Ich und Andere: Hume – Rousseau – Kant [1 ed.] 9783428538423, 9783428138425

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Ich und Andere: Hume – Rousseau – Kant [1 ed.]
 9783428538423, 9783428138425

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VOLKER BARTSCH

Ich und Andere Hume – Rousseau – Kant

Duncker & Humblot

VOLKER BARTSCH

Ich und Andere

VOLKER BARTSCH

Ich und Andere Hume – Rousseau – Kant

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbilder: David Hume

© ullstein bild / ullstein bild Jean-Jacques Rousseau

© ullstein bild / Bunk Immanuel Kant

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© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: L101 Mediengestaltung, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13842-5 (Print) ISBN 978-3-428-53842-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83842-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Aber verlangt ihr denn, dass ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen, und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft, 1781

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Vorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Drei Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. David Hume (7. Mai 1711 – 25. August 1776) Traktat über die menschliche Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wie wir denken – Traktat I „Über den Verstand“ . . . . . . 1. Das Maß aller Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell des Geistes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die äußersten Grenzen des Weltalls . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ursache und Wirkung, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Theater der Perzeptionen oder was bin ich . . . . . 6. Wir erdichten die zweifache Existenz oder die Vernunft der Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der öde Felsen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wie wir fühlen – Traktat II „Über die Affekte“  . . . . . . . 1. Zwischen Vernunft und Lust  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell der Affekte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit und Notwendigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Zerstörung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Spiegel in uns  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wie wir zusammen leben – Traktat III „Über Moral“ . . . 1. Die Nachbarsgattin und der Mord . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alles was Recht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Natur ist kein Zustand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zivilisation aus Eigeninteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Egoismus und Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Jean-Jacques Rousseau (28. Juni 1712 – 2. Juli 1778) . . . . . . I. Ich träume mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mensch der Natur und Natur des Menschen . . . . . . . . . . III. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 24 29 37 41 48 51 58 61 61 68 76 83 85 90 90 99 105 114 123 132 132 136 142

8 Inhaltsverzeichnis IV. Der Wilde im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Natur der Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Der philosophische Staatsstreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Der Gesellschaftsvertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Gleichheit und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 155 162 170 173 180 185

D. Immanuel Kant (22. April 1724 – 12. Februar 1804) . . . . . . . I. Eine Milchstraße voller Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Königsberg am Pregelflusse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Fracht von hundert Kamelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190 193 199 209 219

E. Das System Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wie es scheint  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die scheiternde Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die wiederauferstandene Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kritik der Urteilskraft Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229 231 236 247 254 259 270 290

F. Anthropologische Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 G. Anthropologische Perspektiven der Moral . . . . . . . . . . . . . . . 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

A. Einleitung I. Vorschau Die Anthropologie, die Lehre vom Menschen, hat es schwer. Schon deshalb, weil dabei irgendwelche Menschen Behauptungen dazu aufstellen, wie angeblich alle Menschen sind. Die Gefahr, dass damit letztlich ein sehr subjektives Menschenbild projiziert wird und von einer kontrollierten Wissenschaftlichkeit kaum noch die Rede sein kann, ist groß. Die Zoologie hat es da leichter, weil wir uns über eine andere Spezies schneller einigen können als über uns selbst. Aber die immer mitgegebene Subjektivität eines Menschenbildes ist das Normalste von der Welt, denn irgendwie operiert jeder mit einer Vorstellung davon, wie Menschen wohl so sind. Nur macht sich nicht jeder sein implizites Menschenbild bewusst, und nur wenige riskieren es, das ihrige zu überdenken und aufzuschreiben, damit andere sich daran reiben können. Natürlich gibt es auch sehr verschiedene anthropologische Ansätze und kein abschließendes Meisterwerk, das ein objektiv gültiges Menschenbild festgelegt hätte. Und es gibt zum anderen die Konkurrenz einer Fülle von anderen Wissenschaften, die bestimmte Teilaspekte des MenschSeins als ihren Gegenstand okkupiert haben und bestens erklären. Heute werden viele Bereiche unter dem Begriff Humanwissenschaften oder Lebenswissenschaften zusammengefasst, weil allen Einzeldisziplinen etwas Wesentliches fehlt: das Ganze. Hier trifft sich die Anthropologie wieder mit einem natürlichen Verständnis des Menschen von sich als Einheit, der zwar allerlei Einzelerkenntnisse zu einem Bild zusammensetzen kann, sich aber sehr wohl vorstellen kann, dass die Einzelheiten erst aus einem Gesamtbild heraus Sinn machen. Wir nehmen zum Beispiel zur Kenntnis, dass Menschen einzeln und massenhaft Grausamkeiten jeder nur denkbaren Art ausführen können. Aber

