werden.2

Die kollektivstärkende, heldenhaft-pathetische Idee der Nation als einigender Kraft und der ihr eingeschriebene Imperativ des Opfers, der durch die Gemeinschaft des Kampfes und die einzelnen heroischen Kämpfer hervorgebracht werden soll, wird besonders in krisenhaften Zeiten forciert, wenn eine Gefahr droht – ganz besonders die Gefahr des Krieges, der bekanntlich als »Vater« von Nationen und Nationalstaaten3 bezeichnet wird. Eine besondere Brisanz gewinnt diese tradierte Konstellation im Kontext der Habsburgermonarchie, in der nicht das nationale, sondern das dynastische Prinzip ausschlaggebend war. Eine der wichtigsten Manifestationen dieses Prinzips stellt das multinationale Armee1 Vgl. Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations 1875–1890. Princeton: Princeton University Press 1979, S. 3 (»the great seminal catastrophe of this century«). 2 Österreichische Nationalbibliothek: »Die Urkatastrophe war nicht die Entfesselung des Krieges, sondern der aufkeimende Nationalismus«. Der Historiker Manfried Rauchensteiner über der Ersten Weltkrieg und die von ihm zusammengestellte Ausstellung »An meine Völker!« URL: https://www.derstandard.at/story/1395363439721/die-urkatastrophe-war-der-aufkeimendenationalismus / letzter Zugriff am 27. August 2019. 3 Zur Symbiose von Nationsbild und Krieg vgl. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck 2000, S. 26–34.

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konzept der Monarchie dar, in der verschiedene Ethnien (Deutsche, Magyaren, Tschechen, Polen, Ruthener, Serben, Kroaten, Rumänen, Slowaken, Slowenen, Italiener) dem Kaiser und der Idee des gemeinsamen »Vaterlandes« verpflichtet waren. Nationalistische Strömungen beeinträchtigten aber den Prozess der gesamtstaatlichen Integration und bedrohten nicht zuletzt auch das komplexe Gefüge der k. u. k. Armee, die als eines der wenigen Konsolidierungskonzepte innerhalb des multiethnischen Reiches fungieren sollte. Nichtsdestotrotz wusste sich die dynastische Macht in der Öffentlichkeit in Form von allgegenwärtigen Uniformen, Militärparaden, Manövern und Märschen in Szene zu setzen – ein prächtiges Schauspiel, das die militärische Effizienz zu kurz kommen ließ. Von diesem »Volkloremilitarismus« (Kronenbitter) und einer intensiven kulturellen Repräsentation4 »gestärkt«, geht die k. u. k. Armee vom lange dauernden Friedenszustand in den Großen Krieg über, in dem die problematische Lage des Offiziers der Donaumonarchie auf die Spitze getrieben wird: Er avanciert zu »einer Art tragischen Helden […], der einerseits den Zusammenhalt des Gesamtstaates garantieren sollte, andererseits durch die Niederlage im Weltkrieg den Zerfall der Monarchie zelebrierte«5. 1914 folgen die »mannhaften« Österreicher, die sich als Helden sehen, dem kaiserlichen Ruf, um ihre geliebte Monarchie oder ihre Heimat zu verteidigen – das patriotische Spektakel des Aufbruchs in den Krieg verdeckt die zunehmende Pluralisierung und Fragmentierung der Gesellschaft. 1918 befindet sich die einst stolze k. u. k. Armee in einem desolaten Zustand, geplagt von Krankheiten, Desertionen und Meutereien: »Binnen weniger Wochen bewegten sich Millionen von Soldaten, mehr oder weniger geordnet, in geschlossenen Verbänden, in Gruppen oder allein, entlang der Hauptverkehrslinien auf ihre Heimat zu, die nun in neuen Nationalstaaten lag.«6 Viele von ihnen geraten in eine schwierige existentielle Lage, aus der sie einen Ausweg nur im Nationalen bzw. Nationalistischen zu suchen wissen, das eine Antwort auf die von den heimkehrenden Offizieren diagnostizierte Männlichkeitskrise7 bietet und ein verlorenes militärisches Zugehörigkeitsgefühl in einer national definierten Gemeinschaft kompensieren soll. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg erreicht die Maskulinität als 4 In zahlreichen Texten der österreichischen Literatur erscheint der Offizier als Schlüsselfigur des Habsburgermythos, zugleich aber wird er oft als Vorreiter des nahenden Zerfalls der Donaumonarchie gezeigt. 5 Melichar, Peter: Metamorphosen eine treuen Dieners. Zum bürgerlichen Offizier der k. (u.) k. Armee im 18. und 19. Jahrhundert. In: Hoffmann, Robert (Hg.): Bürger zwischen Tradition und Modernität. Wien/Köln Weimar: Böhlau 1997, S. 105–141, hier S. 128. 6 Etschmann, Wolfgang: Die Südfront 1915–1918. In: Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hg.): Tirol und der Erste Weltkrieg. Innsbruck/Wien: Österreichischer Studienverlag 1995, S. 27–60, hier S. 57. 7 Die heimkehrenden Offiziere diagnostizierten nicht nur eine Männlichkeitskrise, sondern verbreiteten selbst eine Krisenrhetorik als Strategie der Resouveränisierung des Mannes.

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nationales und politisches Symbol in europäischen Kulturen ihren Höhepunkt,8 was sich nicht zuletzt auf den Verlust der ideellen Heimat bzw. der geordneten Struktur des Militärs zurückführen lässt. Im Angesicht der Unhaltbarkeit der österreichischen Identität artikulieren zahlreiche österreichische Intellektuelle ihre Faszination für die »deutsche« nationale Idee. 1918 notiert Robert Musil Folgendes: »Die einzige Menschenschablone von Wert und Reiz, die Deutschland erzeugt hat, ist der Offizier. In ihm hat der Deutsche Haltung. Seine Leistungen sind wunderbar. Er ist wirklich (wissenschaftlich nüchtern gemeint) der Idealtypus des Deutschen.«9 Der österreichische Mann, ganz besonders der (ehemalige) Soldat, erscheint immer mehr als eine Spielart des Deutschen – das funktioniert zumindest als Idee oder Sinnstiftung für einen exklusiven Kreis von Offizieren, die sich mit der Konstruktion der deutschen militärischen Männlichkeit identifizieren Im Folgenden wird versucht, einige literarische Darstellungen des Übergangs vom multinationalen Kontext der k. u. k. Armee zu einer national bestimmten Friedenszeit des Nachkriegslebens in einigen österreichischen Romanen zum Ersten Weltkrieg zu analysieren. Das mit dem Machtverlust gepaarte Kriegsende bedeutet für viele Offiziere, die in den Romanen schon während des Krieges über die Nationalismen-Problematik diskutieren, die Notwendigkeit einer aktiven Bewältigungs- oder Kompensationsstrategie. In diesem Zusammenhang bietet sich die deutschnationale Bewegung als eine idée force bzw. eine Konzeption neuer sozialer Ordnung an. Da die heimkehrenden Frontoffiziere in der Republik quasi die Kriegserinnerungsarbeit übernehmen, dominieren in diesem Diskurs die Idee der Remilitarisierung und der Gedanke an die Solidarität mit denjenigen, die den Soldatentod erlitten haben. Bei der Rückkehr in die Friedensgesellschaft sahen viele Offiziere und Soldaten ihre Machpositionen als gefährdet und versuchten, ihre durch Kriegserfahrung desavouierte Männlichkeit wieder aufzurichten. Aus der Sicht der politisch turbulenten frühen 1930er Jahre werden aus dem Krieg emotionale Bindekräfte gewonnen sowie Ab- und Ausgrenzungen vorgenommen, um ein Konzept der Nation als ein Solidaritätsverband zu etablieren und die Vision des Staates als »männliche« Institution durchzusetzen.

8 Vgl. Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt/M.: S. Fischer 1997, S. 201. 9 Musil, Robert: Gesammelte Werke. Bd. 8: Essays und Reden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1344.

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»Bleibt deutsch!« In vielen Erinnerungstexten und Romanen wird »das Ende der alten Armee«10 geschildert, die unter extremen Bedingungen große Heldentaten vollbracht habe und am Ende des Krieges einen »Heerzug des Elends«11 darstelle. So verhält es sich in den Texten von Fritz Weber,12 der einen österreichischen Heros-Typus entwirft, um die negativen Mythen von angeblich feigen und schwachen k. u. k. Soldaten, der im Schatten der deutschen »Stahlhelden« stand, zu widerlegen. Die Aufwertung der österreichischen militärischen Männlichkeit, die sich im titanischen Kampf gegen eine erdrückende Überzahl von Gegnern und gegen die überwältigenden Naturkräfte der Alpenlandschaft und des Wetters gleichsam märtyrerhaft zu bewahren suchte und deren Untergang glanzvoll und ehrenhaft war, präsentiert sich als ein Sinnstiftungsversuch und Kommentar zum ›aktuellen‹ Kleinstaat, der das symbolische Kapital der k. u. k. Helden übernehmen soll. Auf die Frage: »Was hält diese Leute noch zusammen?« bietet sich die Antwort an: »Treue, Kameradschaft und – Furcht. Furcht vor dem Alleinsein, vor dem Untergang als Einzelgänger.«13 Durch die nationalen Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen werden die ehemaligen Kampfgenossen zu Todfeinden, die bewährten Gemeinschaften zerfallen, die gemeinsame Idee verliert an Aktualität und es gibt »keinen Dank des Vaterlandes, keinen feierlichen Empfang, und wie das alles so schön aus Liedern säuselt«14. In Webers Das Ende der Armee (1931) ist ein Subtext deutlich lesbar, der eine Kontinuität durch Erinnerung und Mythisierung beschwört, aber auch eine Sehnsucht nach einer neuen großen soldatischen Gemeinschaft nach dem Muster der perfekten deutsch-österreichischen Kämpfer artikuliert. Diese deutsch-nationale Aus10 Weber, Fritz: Das Ende der Armee (1931), die Ausgabe 1959 unter dem Titel Das Ende der alten Armee. Österreich-Ungarns Zusammenbruch. (Salzburg/Stuttgart: Verlag Das Bergland-Buch 1959). 11 Ebd., S. 368. 12 Weber rückte 1915 ein und kämpfte an wichtigsten Kampflinien der Sünwestfront. Ab den frühen 30er Jahren sind von ihm in Österreich und Deutschland einige Erinnerungsbücher erschienen: Das Ende der Armee (1931), Menschenmauer am Isonzo (1931), Sturm an der Piave (1931), Granaten und Lawinen (1932) oder Frontkameraden (1935). Seine Bücher haben die österreichische Erinnerungskultur an den Krieg gegen Italien nachhaltig geprägt. Christa Hämmerle hat gezeigt, wie Weber sich in den 30er Jahren politisch positionierte und wie er schon vor dem Anschluss Österreichs an das Großdeutsche Reich für die Verbreitung der deutschnationalen Ideologie kämpfte. Vgl. Hämmerle, Christa: »Es ist immer der Mann, der den Kampf entscheidet, und nicht die Waffe…«. Die Männlichkeit des k. u. k. Gebirgskriegers in der soldatischen Erinnerungskultur. In: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2006, S. 35–60. 13 Weber, Das Ende der alten Armee, S. 314. 14 Ebd., S. 396.

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richtung ist charakteristisch für viele Kriegstexte von in den Krieg involvierten Autoren, die sich von der »ungeliebten« Republik distanzieren und eine Rehabilitierung der Offiziersideologie postulieren. Gleichzeitig manifestiert sich in diesen Texten eine in der Ersten Republik verbreitete »deutsche« Sehnsucht – verstanden als eine Suche nach dem »Anschluss« an die Gemeinschaft der »harten« und »starken« Deutschen. In der Gedächtniskonstruktion des austrofaschistischen Ständestaates repräsentierte der Alpenraum als Schauplatz heroischer Kämpfe, wie ihn beispielsweise Fritz Weber schildert, die Monumentaliät des Kriegsgeschehens, das den »Kleinstaatbürgern« als geradezu übermenschliche Leistung dargestellt wird. Wie Werner Suppanz argumentiert, ließ sich dieser harte Krieg »als Front, an der die Verteidigung (deutsch-)österreichischen Territoriums plausibel gemacht werden konnte und (Deutsch-)Österreicher für nationale Ziele kämpften«, emotional »besonders wirkungsvoll darstellen«15. Das Bedürfnis nach stolzer Erinnerung an die »in Ehren untergegangene österreichisch-ungarische Armee« kommt auch im Erinnerungsroman des Schriftstellers und Heimwehr-Funktionärs Bodo Kaltenboeck Armee im Schatten (1932) zum Ausdruck. Kaltenbocks Männlichkeitskonstruktion steigert sich ins National-Aggressive, schließt die Möglichkeiten von Krisen, Umgestaltungen, verschiedene Haltungen aus und glorifiziert – ganz wie bei Weber – die kleine Elite der »richtigen« Kämpfer. Interessanterweise wird in Armee im Schatten mehrmals über die gravierenden Unterschiede im sinnstiftenden Koordinatensystem der deutschen und österreichischen Offiziere und Soldaten diskutiert. Die Attitüde der Wehrhaftigkeit wird weder den deutschen noch den österreichischen Männern abgesprochen, doch es gibt Differenzen zwischen der preußischen »Disziplin« und der österreichischen »Gemütlichkeit«, die freilich auf die jeweilige Männlichkeitskonstruktion abfärben und die »Waffenbruderschaft« problematisch erscheinen lassen. Der deutsche Offizier Kabisch ist empört über die höflichen Umgangsformen in der k. u. k. Armee und schickt sich an, »die Schlamperei« gründlich in Ordnung zu bringen16. Ihm wird erläutert, dass härtere Maßnahmen nicht nötig seien, solange die auf Kameradschaftsbasis hergestellte Disziplin funktioniere. Der Österreicher brauche seine »Kriegerschaft« nicht zur Schau zu stellen und er besitze die Fähigkeit, zwischen Schlachtfeld (Frontgeschehen) und Kaffeehaus (Etappe) problemlos zu changieren. Der temporäre Krieger aus der Donaumonarchie finde in seinem militärischen 15 Suppanz, Werner: »Die große Tat will große Erben«. Der Erste Weltkrieg im Alpenraum in den Gedächtniskonstruktionen des »autoritären Ständestaates«. In: Kuprian, Hermann J. W./ Überegger, Oswald (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2006, S. 427–440, hier S. 438. 16 Kaltenboeck, Bodo: Armee im Schatten. Die Tragödie eines Reiches. Wien/Leipzig: Adolf Luser 1938, S. 61.

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Universum Platz und Raum für Frauen und Amüsement, er gehe nicht »in Stahlgewittern« auf. Die besonderen »österreichischen« spielerisch-performativen Aspekte der Männlichkeitskonstruktion werden wie folgt auf den Punkt gebracht: Darum sind wir ja auch die Operettenfiguren auf unseren Bühnen. Immer elegant, immer höflich, immer liebenswürdig, immer Walzer tanzend. Den Ernst hinter unseren lächelnden und höflichen Verbeugungen sieht man nicht. Aber wir wollen es so; wir haben zu viel alte Kultur. Wir sind selbst schuld. Die Deutschen sind da klüger. Wenn ein deutscher Leutnant je ein öffentliches Lokal betritt, so weiß man, daß ein kleiner Kriegsgott gekommen ist. Die guten deutschen Spießer rücken ängstlich zusammen, wie sie fürchten, es könne gleich zu donnern anfangen. – Aber ich wollte, wir hätten etwas von ihrem Selbstbewußtsein.17

Im Unterschied zu den Deutschen erscheinen die österreichischen Offiziere als mondäne Männer vom europäischen Schlag, die durch verschiedene nationale Kulturen geprägt worden sind. In dieser soldatischen Diskussion wird das homogene Paradigma des Nationalen als Voraussetzung der nationalistischen Ideologie einer Haltung der Offenheit und Toleranz gegenübergestellt: Wen man die Akademie in Wiener Neustadt besucht hat, wenn man als Leutnant in Budapest diente, als Oberleutnant in Prag, als Hauptmann in Lemberg, als Major in Laibach oder in Agram, als Oberstleutnant in Trient oder in Triest, als Oberst in Innsbruck, dann wieder in Sarajevo oder in Mostar und weiß Gott bei sonst welchen Völkern, hat man allmählich einen weiteren Horizont und größere menschliche Auffassungen, als wenn man Zeit seines Lebens nichts anderes als einen deutschen Kasernenhof gesehen hat. Dann verlieren sich die Kasernenhofmanieren, und man erkennt, daß man anderen Völkern gegenüber mit nationalistischen Anschauungen nicht weiterkommt.18

Andererseits wird im Roman auch eine Frage formuliert, die diese österreichische Vielfältigkeit im militärischen Kontext problematisiert: »Sind nicht in dieser mitteleuropäischen Armee die Grundzüge einer gemeinsamen Armee aller Schwachen enthalten? – Ist sie Vorbild oder Erinnerung?«19 Es wird mehrmals betont, dass die nationalen Unterschiede die Schlagkraft der Regimenter hemmen und die österreichische Gemütlichkeit durch einen »deutschen« Schwung ersetzt werden sollte: »Höchste Zeit, dass wir die Schlamperei gründlich in Ordnung bringen!«20 Obgleich das Reich zerfällt, halten die Offiziere und Soldaten an ihrem Kampfethos und der Treue, was manch ein Urteil über den verrufenen »Kameraden Schnürschuh« korrigieren lässt: »die vielgeschmähten 17 18 19 20

Ebd., S. 164. Ebd., S. 170. Ebd., S. 21. Ebd., S. 61.

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Österreicher halten selbst dort noch, wo neben ihnen die Deutschen zurückgehen«21. Noch stehen die Fahnen im Sturm, noch tun die Soldaten ihre Pflicht, um bald durch die Straßen gehetzt und der kaiserlichen Sterne beraubt oder als komische Helden belächelt zu werden. Der Offizier Terzy verzweifelt allerdings nicht – er will nach Deutschland gelangen und weiter für das große Reich kämpfen: »Ich habe eine krankhafte Sehnsucht, Ordnung zu sehen, Befehle und Signale zu hören. Und Maschinengewehre!«22 Die ordnungsstiftende Kraft homogen-nationaler Diskurse erscheint den enttäuschten und gedemütigten Offizieren in der »postkakanischen« Realität als ein Hoffnungsschimmer. In diesem Sinne tragen die Helden des Erinnerungsromans von Klaus Fein Berg des Blutes, die im Krieg von aller Weichheit ›befreit‹ wurden, das Vermächtnis ihrer toten Kameraden in die Täler, Städte und Dörfer: »Ihr seid Kämpfer für das große Deutschland! – Bleibt deutsch!«23

»Galizische Hammelherde« Mit Alexander Lernet-Holenias Roman Die Standarte (1934) liegt ein anderer Text vor, in dem die Mentalitätsunterschiede zwischen den Deutschen und Österreichern deutlich hervorgehoben werden. Der deutsche Offizier Bottenlauben kann den Ungehorsam in der Armee nicht nachvollziehen. Die Verweigerung des Befehls, sich auf das andere Donau-Ufer zu schlagen, empfindet er als Wahnsinn: Ihr seid wohl alle wahnsinnig! Die Mannschaft geht nicht über die Donau! Bekommt den Befehl und geht einfach nicht! Was sind denn das bei euch für Zustände! Eine Order wird erwartet, und ihr sitzt da und besprecht schon, ob sie überhaupt befolgt werden wird oder nicht! Das ist doch wirklich nur bei euch möglich! Ich will nichts weiter gesagt haben, aber das möchte ich sehen, ob bei uns, wenn ein Befehl kommt, einer der Kerls auch nur wagen würde, davon zu träumen, ihn nicht zu befolgen!24

In einer längeren Ausführung versucht der Offizier Anschütz ihm die Sache zu erklären: Er spricht von der ruhmreichen Tradition der multiethnischen Armee, von der außerordentlichen Leistung, die verschiedenen Völkergruppen zusammenzuhalten, und vom Beginn einer neuen Ära, in der die Völker des europäischen Kolonialreiches beginnen, sich als Nationen zu fühlen und von den Deutschen fortzustreben. Und da müssen die Deutschen, die sich als Nation 21 Ebd., S. 292. 22 Ebd., S. 305. 23 Fein, Klaus: Berg des Blutes. Bilder aus dem Krieg in Fels und Eis der Dolomiten. München: Manz o. J., S. 88. 24 Lernet-Holenia, Alexander: Die Standarte. Roman. Wien: Zsolnay 1996, S. 93.

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betrachten, begreifen können, dass auch die anderen beginnen, sich als Nationen zu fühlen. Die meuternden Soldaten werden nicht der Feigheit und Schwäche bezichtigt und als unmännlich abgestempelt, sondern ihnen wird das Recht zuerkannt, sich um »ihre galizischen Äcker und kleinen Häuser« zu kümmern,25 statt für das Schicksal Deutschlands und der Welt einstehen zu müssen. Leutnant Menis allerdings, der sich darüber Gedanken macht, versteht die Motivation der nichtdeutschen Soldaten nicht: »Um ihre polnischen Dörfer wiederzusehen, zerstören sie ein Reich.«26 An einer anderen Stelle kommt es zu einer Konfrontation zwischen Bottenlauben und dem polnischen Offizier Charbinski. Der letztere erläutert den temporären Charakter der k. u. k. Soldaten: »Sie bleiben, auch in Uniform, immer noch die Bauern, die sie sind. Sie haben infolgedessen ganz andere Interessen als wir.«27 Die Mannschaft besitze einen militärischen Geist nicht von Natur aus, sondern er sei ihr anerzogen worden. Und möglicherweise sei es ein Fehler gewesen, die Bauern überhaupt zu Soldaten zu machen. Deshalb hat Charbinski keine Absicht, die von Bottenlauben als »galizische Hammelherde« bezeichneten Meuterer zu bestrafen. Hier wird deutlich sichtbar, dass solche Kategorien wie Gehorsam, Disziplin und Strafe als Mittel der Distinktion fungieren. Der deutsche Offizier, den Charbinski an einer anderen Stelle als einen ›verdammten Preußen‹ bezeichnet, ist nämlich der Meinung, man müsse die Soldaten dazu zwingen, Befehlen zu gehorchen. Der soziale Habitus des bedingungslosen Gehorsams, in der deutschen Armee »kanonisiert«, wird von manchen österreichischen Offizieren mit großer Distanz betrachtet, von den anderen jedoch bis zum Schluss praktiziert, auch wenn sich die Armee aufgelöst hat und die Soldaten chaotisch den Weg nach Hause suchen: »sie wollten bloß heim, ließen sich in ihrer Aufführung gehen, waren nur noch eine kopflose Herde, durch den Soldaten brach der Prolet durch, es war das Ende«28. Aus den Diskussionen unter den Soldaten geht hervor, wie kompliziert die Konstruktion der militärischen Männlichkeit in der Donaumonarchie ist, wie sich Geschlecht als relationale Kategorie mit Klasse, Schicht und Ethnie verwebt, wie Hierarchien und Unterordnungen entstehen und wie unterschiedlich sie interpretiert werden. Die nationale Zugehörigkeit oder der nationale Diskurs, der an Relevanz gewinnt, spielen dabei, ganz besonders am Kriegsende, eine bedeutende Rolle. Gleichwohl werden die deutsch-österreichischen Offiziere aus der Sicht des postimperialen Österreichs zu privilegierten und dominierenden Figuren, die sich gegenüber von Nicht-Deutschen und Nicht-Offizieren durch Kaisertreue und Festhalten am 25 26 27 28

Ebd., S. 95. Ebd., S. 112. Ebd., S. 198. Ebd., S. 271.

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Ethos der »alten Armee« auszeichnen. Menis findet in der Nachkriegszeit keinen Ort für sich und sucht immer wieder nach seiner militärischen Vergangenheit und deren Repräsentationen. Sowohl die Rolle der ethnisch-nationalen Diskurse als auch das Konzept der im Roman Die Standarte konstruierten Männlichkeit weichen wesentlich vom Bild der kämpferischen Militanz, wie es für die nationalvölkische Literatur charakteristisch ist. In seinem kriegskritischen Offiziersroman Die große Phrase (1919) zeigt Rudolf Jeremias Kreutz österreichische Offiziere diverser nationaler Provenienz zum »vielstimmigen Chor der k. u. k. Armee« vereinigt. Die Offiziere sind füreinander zuweilen Gegenstand der Faszination, aber sie kommen nicht ohne Reibereien und Rivalitäten aus. Zillner bewundert die Ungarn für ihre »feurige, unbedenkliche Männlichkeit«, »Herrengefühl«, »Ritterlichkeit und Schwung«, bemerkt aber auch ihren Chauvinismus, »eine Kurzsichtigkeit in Reichsangelegenheiten«29 und die Bereitschaft, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen und gleichzeitig das Reich zu schwächen. Der bürokratisch engstirnige und ängstliche Major Blagorski schimpft über »die psia-krew-Ruthenen und viele Schweine von czechischen [sic!] Regimentern«30. Der tschechische Leutnant Spicka ist skeptisch und kriegsunwillig, und was ihn bewegt, vertraut er niemandem, »denn mit Deutschen und Ungarn Vertraulichkeit haben –? […] lieber stumm bleiben und die stolze Freude seines slawischen Herzens in sich verschließen. Nazdar, dass es den Germanen scheinbar nicht gut ging!«31. Der Maler Karl Albert Kraft setzt auf »deutsche Kraft, deutsche Zähigkeit« und verliert den Glauben an die Österreicher, die nur »ein dynastischer Begriff« seien und den Reichsgedanken nicht mehr erfassen32. Auch Zillner, der sich allmählich zu einem Pazifisten entwickelt, bewundert aufrichtig die »ungeheure Kraft« der Deutschen, obwohl ihm »die Überhebung und Selbstverhimmelung« der »rücksichtslosen Erobererrasse«33 widerwärtig erscheinen. Das Ankommen der deutschen Truppen bedeutet einen Umschwung im Verlauf des Kriegsgeschehens und illustriert den Unterschied zwischen der deutschen und österreichischen militärischen Männlichkeit sowie die Notwendigkeit, den österreichischen Offizier nach deutschem Muster umzuformen: »Das Gesicht der Landschaft wird stählern, keine weiche Sterbensmelancholie mehr, keine Verschwommenheit, kein hypokratischer Zug […]«34. Insgesamt werden die Deutschen als »ungemütlich« und »zu selbstbewusst« bewertet, gleichzeitig aber beneidet: »Halbschlächtig waren wir, die sind ganze

29 30 31 32 33 34

Kreutz, Rudolf Jeremias: Die große Phrase. Bd. 1. Zürich: Max Rascher Verlag 1919, S. 53. Ebd., Bd. 1, S. 182. Ebd., Bd. 2, S. 98. Ebd., Bd. 2, S. 129. Ebd., Bd. 2, S. 170. Ebd., Bd. 2, S. 173.

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Kerle.«35 Hier wird erneut eine Opposition zur metallisch-harten preußischen Maskulinität deutlich, mit der die österreichische Männlichkeit stets verglichen und konfrontiert wird, die aber auch als ein attraktives Muster erscheint. Die nationalen Spannungen werden in diesem Roman besonders krass hervorgehoben. Die Vertreter verschiedener Nationen misstrauen einander und urteilen über die Kameraden mit einem anderen ethnisch-nationalen Hintergrund durchaus kritisch, wobei die deutsche »stählernde« Herrschaftskultur immer wieder als konkurrenzfähig zu der eigenen wahrgenommen wird.

Grablegung des sacrificium nationis Der Erste Weltkrieg bedeutet eine Zäsur in der Wahrnehmung des »Österreichertums«: »Jedenfalls hat es vor 1914 kein Essayist unternommen, die deutschsprachigen Bewohner der Donaumonarchie von den Deutschen des Bismarckreichs zu differenzieren.«36 Das änderte sich schon in den ersten Monaten des Krieges und ab 1915 war der Verzicht auf die Relevanz der österreichischen »Differenz« zu Deutschland fast unvorstellbar.37 Dieser Diskurs findet auch Eingang in die österreichische Literatur zum Ersten Weltkrieg, in der die kulturelle Symbiose verschiedener Völker und die daraus resultierende Humanität oft – besonders in militärischen Kontexten – als eine Art Last der Untauglichkeit diskutiert wird. Der österreichische Kavalier wird dem deutschpreußischen disziplinierten Offizier gegenübergestellt und unterschiedlich bewertet. Bereits 1919 weist Robert Musil in Buridans Österreicher darauf hin, dass es schier unmöglich sei, sich zwischen den zwei Heubündeln, Donaumonarchie und Großdeutschland, zu entscheiden.38 Viele Stimmen meinen, der Österreicher solle sich zum Deutschen wandeln, und verbreiten somit eine Vision, nach der die Erste Republik in Deutschland aufgehen sollte. 1936 prägte Franz Werfel die bekannte Formel sacrificium nationis, die das Hauptmerkmal des Österreichers an sich charakterisieren sollte, nämlich die »Selbstaufopferung der Nationalität«39. Werfel führt aus:

35 Ebd., Bd. 2, S. 179. 36 Johnston, William M.: Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Wien/Köln/Graz: Böhlau 2010, S. 53. 37 Ebd. 38 Musil, Robert: Buridans Österreicher. In: Musil, Robert: Gesammelte Werke 2: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1955, S. 835–837. 39 Werfel, Franz: Ein Versuch über das Kaisertum Österreich. In: Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. Hg. von Adolf D. Klarmann. München: Langen Müller 1975, S. 494–520, hier S. 517.

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Wer die Idee in ihrer Tiefe begreift, kommt zu dem Schluss, dass der wahre Österreicher immer nur ein gelernter Österreicher sein konnte. Denn Österreicher sein heißt ja gerade, alles Blutgebundene, Instinktmäßige, Dämonische überschritten zu haben und zum abendländischen Allmenschen umgeschaffen worden zu sein in der Lehre des Reiches.40

Diese Idee des gelernten »Österreichertums«, der nationalen Selbstverleugnung, der ethnischen Entwurzelung führte laut Werfel zur Schwächung der Beamten und Staatsmänner – sowohl in existentieller als auch sozialer Hinsicht – und hatte tragische Konsequenzen. Unabhängig davon, wie der Zerfall der Donaumonarchie und dessen Folgen beurteilt werden, werden die österreichischen Soldaten und Offiziere mit der Erkenntnis der Unüberwindbarkeit der nationalen Gegensätze und mit dem Abschied von der Idee der multinationalen Harmonie konfrontiert. Die anfangs zitierte Diagnose von Rauchensteiner findet eine nostalgische literarische Illustration im berühmten Drama von Franz Theodor Csokor 3. November 1918 (1936). Csokor scheint sich sowohl von den patriotisch-nationalen Tendenzen als auch von der Vision eines gesamtdeutschen Reiches zu distanzieren, vielmehr betrauert er den Zerfall der k. u. k. Armee und konstruiert eine Rückzugsutopie mit einer starken Betonung des übernationalen Ideals. Das Drama handelt von einer Gruppe von Offizieren aus verschiedenen Nationen der Monarchie, die das Kriegsende und den Zusammenbruch der österreichischen Armee und der Habsburgermonarchie erleben. Der dienstälteste Offizier, Oberst Radosin, vertritt als einziger die übernationale Idee des sterbenden Reiches und versucht, die zerfallende Gruppe zusammenzuhalten, damit sie »für das Vaterland dieser Armee, ein Vaterland über den Völkern!«41 weiter kämpft. Doch die Offiziere werden sofort vom Nationalbewusstsein ergriffen und wollen in ihre neue(n) Heimat(en) aufbrechen. Radosin appelliert an das Soldatentum der Offiziere, aber der Ungar Orvanyi verkündet: »Herr Oberst – als alter Kavallerist – wir sind nicht aus einem einzigen Stall wie drüben die Deutschen!«42 Radosin zieht die einzig mögliche Konsequenz; da er nirgendwohin gehört (kein Ungar, kein Kroate, kein Pole, kein Deutscher – er ist Österreicher), tötet er sich als letzter, heimatlos gewordener Stellvertreter für Reich, Kaiser und Armee. Die Offiziere werfen Erde in sein Grab, wobei jeder diesen Akt als nationales Bekenntnis inszeniert (Erde aus Ungarn, Polen, Kärnten, Slowenien, Tschechien, Italien) und nur der jüdische Arzt Dr. Grün spricht zögernd und verlegen folgende Worte aus »Erde aus Österreich«. Diese Szene kann als eine symbolische »Grablegung« des Prinzips sacrificium nationis interpretiert werden. Die Offi40 Ebd. 41 Csokor, Franz Theodor: 3. November 1918. Wien/Hamburg: Zsolnay o. J. [1965], S. 30f. 42 Ebd., S. 49.

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ziere beten am Grab und gehen auseinander – jeder zu seiner Nation. Die ›Summe‹ der Nationalismen funktioniert nicht mehr.

Literatur Csokor, Franz Theodor: 3. November 1918. Wien/Hamburg: Zsolnay o. J. [1965]. Etschmann, Wolfgang: Die Südfront 1915–1918. In: Eisterer Klaus/Steininger, Rolf (Hg.): Tirol und der Erste Weltkrieg. Innsbruck/Wien: Österreichischer Studienverlag 1995, S. 27–60. Fein, Klaus: Berg des Blutes. Bilder aus dem Krieg in Fels und Eis der Dolomiten. München: Manz o. J. Hämmerle, Christa: »Es ist immer der Mann, der den Kampf entscheidet, und nicht die Waffe…«. Die Männlichkeit des k. u. k. Gebirgskriegers in der soldatischen Erinnerungskultur. In: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2006, S. 35–60. Johnston, William M.: Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Wien/Köln/Graz: Böhlau 2010. Kaltenboeck, Bodo: Armee im Schatten. Die Tragödie eines Reiches. Wien/Leipzig: Adolf Luser 1938. Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations 1875–1890. Princeton: Princeton University Press 1979. Kreutz, Rudolf Jeremias: Die große Phrase. Bd. 1. Zürich: Max Rascher Verlag 1919. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München: C.H. Beck 2000. Lernet-Holenia, Alexander: Die Standarte. Roman. Wien: Zsolnay 1996. Melichar Peter: Metamorphosen eine treuen Dieners. Zum bürgerlichen Offizier der k. (u.) k. Armee im 18. und 19. Jahrhundert. In: Hoffmann, Robert (Hg.): Bürger zwischen Tradition und Modernität. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1997, S. 105–141. Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt/M.: S. Fischer 1997. Musil, Robert: Buridans Österreicher. In: Musil, Robert: Gesammelte Werke 2: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1955, S. 835–837. Musil, Robert: Gesammelte Werke. Bd. 8: Essays und Reden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Suppanz, Werner: »Die große Tat will große Erben«. Der Erste Weltkrieg im Alpenraum in den Gedächtniskonstruktionen des »autoritären Ständestaates«. In: Kuprian, Hermann J. W./Überegger, Oswald (Hg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2006, S. 427–440. Weber, Fritz: Das Ende der alten Armee. Österreich-Ungarns Zusammenbruch. Salzburg/ Stuttgart: Verlag Das Bergland-Buch 1959. Werfel, Franz: Ein Versuch über das Kaisertum Österreich. In: Werfel, Franz: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. Hg. von Adolf D. Klarmann. München: Langen Müller 1975, S. 494–520.

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Internetquelle Österreichische Nationalbibliothek: »Die Urkatastrophe war nicht die Entfesselung des Krieges, sondern der aufkeimende Nationalismus«. Der Historiker Manfried Rauchensteiner über der Ersten Weltkrieg und die von ihm zusammengestellte Ausstellung »An meine Völker!« URL: https://www.derstandard.at/story/1395363439721/die-urkatastro phe-war-der-aufkeimende-nationalismus / letzter Zugriff am 27. August 2019.

Literaturdiskurs III: Osteuropa

Małgorzata Dubrowska (Lublin)

Klagelied und Aufschrei. Zum Problem des polnischen Antisemitismus in Mordechai Zanins literarischer Reportage Iber sztejn un sztok (1952)

»Der Ort […], die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten«1, schreibt Timothy Snyder in Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin und meint dabei die Topographie des nationalsozialistischen und sowjetischen Terrors. In der Studie Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann2 bezeichnet der Historiker das Territorium Osteuropas, auf dem der Massenmord an den europäischen Juden begangen wurde, als »schwarze Erde«. Mordechai Zanin, polnischer Jude, Journalist und Schriftsteller,3 betritt in den Jahren 1946– 1947 mehrmals einen Teil der »Black Earth«, d. h. die Gebiete Zentral- und Ostpolens (nach der Grenzziehung 1945 die neuen östlichen Grenzgebiete) sowie Oberschlesiens, um von den Orten der Shoah4 Zeugnis abzulegen, wobei das von dem Autor befahrene Gebiet mit ehemaligen großen und kleinen Zentren des

1 Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München: C.H. Beck 2011, S. 9. 2 Vgl. hierzu Snyder, Timothy: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. München: C.H. Beck 2015. 3 Es gab auch andere Autoren, Journalisten und sozial-politisch engagierte Reporter jüdischer Herkunft, die in den Jahren 1946–1948 in Polen waren und als Mitglieder offizieller Delegationen vor allem Warschau, Łódz´, Ausschwitz-Birkenau und Niederschlesien besuchten. Zu nennen sind: Jakow Pat, Szmuel Lejb Sznajderman, Chaim Szoszkes und Joseph Tenenbaum. Vgl. Adamczyk-Garbowska, Monika: Krajobraz po Zagładzie. Relacje dziennikarzy z˙ydowskich z powojennej Polski [Landschaft nach der Shoah. Berichte jüdischer Journalisten aus dem Nachkriegspolen]. In: »Midrasz« Nr. 1 (2012), S. 16–20. Alle übersetzten Titel und Textauszüge – M.D. 4 Es geht hier nicht nur um die einstigen Orte des Schreckens, die Überreste der Vernichtungslager, sondern vor allem um große und kleine Ortschaften, in denen seit Jahrhunderten polnische Juden gelebt hatten und die ebenfalls zu Tötungsorten wurden. Zur aktuellen Diskussion über den veränderten Status der Vernichtungslager vgl. das von den Herausgebern des Bandes Orte der Shoah in Polen verfasste Kapitel Orte der Shoah: Überlegungen zu einem auratischen Missverständnis. In: Ganzenmüller, Jörg/Utz, Raphael (Hg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, S. 7– 24.

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ehemaligen jüdischen Lebens für ihn zum Pars pro toto des riesigen unsichtbaren Friedhofs ohne Särge und Gräber mutiert. Als ausländischer Pressekorrespondent – Zanin schreibt auf Jiddisch Reportagen für die New Yorker Zeitung »Forwerts« – bereist er ca. hundert vernichtete jüdische Gemeinden in Polen, befragt Zeugen, spricht mit polnischen Bauern, besucht devastierte jüdische Friedhöfe und Synagogen sowie die Gelände der Tötungsorte5 Treblinka, Kulmhof/Chełmno nad Nerem, Sobibór, AuschwitzBirkenau und Majdanek, trifft sich u. a. mit den Mitarbeitern der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission und Angestellten der neu gegründeten kommunistischen Behörden. Das Resultat seiner »einsamen Mission«6 ist das 1952 in Tel Aviv auf Jiddisch publizierte Buch Iber sztejn un sztok. A rajze iber hundert chorew-geworene kehiles in Pojlin7 [Über Stock und Stein. Reise durch hundert vernichtete jüdische Gemeinden in Polen], das 2018 erstmals auf Polnisch – es gibt keine englische oder deutsche Fassung der Reportage8 – mit dem Titel Przez ruiny i zgliszcza. Podróz po stu zgładzonych gminach z˙ydowskich w Polsce, in der Übersetzung von Monika Adamczyk-Garbowska erschienen ist. Mordechai Zanin (pl. Mordechaj Canin) ist als Mordechaj Jeszajahu Cukierman 1906 in Sokołów Podlaski geboren. Er hat in seiner Heimatstadt in einem Cheder und einer Jeschiwa gelernt und in Warschau ein polnisches Gymnasium besucht. Unter dem Pseudonym Canin, das zu seinem Namen wurde, debütierte er 1929 mit den auf Jiddisch verfassten Erzählungen und Feuilletons, die u. a. in den Zeitschriften »Ojfgang« und »Naje Folkscajtung« veröffentlicht wurden. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, nahm er an den Verteidigungskämpfen teil, 5 Zur sprachlichen Differenz der Begriffe »Vernichtungslager« – »Tötungsort« vgl. Utz, Raphael: Sprache der Shoah: Verschleierung – Pragmatismus – Euphemismus. In: Ganzenmüller, Jörg/ Utz, Raphael (Hg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, S. 25–49, hier S. 33, S. 47. Der Autor argumentiert, dass die Bezeichnung »Vernichtungslager« zwar keine Vokabel der Tätersprache ist, aber ein Euphemismus. 6 Vgl. den Titel des Essays von Monika Adamczyk-Garbowska Samotna misja Mordechaja Canina [Einsame Mission Mordechai Zanins]. In: Canin, Mordechaj: Przez ruiny i zgliszcza. Podróz˙ po stu zgładzonych gminach z˙ydowskich w Polsce [Über Ruinen und Trümmer. Reise durch hundert vernichtete jüdische Gemeinden in Polen]. Warszawa: Nisza 2018, S. 7–21, hier S. 7. 7 Einzelne Reportagen, die er in dem Tagesblatt »Forwerts« publizierte, wurden dann in sein Buch übernommen. 8 Die Bücher von Jakow Pat und Szmuel Lejb Sznajderman sind in der englischen Übersetzung erschienen, Joseph Tenenbaum schrieb auf Englisch. Monika Adamczyk-Garbowska erwägt die möglichen Gründe für die fehlende englische Fassung von Zanins Band; ihrer Ansicht nach war es vor allem die Tatsache, dass die Reportage eine extrem pessimistische Vision ist, während in der Nachkriegszeit eher die in die Zukunft weisenden Berichte gefragt waren. Darüber hinaus verweise der Titel selbst nicht auf die allgemeine Situation in Polen, sondern auf den jüdischen Kontext. Hinzu kommt, dass der Autor in Israel und nicht in den USA lebte. Vgl. dazu: Adamczyk-Garbowska, Samotna misja Mordechaja Canina, S. 8.

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kehrte nach der Kapitulation der polnischen Armee nach Warschau zurück, um nach zwei Monaten nach Litauen zu fliehen. In Kaunas bekam er vom japanischen Konsul Chiune Sugihara ein Visum und gelangte über Japan, Shanghai, Indien und Ägypten nach Palästina. In den Jahren 1947–1956 war er als Korrespondent der Zeitung »Forwerts« in Palästina und Israel tätig. Zanin hat sein Leben lang Erzählungen, Essays, Feuilletons, Reportagen und Romane auf Jiddisch publiziert, engagierte sich für die Pflege der jiddischen Sprache und Kultur, während das Establishment Israels vornehmlich die Wiederbelebung des Hebräischen anstrebte. Sein lexikographisches Verdienst ist das Große JiddischHebräische und Hebräisch-Jiddische Wörterbuch. Der Autor starb 2009 in Tel Aviv.9 Zanins Reise ist – anders als im Falle unzähliger amerikanisch-jüdischer Reporter – kein Besuch, sondern eine Rückkehr in die fremd gewordene Heimat. Der Journalist schildert eine verödete Landschaft mit blutgetränkter Erde, Aschengräbern und Ruinen. Die Ortschaften, die er als Zentren des jüdischen Lebens in Erinnerung hatte, findet er leer und öde vor. Er erlebt sie als Landschaften der (Toten)Stille. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Umbrüche und privaten Schicksale zeichnet er ein hoffnungsloses Bild des bangen Fristens der Shoah-Überlebenden in Polen. Das Kompositionsprinzip des Bandes beruht auf der Zusammenstellung von Vergangenheit und Gegenwart: Zanin konfrontiert die Erinnerung an die Vielfalt der einstigen jüdischen Aktivitäten mit den meist fehlgeschlagenen Versuchen der Überlebenden, mindestens die Strukturen des religiös-kulturellen Lebens10 wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Er porträtiert Menschen und Ortschaften, indem er eine Art historische Chronik der jüdischen Existenz in Polen schreibt11 und die Omnipräsenz der wirklichen und metaphorischen Trümmer ins Bild setzt. Die Reportage, in der Zanin oft einen pathetisch-emotionalen Ton anschlägt, ist vor allem ein Augenzeugenbericht, der in der Epoche des Ablebens von Zeitzeugen zu einer wichtigen historischen Quelle wird. Sein Bericht dokumentiert vornehmlich das Ausmaß der Menschenverluste und die Größe des materiellen Schadens, legt aber auch Zeugnis ab von der antisemitisch motivierten Haltung der polnischen Bevölkerung den Shoah-Überlebenden gegenüber. Diesem Aspekt soll in dem vorliegenden Beitrag nachgegangen werden.

9 Vgl. ebd., S. 9–11. 10 Alle jüdischen Parteien und Organisationen wurden im kommunistischen Polen 1949 aufgelöst. 11 Da er die Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens in Polen darstellen möchte, verzichtet er auf den Bericht aus Niederschlesien, dem ehemaligen deutschen Gebiet, in dem sich die meisten jüdischen Überlebenden nach dem Krieg niedergelassen haben, weil sie Angst hatten, in ihre inzwischen durch die Nachbarn bewohnten Häuser zurückzukehren.

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Identität – Aussehen – Mimikry Zanin gibt seine wahre Identität bei Gesprächen mit Juden und einigen Polen, zu denen er Vertrauen hat, preis. Da der Autor Polen mit einem britischen Pass bereist, gibt er sich vor seinen polnischen Gesprächspartnern für einen englischen Journalisten aus. Er spricht zwar ein vorzügliches akzentfreies Polnisch, täuscht aber unvollkommene Sprachkenntnisse vor. Als »Fremder« stellt er scheinbar naive oder banale Fragen, die die unerwartete Offenheit der interviewten Personen zur Folge haben. In dem Kommentar zu seiner Gesprächstaktik rekurriert er auf den Topos12 des sog. »arischen«, bzw. »nicht-arischen«/ »schlechten« Aussehens; eines Aussehens, das in dem von den Nazis besetzten Polen für viele untergetauchte Juden als Überlebensfaktor von entscheidender Bedeutung war, weil etliche Polen13 die aus den Ghettos geflohenen Juden, die sie oft an ihrem »nicht-arischen« Aussehen erkannten, verfolgt, erpresst und an die Deutschen verraten hatten. Nach den Pogromen, die in der Nachkriegszeit u. a. in Krakau (1945) und Kielce (1946)14 stattfanden, versteckt sich Zanin hinter der Maske des englischen Gentlemans mit dem fremdländischen Pass als Entréebillet und Schutzschild. Er sagt: »Ich habe kein jüdisches Gesicht«, und fügt hinzu: »ich habe gelernt, so hinzuschauen, dass meine Augen nicht als jüdisch erkannt werden, und vor allem konnte ich es beweisen, dass ich Engländer bin«.15 Als er in Treblinka – nachdem er in eine Grube gefüllt mit menschlichen Schädeln und Knochen hinabgestiegen ist – beim Befühlen kindlicher Überreste in Tränen ausbricht, verheimlicht er vor seinem Begleiter, einem polnischen Bürgermeister, die Gründe seiner Trauer. Aus der Perspektive eines potenziellen Opfers fragt er: »Wie konnte ich ihm sagen, dass ich kein Christ und kein Engländer bin, dass ich

12 Zum Topos des »schlechten« Aussehens sowie zum Topos der Ghettomauer als polnischjüdischer Trennlinie vgl. Breysach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005, S. 228. 13 In Warschau wurden die Juden auf den Straßen von den sog. Schmalzowniks [pl.szmalcownicy] aufgehalten, erpresst und den Deutschen ausgeliefert. Vgl. Grabowski, Jan: »Ja tego Z˙yda znam!« Szantaz˙owanie Z˙ydów w Warszawie 1939–1943 [»Ich kenne den Juden!« Erpressung der Juden in Warschau 1939–43]. Warszawa: PAN 2004. 14 Zu der antisemitisch motivierten Gewalt gegen die Juden in Polen der Nachkriegszeit vgl. Gross, Jan Tomasz: Strach. Antysemityzm w Polsce tuz˙ po wojnie. Historia moralnej zapas´ci. Kraków: Znak 2008 [dt. Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Aus dem Polnischen von F. Griese, unter Mitarbeit von U. Heiße. Berlin: Suhrkamp 2012]. 15 Canin, Mordechaj: Przez ruiny i zgliszcza. Podróz˙ po stu zgładzonych gminach z˙ydowskich w Polsce. Aus dem Jiddischen übersetzt von M. Adamczyk-Garbowska. Warszawa: Nisza 2018, S. 242 [»Moja twarz nie jest najgorsza, nauczyłem sie˛ patrzec´ tak, by moje oczy nie wygla˛dały na z˙ydowskie, a przede wszystkim mogłem udowodnic´, z˙e jestem Anglikiem«].