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A. Einleitung

warum können sie das? Gibt es jenseits der konkreten Situation und Person einen Hinter- oder Untergrund, der dies ermöglicht? Man darf dies vermuten, auch wenn sich im Folgenden darauf keine direkte und einfache Antwort finden wird. Jedenfalls schlummert im Hintergrund unseres Denkens und Handelns ein Menschenbild, das irgendwo zwischen den Polen Gut und Böse schwankt und uns nachhaltiger bestimmt, als wir denken. Wir denken notgedrungen praktischer über die Probleme und Aufgaben, die sich uns im Alltag stellen. Wir zerlegen sie in das, was wir dazu aus den passenden Erklärungsmustern wissen. Wir folgen sozusagen einer einzelwissenschaftlichen Perspektive und schwingen uns eher selten auf eine höhere Ebene, von der aus wir größere Zusammenhänge herstellen können. Die Philosophie, etwa seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert als Begriff bekannt, hat sich seit der Antike als die Verwalterin einer solchen höheren Ebene verstanden, anfangs noch fast ohne Konkurrenz durch Einzelwissenschaften. Mathematik, Astronomie und Medizin wurden zwar auch betrieben, konnten aber das Monopol der Reflexion des Menschen über sich selbst mithilfe der „Liebe zur Weisheit“, wie man Philosophie übersetzen kann, nicht wirklich gefährden. Das begann sich mit dem Aufbruch der Menschheit zu neuen Ufern zu ändern, mit der Neuzeit, der Renaissance und dann der Epoche, die man Aufklärung genannt hat. Der harte Kern der Aufklärung war die Abwendung von der Erklärung der Welt durch einen allgewaltigen Gott, befördert durch die epochale Erkenntnis, dass die Erde und mit ihr der Mensch nicht der Mittel- und Höhepunkt der Welt sind. Das verlangte zugleich nach menschlichen Erklärungen, die in Wissenschaft und Technik ungeahnte Fortschritte in Gang setzten. So kam zwangsläufig auch der Mensch und sein Treiben auf Erden neu ins Blickfeld, und so entwickelte sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert auch die „Philosophische Anthropologie“. Sie konnte keine empirische Wissenschaft sein, sondern lebte von der Kraft systematischen Nachdenkens. Aber sie hatte einen sehr konkreten Gegenstand, dem sie beobachtend und schlussfolgernd gerecht zu werden suchte. Kant schließlich, der als Abschluss der Aufklärungsphilosophie betrachtet wird, verbannte die Anthropologie