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Jude bin, einer von der Million, deren Asche und Knochen auf dem Höllenfeld verscharrt sind?«16 An vielen Stellen des Berichts hebt der Autor hervor, dass ihm die Juden abrieten, manche Ortschaften zu besuchen, weil es dort für einen »Fremden«– für einen Juden schlichtweg zu gefährlich sei. Dank seiner Tarnung trat jedoch Zanin auch solche Reisen an. Die andauernde Aggressivität und Gewalttätigkeit der Polen deutet er als den für die Mitschuldigen charakteristischen Abwehrmechanismus: Er ist der Ansicht, dass sie beim Anblick eines jüdischen Gesichts an ihre Mitschuld, an Mord und Raub, erinnert werden.17 Seinen Aufenthalt in Izbica [ jid. Izbic], dem einstigen jüdischen Städtchen,18 kommentiert er wie folgt: Kein Jude wagt es, diese Stadt zu betreten, weil die hiesigen Erben des jüdischen Besitzes den Anblick eines jüdischen Gesichts nicht ertragen können, denn es erinnert sie daran, dass sie nicht in ihren eigenen Wohnungen leben, nicht in ihren eigenen Läden einen Handel betreiben und dass selbst ihre Wäsche den ermordeten Juden angehörte. Als ich nach Lublin zurückkehrte und sagte, dass ich in Izbica war, sprachen die Juden den Segen über mich […]. Auch hier [in Izbica] profitierte ich von meinem ›Goj-Sein‹.19

Da Zanin während des Aufenthalts in Polen meistens öffentliche Verkehrsmittel, Züge oder Busse benutzt – manchmal nimmt ihn ein Bauer, der einen Fuhrwagen bzw. ein Boot fährt, mit – hat er die Gelegenheit, den Gesprächen der Bevölkerung zuzuhören oder ein Gespräch mit einem Fahrer aufzunehmen. Als anonymer Mitreisender nimmt er den sich oft im Sprachgebrauch – z. B. in den »Judenwitzen«20 – manifestierenden alltäglichen Antisemitismus wahr, indem er zu einem scheinbar teilnahmslosen schweigsamen Zeugen wird. In vielen Ortschaften verrät er den wahren Grund des Besuchs nicht und bedient sich eines Täuschungsmanövers. In scheinbar beiläufig geäußerten Sätzen fragt er nach dem Schicksal der Juden, oder möchte – als englischer Berichterstatter – den jüdischen Friedhof oder die Synagoge aufsuchen. In einem kleinen Städtchen 16 Ebd., S. 449 [»Jak tu powiedziec´ chłopu, z˙e nie jestem chrzes´cijaninem, z˙e nie jestem Anglikiem, z˙e jestem Z˙ydem, jednym z miliona Z˙ydów, z których popiół i kos´ci walaja˛ sie˛ na tym piekielnym polu?«]. 17 Vgl. ebd., S. 242. 18 Im Jahre 1931 waren 92 % der Einwohner von Izbica Juden. Vgl. ebd., S. 123. 19 Ebd. [»I z˙aden Z˙yd nie odwaz˙y sie˛ tu przyjechac´, bo miejscowi spadkobiercy z˙ydowskiego dobytku nie moga˛ znies´c´ widoku z˙ydowskiej twarzy, która im przypomina, z˙e nie mieszkaja˛ we własnych mieszkaniach, z˙e handluja˛ nie we własnych sklepach i z˙e nawet ich bielizna nalez˙ała do wymordowanych Z˙ydów. Kiedy wróciłem do Lublina i powiedziałem, z˙e byłem w Izbicy, miejscowi Z˙ydzi odmówili specjalne błogosławien´stwo […]. I tu przydało sie˛ moje ›gojostwo‹«]. 20 Bei einer Zugfahrt lachen die polnischen Reisenden über den Qualm aus der Lokomotive, den sie mit den verbrannten Juden assoziieren: »Es riecht nach Juden« [»czuc´ Z˙ydami«] (ebd., S. 242). Auf dem Wege nach Tunel nennen sie den wackelnden Zug »einen Juden-Zug« [»z˙ydowski pocia˛g«] (vgl. ebd., S. 370).

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Kosów begibt er sich in das ehemalige jüdische Wohnviertel unter dem Vorwand, in die Kirche gehen zu müssen, um sich eine Taufurkunde zu holen. Zanins Taktik, seine jüdische Identität zu verbergen und in die Rolle des englischen Journalisten zu schlüpfen, dient somit, wie bereits angedeutet, nicht nur dem Recherchezweck, sondern auch seinem eigenen Schutz. Aus dem Bericht Zanins geht hervor, dass die Shoah-Überlebenden, die sich entschieden haben, in Polen zu bleiben, oder diejenigen, die auf eine Ausreisegenehmigung warten, im permanenten Mimikry-Zustand leben: Seine Gesprächspartner, orthodoxe Juden aus Łódz´, geben zu, dass sie sich auf dem Weg zum Gebet aus Angst vor der Reaktion der Passanten einen Schal um den Hals wickeln, um ihren Bart zu verstecken. Zanin führt in der Reportage die Worte eines frommen Lodzer Juden an, der fragt: »Wie soll ich in einem solchen Versteck leben?«21 Am Schicksal dieses Juden, der eine Doppeltür hat installieren lassen, damit die am Türpfosten befestigte Mesusa nicht wieder abgerissen wird, wird aus Łódz´ über Judenfeindschaft berichtet, die sich in kleinen privaten Aggressionsgesten der Nachbarn manifestiert. Der Reporter schreibt, dass viele ihre Identität und Religion in privaten Wohnungen leben und sich aus Angst vor Einbruch über die Nacht verriegeln. Zanins Diagnose baut auf der Beobachtung auf, dass die in Angst und Bedrohung lebenden Juden – von der Erfahrung der Exklusion aus der Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert – »unsichtbar« sein wollen und sich an die Umgebung anpassen, um den Repressalien zu entkommen. Er schreibt: »viele leben in Verkleidung, wie im Theater.«22 Bei der Schilderung der jüdischen Existenz in Polen spricht er von zwei Welten und einer Trennlinie zwischen Juden und Polen: »Zwischen ihnen [den Juden] und der polnischen Bevölkerung steht eine dicke Mauer […]. Auf der einen Seite gibt es ein Schuldgefühl, auf der anderen eine Handvoll jüdischer Familien – verängstigt, gebrochen und orientierungslos …«23

21 Ebd., S. 148 [»Ale jak z˙yc´ w takim ukryciu?«]. 22 Ebd., S. 58 [»wielu z˙yje w przebraniu, niczym w teatrze«]. 23 Ebd., S. 120 [»Mie˛dzy nimi a polska˛ ludnos´cia˛ stoi gruby mur […]. Po jednej stronie poczucie winy, po drugiej garstka z˙ydowskich rodzin – przestraszonych, zdruzgotanych i niewiedza˛cych, co ze soba˛ zrobic´…«].

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»Anwesende Abwesenheit«24 der Shoah Das Ausmaß des Verlustes wird in der Reportage drastisch vor Augen geführt, zumal die Schilderung der verödeten Landschaften mit dem Bild der Vielfalt der Zwischenkriegszeit konfrontiert wird. So stellt Zanin nach dem Besuch in Łuków fest: »Äußerlich hat sich das Städtchen überhaupt nicht verändert. Es fehlen bloß achttausend Juden«.25 Dem Journalisten, der die Reise mit einem fundierten Vorwissen über die Ausmaße und Details der Vernichtung antritt, wird die Erfahrung der »anwesenden/präsenten Abwesenheit« der Shoah in jeder besuchten Ortschaft zuteil: Aufgrund der ersten wissenschaftlich angelegten Studien26 und diverser Augenzeugenberichte identifiziert er die jeweiligen Orte und Räume der (Massen)Tötung und kann die Chronologie von Gräueltaten und den Verlauf von Mord-Aktionen rekonstruieren. Darüber hinaus berichtet er über die Kollaboration der polnischen (Polizei, Baudienst, Feuerwehr, Partisanen) und ukrainischen Einheiten (Wachmänner und Banden) sowie der polnischen Bevölkerung mit der NS-Besatzungsmacht.27 Seinen polnischen Gesprächspartnern attestiert er vornehmlich die fehlende Empathie sowie wirft ihnen vor, die Shoah weitgehend tabuisiert und aus ihrer Erinnerung, die eher einer Vergessenspraxis ähnelt, verdrängt zu haben. Für die meisten Polen ist der Genozid fremdes Leid und »banaler« Tod, während der »polnische« Tod als Martyrium28 inszeniert wird. Zanin sagt dazu: Ich möchte auf ein charakteristisches Merkmal hinweisen. Die Polen akzeptieren es nicht, wenn man die Vernichtung der Juden und die Verfolgung der Polen in einem Atemzug nennt. Sie sind der Ansicht, sie seien Opfer der politischen Unterdrückung, 24 Zum Begriff der anwesenden/präsenten Abwesenheit der Shoah vgl. Schlachter, Birgit: Schreibweisen der Abwesenheit: jüdisch-französische Literatur nach der Shoah. Köln: Böhlau 2006, S. 34. 25 Canin, Mordechaj: Przez ruiny i zgliszcza, S. 210 [»Zewne˛trznie miasteczko wcale sie˛ nie zmieniło, tylko brakuje tych os´miu tysie˛cy Z˙ydów […]«]. 26 Es sind u. a. Publikationen der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission aus dem Jahre 1946 oder Protokolle von Augenzeugengeständnissen, die in den Jahren 1945–1946 vor der Jüdischen Historischen Kommission abgelegt wurden. Die meisten Erkenntnisse Zanins erweisen sich als richtig. Die Unstimmigkeiten (es handelt sich vornehmlich um Zahlen bzw. genaue Datierung) werden von der Übersetzerin berichtigt bzw. vervollständigt. 27 Dies wird im aktuellen Forschungsstand durch die wissenschaftlichen Arbeiten namhafter Shoah-Forscher (vgl. u. a. die Studien von Dariusz Libionka, Jan Grabowski, Barbara Engelking, Joanna Tokarska-Bakir) bestätigt. 28 Vgl. hierzu das Gedicht Władysław Szlengels Dwie ´smierci [Zwei Tode], in dem er – mit bitterer Ironie – zwischen dem polnischen »menschlichen« Tod und dem jüdischen »dummen hündischen« Tod unterscheidet. Vgl. Szlengel, Władysław: Dwie ´smierci. In: Szlengel, Władysław: Co czytałem umarłym. Wiersze getta warszawskiego. Bearbeitet von I. Maciejewska. Warszawa: PIW 1979, S. 105f [Was ich den Toten las. Gedichte aus dem Warschauer Getto. Übers. von U. Herbst-Rosocha. Nachgedichtet von R. Erb. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1990].

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während die Juden von den Deutschen gewöhnlich ermordet worden wären – so wie man Mäuse fängt.29

Das Ausbleiben von Empathie kommt ebenfalls in dem primitiv-makaber anmutenden Verhalten der Bevölkerung zum Ausdruck. In dem Bus nach Tykocin30 muss sich Zanin das Brüllen und Lachen der polnischen Mitreisenden anhören, die – ohne jede Reflexion, geschweige denn ein Mitgefühl – den Schrei der Todgeweihten nachahmen. Darüber hinaus wird in Zanins Buch der Prozess der Marginalisierung des Gedächtnisses an die Shoah dokumentiert. In vielen Gesprächen werden die jüdischen Opfer totgeschwiegen, die Gesprächspartner scheinen sich kaum an die Umstände und die Chronologie von Deportationen erinnern zu können. Nur in wenigen Fällen äußern sie Schamgefühle und sprechen über die Mitschuld der Polen an der Shoah. Zanin zitiert die Aussage eines alten Antiquars aus Lublin, der im Angesicht des Genozids und der Haltung der Deutschen und Polen den Juden gegenüber den Glauben an Gott und die Menschen verloren hat. Er schämt sich, Mensch, Pole und Christ zu sein. Die Gründe für die Schandtaten nach der Shoah sieht er in dem Antijudaismus und Antisemitismus der christlichen Zivilisation. Er sagt: »denn ich habe ein Weltbild erblickt, das es nach zweitausend Jahren des Christentums in Europa gibt.«31 Das Mitgefühl, das der Journalist in diesem Gespräch in Lublin registriert, schlägt bei den meisten Gesprächspartnern in die Tabuisierung des jüdischen Leidens – die Erinnerung an die deutsche Besatzung wird als nationale Leidensgeschichte der Polen verstanden – sowie in die Verdrängung des Gedächtnisses an die Shoah um. Die ›Inexistenz‹ der einstigen Nachbarn wird ebenfalls tabuisiert. Ein Fuhrmann in Wolbrom, von Zanin nach den Juden im Städtchen gefragt, sagt: »Es waren einmal!«32 Dafür wird von den Interviewten die Selbstviktimisierung der Polen33 und deren 29 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 244 [»Chce˛ zwrócic´ uwage˛ na charakterystyczny rys. Polacy nie lubia˛, kiedy o zagładzie Z˙ydów i przes´ladowaniu Polaków mówi sie˛ jednym tchem. Czuja˛ sie˛ ofiarami przes´ladowan´ politycznych, Z˙ydów zas´ – ich zdaniem – Niemcy mordowali zwyczajnie, tak jak sie˛ te˛pi myszy«]. 30 Vgl. ebd., S. 272. 31 Ebd., S. 73 [»zobaczyłem oblicze s´wiata po dwóch tysia˛cach lat panowania w Europie chrzes´cijan´stwa«]. 32 Ebd., S. 366 [»Byli kiedys´!«]. 33 Im September 1939 lebten in Puławy ca. 3600 Juden. Die meisten wurden in Sobibór ermordet. Ein polnischer Restaurantinhaber in der Stadt spricht nicht über den Mord an den Juden, sondern hebt das Leid der Polen hervor: »Bei uns in der Stadt haben die Deutschen etwa zehn Polen erschossen. Wir waren alle entsetzt« [»U nas w mies´cie Niemcy rozstrzelali chyba dziesie˛ciu Polaków. Wszyscy bylis´my strasznie przeraz˙eni«] (ebd., S. 105). In einem anderen Gespräch berichtet ein Bauer über die Konsequenzen einer Prügelei zwischen den polnischen Bauernjungen und den ukrainischen Wächtern aus Treblinka: »Sie mussten für drei Monate ins Lager, beinahe würden sie ihr Leben verlieren« [»kilku naszych zabrali do pierwszego obozu na trzy miesia˛ce. O mało tam z˙ycia nie stracili«] (ebd., S. 236).

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Konkurrenz im Leiden hervorgehoben, so dass in der Reportage – indirekt – die Entstehung des national-katholischen Mythos über die polnische Leidens- und Heldengeschichte demonstriert wird. Zanin veranschaulicht den Prozess, indem er z. B. seinen Besuch in einem Maleratelier schildert, in dem er des von einer Kirche bestellten Pieta-Bildes gewahr wird, auf dem zwei parallel angeordnete Szenen zu sehen sind: Der sterbende Jesus im Schoss Marias und ein verletzter polnischer Soldat, über welchen sich eine Frau beugt.34

Friedhöfe – Synagogen – Kultgegenstände Der Friedhof ist in der jüdischen Tradition ein guter Ort, das Haus des Lebens,35 in welchem die Toten auf ihre Auferstehung warten. Jeder Eingriff in die Substanz ist ein Verstoß gegen das Gebot der Totenruhe. Nach der Katastrophe der Shoah ist der jüdische Friedhof zum stummen Zeugen der einstigen sozial-kulturellen Präsenz des europäischen Judentums geworden. Tina Walzer schreibt dazu: »Die Erhaltung der Grabsteine folgt dem Gebot der Erinnerung […]. In diesem Sinne ist ein jüdischer Friedhof auch ein ganz bedeutendes, ein steinernes Archiv, eine Chronik«.36 Zum Haus des Lebens und zu einem Archiv wird für Zanin während der Reise in Polen der größtenteils erhalten gebliebene jüdische Friedhof in Warschau. Der Journalist verlässt »die Wüste des Ghettos« und kann in der Ge˛sia-Straße »aufatmen«37, d. h. an Gräbern bekannter Persönlichkeiten innehalten sowie an Kenotaphen vorbeikommen, zumal die meisten ermordeten Juden Europas kein materielles, sondern nur ein symbolisches Grab haben. Beim Friedhofsbesuch begibt er sich auch zu den Grabsteinen der größten Zaddikim und berichtet, dass die Ohelim und Mazewen vernichtet und die Gräber geplündert sind. Er schreibt: »Die Verbrecher, die nach dem jüdischen Gold suchten, glaubten, in der Welt [der Thora und Lehre] ›Schätze‹ zu finden.«38 Der Journalist wird in jeder von ihm bereisten Ortschaft mit der gleichen Schandtat (Raub, Zerstörung) konfrontiert: Die meisten jüdischen Friedhöfe sind kaum zu finden, denn sie wurden von den polnischen Nachbarn devastiert und geplündert, zu Parks oder Viehweiden und 34 Vgl. ebd., S. 87. 35 Vgl. Stein, Ernst M.: Der jüdische Friedhof. In: Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut (Hg.): Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe. Würzburg: Stürtz 1985, S. 14–68, hier S. 15. 36 Walzer, Tina: Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern. In: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal. Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2011, S. 9–80, hier S. 35. 37 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 47. 38 Ebd., S. 53 [»Rabusie szukaja˛cy z˙ydowskiego złota wierzyli, z˙e w tym włas´nie s´wiecie znajda˛ ›skarby‹«].

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Ackerfeldern umfunktioniert oder planiert. Zanin erkennt z. B. in dem auf dem devastierten jüdischen Friedhof in Kutno aufgestellten Monument einen dritten neu gebauten Gedenkstein. In Pin´czów wird er eines »stillen jüdischen Friedhofs«39 gewahr, er sieht Straßen und Trottoirs, die mit Mazewen gepflastert sind. Das Ausmaß der Verwüstung wird von dem Reporter auch mit Fotos belegt. Er fotografiert u. a. das aus der Initiative von Überlebenden errichtete Denkmal in Biała Podlaska, das von der polnischen Bevölkerung in die Luft gesprengt wurde. Darüber hinaus berichtet er von dem Großhandel mit Mazewen, die zum Rohstoff (Grab- und Wetzsteine, Straßenbaumaterial)40 wurden, und wird – z. B. auf dem alten jüdischen Friedhof in Lublin41 – zum Augenzeugen der Schändung von menschlichen Überersten. Zanin sagt: »Ein kleiner Hirtenjunge, der neben mir sitzt, schneidet aus den jüdischen Rippen Messerchen aus – Spielsachen für Kinder.«42 Die Inexistenz der jüdischen Friedhöfe wird von Zanins Gesprächspartnern – reflexionslos – auf den Umstand zurückgeführt, dass es keine jüdischen Gemeinden mehr gibt. Die Erinnerung an den Judenmord wird verdrängt und sprachlich tabuisiert. In Tyszowce stellt ein Passant fest: »Da es keine Juden gibt, gibt es keinen jüdischen Friedhof«.43 Das ›Verschwinden‹ der jüdischen Friedhöfe wird von den Bewohnern quasi als Folge einer Naturkatastrophe, die ohne Mitwirkung des Menschen stattfand, gedeutet: Ein Bauer aus Che˛ciny sagt dazu: »Die Erde nahm alles«.44 Zum anderen aber ist dieser einfache Bauer, ein Zeuge der Shoah, derart traumatisiert, dass ihm die Worte fehlen, um das Ausmaß der Katastrophe auszudrücken. Von Zanin nach dem jüdischen Friedhof gefragt, sagt er »[a]lles ist ein jüdischer Friedhof«45, bevor er flieht. Mit dieser Geschichte, in der die Fassungslosigkeit und Trauer eines einfachen Menschen verdeutlicht wird, spricht der Autor ein wichtiges Problem an, nämlich die Unfähigkeit, die Shoah zu erfassen. Des Weiteren geht es um die Zeugenschaft der Polen, die mit

39 Ebd., S. 333. Katja Petrowskaja nennt im Roman Vielleicht Esther das Straßenpflaster von Kalisz, in dem hebräische Buchstaben zu identifizieren sind, »einen unsichtbaren Friedhof der fremden Nachbarn«. Vgl. Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 136. 40 Vgl. hierzu Baksik, Łukasz: Macewy codziennego uz˙ytku = Matzevot for everyday use. Übers. ins Englische von S. Gauger. Wołowiec: Czarne 2012. 41 Der alte jüdische Friedhof in Lublin wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründet. Vgl. hierzu Trzcin´ski, Andrzej: S´wiadkiem jest ta stela. Stary cmentarz z˙ydowski w Lublinie [Die Stele wird zum Zeugen. Der alte jüdische Friedhof in Lublin]. Lublin: Wyd. UMCS 2017, S. 57. 42 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 75 [»Mały pastuszek, który siedzi na grobie niedaleko mnie, wycina z z˙ydowskich z˙eber mieczyki i finki – zabawki dla dzieci…«]. 43 Ebd., S. 135 [»Nie ma Z˙ydów, to i nie ma cmentarza«]. 44 Ebd., S. 378 [»Ziemia wszystko zabrała«]. 45 Ebd. [»Wszystko jest z˙ydowskim cmentarzem«].

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der Erinnerung an die Judenvernichtung, die oft verschwiegen wird, in der Welt der präsenten Abwesenheit der Shoah leben. Zanin sucht während seiner Reise nicht nur nach jüdischen Friedhöfen, sondern ist auch am Ist-Zustand der Synagogen und jüdischen Schulen (Beit Midraschim) interessiert. Er dokumentiert in seinem Bericht den Umgang der Polen mit Kultgegenständen und jüdischen Gebetshäusern, die meist in Geschäfte oder Lagerräume umfunktioniert werden. Der Journalist stellt fest, dass sich die Judenfeindschaft im Raub und Devastieren von Synagogen, Gebet- und Schulstuben entlädt. Die Bausubstanz, die den Krieg in gutem Zustand überdauerte, wird von den einstigen Nachbarn geplündert, zerstört und abgerissen: Die hölzerne Ausstattung dient als Baumaterial, heilige Bücher als Zündstoff, Kultgegenstände werden geraubt und zum Verkauf angeboten. Aus den Gesprächen mit polnischen Zeugen und Mittätern kommt ein desillusionierendes Bild des Menschen hervor: Die Bauern aus Janowiec geben zu: »Die Juden sind weg, man hat also die Synagoge auseinandergelegt. […] Es wäre schade um die Steine. […] Jeder nimmt, was er braucht«.46

Antisemitismus nach Auschwitz Zanin erwähnt in seinem Bericht Pogrome und Morde an den polnischen Juden, die vor der Shoah, d. h. im Jahre 1941, von ihren polnischen Nachbarn in den östlichen Gebieten Polens, u. a. in Szczuczyn, Wasiłków, Grajewo, Tykocin, Radziejów und Jedwabne,47 verübt wurden. Er konzentriert sich dabei auf die Darstellung des Antisemitismus nach der Shoah, mit dessen Anzeichen er immerfort konfrontiert wird. Wie bereits angedeutet, schreibt er von einer manifesten Judenfeindschaft, die sich in Gewalttaten, Schändungen oder ›Judenwitzen‹ entlädt und zur Angst, Vereinsamung und schließlich zur Emigration der Überlebenden führt. Somit ist der polnische Nachkriegsantisemitismus, dem der Reporter begegnet, ein manifester Antisemitismus ohne Juden, in dem das Narrativ eines imaginierten Juden als Quelle allen Übels in den Vordergrund tritt. Zanin kommentiert es wie folgt: »In der ›noblen‹ Gesellschaft [der Mitreisenden] sieht man zwar kein jüdisches Gesicht, aber nach der Meinung der ›Kaufleute‹

46 Ebd., S. 98 [»Z˙ydzi odeszli, to sie˛ te˛ synagoge˛ na kawałeczki … Szkoda kamieni […]. Kaz˙dy bierze, co mu potrzebne«]. 47 Zanin bezieht sich auf etliche Augenzeugenaussagen, die 1946 vor der Jüdischen Historischen Kommission gemacht wurden.

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und Bauern beherrschten die Juden den ganzen Bahnhof, den Himmel und den Wald, denn das Wort ›Jude‹ ist in aller Munde«.48 Der an allem Übel schuldige ›Jude‹ als »Kollektivsingular«49 wird von Zanins Gesprächspartnern vornehmlich in den Verschwörungsvorstellungen über die jüdische Macht- und Herrschaftspläne reproduziert. Dan Diner definiert das Phänomen der Verschwörung als ein »[z]entrales Merkmal der modernen Ideologie des Antisemitismus, das die Weltläufe auf vorgeblich im Verborgenen waltende jüdische Machenschaften zurückführt.«50 Er hebt hervor, dass es sich dabei »um einen Vorgang projektiver Reduktion unverstandener gesellschaftlicher Komplexität in der Moderne«51 handelt. In vielen von Zanin bereisten Ortschaften treten Verschwörungsvorstellungen in verschiedenen Varianten auf und werden als Evokation der jüdischen Machtsucht – auf lokaler und staatlicher Ebene – als geltendes Stereotyp fortgeschrieben. Die Juden werden von der polnischen Gesellschaft geheimer Bündnisse und politischer Machenschaften bezichtigt sowie des Wirtschaftsruins beschuldigt. Zanin zitiert etliche Gespräche, die die jüdische Verschwörung zum Gegenstand hatten. So heißt es u. a.: Man sagt, dass alle Juden, die überlebt haben, in Warschau leben und die Regierung leiten würden.52 Die Juden haben keine Zeit, um in Stryków zu wohnen […]. Sie sind mit dem Regieren beschäftigt. […]. Alle Juden sind aus Stryków! […] Und uns, den armen Polen, haben sie ihre löchrigen Häuser hinterlassen […].53 Die ganze Regierung ist jüdisch. In der Stadt sagt man, dass in der polnischen Regierung die Juden aus Biała Podlaska sitzen.54

Dem Juden, als »Kollektivsingular« verstanden, wird die Schuld für ausgebliebene Entwicklungsperspektiven zugeschoben. Zanin notiert die Aussage eines Gesprächspartners aus Ostrów Mazowiecka: »Die Juden lassen es nicht zu, dass die Stadt wieder lebendig wird.«55 Er stößt wieder auf das Stereotyp des lügenden Juden, das in der von dem Gastwirt aus Puławy geäußerten Meinung fortge48 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 371 [»W tym ›szlachetnym‹ towarzystwie nie widac´ ani jednej z˙ydowskiej twarzy, ale sa˛dza˛c po tym, co mówia˛ ›kupcy‹ i chłopi, cała˛ te˛ stacje˛, niebo i las opanowali Z˙ydzi, bo słowo ›Z˙yd‹ jest na ustach wszystkich«]. 49 Diner, Dan: Verschwörung. In: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 272–277, hier S. 275. 50 Ebd, S. 272. 51 Ebd. 52 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 137 [»Mówi sie˛, z˙e wszyscy Z˙ydzi, co przez˙yli, zebrali sie˛ w Warszawie i kieruja˛ rza˛dem«]. 53 Ebd., S. 161 [»Z˙ydzi nie maja˛ czasu mieszkac´ w Strykowie. […] Oni, panie, sa˛ zaje˛ci kierowaniem polskim pan´stwem. […] Wszyscy Z˙ydzi sa˛ ze Strykowa! […] Nam, biednym Polakom, zostawili swoje podziurawione domy«]. 54 Ebd., S. 198 [»Cały rza˛d jest przeciez˙ z˙ydowski. W mies´cie mówia˛, z˙e w polskim rza˛dzie siedza˛ bialscy Z˙ydzi«]. 55 Ebd., S. 291 [»I nie pozwalaja˛, by miasto odz˙yło«].

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schrieben wird: »[…] die Juden [in Puławy] wollten nicht sagen, wie viele sie sind. Durchtriebene Leute. Betrüger.«56 Darüber hinaus bemerkt der Journalist, dass die in den Gesprächen präsenten antijüdischen Schuldprojektionen und Feindbilder sowohl in der christlichen Legende des Ritualmordes als auch im Stereotyp der »Z˙ydokomuna« [dt. Jüdischer Kommunismus]57 reproduziert werden: Ein angetrunkener Bauer sagt zu Zanin: »Juden und Kommunisten regieren in Polen! […] zwei Okkupationen in einem Polen!«58 Aus dem von Zanin geschilderten Bild geht hervor, dass sich die antisemitisch motivierten Handlungen und Aussagen der polnischen Bevölkerung vornehmlich aus den tradierten, althergebrachten Projektionen und Verschwörungstheorien speisen. Die Katastrophe der Shoah wird zu keinem Einschnitt, führt zu keinem Wendepunkt, geschweige denn zu einem Umdenken.

Ehemaliger jüdischer Besitz – ›Goldrausch‹ In Zanins Reportage wird ein bedeutungsträchtiger sozial-geschichtlicher Wandel quasi im Voraus diagnostiziert, den Kazimierz Wyka 1945 in dem Essay Gospodarka wyła˛czona59 ankündigt und dessen Ideengehalt Andrzej Leder in Przes´niona rewolucja (2014) aufgreift. Wyka macht auf den Prozess der Inertie aufmerksam, der für die Übernahme des ehemaligen jüdischen Gewerbes und Handels durch die polnischen Nachbarn charakteristisch ist. Da die polnischen Juden einen wichtigen Bestandteil der urbanen Kultur ausmachten und zum (Klein)Bürgertum gehörten, sei diese Kultur, so Leder, nach der Shoah unwie-

56 Ebd., S. 106 [»oni nigdy nie chcieli powiedziec´, ilu ich jest. Bardzo chytrzy byli z nich ludzie. I nieuczciwi. Tylko by oszukiwali«]. 57 »Z˙ydokomuna lautete ein in rechtsorientierten, klerikalen und nationalistischen Kreisen der polnischen Gesellschaft gepflegtes antisemitisches Schlagwort, demzufolge ein ›jüdischer Kommunismus‹ das polnische Gemeinwesen bedrohe. Das sich nach dem Ersten Weltkrieg verbreitende Feindbild gewann vor allem im Gefolge des Polnisch-Sowjetischen Kriegs sowie aufgrund der Sichtbarkeit jüdischer Mitglieder in der Kommunistischen Partei an Wirkmächtigkeit.« Vgl. Michlic, Joanna B.: Z˙ydokomuna. In: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 584–588, hier S. 584. 58 Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 247 [»Z˙ydzi i komunis´ci rza˛dza˛ w Polsce! […] dwie okupacje w jednej Polsce!«]. 59 Vgl. hierzu den Essay: Gospodarka wyła˛czona [Ausgeschaltete Wirtschaft], darunter besonders den Abschnitt Z˙ydzi i handel polski [Juden und polnischer Handel]. In: Wyka, Kazimierz: Z˙ycie na niby [Pseudo-Leben]. Warszawa: Ksia˛z˙ka i Wiedza 1957, S. 43–64, hier S. 53–55. URL: https://wolnelektury.pl/katalog/lektura/wyka-zycie-na-niby.html / letzter Zugriff am 7. Juli 2019.

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derbringlich verloren und kaum wiederherstellbar.60 Zanin veranschaulicht den Wandel am Beispiel einer ehemaligen jüdischen defekten Wanduhr, die, wie die Gesprächspartnerin aus Kosów sagt, nicht repariert werden kann, weil es – nachdem die Juden in Treblinka ermordet worden sind – in der Umgebung keinen Uhrmacher gebe.61 Wyka spricht im Kontext der Shoah und des ehemals jüdischen Besitzes das Problem des Umgangs der polnischen Gesellschaft mit dem Genozid und dessen Konsequenzen an. Er schreibt: »Für die Methoden, mit denen die Deutschen die Juden töteten, sind die Deutschen verantwortlich. Aber die ›Reaktion auf diese Tötungsformen‹ haben wir auf unserem Gewissen. Der goldene Zahn, der einer Leiche herausgerissen wurde, wird für immer bluten«.62 Zanin thematisiert das Postulat Wykas, indem er u. a. in den Gesprächen mit den ›neuen‹ Besitzern das Problem des früheren jüdischen Eigentums – seien es die früher von Juden bewohnten Häuser oder ehemalige jüdische Läden und Werkstätten sowie ehemaliges jüdisches Mobiliar – anschneidet. Seine Gesprächspartner sprechen nicht etwa von »ehemaligen jüdischen Häusern« oder von »ehemals jüdischem Besitz«, sondern bedienen sich eines Vokabulars, das zur Tabuisierung des Sachverhalts bzw. zum Exkulpationsgefühl führt. Die ehemaligen jüdischen Gegenstände – z. B. eine wertvolle Lampe oder kostbares Besteck in dem Kapitel über Puławy – werden von dem Gastwirt und seiner Frau als früheres deutsches Eigentum identifiziert, was in der Formulierung »poniemiecki/a«63 sein sprachliches Äquivalent findet. In der Originalfassung64 wird es wörtlich aus dem Polnischen übertragen: Zanin setzt das Adjektiv »noch-dajczer« oder »noch-dajcze« in Anführungsstriche, weil es eine solche Form im Jiddischen (wie auch im Deutschen) nicht gibt. Die Lampe, die einer jüdischen Familie angehörte, wird in dem bereits erwähnten Gespräch zu einem ehemals deutschen Besitz. Der Autor führt den von dem polnischen Wirt benutzten Ausdruck: »a ›noch-dajczer‹ lomp« an. In der Tyszowce-Passage wird von dem »Eigentum nach Juden« – im Original »di jerusze noch Jidn« – gesprochen, die man »von den deutschen Händen«65 rettete: »[…] az do hot zich ›geratewet‹ di jerusze noch Jidn – ›geratewet‹ hejst es fun dajcze hent…«

60 Vgl. hierzu: Leder, Andrzej: Przes´niona rewolucja: c´wiczenie z logiki historycznej [Verträumte Revolution: Eine Übung in historischer Logik]. Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej 2013, S. 53. 61 Vgl. Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 238. 62 Wyka, Gospodarka wyła˛czona, S. 53 [»Formy, jakimi Niemcy likwidowali Z˙ydów, spadaja˛ na ich sumienie. Reakcja na te formy spada jednak na nasze sumienie. Złoty za˛b wydarty trupowi be˛dzie zawsze krwawił […]«]. 63 Vgl. Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 107. 64 Die Autorin des vorliegenden Beitrags möchte sich bei Monika Adamczyk-Garbowska für ihre Hilfe und freundliche Zurverfügungstellung der Originalabschnitte herzlich bedanken. 65 Ebd., S. 135.

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In dem abschließenden Kapitel »Goldrausch« wird – außer dem Resümee – die von Wyka angesprochene ›Reaktion‹ der Polen auf die Shoah im Kontext von Schändung und Plünderung der Tötungsorte und Aschengräber66 drastisch vor Augen geführt. Zanin berichtet von dem Ausmaß und entsetzenerregenden Charakter der Profanierung: Asche und Erde – die beiden Topoi der Shoah – werden zu einer makabren Form des ›wiederverwendbaren‹ Materials. Die Asche der Todeslager, die Yosef H. Yerushalmi einen »groteske[n] neue[n] Baum der Erkenntnis«67 genannt hat, wird als Dünger und Viehfutter verwendet, die Erde mit Knochensplittern an der Oberfläche als Goldgrube68 betrachtet.

Schlussgedanken Zanins entwickelt in seiner Reportage eine düstere Vision, die – aus der Perspektive eines potenziellen Opfers geschrieben – von dessen Betroffenheit und Trauer Zeugnis ablegt. Die Bestürzung wird stilistisch durch das Pathos emphatischer Ausrufesätze, rhetorischer Fragen und emotionsgeladener Kommentare zum Ausdruck gebracht. Es ist vornehmlich eine Hommage an die nicht mehr existente Welt der polnischen Juden, in der der Autor vor dem Krieg gelebt hat. Aus den von Zanin geführten Gesprächen und aufgezeigten Beobachtungen geht ein negatives Bild der polnischen Bevölkerung hervor. Es ist eine desillusionierende Diagnose, aber zugleich ein differenziertes Bild der Gesellschaft. Den meisten Interviewten fehlt es an Empathie und Mitgefühl, aber das Gespräch mit einem Bauern, der seine Betroffenheit und Erschütterung der Shoah gegenüber kaum in Worte fassen kann, gehört zu den bewegendsten Szenen im Text. Hinzu kommt, dass die subjektive Perspektive des Reporters durch die Objektivität des Forschers ergänzt wird. Für den heutigen Leser wird diese Berichterstattung zum gewichtigen historischen Dokument. Die Reportage ist ein ›Trümmertext‹, in dem die Topoi der präsenten Abwesenheit der Shoah sowie die der Leere und des Verlustes zentral sind. Der Bericht schließt mit einer metaphorischen Vision des wandernden Juden, der über den omnipräsenten Aschengräbern das Kaddisch spricht, ab.

66 Die Aschengräber in Treblinka, Bełz˙ec oder Sobibór waren bis in die 1960er Jahre der Schändung ausgesetzt. 67 Yerushalmi, Yosef H.: Diener von Königen und nicht Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden. München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 1995, S. 55. Zit. nach: Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C.H. Beck 2013, S. 188. 68 Zu diesem Thema vgl. Gross, Jan Tomasz: Złote z˙niwa. Rzecz o tym, co sie˛ działo na obrzez˙ach zagłady Z˙ydów. Kraków: Znak 2011 [engl. Golden Harvest. Oxford University Press 2011].

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Im Krakauer Kapitel hebt Zanin hervor, dass jeder Überlebende »ein lebendiger Friedhof«69 sei und dessen wichtigster Imperativ die Erinnerung. Die Erinnerung70 an die Shoah, dieses Im-Gedächtnis-Behalten wird somit zum höchsten Gebot der Hinterbliebenen. In der Schlusspassage sagt Zanin, dass die Asche schweigt.71 Er verleiht ihr allerdings eine Stimme: Sein Buch wird somit zu einem Klagelied72 auf das ermordete jüdische Volk, zu einem lauten Schrei gegen das Vergessen und Verdrängen der Shoah-Katastrophe sowie zu einem Protest gegen die Judenfeindlichkeit.

Literatur Adamczyk-Garbowska, Monika: Krajobraz po Zagładzie. Relacje dziennikarzy z˙ydowskich z powojennej Polski. In: »Midrasz« Nr. 1 (2012), S. 16–20. Adamczyk-Garbowska, Monika: Samotna misja Mordechaja Canina. In: Canin, Mordechaj: Przez ruiny i zgliszcza. Podróz˙ po stu zgładzonych gminach z˙ydowskich w Polsce. Warszawa: Nisza 2018, S. 7–21. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C.H. Beck 2013. Baksik, Łukasz: Macewy codziennego uz˙ytku = Matzevot for everyday use. Übers. ins Englische von S. Gauger. Wołowiec: Czarne 2012. Breysach, Barbara: Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur. Göttingen: Wallstein 2005. Canin, Mordechaj: Przez ruiny i zgliszcza. Podróz˙ po stu zgładzonych gminach z˙ydowskich w Polsce. Aus dem Jiddischen übersetzt von M. Adamczyk-Garbowska. Warszawa: Nisza 2018. Diner, Dan: Verschwörung. In: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 272–277. Ganzenmüller, Jörg/Utz, Raphael: Orte der Shoah: Überlegungen zu einem auratischen Missverständnis. In: Ganzenmüller, Jörg/Utz, Raphael (Hg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, S. 7– 24. Grabowski, Jan: »Ja tego Z˙yda znam!« Szantaz˙owanie Z˙ydów w Warszawie 1939–1943. Warszawa: PAN 2004. Gross, Jan Tomasz: Strach. Antysemityzm w Polsce tuz˙ po wojnie. Historia moralnej zapas´ci. Kraków: Znak 2008. Gross, Jan Tomasz: Złote z˙niwa. Rzecz o tym, co sie˛ działo na obrzez˙ach zagłady Z˙ydów. Kraków: Znak 2011.

69 70 71 72

Canin, Przez ruiny i zgliszcza, S. 412. Vgl. ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 479. Monika Adamczyk-Garbowska nennt das Buch »eine Jeremiade« (ebd., S. 13).

Klagelied und Aufschrei

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Leder, Andrzej: Przes´niona rewolucja: c´wiczenie z logiki historycznej. Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej 2013. Michlic, Joanna B.: Z˙ydokomuna. In: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 584–588. Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin: Suhrkamp 2014. Schlachter, Birgit: Schreibweisen der Abwesenheit: jüdisch-französische Literatur nach der Shoah. Köln: Böhlau 2006. Snyder, Timothy: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. München: C.H. Beck 2015. Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München: C.H. Beck 2011. Stein, Ernst M.: Der jüdische Friedhof. In: Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut (Hg.): Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe. Würzburg: Stürtz 1985. Szlengel, Władysław: Dwie ´smierci. In: Szlengel, Władysław: Co czytałem umarłym. Wiersze getta warszawskiego. Bearbeitet von Irena Maciejewska. Warszawa: PIW 1979, S. 105f. Trzcin´ski, Andrzej: S´wiadkiem jest ta stela. Stary cmentarz z˙ydowski w Lublinie. Lublin: Wyd. UMCS 2017. Utz, Raphael: Sprache der Shoah: Verschleierung – Pragmatismus – Euphemismus. In: Ganzenmüller, Jörg/Utz, Raphael (Hg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, S. 25–49. Walzer, Tina: Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern. In: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2011, S. 9–80.

Internetquelle Wyka, Kazimierz: Gospodarka wyła˛czona. In: Wyka, Kazimierz: Z˙ycie na niby. Warszawa: Ksia˛z˙ka i Wiedza 1957, S. 43–64. URL: https://wolnelektury.pl/katalog/lektura/wykazycie-na-niby.html / letzter Zugriff am 7. Juli 2019.

Anna Szóstak (Zielona Góra)

Trügerischer Reiz des Nationalismus. Zu Ideologieansprüchen und Ideologiefallen in den realsozialistischen Gedichtbänden von Tadeusz Róz˙ewicz

Der vorliegende Beitrag geht der Frage auf den Grund, welche Elemente der vom kommunistischen Regime aufgegriffenen nationalistischen Ideologie – bedingt durch ideologische Verpflichtungen – in die Poesie von Tadeusz Róz˙ewicz aus den Jahren 1948–1955 eingeflossen sind. Infolge komplizierter historischer, sozialer und politischer Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation der sog. Kolumbus-Generation,1 also überwiegend der Jugendlichen mit einer AK-Vergangenheit,2 schwierig, wenn nicht dramatisch. Einerseits konnte sich die erwähnte Generation über das Kriegsende und über die Befreiung ihres Heimatlandes von der nationalsozialistischen Besatzung freuen, andererseits war das Nachkriegspolen kein Staat, für den sie kämpfe und der ihr Wertesystem, geformt im Geiste eines gottbezogenen Patriotismus, bedingungslos akzeptieren würde. Von ihrem Dilemma schrieb Tadeusz Róz˙ewicz, der wohl bedeutendste Vertreter dieser Generation, um schließlich – wie viele andere – sein Vertrauen in die neue Macht und in die von ihr kreierte ideologische Wirklichkeit zu setzen, was jedoch keineswegs nur auf einer deklarativen Enunziation basierte. Sein Sinneswandel vollzog sich sequentiell und systematisch; er war zeitlich ausgedehnt und beruhte auf Entscheidungen, die nicht unter dem Einfluss der momentanen Gefühlslage getroffen wurden, sondern einen multifaktoriellen Prozess darstellten. Interessant scheint in diesem Zusammenhang die Rolle der nationalistischen Ideologie zu sein, die (un)bewusst und (in)direkt sowohl die Denkweise als auch die Wahrnehmung der Realität beeinflusste. Im Fall von Róz˙ewicz (und seiner vielen Zeitgenossen) kam es anscheinend zu einer Kontamination verschiedener und nicht unbedingt kompatibler Begriffe und Be1 Der Begriff Kolumbus-Generation geht auf den in Polen populären Roman Kolumbus. Jahrgang 1920 (1957) von Roman Bratny zurück. Die Vertreter dieser (literarischen) Generation wurden um 1920, also im freien Polen, geboren. Aus dieser Generation, deren Jugend durch den Zweiten Weltkrieg geprägt war, rekrutierte sich ein Großteil des polnischen Widerstandes. 2 Mit der Abkürzung AK ist die Armia Krajowa (meist als Polnische Heimatarmee übersetzt) gemeint – eine Widerstands- und Militärorganisation im von Hitler-Deutschland besetzten Polen, die sich zum Ziel nahm, Polen von der deutschen Besatzungsmacht zu befreien.

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deutungen, die durch einen Prozess der Anpassung, Internalisierung und Umsetzung dieser de facto vorschriftsmäßig eingeführten und bisher abgelehnten Ideen begünstigt wurde. Ihre Benennung und Unterscheidung konnte aus vielen Gründen sehr schwierig sein und war nicht selten durch eine ideologische Irreführung gekennzeichnet, die falsche Vorstellungen und Hoffnungen erzeugte. Es ist daher angebracht, diesen Prozess unter die Lupe zu nehmen, denn er scheint symptomatisch und repräsentativ für jeden Vorgang zu sein, in dem ein weltanschaulicher Konflikt in eine Situation mündet, die viele Jahre später als Stockholm-Syndrom bezeichnet wird: Der Verfolgte übernimmt die Sichtweise des Verfolgers und versucht, nicht nur seine Motivationslage zu rationalisieren, sondern vielmehr ein positives Verhältnis zu ihm aufzubauen, das eine Plattform der Übereinstimmung darstellen und dem Verfolgten erlauben würde, die verloren gegangene Sinnhaftigkeit und Entscheidungsfreiheit wiederzugewinnen. Das Problem der ideologischen Vereinnahmung musste also vorerst im imaginär-symbolischen Bereich verarbeitet werden. Dies lief darauf hinaus, ein Phantommodell der Musterrealität zu erstellen, auf das Bezug genommen werden konnte, indem der Nutzen und die Funktionalität seiner einzelnen Teile in Konfrontation mit seinem eigenen Bedeutungsraum und dessen Grenzen untersucht wurden. Die literarische Arbeit stellte in diesem Verarbeitungsprozess eine Art Testfläche dar, die es dem Autor ermöglichte, die nachfolgenden Stadien der Konstruktion des neuen Werte- und Bedeutungssystems nachzuvollziehen. Eine fremde Ideologie, die in die Nachkriegsrealität eindrang und sie nachhaltig prägte, war der Kommunismus, der verschiedene Ausprägungen annahm und falsche Identitäten kreierte, so dass auch die offiziell abgelehnte(n) Doktrin(en) neue Konturen bekam(en) – wie z. B. der Nationalismus. Der Pragmatismus war den kommunistischen Ideologen nicht fremd. Im Verweis auf das nationale Imaginarium sahen sie eine wirksame Strategie, die nicht nur den Aufbau eines neuen Bewusstseins in Gang setzte, sondern auch die Unterstützung derer garantierte, für die der Kampf um die Heimat eine grundlegende Generationserfahrung war. Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, politische Fraktionen und Lager zu beschwören, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre um die Macht rangen und innerhalb des Marxismus unterschiedliche Akzente setzten, indem sie sich entweder auf die Frage der nationalen Idee in einer radikalisierten Form konzentrierten oder für ihre mildere Variante plädierten, die hingegen darauf fixiert war, die kommunistische Weltsicht den lokalen Umständen anzupassen. Das Problem war viel subtilerer Natur, weil der Kampf um die Seele nicht nur von außen (von Seiten der Politik) erfolgte, sondern auch in ihr selbst stattfand und die Sphäre eines (über)individuellen Daseinsgefühls betraf, so dass die empfindlichsten Bereiche, die für die Kohärenz und Homogenität jedes Individuums zuständig sind, berührt bzw. wachgerüttelt wurden. Man ist in diesem Zusammenhang geneigt, die These aufzustellen, dass sich in der Literatur der

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1950er Jahre ein ›verkappter Nationalismus‹ abzeichnete, dessen Inhalte von jedem Künstler, und von Róz˙ewicz auf eine besonders spektakuläre Art und Weise, (un)bewusst getestet und/oder genossen wurden. Diese Art von Nationalismus fußte auf jenen Elementen der auferlegten Ideologie, die mit der geerbten und im Zuge der Sozialisierung verfestigten Weltsicht des Kunstschaffenden übereinstimmte oder ihr am wenigsten widersprach. Und da der Raum der Sinne kein Vakuum ertragen kann und aus diesem Grund gefüllt werden muss, wurde verzweifelt nach einem Weg gesucht, das Erlebte und Erfahrene neu zu organisieren, wie es Timothy Snyder treffend formuliert, indem er (synchron wie diachron) den Umständen auf den Grund geht, die die Wiederbelebung der nationalistischen Inhalte begünstigen.3 Das Anerkennen dieser Ideologie war nicht nur Ausdruck der angenommenen Philosophie des historischen Fatalismus, sondern es setzte auch ein aktives Handeln voraus, das zum Ziel hatte, dem gebundenen System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen eine individuelle Bedeutungsfarbe zu verleihen, um im Endeffekt eine ideologische Version vorzustellen, die das geltende Denkmuster nicht in Frage stellte. Das Denken in nationalistischen Kategorien spielte aufgrund des Ausmaßes der Bedrohungen eine große und wahrscheinlich unterschätzte Rolle. Der Nationalismus bezieht nämlich seine Dynamik nicht aus dem Kampf um kollektive Rechte, sondern aus der Tatsache, dass er eine Kristallisation von angepassten Kollektiven verkörpert, die sich der überlieferten kulturellen und historischen Faktoren bedienen.4 Es ist also kein Zufall, dass er in Umbruchsmomenten und Krisensituationen oder bei der Etablierung neuer gesellschaftlichpolitischer Strukturen Geltung erlangt. Jedem Wideraufkeimen nationalistischer Tendenzen liegt ein anderer Prämissenkomplex zugrunde, der jedoch durch ähnliche Regelmäßigkeiten bedingt ist und dieselben Entwicklungsstadien erkennen lässt: die Phase der Verführung und Faszination, die Übernahme der Seelenregierung, die Offenbarung der wahren Absichten und schließlich die Phase des Terrors, in der Enttäuschung und Hilflosigkeit ineinander übergehen und miteinander verschmelzen. Das imaginäre Modell eines solchen Werte- und Überzeugungssystems war daher nicht nur durch Propagandaparolen oder andere Einflussmethoden, einschließlich persuasiver Kommunikation, geprägt, sondern es speiste sich aus Ideen, Hoffnungen und Ansichten, die manchmal auf falschen Annahmen und Fehlinterpretationen beruhten. Die belebende Kraft des kreativen Wortes von Logos ließ eine Realität entstehen, in der Vorstellung und Imagination die Oberhand gewannen. Wir haben hier also einerseits mit einer 3 Vgl. Snyder, Timothy: O tyranii. Dwadzies´cia lekcji z dwudziestego wieku. Übers. von B. Pietrzyk. Kraków: Znak Horyzont 2017, S. 126. 4 Vgl. Gellner, Ernest: Narody i nacjonalizm. Übers. von T. Hołówka. Warszawa: Difin 1991, S. 64f.

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Manipulation des Bewusstseins bzw. mit einer »Verführung des Denkens« zu tun, wie es Czesław Miłosz in Zniewolony umysł5 formuliert, und andererseits mit der Tendenz, die neue Ideologie zu testen, sie zu zähmen und ihre Nützlichkeit für den eigenen Werte- und Bedeutungskanon zu überprüfen. Die Kommunisten waren sich der Zurückhaltung bzw. der Abneigung der Intelligenz gegenüber dem von ihnen eingeführten (Werte)System bewusst. Sie wussten aber gleichzeitig, dass das intellektuelle Lager zum großen Teil aus glühenden Idealisten und Schwärmern bestand, so dass sie ihr Vertrauen und ihre Unterstützung vorerst mit gewaltlosen Mitteln zu gewinnen versuchten. Elemente der nationalistischen Doktrin innerhalb des neuen Systems erwiesen sich in dieser Hinsicht als ein ausgezeichneter ›Köder‹ – hauptsächlich aufgrund der erstaunlichen Fähigkeit des Nationalismus, seine wahre Natur zu verbergen und sich auf diese Weise der Umwelt und den gegebenen Umständen anzupassen, um schließlich eine Form anzunehmen, die einen ideologischen Weiterbestand garantiert und der weiteren Expansion nicht im Wege steht. Es ist darüber hinaus zu betonen, dass sich zu der für jeden Dichter wichtigen gesellschaftlichen Sensibilität, die wenigstens deklarativ in die kommunistische/nationalistische Doktrin eingeflossen war, der in ihr selbst hervorgehobene Patriotismus gesellte, verstanden als Stolz und Gefühl der nationalen Einzigartigkeit, Ehrfurcht vor der nationalen Kultur und Tradition sowie Solidarität mit der eigenen Nation und Gemeinschaft. Die polnische Gesellschaft und insbesondere die polnische Intelligenz empfand aufgrund der historischen Erfahrung eine starke Abneigung gegen den Kommunismus, der schon früher versucht hatte (der polnisch-sowjetische Krieg von 1920), seine Ideen mit Gewalt durchzusetzen. Die Rechnung ist aber damals nicht aufgegangen und dieses Scheitern ist nicht nur auf den polnischen Sieg an der Weichsel (»Cud nad Wisła˛«/»Das Wunder an der Weichsel«) zurückzuführen, sondern auch auf grausame Erfahrungen mehrerer Generationen mit dem russischen Autoritarismus in der Zeit der Teilungen Polens. Was aber konnte einen jungen Dichter mit den verhassten Unterdrückern und Usurpatoren verbinden, die die Macht übernommen und sie unter Einsatz von totalitären Methoden ausgeübt hatten? Bereits in der Zwischenkriegszeit wurden die Vertreter der KolumbusGeneration mit einer regional-heimatlichen Variante des Nationalismus konfrontiert. Die Brutalisierung des politischen Lebens, die Ermordung des ersten polnischen Präsidenten Gabriel Narutowicz, das systematische Anwachsen nationalistischer Tendenzen und letztendlich der Übergang von der parlamentarischen Demokratie zur autoritären Diktatur unter Führung von Józef Piłsudski fielen mit ihrer Kindheit und Jugend zusammen und hinterließen markante Spuren. Auf der einen Seite war dies für die meisten von ihnen eine Art Impfstoff, auf der anderen Seite bereitete die messianische Vision von Größe und Einzig5 Miłosz, Czesław: Zniewolony umysł. Kraków: Krajowa Agencja Wydawnicza 1989, S. 15–18.

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artigkeit der eigenen Nation der (aus dem nationalen Unrecht gespeisten) ideologischen Versuchung einen fruchtbaren Boden. Dieser Versuchung erlagen viele bereits im Krieg.6 Es war eben diese Vision, die die jungen Menschen dazu brachte, sich für die Verteidigung ihres Heimatlandes einzusetzen, als die fremde feindliche Macht, getrieben von Partikularinteressen, am 1. September 1939 mit dem hochgestellten NS-Banner das polnische Territorium betrat. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Suche nach dem eigenen Weg und dem Sinn des Lebens auch auf der nationalen und geopolitischen Ebene stattfand. Der Patriotismus, der nicht unbedingt mit dem Nationalismus verbunden sein muss, wurde im Nachkriegspolen zu einem der wichtigsten Mittel der Legitimation von politischer Macht, und der Verweis auf sein Wesen und auf die daraus resultierende Notwendigkeit der Identifikation mit dem eigenen Volk fiel im Fall der Kolumbus-Generation auf nahrhaften Boden. Mit der romantischen Literatur aufgewachsen und den Wert ihres eigenen Staates, der nach einhundertdreiundzwanzig Jahren einer politischen Nichtexistenz durch die im 18. Jahrhundert erfolgten Teilungen seine Souveränität wieder gewonnen hatte, zu schätzen wissend, waren sie – allerdings nicht ohne Bedenken – bereit, ausgewählte Elemente der nationalistischen Ideologie zu verinnerlichen (in den meisten Fällen aber für eine relativ kurze Zeit). Auf diese Weise entstand ein Bild, das ihnen dazu verhalf, sich in der neuen Realität wiederzufinden – ein Modell einer ›Musternation‹, die ihrer Tradition treu bleibt und sich sozialer Gerechtigkeit und Freiheit erfreut. In diesem Kreationsprozess bestätigte sich die Regelmäßigkeit, vor der – sich auf die christliche Ethik beziehend – Józef Ujejski, der Autor der Studie Nacyonalizm jako zagadnienie etyczne, kurz vor der Erlangung der Unabhängigkeit gewarnt hatte: Eines der wichtigsten Phänomene kollektiver Bewusstseinszustände, die sich mit dem Kriegsausbruch im August des Jahres 1914 offenbarten, war die Tatsache, dass in allen vom Feuerregen des Krieges erfassten Nationen bestimmte Klassen- und Parteiinteressen der allgemeinen patriotischen Erhebung untergeordnet wurden. Auf die bestehende Relativität einzelner moralischer Gebote ist es darüber hinaus das Bestreben der heutigen Nationalisten zurückzuführen, ihre gesellschaftlich-politischen Ansichten mit einer Ethik in Einklang zu bringen, die andere Ansprüche an ein Individuum und andere an ein national handelndes Kollektiv stellt. Solch eine Zerklüftung ist jedoch ziemlich absurd. Neben einer allgemein verbindlichen Ethik könnte zwar eine ethische Prinzipien ignorierende Ökonomie oder Politik bestehen, nicht jedoch eine Parallelethik. Nationen und Staaten lassen sich aber in ihren gegenseitigen Beziehungen heutzutage keinesfalls von ethischen Grundsätzen lei6 Es handelt sie hierbei um Schriftsteller und Dichter, die um die Zeitschrift »Sztuka i Naród« versammelt waren (u. a. Tadeusz Gajcy, Zdzisław Stroin´ski, Andrzej Trzebin´ski – alle sind im Krieg gefallen).

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ten, die für einzelne Menschen gelten.7 Róz˙ewicz, der für die Fragen der vom Kollektiv unterdrückten individuellen Ethik, empfindlich war, lehnte vorerst den gröbsten rassistischen Teil der nationalistischen Doktrin ab, der die Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen Nationen betonte und an dem kommunistische Ideologen kein besonderes Interesse hatten. Lyrische Texte aus seinen Gedichtbänden Pie˛´c poematów/Fünf Poeme (1950), Czas który idzie/Die anbrechende Zeit (1951), Wiersze i obrazy/Gedichte und Bilder (1952), Równina/ Das Flachland (1954) und Srebrny kłos/Die silberne Ähre (1955) sind jedoch ein Beweis dafür, dass er bereit war – auch wenn er dies nicht mit dem Nationalismus assoziierte –, die Grundannahme über die Unterordnung des Individuums zugunsten eines enigmatischen Kollektivs zu internalisieren, dessen Interesse darin bestand, totalitäre Ideen und Maßnahmen zu rechtfertigen. Einen ähnlichen Standpunkt vertraten die Mächtigen, die selbst soziotechnisch nützliche nationalistische Inhalte in die Doktrin einbauten, sich aber offiziell vom faschistischen Nationalismus distanzierten.8 Die Befriedigung elementarer Identifikations- und Identitätsbedürfnisse sowie die Suche nach einem Grund, der die Zustimmung legitimieren würde, waren also durch die Notwendigkeit erkauft, den Menschen von nun an nicht mehr als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs, einer Masse anzusehen. Róz˙ewicz war sich von Anfang an dessen bewusst, dass die (Teil)Akzeptanz der nationalistischen Ideologie einen doppeldeutigen Charakter hatte und zwar nicht zuletzt aufgrund des Mangels an Subjektivität und Individualität, die den lyrischen Transfer glaubwürdig machen würden. Dies bedeutete wiederum, dass er den nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs für ihn wichtigsten Inhalt und das Wesen der Poesie ablehnen musste – d. h. die nackte schockierende Wahrheit über den einzelnen Menschen und eine Welt, in der das individuelle Denken wachsen, blühen und gedeihen konnte. In den zwei ersten Gedichtbänden Niepokój (Die Unruhe) und Czerwona re˛kawiczka (Der rote Handschuh) – beide veröffentlicht zu einer Zeit, als die Volksmacht ihr brutales Potenzial noch nicht zum Vorschein kommen ließ und die Schriftsteller nicht offensiv dazu drängte, ihren Standpunkt zu vertreten – zeigt er sie in einer neuen und völlig schockierenden Version. Die individuelle Glaubwürdigkeit ist vor allem in den Gedichten zu spüren, die Kriegs-, Besatzungs- und Lagerthemen aufgreifen, wie z. B. in Warkoczyk (Das Zöpfchen). Im Gedicht Wyznanie (Das Bekenntnis) aus dem Gedichtband Pie˛c´ poematów (Fünf Poeme), der die Texte aus den Jahren 1948–1949 beinhaltet, werden bestimmte Zwangslagen verhandelt, die einen schwierigen Konsens zwischen individueller Freiheit und kol7 Vgl. Ujejski, Józef: Nacyonalizm jako zagadnienie etyczne. Kraków: Nakład Ksie˛garni Czarneckiego 1917, S. 3. 8 Siehe dazu: Bochen´ski, Józef Maria: Sto zabobonów. Krótki filozoficzny słownik zabobonów. Kraków: Oficyna Wydawnicza Dajwór 1994, S. 86–88.

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lektiver, stichwortartig-verallgemeinernder Festlegung hervorbringen sollen (»Ich lerne sprechen/ von Anfang an«9): Statt so viele Köpfe ertragen zu müssen wollte ich sie unter einem einzigen vereinen der wie ein prunkvoller Kirchenturm alles überragen würde Ein einziges Antlitz wollte ich der grauen Masse verleihen die unterm Schweißregen hervorschimmert Im Gehen schrieb ich um weiße Flecken auf der Landkarte meiner Imagination zu bevölkern Und in diesem Moment bin ich auf Menschen aus Fleisch und Blut gestoßen aus deren Augen von Zeit zu Zeit Tränen hervorsprudelten und deren Herzen hastig pulsierten nur der Kopf stand stillschweigend da wie Schlaghammer entblößt eine gemeinsame Sprache haben wir nicht gefunden10

Solche kognitiv-emotionalen Suchbewegungen schimmern auch in anderen lyrischen Texten des Bandes durch. In Elegia prowincjonalna (Die provinzielle Elegie) schreibt Róz˙ewicz über Kriegstraumata, die von weiteren traumatischen Erfahrungen gesättigt und überlagert werden, und dies geschieht mit einer nicht allzu oft in seinen Texten anzutreffenden symptomatischen Metaphorik und im Bewusstsein aller die Nachkriegsordnung bestimmenden Gemengelagen: Plötzlich erwacht weißt du nicht von welchem Schlage du bist und du musst erst werden langsam zu sich finden und auf einmal entdeckst du auf keinen Wanderwegen mehr zu schreiten

9 Róz˙ewicz, Tadeusz: Wyznanie. Bd.: Pie˛´c poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 147. Alle in diesem Beitrag zitierten Gedichte wurden von Arletta Szmorhun übersetzt. 10 Ebd. Polnische Originalfassung: »Zamiast tylu głów/ chciałem im przyprawic´ jedna˛/ pie˛kna˛ jak kos´cielna wiez˙a// Chciałem dac´/ jedno oblicze/ szarej masie/która/ ´swieci pod ulewa˛ potu// Szedłem pisałem/aby zaludnic´/ białe miejsca na mapie/ wyobraz´ni I tu zderzyłem sie˛/ z z˙ywymi ludz´mi/z ich oczu czasem płyne˛ły łzy/ a w piersiach/ zaciskało sie˛ i rozwierało serce/ tylko głowa była niema/ i naga jak młot// nie znalez´lis´my wspólnego je˛zyka«.

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weißt alles bevor du die Zeichenkonvention draußen erkennst.11

Für das Selbstgespräch des lyrischen Ich ist eine tragische Ironie der dargestellten Situativität kennzeichnend. Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit – diese negativen Gefühle haben auch polnische Kriegsschicksale begleitet – säumen den Weg in die Zukunft, der zugleich einen Weg Nirgendwohin bedeutet: »Es ist nämlich eine (Sack)Gasse/ ohne Hände ohne Beine ohne Kopf.«12 Die Schlussfolgerung ist daher zunächst pessimistisch, obwohl der Dichter seit den späten 1940er Jahre (und zwar nicht nur unter dem Druck der Verkündung der realsozialistischen Doktrin) konsequent nach Konsens- und Kompromisslösungen sucht. Er gibt es jedoch dann zu, als es ihm gelingt, die Widersprüche hinreichend zu überwinden. Der nationale Egoismus, der jeder Form von Nationalismus zugrunde liegt, ist bei Róz˙ewicz weder aufdringlich noch stichwortartig. In Ballada o karabinie (Eine Gewehr-Ballade) verbirgt er sich z. B. hinter einem Familienhaus bzw. einem Familienleben, das durch feindselige Außenkräfte und Aggressionen bedroht wird und bei Familienmitgliedern Panikattacken verursacht: Mutter wo ist mein Gewehr Mein Söhnchen Söhnchen das hast du geträumt der Krieg ist zu Ende unser weißes Haus steht immer noch da Bäume im Garten sind in voller Blüte […] Zu töten sind sie der Krieg ist nicht zu Ende zu töten sind sie in Griechenland und in Spanien in China Indonesien und sogar unter der Erde Oder sie werden zu uns kommen und unser Haus in Brand stecken Bäume abholzen und das Herz durchschlagen.13 11 Róz˙ewicz, Tadeusz: Elegia prowincjonalna. I Przebudzenie. Bd.: Pie˛´c poematów. In: Róz˙ewicz, Poezje zebrane, S. 161. Polnische Originalfassung: »Przebudzony nagle nie wiesz/ kim jestes´ dopiero stajesz sie˛/ dochodzisz do siebie i oto/ widzisz z˙e nie jestes´ w drodze/ Nim dokładnie odczytasz widok umowny za oknem/ wiesz wszystko.« 12 Róz˙ewicz, Tadeusz: Elegia Prowincjonalna. VI Ulica kota w worku. Bd.: Pie˛´c poematów. In: ebd., S. 164. 13 Róz˙ewicz, Tadeusz: Ballada o karabinie. Bd.: Pie˛´c poematów. In: ebd., S. 148f. Polnische Originalfassung: »Matko/ gdzie jest mój karabin// Synku synku/ co ci sie˛ przys´niło/ wojna juz˙

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Die Sehnsucht nach einer nationalen Gemeinschaft ist tief und ergreifend, »weil jeder einzelne/ weinend in der Nacht/ eine hilfsbereite Hand des Anderen berühren will«14, und zwar nach einem Zeitalter, in dem Zerrissenheit der Nation, gegenseitige Abneigung, Hass und zerschossene Hausmauern zur scheinbar unüberwindbaren Alltäglichkeit gehörten. Die nationale Gemeinschaft oder die Gemeinschaft der Nation war im Bewusstsein der Polen nicht zuletzt aus dem Grund tief verankert, weil in die historische Sinnbildung besonders schmerzhaft erfahrene Geschicke des Landes einflossen und über Generationen hinweg zu einer Emotionalisierung der Geschichte führten. Das Bewusstsein der eigenen Betroffenheit erwies sich als Stabilisator des Nationalen. Die Emotionalisierung der Geschichte und eine emotionale Einflussnahme auf die jeweilige Gegenwart zeigen sich immer dann als ein probates Mittel der Politik, so Victor Klemperer, wenn eine nationale Einheit angestrebt wird, und die ›Beherrschung‹ einer Nation im Sinne einer Herstellung des nationalen Zusammenhalts kann nur durch eine penetrante Propaganda geschehen.15 Obwohl Polen oder die polnische Nation16 in Róz˙ewicz’ Gedichten aus dieser Zeit nicht explizit vorkommen, gibt es keinen Zweifel daran, auf welche Gemeinschaft und Gruppe sich die Personalpronomen im Plural beziehen. Das Konzept der Nation hat hier keineswegs einen obligatorischen Charakter. Es kann z. B. durch das Konzept einer ausgewählten Gruppe ersetzt werden und somit soziale Klasse(n), Glaubens- und Meinungsgemeinschaften etc. mit einbeziehen oder einfach eine Gemeinschaft von Menschen verkörpern, die durch gemeinsame Erfahrungen und Traumata geprägt sind und sich aus diesem Grund das Recht anmaßen, anerkannt und bevorzugt zu werden. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der so verstandenen Gemeinschaft besteht darin, dass der Begriff der Gemeinschaft zu einem Fetisch oder einem Werkzeug erhoben wird, mithilfe dessen man das Bewusstsein manipulieren und kontrollieren kann, indem auf symbolische Ressourcen und archetypische Imponderabilien Bezug genommen wird. Es ist in diesem Zusammenhang Ernest Gellner zuzustimmen, der den Nationalismus als ein gefährliches Phänomen begreift, das sich aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, skon´czona/ dom nasz stoi biały/ w sadzie kwitna˛ drzewa// […]Trzeba ich zabijac´/ wojna nie skon´czona/ trzeba ich zabijac´/ w Grecji i w Hiszpanii/ w Chinach Indonezji/ i nawet pod ziemia˛// Albo przyjda˛ tutaj/ i dom nasz podpala˛/ i wyra˛bia˛ drzewa/ i serce przebija˛.« 14 Róz˙ewicz, Tadeusz: Odpowiedz´. Bd.: Pie˛´c poematów. In: ebd., S. 168. 15 Vgl. Klemperer, Victor: LTI. Notatnik filologa. Übers. von J. Zychowicz. Warszawa: Aletheia 2014, S. 245. 16 Man stößt jedoch auf die positiv gefärbte Bezeichnung »polscy robotnicy« (»polnische Arbeiter«) u. a. im Gedicht Spotkanie w Nowej Hucie aus dem Gedichtband Poezje zebrane, S. 230; Im Gedicht Równina aus demselben Gedichtband taucht dagegen der Ausdruck »w polskiej wsi« (im polnischen Dorf) auf, S. 265f – das ist ein klarer Hinweis darauf, dass der Begriff Nation mit dem Klassencharakter in Verbindung steht und auf diese Weise seinen semantischen Inhalt einschränkt.

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Akzeptanz und Teilhabe speist und als ein integraler Bestandteil unserer psychosozialen Beschaffenheit nicht mit dem Wandel der gesellschaftlich-politischen Umstände an Relevanz verliert oder ganz verschwindet.17 Wie jede andere Form von Totalitarismus lechzt auch der Nationalismus nach Glaubensbekenntnis, Unterwerfung unter ein Dogma, blindem Vertrauen und Vereinheitlichung der (non)verbalen Botschaft, was mit einer emotionalen Belastung verbunden ist. Der Nationalismus, der seine Dynamik aus dem Diktat der Masse bezieht, ist durch eine Bezugnahme auf kollektive Ressentiments und Antagonismen gekennzeichnet. So kann er z. B. die Form eines verzerrten Antiintellektualismus annehmen, der kollektive Emotionen der Menschenmasse über ein rationales (Nach)Denken und intellektuelles Nuancieren setzt und einen bedingungslosen Gehorsam unter Androhung von Exklusion impliziert: Solltest du wirklich denken du kreist in Gefilden reinen Intellekts zu denen von unten nur konfuses Volksgemurmel und -geschmatze vordringt wenn du wirklich so denkst dann bist du ein Kopf der in menschenleerer Luft in seelischer Schwingung ist18

Die vonseiten der Intelligenz erfolgte Selbstkritik lässt sich verallgemeinern: Die marxistische These von einer Klassengesellschaft ist in ihrem Wesen ebenfalls nationalistisch gefärbt, und dies in dem Sinne, dass nur den Auserwählten das Recht verliehen wird, den ›gesunden Kern‹ einer nationalen Gemeinschaft zu bilden. Róz˙ewicz ist sich hingegen in seinem Weltschmerz dessen bewusst, dass der Rest – und dazu gehört auch die Intelligenz selbst – aus dem nationalen Verbund ausgeschlossen bleibt, es sei denn, dass die manifestierte Systemtreue – ob wirklich empfunden oder nur vorgetäuscht – ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufkommen lässt: Solltest du denken du schmückst mit deinem Kopf das Firmament solltest du denken du seiest ein beweglicher Kopf eines unbeweglichen Rumpfes 17 Vgl. Gellner, Narody i nacjonalizm, S. 72. 18 Róz˙ewicz, Tadeusz: Głowa w próz˙ni. Bd. Pie˛´c poematów. In: Róz˙ewicz, Poezje zebrane, S. 160. Polnische Originalfassung: »Jez˙eli mys´lisz, z˙e kra˛z˙ysz/ po czystych okre˛gach intelektu/ doka˛d z dołu dochodzi tylko/ pomruk zgiełk/ i mlaskanie masy// jez˙eli tak mys´lisz/ to jestes´ głowa˛/ która kołysze sie˛ lekko/ w wyludnionym powietrzu«.

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der sich im Boden von Blut und Jauche festfährt dann bist du ein Kopf der abgeschlagen und verworfen wird.19

Die Volksrepublik Polen löste einige Spaltungen auf, um andere zu schaffen und die Gesellschaft nach klassenmäßigen und ideologischen Kategorien aufzuteilen – nämlich in diejenigen, die ›den gesunden Kern der Nation‹ ausmachten und in diejenigen, ›die volkspolnische Musternormalität‹ irritierten und als Störfaktor zu einer sozialen Randexistenz verurteilt wurden. Die Kollektivität, der jeder Dichter mit seinem Werk dienen und die er anstreben soll, ist im neuen System die Arbeiterklasse, der idealistisch und naiv solche Eigenschaften zugeschrieben werden, die Ferdinand Tönnies unter den Begriff Gemeinschaft20 subsumiert. Darunter versteht er einerseits eine Gemeinschaft, die durch die Bande von Tradition und Brüderlichkeit verbunden ist, und andererseits ein kollektives Eigentum innerhalb der verstaatlichten Wirtschaft, die im nationalistischen Staatsdenken eine der Säulen des Nationalstolzes und der Propaganda darstellt. Sie gilt als ein wirksames Instrument, das konsequent eingesetzt wird, um das Bild eines starken und reichen Landes zu entwerfen, das auf den größtmöglichen Wohlstand und emotionale Sicherheit seiner Bürger abzielt.21 Diesen Aspekt unterstreicht Róz˙ewicz im Gedicht mit dem bedeutenden Titel Troskliwos´c´ robotnicza o wspólne (Die Arbeitersorge um das Gemeinwesen), wo der Prozess der Stärkung des Gefühls der nationalen Einheit und die Vorstellung von einer konsolidierten homogenen Gesellschaft bereits in der Ideengemeinschaft verwirklicht zu sein scheinen, die alle Nationen des Ostblocks vereint und eine ideale Volksgemeinschaft zu verkörpern glaubt: Damals als das große Kraftwerk von Bánhida in der englischen Tasche steckte kam es des Öfteren vor dass ein Arbeiter nur ein Achselzucken übrig hatte wenn er ein Maschinenteil ein Kabel oder ein Drahtbündel

19 Ebd. Polnische Originalfassung: »Jez˙eli mys´lisz z˙e jestes´/ pie˛kna˛ głowa˛/ osadzona˛ na szczycie// jez˙eli mys´lisz z˙e jestes´/ obrotna˛ głowa˛/ nieruchomego kadłuba/ który grze˛z´nie w ziemi/ krwi i bydle˛cym gnoju// […] jestes´ głowa˛/ która zostanie zdje˛ta/ i odrzucona.« 20 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Wspólnota i stowarzyszenie. Rozprawa o komunizmie i socjalizmie jako empirycznych formach kultury. Übers. von M. Łukasiewicz. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 1988, S. 21–23. 21 Vgl. ebd.

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auf dem dreckigen Boden im Regen liegen sah […] – Der Rost solle die Sache zerfressen und was geht mich das an – Sollte er heute jedoch irgendeine Schraube auf dem Hof erblicken ein Stück Metall so liest er alles andächtig auf […] als wäre ein Kind zu Boden gefallen…22

Mitglieder dieser neuen Volksgemeinschaft werden zu Nutznießern des Systems, zu Genießern von nur für sie bestimmten Gütern und Privilegien und fühlen sich deshalb in einer natürlichen und menschlichen Geste besonders hervorgehoben und dankbar: Ich sah die Zeichnung eines siebenjährigen Mädchens Ein zweistöckiges Haus stach da ins Auge […] Die Lehrerin flüsterte mir zu – Sie zeichnet jedes Mal Fenster und Ziegelsteine so schön und äußerst genau weil sie mit ihrer Familie in einem dunklen Loch haust notdürftig zusammengebastelt aus Lehm und Holz […] Schauen Sie mal auf dem Hügel draußen erhebt sich eine neue Arbeitersiedlung23 22 Róz˙ewicz, Tadeusz: Troskliwos´c´ robotnicza o wspólne. Bd. Czas który idzie. In: Róz˙ewicz, Poezje zebrane, S. 184. Polnische Originalfassung: »Dawniej/ kiedy wielka˛ elektrownie˛ w Banhidzie/ mieli w kieszeni Anglicy/ zdarzało sie˛: Robotnik widzi/ poniewiera sie˛ jakas´ czes´c´ maszyny/ lez˙y na ziemi kabel wia˛zka drutu/ Na deszczu w ´smieciach/ Wzruszył ramionami/ poszedł dalej// […] – Niech rdza zez˙re/ i co mnie do tego – // A teraz/ niech zobaczy na dziedzin´cu/ s´rubke˛ byle jaka˛/ kawałek metalu/ podniesie obejrzy// […] jakby dziecko/ upadło na ziemie˛…« 23 Róz˙ewicz, Tadeusz: Szybciej niz˙ w marzeniu. Bd.: Czas który idzie. In: ebd., S. 186f. Polnische Originalfassung: »Widziałem rysunek/ siedmioletniej dziewczynki/ Był tam dom dwupie˛-

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Wer dieser (Arbeiter)Gemeinschaft nicht angehört, ist zwangsläufig ihr Feind und muss isoliert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Diese Botschaft ist ein typisches Element des nationalistischen Diskurses. Im Fall von Róz˙ewicz muss man jedoch zugeben, dass im Hinblick auf das Ausmaß des menschlichen Leidens und auf die Bewertung von bewaffneten Konflikten, die dem poetischen Diskurs innewohnende nationalistische Neigung dem humanistischen Mitgefühl und der eindeutig pazifistischen Aussage des Textes weicht, ohne dass die Argumentation (aus)diskutiert und einer der Konfliktparteien Unterstützung zugesagt wird. Die Sprache, die sich der Bilder bedient, rückt hier in den Mittelpunkt und schiebt eine eingehende Analyse zurück, indem sie Gefühle und Emotionen beeinflusst. Um diese Bilder-Sprache in einer persuasiven Botschaft zu versfestigen, werden alle Zweifel mit einer deklarativ ausgedrückten Zustimmung und mit dem Versprechen der Ankunft einer neuen und besseren Zeit übertönt: Die anbrechende neue Zeit ist viel schöner Menschen werden nicht wie Larven wegsterben sie werden vom Kommunismus über ihre Misere erhoben und von jeder Verachtung reingewaschen.24

In einem anderen Gedicht aus dieser Zeit, das sich ebenfalls mit dem Koreakrieg befasst, wird der Mörder, der unter dem Himmel kreist, zweifelsohne mit dem verhassten Imperialisten assoziiert, der die Harmonie der Gemeinschaft zerstört, indem er die idyllische Situation, in der ein koreanischer Bauer die neue Saat in die Erde setzt, irritiert.25 Róz˙ewicz, geleitet vom traumatischen Reflex der Flucht an einen sicheren Ort, ist bereit, an Sicherheit und Frieden zu glauben, die die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sozialistischer Nationen gewährleistet: »Stille Haus Wärme/ Fenster und Türen abgedichtet/ unter Verschluss.«26 Es scheint jedoch, als ob er über den Preis hinwegsehen würde, den man für diese (vermeintliche) Sicherheit bezahlen muss. Daher wird Tibets Annexion durch China im Jahr 1950 von ihm nicht als eine feindliche Eroberung interpretiert, sondern er ist davon überzeugt, dass die Streitkräfte der Volksrepublik den anderen Völkern die Befreiung von Ungleichheit und Armut bringen, was ausschließlich durch den Eintritt – auch wenn er nicht auf freiwilliger Basis erfolgt – in eine durch gemeinsame Ziele und Ideen vereinte ›Community‹ möglich ist. trowy// […] Nauczycielka szepne˛ła mi/ – Ona zawsze rysuje tak/ tak ładnie i starannie okna/ i cegły/ bo teraz gniez´dzi sie˛ z rodzina˛/ w ciemnym domku/ ulepionym z gliny i drzewa –// […] Niech pan spojrzy/ Za oknem na wzgórzu/ rosło nowe osiedle robotnicze.« 24 Róz˙ewicz, Tadeusz: Czas który idzie. Bd.: Czas który idzie. In: ebd., S. 196. Polnische Originalfassung: »Czas który idzie jest pie˛kniejszy/ ludzie nie be˛da˛ umierali jak larwy/ komunizm ludzi podniesie/ obmyje z czasów pogardy.« 25 Vgl. Róz˙ewicz, Tadeusz: Wiosenny siew na Korei. Bd.: Wiersze i obrazy. In: ebd., S. 220. 26 Róz˙ewicz, Tadeusz: Obraz. Bd.: Wiersze i obrazy. In: ebd., S. 218.

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Die kommunistische Internationale nutzte von Anfang an das einigende Potenzial der sog. Ostblock(national)staaten aus und huldigte dem französischen Kommunisten und Widerstandskämpfer Gabriel Péri, der von den Nazis hingerichtet wurde. Der Dichter dankt jedoch nicht im Namen eines über- oder transnationalen Arbeiterkollektivs, sondern im Namen des eigenen Vaterlandes und der eigenen Nation: Sein Name wird in meinem Vaterland ehrenvoll ausgesprochen Kinder werden hier von Arbeiterinnen die zur Arbeit gehen in den fürsorglichen Schutz warmer und weißer Häuser abgegeben […] Ich spreche den Namen eines Menschen aus der Blut vergossen hat für Glück auf Erden27

Der hyperbolisch beschriebene Feind wird mit einem rücksichtslosen, kriegssüchtigen Kapitalisten, einem zynischen Ausbeuter der Arbeiterklasse assoziiert und somit zum Symbol aller menschenverachtenden, destruktiven Kräfte, die als solche auch die amerikanische Nation bedrohen und eine Gefahr für die ganze Menschheit darstellen: Im Land der achtundvierzig Sterne wird ein Bau von Untergrundstädten geplant sie wollen das Leben vor den Strahlen der Wasserstoffsonnen unter die Erde verlegen […] Freunde Lasst euch weder Hass noch Schrecken einreden Was für einen langen Weg hat euer Land abgeschritten von Walt Whitmans humanem Lied bis zum Gestammel von Ezra Pound der vor dem Zorn der Nation in einem Irrenhaus verborgen bleibt28

27 Róz˙ewicz, Tadeusz: Gabriel Péri. Bd.: Wiersze i obrazy. In: ebd., S. 222f. 28 Róz˙ewicz, Tadeusz: Równina. Bd.: Równina. In: ebd., S. 268f.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Róz˙ewicz’ Gedichtbände aus den 1950er Jahren durch ein Chaos von Eindrücken und Einstellungen gekennzeichnet sind: Einerseits ist der Dichter darum bemüht, zahlreiche positive Bilder des Lebens in der neuen gesellschaftlichen Ordnung poetisch wiederzugeben. Andererseits schimmern in seinen Worten Misstrauen und Zweifel durch, indem er gleichzeitig den verlogenen, autoritären, hermetischen, dogmatischen und obsessiven Charakter dieser Ordnung und somit den Kern des Nationalismus enthüllt. Der Verweis auf Zusammenhänge und Abhängigkeiten, in die er sich als Dichter begab, hat keineswegs zum Ziel, die von ihm getroffenen Entscheidungen zu rechtfertigen bzw. ihnen die Schärfe zu nehmen. Ganz im Gegenteil, sie werden herangeführt, um das Wesen des Nationalismus zu entblößen, der in verschiedenen Formen, in verschiedenen Breitengraden, zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Gründen zur Geltung kommt, um schwarz-weiße Verhältnisse zu schaffen und sich der Identität nicht nur einzelner Individuen, sondern ganzer Gesellschaften und – nomen omen – ganzer Nationen zu bemächtigen. Róz˙ewicz verstand es relativ schnell, so dass sich in seinen Gedichten aus den Jahren 1948– 1955 weltanschauliche Ambivalenzen widerspiegeln. Sie lassen einerseits einen (poetischen) Versuch erkennen, mit der neuen Wirklichkeit vertraut zu werden und unterschiedliche Wertesysteme in Einklang zu bringen. Andererseits fördern sie Gedanken und Folgerungen zutage, die das ideologische Dogma kritisch hinterfragen und seine ungeheuren destruktiven Energien bloßlegen.

Literatur Bochen´ski, Józef Maria: Sto zabobonów. Krótki filozoficzny słownik zabobonów. Kraków: Oficyna Wydawnicza Dajwór 1994. Gellner, Ernest: Narody i nacjonalizm. Übers. von T. Hołówka. Warszawa: Difin 1991. Klemperer, Victor: LTI. Notatnik filologa. Übers. von J. Zychowicz. Warszawa: Aletheia 2014. Miłosz, Czesław: Zniewolony umysł. Kraków: Krajowa Agencja Wydawnicza 1989. Róz˙ewicz, Tadeusz: Ballada o karabinie. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 148f. Róz˙ewicz, Tadeusz: Czas który idzie. Bd.: Czas który idzie. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 196. Róz˙ewicz, Tadeusz: Elegia prowincjonalna. I Przebudzenie. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 161. Róz˙ewicz, Tadeusz: Elegia prowincjonalna. VI Ulica kota w worku. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 164.

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Róz˙ewicz, Tadeusz: Gabriel Péri. Bd.: Wiersze i obrazy. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 222f. Róz˙ewicz, Tadeusz: Głowa w próz˙ni. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 160. Róz˙ewicz, Tadeusz: Obraz. Bd.: Wiersze i obrazy. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 218. Róz˙ewicz, Tadeusz: Odpowiedz´. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 168. Róz˙ewicz, Tadeusz: Równina. Bd.: Równina. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 268f. Róz˙ewicz, Tadeusz: Szybciej niz˙ w marzeniu. Bd. Czas który idzie. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 186f. Róz˙ewicz, Tadeusz: Troskliwos´c´ robotnicza o wspólne. Bd.: Czas który idzie. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 184. Róz˙ewicz, Tadeusz: Wiosenny siew na Korei. Bd.: Wiersze i obrazy. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 220. Róz˙ewicz, Tadeusz: Wyznanie. Bd.: Pie˛c´ poematów. In: Róz˙ewicz, Tadeusz: Poezje zebrane. Wrocław: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich 1971, S. 147. Snyder, Timothy: O tyranii. Dwadzies´cia lekcji z dwudziestego wieku. Übers. von B. Pietrzyk. Kraków: Znak Horyzont 2017. Tönnies, Ferdinand: Wspólnota i stowarzyszenie. Rozprawa o komunizmie i socjalizmie jako empirycznych formach kultury. Übers. von M. Łukasiewicz. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 1988. Ujejski, Józef: Nacyonalizm jako zagadnienie etyczne. Kraków: Nakład Ksie˛garni Czarneckiego 1917.

Nel Bielniak (Zielona Góra) / Małgorzata Łuczyk (Zielona Góra)

Russischer Nationalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts (am Beispiel der Erzählung Masern von Alexander Kuprin)

Ein breit gefasster Nationalismus, verstanden sowohl als Ideologie, Bewegung als auch eine Art Haltung, ist in den letzten Jahren zu einem überaus aktuellen Begriff geworden, u. a. wegen der Migrationskrise in Europa, und wird daher sehr gerne von Publizisten und Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche, von den Politikwissenschaften über Geschichte, Soziologie, Anthropologie bis hin zu Literatur- und Sprachwissenschaft,1 genutzt. Daher kann man doch, wie es scheint, von der Herausbildung eines interdisziplinären Forschungsfeldes sprechen. Das währende Interesse am Phänomen, dessen Wurzeln an die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts reichen, und welches insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert die Schlüsselrolle spielte, da sich in dieser Zeit Nationalbewusstsein 1 Von einer nicht schwindenden Popularität dieser Frage unter Forschern zeugen zahlreiche Veröffentlichungen zum Nationalismus, um nur einige von ihnen zu nennen, die auf dem polnischen Markt erschienen sind: Grott, Bogumił (Hg.): Nacjonalizm czy nacjonalizmy? Funkcje wartos´ci chrzes´cijan´skich, ´swieckich i neopogan´skich w kształtowaniu idei nacjonalistycznych. Kraków: Zakład Wydawniczy »Nomos« 2006; Jezin´ski, Marek: Kulturowe determinanty nacjonalizmu. Torun´: Wydawnictwo Adam Marszałek 2008; Plokhy, Serhii: Kwestia rosyjska: jak budowano naród i imperium. Übers. von Ł. Witczak. Kraków: Znak Horyzont 2019; Jaskułowski, Krzysztof: Nacjonalizm bez narodów: nacjonalizm w koncepcjach anglosaskich nauk społecznych. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2009; Snyder, Timothy: Nacjonalizm, marksizm i nowoczesna Europa S´rodkowa: biografia Kazimierza Kelles-Krauza (1872–1905). Übers. von M. Boguta. Warszawa: Wydawnictwo Krytyki Politycznej 2010; Grott, Bogumił/Grott, Olgierd (Hg.): Nacjonalizmy róz˙nych narodów: perspektywa politologiczno-religioznawcza. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2012; Smolik, Bartosz: Naród we współczesnej polskiej mys´li nacjonalistycznej: problematyka narodu w uje˛ciu głównych nurtów polskiego nacjonalizmu w latach 1989–2004. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2017; Bartyzel, Jacek: Prawica – nacjonalizm – monarchizm. Studia politologicznohistoryczne. Radzymin/Warszawa: Wydawnictwo von boroviecky 2016; Budyta-Budzyn´ska, Małgorzata: Socjologia narodu i konfliktów etnicznych. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2010; Malendowicz, Paweł: W drodze do władzy… Nacjonalistyczne projekty pan´stw Europy XXI wieku. Bydgoszcz/Wa˛brzez´no: Wa˛brzeskie Zakłady Graficzne 2017; Thompson, Ewa M.: Trubadurzy imperium: literatura rosyjska i kolonializm. Übers. von A. Sierszulska. Kraków: TAiWPN »Universitas« 2000.

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verbreitete und Nationalstaaten entstanden,2 trug jedoch nicht zur Erarbeitung einer klaren Definition bei. Daher bleibt der Begriff des Nationalismus für die Forscher nicht unproblematisch. Dieser Umstand führt in der Folge zu einer Vielfalt alternativer Verstehens- und Definitionsweisen des Nationalismus und zu seiner begrifflichen Heterogenität. Daher sind Forderungen begründet, dass man eher von vielen unterschiedlichen Nationalismen sprechen sollte, anstatt von einem Nationalismus als solchem. Das Problem unterschiedlicher Auffassung des analysierten Phänomens kann man veranschaulichen, indem man die angelsächsische und polnische Forschungsliteratur einander gegenüberstellt, welche man mit allen Einschränkungen als repräsentativ für West- und Mittel-Ost-Europa betrachten kann. Nach Krzysztof Jaskułowski umfasst ›Nationalismus‹ in der angelsächsischen Sicht nicht nur ein viel breiteres Phänomen als seine polnische Entsprechung, sondern hat auch eine rein deskriptive, neutrale, axiologische Bedeutung. Als Beispiel führt der polnische Historiker und Soziologe die Worte von Ernest Gellner an, dem Autor der heute mitunter kanonisierten Monographie Nations and Nationalism (1983, dt. Nationalismus und Moderne, 1995), der den Nationalismus als ein normatives politisches Prinzip betrachtet, das besagt, dass die Grenzen der Staaten mit den Grenzen der Nationen übereinstimmen sollten; folglich sollte jede Nation ihren eigenen Staat haben. Völlig andere Definitionen, die das Verständnis dieses Begriffs in der Umgangssprache bestimmen und dabei den Aspekt der Feindlichkeit anderen Völkern gegenüber und die Apologie der eigenen Nation hervorheben, kann man, wie Jaskułowski schreibt, nicht nur in polnischen Wörterbüchern und Lexika finden, sondern auch in der einschlägigen Forschungsliteratur zu nationalen Problemen. Es soll an dieser Stelle jedoch unterstrichen werden, dass es nicht die einzige Art ist, das Phänomen des Nationalismus in der polnischen Literatur darzustellen. Es lassen sich auch Interpretationen finden, die dem angelsächsischen Forschungsdiskurs nahekommen, der sich allerdings auch nicht einig über die Definition des Nationalismus ist.3 2 Chojnicka, Krystyna/Jaskólski, Michał (Hg.): Słownik historii doktryn politycznych. H. 4. Warszawa: Wydawnictwo Sejmowe 2009, S. 283f. 3 Jaskułowski, Krzysztof: Co to jest nacjonalizm? In: »Sprawy Narodowos´ciowe. Seria Nowa« H. 18 (2001), S. 81–91, hier S. 82f, S. 86. Als Beispiel dient uns ein Wörterbucheintrag in Słownik Wyrazów Obcych PWN (Warszawa 1980), er ist nämlich ähnlich mit dem im aktuellen Wörterbuch des Russischen. Im polnischen Kompendium wurde der Nationalismus definiert als: »eine sozial-politische Haltung und Ideologie, die die Interessen anderer Völker den Interessen des eigenen Volkes oder Rasse unterordnet; äußert sich im nationalen Egoismus, in übertriebener Darstellung guter Eigenschaften und im Nicht-Sehen der Schwächen der eigenen Nation, im Fordern von besonderen Privilegien für die eigene Nation und in Abneigung, Intoleranz und Feindlichkeit anderen Völkern gegenüber« (S. 500). In der russischen Quelle lesen wir dagegen, dass der Nationalismus erstens Folgendes bezeichnet: »Идеология и политика, исходящая из идей национального превосходства и противопоставления своей нации другим, подчиняющая общечеловеческие интересы и ценности национальным

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Eine ähnliche Heterogenität war auch typisch für den von uns hier analysierten breit gefassten russischen Nationalismus vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Nicht unbemerkt von den Forschern blieb auch die Tatsache, dass der russische Nationalismus nicht als ein universales Phänomen gezeigt werden kann, u. a. wegen des Beitrags unterschiedlicher sozial-politischer Kräfte zur Entwicklung und Einführung des ›russischen Volksprojekts‹. Darüber hinaus war der russische Nationalismus im Rahmen des Russischen Imperiums des 19. Jahrhunderts gewissermaßen zur Mehrsträngigkeit verurteilt. Es ist völlig verständlich, dass Ziele, ideologische Inhalte und Mythologie des Nationalismus im Fall der Nationen, die um ihre Unabhängigkeit kämpften, sich vom Nationalismus einer Nation unterschieden, die als die ethnische Grundlage eines Staates galt. So konnte der russische Nationalismus keine homogene konsolidierende Idee sein, mit Ausnahme der Komponente der steigenden äußeren Bedrohung. Im Übrigen machte er sozialen Zielen Platz und wurde in den Händen unterschiedlicher politischer Kräfte zu einem Werkzeug der Beeinflussung des russischen Volkes.4 Zu Faktoren, die eine Zunahme des Nationalismus als Haltung und Doktrin begünstigten, kann man insbesondere den Prozess der Demokratisierung und der Ausweitung der politischen Freiheiten zählen.5 Ein solcher Generator war in Russland des 19. Jahrhunderts die Epoche großer Reformen des Zaren Alexander II., die mit der Abschaffung des Frons im Jahre 1861 begann. Diese Veränderungen spornten die russische Gesellschaft an und machten den Weg zum Kapitalismus in Russland frei. Gleichzeitig wurden sie aber auch zum Wendepunkt sowohl in der Geschichte des russischen Nationalismus als auch in der Wahrnehmung der nationalen Frage im Russischen Imperium überhaupt. Es war eben in den 1860er und 1870er Jahren, nachdem ein großer Teil der russischen Nation persönliche Freiheit erlangte, als in der Publizistik die sog. ›Russische Frage‹ (›русский вопрос‹) zur Sprache kam und die Polemik darüber, wer die Russen sind, auf eine völlig neue Ebene brachte. Zur Erforschung dieses Problems trugen weitgehend die Vertreter des konservativen Lagers bei, die traditionell ein besonderes Augenmerk auf die ›Russische Frage‹ legten.6

интересам«; zweitens: »Проявление чувства национального превосходства, идей национального антагонизма, национальной замкнутости« (Кузнецов, Сергей Александрович (Hg.): Большой толковый словарь русского языка. Санкт-Петербург: »Норинт« 2004, S. 608). 4 Кудряшев, Вячеслав Николаевич: Русская общественная мысль в поисках национальной идентичности: зарождение русского национализма (вторая половина XIX в.). In: »Русин« Nr. 4 (2014), S. 117–129, hier S. 120f. 5 Chojnicka/Jaskólski (Hg.), Słownik historii doktryn, S. 283. 6 Иванов, Андрей Александрович: Трактовка понятия »русские« в российской консервативной мысли (1860-е – 1917 гг.). In: »Studia Slavica et Balcanica Petropolitana« Nr. 2 (2017), S. 40–50, hier S. 40.

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Das Problem des »Russisch-Seins« und der Koexistenz unterschiedlicher Nationen im Rahmen des Russischen Imperiums verlor in den folgenden Jahrhunderten nicht an seiner Aktualität, was hauptsächlich auf die sich vertiefende Krise des Staates zurückzuführen ist. Nach dem Mord an Alexander II. bestieg Alexander III. den Thron, der die fortschrittliche und liberale Politik seines Vorgängers ablehnte und sich darauf konzentrierte, die Macht, die russische Sprache und die orthodoxe Religion zu stärken, was eine Verstärkung der Russifizierung und den Anstieg des Antisemitismus zur Folge hatte. Der letzte der Romanows setzte wiederum den Erwartungen der Gesellschaft entgegen die Politik seines Vaters fort. Da er für die Rolle eines Staatsoberhaupts nicht geeignet war und sie vielmehr als eine Bürde betrachtete, wurde er – so Krzysztof Cies´lik und Józef Smaga –, zum Faktor des gesellschaftlichen Unmuts. An der Spitze eines derartig zentralisierten Staates, dass er fast unmöglich zu regieren war, in einer Epoche, in der Europa von der Versteinerung der Heiligen Allianz in eine Zeit verstärkten Nationalismus und gesellschaftlicher Erschütterungen trat, stand ein Mensch, der wankelmütig, farblos war aber dabei fasziniert von obsessiven Ideen, die ihm die bestehende Wirklichkeit verschleierten.7 Nikolaus II. war u. a. Verfechter des Konzepts der »wahren Russen« (»истинно русские люди«), das nicht nur extrem nationalistisch, da es die Vertreter anderer Völker ausschloss, sondern auch antiintellektuell war. Ein Zar, der ständig zeigte, dass er seine Rolle und die Situation seines Landes nicht versteht und unter dem Einfluss der Hofkamarilla und der Rechtskreise steht, die um jeden Preis die Begrenzung der Alleinherrschaft verhindern wollten, sabotierte im Endeffekt weitsichtige Maßnahmen talentierter Aktivisten, wie Sergej Witte oder Pjotr Stolypin, würdigte dagegen demonstrativ (während der Privataudienzen) die unterschiedlichsten »Wahrhaftigen«. Die letzteren veranstalteten mit seiner Erlaubnis eine Hetzjagd auf nationale Minderheiten, verbunden mit einer starken territorialen Expansion, was kurzfristig die Stimmung der gesellschaftlichen Frustration entschärfte. Des Weiteren erleichterte es den Kampf mit dem Fremdkapital. Längerfristig sah man in der Hälfte der Untertanen Staatsfeinde.8 Ein spezifisches Produkt der damaligen russischen Realität und Ergebnis einer gewissen Reflexion über die umfassende Krise, in die das Russische Imperium geriet, war die Entstehung der ersten Parteien und Organisationen verschiedenster politischer Orientierungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Einen besonderen Platz unter ihnen nahmen konservative Kräfte ein, die unter der gemeinsamen Bezeichnung »Schwarze Hundert« in die Geschichte eingingen. 7 Cies´lik, Krzysztof/Smaga, Józef: Kultura Rosji przełomu stuleci (XIX–XX). Warszawa: Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne 1991, S. 8f. 8 Smaga, Józef: Rosja w 20 stuleciu. Kraków: Wydawnictwo Znak 2001, S. 9, S. 13, S. 16; Cies´lik/ Smaga, Kultura Rosji, S. 9.

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Die Schwarzhunderter-Bewegung, die im russischen Staat in den Jahren 1900– 1917 tätig war, setzte sich zum Ziel eine Restaurierung der Majestät und Größe des Russischen Imperiums, die Restitution der Orthodoxie als dominierende Religion und die Konfrontation mit antistaatlichen gesellschaftlichen Tendenzen. Die Wirkungsrichtung der Rechts-Monarchie-Bewegung bestimmte die bekannte Dreiheit »Orthodoxie, Alleinherrschaft, Volkstümlichkeit« (»Православие, Самодержавие, Народность«9) von Sergei Uwarow, der 1832 die Einheit des Volkes, des Staates und der Religion zur Grundlage der russischen Staatsideologie erklärte. Eines der wichtigsten Prinzipien der Ideologie der Schwarzhunderter war die Beachtung des Nationalitätenprinzips, wobei die Nationalität als das Russische verstanden wurde, in engem Zusammenhang mit der Orthodoxie und Loyalität dem autokratischen Regime gegenüber. Zum ersten Mal präsentierten die Schwarzhunderter einen konsolidierten Standpunkt zur nationalen Frage auf dem Ersten Gesamtrussischen Kongress (Первый Всероссийский съезд русских людей) in Moskau im April 1906. Für die größten Feinde des russischen Staates wurden damals die Deutschen und die Juden erklärt.10 Anfang des 20. Jahrhunderts, in einem durch unaufhörliche Spannungen und Krisen gezerrten Land, als das sich wegen des verlorenen Krieges mit Japan verschlechternde Gesellschaftsklima zum Ausbruch der Revolution im Jahre 1905 beitrug und es im ganzen Land zu studentischen Ausschreitungen, Arbeiterstreiks, Bauerntumulten, Revolten in der Armee, Meutereien in der Flotte sowie antijüdischen Pogromen kam, fielen die gegen andere ethnische Gruppen 9 Es soll hier bemerkt werden, dass der letzte Teil der Triade (›народность‹) gelegentlich als ›Nationalität‹ oder als ›Volkstümlichkeit‹ übersetzt wird. Das russische Wort ›народ‹ kann nämlich sowohl »Nation«, als auch ›Volk‹ bedeuten, was u. a. zu einem dualen Verständnis der Idee der Nation von den Slawophilen und ihren Fortsetzern führte. Wir bedienen uns hier des Begriffs ›Nationalität‹, der nach Andrzej de Lazari eine der grundlegenden und zugleich am wenigsten konkreten Kategorien des russischen Denkens ist. Er bezeichnet in der Regel die ›Persönlichkeit des Volkes‹, Nationalität (des russischen und sowjetischen Volkes) und hat nichts gemeinsam mit der Kategorie der Volkstümlichkeit. Er ist darüber hinaus die Grundlage des russischen und sowjetischen Nationalismus. Siehe: Lazari, Andrzej de (Hg.): Mentalnos´c´ rosyjska. Słownik. Katowice: »S´la˛sk« 1995, S. 58; Wawrzyn´czak, Aleksander: Naród i pan´stwo w twórczos´ci pisarzy rosyjskich nurtu »wiejskiego«. Wasilij Biełow, Władimir Liczutin, Walentin Rasputin. Kraków: »Universitas« 2005, S. 54f. 10 Ивакин, Алексей Геннадьевич: Основные элементы правоконсервативной идеологии черносетинства в начале XX в. In: »Среднерусскй вестник общественных наук« Nr. 3 (2014), S. 285–292. Wie der russische Forscher hervorhebt, schlugen die Schwarzhunderter den Juden gegenüber weit gehende Einschränkungen ihrer Rechte vor (Einschränkung der politischen Rechte sowie Einschränkung im Staatsdienst, öffentlichen Dienst und Wehrdienst). Dennoch kann man wegen der Heterogenität der Bewegung selbst nicht eindeutig den Standpunkt der Schwarzhunderter zur nationalen Frage bestimmen. Einerseits zeichneten sie sich aus durch kompromisslosen, an Xenophobie und Chauvinismus grenzenden Antisemitismus, andererseits gab es auch Organisationen, die etwas gemäßigtere Meinungen präsentierten und es sogar zuließen, Juden in ihre Reihen aufzunehmen.

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als die die russische gerichteten Parolen auf fruchtbaren Boden und erlangten Zustimmung breiter Massen. Sie setzten auf die einfachsten Emotionen, die auf Megalomanie und Hass basierten, was mit der Verbreitung von äußerst positiven Meinungen über die eigene Nation und von höchst negativen über andere einherging.11 Das erlaubte wiederum die Beurteilung der umgebenden Welt durch die Opposition vertraut vs. fremd, die anderweitig tief in der russischen Kultur verwurzelt ist.12 Die russische Literatur reagierte immer schnell auf die Veränderungen im sozial-politischen Leben des Landes. Es kann also nicht wundern, dass die russischen Schriftsteller in ihrem Schaffen, sowohl auf der Erzähl- als auch Sprachebene, nicht nur eine Steigerung nationalistischer Haltungen, insbesondere im Geiste des großrussischen Nationalismus, diagnostiziert und festgehalten haben, sondern auch ihre Verschärfung, die sich in Unfreundlichkeit oder gar Aggression anderen gegenüber äußerte. Einer dieser Autoren war Alexander Kuprin (1870–1938), ein Sittenschriftsteller und gleichzeitig Russe mit tatarischen Wurzeln, was in gewissem Maße seine Wahrnehmung der Realität determinierte. Diese war für die Einführung in nahezu jedes Werk von Vertretern anderer Völker verantwortlich und begründete eine Art Sensibilisierung, für jegliches Anzeichen von Ungerechtigkeit nationalen Minderheiten gegenüber, deren Zeuge er mehrmals war, zu reagieren. Während seines Wehrdienstes und seiner zahlreichen Wanderungen durch das Land sammelte Kuprin ein reiches Tatsachenmaterial, das er dann in seinen Werken nutzte. Der Schriftsteller weilte mehrmals in westlichen und südlichen Grenzgebieten des Russischen Imperiums, wo die Antagonismen besonders gut zu sehen waren. Die von ihm gerne besuchten Regionen Podolien, Polesien oder Wolhynien waren alte Gebiete der Polnischen Adelsrepublik, von Russland annektiert. Sie stellten die sog. ›Besiedlungszone‹ (›черта оседлости‹) dar, wo die zaristischen Behörden der jüdischen Bevölkerung erlaubten, sich niederzulassen. Daher wohnten hier vor allem Bekenner des Judaismus, während die Polen, Ukrainer und Vertreter der dominierenden Kultur weniger zahlreich vertreten waren. Es hinderte sie jedoch nicht daran, offen ihre Abneigung gegenüber den Andersstämmigen zu demonstrieren. Auf der Krim bildeten dagegen u. a. die Tataren, die Griechen und die Karäer neben den Juden einen Großteil der Bevölkerung. Einen Widerhall dieser Erfahrungen findet man u. a. in den Erzählungen: Die Jüdin (Жидовка, 1904), Gambrinus (Гамбринус, 1906), Die Hochzeit (Свадьба, 1908) oder Der Schüler (Ученик, 1908). Als Beispiel zeichnet Kuprin in dem letztgenannten Werk ein Bild eines typischen Vertreters des Beamtenapparats, der den vom Zar geförderten Ideen huldigt. In der Beschreibung eines 35 Jahre alten Landbesitzers 11 Chojnicka/Jaskólski (Hg.), Słownik historii doktryn, S. 291. 12 Lazari de (Hg.), Mentalnos´c´ rosyjska, S. 58.

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werden Eigenschaften hervorgehoben, die die Entwicklung der nationalistischen Gedanken von einer chauvinistischen oder xenophoben Färbung bei ahnungslosen Menschen begünstigten. Kostretsow zeichnet sich durch Dummheit, Naivität und Eifer aus, und dabei: Как представитель власти и член всероссийской дворянской семьи, он пересаливал в своем патриотизме и постоянно завирался. От Нижнего до Саратова он уже успел перестрелять и перевешать всех жидов, финляндцев, поляков, армяшек, малороссов и прочих инородцев.13

In den Mittelpunkt unserer Erwägungen rückt jedoch nicht zufällig ein anderes Werk des russischen Prosaisten. Die von den Herausgebern dieses Bandes in der Einladung zur Zusammenarbeit zitierten Worte Albert Einsteins, in denen der in der gleichen Zeit wie Kuprin lebende Nobelpreisträger den Nationalismus mit einer Kinderkrankheit vergleicht, die die Menschheit den Masern ähnlich überstehen muss, rufen sofort Assoziationen an die Kuprin’sche Erzählung – nomen omen – Masern (Корь, 1904) hervor. Und sie handelt tatsächlich von der für die analysierte Zeit symptomatischen Auffassung des Terminus Nationalismus, verbreitet damals oberflächlich in der Umgangssprache, was dem Autor erlaubte, die Erscheinung mit einem unvermeidlichen, lästigen Ausschlag zu vergleichen. Вы – не болезнь, не язва, вы – просто неизбежная, надоедливая сыпь, вроде кори. Но ваша игра в широкую русскую натуру, все эти ваши птицы-сирины, ваша поддевка, ваши патриотические слезы – да, это действительно смешно.14

Interessant ist dabei, dass in den oben zitierten Fragmenten zweier unterschiedlicher Autoren der positiv charakterisierte Patriotismus und der negativ gezeichnete Nationalismus nicht deutlich auseinandergehalten werden, wofür einige Forscher plädieren.15 Das Unvermögen, patriotische und nationalistische Haltungen voneinander zu trennen, ist hier verbunden mit der Umwandlung der russischen nationalistischen Doktrin an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Verstärkung der Faktoren, die die Förderung von nationalistischen Positionen begünstigten, trug zur Radikalisierung der Doktrin selbst bei, die den Weg von der Affirmation der ethnischen Unterschiede, über eine Phase des Miss13 Куприн, Александр Иванович: Ученик. In: Куприн, Александр Иванович: Собрание сочинений в девяти томах. Bd. 5. Москва: »Художественная Литература« 1970–1973, S. 92. 14 Куприн, Александр Иванович: Корь. In: Куприн, Александр Иванович: Собрание сочинений в девяти томах. Bd. 3. Москва: »Художественная Литература« 1970–1973, S. 324. 15 Krzysztof Jaskułowski beschreibt recht detailliert die Tendenzen einiger Forscher zur Unterscheidung der nationalen Ideologien und Haltungen in »schlechte« (Nationalismus) und »gute« (Patriotismus). Gleichzeitig konstatiert er, dass derartige Herangehensweisen das Erfassen von Gemeinsamkeiten nationaler Ideologien im Vergleich mit anderen Ideologien nahezu unmöglich machen. Vgl. Jaskułowski, Co to jest, S. 81–91.

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trauens den Fremden gegenüber, bis hin zum Stadium der Feindlichkeit und des Hasses gegangen ist.16 In dem 1904 entstandenen Werk, dessen Handlung auf der Krim spielt, zeigte Kuprin die Steigerung nationaler Antagonismen und die Eskalation der Gewalt am Vorabend der Revolution. Der Prosaist skizzierte hier einen künftigen Schwarzhunderter, dessen emotionale Aussagen eher die Form einer sprachlichen Aggression annehmen, sowohl der heimischen Intelligenz und den nationalen Minderheiten des Russischen Imperiums, insbesondere denjenigen mit nationalen Forderungen, als auch den Vertretern anderer europäischer Völker gegenüber: Этому безобразию подходит конец. Русский народ еще покамест только чешется спросонья, но завтра, господи благослови, завтра он проснется. И тогда он стряхнет с себя блудливых радикальствующих интел-ли-гентов, как собака блох, и так сожмет в своей мощной длани все эти угнетенные невинности, всех этих жидишек, хохлишек и полячишек, что из них только сок брызнет во все стороны. А Европе он простонапросто скажет: тубо, старая.17

Dem Protagonisten war die früher angedeutete Überzeugung der Schwarzhunderter, dass von der deutschen Bevölkerung eine Gefahr ausgehe, nicht fremd,18 sowie die in manchen Kreisen äußerst verbreiteten monarchistischen Ansichten: Слава богу, что теперь все больше и больше находится таких людей, которые начинают понимать, что кургузый немецкий пиджак уже трещит на русских могучих плечах; которые не стыдятся своего языка, своей веры и своей родины; которые доверчиво протягивают руки мудрому правительству и говорят: »Веди нас!«19

Pavel Savalischin hält sich für einen wahren Russen, was ihn mit großem Stolz erfüllt. Dies artikuliert sich expressis verbis in solchen Aussagen wie: »я истинно русский человек«, »я человек прямой, настоящий русопет«, »Горжусь тем, что я русский!«20 Er unterstreicht sein Russisch-Sein und die Überlegenheit alles Russischen, von den Lebensmitteln bis hin zur Architektur, äußert sich gleichzeitig geringschätzig über die Wirtschaft und Kultur anderer Völker. Er ist der festen Überzeugung, dass er nur das sagt, was jeder ehrliche russische Untertan denken und fühlen soll. In solch einer restriktiven Interpretation des ›Russi16 Chojnicka/Jaskólski (Hg.), Słownik historii doktryn, S. 283. 17 Куприн, Корь, S. 322. 18 Während des erwähnten Kongresses im Jahre 1906 nahmen die Schwarzhunderter eine Resolution an, in der sie u. a. dazu aufgerufen haben, die Privilegien der deutschen Bevölkerung abzuschaffen wegen ihrer Schädlichkeit sowohl für das lokale Wohl der Bevölkerung als auch des gesamten Russlands. Sie warnten darüber hinaus vor einer Russland drohenden Gefahr der Kolonisierung der deutschen Region durch die Deutschen. Siehe: Ивакин, Основные элементы правоконсервативной, S. 289. 19 Куприн, Корь, S. 321. 20 Ebd.

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schen‹ scheinen konservative Ansichten eines Ideologen des russischen Nationalismus zu verhallen, der seinen Standpunkt in der Regel in der Zeitung »Die neue Zeit« (»Новое время«) präsentierte. Nach Michail Menschikow gab es ein recht klares Kriterium, das die Unterscheidung eines Russen von einem NichtRussen ermöglichte – die Parole ›Russland für die Russen‹ (›Россия для русских‹). Alle, die sich durch diese Worte beleidigt fühlen, überzeugte Menschikow, bestätigen zugleich, dass sie keine Russen sind.21 Die Manifestation seines Russisch-Seins durch Savalischin nimmt manchmal merkwürdige Formen an, indem sie zu einer einfachen Bauernmanie wird. Der Protagonist eignet sich nationalistische Parolen an und sucht in der heimischen Folklore nach einer Inspiration fürs deutlichere Exponieren des russischen Geistes. Das kommt u. a. in seiner sonderbaren Bekleidung und einem auffälligen Seehaus zum Ausdruck. Savalischin trägt in häuslicher Abgeschiedenheit stets sonderbare Kleidung, die an den russischen Stil anknüpfte: hohe lackierte Schuhe und eine blaue seidene Kossoworotka, und darüber einen Sarafan aus Tschesutscha mit einem goldenen Gürtel mit Dutzenden Schmuckanhängern. Das ließ ihn wie einen provinziellen Entrepreneur aussehen und unterstrich die Unnatürlichkeit oder gar Theatralik dieser Geste, der die europäische Bekleidung des Dieners, der einen Frack trug, um sich vom Prinzipal zu unterscheiden, gegenübersteht. Ebenso gekünstelt und auffällig war die Datsche von Savalischin, die die Harmonie der Krimlandschaft störte: […] затейливо и крикливо выстроенная в виде стилизованного русского терема, с коньками и драконами на крыше, со ставнями, пестро разрисованными цветами и травами, с резными наличниками, с витыми колонками, в форме бутылок, на балконах.22

Nach den Quellen dieser Verhaltensweisen sollte man nicht nur in den Ideen der Schwarzhunderter suchen, sondern in der über das ganze 19. Jahrhundert andauernden Diskussion über die Idee der Nation und des Staates. Die Schwarzhunderter ignorierten in ihrem Streben nach einer einheitlichen Definition der Nationalität praktisch die westlichen Programme und schöpften vor allem aus den einheimischen ideologischen Wurzeln, insbesondere aus dem russischen Konservatismus, daher standen ihnen die Ideen der Slawophilen und ihrer 21 Иванов, Трактовка понятия »русские«, S. 44. Menschikow hielt trotz einer recht engen Auffassung den Begriff »Russisch« nicht für eine angeborene, sondern aufbauende Eigenschaft. Er ließ deswegen auch zu, dass Vertreter nationaler Minderheiten zu Russen konvertieren. Erwähnenswert ist hier, dass die Parole »Russland für die Russen«, deren Menschikow überzeugter Anhänger war, in dem russischen Gesellschaftsgedanken schon im Jahre 1867 erschienen ist in der konservativen Zeitung »Wiest« (»Весть«). Damals wurden allerdings alle treuen Untertanen des Russischen Imperiums für Russen gehalten. Mit der Zeit begann die Auffassung des Begriffs »Russe« sich einzuengen (ebd., S. 40–44). 22 Куприн, Корь, S. 316.

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Epigonen so nahe. Slawophile stellten den russischen Lebensstil über den westeuropäischen und glaubten darüber hinaus an die große Mission der Russen, die darauf beruhen sollte, den christlichsten aller Staaten zu errichten. Eine eindeutige Konzeption des Nationsbegriffs haben sie jedoch letztendlich nicht ausgearbeitet, was übrigens einer der Gründe des Verfalls des slawophilen Gedankens war. Mit der Zeit begann darin das nationalistische Element zu dominieren, das sich durch kritiklose Volksmanie auszeichnete.23 Die Idiosynkrasie Savalischins anderen Nationen gegenüber zeigte sich auch deutlich auf der sprachlichen Ebene, in seinen Aussagen über Vertreter ethnischer Minderheiten dominieren pejorativ gefärbte Diminutivformen, die auf einen geringen Wert dieser Völker hindeuten. Diminutiva wie жидишки, хохлишки, полячишки mit dem Suffix -ишк- drücken hier eine Negativität, Verächtlichkeit, Respektlosigkeit den Vertretern dieser Völker gegenüber oder Ironie mit einer Spur Mitleid aus,24 was auch in Form der Wortverbindung жалкие народишки verbalisiert wird, wo das Adjektiv жалкий (›kläglich‹) soviel bedeutet wie ›ничтожный, негодный, презренный‹ (›kümmerlich, miserabel‹; ›niederträchtig, erbärmlich‹; ›jämmerlich‹).25 Ethnophaulismen – жид (Jude) und хохол (Chochol) –, die die Grundlage der gezeigten Derivate darstellen, sind an sich schon negativ gefärbt. Weil sie in einem konkreten situativen Kontext verankert sind, haben sie ein sozial-politisches Gepräge und stellen ein Ergebnis extralinguistischer sozialer Stimmungen im Russischen Imperium und der nationalistischen Ideologie dar, die der Protagonist verkörpert. Das Exoethnonym жид (Jude) ist eine herabwürdigende Bezeichnung der Vertreter der jüdischen Minderheit bei einer neutralen Nomination еврей, ähnlich wie das Schimpfwort хохол ›украинец, малоросс‹, das von den Russen als eine abfällige Bezeichnung der Ukrainischsprecher gebraucht wird.26 Erwähnenswert ist, dass die Bezeich23 Wawrzyn´czak, Naród i pan´stwo, S. 54–57; Размолодин, Максим Львович: Трактовка понятия »русскости« в черносетинной идеологии. In: »Научный журнал КубГАУ« Nr. 62 (2010), S. 1–9, hier S. 1, S. 3. 24 Воронина, Людмила Петровна, Семантика и прагматика деминутивных суффиксов в русском языке, S. 15–16, URL: https://cyberleninka.ru/article/n/semantika-i-pragmatika-de minutivnyh-suffiksov-v-russkom-yazyke / letzter Zugriff am 11. Juni 2019; Шведова, Наталия Юльевна (Hg.): Русская грамматика, т. I: Фонетика. Фонология. Ударение. Интонация. Словообразование. Морфология. Москва: Наука 1980, S. 213. 25 Ожегов, Сергей Иванович: Словарь русского языка. Москва: »Русский язык« 1978, S. 174; Mirowicz, Anatol: Wielki słownik rosyjsko-polski. Bd. 1–2. Warszawa/Moskwa: Wiedza Powszechna/Russkij Jazyk 1980. 26 In Zusammenhang mit den Aussagen eines Vertreters der Schwarzhunderter scheint der Terminus Ethnophaulismus angemessener zu sein als der von russischen Forschern vorgeschlagene Terminus expressiver Ethnonym, der unterschiedliche Färbungen der Bedeutung der Beschimpfung хохол berücksichtigt – von einer ironischen über eine abfällige bis hin zu einer scherzhaften und gutnachbarschaftlichen. Siehe: Грищенко, Александр Игоревич/ Николина, Наталия Анатольевна: Экспрессивные этнонимы как приметы языка вражды.

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nung жид ursprünglich keinen beleidigenden Charakter hatte, wandelte sich aber mit der Zeit auf ideologischer Grundlage und wurde zu einem von den Chauvinisten am häufigsten gebrauchten Ersatz für das neutrale Ethnonym еврей.27 Die Opposition жид/еврей blieb im gegenwärtigen Russischen erhalten.28 Eine genauso pejorative expressive Färbung hat in den Aussagen des Schwarzhunderters die Behelfsbezeichnung für einen Juden in Form des stereotypischen Vornamens eines Bekenners des Judaismus Шмуль (← Шмуэль ← hebr. Sˇemu’el)29: »И главное, везде жид, жид, жид! Кто у нас доктор? Шмуль. Кто аптекарь? банкир? адвокат? Шмуль. Ах, да черт бы вас побрал!«30 Nicht weniger beleidigend ist die Beschimpfung колбасники (›Wurstfresser‹), die die Ernährungsgewohnheiten der Deutschen exponiert: »Спрашивается, зачем я должен выписывать от колбасников разные там мозельвейны и другую кислятину, если у нас, в нашей матушке России, выделывают такие чудные вина. А?«31 Nicht-russische Völker werden als ›fremd‹ wahrgenommen, häufig in einer Opposition ›vertraut – fremd‹, ›wir – sie‹. Im Diskurs der Nationalisten kann diese fundamentale Opposition die Gestalt der Antithese von ›Hausherr – Gast‹ annehmen. In Aussagen russischer Nationalisten kommt am Anfang des 20. Jahrhunderts ziemlich deutlich ein metaphorisches Modell ›Staat = Haus‹ zum Ausdruck, was von Kuprin in der Aussage eines anderen Protagonisten der Erzählung, die als eine Reaktion auf die verbale Glorifizierung von allem, was

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In: Вепрева, Ирина Трофимовна/ Купина, Наталия Александровна/ Михайлова Ольга Алексеевна (Hg.): Язык вражды и язык согласия в социокультурном контексте современности: Коллективная монография, »Труды Уральского МИОНа«. Vol. 20: Екатеринбург: Издательство Уральского университета 2006, S. 175–187, hier S. 177; Ляшенко, Игорь Владимирович: Этнические прозвища украинцев в российской и украинской блогосферах. In: »Научный результат. Сетевой научно-практический журнал«, Серия: Вопросы теоретической и прикладной лингвистики, S. 111–119, hier S. 114. URL: https://cyberleninka.ru/ article/n/etnicheskie-prozvischa-ukraintsev-v-rossiyskoy-i-ukrainskoy-blogosferah / letzter Zugriff am 29. Juli 2019. Ушаков, Дмитрий Николаевич (Hg.): Толковый словарь русского языка. Москва: Гос. ин-т »Сов. энцикл.« 1935–1940 (4 Bde.); Гос. изд-во иностр.и нац. cлов. URL: https:/biblioclub. ru/?page=dict&dict_id=117 / letzter Zugriff am 10. Juli 2019. Скляревская, Галина Николаевна (Hg.): Толковый словарь русского языка XX в. Языковые изменения. Санкт-Петербург: »Фолио-Пресс« 1998, S. 229. Zu sowjetischen Zeiten wurde der Gebrauch des Autonyms Jude verboten, der als eine antisemitische Bezeichnung betrachtet wurde. Siehe: Pacuła, Jarosław: Polskie i rosyjskie egzoetnonimy i przezwiska Z˙yda w konteks´cie stereotypu je˛zykowego. In: »Linguarum Silva« Nr. 1 (2012), S. 135–148. hier S. 138. URL: http://bazhum.muzhp.pl/media//files/Linguarum_Silva/Linguarum_Silva-r2012-t1/Lin guarum_Silva-r2012-t1-s135-148/Linguarum_Silva-r2012-t1-s135-148.pdf / letzter Zugriff am 1. Juli 2019. Ebd., S. 141. Куприн, Корь, S. 322. Ebd., S. 320f.

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russisch bzw. großrussisch ist, hervorgehoben wird: »– В ва-ашем до-оме, – сиплым тенорком запел доктор. – Известно, – вы кацап«.32 Die Beschimpfung кацап (›unter den ukrainischen Chauvinisten bis zur Revolution verächtlich über die Russen‹)33 im Zusammenhang mit der oben genannten хохол schildert die sprachlichen Möglichkeiten zur Exponierung emotionaler Haltung dem ›Anderen‹ gegenüber in umgekehrter Konstellation. Zu expressiven Ethnonymen in den Aussagen des Schwarzhunderter Protagonisten der Erzählung, bei der Dominanz der Exoethnonyme, gehören auch Endoethnonyme, die die ›Vertrauten‹ bezeichnen. Häufig haben sie eine nicht minder pejorative Ladung als die Ethnophaulismen.34 Savalischin bezeichnet sich selbst als русопетом d. h. als ›ein Russe mit deutlich chauvinistischen Ansichten‹.35 Die gezeigte Opposition ›vertraut – fremd‹, ›Hausherr – Gast‹, reflektiert in der konzeptuellen Metapher36 ›Vaterland = Haus‹, unterstreicht deutlich die Idee der Dominanz der russischen Nation im Russischen Imperium. Die russische Nation baute dieses Haus auf, ist also sein Herr; andere Nationen sind in diesem Haus nur zu Gast, daher sollten sie dem Hausherr gegenüber keine Ansprüche erheben. Der Gast kann sich in dem Haus nur unter den vom Eigentümer/Hausherren definierten Bedingungen aufhalten. Die Hausmetapher wird also in der konfrontativen Funktion verwendet. So spricht Savalischin über ethnische Minderheiten als Menschen, die den Hausherren nicht achten und für sich die gleichen Rechte anmaßen, die die Erbauer dieses Hauses also die Russen haben. Er stellt sie als Unruhestifter und Zerstörer des Hauses dar. Wenn die Unterordnungsregeln nicht mehr richtig funktionieren, weil sie von den Gästen, die im Haus zu frei zu wirtschaften beginnen, ohne sich an die Regeln der Gastfreundlichkeit zu halten, verletzt werden, geht das dem Haus zu Schanden37: »– Я говорю только

32 Ebd., S. 314. 33 Ушаков (Hg.), Толковый словарь русского языка. 34 Грищенко, Александр Игоревич/ Николина, Наталия Анатольевна: Экспрессивные этнонимы как приметы языка вражды. In: Вепрева, Ирина Трофимовна/Купина, Наталия Александровна/Михайлова Ольга Алексеевна (Hg.): Язык вражды и язык согласия в социокультурном контексте современности: Коллективная монография, »Труды Уральского МИОНа«, Vol. 20: Екатеринбург: Издательство Уральского университета 2006, S. 175–187, hier S. 182. 35 Ушаков (Hg.), Толковый словарь русского языка. 36 Der Terminus der konzeptuellen Metapher wird im Text gebraucht nach dem Konzept von George Lakoff und Mark Johnson Metafory w naszym z˙yciu [dt. Leben in Metaphern]. Übers. von T.P. Krzeszowski. Warszawa: PIW 1988, wo »Konzeptuelle Metaphern sind eine konventionelle, häufig unterbewusste Kozeptualisierung eines Erfahrungsbereiches in den Begriffen eines anderen Bereiches« (S. 22). 37 Дулесов, Евгений Павлович: Народ свой отчий строил дом, / слагал Руси державной зданье: метафора дома в дискурсе русских националистов XX в. In: »Вестник Удмурт-

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одно: у нас, куда ни обернешься, сейчас на тебя так мордой и прет какаянибудь благородная оскорбленная нация. Свободу! язык! народные права!«38 In der Aussage Savalischins bekommt der ›Fremde‹ tierische Eigenschaften прет мордой (›Schnauze/Maul hineinzwängen‹), was nach russischen Forschern typisch für den nationalistischen Diskurs ist und ein Wesenszug in der Konzeptualisierung des Nationalitätenproblems im Russischen Imperium darstellt. Zoomorphismen gehören zur traditionellen Bedeutungsschicht der politischen Metapher und spielen dabei die Rolle eines der expressivsten sprachlichen Mittel. Für zoomorphe Bilder des ›Fremden‹ ist bei allgemeiner pejorativer Färbung eine Vielfalt pragmatischer Funktionen charakteristisch.39 Im Vergleich zum oben angeführten Bild des ›Fremden‹ als eines Aggressors werden in einem anderen früher zitierten Kontext die ethnischen Minderheiten als блохи (›Läuse‹) bezeichnet, die zur richtigen Zeit zunichte gemacht werden sollen. Die hier exponierte Bedeutung der Diskreditierung der ›Fremden‹ als Ekel erregenden Insekten, die ein Parasitenleben führen, indem sie sich vom Blut ernähren, ist mit der Bedeutung des Aggressors gekoppelt. In einer anderen Aussage des Schwarzhunderters wurde die Ausbeutungsfunktion hervorgehoben, wo das russische Volk als Tier dargestellt wird, das von einem ›Fremden‹ bestiegen wird: »[…] Бейте нас, голубчики, презирайте нас, топчите нас ногами, садитесь к нам на спины, поезжайте«.40 Die Einführung von Zoomorphismen in den Schwarzhunderter-Diskurs hat also die Funktion, das ›Fremde‹ zusätzlich herabzuwürdigen, es zu dehumanisieren, den wahren oder imaginären Feind in Gestalt ethnischer Minderheiten mit einem Tier, einem Insekt gleichzusetzen, der im kulturellen und sprachlichen Bewusstsein einer Gesellschaft nur negative Empfindungen hervorruft. Die Hervorhebung der Andersartigkeit, der Feindlichkeit im Exponieren von zoomorphen Eigenschaften in Verbindung mit dem metaphorischen Bild eines Hauses zielt auf die Darstellung der ›Fremden‹ als Wesen ohne Werte, die eine Vernichtung verdienen oder ausgemerzt werden sollen. Somit wird die Reinigung des Hauses von ungewollten Subjekten, von Gästen die sich die gleichen Rechte wie der Hausherr anmaßen, zu einer gerechtfertigten Maßnahme. Zum Schluss sollte betont werden, dass an der spezifischen Krankheit des Nationalismus, wie sie als solche einhellig sowohl der russische Schriftsteller als auch der deutsche Nobelpreisträger bezeichnen, Anfang des 20. Jahrhunderts ein ского университета«: Серия история и фиолология Bd. 27, Nr. 2 (2017), S. 273–279, hier S. 274–276. 38 Куприн, Корь, S. 322. 39 Дулесов, Евгений Павлович: Прагматические функции зооморфных метафор в дискурсе русских националистов наала XX века, In: »Вестник Удмуртского университета« Серия история и фиолология Bd. 25, Nr. 6 (2015), S. 10–16, hier S. 11. 40 Куприн, Корь, S. 322.

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Großteil der russischen Gesellschaft litt. Von der Reichweite und Kraft dieses Phänomens zeugt u. a. seine häufige Präsenz in der russischen Literatur. Denn es war nicht nur Kuprin, der in seinem Schaffen die Radikalisierung der nationalistischen Haltungen verewigte, sondern auch viele andere Schriftsteller, u. a. der bekannte Satiriker Arkadi Awertschenko, der in einer späteren Erzählung Nationalismus (Национализм, 1910) vor der Gefahr warnte, den Nationalismus zu eng aufzufassen. Der Nationalismusbegriff rief nicht selten auch positive Konnotationen in der damaligen intellektuellen Elite hervor. Der nationale Gedanke in unterschiedlicher Auffassung fand daher Eingang in die Werke zahlreicher Schaffender. Er tauchte auf u. a. in der Poesie von Alexander Blok und Andrei Bely, in den philosophischen Abhandlungen von Nikolai Berdjajew und Sergei Bulgakow sowie in der Malerei von Michail Nesterow. Man darf doch nicht vergessen, dass die eingangs angedeutete, für den damaligen russischen Nationalismus typische Heterogenität sowohl im konservativen als auch liberalen sozial-politischen Gedankengut ihren Ausdruck fand. Daher gab es neben der hier besprochenen radikal nationalistischen Einstellung auch eine gemäßigtere Orientierung, die anderen Nationen des Russischen Imperiums ein Recht auf Existenz und eigenständige Entwicklung zubilligte.

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Im Wirkungsradius des Nationalismus

Paweł Zimniak (Zielona Góra)

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Ansatz Der Schnittpunkt zwischen dem Eigenen und dem Fremden liegt immer in dem Moment begriffen, in dem beides aufeinander stößt und sich zur Kenntnis nimmt. Bernhard Waldenfels spricht im Fall solcher Begegnungen und Wahrnehmungen nicht nur von »affektiven Aufmerksamkeitsbesetzungen«1, sondern auch – vor allem in Anlehnung an Edmund Husserl – von »attentionalen Wandlungen«2, die in »eine spezifische Zeit und einen spezifischen Raum des Aufmerkens«3 eingebettet sind. In dem vorliegenden Beitrag fällt der Fokus auf ein ziemlich verwirrendes Wechselspiel von globaler Erweiterung und nationaler Verengung, denn Nationalismen und nationale Partikularismen – oft chauvinistisch unterfüttert – stellen auf der Gegenwartsebene durch eine Kontrasterfahrung der vermittelten Werte eine Gegenbewegung zu Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen dar. Welt(er)greifende nationale Selbstbezüglichkeiten und Selbsterhebungen sind in dem Sinne eine Art Setzen von neuen ›Duftmarken‹, als nicht nur Zugehörigkeiten, sondern auch (Selbst)Ausschlüsse markiert werden. Machtkämpfe entbrennen und Stimmungslagen entstehen, bei denen nicht nur Individuen in ihrer Subjektkonstitution beschädigt, sondern ganze Kollektive auf den Siedepunkt gebracht und atmosphärisch vergiftet werden. Durch die in Gang gesetzten Emotionen werden ganze Gemeinschaften und Gesellschaften in ihrem Gefühlshaushalt und Habitus verändert. Im Fall überwältigender emotionaler Erregungszustände spricht Waldenfels vom Pathos: »Pathos bedeutet, dass wir von etwas getroffen sind.«4 Der vereinnahmende Logos von nationalen Glaubenslehren fordert Menschen in dem Sinne heraus, dass sie sich dem imperativ-regulativen Anspruch gegenüber zu verhalten haben 1 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012, S. 102. 2 Ebd., S. 101. 3 Ebd., S. 102. Hervorhebungen im Original. 4 Ebd., S. 43. Hervorhebung im Original.

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oder anders formuliert: Der durch stark ausgeprägte Nationalismen konstituierte Sinn lässt Menschen nicht gleich-gültig, und dies insoweit, als im weit gefassten sozialen Raum harte und unversöhnliche Unterscheidungen mit einer Marginalisierung oder Eliminierung von ›Nicht-Passenden‹ und ›Abweichlern‹ vorgenommen werden sowie eine allgemeine Steigerung der Emotionalität zu verzeichnen ist. Waldenfels spricht deshalb von einer »pathisch grundierten und responsiv ausgerichteten« Form des Umgangs mit dem Fremden.5 Nationalismen markieren also Abstände, treffen Unterscheidungen, bestimmen Zugehörigkeiten und manifestieren Ablehnungsgesten, ernähren sich von FreundFeind-Schemata und machen einen ideologisch aufbereiteten Nährboden aus, auf dem nicht nur eine Polarisierung und Zuspitzung von Positionen, sondern auch eine Verrohung zwischenmenschlicher Beziehungen, Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft(en) gedeiht.

Nationale Rückblende Im Jahre 2001 – drei Jahre vor dem polnischen EU-Beitritt – schreibt Adam Krzemin´ski von der letzten Utopie Europa, die prospektiv nicht zur Selbsttäuschung verkommen sollte: Ist die europäische Idee wirklich die letzte Utopie in unseren geographischen Breiten? Nach dem Zusammenbruch der großen Illusion, die der Kommunismus darstellte, ist die europäische Idee die letzte große Utopie der Europäer. Zu einer Illusion wird sie für denjenigen werden, der die Vereinigung Europas als Ersatz für die Religion, einen imperialen Traum oder kulturelle Arroganz betrachten will […]. Dagegen ist es eine konkrete Utopie für diejenigen, die im Prozess des Zusammenwachsens eine allmähliche Befreiung der europäischen Nationen von nationalen Egoismen sehen, unter Mühen, aber ohne Krach, gestützt auf demokratische Grundlagen und das reale Gefühl einer Interessengemeinschaft.6

Eine politische Grenzüberwindung und zugleich Ausdehnung der Wohlstandsgrenze durch die Idee einer gemeinsam agierenden europäischen Interessengemeinschaft ist, so Krzemin´ski, nur dann möglich, wenn die Europäer ihren nationalen Egoismen abschwören und eine Gemeinschaft aufbauen, deren Basis gegenseitiges Vertrauen ist. Zugleich werden mögliche Grenzüberschreitungen formuliert, unter denen das gemeinsame Europa als Vertrauensgemeinschaft leiden könnte. Nationales Machtstreben und Dominanzverhalten, politische Verblendung und soziale Ungleichheit, Kulturkonservatismus und Gering5 Ebd., S. 34. 6 Krzemin´ski, Adam: Wenn die Geographie kein Albtraum mehr ist. In: »Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa« Nr. 1 (2001), S. 40–45, hier S. 45.

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schätzung des Anderen gehen zu Lasten nationaler Binnenkulturen und tragen zur Aufweichung demokratischer Standards und europäischer Bindung an ein christliches Wertsystem bei. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Wiedergewinnung der Souveränität durch die sog. Ostblockstaaten und der voranschreitenden europäischen Integration wurden zweifelsohne Handlungsspielräume eröffnet, die den Nationalkulturen zwar kein Ende setzten, diese aber vom patriotischen Auftrag befreiten, »ein »falsches Bewusstsein« zu pflegen und nationale Mythen zu erschaffen.«7 Deshalb wird von Krzemin´ski auch eine Identitätskrise der Nationalstaaten und Nationalkulturen diagnostiziert: Konservative sehen in der Nationalkultur einen in den Tempeln der Kultur, den Nationaltheatern, Nationalbibliotheken, Nationalmuseen zelebrierten Wert, der ein für alle Mal gegeben ist. Aber die Nationalkulturen sind eine Konstruktion der Epoche rivalisierender Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Zeitalter der Globalisierung, der multinationalen Korporationen, die mächtiger sind als mancher Staat, sowie übernationaler Kulturkreisläufe durchleben die Nationalkulturen, ähnlich wie die Nationalstaaten, eine Identitätskrise.8

In die nationale Rückblende reiht sich auch Janusz Reiters Frage Wieviel Nationalgefühl braucht ein Volk?9, die nach fünfundzwanzig Jahren immer noch aktuell zu sein scheint. In Anlehnung an den Historikerstreit wäre auch weiter zu fragen: »Ist Patriotismus […] nur eine verdünnte Form des nationalistischen Gifts oder eine nützliche Substanz?«10 Für Reiter gehen Polen aus historischen Gründen viel unbefangener als »die gebrannten Kinder des Nationalismus«, die zu den »strengsten Richtern der Nationalidee« geworden sind, mit dem Nationalen um, nicht zuletzt deshalb, weil die polnischen Zeitgenossen als Nachkommen derer gelten, die seit Jahrhunderten im »nationalen Überlebenskampf« geübt werden.11 Gerade diese Unbefangenheit bzw. Unbeschwertheit des Umgangs mit der Nationalsubstanz lässt auch in der Neuauflage der Auseinandersetzung zwischen dem Nationalgeist und dem europäischen Alltagsgeschäft erneut die Frage nach der Europafähigkeit der Nationaldenkenden stellen. Dabei wird jedoch eindeutig klar, dass der Paradigmenwechsel auf Bühnen (nicht nur) europäischer Entscheidungsträger Nationaldenkende keineswegs nur als Ketzer und Abtrünnige, die einem schön polierten Image der politischen Korrektheit nicht nur einen Kratzer verpassen, sondern es mit aller Vehemenz beschädigen oder sogar ruinieren wollen, gelten lässt, ganz im Gegenteil: Nationaldenkende 7 Vgl. ebd., S. 42. 8 Ebd. 9 Reiter, Janusz: Wieviel Nationalgefühl braucht ein Volk? In: Kobylin´ska, Ewa/Lawaty, Andreas/Stephan, Rüdiger (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München: R. Piper 1993, S. 381–386. 10 Ebd., S. 383. 11 Ebd., S. 381.

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werden salonfähig gemacht bzw. sie machen sich selbst salonfähig durch die Entschiedenheit ihres Denkens und ihres Tuns. Und nicht zuletzt deshalb – die deutsche Patriotismus-Debatte eingeschlossen – stimmen auch die alten Unterscheidungen und Zuschreibungen nicht mehr: Während in Nachkriegsdeutschland jemand, der sich als deutscher Patriot ausweist, sich mißtrauischen Blicken aussetzt, gerät ein Pole in Rechtfertigungszwang, wenn er kein Patriot sein will. Kein Patriot – was dann also? Ein Internationalist etwa? Das hat nicht einmal die kommunistische Propaganda ernst gemeint.12

Auch Reiters Urteil über das schwere Kreuz des polnischen Patriotismus, der ja ohne nationale Fixierungen kaum auskommen kann, verliert heutzutage an seiner Durchschlagskraft: »Der polnische Patriot sieht eher aus wie jemand, der sein schweres Kreuz trägt, aus einer Pflicht, die ihm das Schicksal auferlegt hat. Optimistisches Selbstbewußtsein kann er dabei nicht ausstrahlen. Und auch der Stolz wirkt gequält-aufgezwungen.«13 Auf der Gegenwartsebene wird die polnische Brust anders als in der kommunistischen Nachkriegszeit, die keine tragfähige Basis für ein stabiles nationales Selbstwertgefühl geliefert hat – es konnte sich nämlich kaum aus dem Außenseitertum hinter dem Eisernen Vorhang speisen, denn damals »wurde der nationale Notstand zu einem Normalzustand«14 –, im Nationalstolz durchgedrückt, nicht zuletzt aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs. Auf der nationalen Ebene wird der politischen Erwartungshaltung stattgegeben, dass sich Polen endlich von den Knien erheben solle. Anders als es noch Krzemin´ski vor über fünfzehn Jahren formuliert hat, werden Polen nicht mehr »von Komplexen gegenüber dem tonangebenden reichen Westen geplagt«15, weil sie nicht mehr das Gefühl entwickeln und verfestigen, stiefmütterlich behandelt zu werden und im europäischen Abseits zu stehen. Auch die zivilisatorische Rückständigkeit scheint durch die brummende Wirtschaft überwunden zu sein und die ökonomisch-wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sowie die Anerkennung der Märkte lassen eventuell vorhandene (Rest)Komplexe schwinden. Eine neue nationale Selbstbezogenheit und ein neuer Patriotismus machen sich breit, aber der Bewusstseinswandel sollte sich nicht auf Kosten der Zugehörigkeit zur europäischen Werte- und Interessengemeinschaft vollziehen.

12 13 14 15

Ebd., S. 383. Ebd., S. 384f. Ebd., S. 385. Krzemin´ski, Wenn die Geographie kein Albtraum mehr ist, S. 40.

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Nationales Frühlingserwachen Ein neuer Trend, der national oder nationalistisch-populistisch genannt wird, verfestigt sich. Der neue Nationalismus16, der mit seinem Wertsystem nicht aus dem Brunnen der europäischen Integration und Interessengemeinschaft schöpfen will und auf eine bekannte Art und Weise die Eigenart und Separatheit betont, ohne sich jedoch – nicht zuletzt aus ökonomisch-finanziellen Gründen – endgültig von dem europäischen Gemeinschaftsumfeld abkoppeln zu wollen, kann nicht nur einseitig-abschätzig als zentrifugale Kraft gelten, der es einzig und allein darum geht, das Konzept Europa aufzusprengen oder in die Luft zu jagen, sondern er muss auch im Kontext eines politischen Scheiterns von Eliten, des Kontroll- und Vertrauensverlustes sowie einer allgemeinen Unzufriedenheit mit liberalen Deregulierungsmechanismen betrachtet werden. Fakt ist, dass die Idee des europäischen Zusammenwachsens im Rahmen der EU-Strukturen ihre beflügelnde Wirkung verloren hat und etwas defensiver geworden ist, dass der Elan eines Aufbruchs zu neuen europäischen Ufern, auch wenn er hie und da kurzfristig durchschimmerte – der Macron-Effekt ist ja nicht nur außerhalb von Frankreich fast völlig verpufft –, nach und nach abgeschwächt wird, und man hat eher den Eindruck, als wäre das Schiff Europa bis zum Bersten mit Krisenhaftigkeit beladen und dem Untergang geweiht. Europäische Machthaber sind nur bedingt imstande, dieser schon relativ lange anhaltenden Misere beizukommen, aber Durchschnittseuropäer können sich mit diesem Umstand auch nur bedingt abfinden, denn die Sehnsucht nach einem erfüllten, verhaltenssicherheitsspendenden und materiell abgesicherten Dasein im gemeinsamen europäischen Haus ist immer noch groß, wenn Thomas Schmid in Anlehnung an Herfried Münkler konstatiert: Der Bürger will darüber hinaus das Versprechen einer schützenden und sorgenden Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt, als sei sie eine Familie. Das war die Nation und das soll […] Europa werden: nicht unbedingt als Nation, wohl aber als Gemeinschaft mit geteilten Erzählungen, Symbolen, Ritualen.17

Man könnte in kritischer Manier behaupten, dass solche Ideen nur einem harmonisierend-vereinigenden Wunschdenken von Sinnstiftern inhärent sind und ihrem notorischen Bedürfnis entspringen, »einen gemeinsamen Nenner, eine einigende Kraft zu finden, die die parzellierte Wirklichkeit zu einem festen 16 Vgl. Götz, Irene: Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Zur Einführung. In: Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Bielefeld: transcript 2017, S. 7–14. 17 Schmid, Thomas: Mythos von der Sinnstiftung. URL: https://www.welt.de/kultur/article17634822 9/Mythos-von-der-Sinnstiftung-Brauchen-dieDeutschen-eine-nationale-Staatserzaehlung.html / letzter Zugriff am 3. Juni 2018.

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Ganzen zusammenfügt«18, in der ›wirklichen Wirklichkeit‹ (Benjamin) hat aber eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Mangelerfahrung weiterhin Bestand. Kann aber wirklich ein nationales Separationsdenken mit einem Glücksversprechen gleichgesetzt werden? Sollten auf der europäischen Bühne – größere Dimensionen nicht ausgeschlossen – nur nationale Loyalitätsbekundung und Eigenverantwortung zählen oder lässt sich auch genug Platz für ein gemeinschaftliches Verantwortungsbewusstsein finden? Die europäische Demokratie im Allgemeinen kann sich ja nicht ausschließlich innerhalb der Nationalstaaten abspielen, denn die Reduktion der Komplexität wäre dann perfekt. Gespaltene Gesellschaften als Gesellschaften der Enttäuschung und Unzufriedenheit weisen ihre Risse aber nicht nur quer durch die nationalen Binnenkulturen auf, sondern die Spaltung betrifft auch das sich immer stärker abzeichnende Auseinanderdriften einzelner europäischer Demokratien im Besonderen. Nicht nur das 20. Jahrhundert »gilt weithin als ein Jahrhundert des großen Politikversagens, der Zerstörung des Politischen durch zwei Totalitarismen und die Zähmung des Politischen im Gehäuse von Bürokratie und Sachrationalität«19, sondern auch im relativ jungen 21. Jahrhundert setzt der europäischen (Völker)Gemeinschaft nach einem gewissen Verbrauch der Europaerzählung als Friedenserzählung (Herfried Münkler) die allgemein herrschende Orientierungslosigkeit mächtig zu, wie weit die nationale Selbstüberwindung gehen sollte, um weiterhin in gemeinsamer Verbundenheit am zukunftsfähigen Haus Europa erfolgreich arbeiten zu können. Eine Abneigung gegen das Konzept eines föderativen Europas zugunsten eines europäischen Verbunds von Nationalstaaten lässt sich nämlich im Moment nicht bestreiten. Beim nationalen Frühlingserwachen muss aber auf die Manifestation von patriotischen Gefühlen stark aufgepasst werden, besonders dann, wenn Nationalbegeisterte im weit gefassten sozialen Raum nach Homogenitäts- und Ausschlussprinzip verfahren, Feindbilder produzieren, Sündenböcke identifizieren, bestimmte Menschengruppen stigmatisieren und eliminieren wollen, um an der unerschütterlichen Gewissheit ihrer Nationalexistenz nicht gestört zu werden: Wir sind eine stolze Nation, deshalb lassen wir uns nicht unterkriegen, und sollte uns ein Andersdenkender in die Quere kommen, uns zurechtweisen, unseren Nationalstolz und unsere Nationalheiligtümer verletzen, wird er einen laut bekundeten Groll nationaler Machthaber und ihrer Handlanger zu spüren bekommen. Nationalismen leben nämlich nicht von der Abwertung, sondern von der Aufwertung des nationalen Tuns und Waltens – und dies auch im Rückblick auf die Geschichte –, nicht von Niederlagen, sondern von Heldentaten, nicht von Minderwertigkeitskomplexen, sondern von einer (Über)Stilisierung der eigenen Nationalgröße. Befindet man sich im na18 Ebd. 19 Ebd.

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tionalen Strom bzw. im nationalen Mainstream, geht man nicht in die Knie, sondern marschiert stolz mit National- und keinen Europafahnen auf. Man ist in der Menge, und das Kollektiv Gleichgesinnter verleiht dem nationalen Individuum auch Flügel. In solchen Fällen sind nicht nur Lippenbekenntnisse wichtig, sondern auch konkrete Taten bzw. Aktionen, die aus einer aktivistischen Werkzeugkiste stammen und – nicht selten unter Gewaltanwendung – politischideologische Überzeugungsarbeit leisten sollen. Solche Nationalgemeinschaften formieren sich immer um konflikt- oder störungsfreie, bruchlose, harmonischvereinende National(vergangenheits)bilder herum und sehen sich in ihrem Nationalbewusstsein, in ihrem nationalen Selbstverständnis restlos bestätigt. Dunkle Kapitel der eigenen Geschichte werden am liebsten unterdrückt und ausgeblendet, denn es lässt sich am besten mit einer weißen, unbefleckten Weste herumstolzieren. Raumgreifende Nationalismen vergessen aber in ihrer unversöhnlichen Forderung nach Sinnfestlegung – wie es Bernhard Waldenfels formuliert –, dass dem Sinn eine unaufhebbare und stets auch konfliktträchtige Perspektivität anhafte: »Es gibt Sinn, aber nicht einen einzigen Sinn; Sinn entfaltet sich auf dem Hintergrund von Nicht-Sinn […]«20 oder im Wechselspiel zwischen Sinnfestlegung und Auslegungsvielfalt, denn bei einem Moralisten kann auf seine verborgene oder offen gelebte Amoralität verwiesen werden21, eine Pflanze gilt als Heilkraut oder als Unkraut, ein Messer kann sowohl als Essgerät als auch als Waffe gebraucht und ein Ausländer als Asylbewerber oder als illegaler Einwanderer bezeichnet werden.22 Es kommt also immer auf bestimmte Perspektiven, auf bestimmte Formen von Wahrnehmung und Bewertung an, und dazu gehört auch die Frage nach individuellen und kollektiven Modalitäten der Begegnung mit dem Nationalen oder – zugespitzt formuliert – dem Nationalistischen, denn sich verhärtende Nationalzentrierungen als Sinnstiftungsstrategien erfordern keinen überfliegenden, oberflächlichen Blick, der Beobachtetes nur leicht zu streifen vermag, sondern eine tiefergehende Fokussierung auf Tendenzen, die hochgradig gespaltene Gesellschaften hervorbringen. Muss aber eine Existenzberechtigung wirklich nur aus dem Nationalen erwachsen? Muss die sog. alltägliche Normalität oder die normale Alltäglichkeit immer eine nationale Grundlage haben? Selbstverständlich kann kein Mensch ohne entsprechendes kulturelles Gedächtnis funktionieren, denn wie sonst könnte er sich selbst fortschreiben und in die historische Kontinuität einschreiben, aber der Handlungsbereich eines jeden Menschen vollzieht sich ja nicht nur vor einem nationalen, sondern auch (oder vor allen Dingen) vor einem humanen (Denk)Hori-

20 Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 37. 21 Vgl. ebd., S. 33. 22 Vgl. ebd., S. 37.

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zont, der sich die Menschenwürde auf die Fahnen schreibt.23 Zwar haben die Europäer ihre blutige Geschichte in dem Sinne hinter sich, als das martialische Pathos und die sog. Erzfeindschaften überwunden zu sein scheinen und nicht mehr zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, aber eine nationale Semantisierung von Europaraum bedeutet nicht nur eine räumlich-politische Reduktion der Komplexität, sondern sie setzt auch Energien frei, die zentrifugal wirken: Je schwächer die Verbindungslinie zwischen nationalen Binnenkulturen und der trans- bzw. übernationalen Europa-Idee, desto stärker die europäischen Zentrifugalkräfte. Um die Zunahme der Zentrifugalkräfte zu beschränken und neuen europäischen Spaltungen vorzubeugen, müssen weite Teile europäischer Gesellschaften mehr Vertrauen in die gesamteuropäische Politik und ihre Repräsentanten gewinnen oder anders: Dem europäischen Schreckgespenst des Nationalismus ist nur dann erfolgreich beizukommen, wenn ›Brüssel‹ nicht mehr mit dem Oberlehrerhaften, dem Willen des Mächtigeren und verschiedenen ›Domestizierungspraktiken‹ des Nationalen assoziiert wird. Der nationale Selbstbezug ist schließlich auch als Resultat von Wut und Ohnmacht – die Bezeichnung ›Wutbürger‹ als Beispiel – sowie herrschender Orientierungslosigkeit, zu der auch die politische Selbstbezüglichkeit und Passivität der Politiker gehört, aufzufassen: Man steht verärgert inmitten verschiedener Optionen sinnstiftender europäischer Lebenskonzepte und ist trotzdem des Lichtes beraubt. Deshalb mutet das Urteil von Thomas Schmid, formuliert unter Bezug auf den Soziologen Friedbert W. Rüb, ziemlich pessimistisch an: »Politik treibt auf dem Meer kontingenter Probleme, ohne Richtung, ohne Kompass, ohne grundlegende Orientierung, allein damit beschäftigt, sich nicht selbst aufzugeben. […] Und dennoch kein Grund zur Resignation.«24 Der letzte Satz muss zwangsläufig – nimmt man die Dinge ernst – zur zweiten Potenz erhoben werden: Und dennoch kein Grund zur Resignation!

Nationalzentrierung vs. Weltgesellschaft – Ausblick Nationalstaaten lassen sich nicht ganz aus der sog. Weltgesellschaft ›verdrängen‹, auch wenn sie phasenweise ein ruhiges Schattendasein fristen, und der Konkurrenzkampf untereinander und gegen den Globalismus nicht immer in aller Schärfe ausgetragen wird: 23 Vgl. Rüsen, Jörn: Kulturelle Identität in der Globalisierung – Über die Gefahren des Ethnozentrismus und die Chancen des Humanismus. In: Gunsenheimer, Antje (Hg.): Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation. Bielefeld: transcript 2015, S. 49–54, hier S. 49. 24 Schmid, Mythos von der Sinnstiftung.

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Vor allem die Fortexistenz von Nationalstaaten führt dazu, daß innerhalb der Weltgesellschaft und unter Ausnutzung ihrer Fluktuationen regionale Interessen zur Geltung gebracht und dadurch verstärkt werden. Die Staaten konkurrieren zum Beispiel auf den internationalen Finanzmärkten um Kapital für regionale Investitionszwecke. Besonders am Staat wird diese Differenz von global und regional sichtbar, auch wenn das politische System der Weltgesellschaft ein Staatensystem ist, das es nicht mehr zuläßt, die Einzelstaaten als Einheiten für sich zu betrachten.25

Es ist aber nicht nur die Tatsache – wie Luhmann selbst behauptet –, dass der Lebensvollzug der Weltgesellschaft sich immer noch innerhalb eines Staatensystems ›ereignet‹, sondern das Problem ist, dass das Geflecht dieser globalen nationalstaatlichen Verbindungen oder Relationen bestimmte Fluktuationen der Weltgesellschaft national nicht ungeprüft lässt, oder anders: In die Entwicklung der globalisierten Welt wird immer dann nationalstaatlich eingegriffen – und dabei ist nicht die Stärke des Rechts, sondern das Recht des Stärkeren entscheidend –, wenn relevante nationale Interessen tangiert werden. Protektionistische Praktiken – sie werden durch den notwendigen Schutz des Binnenmarktes gerechtfertigt – sind dann die Folge, weil man sich übervorteilt und durch Ungleichgewichte benachteiligt fühlt.26 In solchen Fällen treten Kräfte bzw. Akteure auf die Bühne, die nicht weltgesellschaftlich, sondern national oder sogar nationalistisch argumentieren, weil sich Einzelstaaten im weltgesellschaftlichen Staatensystem doch als Einheiten für sich betrachten und bereit sind, nationale Egoismen verschiedener Art walten zu lassen und das Prinzip der Gemeinschaftlichkeit und des Solidaritätsdenkens über Bord zu werfen. Luhmann betont deshalb, dass nationale Einheiten nach dem Muster einer »familienähnlichen Loyalität«27 agieren, aber in jeder Familie können auch Strukturen entstehen, durch die einzelne Familienmitglieder nicht nur verunsichert werden, sondern den Entschluss fassen, aus der Gemeinschaft auszubrechen, um sich nicht als Person aufzugeben und unterzugehen. Und auch Territorialstaaten nationaler Prägung können dermaßen ethnisch, religiös, kulturell inhomogene Staatsgebilde (die ehemalige Sowjetunion, das ehemalige Jugoslawien, Syrien, der Irak) darstellen und Fundamentalismen ›produzieren‹, dass sie die bestehenden Differenzen nicht aushalten, sich als überlebensunfähig zeigen und auseinanderbrechen. In diesem Sinne ist auch die globalisierte Weltgemeinschaft keine globalisierte Wertegemeinschaft. Sollte die Weltgesellschaft als Generalisierungsprogramm mit weltweitem Anspruch der Herstellung eines allgemeinen 25 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015, S. 808. 26 Vgl. z. B. Ankenbrand, Hendrik/Pennekamp, Johannes/Armbruster, Alexander: Deutschland zwischen den Fronten. URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutschland-zwischenden-fronten-15517443.html / letzter Zugriff am 17. Januar 2019. 27 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, S. 810.

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Zufriedenheitszustands im weltbürgerlichen Einvernehmen gelten, also praktisch eine ›Win-win-Situation‹ für jeden (un)beteiligten Weltbürger schaffen, dann müsste es heißen, dass verschiedene (Macht)Zentren auf ihre Machtambitionen und Beherrschungspraktiken, auf ihr Dominanzverhalten im Großen und Kleinen verzichten. Jeder Ganzheitstopos verliert aber den Bezug zur Realität, lässt somit die Bodenhaftung schmerzhaft vermissen und wird früher oder später als wirklichkeitsfern abqualifiziert und verworfen. So war es nicht zuletzt jedem Absolutheitsanspruch revolutionärer Weltveränderungs- oder Weltverbesserungsideen (1517, 1789, 1917) ergangen, die alle nur bedingt greifen und sich wirklich verbreiten konnten. Das Leben im globalen Einvernehmen bleibt deshalb eine Illusion, weil Nationalismen nie in neutraler, (gleich)gültiger Form auftreten, sondern immer eine Spitze zeigen, die immer gegen jemanden zwecks Minderung oder Nivellierung von identifizierten defizitären Zuständen gerichtet ist. Gewinnen nationale Egoismen die Oberhand, entfremden sich Partner und Verbündete voneinander. Sich dem nationalen Rausch hingebende Nutznießer sind ohne Geschädigte und Verlorene nicht zu denken. Nationalismen zeichnen nicht für die Stabilität von Strukturen verantwortlich, sondern für die Erschütterung und Destabilisierung einzelner Systeme. Einerseits gelten sie als Produzenten von Rangordnungen und Hierarchien, andererseits entwickeln sie die Kraft, Rangordnungen und Dominanzen zu destruieren. Im politischen System zeigt es sich z. B. durch Schwächung oder »Zerfall der Vormachtstellung von Weltmächten, auf die dann regionale Einheiten mit Selbstbehauptungsambitionen reagieren.«28 Deshalb stellt sich die Frage, ob alle Funktionssysteme wirklich zur Globalisierung tendieren, mit dem endgültigen Ziel, eine grenzenlose Weltgesellschaft zu schaffen? Funktioniert die Sache nicht eher in umgekehrter Richtung, d. h. ist es nicht der Prozess der Globalisierung selbst, der nicht nur zur Abschwächung von Raumschranken und etablierten politischen Körpern und somit zur Förderung von grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen und Handlungen der Finanzmärkte, sondern auch zur Verfestigung segmentärer Differenzierung in Nationalstaaten und protektionistischer Abschottung im staatlichen Wettbewerb beiträgt? Ungeachtet der scharfen Munition, mit der Nationalfixierte und Trans- bzw. Übernationale aufeinander schießen, ist Luhmanns Behauptung über das Transitorische der Nationalidee und des Nationalstaates als Bezugs- und Orientierungspunkt kritisch zu hinterfragen: Offenbar gehört die Idee der Nation also zu jenem Bündel transitorischer Semantiken, die eine Übergangszeit faszinieren konnten […]. Man kann daher vermuten, daß wir uns heute in einer Auslaufphase dieser Idee befinden, in der sie mehr Schaden als Nutzen stiftet […].29 28 Ebd., S. 808. 29 Ebd., S. 1055.

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Einerseits spricht Luhmann von der Idee nationaler Selbstbezüglichkeit als Auslaufmodell, und das Nationale sei im Transitorischen anzusiedeln, in einer Übergangszeit, an deren Ende sich ein über- oder postnationaler loser Verbund von gleichberechtigten Weltbürgern konstituieren wird. Andererseits entwickelt diese Weltgesellschaft im Stadium der aktuellen Entwicklung zu wenig Integrationskraft und weist kaum bindende Harmonie auf, als dass sie in steigender Progression mit uneingeschränktem Optimismus, bedenkenlos und unreflektiert erwartet werden könnte.30 Es gibt heutzutage also keine universale weltgesellschaftliche Sinngarantie, weil der sog. Weltgesellschaft starke partikulare Interessen von Nationalstaaten, die in Identitätsdiskurse eingebettet werden, in die Quere kommen, und die staatliche Partikularität – Luhmann spricht von »partikularem Geltungsanspruch«31 – scheint schwerer als die weltgesellschaftliche Universalität zu wiegen. Luhmann behauptet zwar, dass sich »eine Verlagerung der Primärorientierung aus der Vergangenheit (Identität) in die Zukunft (Kontingenz)«32 vollzieht, aber die momentane ›Weltgesellschaft‹ hat sich nicht wirklich vom nationalen Landkartenbewusstsein befreit. Zugleich fragt er sich selbst mit ziemlicher Skepsis, »wie denn auf neuen Grundlagen das Paradox der Einheit des Differenten entfaltet werden könnte«33, wenn man nicht will, dass sich der ›weltgesellschaftliche Kitt‹ oder besser: Zusammenhalt lediglich auf die (Denk)Figur einer Erlebnis- oder Spaßgesellschaft beschränkt. Deshalb ist die Weltgesellschaft immer noch auf der Suche nach sich selbst und mit Sicherheit – wenn überhaupt – in einer offenen, völlig entgrenzten Zukunft angelegt, aber auf der Gegenwartsebene muss sie als ein Sich-Ereignen der Welt in der Gleichzeitigkeit auf der Basis der Kommunikation ohne Wahrnehmung der Territorialität unter ›Bagatellisierung‹ nationaler Belange »ihr Schicksal in sich selbst aushandeln […] – in ökologischer wie in humaner, in wirtschaftlicher wie in technischer Hinsicht«34, ohne Sicherheitsgarantie, dass eine ›freischwebende Menschheit‹ irgendwann wirklich funktionieren wird. Eine einheitliche, konflikt- und krisenresistente, allgemein zufriedene Weltgesellschaft, die sich fast ›ahistorisch‹ in der Gleichzeitigkeit ihres Glücks vollziehen würde, hat also momentan wenig Aussichten auf Erfolg, denn zu schwerwiegend und unüberbrückbar scheinen politisch-gesellschaftliche, kulturell-religiöse, wirtschaftlichökonomische und klimatisch-ökologische Diskrepanzen zu sein, als dass eine Art beglückende Universalität wirklich erreicht werden könnte. Nicht die Konver-

30 Vgl. ebd., S. 930f. 31 Ebd., S. 931. 32 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015, S. 149. 33 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, S. 1060. 34 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, S. 149.

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genz, sondern die Divergenz scheint in absehbarer Zeit immer noch lebensbestimmender und zukunftsfähiger zu sein.

Literatur Götz, Irene: Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Zur Einführung. In: Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Bielefeld: transcript 2017, S. 7–14. Götz, Irene/Roth, Klaus/Spiritova, Marketa (Hg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Bielefeld: transcript 2017. Krzemin´ski, Adam: Wenn die Geographie kein Albtraum mehr ist. In: »Kafka. Zeitschrift für Mitteleuropa« Nr. 1 (2001), S. 40–45. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2015. Reiter, Janusz: Wieviel Nationalgefühl braucht ein Volk? In: Kobylin´ska, Ewa/Lawaty, Andreas/Stephan, Rüdiger (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München: R. Piper 1993, S. 381–386. Rüsen, Jörn: Kulturelle Identität in der Globalisierung – Über die Gefahren des Ethnozentrismus und die Chancen des Humanismus. In: Gunsenheimer, Antje (Hg.): Grenzen. Differenzen. Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation. Bielefeld: transcript 2015, S. 49–54. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012.

Internetquellen Ankenbrand, Hendrik / Pennekamp, Johannes / Armbruster, Alexander: Deutschland zwischen den Fronten. URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutschland-zwi schen-den-fronten-15517443.html / letzter Zugriff am 17. Januar 2019. Schmid, Thomas: Mythos von der Sinnstiftung. Brauchen die Deutschen eine nationale Staatserzählung? URL: https://www.welt.de/kultur/article176348229/Mythos-von-derSinnstiftung-Brauchen-dieDeutschen-eine-nationale-Staatserzaehlung.html / letzter Zugriff am 3. Juni 2018.

Mirosław Kowalski (Zielona Góra)

Facetten des Nationalismus aus Sicht der Ideologie und Bildungspraxis

Die im Titel dieses Beitrags auftauchenden Begriffe des Nationalismus, der Ideologie und Bildungspraxis unterstreichen schon im Vorfeld, dass die hier vorgestellten Überlegungen bzw. Analysen einen eher verallgemeinernden Charakter vorweisen.1 Würde man auf solche Kategorien wie »Nationalismus«2 oder »Ideologie« explizit aus der Perspektive deren Bedeutung im Sinne eines theoretischen Phänomens blicken, würde man sofort auf Hindernisse stoßen, die scheinbar kaum zu überwinden sind – sowohl in Bezug auf die kaum überschaubare Anzahl von miteinander konkurrierenden Konzeptionen und Theorien als auch in Bezug auf die deskriptiven Kategorien, die in den einzelnen Wissenschaftszweigen, die sich mit der Problematik »Mensch« beschäftigen, zur Geltung kommen. Gleichzeitig jedoch, dehne man diese Forschungsperspektive aus und beziehe auch Aspekte des ontologischen Mensch-Seins mit ein (sowohl unter Berücksichtigung der Autotelie wie der Praxeologie), so zeige sich, dass das entstandene Themenamalgam im Grunde nach dem Wissensstand oder – generell – dem Wissen über die sozial-kulturelle Wirklichkeit (auch zum Selbstwissen) fragt. Die tragische verdinglichte Verwicklung des Menschen in die ideologisch wie pädagogisch behaftete Wirklichkeit – solchen Eindruck lässt auch dieser (ana1 Der dritte Teil dieses Beitrags fußt auf Analysen und Überlegungen von: Goc´kowski, Janusz: Uczony i polityk: zbiez˙nos´c´ i rozbiez˙nos´c´ interesów oraz aspiracji. In: »Nauka« Nr. 4 (2006), S. 73–83. 2 Eine interessante Typologie von Formen des Nationalismus findet sich in Anthony Smiths Studie Nacjonalizm i Modernizm. Smith unterscheidet zwischen fünf Hauptperspektiven, aus denen man den Nationalismus betrachten kann: Primordalismus, Perrennialismus, Ethnosymbolismus, Modernismus und Postmodernismus. Bei der Differenzierung zieht er solche Kategorien zu Rate wie: Sprache, Religion oder Region. In meinem Beitrag komme ich auf keins der erwähnten Nationalismus-Modelle zu sprechen; den Nationalismus verstehe ich allgemein als eine bestimmte politische Ideologie, die in individuell geprägten Gemeinschaften unter Rückgriff auf Werte wie Sprache, Region oder Geschichte ein gemeinsames Bindungsbzw. Kollektivverhältnis erzeugen kann. Siehe auch: Smith, Anthony: Nacjonalizm. Teoria, historia, ideologia. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2007.

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lytisch-reflexive) Beitrag erwecken, dessen Grundton eigentlich das Gefühl der sich heranschleichenden Ratlosigkeit und Gefahr verstärkt, wenn man bedenkt, dass der Einfluss des Menschen, der nur einer von vielen Protagonisten bzw. Subjekten ist, der die axiologische Substanz einer Gesellschaft mit konstruiert und stabilisiert, geringer und eingeschränkter als gedacht ist. In die Falle einer sozial-kulturellen Maschinerie getappt, ständig im Visier von bestimmten kontrollausübenden und (be)wertenden Instanzen sowie (axiologisch-kulturellen) Bildungs- und Gesellschaftsinstanzen, die angetroffenen kulturellen Muster oder Vorbilder verwirklichend (inkl. des Übergeordnetsein-Mythos von Gruppen oder Gesellschaftsschichten), muss uns der Mensch als ein Subjekt mit limitierter räumlich bedingter Autonomie und Entscheidungsfreiheit erscheinen (so lässt sich bspw. das Gesellschaftsbewusstsein nur in geringem Masse auf das Einzelbewusstsein des Subjekts reduzieren). Diese Tatsache lässt uns zum Nachdenken anregen – auch vor dem Hintergrund der in der heutigen Zeit häufig und laut ausgesprochenen Emanzipationsforderungen, die aus vielen Ecken des sozialkulturellen Netzwerks, das die Welt bedeutet, zu hören sind, die gleichzeitig eine Art ideologisches Manifest darstellen, eine (verbalisierte) Bestandsaufnahme, ein Appell, ein Hilferuf von Gruppen, die sich an den sozialen Außenrand gedrängt und sich somit ins gesellschaftliche Abseits abgeschoben fühlen, die bei der Herausbildung des sozialen Bewusstseins keine Rolle mehr spielen. Einerseits haben wir es deshalb mit einem Nationalismus »von oben« und »von unten« (als Ideologie und Bildungspraxis begriffen) – im Hinblick auf die ihm zugeschriebenen kognitiven, expressiven, mobilisierenden und integrativen Funktionen – zu tun. Andererseits aber ist der Nationalismus, wie Jerzy Szacki konstatierte, »die vierte große Ideologie des postrevolutionären Zeitalters«3, der selten in seiner reinen Form und Gestalt, vielmehr als Teil eines größeren bzw. breiteren Ansichtsspektrums in Erscheinung trat bzw. tritt; zweifellos allerdings »gestaltete er die modernen Gesellschaften mit und beeinflusste direkt oder indirekt viele große Denker [der Epoche]«.4 Aus diesem Grunde sollte man darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Nationalismus und Bildung lenken – u. a. wegen der Einschränkungen, die oben aufgezählt wurden. Im Folgenden versuche ich, eine intellektuelle Inkonsequenz, ja einen theoretischen Fehler, zu beleuchten, den im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Politiker-Ideologen wie Befürworter von bestimmten politischen Bildungskonzepten und -wegen begangen und immer wieder wiederholt haben. Die Ansicht, dass es im Rahmen der Bildungsideologie zur Vermischung von unverhältnismäßig konträren Diskursen gekommen sei, ist schwer nachvollziehbar; dasselbe 3 Szacki, Jerzy: Historia mys´li socjologicznej. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2002, S. 170. 4 Ebd.

Facetten des Nationalismus aus Sicht der Ideologie und Bildungspraxis

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gilt für die Ansicht, Theorien auf der Basis von widersprüchlichen ideologischen Doktrinen/Paradigmen und deren Umsetzung mithilfe von sich einander ausschließenden rationalen Argumenten, die auf diesem Wege ein Konzeptionsamalgam entwickeln, bilden zu können. Tatsächlich, der Nationalismus selbst steckt nicht im Mensch-Sein, im menschlichen Wesen; Machtgier, Zugehörigkeit zu einer konkreten Kultur5 sind die Auslöser eines irrationalen und emotional gesteuerten (Be)Wertungsprozesses der sozialen Realität und erheben so bei einigen Gesellschaftsgruppen und -schichten sowie im Falle einiger Sozialkategorien (das Bildungswesen inbegriffen) bestimmte Exklusivitätsansprüche. Und die Bildungsideologie, die Ideologie als solche, ist außerdem, so der Anschein, ein sehr effektives doktrinäres Werkzeug des politischen Nationalismus.6 Pierre Bourdieau7, Michel Foucault8 und andere wiesen darauf hin, dass der Verstand in ideologischer Hinsicht keineswegs gleichgültig ist bzw. sich auf Gleichgültigkeit stützt; vielmehr sollte man ihn als Instrument eines partikulären Ideologiekampfes auffassen. So ist es kaum verwunderlich, dass die Bildung einen Raum für die Verbreitung von einzelnen Ideologien schafft. Diesen Ideologien, obwohl sie sich im Verlaufe der Zeit natürlicherweise veränder(t)en, liegt eine gemeinsame Eigenschaft zugrunde: Stets spiegeln sie nämlich die Interessen einer bei der sozialen (wie kulturellen) Distribution von Gütern privilegierten Gruppe wider (die Bildung tritt dann sozusagen erst durch sie in Kraft bzw. implizit durch das Nicht-Bewusstmachen ihrer Absichten). Der Verstand ist kein Ideal-Konstrukt, sondern ein Vermittler-Axiom, auf das man sich einlassen muss, wenn man davon ausgeht, dass das menschliche Denken rational sein sollte. Die Rationalität definiert sich dabei über logische Nicht-Widersprüche und Schlussfolgerungen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Verstand ein ideologisch ›unschuldiges‹ Instrument sei. Es verhält sich sogar anders – der Verstand war und ist ein Werkzeug, ein Mittel des politischen Machtkampfes, bei dem die involvierten unterschiedlichen Seiten rationale Argumente gebrauchen, solange sie ihnen dabei helfen, ihre Partikularziele zu erreichen. Wichtig ist zu betonen, 5 Siehe: Smith, Anthony D.: Kulturowe podstawy narodów: hierarchia, przymierze i republika. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellon´skiego 2009. Laut Smith ist die Kultur einer Gesellschaft sozusagen kein Selbstläufer – eher das Gegenteil trifft zu: Die Kultur ist stark mit anderen Elementen des sozialen Umfelds (vor allem mit politischen Institutionen und direkt mit der politischen Ideologie) verbunden. 6 Siehe die Analysen in: Brubaker, Rogers: Nacjonalizm inaczej. Struktura narodowa i kwestie narodowe w nowej Europie. Warszawa/Kraków: Wydawnictwo Naukowe PWN 1998; Anderson, Benedict: Wspólnoty wyobraz˙one: rozwaz˙ania o z´ródłach i rozprzestrzenianiu sie˛ nacjonalizmu. Kraków/Warszawa: Wydawnictwo Znak 1997; Jaskułowski, Krzysztof: Nacjonalizm jako ideologia. In: »Przegla˛d Politologiczny« Nr. 3 (2003), S. 37–49. 7 Bourdieu, Pierre: O telewizji. Panowanie dziennikarstwa. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2009. 8 Foucault, Michel: Narodziny biopolityki. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2011.

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dass einerseits die Botschaften von Politikern-Ideologen nicht immer intentional und direkt sind bzw. bleiben müssen; diverse Aktivisten können sich ausgewählte Ideen nur in fragmentarischer, oberflächlicher oder epigonenhafter Form aneignen. Andererseits kommen alle Veränderungen in der Denkart vor allem auf der Ebene der intellektuellen Konflikte zum Ausdruck, sie rufen auch eine entsprechende, eben diese Denkart betreffende Veränderung bei den ›Objekten‹ (z. B. den Bildungsinstitutionen) hervor. Sie wirken sich immer auf die Argumentationsstrukturen, die innerhalb der politischen Institutionsnetze wie Parteien oder Parlamente entstanden sind, aus; sie zwingen die Medienlandschaft, in erster Linie aus dem liberalen Spektrum, dazu, sich Themen und Diskussionsfeldern zuzuwenden, die bei ihnen bis zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Agenda standen.9

Denkanstoß I: Wissenschaft und Ideologien. Die non-mainstream-Wissenschaft als Anti-Ideologie? Ich werde wahrscheinlich niemandem zu nahe treten und keine kontroverse Debatte auslösen, wenn ich die Behauptung in den Raum stelle, dass die größte Schwäche des klassischen Wissenschaftskonzepts (Wissenskonzepts) in ihrem idealischen Charakter liegt. Die Sozialwissenschaften, darunter die Soziologie, Psychologie, Pädagogik, die nach einer »klassischen Formel« betrieben werden, sind in der Lage, nur eine scheinbare Objektivität des Wissens über Menschen und gesellschaftliche Phänomene zu erzeugen, obwohl dasselbe Wissen (Wissenschaft) in Wirklichkeit nur ein Ausdruck, ein Ergebnis von suggestiven Ideologien einer bzw. der Mehrheit ist. Auf die objektive klassische Wissenschaft (Wissen) werden Normen, Werte, Überzeugungen oder (Er)Klärungsmodelle von Gruppen, die sich als genügend stark erweisen, Einfluss auf die Wissenschaft auszuüben, übertragen. Aus Sicht einiger Forscher wird solch ein Wissenschaftsmodell angezweifelt. Solche intellektuell-normativen Raster der Wissenschaft(en) berücksichtigen jedoch nicht die spezifischen Ansichten und axiologisch-normativen Elemente von schwächeren Gesellschaftsgruppen. Mehr noch: Sie würden diese Gruppen diskriminieren, wenn sie für diese Gruppen schadenbringende Vorbilder und Überzeugungen für notwendig erklären und somit auch als nicht verifizierbar abstempeln würden. Obwohl solche These (für viele) über die Stränge zu schlagen scheint, so lässt sie sich um ein weiteres Detail 9 Sontheimer, Kurt: Zmiany ´swiadomos´ci politycznej w konsekwencji studenckiego protestu. In: Jabłkowska, Joanna/Z˙ylin´ski, Leszek (Hg.): O kondycji Niemiec. Toz˙samos´c´ niemiecka w debatach intelektualistów po 1945 roku. Poznan´: Wydawnictwo Poznan´skie 2008, S. 279–292, hier S. 287.

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ergänzen, nämlich um die Ansicht, die von vielen Gegnern der »klassischen Formel« in den Sozialwissenschaften vertreten wird, dass das mit standardisierten Modellen der Sozialwissenschaften erschlossene Wissen implizit sich gegen die Gesellschaftsinteressen von bestimmten Gemeinschaften wendet, weil sie die staatlichen Rechts- und Sozialinstanzen zu – für die Gemeinschaften – ungünstigen Entscheidungen anstiftet. Würde man die Vorschläge der Kritiker des klassischen Modells in den Sozialwissenschaften akzeptieren, würden wir, wenn wir alle Ansichten, Konzepte etc. summieren, folgendes tautologisches Schema serviert bekommen: Bestimmte axiologisch-normative Elemente und Ansichten produzieren Konzeptualisierungs- und Inferenzstrukturen in den Sozial- und Geisteswissenschaften; diese Strukturen leisten wiederum bestimmten wissenschaftlichen Resultaten Vorschub. Dieses kreisförmige tautologische System wäre – objektiv gesehen – geschlossen (im Sinne des Verschlossenseins gegenüber Störfaktoren, die sein Funktionieren unterminieren könnten) und würde die Minderheiten, die von den normativen Elementen, die die klassische Wissenschaftsformel und das mehrheitliche Weltbild – die akzentuierte Ideologie – fundieren, Abstand nehmen, in eine Art ›symbolische Bedrängnis‹ bringen (mit möglicher Gewaltanwendung). Als Gegenmittel zum ideologischen Diktat der Sozialwissenschaften würde nicht der revidierende Objektivierungsversuch dieser Wissenschaften fungieren, sondern ein ideologischer Gegenangriff, der aus ideologischen, aus dem klassischen Schema ausgeschlossenen Elementen bestehen würde. Die Sozialwissenschaften, die von den Gegnern der klassischen Formel betrieben werden, würden sich solcher ideologischen Gegenstände annehmen, die dem klassischen wissenschaftlich-symbolischen Schema fremd sind. Somit würde man sich nur diesen Normen und Werten zuwenden, die bei der Mehrheit der Gesellschaften/ Gemeinschaften nicht vorkommen, und aus diesem Grund in dem zentrierenden Schema der klassischen Wissenschaften nicht vertreten werden. Die non-mainstream-Wissenschaft (diese Bezeichnung halte ich für weniger kontrovers als »nicht-klassische Wissenschaft«10) würde auf marginal wahrgenommene (selten hervorkommende) axiologisch-normative sowie ideologische Elemente verweisen, die die klassische Wissenschaft nicht negieren, sondern von dieser wegen ihrer vermeinten Irrelevanz mit Vehemenz und Konsequenz übersehen werden

10 Die nicht-klassische Wissenschaft wird für die Minderheiten betrieben – fernab vom sozialen Mainstream; die Befürworter des traditionellen Wissenschaftsmodells stellen die Wissenschaftlichkeit dieser Praktiken in Frage, indem sie sich gegen die Opposition »klassische Wissenschaft« vs. »nicht-klassische Wissenschaft« aussprechen, in der beide Elemente gleichgesetzt werden.

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würden. Die non-mainstream-Wissenschaft würde auf diesem Wege einen größeren Wert auf die marginalisierten Elemente legen.11 Eine Erklärung, in der man auf das angebliche ideologische Objektivitätsprimat des erschlossenen Wissens verzichten würde, könnte als weiterer Maßstab der non-mainstream-Wissenschaft gelten. Das Wissen, das in solcher Wissenschaft formuliert und kolportiert werden würde, wäre von Anfang an ein ideologisch »verseuchtes« Wissen, denn es stünde für solche Ansichten und axiologisch-normativen Elemente, die analog dazu ihren eigenen Ausgangspunkt bilden würden (axiologisch-normative Elemente würden aktiv an der Herausbildung von Denkrichtungen und Methoden sowie der Bestimmung der zu analysierenden Themenfelder teilnehmen). Den Kern und Sinn der non-mainstream-Wissenschaft könnte man, ein wenig kolloquial, wie folgt umschreiben: Wenn »sie«, die Vertreter der klassischen Wissenschaft, eine faktisch ideologische Wissenschaft betreiben, die die ideologische Neutralität nur vortäuscht, sind »wir«, die Vertreter der non-mainstream-Wissenschaft, gerade deswegen dazu verpflichtet. Und wenn »wir« offen zu unseren ideologischen Inspirationsquellen stehen, so sind »wir« um einiges besser als die Vertreter der klassischen Wissenschaft, die sich zu ihren von der Ideologie geprägten Forschungsergebnissen nicht bekennen, ideologische Neutralität nur vorgeben, die wiederum zu einer gesellschaftlich schädlichen Fiktion wird. Das Bekenntnis zur Ideologie, die bestimmte Formen und Denk-Teleologien nach sich zieht, würde die mangelnde Objektivität der durchgeführten Analysen legitimieren. Daraus würde folgen: in der Wissenschaft, im wissenschaftlichen Diskurs, sei es schlicht nicht möglich, Ideologien zu ignorieren. Die non-mainstream-Wissenschaft, die ihren theoretischen Erfolg in der Feststellung sähe, dass die Ideologisierung der Sozialwissenschaften als notwendig erscheint, würde sich folgender suggestiver Überredungskunst bedienen: Wenn die Nicht-Ideologisierung (hier: Objektivität) in den Sozialwissenschaften nicht mach- und durchführbar ist, dann lässt sich die wahre von der falschen Wissenschaft dadurch erkennen, dass sie sich zu den ideologisch grundierten Voraussetzungen ihrer Endresultate bekennt. Die non-mainstream-Wissenschaft würde offen ihren Hang zu einer bestimmten Ideologie gestehen; sie würde somit nicht nur ihre Ehrlichkeit unter Beweis stellen (Bekenntnis zu einer Ideologie, die sich hinter bestimmten Wissenschaftsergebnissen versteckt als Kriterium für die Ehrlichkeit der Wissenschaft), sie würde gleichzeitig eine tiefere gesellschaftliche Empfindsamkeit ausdrücken und – ohne zu übertreiben – als Beschützerin der Abgehängten agieren (sie würde Subjekte emanzipieren, die, aufgrund des von den klassischen Wissenschaften mitgetragenen symbolischen Gesellschaftsregimes der Mehrheiten, am 11 Stengers, Isabelle: The Invention of Modern Sciences. Minneapolis: University of Minnesota Press 2000, S. 11.

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eigenen Leibe etwas wie Unbehagen erleben würden). Die non-mainstreamWissenschaft, indem sie die Grundsätze der marginalisierten Ideologien predigen würde, hätte keine andere Wahl, als sich vor die unterdrückten Disponenten solcher Ideologien zu stellen. Die Teleologie der Analysen, am emanzipatorischen Ziel orientiert, erhielte dann ihre moralische Berechtigung, und aus dem Grund, aus der moralischen Notwendigkeit heraus, die Unterjochten zu verteidigen, wäre man auch nicht dazu geneigt, ihr eine gewisse Tendenziösität der Analysen vorzuwerfen. Sollten sich die hier beschriebenen Schlussfolgerungen als richtig und wahr erweisen, so könnte man konstatieren: Der moralische Grund, der die Untersuchungen der non-mainstream-Wissenschaft legitimiert, ist derer immanenter Bestandteil; er weist nämlich auf den moralisch notwendigen Zweck solcher Analysen hin und verdeutlicht – mit Blick auf die sozialmoralische Dimension – ihre Sinnhaftigkeit. Das Bekenntnis zu einer die Forschungsanalysen konstituierenden Ideologie – oder auch das Gegenteil davon –, das für die Vertreter der non-mainstreamWissenschaft ein intellektuelles Kriterium für die ›Ehrlichkeit‹ bzw. ›Glaubwürdigkeit‹ der besagten Analysen ist, deutet im Grunde auf den Zwiespalt zwischen den klassischen und non-mainstream-Wissenschaftsmodellen hin. Wenn bei dem non-mainstream-Modell das ideologische Bekenntnis die Ausmaße einer intellektuellen Ehrlichkeit annimmt, dann ist die erstgenannte klassische Methode eher ein Beweis für die intellektuelle Unehrlichkeit; so könnte sie zumindest aufgefasst werden. Ohne größere Probleme lassen sich beide ideologischen Wissenschaftsmodelle voneinander trennen. In der Rhetorik der non-mainstream-Wissenschaft wird ein ideologisches Bekenntnis als etwas Gutes eingestuft, im Falle der Rhetorik der klassischen Wissenschaft gilt es jedoch als inakzeptabel und erbringt den Nachweis ihrer ideologischen Tendenziösität, wissenschaftlichen Inkompetenz, ja sogar der Verhöhnung des Postulats, die präsentierte Gesellschaftswelt durch die Objektivitätsbrille zu betrachten. Die klassische Wissenschaft wehrt sich gegen solche theoretischen Ansätze, die für die non-mainstream-Wissenschaft den Kern ihres Wesens ausmachen, indem sie auf die Unmöglichkeit verweist, auf ideologische Erkenntnisse in den Sozialwissenschaften völlig zu verzichten. Mit anderen Worten: Die klassische Wissenschaft wendet sich gegen die relativistische Epistemologie, die wiederum zum Axiom der non-mainstream-Wissenschaft wird. In der Terminologie der klassischen Wissenschaft findet sich solch eine wissenschaftliche Erkenntnis, die im Großen und Ganzen eine objektive und genaue Widerspiegelung von Ereignissen/Entwicklungen in der sozialen Umwelt ist und die sowohl in epistemologischer als auch moralischer Hinsicht den Anspruch auf ihre Echtheit gegenüber ihren Empfängern/Adressaten erhebt. Sobald die Analyseergebnisse von den Subjekten/Adressaten als wahr, echt empfunden werden, entpuppt sich dieses Wahr-(Echt-)Machen als eine sozial-kulturelle Prozedur, die auf einen

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festen theoretischen Unterbau zurückblicken kann, der besagt, dass der Mehrwert von methodologisch korrekten, gut organisierten/durchgeführten Forschungen/Analysen in der Weitergabe des objektiven Wissens über die diagnostizierten Phänomene (Ereignisse, Handlungen etc.) besteht, und die mit dem bei der Mehrheit der Gesellschaft dominierenden Theorieansatz einhergeht.

Denkanstoß II: Wissenschaft – Ideologie und Bildung Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ideologie wirft folgende Frage auf: Kann man überhaupt von solchen Sozialwissenschaften sprechen, die jenseits der Ideologien funktionieren könnten, und die sich als nicht-ideologische Wissenschaften definieren würden? Präziser ausgedrückt: Lässt es sich von solchen Sozialwissenschaften sprechen, die in keiner Verbindung zu eindeutigen – von Inhalt/Programm her –, formulierten und kodifizierten Ideologien (organisierten ideologischen Strukturen in Sinn und Form) stehen würden? Tangieren würde diese Frage vor allem solche möglichen Formeln der Sozialwissenschaften, die auf einheitlich-inhaltlichen und konkret kodifizierten Ideologien beruhen. Meines Erachtens gibt es solche nicht-ideologischen Sozialwissenschaften nicht bzw. kann es nicht geben. Meiner These liegen zwei Wissenskategorien zugrunde: 1) das ideologische Wissen, 2) das Wissenschafts-Wissen. Hängen beide Wissensstrukturen zusammen? Von der Annahme, dass es zwischen dem ideologischen Wissen und dem Wissenschafts-Wissen, also dem Wissen fernab von Ideologien, keinerlei Schnittstellen gibt, sollte man sich distanzieren. Die Ideologien, so behaupte ich, weisen Gemeinsamkeiten mit dem Wissen, das mithilfe von nicht-ideologischen kognitiven Praktiken erschlossen wird, auf. Einige Ansichten oder Glaubenssätze von Menschen/Subjekten können schlicht und ergreifend wahr sein, obwohl sie keinesfalls die Wahrheit/Echtheit anderer Ansichten oder Glaubenssätze derselben Menschen/Subjekten in Frage stellen. Unterschiedlich dabei sind allem Anschein nach die Räume der Wissenschaftsinterferenzen und diversen Ideologien sowie die ›Echtheit‹ der Thesen eben solcher Ideologien in Bezug auf die Wissenschafts-Thesen. Dies ist jedoch ein anderes Problem. Ich vermeide es, den kognitiven Stellenwert der Lehrsätze von Sozialideologien zu nobilitieren. Mein Eindruck ist, dass er jedem anderen Stellenwert der Lehrsätze von anderen Menschen – mit Blick auf soziale Fragen – ähnelt, wenn nicht sogar der gleiche ist. Die Ideologien sind besser systematisiert, sind häufig kausal-logisch geordnet und vieldimensional, befassen sich mit einem größeren Problem-Pool, aber der theoretische Stellenwert einer ideologischen Meinung/ eines Elements bleibt derselbe in Relation zu jeder anderen Meinung/Element von Menschen, die einem methodologischen Wissenschaftsregime nicht unter-

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geordnet sind. Die Beschaffenheit von Sozialideologien als geordneten Meinungssystemen ist formal-logischer Natur. Analysiert man die Ideologien aus einer formal-logischen Sicht, so untersucht man die logische Kohärenz von Ansichts-Systemen d. h. logische Zusammenhänge bzw. Abhängigkeiten von einzelnen Meinungen/Elementen einer Ideologie, die auch in politische Doktrinen (fest) eingeschrieben sind. Solche Analysenperspektive, mit der neues wichtiges Wissen erschlossen werden kann, führt jedoch nicht zu weiteren, neu gewonnenen Erkenntnissen, was den Wahrheitsgehalt (oder Echtheitsgehalt) des ideologischen Wissens anbelangt. Zweifellos ist die formal-logische Herangehensweise – im Hinblick auf einige Ideologien – kognitiv fruchtbar und lässt die Systeme ideologischer Thesen an die Systeme wissenschaftlicher Thesen näher heranrücken, deren Korrektheit eben durch die logische Verkettung gewährleistet wird. Andernteils gibt es keinen Zweifel daran, dass sich die formal-logische Methodik in Anbetracht komplexer ideologischer Thesen als nicht ausreichend und eingeschränkt erweist. Dabei, darauf sollte man ebenfalls das Augenmerk lenken, fußt jede gesellschaftsbedingte Aussage auf bestimmten ideologischen Annahmen/Voraussetzungen und gleicht demnach einem Ideologie-Medium. Einige Thesen/Aussagen von Diskursanalytikern, die um die Erschließung und Enträtselung von Ideologien bemüht sind, werden mit dem Etikett ›objektiv‹ versehen, im Gegensatz zu denjenigen Aussagen, in die meistens unklare Motive derselben Ideologien eingebaut sind. Der Begriff »objektiv« oder »ideologiefrei«, der rhetorisch gesehen in diesem Punkt nur so viel bedeutet, dass eine Analytiker-Aussage bestimmte Ideologieannahmen nicht erfüllt (was nicht heißt, dass sie keine anderen Ideologien bedient); die Bedeutungen von verwendeten Begriffen entscheiden über die Objektivität der Aussage. Man könnte hinzufügen, dass es sich dabei um das Problem der groben, ungenauen Sprache handelt – ein Beweis der Flüchtigkeit der von den Analytikern durchgeführten Untersuchungen und ihrer Schussfolgerungen. Anders – um nicht zu sagen: komplizierter – verhält es sich im Falle einer gezielt zur Anwendung gekommenen rhetorischen Strategie – einer mehr der weniger ideologischen Handlung, die auf die Diskreditierung der einen Ideologie (die im Text enthüllt wird) bei gleichzeitiger Lancierung einer anderen Ideologie (die in Konkurrenz zu der im Text enthüllten steht) hinauslaufen würde. In der analysierten Aussage werden bestimmte Ideologiemotive aufgedeckt; dabei behauptet man, dass eine Aussage über dieselben Themen, die die erwähnten ideologischen Elemente nicht enthält, objektiv sei (die sog. ›schweigende Annahme‹), was darüber hinaus beim Adressaten den Eindruck erweckt, dass die Sachlichkeit (Echtheit) dieser Aussage nur durch eine einzelne Ideologie beeinträchtigt wird. Eine andere Ideologie gilt dabei als die einzig richtige und als Ausdruck der Objektivität. Solch eine rhetorische Strategie bildet im Hinblick auf die Darstellung von Untersuchungsergebnissen nicht nur eine

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Hypothese, sondern findet wirklich statt. Auf sie greifen in erster Linie die Politiker sowie Experten in den Massenmedien zurück. Alle Beispiele rhetorischer Strategien kann ich im Folgenden nicht auflisten, nur eines davon würde ich gerne näher beleuchten. Die Lobbyisten, die sich für die Schulpflicht ab dem 6. Lebensjahr aussprechen, stigmatisieren ihre Widersacher (und deren Aussagen) als Träger falscher Ideologie, die unterschiedlich bezeichnet wird, allerdings immer mithilfe von pejorativen und suggestiven Begriffen; die Nachrichtenempfänger verstärken sie in ihrer Überzeugung, dass Aussagen ohne solche Ideologiebezüge – objektiv betrachtet – die Einstellung der gesellschaftlichen Mehrheit abbilden. Ihren eigenen Aussagen/Meinungen über die Befürworter der 6-Jahre-Schulpflicht-Regel, die in der Minderheit sind, wird keinesfalls ein Ideologiestempel verpasst (die Lobbyisten verdecken den offensichtlichen ideologischen Hintergrund ihrer Aussagen), obwohl sie selbst gerne das »Ideologie«-Argument ins Feld führen, mit dem sie ihre Gegner brandmarken. So werden pädagogisch-soziologische Diskursanalysen für unsachliche Zwecke ausgenutzt – im politischen Spiel. Das Problem der unpräzisen Sprache der Diskursanalytiker und ihrer Manipulationen ist nicht aufschlussgebend für die ideologische Färbung der Aussagen. Unter den Nobilitierungsstrategien der Sozialideologie mithilfe der Wissenschaft verstehe ich den Gebrauch von wissenschaftlichen Argumenten in Bezug auf ideologische Anschauungen.12 Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten und Wege solch einer Bezugnahme bzw. Rekurrenz von ideologischen und wissenschaftlichen Thesen/Annahmen. Meiner Meinung nach tritt dieses Phänomen unter und mit verschiedenen Aspekten in der Pädagogik auf, wo es an Bedeutung gewinnt; in keiner anderen Disziplin der Geistes- und Sozialwissenschaften spielt die Ver-Ideologisierung von wissenschaftlichen Thesen eine solch große Rolle und hat gleichzeitig praktisch-soziale Folgen.13 In den Diskussionen werden am häufigsten ideologische Schlussfolgerungen aus den Wissenschaftsanalysen zitiert. Die Entscheidung für ein bestimmtes Analyseverfahren ist aber von den ideologischen Vorlieben geprägt. Man führt in der Regel nicht alle Ergebnisse der Analyse auf, sondern nur einen Teil davon, der mit den Ideologiepostulaten kompatibel ist. Der ›Zugang‹ der Wissenschaft zur Ideologie ist deshalb einer ideologischen Reglementierung unterworfen. Selegiert werden nur solche Analysemethoden, die die Richtigkeit der ideologischen Postulate bekräftigen, die 12 Chomsky, Noam: Media Control. The spectacular Achievements of Propaganda. New York: Seven Stories Press 2002; Herman, Edward S./Chomsky, Noam: Manufacturing consent. The Political Economy of the Mass Media. New York: Pantheon Books 1998. 13 S´liwerski, Bogusław: Klinika szkolnej demokracji. Kraków: Oficyna Wydawnicza »Impuls« 1996; S´liwerski, Bogusław (Hg.): Pedagogika alternatywna. Postulaty, projekty i kontynuacje. Teoretyczne konteksty alternatyw edukacyjnych i wychowawczych. Kraków: Oficyna Wydawnicza »Impuls« 2007.

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vor allem an die Kategorie »Wert« (»Wertigkeit«) gebunden sind. Dabei zwingt eine direkte Rückkopplung an den Wert resp. die Werte (Wirklichkeit), die über die theoretisch-praktische Profilierung der einzelnen Ideologien entscheiden, die Erziehungswissenschaft zur eindeutigen Positionierung im humanistischen Diskurs zum Problem des Wertes (der Wertigkeit); bevor sich die Pädagogik zu einer diskursiven Lösung entschließt, ›muss‹ sie sich den Regeln der diskursiven Praxis (der Denkstrukturen des Bildungsdiskurses) unterordnen. Die ontologische Wertigkeit – die axiologische Leistung –, obwohl sie sich nicht im Interessenspektrum der Pädagogik bewegt, durchdringt diese und wird zu einer der Urquellen der pädagogischen Ideologie. Ideologische Konzeptionen, die durch einen (theoretischen) Bezug auf ein bestimmtes Wert- und Analyseverständnis konditioniert werden, scheinen die Grundfrage der Politikeraussagen und -absichten auszumachen: Die Bildungspraxis (mit ihren Programmen und Inhalten) verstanden als Vorbereitung fürs Leben soll doch die einzige in Frage kommende universale Möglichkeit des Mensch-Werdens darstellen, dessen Negierung unmöglich ist. Es ist offenkundig, dass die Ideologie, indem sie in ihr Betrachtungs- und Handlungsspektrum arbiträre Werte mit einbezieht (zum Gegenstand der Ideologie wird bspw. die neotische Welt mit nicht materiellen Werten wie das Gute, Liebe, Achtung), die Ausformulierung von vernünftigen Argumenten verhindert. Der Ideologe wird auf die Tatsache verweisen, dass die Wahl einer einzigen axiologischen Theorie bei gleichzeitiger Missachtung, Ausklammerung anderer rechtskräftig sei. Wie sieht es mit der Rechtskräftigkeit solcher Entscheidungen aus der Perspektive der Wissenschaft aus? Die Beliebigkeit bei der Übernahme von Paradigmen – oder sogar der Ideologie selbst? – kann alle Zweifel nicht beseitigen. Das Paradigma muss eindeutig bestimmt sein und auf die empirische Wirklichkeit referieren. Aus der Bildungsideologie, die sich keinesfalls mit dem Arbitraritätsdiktat verträgt, wird im Endeffekt eine Doktrin. Aus vielen zugänglichen Positionen pickt man sich eine einzelne heraus und erhebt sie zum Axiom. Die Methodologie der Sozialwissenschaft nimmt die reale Existenz der Welt für bare Münze, die Bildungsideologie hingegen kann zwischen solchen Imperativen auswählen wie: sei tolerant, liebe die Andersartigkeit, man solle Vertretern anderer Kulturkreise helfen. Diese Imperative müssen offensichtlich sein, tatsächlich sind sie es jedoch kaum: Die angedeuteten ideologisch-ethischen Postulate sind weder wahr bzw. richtig noch falsch. Werte können zum Gegenstand emotionaler Erlebnisse werden, weil, laut Max Scheler, die Erlebnisse nicht nur in Form von Emotionszuständen, sondern auch von Eindrücken mit eindeutigem Intentionscharakter auftreten können.14 Die

14 Wojtyła, Karol: Zagadnienie woli w analizie aktu etycznego. In: Styczen´, Tadeusz/Gałkowski,

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Empfindsamkeit stellt nicht nur für die Wissenschaft (auch für die Pädagogik), sondern auch für die öffentlichen Aktivitäten/Tätigkeiten/Handlungen im Rahmen der Bildungsarbeit (darunter fällt auch die Politik) eine Gefahr dar. Die Bildungsideologen sind sich dessen bewusst, dass die Empfindsamkeit nicht nur auf Persönliches zu reduzieren sei, sie habe auch Öffentlichkeitscharakter. Im Dienste der Empfindsamkeit zwingt man Akteure des sozialen Bildungslebens zu wertvoller Haltung, zu konstruktiver Teilnahme am sozialen Leben, zu gegenseitiger Hilfe etc. Natürlich handelt es sich dabei um Indoktrinationstheoreme; diesen Theoremen lassen sich Unmengen an Interpretationsangeboten zuschreiben. Auf diesem Wege kommt es zu einer Art Transmission der ideologischen Praxis, die man paradoxerweise mit dem Verweis auf ein Kollektiv, den Staat usw. zu erklären versucht. Dass jeder Mensch gegenüber dem Politiker als ideologisch autonomes Wesen erscheint – diese Tatsache wird bewusst oder unbewusst übersehen. Soll sich deswegen die Bildungsideologie, wenn wir uns auf sie einlassen, selbst relativieren und als sozialer Gehalt/Bezug des einzelnen sozialen Subjektes verstanden werden? An diesem Punkt angelangt sei eine andere, konträre Behauptung über die möglichen Bildungs(entwicklungs)wege erlaubt. Unterscheiden kann man zwischen zwei Diskursordnungen: dem wissenschaftlichen und dem ideologischen (wie schon oben angerissen). Das Element der Wissenschaftlichkeit lässt sich als Generalisierungsvorgang von empirischen Tatsachen, die man den durchgeführten Analysen verdankt, betrachten. Bei den ideologischen Grundlagen handelt es sich um Feststellungen im Bereich des Wertes (der Wertigkeit). Die Wissenschaft wird oft – gegenüber der Ideologie – mit einer Instrumentalisierungsfunktion ausgestattet: Sie soll veranschaulichen, wie man erfolgreich die Zielsetzungen der Ideologie wahrnehmen und befolgen kann. So können wir auch das Entstehen dieses seltsamen konzeptionellen Amalgams im Politikwesen beobachten. Das Verstehen und die Darstellung von Werten sind ein Garant für ideologische Bildungskonstrukte (entweder als ideologische Maximen oder als Reduktion von theoretischen Postulaten begriffen). Selten sind die Werte, die von Politikern affirmiert und verbreitet werden, von der Gesellschaft – von dem Bildungsfeld – rational begründet. Häufig werden sie als Selbstverständlichkeit schlechthin hypostasiert. Aufgrund der geltenden Wissenschaftsaxiome sträubt sich die Ideologie vor wissenschaftlichen Ansichten. Die Datensätze, die im Zuge der Untersuchungen der empirischen Sozialwissenschaften (des klassischen sowie des non-mainstream-Modus) erstellt wurden, sind für die Ideologie nicht ausschlaggebend. Sie Jerzy/Rodzin´ski, Adam/Szostek, Andrzej (Hg.): Zagadnienie podmiotu moralnos´ci. Lublin: TN KUL 2001, S. 181–200.

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sind, wennschon, die Konsequenz der vorab angenommenen Überzeugungen bezüglich des Verständlichmachens und Analysierens der sozialen Bildungswirklichkeit.

Denkanstoß III: Theorie und Bildungspraxis als Schatten der Ideologie (Politiker und Lehrer im Visier)? Die Ansicht, dass das Bildungswesen (sowohl in Staats- wie privater Hand) und die Ideologie miteinander untrennbar verflochten sind, ein einheitliches, spezifisches Amalgam von theoretisch-praktischen Visionen, vom Sinn und Zweck des Lebens (indem sie diese Visionen realisieren, präsentieren und bewerten) herausbilden, gehört zu den bekannten Binsenweisheiten. Einerseits wirkt sich jede Ideologie (mit normativem Charakter) auf die Herausbildung des gemeinsamen »Wir«-Gefühls aus (dieses »Wir« setzt sich aus Menschen zusammen, die sich der eigenen Geschichte bewusst sind). Andererseits üben die von der Ideologie mit bestimmten Ansichten der Menschen nicht nur einen starken Einfluss auf die äußeren Verhältnisse zwischen dem Menschen und dem sozialen, politischen und ökonomischen System aus, sondern auch auf seinen inneren Existenzsinn bzw. die eigene Identität. Am Anfang schrieb ich, dass sich die politischen Ideologisierungsstrategien des Bildungswesens durch eine aktive und offene Ideologisierung der analytischrhetorischen Bildungspraktiken kennzeichnen. Es handelt sich dabei um gut lesbare und zu erkennende Elemente von Strategien einer politisch-öffentlichen Rhetorik. Meistens nehmen sie keine raffinierten, ausgeklügelten Formen an. Wer für die »Vermischung« von bestimmten Ideologie- und Bildungselementen die Verantwortung trägt, und was er damit erreichen möchte, liegt klar auf der Hand. Allerdings bildet diese »Vermischung«, die leicht zu identifizieren ist, keinen Anlass zur Demystifizierung der Ideologie in den öffentlichen Aussagen der Politiker. Hierbei kann man beispielweise die Aussagen zur Bedeutung des Bildungswesens und Wissenschafts-Wissens im Kontext politischer Anschauungen erwähnen – von Ideologen und Lehrern (darunter auch Universitätslehrern). Häufig wird der ideologische Kontext von Bildungsfragen und -maximen von der öffentlichen Meinung nicht wahrgenommen. Einige Beispiele der Inkongruenz. Inkongruenz I: Beide Seiten verstehen und stellen das Recht der PolitikerIdeologen, sich in theoretisch-praktische Lehrinhalte sowie wissenschaftliche Angelegenheiten einzumischen, anders dar:

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– der Lehrer (auch Hochschullehrer) würde sagen: a) wir wissen, womit wir uns befassen sollten, wie die »Problemsituation« im Bereich der Theorie und Praxis (des Erkennens) aussieht, b) wir verfügen über spezielle und soziale (Er)Kenntnisse (und erfreuen uns gewissen Vertrauens vonseiten der Gesellschaft) mit Blick auf die »Problemsituationen« bei der Arbeit mit Bildungssubjekten (z. B. Schülern); c) wir wissen, dass die Aufgabe des Lehrers didaktisch-erzieherischer und kognitiver Natur ist; Bildungserfolge wie wissenschaftliche Entdeckungen sind erwünscht; d) wir wissen, dass die Freiheit – darunter auch die damit zusammenhängende Verantwortung – der Lehrerund Wissenschaftsarbeit (auf der Autonomie des wissenschaftlichen Erkennens basierend) die besten Voraussetzungen für den späteren didaktischen Erfolg und die Wissenserschließung bildet; dadurch leistet man einen Beitrag zur Veränderung der (zivilisatorischen) Realität eines Landes, der ganzen Welt; es handelt sich dabei um solche kulturell-sozial-technische Felder, mit denen sich die Politiker identifizieren sollten. Freiheit, Freiräume und damit verbundene Subsidien – dies sollten die Lehrer von den Politiker-Ideologen erwarten. – der Politiker-Ideologe würde sagen: a) wir sind berechtigt, zu regieren, weil wir von den Wählern dazu in die Pflicht genommen wurden; wir genießen das Vertrauen und bekamen das Mandat, das Land zu verändern: wir sind für das Land verantwortlich und wissen, gegen welche »Problemsituationen« wir vorgehen müssen, was ›repariert‹, ›erneuert‹ werden muss, sowohl in Bezug auf den Ist-Stand als auch auf die Zukunft; b) wir sind der Meinung, dass der Bildung (auch der institutionalisierten) und Wissenschaft ein allzu großes Veränderungspotential innewohnt, um die Herausbildung bestimmter Bildungsformen und -programme sowie den Forschungsbereich ausschließlich den Lehrern/Wissenschaftlern zu überlassen; c) wir glauben, sowohl in formaler als auch sachlicher Hinsicht, genug kompetent zu sein (wir stehen in Kontakt mit Experten, die aus dem Lehrermilieu stammen; wir sprechen mit Theoretikern über die »Problemsituationen« u. a. mit Blick auf die didaktischerzieherischen Aufgaben der Lehrerschaft und die kreative Funktion der Wissenschaft und deren Wissens), um den Bildungs- und Wissenschaftsraum juristisch zu regulieren, Bildungsprioritäten (bspw. im Schulwesen) zu setzen, Regeln der Subsidierung der didaktisch-wissenschaftlichen Arbeit (institutionalisiert) aufzustellen, den Lehrkörper in die Pflicht zu nehmen, für den Staat und die Nation im Falle eines ausgerufenen Notstandes oder im Dienste der Staatsräson zu arbeiten; d) wir betrachten den Bildungs- und Wissenschaftsraum der sozialen Praxis als Bestandteil eines ganzen Systems der Funktionsverteilung im Rahmen einer Gesellschaftsordnung, für die der Staat steht. Der Politiker-Ideologe würde deswegen sagen: Die Lehrer sollten um der Bildung und Wissenschaft willen, die die technologisch-zivilisatorische Rea-

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lität kreieren, nur eine eingegrenzte Freiheit genießen – eine eingeschränkte Bildungsfreiheit, die nur der Nation und dem Staat, deren Gegenwart und Zukunft, dienen sollte. Gleichzeitig müssen sich die Lehrer auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Staat einstellen, was die Bildungs- und Erziehungsprogramme und deren (erfolgreiche) Umsetzung angeht. Der Politiker-Ideologe würde sagen: wir wollen aufgrund und anhand der Ziele regieren.15 Inkongruenz II: Politiker-Ideologen und Lehrer verstehen und stellen anders das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis dar: – Der Lehrer (auch Hochschullehrer) würde sagen: a) es ist die Sache des Lehrers, seiner Kompetenz und seiner Überlegungen und nicht der sozialen Verpflichtungen, von welchen Theorien er in seiner Arbeit Gebrauch machen wird; b) der Lehrer soll Sorge für die sozial-kulturelle Identitätsbildung von Bildungssubjekten (Schülern) im Kommunikationsrahmen tragen, solange die Kombination von kulturellen und politischen Funktionen dem Bildungsprozess und der Gesellschaft keinen Schaden zufügt. Der Lehrer würde deshalb sagen: Die Zusammenarbeit von Lehrern und Politikern wird effektiver, sobald die Invention und Aktivität beider Seiten denselben Zielen unterworfen wird (z. B. in Bezug auf die Effektivität beider sozial-kulturbildenden Praktiken). Inkongruenz III: Beide Seiten verstehen und stellen die Bedeutung der Bildungspraxis und Wissenschaft im Dienste der Politik anders dar: – Der Lehrer (auch Hochschullehrer) würde sagen: a) ein Politiker-Ideologe ohne Hochschulabschluss (und pädagogischer Ausbildung) ist ein Dilettant; b) um richtige politische Entscheidungen zu treffen ist das theoretische und praktische Wissen zum Thema Bildungswesen (Pädagogik, Erziehung) unabdingbar; es reicht nämlich nicht aus, seine Entschlüsse mit Gutachten, Berichten oder Projekten von Experten, Lobbyisten und anderen Ideologen zu untermauern (einen Ideologen-Politiker sollte die Fähigkeit des Analysierens und Interpretierens von theoretischen Texten kennzeichnen, um gute Urteile zu fällen); c) der Politiker-Ideologe darf nur dann Entscheidungen bezüglich einiger Aspekte der Bildungswirklichkeit treffen, wenn er über einen soliden Wissensfundus zur Strukturalität, Prozessualität und Funktionalität dieser Aspekte sowie über eine bestimmte Wissenschaftsperspektive, mit deren Hilfe man die Ganzheit überblicken kann, verfügt; d) der Politiker-Ideologe sollte in programmatischer Hinsicht die Regel von der Untrennbarkeit von Bildung und Wissenschaft (Lehrer und Wissenschaftler) als konstitutiver Komponente 15 Goc´kowski, Uczony i polityk, S. 73.

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des Erkennens und Herausbildens der (humanen) Welt beachten. Nicht der Überfluss von Wissen und Wissenschaft bei der Entscheidungsfindung, sondern eine radikale Ideologisierung stellt für die Politiker eine Bedrohung dar. – Der Politiker-Ideologe würde sagen: a) aufgrund des Wissenskonvoluts und der Fähigkeiten eines Politikers, der für und vor der Gesellschaft verantwortlich ist, verlieren die Anstrengungen der Theoretiker an Bedeutung; eines der Elemente einer richtigen, gerechten Politik ist das Sich-Aussprechen für konkrete programmatische Ansätze (ideologische? von den Wählern gewünschte?) – infolge von Gesprächen mit Praktikern des Bildungswesens und der Auseinandersetzung mit reflexiv-analytischen Berichten von Fachleuten, die sich mental mit der Invention und ideologisch-politischen Handhabe verbunden fühlen; b) die Lehrer, die sich auf den Stellenwert, die Wichtigkeit der Theorie und Praxis (vor allem der eigenen Praxis) berufen, sind nicht imstande, zwischen der von ihnen selbst repräsentierten Andersartigkeit der Weltproblematisierung und der Problematisierung derselben Welt von Politikern-Ideologen bzw. Experten zu differenzieren, die die Vorbereitung und Einführung z. B. einer bestimmten politischen Doktrin (in Bildungsstrukturen) beabsichtigen; c) die Bildungstheorien befassen sich mit Schemata und Modellen der sozial-human-kulturellen Wirklichkeit, ohne dabei in der zwischenmenschlichen, globalen, internationalen Welt als Wegweiser bei politischen Entscheidungen aufzutreten. Ideologisch-politische Entscheidungen sollte man deshalb den Experten aus politischen Kreisen überlassen. Und der Wunsch der Wissenschaftler und Lehrer, eine tragende Rolle in der Gesellschaft zu spielen (sowohl in sozialer wie politischer Hinsicht), kann als Beleg für die Vermengung von zwei unterschiedlichen Formen der Sachlichkeitskompetenz (mit veränderten sozial-kulturbildenden Funktionen) gelten.

Fazit Die in diesem Beitrag besprochenen Gesichter des Nationalismus aus Sicht der Ideologie und Bildungspraxis – obwohl flüchtig und skizzenhaft – lassen auf Folgendes schließen: Erstens scheint das Interpretationsproblem von ideologischen Maßnahmen keineswegs ein Wissenschaftsphantasma (im Geiste der fehlenden Verantwortung für die Bildung) zu sein, sondern eine Waffe und zugleich eine Herausforderung der Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich den internen Klassifizierungen nicht unterziehen. Das immer wieder in Anschlag gebrachte Argument der Sorge um die Bildungsstandards – wie es die Bildungsorthodoxie will – ist schon selbst im Lichte der postulierten Standards ideologisch kodiert. Konfrontiert werden wir nämlich mit dem paradoxen Zustand, der niemanden gleichgültig lassen kann, dass man verantwortbare For-

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men, Inhaltsrigorismus, objektive Narrative, eng verstandene Rationalität fordert – bei gleichzeitiger Forcierung, ohne sich auf die Analyseergebnisse stützend, nur der einen Denkweise/Konzeption der Politiker-Ideologen. Zweitens gibt es Schwierigkeiten, eine einheitliche Formel oder einen Kanon zu präsentieren, in die/den sich der Nationalismus einschreiben ließe (z. B. der kulturelle Nationalismus mit Blick auf das Bildungswesen) – vor allem deswegen, weil es ihm im Gegensatz zum Liberalismus immer noch an zementierten theoretischen Grundsätzen fehlt. Der kulturelle Nationalismus stellt – im Unterschied zu dem hier vorgestellten politischen Nationalismus (mit Blick auf die Bildungsideologie) – unter Beweis, dass die Bevölkerung zum Volk, zur Nation nicht mithilfe bestimmter politischer Institutionen und Entscheidungen wird, sondern aufgrund der Übereinstimmigkeit des kulturellen Genotyps. Drittens hängt die Bildungsideologie, die Bildung als solche, eng mit dem politischen Nationalismus zusammen (z. B. im Bereich der standardisierten Bildungsprogramme). Beide sind allerdings nicht voneinander abhängig, zumal national-politische Praktiken schon vor der Institutionalisierung des Bildungswesens bestanden. Sie können verknüpft sein sowohl mit den Maßnahmen zum Schutz einer Nation, der für den Nationalismus charakteristisch ist, als auch mit den Maßnahmen zum Schutz eines Staates, der keinen nationalen Charakter hat. Viertens kann man annehmen – auf die Analysen zurückblickend –, dass der Bildungsnationalismus Handlungen umfasst, die durch den politischen Nationalismus konditioniert und legitimiert werden; diese Handlungen von Gesellschaftsgruppen implizieren eine Veränderung der bildungsorientierten und weltanschaulichen Entwicklungsrichtung eines Staates und stellen das erzielte Gesamt- und Teilgleichgewicht in Frage.

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Mirosław Kowalski

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Paul Martin Langner (Kraków)

Vom »Nationalbegriff« vor dem Nationalbegriff

Die Bezeichnung »Nation« ist ein politischer Begriff der Frühen Neuzeit und der Gegenwart, der, nach heutigem Verständnis, eine interpersonale, abstrakte, politisch-gesellschaftliche Einheit einer in einem Staat zusammengefassten Region benennt. Es lässt sich jedoch feststellen, dass in verschiedenen europäischen Regionen der Weg zur jeweils eigenen Nation oder zum Nationalbewusstsein über Jahrhunderte zeitlich unterschiedlich verlaufen ist.1 Die Vorstellung des Begriffs entwickelte sich in Europa asymmetrisch. Dennoch kann für den europäischen Kontinent angenommen werden, dass die Entwicklungen von Nationalbegriffen ihren Ursprung im Mittelalter genommen haben und während der Formierungen von Vorstellungen von Staat und Gesellschaft im Laufe des Spätmittelalters, der Frühen Neuzeit bis ins Barock stattfanden. Bei Betrachtung dieser historischen Prozesse fallen in deutschsprachigen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts Bezeichnungen auf, die sich auf mittelalterliche Königreiche oder Landschaften beziehen, jedoch nicht als Nationalbegriffe missverstanden werden dürfen, obwohl sie sprachlich große Ähnlichkeiten mit neuzeitlichen Formulierungen haben. In der Tat gibt es Bezeichnungen in Texten des Hochund Spätmittelalters, die in ihrer Bedeutung und Funktion an die Nationalbegriffe der Gegenwart erinnern, ohne dass es politische oder gesellschaftliche, geschweige denn verfassungsmäßige Kriterien gäbe, die es ermöglichten, von einer Nation zu sprechen. Wie der lateinische Ausdruck »gens« bezeichnet der Begriff »natio(-n)« bereits in der Antike die Abstammung und den Herkunftsort eines Menschen, diese Bedeutungszuschreibung bleibt bis ins Mittelalter verbindlich. Unter diesen Begriffen wurden aber keine konkreten politischen Verbände verstanden, sondern sie drückten eine kulturelle Zusammengehörigkeit von Menschengruppen aus, die sich durch Abstammung, Sprache, Gebräuche und Eigenarten zusam-

1 Auf diese asymmetrische Entwicklung macht Hagen Schulze bereits aufmerksam: Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München: C.H. Beck 1995, S. 28–35.

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menschließen – ohne politische Kontexte.2 Demnach bezeichnet der Begriff »natio« im Mittelalter eher ethnische Verhältnisse als politische. Diesen semantischen Raum anhand einiger mittelalterlicher Texte verständlich zu machen, ist das Anliegen dieses Beitrags. Um den Bedeutungsrahmen von Herkunftsbezeichnungen im Hochmittelalter abzustecken, sollen einige mittelalterliche Texte analysiert werden; diese stammen sowohl aus der poetischen Literatur des 12. und bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts als auch aus der mittelalterlichen Lebenswelt. Die literarischen Texte werden in diesem Zusammenhang gleichfalls als Dokumente mentaler Positionen im Mittelalter gelesen. Die Annahme, dass Dichtungen als lebensweltliche Dokumente herangezogen werden können, gründet sich auf Beobachtungen, nach denen Autoren in ihren Texten Anspielungen machten und Positionen vertraten, die Bezug auf das mittelalterliche Lebensverständnis nahmen. Die Anspielungen oder vermittelten Positionen mussten von den Hörern oder Lesern dieser Texte problemlos aufgelöst werden können. Im anderen Falle hätten die Autoren in ihren Dichtungen Passagen geschaffen, die für die Rezipienten nicht verständlich gewesen wären. In einigen literarischen Texten des Hochmittelalters wurden Situationen beschrieben, in denen Gruppen von Rittern unterschiedlicher Herkunft zusammentrafen. In den Beschreibungen solcher heterogenen Gruppen werden kulturelle und religiöse Differenzen erwähnt, die sich als kulturelle Distanz wahrnehmbar ließen, aber keine Exklusion bewirkten. Das Konstatieren dieser Differenzen macht es möglich, Anhaltspunkte für das Verständnis der Herkunftsbezeichnung »fremder« Ritter abzuleiten, die Aufschluss geben über die Funktion und Bedeutung der jeweiligen Bezeichnungen ihrer Herkunft.

I Ehe über die Begrifflichkeit der geographischen Herkunfts- und Landesbezeichnungen Klarheit gewonnen werden kann, ist es notwendig, eine der wichtigsten rechtlichen Determinanten der mittelalterlichen Lebenswelt des europäischen Adels anzuführen. Diese rechtliche Bestimmung weist auf das gesellschaftliche Verhältnis unterschiedlicher Gruppen hin – das Lehensverhältnis.3

2 Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate: Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. 2. Berlin: Walter de Gruyter 2008, S. 875. 3 Vgl. hierzu: Diestelkamp, Bernhard: Art.: Lehen. In: Bautier, Robert-Henri/Avella-Widhalm, Gloria/Auty, Robert (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. Frankfurt/M.: Deutscher Taschenbuchverlag 2003, Sp. 1807–1810.

Vom »Nationalbegriff« vor dem Nationalbegriff

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Mit dem Ausdruck Lehensverhältnis4 wurde die Abhängigkeit eines Adligen von einem Fürsten oder eines Fürsten von einem König bezeichnet. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Adligen fordert den wechselseitigen Austausch von Schutz gegen Dienst. Der Lehensgeber war für den Gefolgsmann schützender Herr, während der Vasall durch landwirtschaftliche oder militärische Leistungen seinem Herrn diesen Schutz vergalt. Erweitert auf den Klerus und den Bauernstand ergibt sich ein abgestuftes Lehensverhältnis, das noch um 1300 wie folgt beschrieben wurde: Ir pfaffen und ir ritter, tribent von úch nît, ir pru˚fent anders grósser ungnade zit! ir sunt gedenken rechte, wies umb úch lit: der pfaffe, ritter, buman, die drie, die sóltin sin gesellen. der buman sol dem pfaffen und dem ritter ern, so sol der pfaffe den buman und den ritter nêrn vor der hêlle, sol der werde ritter wêrn dem pfaffen und dem buman, die in tu˚n icht wellen. nu dar, ir edelen, werden drie gesellen! stol und swert, wênt ir ein ander helfen wol, so wird dú kristenheit von úch genaden vol. stol und swert, der pflu˚g u˚t alles, das er sol. sint ir mit trú ein ander bi, úch kan nieman gevêllen.5

Der Autor dieses Gedichtes6, der nur aufgrund der Namensbezeichnung »Regenbogen« greifbar wird, ist in der Forschung weder biographisch fassbar noch werkgeschichtlich7 näher zu bestimmen, doch die intensive Rezeption seiner 4 Für Polen gilt zunächst vor dem 11. Jahrhundert die Übernahme fränkischer Rechtsformen (Benefikationen) und spätestens seit dem 11. Jahrhundert ist die Lehensvergabe nach deutschen Rechtsformen nachweisbar. Siehe hierzu: Russocki, Stanisław: Art.: Lehen in Polen und Ungarn. In: Bautier, Robert-Henri/Avella-Widhalm, Gloria/Auty, Robert (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. Frankfurt/M.: Deutscher Taschenbuchverlag 2003, Sp. 1821f. 5 Kniepe, Eva/Kiepe, Hansjürgen (Hg.): Gedichte 1300–1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972, S. 39. »Ihr Pfaffen und ihr Ritter, treibt den Neid unter euch aus,/ ihr erlebt sonst Zeiten großen Unglücks!/ Ihr sollt euch recht vor Augen führen, wie es mit euch steht:/ Der Pfaffe, Ritter, Bauer, diese drei, sollten Kumpane sein./ Der Bauer soll für den Pfaffen und den Ritter pflügen,/ entsprechend soll der Pfaffe den Bauern und den Ritter bewahren [ernähren]/ vor der Hölle bewahren, soll der edle Ritter Gefahren abwehren/ für den Pfaffen und den Bauern, die ihnen nicht Gutes antun wollen./ Auf nun, ihr drei edlen, werten Gefährten!/ Stola und Schwert, wollte ihr einander recht beistehen,/ so erwächst der Christenheit durch euch nur Segen./ Stola und Schwert, der Pflug tut alles, was seine Pflicht ist./ Steht ihr mit Treue einander bei, kann niemand euch zu Fall bringen.« 6 Zur Gedichtform, die als »Briefweise« bezeichnet wird: Brunner, Horst: Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. Wiesbaden: Reichert 2013, S. 139f. 7 Die Problematik wird in der folgenden umfangreichen Studie greifbar: Baldzuhn, Michael: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusam-

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Texte macht deutlich, dass der Autor als »Regenbogen« bekannt war, geachtet8 und tradiert wurde. Das Hervorstechende des zitierten Gedichtes ist die lyrische Umschreibung des Lehensverhältnisses zwischen den drei Ständen, Adel/Ritter sowie Klerus und Bauern. Die Gefahr, die in diesem Gedicht angedeutet wurde, betrifft die Städter, die in der Aufzählung des Lehenssystems nicht genannt waren und die beim Austausch von Leistungen und Gütern, wie es das Lehenssystem vorsah, nicht einbezogen waren.9 »Regenbogen« artikulierte die Befürchtung eines Auseinanderbrechens der bestehenden, abgestimmten Verhältnisse der drei sozialen Gruppen. In diesem Kontext würde es zu weit führen, diesen Aspekt ausführlich zu beschreiben. Jedoch werden durch dieses Gedicht von »Regenbogen« die angesprochenen Abhängigkeiten durch ein zusammenhängendes System aus der Sicht des Hoch- und Spätmittelalters noch einmal bestätigt. In den Rechtsvorstellungen des Mittelalters wird außerdem noch ein wichtiger rechtlicher Unterschied gegenüber der Neuzeit sichtbar. Entgegen dem modernen Rechtsverständnis handelte es sich beim Lehensrecht um ein körperbezogenes Recht, das sich jeweils auf den Besitz von Land und dessen Nutzung bezog.10 Ein Lehensverhältnis wurde zwischen zwei realen Persönlichkeiten abgeschlossen und galt – falls das Lehensverhältnis nicht aufkündigt wurde – auf Lebenszeit. Starb z. B. der Lehensherr, so war sein Nachfolger zunächst nicht an die von ihm getroffenen Absprachen gebunden. Er hatte die Möglichkeit, die eingegangenen Lehensverhältnisse seines Vorgängers zu bestätigen, aber der Vasall konnte nicht automatisch vom Weiterführen des Lehensverhältnisses ausgehen, da der verstorbene Rechtspartner in seiner Körperlichkeit nicht mehr existierte. Der neue Lehensherr hatte das Recht, jedes Lehen anderweitig zu vergeben. Bereits in frühhochmittelalterlicher Zeit konnte der Vasall bei einer feierlichen Einführung des Lehensherrn in sein Recht durch einen Huldigungsakt um das vorhergehende Rechtsverhältnis werben. Der Huldigungsakt war menhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 470–472. 8 Schanze, Frieder: Art.: Regenbogen. In: Verfasserlexikon. Bd. 9, Sp. 1077–1087. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1995. 9 Zur Position der städtischen Bewohner und Händler siehe u. a.: Rossiaud, Jacques: Der Städter sowie Gurjewitsch, Aron J.: Der Kaufmann, sowie Klapisch-Zuber, Christiane: Die Frau und die Familie. Alle enthalten in: Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Essen: Magnus 2004, S. 156–197, S. 268–339. 10 Für den Aspekt der Körperlichkeit des mittelalterlichen Rechtsverständnisses sei auf das Verfahren der körperhaften Einweisung eines Bürgers auf ein neues Grundstück in der mittelalterlichen Stadt durch den Ritter und die Schöppen hingewiesen. Siehe: Langner, Martin: Performative Elemente in den städtischen Gewohnheitsrechten. In: Brinker-von der Heyde, Claudia/Ehrhardt, Holger/Ewers, Hans-Heino/Inder, Annekatrin (Hg.): Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 2. Frankfurt/M.: Peter Lang 2015, S. 1181–1189.

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demnach ein Unterwerfungsritual, das die Voraussetzung schuf, alte Rechtsverhältnisse zu erneuern.11 Der neue Lehensherr wurde durch die körperliche Anwesenheit des Vasallen und seine Huldigung auf dessen Bitte aufmerksam gemacht, dass dieser um die Fortführung des Lehensverhältnisses bat. Damit konnte der neue Lehensherr gleichfalls dieses körperliche Recht eingehen12 und bestätigen und damit den Vasallen in Dienst nehmen, d. h. ihn an sich (körperlich) binden – aber der Lehnsherr musste nicht in das Dienstverhältnis, das in früher Zeit bestanden hatte, eintreten. In dieser knappen Skizze wird ein wichtiger Unterschied vom Rechtsverständnis des Mittelalters gegenüber der Neuzeit und Moderne erkennbar. Für die Neuzeit ist ein eingegangenes Rechtsverhältnis interpersonell, es ist eine »abstrakte« Vereinbarung, die auch über die körperliche Abwesenheit oder den Tod eines Rechtspartners hinaus Geltung besitzt und behält.

II Diese Andeutungen sollen anhand einiger Beispiele aus literarischen Texten verdeutlicht werden. Auf der Grundlage dieses Verständnisses von Grundbesitz und dessen Verfügungs- resp. Eigentumsrecht werden in einigen literarischen Texten geographische Aufzählungen genannt, die sich auf die handelnden Protagonisten beziehen. Dabei wird die mit diesen Vorstellungen verbundene mittelalterliche Spezifik deutlich. Mit Blick auf die literarischen Texte lässt sich feststellen, dass die Macht eines Herrschers über den Umfang seines Besitzes und den Rang seiner Lehensleute definiert wurde.13 Die Macht eines Fürsten wurde in literarischen Texten für den Rezipienten u. a. durch geographische Angaben oder auch durch die Anerkennung und den Stand der untergeordneten Fürsten signalisiert. Aufzählungen von Gebieten, die zu einem Lehensbesitz gehörten, werden im Folgenden als geographische Kataloge14 bezeichnet, auf den Begriff wird noch näher einzugehen sein. 11 Kölzer, Theo: Art.: Huldigung. In: Bautier, Robert-Henri/Avella-Widhalm, Gloria/Auty, Robert (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. Frankfurt/M.: Deutscher Taschenbuchverlag 2003, Sp. 184. 12 Dazu musste der Vasall einen Treueeid schwören. 13 Langer, Martin-M.: Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder. Die Region Polen und ihre Ritter in Dichtungen des Hochmittelalters. Berlin: Weidler 2018, S. 44. 14 Geographische Kataloge wurde, wie Edzard Visser belegt, bereits in der griechischen oral poetry, z. B. der Illias, genutzt und wurde darüber in die mittelalterliche Literatur übernommen. Siehe: Visser, Edzard: Formale Typologien im Schiffskatalog der Illias. Befunde und Konsequenzen. In: Tristram, Hildegard L.C. (Hg.): Neue Wege der Epenforschung. Tübingen: Günter Narr 1998, S. 25–44, hier S. 39–42. Zur mittelalterlichen Literatur siehe auch: Spicker,

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Im Folgenden lassen sich durch die Untersuchung literarischer Quellen mentale Positionen im mittelalterlichen Verständnis nachweisen, was ermöglicht, für das Hoch- und Spätmittelalter zwei Abschnitte in Bezug auf die Verwendung von Herkunftsbezeichnungen auszudifferenzieren. Damit sollen Veränderungen der Semantik dieser Herkunftsbezeichnungen nachgezeichnet werden, womit Aspekte für die Entwicklung und das Aufkommen eines Verständnisses von Nationenbegriffen greifbar werden. Der erste Abschnitt, den es zu betrachten gilt, wird von Texten gebildet, die zwischen 1150 und etwa 1250 entstanden sind. Einer der frühsten literarischen Befunde liegt im Rolandslied vom Pfaffen Konrad (entstanden im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts) vor. Kurz vor seinem Tod als Märtyrer im Kampf gegen die »Heiden« zählt die literarische Figur Roland in einer verzweifelten und erbitterten Rede alle europäischen Regionen auf, die er mit seinem Schwert für seinen Onkel, Karl den Großen, und damit für das Christentum erobert hatte. Alemannia[m] ich ervacht Ungeren nam ich ir chraft Pritania nemacht mir nicht wider stan Behaim unt Polan Franchen di chuonen ne liez ich nie geruowen […]15

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In diesem kurzen Auszug (die ganze Aufzählung ist umfangreicher) werden sechs verschiedene »Ländernamen« genutzt, die den Eindruck erwecken, als würde bereits mit der Vorstellung von »Ländern« oder sogar »Nationen« operiert. Diese Aufzählung ist ein geeignetes Beispiel für einen geographischen Katalog, da sie den Umfang des Herrschaftsbereiches Karls des Großen erahnbar macht. Falls bei diesem geographischen Katalog die Vorstellung mehrerer »Länder« gelten soll, muss jedes »Land« dieses Herrschaftsbereiches als eine europäische Region angesehen werden, was jedoch nicht gleichzusetzen ist mit der Kategorie der Nation. Vielmehr bezeichnet ein Königreich oder ein »Land« in dieser Zeit den Grundbesitz eines Königs oder Fürsten, der, wie oben beschrie-

Johannes: Geographische Kataloge bei Boppe. Eine Anregung. In: »Zeitschrift für deutsche Philologie« Beiheft 119 (2000), S. 208–221 (= Neue Wege zur mittelalterlichen Sangspruchdichtung). 15 Kartschoke, Dieter: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Frankfurt/M./Hamburg: Fischer Taschenbuch 1970, S. 298. »[6845] Die Alemannen habe ich unterjocht,/ den Ungarn nahm ich die Macht,/ Britannien konnte mir nicht widerstehen,/ ebenso die Böhmen und Polen./ Die kühnen Franken/ [6850] ließ ich nicht zur Ruhe kommen, […]«.

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ben, über dieses Gebiet verfügt.16 Es wird hier mit Vorsatz der undifferenzierte Begriff »Land« genutzt, weil damit lediglich eine geographische Ausdehnung bezeichnet wird, nicht aber ein eindeutig umgrenzter Nationalstaat wie in der Gegenwart, noch viel weniger sind mit diesem Ausdruck die mit einer Nation verbundenen Eigenschaften, Charaktere, historischen und sozialen oder kulturellen Leitbilder verbunden, die mit der Vorstellung einer Nation einhergehen. Denn der Landbesitz war in hochmittelalterlicher Zeit an die Vorstellungen körperlichen Rechts gebunden. Der König – zum Teil als Sakralkönig verstanden – verfügte über das Land während seiner Lebenszeit, Erbreglungen und damit die Weitergabe des Grundbesitzes erwiesen sich jedoch als schwierig. Diese Erbreglungen konnten nach dem Tod des Königs oder Fürsten, sozusagen bei ihrer körperlichen Abwesenheit, von Dritten völlig außer Acht gelassen werden, sofern derjenige, der sich das Recht anmaßte, gegen die Verfügung des Toten zu handeln, stark genug sein musste, seine Entscheidungen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Vielfältige Thronstreitigkeiten im europäischen Adel fußen auf diesem Problem. Der Begriff eines »Landes« stand demnach für einen geographischen Raum, über den ein König oder Fürst verfügte, aber er war an die leibhaftige Existenz des jeweiligen Fürsten gebunden. Damit war die Vorstellung eines Landes ein Ordnungsbegriff und konnte als Herkunftsbezeichnung genutzt werden. Jedoch war mit dieser Vorstellung kein nationales, also interpersonelles Institut verbunden. Diese Ländernamen konnten im geographischen Katalog aufgezählt werden. Unter einem geographischen Katalog wird ein narratives Verfahren verstanden, das Aufzählungen von Regionen oder Ländern bildet. Aufzählungen sind eine spezifische Form der Wiederholung.17 Sie stellen in epischen, aber auch lyrischen Texten stilistische Verfahren dar, mit denen gleiche oder ähnlich gestaltete Textbausteine, hier die Aneinanderreihung geographischer Bezeichnungen, aufgelistet werden. Wird eine solche Aufzählung aus der Perspektive der Rhetorik betrachtet, so erinnert sie an additive Verfahren, wie eine Accumulatio. Die aneinander gereihten Elemente einer Aufzählung (und einer Accumulatio)

16 In der frühen mittelalterlichen Geschichtsschreibung wird die Region, über die Mieszko herrschte, stets als »Land des Mieszko« bezeichnet. Vgl. Rhode, Gotthold: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt: Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft 1980, S. 8f. 17 Siehe u. a. folgende Darstellungen und monographische Sammelbände: Brinkmann, Henning: Wiederholung als Gestaltung in Sprache und als Wiederverwendung von Sprache. In: »Wirkendes Wort« 33 (1983), S. 71–93; André, Robert/Dempmann, Christoph (Hg.): Paradoxien der Wiederholung. Heidelberg: Winter 2003 (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, 17); Pütz, Peter: Wiederholung als ästhetisches Prinzip. Bielefeld: Aisthesis 2004 (= Aisthesis Essay, 17).

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können syndetisch oder asyndetisch verknüpft sein.18 Die narrative Funktion dieser Aufzählungen besteht in literarischen Texten darin, Macht- oder Herrschaftsbereiche für den Leser zu vermitteln.19 Je umfangreicher diese Listen geographischer Bezeichnungen im literarischen Text waren, desto mächtiger schien der damit markierte Herrscher zu sein. Das zweite Beispiel stammt aus der Verserzählung König Rother. Dieser Text ist etwa um oder bald nach 1150 entstanden und beschreibt die Abenteuer eines Königs bei seiner Brautwerbung. Nach vielen Abenteuern kann König Rother seine Frau heiraten und stattet nach der Hochzeit seine Freunde und Mitstreiter, die ihn unterstützt haben, mit umfangreichen Lehen aus. Rother saz in trechten und gaf alliz daz er mochte. do heiz er ime gewinnin den herren von Tengelingin unde gaf ime Osterriche; er gaf ime warliche Behein unde Polen, daz he sich deste baz mochte began. done gewas bi dem mer weder sit noch er nechen so stadehafter man: iz was im allez underdan.20

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An diesem Beispiel wird zugleich die Ambivalenz des Begriffs eines »Landes« gegenüber dem Reichsgedanken sinnfällig. Auch wenn der ausgezeichnete Ritter Tengelin mit einem riesigen Lehensgebiet belohnt wird, ist er stets noch dem König, in diesem Falle also Rother, untertan. Die Regionen, die ihm übertragen wurden, stehen ihm zu Lebzeiten zur Nutzung (aber sie konnten seiner Familie nach seinem Tod entzogen werden) zur Verfügung, dennoch blieb Tengelin Vasall seines Lehensherrn Rother, der mittelalterliche Rezipient konnte dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden realisieren. Die Gebiete, die Tengelin zugesprochen wurden, »Österreich«, »Böhmen« und »Polen«, bezeichnen dem18 Dabei können Aufzählungen zusätzlich durch klangliche und metrische Entsprechungen rhythmisch gestaltet sein, wie es zuweilen in Volksliedern, Abzählreimen oder als Stilelemente in kurzen Erzählungen auftreten. 19 Langner, Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder, S. 43f. 20 Zit. nach: Stein, Peter (Hg.): König Rother. Stuttgart: Reclam 2000, S. 364. »Rother erwog alles sorgfältig in seinen Gedanken/ [4865] und vergab alle Lehen, über die er Verfügungsgewalt hatte./ Da befahl er ihm […]/ den Herrn von Tengelingen herbeizuholen,/ und übertrug ihm Österreich;/ er übertrug ihm auch wahrlich/ [4870] Böhmen und Polen,/ damit er umso standesgemäßer leben konnte./ Da war dem überall ans Meer grenzenden Reich/ weder seither noch zuvor/ ein so mächtiger Herrscher erwachsen:/ [4875] Alles unterstand seiner Verfügungsgewalt.«

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nach keine Staaten noch Nationen im heutigen Sinne, sondern treten in dieser geographischen Aufzählung als Regionen auf, über die der Vasall verfügen soll. Würde man diese Regionen mit den sich daraus entwickelnden Nationalstaaten gleichsetzen, so würde sofort deutlich, welche dieser Regionen von dem König Rother unabhängig sein müssten. Sie würden sich seinem Machtanspruch entziehen. Mehr noch, es würde zu einer rechtlichen Gleichstellung des Gefolgsmanns gegenüber König Rother kommen, was zu einem Konkurrenzverhältnis zwischen beiden führen würde, das niemand im Mittelalter provozieren wollte. Tengelin wurde mit Regionen belohnt, die benannt werden konnten, aber es bestand weiterhin für ihn eine Abhängigkeit zum Lehensherrn, König Rother. Die Gebiete blieben demnach im Grundeigentum des Königs, das Verfügungsrecht wurde dem Vasallen übertragen. Das dritte Beispiel, das hier angeführt werden soll, ist eine Textpassage aus der 22. Aventiure des Nibelungenliedes. Die Witwe Siegfrieds, Kriemhild, hat sich nach zehn Jahren der Trauer über die Ermordung ihres Mannes, der Forderung ihrer Familie unterworfen und heiratet den mächtigen König der Hunnen, Etzel. Diese Heirat gibt ihr die Möglichkeit der Rache an ihrer Familie. Am Beginn der 22. Aventiure befindet sich Kriemhild bereits auf dem Weg von Worms in das Land der Hunnen. Sie macht Station in der Stadt Zeislmauer (Salzkammergut) und erwartet dort Etzel und seine Gefolgsleute. Kunstvoll beschreibt der Erzähler das Herannahen des Zuges der Ritter auf die Stadt zu. In mehreren Wiederholungen nimmt der Erzähler diesen Zug der Ritter ins Auge und jedes Mal beschreibt er diesen Zug detaillierter. Der Leser wird aus heutiger Sicht an filmische Sequenzen erinnert, in denen Bewegungen inszeniert werden. In der dritten Wiederholung dieses Erzählabschnittes21, in dem der herannahende Zug von Rittern beschrieben wird, nennt der Erzähler die Herkunftsregionen der verschiedenen Gruppen von Rittern, die Etzel begleiten (Strophe 1366–1367). Dabei werden neben Griechen, Walachen auch polnische Ritter genannt und Kämpfer aus der Rus. Von rvzzen vñ von Chriechen reit da vil manic man Polanen vñ Vlachen den sah man ebene gan ir pferit vñ ros div gvten da si mit chreftin riten swaz si site habeten der wart vil wenich iht vermiten22

1366

21 Eine genaue Analyse dieser Textstelle findet sich in: Langner, Paul Martin: Eingeschriebene Performanz: Narratologische Strukturen zur Darstellung von Bewegung in mittelalterlichen Texten. In: Bednarowska, Aleksandra/Filar, Magdalena/Kołodziejczyk-Mróz, Beata/Majcher, Piotr (Hg.): Anwendungsorientierte Darstellungen zur Germanistik. Modelle und Strukturen. Berlin: Weidler 2013, S. 223–241 (= Perspektivenwechsel, 3). 22 Grosse, Siegfried (Hg.): Das Nibelungelied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart: Reclam 2007. »[1366,1–4] Viele Russen und Griechen sah man dort reiten/ Polen und Wa-

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1367

Nun scheinen die Ritter für den Betrachter so viel näher herangekommen zu sein, dass der Erzähler von Details berichten kann, wie ausgezeichnet diese Reiter auf ihren herrlichen Pferden sitzen und wie geschickt sie vom Sattel aus mit ihren Bögen nach Vögeln schießen konnten oder wie schön die Ritter sangen. In den weiteren Strophen 1370 und 1371 schwindet die Entfernung zu den Rittern und lässt den Beobachter (Erzähler) einzelne herausragende Ritter namentlich nennen. Dabei fällt auch der Name, Hornboge, der u. a. über den mittelalterlichen Text Rabenschlacht als polnischer Fürst identifiziert werden kann.24 Der herzoge Ramunch vzer Vlâchen lant mit Sibenhundert mannen chom er fvr si gerant sam die wilden vogele so sah man si varn dô kom der fürste gibeche mit vil hêrlîchen scharen.25

1370

Hornboge der snelle wol mit tvsint man kerte von me kunige gein siner frowen dan vil lvte wart geschallet nach des landes siten von der Hiunen mâgen wart ouch dâ sêre geriten.26

1371

Zugleich deutet der Erzähler den Reichtum dieses polnischen Fürsten Hornboge an, der mit über tausend Kämpfern27 den Brautzug des mächtigen Königs Etzel begleitet, was zugleich wiederum auf die Macht Etzels zurückweist. Wenn in dieser Aufzählung einzelne Fürsten mit einer großen Zahl von Rittern auftraten, um wieviel größer musste sich der mittelalterliche Rezipient dann die Zahl der

23

24 25 26 27

lachen sah man geschwind und kraftvoll/ auf ihren vorzüglichen Pferden vorbeiziehen./ Jeder zeichnete sich durch seine Bräuche aus und zeigte sie.« »[1367,1–4] Aus dem Gebiet von Kiew ritten dort viele Kämpfer/ auch die unbezähmbaren Petschenegen waren darunter,/ es wurde immer wieder mit den Bögen auf die Vögel geschossen, die dort vorbeiflogen,/ ihre Pfeile schossen sie oft von den stark gespannten Bögen ab.« Eine ähnliche Aufzählung von Kämpfern unterschiedlicher Region Europas findet sich auch in der vor 1150 entstandenen sog. Kaiserchronik. Hier ist es Dietrich, der für Kaiser Zeno eine Aushebung in den Ländern macht, die ihm unterstanden. Zu dem Bild polnischer Ritter in der deutschen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters siehe: Langner, Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder, S. 87f. »[1370,1–4] Der Herzog Ramung aus dem Land der Walachen/ kam mit siebenhundert Mann vor sie [Kriemhild] gezogen,/ gleich fliegenden Vögeln sah man sie reiten./ Da kam der Fürst Gibech mit starken Mannschaften.« »[1371] Hornboge, der Tapfere, zog mit tausent Mann/ vom König zu seiner Herrin/ nach dem Brauch des Landes zog man mit lautem Gesang./ Die Verwandten der Hunnen zeigten ihre verwegenen Reitkünste.« In der später entstandenen Rabenschlacht bietet er Dietrich gleich 5000 Kämpfer für den Angriff auf Ermenrich an.

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Ritter denken, die Etzel insgesamt unterstanden haben, womit seine Macht angedeutet wurde? Am Ende dieser längeren Beschreibung werden die beiden wichtigsten Figuren, Etzel und Dietrich, »sichtbar«, d. h. sprachlich ins Bild gerückt. Damit schafft diese Beschreibung über mehrere Strophen eine Veränderung der inneren Wahrnehmung des Lesers. Für ihn werden die heranziehenden Ritter durch den beschriebenen Erzählvorgang langsam und sukzessive »erkennbar« und identifizierbar, sie rücken »näher«. Zugleich wird die Bewegung des Zuges von Rittern, die der Erzähler hier andeuten will, für den Leser auch sinnlich greifbar. Aber nicht die Besonderheit der Erzählweise sticht hier ins Auge, sondern die Tatsache, dass der Erzähler geographische Bezeichnungen benutzt, um unterschiedliche Gruppen von Rittern zu kennzeichnen. Völlig verständlich ist, dass die geographischen Bezeichnungen keine »Nationen« benennen, sondern wiederum auf die jeweilige Herkunft der Ritter hinweisen. Damit wird auch der Gemeinschaftscharakter unter der Gefolgschaft Etzels betont, obwohl unter den Leuten Etzels verschiedene Sprachen gesprochen wurden, kulturelle Differenzen bestanden und zu ihnen sowohl Christen wie Heiden (Strophe 1365) gehörten. Weder die sprachlich-kulturelle Differenz, noch der Unterschied der Religionen spielten eine Rolle, da alle diese Ritter sich unter der Lehenshoheit des großen Hunnenkönigs befanden und auf diesem Wege gleichberechtigt waren. Umgekehrt kann sogar gesagt werden, gerade die Tatsache, dass sich unter König Etzel, der ebenfalls kein Christ war, heidnische und christliche Gefolgsleute befanden, betonte die unermessliche Macht dieses legendären Königs. Die religiöse Differenz wird nicht markiert, solange sich die Gefolgsleute als Vasallen unter einem König befanden. Weder sprachliche, kulturelle noch religiöse Merkmale wurden zur Exklusion herangezogen, sie spielten keine Rolle, weil sich alle im Rahmen des Lehensverhältnisses bewegten und sich zu einem Fürsten oder König einheitlich verhielten. Damit wird deutlich, dass geographische Bezeichnungen in mittelalterlicher Zeit ähnlich wie in der Antike die Differenzierung der Herkunft betonen, die sich unter den Gefolgsleuten eines mächtigen Königs auftut. Der zweite Zeitabschnitt lässt sich etwa begrenzen von ca. 1250 bis gegen 1400. In dieser Zeit verliert das Rechtsinstrument des Lehens an Bedeutung. Stattdessen wurden geographische Angaben, die in literarischen Texten noch immer als Kataloge aufgeführt wurden, eher in Nähe und Ferne differenziert und schufen eine Vorstellung von Ordnungen. Dieser Anspruch, das Wissen geordnet im Text vorzustellen, führte zu einer Versachlichung der geographischen Angaben. Als Beispiele können lyrische wie epische Texte des beginnenden Spätmittelalters genannt werden: ein gleichfalls kaum biographisch fassbarer Sänger, Tannhäuser (nachweisbar zwischen etwa 1230 bis nach 1266), schuf im 1. Lied, Strophe 14, eine Aufzählung, die den oben zitierten Strophen aus dem Nibe-

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lungenlied sehr ähnlich ist: »Mit im [gemeint ist wahrscheinlich Friedrich II. – P.M.L.] sô varnt juden, cristen, kriechen, valwen, heiden viel// Ungar, Pôlân, Riussen, Bêheim, swer eht schône leben wil –«28. In dieser asyndetischen Aufzählung hat die Religionszugehörigkeit abermals keine Bedeutung unter den Rittern. Mit dieser Aufzählung signalisiert der Autor einerseits sein Wissen, andererseits wird die Macht des Königs, der gewählt werden soll, unterstrichen. Es wird die europäische Gefolgschaft eines Herrschers aufgezählt, wodurch dessen Macht und Freigiebigkeit angedeutet werden. Tannhäuser nutzt diese Form der Aufzählung zumeist in der oben beschriebenen Weise. In etwa um diese Zeit entstand die Verserzählung Biterolf und Dietleib (entstanden um die Mitte des 13. Jahrhunderts). Mehrfach lässt sich in diesem Text, aber auch in der sog. Klage (wahrscheinlich 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) die Wendung der »fürsten ûzer pôlân«29 nachweisen. Mit einer sprachlichen und etymologischen Analyse dieses Ausdrucks wird versucht, das Bedeutungsumfeld des Wortes »pôlân« zu ermitteln. Diese grammatikalische Form der kontrahierten Präposition »ûzer« [= »ûz der«] verweist auf ein nachfolgendes, feminines Substantiv, auf das sich der im Dativ stehende Artikel bezieht, der von der Präposition gefordert wird. Durch das Faktum, dass diese Form mehrfach in den Texten auftritt, scheint es ausgeschlossen zu sein, dass es sich um einen möglichen Fehler handeln könnte. Nach diesem Befund ist darüber nachzudenken, was mit dem folgenden Begriff »pôlân« im deutschen Text bezeichnet bzw. gemeint wurde. Stattdessen ist zu fragen, ob sich in dem Text ein Verständnis einer Herkunftsbezeichnung bricht, die Anleihen aus dem Mittelniederdeutschen aufnimmt. Hilfreich könnte es sein, die im Mittelniederdeutschen gebräuchliche Form »pôl« oder »pûl«, m. für die topographischen Vorstellung einer »Vertiefung«, oder »Senke, die mit Wasser (Sümpfen) durchzogen« ist, genauer zu betrachten.30 Der Hinweis auf die landschaftliche Beschaffenheit, die darin enthalten ist, deutet auf eine Landschaft mit spezifischen Eigenschaften hin. Der Ausdruck »pôl« bezeichnet ein niedrig gelegenes Land mit feuchtem Untergrund, das von Flüssen und Sümpfen durchzogen war. Eine solche Landschaft könnte z. B. für Zentralpolen in mittelalterlicher Zeit charakteristisch gewesen 28 Cammarota, Maria Grazia (Hg.): Tannhäuser. Die Gedichte der Manessischen Handschrift. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Einleitung, Edition, Textkommentar. Übers. von J. Kühnel. Göppingen: Kümmerle 2009, S. 91. 29 Lachmann, Karl (Hg.): Der Nibelungen Noth und die Klage. Nach der ältesten Überlieferung. Berlin: G. Reimer 111892, S. 247, V. 173. Siehe auch: Schnyder, André (Hg.): Biterolf und Dietleib. Bern/Stuttgart: Haupt 1980. 30 Lübben, August (Hg): Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 2005, S. 281.

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sein. Von dem topographischen Begriff wäre dann der Ausdruck »pôlân« abzuleiten, der durch das Suffix »-ân« auf Menschen schließen lässt, die in dieser Region leben. Das Suffix »-an«/»-ane«31 würde eben einen Hinweis auf die Bewohner dieses Gebietes geben. Eine Bestätigung dieses Sprachgebrauchs findet sich in einer Wendung in einem Gedicht von Tannhäuser. Im 6. Lied, Strophe 20, beschwört Tannhäuser die Freigiebigkeit eines polnischen Fürsten, in dem er schreibt: »ȗs Bôlônlande ein fu˚rste wert …«32. Das Kompositum »Bôlônlande«, das sich aus der Vorstellung eines »Landes der Pôlânen« zusammensetzt, zeigt die verknüpfte Bedeutungszuweisung der geographischen Angabe und der Bezeichnung von Bewohnern einer Region, wie sie zuvor entwickelt wurde. Die einleitende Präposition »ȗs«, die wiederum mit dem Dativ einhergeht, unterstreicht die räumliche Vorstellung einer Herkunft zusätzlich. Damit bestätigt sich, dass in dem sprachlichen Ausdruck »Bôlônlande« die Vorstellung einer Region mit den dort lebenden Einwohnern zu einer Einheit verschmolzen ist, denn der Ausdruck wird in den Zitaten im Singular genutzt und bezieht sich nicht auf eine größere Gruppe von Einwohnern, sondern offensichtlich auf eine Region.

III Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein Fazit, das diesen Begriff zwar als geographische Herkunftsbezeichnung erscheinen lässt, der jedoch mit der Vorstellung verbunden war, sich zugleich auf die in dieser Region lebenden Bewohner zu beziehen. Damit ist mit diesem Begriff weder ein nur ethnischer Ausdruck noch ein nur rein geographischer Ausdruck entstanden, sondern das Wort [»pôlân« – f.] weist gegenüber den früheren Jahrhunderten auf eine Erweiterung des semantischen Feldes hin. Diese Beobachtungen lassen sich an lebensweltlichen Dokumenten, u. a. in den Schöppenbüchern, also den Protokollschriften der Schöppen von Kraków zu Beginn des 14. Jahrhunderts bestätigen. Hier findet sich eine Vielzahl von Namens-Zusätzen, die mit gerade dieser Doppelfunktion des Ausdrucks »pôlân« umgehen. Jedoch beziehen sich die in den Schöppenbüchern verwendeten sprachlichen Ausdrücke wieder auf die Herkunft der jeweils Benannten, aber im Sinne einer Region. Der Unterschied in den aufgeführten Beispielen, auf den aufmerksam zu machen ist, besteht darin,

31 In anderen Texten ist dieses Suffix auch belegt als »-en«; »-ene«; »-ôn«; »-ône«. 32 Cammarota (Hg.), Tannhäuser, S. 118, Strophe 20.

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dass die Herkunftsbezeichnung »pôlân« in den Dokumenten des beginnenden 14. Jahrhunderts wiederum maskulin ist. Elf Mal wird in dem Corpus33 der Namenszusatz »Polen/Pole« als grammatikalisch maskuline Herkunftsbezeichnung verwendet, z. B. »Cregor der Polen/ Pole« [194]. Von diesen Belegstellen erscheint der Begriff sechsmal im Dativ, z. B. »Pavle deme Polene/Polen« [229]. Abweichende Schreibung des Herkunftsbegriffes finden sich weiterhin in: »Boguslawe deme Poloen« [93] oder »Mathiesse dem polane« [111]. Als Namensform findet sich folgender Eintrag in den Schöppenbüchern einmal: »Woyslav Polen« [148]. Dieser Befund aus der Zeit zwischen 1300 und 1310 lässt erkennen, dass sich die Herkunftsbezeichnung in der Bezeichnung und Differenzierung der Einwohner eingebürgert hatte. Aus diesen Beobachtungen lässt sich der Schluss ableiten, dass im Hochmittelalter der geographische Begriff mit der Vorstellung der in dieser Region lebenden Menschen verbunden war. Auffällig ist der grammatikalische Wechsel zum Ende des 14. Jahrhunderts, der von einer Bezeichnung einer Region inklusive ihrer Einwohner im Verständnis eines femininen Substantivs ausgehend, zu einer Bezeichnung wurde, die wiederum als geographische Bezeichnung genutzt wird, nun aber als maskulines Substantiv auftritt. Deutlich wird, dass die im Hochmittelalter gebräuchliche geographische Herkunftsbezeichnung die Vorstellung einer Region mit den dort wohnenden Menschen verknüpft. Jedoch scheint es für die Zeit des 12. bis zum 15. Jahrhundert nicht angemessen, diese Bezeichnungen schon mit der Vorstellung einer Nation zusammen zu denken. Die mit dem Nationalbegriff verbundene Vorstellung einer einheitlichen Abstammung und Sprache, der Gebräuche und Eigenarten von Menschen, der zugleich auch noch eine politische Funktion übernimmt, stellt eine spätere Entwicklung dar. Jedoch dürften die Bedeutungskomponenten dieser Herkunftsbezeichnungen später im Nationalbegriff eingeflossen sein.

Literatur André, Robert/Dempmann, Christoph (Hg.): Paradoxien der Wiederholung. Heidelberg: Winter 2003 (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, 17). Baldzuhn, Michael: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift. Tübingen: Niemeyer 2002. 33 Noch unveröffentlichte Protokolle der Schöppen Krakóws für die Zeit zwischen 1300 und 1310.

Vom »Nationalbegriff« vor dem Nationalbegriff

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Brinkmann, Henning: Wiederholung als Gestaltung in Sprache und als Wiederverwendung von Sprache. In: »Wirkendes Wort« 33 (1983), S. 71–93. Brunner, Horst: Formgeschichte der Sangspruchdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. Wiesbaden: Reichert 2013. Cammarota. Maria Grazia (Hg.): Tannhäuser. Die Gedichte der Manessischen Handschrift. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Einleitung, Edition, Textkommentar. Übers. von J. Kühnel. Göppingen: Kümmerle 2009. Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössle, Beate (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Berlin: Walter de Gruyter 2008. Grosse, Siegfried: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart: Reclam 2007. Kartschoke, Dieter (Hg.): Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Frankfurt/M./Hamburg: Fischer Taschenbuch 1970. Kniepe, Eva/Kiepe, Hansjürgen (Hg.): Gedichte 1300–1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972. Lachmann, Karl (Hg.): Der Nibelungen Noth und die Klage. Nach der ältesten Überlieferung. Berlin: G. Reimer 111892. Langner, Martin-M.: Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder. Die Region Polen und ihre Ritter in Dichtungen des Hochmittelalters. Berlin: Weidler 2018. Langner, Martin: Performative Elemente in den städtischen Gewohnheitsrechten. In: Brinker-von der Heyde, Claudia/Ehrhardt, Holger/Ewers, Hans-Heino/Inder, Annekatrin (Hg.): Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 2. Frankfurt/M.: Peter Lang 2015, S. 1181–1189. Langner, Paul Martin: Eingeschriebene Performanz: Narratologische Strukturen zur Darstellung von Bewegung in mittelalterlichen Texten. In: Bednarowska,Aleksandra/Filar, Magdalena/Kołodziejczyk-Mróz, Beata/Majcher, Piotr (Hg.): Anwendungsorientierte Darstellungen zur Germanistik. Modelle und Strukturen. Berlin: Weidler 2013, S. 223– 241 (= Perspektivenwechsel, 3). Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Essen: Magnus 2004. Lübben, August (Hg): Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 2005. Pütz, Peter: Wiederholung als ästhetisches Prinzip. Bielefeld: Aisthesis 2004 (= Aisthesis Essay, 17). Rhode, Gotthold: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 1980. Schnyder André (Hg.): Biterolf und Dietleib. Bern/Stuttgart: Haupt 1980. Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München: C.H. Beck 1995. Spicker, Johannes: Geographische Kataloge bei Boppe. Eine Anregung. In: »Zeitschrift für deutsche Philologie« Beiheft 119 (2000), S. 208–221 (= Neue Wege zur mittelalterlichen Sangspruchdichtung). Stein, Peter (Hg.): König Rother. Stuttgart: Reclam 2000. Visser, Edzard: Formale Typologien im Schiffskatalog der Illias. Befunde und Konsequenzen. In: Tristram, Hildegard L.C. (Hg.): Neue Wege der Epenforschung. Tübingen: Günter Narr 1998, S. 25–44.

Jarochna Da˛browska-Burkhardt (Zielona Góra)

Das nationalistische Polenbild in der Pressekarikatur der Zwischenkriegszeit. Polarisierung im Satireblatt »Kladderadatsch« (1918–1939)

Identität versus Alterität Kollektivverstärkende, heldenhaft-pathetische Nationalbilder sind nie zwecklos. Oft besitzen sie auch einen kompensatorischen Wert. Besonders oft werden sie als billige Antwort auf jegliche Krisen, Not, Misere und Defizite bemüht. Die nationale Komponente vermittelt dann das Geborgenheits- und Vertrautheitsgefühl, man spricht von »Aufgehobensein im Nationalen«, wobei das Fremde »zur Zielscheibe der eigenen Unzufriedenheit« wird.1 Das Kreieren einer nationalen Identität findet üblicherweise bei der Auseinandersetzung mit dem Fremden, das seit eh und je verlockend ist, statt. Das »Bild« einer Nation von einer anderen, aber auch einer Nation von sich selbst, entsteht aus unterschiedlichen Traditionen, historischen Erfahrungen sowie Wunschvorstellungen.2 Die politische Identitätsbildung gestaltet sich mittels einer Abgrenzungsrelation als Abgrenzung von Anderen und unter Betonung ihrer Fremdartigkeit. Andrei S. Markovits hebt es hervor: »Schließlich kann es eine Identität ohne eine Gegenidentität einfach nicht geben«3. In diesem Sinne spricht man von der Schaffung der Identität durch Alterität. Die Abgrenzungsstrategie verursacht, dass einerseits die Solidarität innerhalb der Wir-Gruppe gefordert wird, andererseits aber, gleichzeitig mit der Festlegung eines gemeinsamen Gegners, auch die Differenzen eine wachsende Rolle spielen.4

1 Zimniak, Paweł: Eigenes und Fremdes als »Reibungsflächen« des sozialen Raumes. In: Feliszewski, Zbigniew/Blindy, Monika (Hg.): Fremdheit – Andersheit – Vielheit: Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur. Frankfurt/M.: Peter Lang 2019, S. 15–28. 2 Da˛browska, Jarochna: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Eine textlinguistische Untersuchung. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999, S. 16. 3 Markovits, Andrei S.: Deutschland – ein Land wie jedes andere? In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Krauts – Fritz – Piefkes…? Deutschland von außen. Bonn: Bouvier Verlag 1999, S. 148–155, hier S. 153. 4 Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: Zur Instrumentalisierung von Musik in national geführten Diskursen. In: »Moderna språk« Vol. 112, Nr. 2 (2018), S. 93–107, hier S. 96.

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In der medialen, öffentlichen Meinungsbildung der Zwischenkriegszeit räumt man dem nationalen, identitätsstiftenden Gedankengut in mehreren europäischen Sprachgemeinschaften einen wichtigen Platz ein. Besonders betroffen sind dabei jene Bereiche der Realität, die sich der unmittelbaren Erfahrung von Individuen entziehen, d. h. dort, wo die Medien oft die einzige Informationsquelle darstellen, die das direkte Erleben der Ereignisse ersetzt und im Wesentlichen das entstehende Weltbild prägt. Das auf dieser Grundlage entstehende oder entstandene Zugehörigkeitsgefühl einer Sprachgemeinschaft geht dann oft auf Kosten von einer anderen »fremden«, die als nicht ebenbürtig eingestuft wird. In der Zwischenkriegszeit kommt vor allem der Presse als ältestem Massenmedium im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung neben dem bereits existierenden Rundfunk eine besondere Bedeutung zu. Sie prägt wesentlich Einstellungen, Ansichten und Wahrnehmungen von gesellschaftlichen Zuständen.

Gegenstand und Ziel des Beitrags Ziel dieses Beitrags ist die Untersuchung konkreter Karikaturen, d. h. SpracheBild-Darstellungen, die thematisch mit Polen zusammenhängen und in der Zwischenkriegszeit in einer deutschen Satirezeitschrift, dem Berliner »Kladderadatsch«, veröffentlicht wurden. Die untersuchten Zeichnungen bilden eine interessante historische Quelle, die mit Verallgemeinerungen, Vereinfachungen sowie Verzerrungen arbeitet, denen nationale Stereotype zugrunde liegen. Aus diesem Grunde erscheinen Karikaturen geradezu dafür geschaffen zu sein, nationale Stereotype sichtbar zu machen. Das Korpus verspricht mehrere national und nationalistisch motivierte Abund Ausgrenzungsversuche des »Anderen« und »Fremden«, die hier mit Fokus auf »Polen« dokumentiert werden. Die analysierten politischen Pressekarikaturen zeichnen sich durch ein hohes Persuasionspotenzial aus. Die Untersuchung soll aufzeigen, mit welchen Mitteln dieses Potenzial konstituiert wird. Von besonderem Interesse ist dabei die Gegenüberstellung von Selbst- und Fremdbild, die mittels der Polarisierung von Konzepten stattfindet und im Zentrum dieser Analyse steht. Die durchgeführte Untersuchung erlaubt ebenfalls Schlussfolgerungen bezüglich der kommunikativ-psychologischen Probleme der beiden Sprachgemeinschaften in der Zwischenkriegszeit, die das deutsche Satireblatt abbildet, zu ziehen.

Das nationalistische Polenbild in der Pressekarikatur der Zwischenkriegszeit

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Zum Untersuchungskorpus und zum historischen Kontext Die Zusammenstellung der Korpora resultiert aus dem Bestreben, relevante Belege für nationalistische Tendenzen in politischen Karikaturen zu finden. Die Analyse von Zeichnungen aus dem »Kladderadatsch« der Zwischenkriegszeit zeigt deutlich auf, dass nationale Tendenzen dieser Epoche ihre Widerspiegelung in den publizierten Bildern gefunden haben. Der untersuchte Zeitraum umfasst die Zeitspanne von 1918 bis 1939. Da ein charakteristisches Merkmal der politischen Pressekarikatur ihre Aktualität ist, kommt ihre Untersuchung ohne historische Vorkenntnisse nicht aus. Das Hintergrundwissen ist bei der Analyse historischer Karikaturen von immenser Bedeutung, weil zur logischen Erschließung von Mitgemeintem und Implizitem die Heranziehung des geschichtlichen Kontextwissens unabdingbar ist. Das Jahr 1918 markiert das Ende des Ersten Weltkriegs, in dessen Folge der polnische Staat nach 123 Jahren der Unterdrückung während der drei Teilungen Polens wieder seinen Platz auf der politischen Landkarte Europas findet. Die Entstehung des unabhängigen Polens zieht aber gleichzeitig Gebietsverluste Deutschlands nach sich. Die Einbußen östlicher Provinzen des Deutschen Reiches erwecken eine feindliche Einstellung der deutschen satirischen Presse, die über den ganzen Zeitraum der Weimarer Republik anhält.5 Nach der Machtergreifung 1933 wird dieses feindliche Polenbild im Dritten Reich immer noch aufrechterhalten, aber, wie Tomasz Szarota bemerkt, die Gestalt des polnischen Feindes verschwindet aus der deutschen satirischen Presse nach der Unterzeichnung der deutsch-polnischen Deklaration zur Nichtanwendung von Gewalt im Januar 1934. Den Grund hierfür lieferten – nach Szarota – Instruktionen aus dem Propagandaministerium von Goebbels, die vorschrieben, das Thema »Polen« zu übergehen.6 Im Frühjahr 1939 kehrt aber die deutsche Presse zum PolenFeindbild zurück. Das Land wird jetzt als Bündnispartner von England und Frankreich gezeichnet, wobei alle drei – so der Tenor der Texte – eindeutig auf einen Krieg zusteuern würden.7

5 Szarota, Tomasz: Der Pole in der deutschen Karikatur (1919–1939). Ein Beitrag zum Polenbild. In: Szarota, Tomasz (Hg.): Stereotype und Konflikte. Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Osnabrück: fibre Verlag 2010, S. 129–181, hier S. 143. 6 Vgl. ebd., S. 143. 7 Vgl. ebd., S. 144.

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»Der Kladderadatsch« Die erste Nummer der politischen Satirezeitschrift »Der Kladderadatsch«, die sich an den französischen Vorbildern der Pariser Revolutionsschriften orientiert, erscheint am 7. Mai 1848 in Berlin und steht im Kontext der 48er-Revolution. Der Ausdruck »Kladderadatsch« ist eine lautmalerische Interjektion, die verwendet wird, wenn etwas mit klirrendem Krach hinfällt. Demnach kann Kladderadatsch als ›großer Krach‹ oder ›immenses Durcheinander‹ verstanden werden. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm verzeichnet diese Lesart des Ausrufs ›um einen fall, besonders mit krachendem, klirrendem zerbrechen verbunden, zu bezeichnen‹, womit auch der Name des bekannten »Berliner Witzblattes« begründet wird.8 In Meyers Lexikon aus dem Jahre 1927 wird das politische Profil der Satirezeitschrift explizit als »rechtsoppositionell« bezeichnet.9 Von einer konstanten politischen Ausrichtung des Blattes, dessen Lebensgeschichte 1944 endet, kann aber keine Rede sein. Sie zeigt einen Abstieg »von biedermeierlichem Witz bis auf ›Stürmer‹-Niveau« auf und kann als Beispiel für die »Wende von halblinks nach ganz rechts, von der Kritik an den Herrschenden zur Gleichschaltung« mit dem Regime gelten.10 Am Anfang ihrer Existenz setzt sich die Zeitschrift für die bürgerliche Revolution, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie gegen Zensur und Unterdrückung ein. Sie ist antimilitaristisch ausgerichtet. Der ursprüngliche nationalliberale Ton schlägt aber unter Wilhelm II. in Chauvinismus um. Das Blatt beginnt gegen Fremde zu hetzen und für den Krieg zu werben. Deutschlands Feinde werden nun namentlich genannt. Zu denen gehören sowohl die Franzosen als auch die Engländer, Russen, Polen, Juden ebenso wie die Sozialdemokraten oder Kommunisten. Am Ende ihrer Existenz feiert die Zeitschrift Hitler nebst seiner NS-Diktatur und verherrlicht Krieg und Terror.11

8 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch in 33 Bänden. Bearb. von E. Wülcker, R. Meiszner, M. Leopold, C. Wesle und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs zu Berlin. Leipzig: Verlag S. Hirzel, 1854–1971 [München: dtv 1999, Sp. 892 (= Bd. 11; Nachdruck der Erstausgabe)]. 9 Meyers Lexikon. Siebente Auflage in vollständig neuer Bearbeitung. Mit etwa 5000 Textabbildungen und über 1000 Tafeln, Karten und Textbeilagen. Bd. 6. Leipzig: Bibliographisches Institut 1927, S. 1370. 10 Wandlung eines Witzblattes. In: »Der Spiegel« Nr. 8 (1983), S. 198f, hier S. 199. 11 Heinrich-Jost, Ingrid: Kladderadatsch. Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich. Köln: C. W. Leske, 1982, S. 39–45.

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Zum Phänomen der Karikatur Das interdisziplinäre Phänomen der »Pressekarikatur« bildet kulturwissenschaftlich, soziologisch, historisch, politologisch, literaturwissenschaftlich und nicht zuletzt linguistisch gesehen einen spannenden Untersuchungsgegenstand. Diese komplexe Beitragssorte der Presse gilt als bildliche Form der Satire und zeichnet sich durch semiotische Komplexität aus. Meist handelt es sich um Sprache-Bild-Darstellungen, die aufgrund ihrer pointierten und überspitzten Präsentation über ein hohes Persuasionspotential verfügen, wobei sie anschaulich und meist parteiisch unterschiedliche Sachverhalte auf den Punkt bringen.12 Mit Hilfe von Karikaturen lassen sich Situationen, Ereignisse und Menschen verzerrt ins Witzige, Groteske und Satirische ziehen, wodurch der Rezipient zum Lachen verleitet werden soll. Karikaturen werden unterschiedlich eingesetzt, sodass sie in der Lage sind, mehrere Funktionen auszuüben. Sie können erheitern, verspotten, verhöhnen, sich lustig machen, aber auch warnen oder – bezüglich der dargestellten Wirklichkeit – sensibilisieren. Sie werden ebenfalls als wirkungsvolle Waffe in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt. Oft mutieren sie sogar zum zuverlässigen Werkzeug der Regimepropaganda bzw. der regierenden Partei, um politische Gegner zu diskreditieren. Verspottet werden können hier sowohl die Charaktereigenschaften des Gegners als auch dessen gesellschaftliche Stellung oder Ideale. Andererseits kann aber eine Karikatur auch Menschen integrieren, weil sie die Gemeinschaft von Personen herstellt, die einen ähnlichen Sinn für Humor besitzen und die dargestellten Situationen bzw. Sachverhalte moralisch ähnlich wahrnehmen.13 In diesem Zusammenhang äußert sich der polnische Soziologe Kazimierz Z˙ygulski über die gesellschaftliche Rolle der Komik in einer bestimmten Kultur. Er betont, dass um die Rolle der Komik zu verstehen, man sich der Tatsache bewusst sein müsse, dass das Lachen als Handlung begriffen in der Lage sei, eine Gemeinschaft bzw. einzelne Gemeinschaften zu stiften. Diese Gemeinschaft ist für Z˙ygulski von besonderer Art, weil sie die Personen mit einem besonderen gesellschaftlichen Band verbindet. Z˙ygulski spricht in diesem Zusammenhang von kultureller Gemeinschaft ähnlich derjenigen, die die Sprache hervorbringt.14

12 Lüger, Heinz-Helmut: Die Pressekarikatur als persuasive Bildsorte. In: Giessen, Hans/Lenk, Hartmut/Tienken Susanne/Tiitula, Liisa (Hg.): Medienkulturen – Multimodalität und Intermedialität [im Druck]. 13 Sikorski, Tomasz: Karykatura polityczna jako z´ródło do badan´ nad historia˛ Drugiej Rzeczypospolitej. Postulaty badawcze. In: »Historia i Polityka« Nr. 1 (2009), S. 63–81, hier S. 65. 14 Z˙ygulski, Kazimierz: Wspólnota ´smiechu. Studium socjologiczne komizmu. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1976, S. 15.

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Der Untersuchungsfokus liegt im vorliegenden Beitrag auf der politischen Karikatur. Der Schwerpunkt einer solchen visuellen Darstellung besteht in der grotesken Auffassung einer Anschauung bzw. in einer beabsichtigten Verzerrung der dargestellten Personen oder Sachverhalte, die aber auf einer breiten Verständigungsbasis gründen. Die politische Karikatur kann als eine visualisierte politische Satire verstanden werden. Nach Jerzy Szwejcer, der seine Karikaturen unter dem Pseudonym Jotes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts publizierte, übt diese visualisierte Satire ausschließlich eine Hilfsfunktion aus, indem sie auf die Vorstellungskraft der Rezipienten wirkt und sich dazu wunderbar eignet, ihnen eine bestimmte Idee parteiisch näher zu bringen.15 Diese journalistische Aussageform gestaltet die öffentliche Meinung und bringt sie häufig zum Ausdruck.16 Zum Gegenstand der politischen Karikaturen werden üblicherweise aktuelle bzw. zeitnahe politische Themen oder Ereignisse. Um Karikaturen entsprechend entschlüsseln zu können, müssen ihre Rezipienten über das entsprechende Hintergrundwissen verfügen, d. h. zumindest die ›Eckdaten‹ der Ereignisse kennen.17

Semiotische Komplexität der Pressekarikatur Heinz-Helmut Lüger postuliert, Pressekarikaturen unter dem Gesichtspunkt semiotischer Komplexität zu untersuchen.18 Er konstatiert, dass in den meisten Karikaturen zum einen neben den gezeichneten Komponenten auch verbale Elemente enthalten sind und zum anderen in der Presse sehr oft bei den satirischen Zeichnungen noch ein Kommentartext zum gleichen Thema zu finden ist. In diesem Zusammenhang unterscheidet Lüger folgende Formen der verbalen Zusätze: a) Bildüberschriften, b) Bildunterschriften bzw. Legenden, c) Beschriftungen von Bildgegenständen, Aufschriften, Inserts, die als Text auf Gegenständen, Bildflächen, Plakaten etc. auftreten, d) Sprech- und Gedankenblasen, die in der Figurenkommunikation, aber auch in Selbstgesprächen vorkommen.19 Die angeführten Textanteile sorgen für ein besseres Verständnis und disambiguieren die bildlichen Darstellungen. Sie ergänzen somit die visuelle 15 Jotes (Szwajcer, Jerzy): Okiem karykaturzysty. Warszawa: Bibljoteka Groszowa 1926, S. 2f. 16 Szarota, Der Pole in der deutschen Karikatur, S. 131. 17 Knieper, Thomas: Die politische Karikatur. Eine journalistische Darstellungsform und deren Produzenten. Köln: Herbert von Halem Verlag 2002, S. 98. 18 Lüger, Heinz-Helmut: Karikatur und Kommentar. In: Bilut-Homplewicz, Zofia/Hanus, Anna/Lüger, Heinz-Helmut/Mac, Agnieszka (Hg.): Medienlinguistik und interdisziplinäre Forschung I. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017, S. 109–133, hier 111. 19 Ebd., S. 112. Auch Lüger, Heinz-Helmut: Karikatur und Geschichte. In: Gärtig, Anne-Kathrin/ Bauer, Roland/Heinz, Matthias (Hg.): Pragmatik – Diskurs – Kommunikation. Festschrift für Gudrun Held zum 65. Geburtstag. Wien: Praesens Verlag 2018, S. 295–308, hier S. 297.

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Information und können die Interpretation des Dargestellten in eine bestimmte Richtung lenken. Nicht ohne Bedeutung ist ihr Aktualitätsbezug, der mit alltagsorientierten Vorkenntnissen erschlossen werden kann. Zweifelsohne gehören Karikaturen zu den meinungsbildenden und -betonenden Beiträgen. Thomas Knieper definiert sie als: »visuelle […] Kommentar[e] und damit eine meinungsbetonte journalistische Darstellungsform«.20 Der Vergleich zu journalistischen Kommentaren erscheint aber für Lüger ziemlich problematisch. Skepsis im Kontext einer solchen Textsorten-Parallelität taucht deswegen auf, weil Karikaturen tendenziell über eine »spöttisch-fiktionale Kommunikationsmodalität« verfügen, die üblicherweise in einer symbolhaften bzw. impliziten Argumentationsdarstellung zum Ausdruck kommt. Journalistische Kommentare behandeln hingegen das jeweilige Thema üblicherweise sachlich-ernst.21 In diesem Zusammenhang finden sowohl Hammer als auch Lüger mehr Übereinstimmungen der Pressekarikatur mit der Textsorte der journalistischen »Glosse« als mit der Textsorte »Kommentar«.22 Den Karikaturen lässt sich selbstverständlich »generell eine persuasive Intention nicht absprechen«, weil sie quasi mit einem Lachen für die Übernahme oder auch für die Hinterfragung der dargestellten Meinung plädieren.23 In diesem Zusammenhang stellt Hammer fest: »Der Rezipient des Bild-Text-Kommunikats soll dazu gebracht werden, die unernst dargestellte Problematik zu überdenken, um sich selbst eine Meinung zu bilden«24. Da Karikaturen semiotisch komplexe Kommunikate sind, muss ihre Analyse alle dazugehörigen verbalen und bildlichen Bestandteile berücksichtigen. Diese Sorgfalt ist bei der Analyse besonders wichtig, weil sich die einzelnen Modalitäten gegenseitig beeinflussen, miteinander interagieren und neue semantische Beziehungen konstituieren.25 Eine solche Sinnerschließung stellt eine gewisse Herausforderung dar, weil viele Elemente auf Implizites, Angedeutetes, Unausgesprochenes hinweisen.

20 Knieper, Die politische Karikatur, S. 98. 21 Lüger, Die Pressekarikatur als persuasive Bildsorte [im Druck]. 22 Hammer, Françoise: Argumentation und Rekreativität der Pressezeichnung. Eine empirische Analyse der Karikaturen von Plantu in »Le Monde«. In: Grösslinger, Christian/Held, Gudrun/ Stöckl, Hartmut (Hg.): Pressetextorten jenseits der »News«. Medienlinguistische Perspektiven auf journalistische Kreativität. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2012, S. 53–64, hier S. 55 (= Sprache im Kontext, 38); Lüger, Heinz-Helmut: Die Pressekarikatur als persuasive Bildsorte [im Druck]. 23 Lüger, Karikatur und Kommentar, S. 111. 24 Hammer, Argumentation und Rekreativität der Pressezeichnung, S. 53. 25 Lüger, Die Pressekarikatur als persuasive Bildsorte [im Druck].

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Polarisierung in der Stereotypenforschung und in der Pressekarikatur Unter Polarisierung wird in diesem Beitrag ein journalistisches Verfahren der Gegenüberstellung und Antonymisierung von unterschiedlichen themenabhängigen Konzepten verstanden. Sie werden als extreme Pole nach einem vereinfachenden Negativ-Positiv-Schema bewertet und präsentiert.26 Die Betrachtung der Karikaturen aus dem »Kladderadatsch« der Zwischenkriegszeit macht deutlich, dass sie die gegenseitige Relation zwischen dem Autostereotyp der Deutschen und dem Heterostereotyp der Polen in Deutschland thematisieren. Die beiden Stereotype stehen konträr zueinander und bedingen sich wechselseitig. Sie bilden auch einen wichtigen Aspekt nationaler Stereotypisierung. Ein Autostereotyp, d. h. ein ›Urteil, das sich eine Person oder Gruppe von sich selbst macht‹27, steht im engen Verhältnis zum Heterostereotyp, d. h. zur Vorstellung, die ›[die] Mitglieder einer Gruppe oder Gemeinschaft von anderen Gruppen besitzen‹.28 Kurz gesagt: Das Autostereotyp »lebt von« dem Stereotyp über die Anderen, wobei zwei Gegensätze mit diesem Begriffspaar im Zusammenhang stehen. Zum einen ist das die Sympathie zur eigenen Gruppe, zum anderen die Abneigung der fremden Gruppe gegenüber.29 Andreas Winkler unterstreicht, dass jeder Gruppenegoismus zur »festzustellende[n] Aufwertung der eigenen Gruppe bei gleichzeitiger Abwertung fremder Ethnien« tendiere.30 Diese Abwertung hebt die Abgrenzung von Anderen hervor und betont ihre Fremdartigkeit. Zum Maßstab der Eigenschaftszuschreibung werden somit zumindest implizit die Werte der eigenen Gruppe, die als Norm empfunden werden oder sogar zum Ideal avancieren können.31 In diesem Kontext spielt darüber hinaus die Ausgrenzungsstrategie eine wichtige Rolle, die oft mit Schuldzuweisungen der fremden Gruppe gegenüber einhergeht, aber andererseits die Solidarität innerhalb der Wir-Gruppe stärkt. Mit der Festlegung des gemeinsamen Gegners 26 Da˛browska, Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse, S. 114. 27 DUDEN Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim: Dudenverlag 2000, S. 167. 28 Vgl. ebd., S. 551. 29 Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: O je˛zyku niemieckim w Polsce. Stereotypy i wyobraz˙enia na przestrzeni wieków. In: »Lingwistyka Stosowana« Nr. 23, 3 (2017), S. 15–25, hier S. 18. 30 Winkler, Andreas: Ethnische Schimpfwörter und übertragener Gebrauch von Ethnika. In: »Muttersprache« Nr. 4/104 (1994), S. 320–337, hier S. 323. 31 Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: »Der hässliche Deutsche« und »der faule Grieche«. Nationale Stereotype im Sommer 2015 – eine diskursanalytische Untersuchung der deutschen Berichterstattung in der Zeit der Griechenlandkrise. In: Giessen, Hans/Lenk, Hartmut/Tienken Susanne/Tiitula, Liisa (Hg.): Medienkulturen – Multimodalität und Intermedialität [im Druck].

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werden nämlich die Differenzen bekräftigt. Günther Blaicher postuliert deswegen, dass dort, wo immer es machbar sei, »Eigenbild und Fremdbild […] in ihrer Aufeinanderbezogenheit« beschrieben werden sollten, um das »Fremdbild in seiner Funktionalität« hinreichend zu verstehen.32 Das journalistische Verfahren der Polarisierung von Konzepten lässt sich sowohl den Texten als auch den Bildern im »Kladderadatsch« der Zwischenkriegszeit entnehmen. Die einzelnen chronologisch angeordneten Belege zeigen, dass in der Satirezeitschrift »Kladderadatsch« die explizite Fokussierung der Kontraste zwischen den beiden Sprachgemeinschaften persuasiv eingesetzt wird. Lüger betont, dass Visuelles viel schneller und unmittelbarer als Verbales wahrgenommen wird und einen geringeren Verarbeitungsaufwand erfordert. Darüber hinaus ermöglichen die Bilder eine gewisse interpretative Offenheit, einen Deutungsspielraum, der erst mit verbalen Zusätzen wie z. B. Bildunterschriften präziser eingeordnet wird.33 Der erste Beleg stammt aus dem Jahre 1919 und betrifft zwei, auf der ganzen Seite großflächig abgedruckte Bilder. Konfrontiert werden zwei Zeichnungen von Bahr mit der Überschrift »Politur«.34 Dank der klein gehaltenen Bildunterschriften erfährt man, dass die obere Zeichnung die »deutsche Wirtschaft« zeigt. Das untere Bild präsentiert hingegen: »ihre Umwandlung in eine polnische Wirtschaft«. Die visuelle Umsetzung des Konzepts ›Wirtschaft‹ wird durch ihre Reduzierung auf die Gastwirtschaft vollzogen. Man kann aber davon ausgehen, dass Rezipienten von selbst zweifelsohne Analogien zu anderen Lebensbereichen von Deutschen und Polen herstellen können. Das idyllische erste Bild der »deutschen Wirtschaft« vermittelt eine friedvolle, ordentliche und harmonische Stimmung an einer Kaffeetafel, wo sich mehrere Generationen im bukolischen Ambiente zusammengefunden haben. Sauberkeit, Ruhe, aber auch das nötige Organisationstalent, diese behagliche und gemütliche Stimmung zu kreieren, ist demnach ein typisches Merkmal der »deutschen Wirtschaft«. Kontrastiert wird diese lauschige Atmosphäre mit dem beängstigenden Bild einer dreckigen polnischen Spelunke, in der es nichts zum Essen, sondern viel zum Trinken gibt, wo Unordnung, Dreck sowie Mord und Totschlag herrschen, Menschen sich prügeln, heulende und erschrockene Kinder barfuß stehen, sich am Rock der Mutter haltend. Die Verzweifelte versucht dabei, ihren betrunkenen Mann nach Hause zu zerren. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Unordnung, Chaos, Schlamperei, aber auch Armut, Trunk- und Streitsucht, 32 Blaicher, Günther: Das Deutschlandbild in der englischen Literatur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 7. 33 Lüger, Karikatur und Kommentar, S. 117. 34 »Der Kladderadatsch« Nr. 30 vom 27. Juli 1919.

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Abb. 1: »Der Kladderadatsch« Nr. 30/1919 vom 27. Juli 1919. Quelle: https://digi.ub.uni-heidel berg.de/diglit/kla1919/0401/image.

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Zügellosigkeit, Glücksspiel und Brutalität symbolisieren die »polnische Wirtschaft«. Die explizit formulierte nationale Zuschreibung »polnische Wirtschaft« beruft sich eindeutig auf das Hintergrundwissen der Rezipienten, das bei der Sinnkonstitution des Stereotyps als enorm wichtig erscheint. Die idiomatische Redewendung »polnische Wirtschaft« ist im deutschen Sprachgebrauch nicht nur in der Zwischenkriegszeit sehr verbreitet und bedeutet, wie mehrere Lexika belegen, ›Schlamperei‹, ›Durcheinander‹, ›Unordnung‹.35 Hubert Orłowski beweist die große Verbreitung dieser idiomatischen Redewendung mit einer ganzen Reihe von großen ein- und zweisprachigen Wörterbüchern, wie z. B. mit dem deutsch-französischen oder dem deutsch-italienischen.36 Es handelt sich somit um eine nationale, pejorative, idiomatische Verwendung einer Wortgruppe, die nicht mit der üblicherweise wertungsneutralen »Wirtschaft Polens« zu verwechseln ist. Die idiomatische, abwertende Formel erfüllt nach Orłowski eine Doppelfunktion: »die eines abschreckenden Heteroklischees sowie die eines bestätigenden Autoklischees«37. Wie bereits oben ausgeführt, spiegelt sich im Heterostereotyp um so klarer das positive Bild von sich selbst wider.38 Die nationalistische Gegenüberstellung der beiden Konzepte »der deutschen Ordnung« und der »polnischen Wirtschaft«, die im »Kladderadatsch« expressis verbis zum Ausdruck kommen, beweisen die persuasive Rolle der konträren Zuordnungen unmissverständlich. Die »Kladderadatsch«-Leser werden mehrmals mit Gegenüberstellungen konfrontiert, die bereits das bloße Äußere der Vertreter der deutschen und polnischen Sprachgemeinschaft fokussieren. Einen Beleg hierfür liefert die Karikatur aus dem Jahre 1925 mit der Überschrift »Zollkrieg mit Polen«.39 Ohne auf die Einzelheiten des Konfliktes einzugehen, lohnt sich allein der Blick auf das Äußere der beiden Gestalten, die sich an der Staatsschranke, mit Gütern beladen, treffen. Die Nationalfigur, der deutsche Michel, erscheint an der Schranke mit einem riesigen, tadellosen Sack voller »Handels-Produkte«. Michels Äußeres ist frei von Schmutz und ordentlich. Sein großer Sack ist solide und suggeriert Wirtschaftsstärke. Im Kontrast dazu erscheint der Pole auf der anderen Zollschrankenseite mit wenig Handels-Produkten, deren Verpackung, ein 35 DUDEN – Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Bd. 11. Mannheim: Dudenverlag 1992, S. 553. 36 Orłowski, Hubert: »Polnische Wirtschaft« – Karriere eines Stereotyps. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9. bis 11. Dezember 1992. Warszawa: Akapit 1994, S. 92–107, hier S. 106. 37 Vgl. ebd., S. 104. 38 Vgl. ebd. 39 »Der Kladderadatsch« Nr. 28 vom 12. Juli 1925.

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Abb. 2: »Der Kladderadatsch« Nr. 28/1925 vom 12. Juli 1925. Quelle: https://digi.ub.uni-heidel berg.de/diglit/kla1925/0445/image.

zerrissener und mehrmals geflickter Sack, die Armut anschaulich vor Augen führt. Auch sein Äußeres verspricht nichts Gutes, er wirkt ausfallend, rüde, schmutzig und ungehobelt. Sein Erscheinungsbild jagt Angst und gleichzeitig Ekel ein, weil die kleine Person verlumpt wirkt. Die Bildunterschrift lautet dabei: »Michel: Nun sollst du gleich mal sehen, wer den Kürzeren zieht!« und muss als explizite Drohung in Richtung Polen verstanden werden. Ebenfalls mit Äußerlichkeiten wird von dem Karikaturisten ein Jahr später bei der visuellen Polarisierung von Deutschen und Polen gearbeitet. 1926 veröffentlicht die Zeitschrift eine Zeichnung mit der Überschrift »Willkommen!«40 Auf dem Bild sind zwei Türen zu sehen, die von zwei Personen geöffnet werden. Der Raum symbolisiert allem Anschein nach den »Völkerbund«, worauf die große Aufschrift auf der Bildfläche hinweist. Durch die erste Tür mit der Bezeichnung »Haupteingang« tritt distinguiert, Pfeife rauchend und wohlgekleidet, der deutsche Michel. Der andere Eingang, die »Hintertür«, ist für den wutschäumenden Polen vorgesehen, der schmutzig, barfuß, in zerrissener Hose und mit einem Knüppel in der Hand, dazu noch schreiend den Raum betritt. Der 40 »Der Kladderadatsch« Nr. 40 vom 3. Oktober 1926.

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Abb. 3: »Der Kladderadatsch« Nr. 40/1926 vom 3. Oktober 1926. Quelle: https://digi.ub.uni-heidel berg.de/diglit/kla1926/0635/image.

Deutsche verkörpert hier Eleganz und Kultiviertheit und wird von der nationalen Personifizierung des Briten, John Bull, vornehm begrüßt: »Bitte, Mister German, treten Sie ein! Sie sind der Einzige, den wir durch diese Tür hereinlassen.« Der Pole ist in seiner Erscheinung geradezu primitiv, rüde, frech und unkultiviert. Er stellt das Gegenbild des Deutschen dar. Die Tatsache, dass man es an dieser Stelle mit einem prototypischen Polen zu tun hat, zeigt die charakteristische Kopfbedeckung des Dargestellten, die in der Zeitschrift zum fast unerlässlichen Attribut der Polen wird. Dabei handelt es sich um die sog. traditionelle »Eckenmütze« der Polen, die »rogatywka« heißt und an der man den ›typischen‹ Polen leicht zu erkennen glaubt. Mit der Mütze werden nicht nur Menschen, sondern vor allem Tiere, wenn sie Polen verkörpern sollen, ausgestattet. Zu nennen sind in diesem

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Zusammenhang zahlreiche bildhafte Verbindungen mit Läusen41, Ratten42 oder Schweinen43 etc. Eine weitere Karikatur, die mit Polarisierungen arbeitet, wird in der Satirezeitschrift mit der Überschrift »Der böse Nachbar« veröffentlicht.44 Auf dem ganzseitigen Bild sieht man den seelenruhig Zeitung lesenden und Pfeife rauchenden deutschen Michel, der wie versteinert auf einer Bank sitzt und Hiebe von einem brutalen, wutschnaufenden und erbarmungslosen Polen hinnehmen muss. Die Bildunterschrift, die aus dem Munde Michels stammen soll, signalisiert seine Friedfertigkeit und lautet: »Und mit solchem Menschen soll man in freundschaftliche Beziehungen kommen!« Betrachtet man die Bildüberschrift, wird klar, dass der Karikaturist mit den Antonymen ›gut‹ und ›böse‹ arbeitet. Dem Rezipienten wird explizit gezeigt, wer von den beiden Sympathie verdient und wem gegenüber man eine ablehnende Haltung einnehmen soll.

Fazit Die präsentierte Auswahl an Bildern, die den polnischen Staat und die polnische Sprachgemeinschaft thematisieren, zeigt auf, dass in der Pressekarikatur der Satirezeitschrift »Kladderadatsch« Polarisierung im Kontext des Nationalen als gängiges Mittel zur Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in der Pressekarikatur verwendet wird. Dem ersten wird dann das zweite gegenüberstellt im Sinne von Reinhart Koselleck, der sagt: »Eine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich abgrenzt und damit andere ausgrenzt, und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt«45. Das Phänomen besteht darin, dass die Eigengruppe, d. h. die Wir-Gruppe, sich zuerst definieren bzw. ein Verständnis von sich selbst entwickeln muss. Die entstehenden Selbst- und Fremdbilder, die sich hier in Form von Karikaturen zeigen, besitzen einen moralischen Beiklang. Diese »antithetisch gehandhabten Begriffe« verdeutlichen, dass sie so angelegt sind, um eine gegenseitige Anerkennung auszuschließen. Die untersuchten Karikaturen sind ein deutliches Indiz dafür, dass die Satirezeitschrift Visualisierung als Kampfmittel der psychologischen Kriegsführung einsetzt, indem sie die tragfähige und nicht hinterfragbare nationale Identität nationalistisch instrumentalisiert, notfalls sogar erfindet und 41 42 43 44 45

»Der Kladderadatsch« Nr. 7 vom 16. Februar 1919. »Der Kladderadatsch« Nr. 7 vom 13. Februar 1927. »Der Kladderadatsch« Nr. 48 vom 30. November 1930. »Der Kladderadatsch« Nr. 48 vom 27. November 1927. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 212.

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Abb. 4: »Der Kladderadatsch« Nr. 48/1927 vom 27. November 1927. Quelle: https://digi.ub.uni-hei delberg.de/diglit/kla1927/0746/image.

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allen voran funktional verwendet. Die Wirkung auf die Rezipienten ist nahezu sicher.

Literatur »Der Kladderadatsch« Nr. 7 vom 16. Februar 1919. »Der Kladderadatsch« Nr. 30 vom 27. Juli 1919. »Der Kladderadatsch« Nr. 28 vom 12. Juli 1925. »Der Kladderadatsch« Nr. 40 vom 3. Oktober 1926. »Der Kladderadatsch« Nr. 7 vom 13. Februar 1927. »Der Kladderadatsch« Nr. 48 vom 27. November 1927. »Der Kladderadatsch« Nr. 48 vom 30. November 1930. Blaicher, Günther: Das Deutschlandbild in der englischen Literatur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992. Da˛browska, Jarochna: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Eine textlinguistische Untersuchung. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999. Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: »Der hässliche Deutsche« und »der faule Grieche«. Nationale Stereotype im Sommer 2015 – Eine diskursanalytische Untersuchung der deutschen Berichterstattung in der Zeit der Griechenlandkrise. In: Giessen, Hans/Lenk, Hartmut/Tienken Susanne/Tiitula, Liisa (Hg.): Medienkulturen – Multimodalität und Intermedialität [im Druck]. Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: O je˛zyku niemieckim w Polsce. Stereotypy i wyobraz˙enia na przestrzeni wieków. In: »Lingwistyka Stosowana« Nr. 23, 3 (2017), S. 15–25. Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: Zur Instrumentalisierung von Musik in national geführten Diskursen. In: »Moderna språk« Vol. 112, Nr. 2 (2018), S. 93–107. DUDEN – Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Bd. 11. Mannheim: Dudenverlag 1992. DUDEN Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim: Dudenverlag 2000. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch in 33 Bänden. Bearb. von E. Wülcker, R. Meiszner, M. Leopold, C. Wesle und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs zu Berlin. Leipzig: Verlag S. Hirzel 1854–1971 [München: dtv 1999, Sp. 892 (= Bd. 11; Nachdruck der Erstausgabe)]. Hammer, Françoise: Argumentation und Rekreativität der Pressezeichnung. Eine empirische Analyse der Karikaturen von Plantu in »Le Monde«. In: Grösslinger, Christian/ Held, Gudrun/Stöckl, Hartmut (Hg.): Pressetextorten jenseits der »News«. Medienlinguistische Perspektiven auf journalistische Kreativität. Frankfurt/M.: Peter Lang 2012 (= Sprache im Kontext, 38). Heinrich-Jost, Ingrid: Kladderadatsch. Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich. Köln: C. W. Leske 1982. Jotes (Szwajcer, Jerzy): Okiem karykaturzysty. Warszawa: Bibljoteka Groszowa 1926. Knieper, Thomas: Die politische Karikatur. Eine journalistische Darstellungsform und deren Produzenten. Köln: Herbert von Halem Verlag 2002.

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Andrey Kotin (Zielona Góra)

Von Fichte zu Rosenberg, von Tieck zu Hesse. Metamorphosen der Nationidee

Laut Duden ist unter dem Nationalismus-Begriff zweierlei zu verstehen: a) (meist abwertend) übersteigertes Nationalbewußtsein: ein engstirniger N.; b) (selten) erwachendes Selbstbewußtsein einer Nation mit dem Bestreben, einen Staat zu bilden.1 Dementsprechend sollte das Gegenteil des Nationalismus, nämlich der Individualismus, entweder ein übersteigertes Ich-Bewusstsein heißen oder aber ein erwachendes Ich-Bewusstsein eines Menschen mit dem Bestreben, seine eigene Persönlichkeit bzw. sein eigenes Leben zu kreieren. In der Tat korrespondiert die letztere Variante mit der Duden-Definition des Individualismus, besonders in ihrem zweiten Punkt, denn es geht dabei um die persönliche Entfaltung eines Menschen, der sich eben als Individuum betrachtet und nicht etwa als Teil einer größeren, ihm übergeordneten Wir-Struktur2: 1. (Philosophie) Anschauung, die dem Individuum, seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt; 2. (bildungssprachlich) individualistische, besonders auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ausgerichtete Haltung, die dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum lässt.3 Damit entsteht ein höchst interessanter Widerspruch, dessen Ansätze in der Philosophie von Johann Gottlieb Fichte wurzeln. Das Hauptwerk des frühromantischen Philosophen unter dem vielsagenden Titel Die Bestimmung des Menschen gibt einige exemplarische Beispiele dafür, wie sich die Idee des Ich, das sich frei erkennt und bestimmt, beinahe unbemerkbar ins totalitäre Wir-Konzept 1 Drosdowski, Günther: Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1989, S. 1063. 2 Diese Überlegungen basieren teilweise auf meinem Artikel Auf der Suche nach dem verlorenen Ich – Das Nationale als Entartung des Individuellen, der in der Zeitschrift »Thalloris« 3 (2018), S. 65–78. 3 Drosdowski, Duden, S. 759.

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verwandelt.4 Für Fichte waren die Begriffe Mensch und Ich, ähnlich wie im Buddhismus, miteinander unzertrennlich verbunden.5 Bereits das erste Kapitel des erwähnten Buches fängt mit der Kernfrage: »Was bin ich selbst, und was ist meine Bestimmung?« an.6 Fichte gibt darauf eine zwar in ihrer Argumentation etwas verwickelte, aber dennoch durchaus konsistente Antwort. Bekanntlich war er ein großer Verehrer und in gewissen Aspekten Nachfolger von Kants Philosophie. Von seinem Lehrer unterscheidet er sich jedoch in einem bedeutsamen Punkt, und zwar gerade im Verständnis des Ich-Begriffs. Dieser Begriff wird von Kant nicht etwa substanziell und griffbereit, sondern eher operativ, d. h. als Produkt des Denkvorgangs, konzipiert. Fichte betrachtet das Ich dagegen als eine gewisse Einheitlichkeit des Selbstbewusstseins. Unter Selbstbewusstsein sollte wiederum diejenige Denkoperation verstanden werden, welche den Ich-Begriff erst entstehen lässt.7 Um es mit Rüdiger Safranski auf den Punkt zu bringen: Kant sei, lehrt Fichte, von dem ›Ich denke‹ als von etwas Gegebenem ausgegangen; das dürfte man aber nicht, sondern man müsse einmal beobachten, was in uns vorgeht, wenn wir das ›Ich denke‹ denken. Das Ich ist etwas, das wir im Denken erst hervorbringen, und gleichzeitig ist die hervorbringende Kraft die unvordenkliche Ichheit in uns selbst.8

Das titelgebende Problem der Bestimmung des Menschen ist somit zugleich das Problem der persönlichen Bestimmung eines konkreten Individuums und kann streng genommen nur im individuellen Kontext ausführlich gelöst werden. Diese Haltung sollte jedoch weder mit solipsistischer Überzeugung, die Welt sei nur eine bunte Mischung menschlicher Empfindungen, noch mit christlichem Personalismus verwechselt werden. Der Mitbegründer des deutschen romantischen Idealismus postuliert zwar eine unzertrennliche Zusammengehörigkeit des abstrakten und des konkreten ›Ich‹. Daraus folgt aber nicht ( jedenfalls nicht für Fichte), dass der Mensch ontologisch selbstgenügend ist, denn: »Ich selbst mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnotwendigkeit. […] Ich bin nicht durch mich selbst entstanden. […] Ich bin durch eine andere Kraft außer mir wirklich worden.«9 Was ist nun nach Fichte die letztendliche Bestimmung, die jenes in die große Kette der Naturwesen verwi4 Folgende Kurzanalyse der Fichte-Philosophie wurde ebenfalls im obenerwähnten Artikel beleuchtet. Im vorliegenden Beitrag befasse ich mich mit Fichtes Nationalidee im erweiterten Sinn und beziehe sie im Weiteren auf die nationalsozialistische Ideologie Alfred Rosenbergs. 5 Vgl. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Свободный философ Пятигорский (Der freie Philosoph Piatigorsky). Sankt-Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2015, S. 231. 6 Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen. Stuttgart: Reclam 2003, S. 7. 7 Vgl. Piatigorsky, Свободный философ Пятигорский, S. 230. 8 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/M.: S. Fischer 2015, S. 75. 9 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 19.

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ckelte Ich erkennen und vollbringen sollte? Die Antwort ist scheinbar unkompliziert: Der Mensch sei dafür geschaffen worden, zu denken. Denken heißt wiederum sich selbst – oder besser gesagt: sein eigenes Selbst – unaufhörlich neu zu kreieren. Am Ende der Bestimmung des Menschen erklingt diese Idee nochmals mit einer besonderen Ausdruckskraft und einem typisch romantischen Pathos: Der Mensch ist nicht Erzeugnis der Sinnenwelt, und der Endzweck seines Daseins kann in derselben nicht erreicht werden. Seine Bestimmung geht über Zeit, und Raum, und alles Sinnliche hinaus. Was er ist, das muß er wissen; wie seine Bestimmung erhaben ist, so muß auch sein Gedanke schlechthin über alle Schranken der Sinnlichkeit sich erheben können. Er muß es sollen […].10

Der letzte Satz in der zitierten Passage erinnert an Heideggers paradoxe Neologismen und zeigt zugleich, dass diejenigen Anforderungen, die von Fichte an den Menschen gestellt werden, zwiespältig sind. Die Einführung des Ich-Begriffes in den philosophischen Menschendiskurs löst nicht den Konflikt zwischen Verallgemeinerung und Individualisierung zugunsten des Anthropozentrismus. Genauso wie es einen einzelnen, konkreten Menschen und d e n Menschen als Oberbegriff gibt, gibt es auch ein individuelles Ich sowie das absolute, ›abstrakte‹ Ich bzw. die allgemeine Ich-Idee, welche mit keiner von ihren greifbaren Verkörperungen verwechselt werden darf. Daher sei auch die Bestimmung des Menschen einerseits individuell zu verstehen, andererseits wird sie aber sozusagen ›von oben‹ reglementiert, wobei man dieses ›Oben‹ wiederum nicht mit einem personalen Gott identifizieren dürfte; es geht hier vielmehr um ein absolut(istisch)es Naturgesetz. Diese Idee scheint nun mit der soziopolitischen Ebene zunächst nichts gemeinsam zu haben. Schon im dritten Teil des Buches – Glaube – geht jedoch Fichte vom Problem der Bestimmung des Menschen zur Frage der Bestimmung der Menschheit über: »Es ist die Bestimmung unseres Geschlechts, sich zu einem Einigen, in allen seinen Teilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen.«11 Sobald dieser Prozess begonnen hat, wird er sich nach Fichtes fester Überzeugung sehr schnell auf die ganze Menschenwelt ausbreiten: Nachdem jenes erste Ziel erreicht wird, nachdem alles Nützliche, was an einem Ende der Erde gefunden worden, so gleich Allen bekannt und mitgeteilt werden wird, dann wird ununterbrochen, ohne Stillstand und Rückgang, mit gemeinschaftlicher Kraft, und mit einem Schritte die Menschheit zu einer Bildung sich erheben, für welche es uns an Begriffen mangelt.12

10 Ebd., S. 20. 11 Ebd., S. 133f. 12 Ebd., S. 135.

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Dabei geht es keineswegs nur um die intellektuelle Arbeit an sich, die in den Gemütern sämtlicher ›erwachter‹ Individuen vollzogen wird. Sehr bald mündet Fichtes Gedankengang in politisch organisierten Lebensformen, sodass die Bestimmung der Menschheit auch als Bestimmung der Nationalstaaten verstanden werden kann. Der aktuelle Zustand der Letzteren sei, so Fichte, noch sehr unvollkommen, denn er beruhe darauf, dass die Beherrschten von den Herrschern unterdrückt werden. Dies wird – so prognostiziert Fichte – dauern, »bis endlich die Unterdrückung das höchste Maß erreicht hat, und völlig unerträglich geworden ist; und die Unterdrückten von der Verzweiflung die Kraft zurückerhalten werden, die ihnen ihr schon seit Jahrhunderten ausgetilgter Mut nicht geben konnte.«13 Toleranz und Mitgefühl gehören hierbei offensichtlich nicht zu den Tugenden, welche diese befreiten, kraft- und Initiative ergreifenden Unterdrückten kennzeichnen. Im Gegenteil: »Sie werden dann nicht länger irgend einen unter sich dulden, der sich nicht begnügt, allen gleich zu sein, und zu bleiben.«14 Eben auf diese Art und Weise wird die Errichtung des von Fichte sehnsüchtig erwarteten »wahren Staates«15 vollbracht, »in welchem jeder Einzelne durch die Sorge für seine eigene Sicherheit unwiderstehlich gezwungen wird, die Sicherheit aller andern ohne Ausnahme zu schonen.«16 Fichtes Wortwahl ist nicht zufällig: Nicht etwa der freie Wille, sondern der unwiderstehliche Zwang garantiert jedem Bürger eines idealen Nationalstaates ein sorgloses und glückliches Dasein. Auch im Bereich der Außenpolitik werde dann dieselbe Regel herrschen: Schon um seines eigenen Vorteils willen, […] muß jeder Staat die Verletzung eines Bürgers des benachbarten Staates eben so streng verbieten […], als ob sie dem eignen Bürger ausgeübt wäre. Dieses Gesetz über die Sicherheit der Nachbarn ist notwendiges Gesetz jedes Staates, der kein Räuberstaat ist. […] nur in der Person eines seiner Bürger könnte ein Staat verletzt werden; […] zur Einmischung in die innern Angelegenheiten eines fremden Staates ist kein Beamter bevollmächtigt. […] Daß eine ganze Nation beschließen solle, des Raubes halber ein benachbartes Land mit Kriege zu überziehen, ist unmöglich […] in einem Staate, in welchem alle gleich sind […].17

Ein Staat, für den lediglich die Verletzung der Rechte von einem seiner Bürger eine echte Gefahr darstellen würde, wäre freilich etwas Außergewöhnliches, ja Paradiesisches. Überraschenderweise entpuppt sich der Eindruck, dass Fichte eben für einen solchen Staat plädiert, als trügerisch. Die entscheidende Frage, die hier gestellt werden sollte, lautet: Verhält es sich mit Fichtes Theorie etwa so, dass

13 14 15 16 17

Ebd. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 137.

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der Krieg bzw. Überfall anderer Völker bzw. Nationen als solche ausgeschlossen und verurteilt werden? Nicht im Geringsten. Es wird nämlich in der zitierten Passage die Unmöglichkeit eines Krieges »des Raubes halber« (!) postuliert. Dieser Umstand ist äußerst markant, denn weiter heißt es bei Fichte sehr deutlich: Nicht von Staaten ihresgleichen könnten diese Staaten Krieg zu befürchten haben; lediglich von Wilden, oder Barbaren, die die Unschicklichkeit, durch Arbeit sich zu bereichern, zum Raube reizte, oder von Sklavenvölkern, die durch ihre Herren auf einen Raub ausgetrieben würden, von welchem sie selbst nie etwas genießen werden.18

Alle Staaten werden demnach eingeteilt in diejenigen, deren Bürger die von Fichte festgelegte Bestimmung des Menschen erkannt und realisiert haben, und alle anderen, nicht ihresgleichen, welche hauptsächlich aus zwei Gruppen bestehen: den »Wilden« bzw. »Barbaren« und den »Sklavenvölkern«. Man könnte nun denken, es handle sich dabei ausschließlich darum, dass diejenigen Staaten, deren Bürger zivilisatorisch wie geistig auf einer höheren Stufe stehen, sich notwendigerweise vor den Barbaren- oder Sklavenvölkern verteidigen müssen, falls sie angegriffen werden. Nach Fichte seien aber derlei Gewaltakte nicht nur im Notfall, sondern auch präventiv legitim, denn: […] die Sorge für ihre eigne Sicherheit nötigt alle freie Staaten, alles um sich herum gleichfalls in freie Staaten umzuschaffen, und so um ihres eignen Wohls willen das Reich der Cultur über die Wilden, das der Freiheit über die Sklavenvölker rund um sich her zu verbreiten. Bald werden die […] befreiten Völker, mit ihren noch barbarischen oder sklavischen Nachbarn in dieselbe Lage geraten […] und genötigt sein, dasselbe für diese zu tun, was so eben für sie geschah: und so wird denn […] notwendig das Gebiet der Cultur, und der Freiheit, und mit ihm des allgemeinen Friedens, allmählich den ganzen Erdball umschlingen. […] die Befreiung des ersten Volks, das da wahrhaftig frei wird, erfolgt notwendig aus dem stets wachsenden Drucke der herrschenden Stände auf die beherrschten, so lange, bis er unleidlich wird […].19

Es ist bemerkenswert, wie häufig im zitierten Text die Notwendigkeit der Kultur-, Freiheits- und Friedensverbreitung mittels attackierender Expansion akzentuiert wird. Die von kulturtragenden Nationen ergriffenen Maßnahmen gegen die »Wilden« und »Sklavenvölker« erscheinen somit nicht als individuelle Entscheidung konkreter Herrscher bzw. Befehlshaber, sondern der Krieg wird in solchen Fällen durch die transpersonale, ›natürliche‹ Notwendigkeit gerechtfertigt. Um es mit Fichtes Formel der Selbstentfaltung (in Bezug auf die autoreferentielle Ich-Erkenntnis) auszudrücken: Man muss es sollen. Damit wird das konkrete agierende Individuum jeglicher persönlicher Verantwortung für seine Taten entzogen, sei es auf rechtlicher oder auch auf rein ethischer Ebene. Es 18 Ebd., S. 138. 19 Ebd., S. 138f.

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handelt nämlich kein Ich mehr, sondern man agiert notwendigerweise im Namen eines höheren Allgemeinwohls, welches mit dem ursprünglichen Naturgesetz übereinstimmt. Nicht zufällig wiederholte 1933 Ernst Bergmann, Professor für Philosophie und engagierter Nationalsozialist, in seinem Buch Fichte und der Nationalsozialismus mit Bewunderung folgende Worte Fichtes: »Ich habe nur eine Leidenschaft, ein Bedürfnis, ein volles Gefühl meiner selbst, das: außer mir zu wirken.«20 Daraus folgt natürlich nicht, Fichte würde sich Hitler anschließen und dem nationalsozialistischen Wahn verfallen (es gibt natürlicherweise auch Beispiele – Knut Hamsun und andere europäische Künstler und Intellektuelle –, die das Gegenteil davon bilden). Die logische Denkkonsequenz ist jedoch unübersehbar: Die individuelle Selbsterkenntnis des Ich verweilt nicht beim Individuum und strebt nach der Auflösung des Ich, nach dessen endgültiger Überwindung, welche in der nationalen Selbsterkenntnis eines idealen Staates triumphierend verwirklicht wird. Die Errungenschaften der Nation werden dann als eigene Erfolgsleistungen angesehen, wogegen die Leiden des Volkes bzw. die potentielle Gefahr seitens der »Barbaren« den Einzelnen dazu verpflichten, für das Vaterland zu töten und zu sterben. Fichtes Einstellung zur zivilisatorisch hochentwickelten westlichen Welt, die sich gegen die wilden Horden der Barbaren notwendigerweise (aber durchaus auch vorbeugend) wehren muss, wurde von der nationalsozialistischen Kulturideologie sowohl übernommen als auch intensiviert und stellenweise ad absurdum (obwohl ziemlich konsequent) weitergeführt. Besonders gut erkennbar wirkt diese Tendenz in den Schriften Alfred Rosenbergs, vor allem in seinem Buch unter dem vielsagenden Titel Der Mythus des XX. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, wo im Kapitel über Russland und den »russischen Menschen« folgende Idee zum Ausdruck gebracht wird: Die christlich-kirchliche Demut und die freimaurerische Humanität waren z w e i Formen, unter denen die Idee der Liebe als Höchstwert Menschengruppen gepredigt wurde, die von irgendeinem herrsüchtigen Zentrum aus geleitet werden sollte. […] Zum Ende der 19. Jahrhunderts trat die Liebesidee nun einer d r i t t e n Form auf […]: i n d e r r u s s i s c h e n L e i d e n s - u n d M i t l e i d e n s l e h r e , symbolisiert im »Dostojewskischen Menschen«. […] Das Volk weiß zwar, daß ein Verbrecher sündhaft handelt, aber: »Es gibt unausgesprochene Ideen…« Zu diesen im russischen Volk verborgenen Ideen zählt die Bezeichnung der Verbrecher als Unglückliche. Diese Idee ist eine rein russische.21 20 Zit. nach: Bergmann, Ernst: Fichte und der Nationalsozialismus. Breslau: Ferdinand Hirt 1933, S. 10. 21 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des XX. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München: Hoheneichen-Verlag 1942, S. 206f. Hervorhebungen im Original.

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Diese offensichtlich, ja absichtlich rassistische Denkweise verfolgt immerhin ein ganz konkretes Ziel. Hierin wird nämlich der Versuch unternommen, die »Idee der Liebe als Höchstwert« erstens als nicht-deutsch – und somit fremd – zu enthüllen und zweitens als falsch bzw. abwegig zu diffamieren. Dabei wird nicht der bloße semantische Gehalt der besprochenen Idee ins Zentrum gesetzt, sondern – und in erster Linie – deren Herkunft. Kennzeichnenderweise werden die Grenzen zwischen der realen Wirklichkeit und der fiktiven Welt eines literarischen Werkes überwunden. So appelliert Rosenberg an den gesunden, d. h. deutschen, Menschenverstand und führt als Beispiel eines typischen »russischen Menschen« eine Romanfigur an: […] es ist etwas ungesund, krank, bastardisch im russischen Blut, welches alle Anläufe zum Hohen immer wieder durchkreuzt.[…] Fürst Myschkin spielt die krankhaft idiotische Rolle eines persönlichkeitsbaren Menschen erschütternd zu Ende. Rogoschin ist von wüster Leidenschaft, das europäische Zentrum mangelt auch ihm. Raskolnikow ist der innerlich Gewichtlose […]. Das sind Merkmale eines verdorbenen Blutes, einer vergifteten Seele.22

Rosenberg beschäftigt sich überhaupt nicht mit der Bewertung des Verbrechers als eines »Unglücklichen« und versucht kaum zu erklären, was genau daran für einen Deutschen unakzeptabel sei. Man gewinnt den Eindruck, diese Bewertung sei für Rosenberg nicht an sich »ungesund, krank, bastardisch«, sondern eben dadurch, dass sie dem »russischen Blut« entspringt. Wie es im Weiteren heißt: Der Russe, allein in der Welt, habe keine einzige Idee in der Menge der Menschheitsideen eingeführt und alles, was er vom Fortschritt erhalten habe, sei durch ihn verzerrt worden. […] Der Russe […] sei wie ein kleines Kind, das nicht richtig denken könne. Diese Erkenntnis schlummerte, wie dargelegt, auch in Dostojewski, der Mangel an Persönlichkeitsbewußtsein ist von ihm deutlich erkannt worden. […] Das leidende, duldende Menschentum sei eine Prophezeiung für das kommende »Wort« Rußlands.23

Dieser Gedankengang ist äußerst paradox. Einerseits wirft Rosenberg dem »Dostojewskischen Menschen« den Mangel an Persönlichkeitsbewusstsein vor. Andererseits behauptet er: »Beim ›russischen Menschen‹, wie er um die Wende des 20. Jahrhunderts nahezu Evangelium wurde, tritt die Ehre als gestaltende Kraft überhaupt nicht in Erscheinung.«24 Interessant ist, dass hierbei die Begriffe »Liebe« und »Ehre« einander entgegengesetzt werden. Die Liebe scheint somit für Rosenberg etwas Individuelles, Emotiv-Menschliches zu sein, die Ehre dagegen etwas Überpersönliches, die bloße Gefühlswelt Dominierendes, was von deren höherer Rangstellung in der Hierarchie geistiger Werte zeugt. Was ist nun mit dem »Persönlichkeitsbewusstsein«? Ehre und Persönlichkeit lassen sich 22 Ebd., S. 209. 23 Ebd., S. 210f. 24 Ebd., S. 209.

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miteinander eher schwer verbinden, was in Artur Schnitzlers bekannter Novelle Leutnant Gustl musterhaft dargestellt wird. Die Titelfigur schwankt ständig zwischen der höchstpersönlichen Angst um ihr eigenes Leben und dem Militärehrenkodex, nach dem er entweder den ihn beleidigenden Bäckermeister zum Duell herausfordern oder Selbstmord begehen sollte. Selbstverständlich wäre Gustl ein dekadentes Antibeispiel in Rosenbergs »seelisch-geistiger« Menschenwertung. Die Liebe, verstanden als zwischenmenschliche Zuneigung, sei – im nationalsozialistischen Denksystem – zwar kein bedingungsloser Defekt, wohl aber ein abzubauendes Hindernis, sobald sie den Gesetzen der Ehre oder der Liebe zum Vaterland im Wege steht. Nicht weniger radikal bekämpft Rosenberg auch die religiöse Dimension des Liebesbegriffs, indem er schreibt: Die kirchliche »Liebe« […] setzte sich nicht nur gegen alle Gedanken von Rassen- und Volkstum, sondern sie ging noch weiter darüber hinaus. Der »heilige« Zeno sagte im vierten Jahrhundert n. Chr.: »Der größte Ruhm der christlichen Religion ist es, die Natur mit den Füßen zu treten.« […] Die Beschimpfung des Körpers als unrein dauert ununterbrochen fort bis in unsere Tage, da der Nationalismus und der Rassengedanke als heidnisch bekämpft werden. […] Nicht naturlose »Liebe«, nicht eine unfaßbare »Gemeinde der Guten und Gläubigen«, nicht eine »Allmenschlichkeit« mit zersetztem Blut ist es, was je und je kultur- und kunsterzeugend gewirkt hat, sondern – in Hellas – der fruchtbare Eros und die rassische Schönheit, in Germanien die Ehre und die rassische Lebensdynamik.25

Diese Passage ist insofern bemerkenswert, als Rosenberg eben im Ehrenbegriff diejenige kultur- und kunsterzeugende Kraft sieht, welche »in Germanien« für die »rassische Lebensdynamik« zuständig sei. Gleichzeitig verurteilt er den kirchlichen Kampf gegen die »Natur«. Der »Beschimpfung des Körpers« wird – als nationalideologische Alternative – der hellenische »fruchtbare Eros« gegenübergestellt. Um es mit Hélène Laffont zu formulieren: In Rosenbergs Augen […] symbolisieren Zeus und Apollon die geistige, willensstarke Seite des griechischen nordischen Blutes, während der die chthonische Religion kennzeichnende Hetärismus eine Erscheinung bilde, die den nicht nordischen, aus Kleinasien und Nordafrika stammenden Völkern eigen sei.26

Ist aber der griechisch-nordische Eros tatsächlich mit den elementaren Urkräften der Natur eng verbunden, so haben Ehre und Natur miteinander sehr wenig bzw. nichts gemeinsam. Der sog. »Ehrenkodex« ist ja ein explizit soziales Phänomen, das nur die Anhänger bestimmter Berufsgruppen, Stände und Kasten

25 Ebd., S. 213. 26 Laffont, Hélène: Zur Rezeption Bachofens im Nationalsozialismus. In: Heinz, Marion/Gretic´, Goran (Hg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2016, S. 143–163, hier S. 157.

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betrifft und verpflichtet – und somit eher als Gegenthese zum heroischen, spontan handelnden »Naturmenschen« gelten könnte. Im einen hat Rosenberg allerdings Recht. Das christliche Liebesideal ist nämlich in seinem Kern – trotz aller Entartungen dieser Idee im Laufe der Kirchengeschichte – nicht nur der »Natur«, sondern auch der »Nation« übergeordnet. Die heutzutage weitverbreitete Synthese von Religion und Patriotismus ist kein uralter Bestandteil der kirchlichen Lehre, sondern vielmehr eine verhältnismäßig moderne Erfindung. Dies kann man sehr exakt in dem frühromantischen Gedicht von Ludwig Tieck unter dem märchenhaft anmutenden Titel Der Arme und die Liebe beobachten. Die schlicht erzählte Ballade, deren Form und Aussage an die mittelalterlichen Lieder erinnern, fängt mit der Ankunft eines Fremden an, der sich in einer schwierigen materiellen Lage befindet, sodass sein Aussehen die Menschen abschreckt: Es kam an einem Pilgerstab Wohl übers graue Meer Ein Wandersmann ins Tal hinab, Von fremden Landen her. Erbarmt euch meiner, rief er aus, Vom fremden Land ich kam, Verloren hab ich Gut und Haus, Antonio ist mein Nam’. […] Da ging er wohl von Tür zu Tür, Ging hier und wieder dort, Ward abgewiesen dort und hier Und schlich sich weinend fort. »Was suchst du in der Fremde Glück? Wir sind dir nicht verwandt! Geh, wo du herkömmst, nur zurück, Bist nicht aus unserm Land.«27

Im Zentrum des Textes steht der Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der Wandersmann kommt nämlich »von fremden Landen her«, was er selbst eine Strophe später eindeutig wiederholt: »Vom fremden Land ich kam«. Es ist aber bemerkenswert, dass die ihn abweisenden Einheimischen ihrerseits auch die Bezeichnung »fremd« benutzen, jedoch in Bezug auf ihre eigene Heimat: »Was suchst du in der Fremde Glück?« fragen sie den Wanderer, wodurch gleich impliziert, ja aufgezwungen wird, er solle die von ihm betretene Gegend als »Fremde« empfinden. »Bist nicht aus unserm Land«, sagen sie zu dem Fremdling und markieren somit eine klare, unüberwindbare Grenze zwischen Hier und Dort, Wir und Sie, Eigen und Fremd. Plötzlich kommt es jedoch zu einer ent27 Tieck, Ludwig: Der Arme und die Liebe. In: Frühwald, Wolfgang (Hg.): Gedichte der Romantik. Stuttgart: Reclam 2009, S. 148f.

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scheidenden Wende, als der heimatlose Antonio von einem Mädchen bemerkt und angesprochen wird: Still und beschämt mit Ach und O! Schlich er die Straße hin, Da ruft es sanft: Antonio! Ein Mädchen winkt ihm hin. O nimm von meiner Armut an, Spricht sie mit frommen Sinn, Ich gebe was ich geben kann, Nimm alles, alles hin. […] Ach nein, du bist mir nicht verwandt, Dennoch erbarm ich mich, Und bist du gleich aus fremden Land’, So lieb ich dennoch dich. Die Liebe kennt kein Vaterland, Sie macht uns alle gleich. Ein jedes Herz ist ihr verwandt, Sie macht den Bettler reich!28

Die End- und zugleich Kernaussage des Gedichts – »Die Liebe kennt kein Vaterland« – widerspricht ganz deutlich jeglicher nationalen oder gar territorialen Absonderung, widerspricht ganz deutlich der gängigen Vorstellung von der ideologischen Verwandtschaft zwischen Romantik und Nationalsozialismus. Zwar wurde die deutsche Romantik im Dritten Reich hochgepriesen (vor allem wegen ihrer Abkehr vom aufklärerischen Rationalismus). Stellt man aber die meisten romantischen Texte mit den soziokulturellen Idealen eines Alfred Rosenberg nebeneinander, so werden fundamentale Differenzen augenblicklich sichtbar, besonders wenn es um die romantische »nationale Idee« und den »Nation«-Begriff des Nationalsozialismus geht. Misstrauische Ablehnung und liebende Akzeptanz werden in Tiecks Gedicht sehr illustrativ miteinander konfrontiert, zugunsten der Letzteren. »Ach nein, du bist mir nicht verwandt,/ Dennoch erbarm ich mich«, spricht das Mädchen »mit frommen Sinn« und setzt damit die christlichen Werte des Mitleids und Nächstenliebe über die volkstümlich-nationalen Schranken. »Und bist du gleich aus fremden Land’,/ So lieb ich dennoch dich«, pointiert sie schließlich ihre lapidare Liebeserklärung. Das Fremdheitsmotiv, welches das Gedicht durchdringt, kehrt am Ende des Textes wieder, um aus dem von Liebe und Teilnahme geleiteten Bewusstsein endgültig verbannt zu werden. Der Erzähler (da es sich hier eigentlich um eine sujethafte Ballade handelt, wäre diese Bezeichnung wohl angebrachter als das übliche lyrische Ich) fasst das Verhalten des Mädchens mit der Schlussfolgerung zusammen, die Liebe mache »uns alle gleich« und fügt hinzu: »Ein jedes Herz ist ihr 28 Ebd., S. 149.

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verwandt«, womit die individuelle Neigung, ganz im Sinne von Kants Ethik, zum universellen moralischen Gesetz emporgehoben wird. Am Beispiel dieses Gedichts sieht man, dass die so oft und so gerne angesprochene ideologische Kontinuität zwischen Romantik und Nationalsozialismus in Wirklichkeit durchaus problematisch ist. Während man tatsächlich mehrere Verbindungslinien von Fichtes zu Rosenbergs Nationalideologie ziehen kann, erweist sich Tiecks Ballade als eine Art »Antidot« gegen jeglichen Nationalismus sowie ein eindeutiges Plädoyer für die wortwörtlich grenzenlose Liebe, welche auf Empathie und Herzenswärme beruht, jenseits aller Gruppenzugehörigkeit. Rosenberg fasst das Endziel der neuen, nationalsozialistisch orientierten Religion folgenderweise zusammen: Wir erkennen heute, daß die zentralen Höchstwerte der römischen und der protestantischen Kirche als negatives Christentum […] den organischen Kräften der nordisch-rassisch bestimmten Völker im Wege stehen, ihnen Platz zu machen haben, sich neu im Sinne eines g e r m a n i s c h e n Christentums umwerten lassen müssen. Das ist der Sinn des heutigen religiösen Suchens.29

Mit anderen Worten: Christentum und Deutschtum können nur unter der obligatorischen Bedingung gepaart werden, dass das Zweite dem Ersten absolut überlegen bleibt. Somit wird der eigentliche Sinn einer jeden Religion bzw. Metaphysik zunichte gemacht, denn aus religiöser Hinsicht darf (und kann) nichts – weder Staat noch Volk – anstelle Gottes treten. Wie es Ernst Piper kurz und bündig auf den Punkt bringt: »Fromm und sittlich wollte Rosenberg sein, aber keinen Gott dulden, auch keinen germanischen, der der nationalsozialistischen Lehre Konkurrenz machen konnte.«30 Im Weiteren erklärt Piper auch sehr präzise, wie man Rosenbergs angebliche Toleranz gegenüber Religion verstehen sollte: Tatsächlich betonte Rosenberg immer wieder die Toleranz des nationalsozialistischen Staates gegenüber den verschiedenen Glaubensbekenntnissen, wobei es ihm keineswegs um religiöse Toleranz ging, sondern darum, die Glaubensbekenntnisse in ihrer Bedeutung zu relativieren. So schrieb er 1927 im »Völkischen Beobachter«: »Wir achten jede religiöse Anschauung, da wir auf dem Standpunkt stehen, daß der Nationalsozialismus über allen Bekenntnissen steht und sie im Dienste für das deutsche Wesen alle zu umschließen vermag.«31

29 Rosenberg, Der Mythus des XX. Jahrhunderts, S. 215. Hervorhebung im Original. 30 Piper, Ernst: »Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen«. Alfred Rosenberg und die völisch-religiösen Erneuerungsbestrebungen. In: Puschner, Uwe/Vollnhals, Clemens (Hg.).: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 337–355, hier S. 351. 31 Ebd., S. 344.

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Diese Denkperspektive ist allerdings gar nicht so obsolet. Setzt man sich mit den meisten – auch gegenwärtigen – Ideologien und Bewegungen auseinander, bei denen das Religiöse mit dem Nationalen kombiniert wird, so kommt man unweigerlich zum Schluss, dass hinter diesem scheinbar gleichberechtigten Synkretismus sich eine unausgesprochene Dominanz der nationalen Idee über die religiöse verbirgt (obschon es auch einige Ausnahmen von dieser Regel geben kann). Neben dem oben analysierten Gedicht von Ludwig Tieck stellt auch der folgende Auszug aus Hermann Hesses Brief an Günther Friedrich eine Art neuromantische Gegenthese zu Fichtes und Rosenbergs Nationalismen dar: Du meinst in Deinem Brief, es wäre besser gewesen, wenn Hitler bei jenem Attentat umgekommen wäre. Das stimmt insofern, als für Deutschland alles ein klein wenig besser ausgesehen hätte. Aber die Tatsache, daß Deutschland sich Hitler ausgeliefert, daß es Böhmen, Österreich, Polen, Norwegen und schließlich die halbe Welt überfallen, ausgeraubt, Menschen zu Millionen geschlachtet […], diese traurige Tatsache bestünde auch dann weiter, wenn Hitler etwas früher umgekommen wäre. Und das Unglück und die Schande Deutschlands besteht ja nicht darin, daß es jetzt auch einiges leiden muß und besiegt wurde, sondern daß es viele Jahre lang diese Scheußlichkeiten ausgeübt hat.32

Sein eigenes Deutschtum ist für Hesse nebensächlich. Es spielt für ihn keine Rolle, wie die Sachen »für Deutschland« aussehen, denn er identifiziert sich weder mit dem Volk, das Hitler erwählt hat, noch mit dem Staat, der von den Nationalsozialisten regiert wurde. Das daraus resultierende Leid und Unglück empfindet Hesse daher als eine gerechte Strafe für die »Scheußlichkeiten«, welche von seinen Landsleuten jahrelang getrieben wurden. Damit demonstriert der deutsch-schweizerische Schriftsteller und Dichter ein perfektes Beispiel für anationales Denken, wobei kein naturgemäßes Notwendigkeitshandeln, sondern allein die persönliche Verantwortung zählt. Hesses Individualismus bleibt sich bis zum Ende treu, während Fichtes Ich-Zentrismus schließlich zu dessen Gegenteil entartet. Wie Peter Inhoffen treffend bemerkt: »Trotz seines Ausganges vom Einzel-Ich, vom Selbstbewußtsein des Individuums ist Fichte kein Individualist.«33 Generell scheint der Begriff der Notwendigkeit für Fichte viel bedeutender als der Freiheit zu sein, sogar wenn man darunter bloß die Wahlfreiheit versteht. Fichte spricht es in seiner Apologie des idealen Staates ganz eindeutig aus: In diesem einzig wahren Staate wird überhaupt alle Versuchung zum Bösen, ja sogar die Möglichkeit, vernünftigerweise eine böse Handlung zu beschließen, rein abgeschnitten 32 Zit. nach: Singh, Sikander: Hermann Hesse. Stuttgart: Reclam 2006, S. 61. 33 Inhoffen, Peter: Freiheit durch Vernunft? Organisation und Ziel der menschlichen Gesellschaft nach Johann Gottlieb Fichte. In: »Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften« Bd. 28 (1987), S. 91–131, hier S. 94.

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sein, und es wird dem Menschen so nahe gelegt werden, als es ihm gelegt werden kann, seinen Willen auf das Gute zu richten.34

Was Fichte dabei entweder unbeachtet lässt oder verschweigt, ist: In einem Staat, wo das Begehen einer bösen Tat a priori unmöglich wird, kann überhaupt keine Rede vom »Willen« sein, geschweige denn davon, diesen Willen auf etwas zu »richten«. Denn sowohl der Wille als auch jeder freierwählte Akt implizieren die Möglichkeit, das sog. »Böse« zu wählen. Das Staats- und Gesellschaftsideal, das Fichte propagiert, wurde von Fjodor Dostojewski in der Binnenerzählung Der Großinquisitor, die einen relevanten Teil des Romans Die Brüder Karamasow bildet, ausführlich beschrieben, jedoch mit einer ausgesprochen antiutopischen Färbung: Der progressiv denkende, vernünftige und friedliebende Großinquisitor wird nämlich als Antichrist entlarvt, dessen totalitäres Reich der persönlichen Freiheit keinen Denk- und Handlungsraum ermöglicht.35

Literatur Bergmann, Ernst: Fichte und der Nationalsozialismus. Breslau: Ferdinand Hirt 1933. Drosdowski, Günther: Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1989. Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen. Stuttgart: Reclam 2003. Frühwald, Wolfgang (Hg.): Gedichte der Romantik. Stuttgart: Reclam 2009. Heinz, Marion/Gretic´, Goran (Hg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2016. Inhoffen, Peter: Freiheit durch Vernunft? Organisation und Ziel der menschlichen Gesellschaft nach Johann Gottlieb Fichte. In: »Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften« Bd. 28 (1987), S. 91–131. Kotin, Andriej: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich – Das Nationale als Entartung des Individuellen. In: »Thalloris« 3 (2018), S. 65–78. Laffont, Hélène: Zur Rezeption Bachofens im Nationalsozialismus. In: Heinz, Marion/ Gretic´, Goran (Hg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2016, S. 143–163. Piatigorsky, Alexander (Пятигорский, Александр): Свободный философ Пятигорский (Der freie Philosoph Piatigorsky). Sankt-Petersburg: Издательство Ивана Лимбаха 2015. Piper, Ernst: »Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen«. Alfred Rosenberg und die völisch-religiösen Erneuerungsbestrebungen. In: Puschner, Uwe/Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 337–355. 34 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 139. 35 Vgl. Dostojewski, Fjodor: Der Großinquisitor. URL: https://www.gutenberg.org/files/38336/ 38336-h/38336-h.htm / letzter Zugriff am 18. Januar 2019.

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Puschner, Uwe/Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München: Hoheneichen-Verlag 1942. Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/M.: S. Fischer 2015. Singh, Sikander: Hermann Hesse. Stuttgart: Reclam 2006. Tieck, Ludwig: Der Arme und die Liebe. In: Frühwald, Wolfgang (Hg.): Gedichte der Romantik. Stuttgart: Reclam 2009, S. 148f.

Internetquelle Dostojewski, Fjodor: Der Großinquisitor. URL: https://www.gutenberg.org/files/38336/ 38336-h/38336-h.htm / letzter Zugriff am 18. Januar 2019.