I. Vorschau11

aus dem Reich der Philosophie, weil seiner Meinung nach alles, was aus unbezweifelbaren Vernunftgründen über den handelnden Menschen gesagt werden konnte, seine praktische Philosophie ausreichend erledigt hatte. Die Aufklärung legte ohne Zweifel zentrale Grundlagen des Denkens der Moderne, die auch heute noch aktuell sind. Sie war eine geistige Bewegung in weiten Teilen Europas und wurde durch die wechselseitige Kenntnisnahme der neuesten philosophischen Errungenschaften inspiriert. Und sie fand in einem gesellschaftlichen Umfeld statt, in dem die ständischen, feudalen und absolutistischen Verhältnisse immer mehr durch ein sich entwickelndes Bürgertum unter Druck kamen, der sich 1789 in Frankreich mit der Revolution prototypisch entlud. England hatte hundert Jahre zuvor seine „Glorious Revolution“ schon hinter sich und baute an seinem Weltreich, Preußen hatte sich mit Friedrich dem Großen aufgemacht, ein Reich von Gewicht zu werden. Ökonomisch kann man noch kaum von Kapitalismus im modernen Sinne sprechen, aber der Weg zum Industriekapitalismus wurde Schritt für Schritt geebnet. Eine Welt im Umbruch, aber das ist sie ja immer, ohne dass wir es deutlich und schnell merken. In einer solchen Zwischenwelt, in der Adel und Grundbesitz noch die zentrale Rolle einnehmen, aber jedermann schon weiß, welche Rolle das Geld spielt, haben als herausragende Schriftsteller der Schotte Hume im englischen Sprach- und Kulturraum, der Genfer Rousseau im französischen und schließlich Kant im preußisch-deutschen die Angelegenheiten des Menschen zu ergründen versucht. Sie gehen unterschiedlich vor, haben unterschiedliche Stile und kommen auf den ersten Blick zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, wenn man ihr grundlegendes Menschenbild ins Auge fasst. Es ergeben sich drei anthropologische Modelle, die das Spektrum der denkbaren Möglichkeiten weitgehend abdecken, wenn es grundsätzlich um die Selbstkonstitution des Individuums und seine gesellschaftliche Einbindung geht. Und diese Modelle sind trotz des Abstandes von etwa 250 Jahren, also vielleicht acht Generationen, immer noch aktuell und anregend, wie zu zeigen sein wird.

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A. Einleitung

Hume betrachtet mit natürlicher Intelligenz das Verhalten des Menschen, so wie es sich ihm zeigt, und will aus diesen Erfahrungen ein System von Begriffen und Regeln destillieren, wie auch die Naturwissenschaften aus der Beobachtung der Phänomene ihre Gesetze entwickeln. Sein Experiment ist die Verdichtung der Erfahrung zu Prinzipien, die auch prognostische Kraft haben. Abweichungen im Einzelfall erklären sich aus der unvermeidlichen Differenz zwischen Abstraktion und konkretem Fall. Es ist geradezu das Wesen des Prinzips, nur die Essenz des Falles, nicht aber seine Singularität abzubilden. Das Ergebnis ist eine systematische Beschreibung und Erklärung des Denkens und Verhaltens von Menschen, wie es sich in ihrer Wirklichkeit finden lässt. Dabei ist das Leitprinzip das Gefühl, die Emotionen, nicht etwa die Vernunft. Rousseau, ohne Frage ein glänzender Schriftsteller und weniger Theoretiker, schreibt mit Furor gegen die herrschenden Verhältnisse an und postuliert ein elementares Freiheitsbedürfnis des Individuums, das sich letztlich gegen alle gesellschaftlichen Bindungen wehrt, auch wenn sich dies als vergeblich erweist und das Individuum als Karikatur seiner menschlichen Möglichkeiten zurücklässt. Er denkt evolutionär und hat schließlich versucht, eine Kompromissformel zwischen der unaufgebbaren Autonomie des Einzelnen und den unvermeidlichen Zwängen des Gesellschaftszustandes zu finden. Im Vergleich zu Hume und Kant hat Rousseau als Bezugspunkt weit gespannter politischer Auseinandersetzungen wohl die heftigste Wirkung in einem breiten Spektrum von Positionen erzeugt. Kant macht einen der kostbarsten Begriffe der Aufklärung, die Vernunft, zu einer Realität, die dem Menschen so vorgegeben ist, dass er sich ihr in keinem Fall entziehen kann, auch wenn er es nicht weiß oder wissen will. Sie ist ein beinhartes rationales Kalkül, das jedwede Anfechtung zurückweisen kann. Sie legt nicht nur die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit und damit auch seiner Handlungsmöglichkeiten fest, sie ist diese Fähigkeit und Möglichkeit. Sie ist zwar keine fremde Macht, die aus dem Reich philosophischer Gedanken dem Menschen implantiert werden muss, aber sie tritt ihm doch gegenüber und



I. Vorschau13

siedelt gleichzeitig schon immer in ihm. In letzter Konsequenz ist die Vernunft Mensch, der Mensch Vernunft. Ein wahrlich großartiges Ende der Aufklärung als Epoche. Bei Hume haben wir also „normale“ Menschen vor uns, bei Rousseau den sich selbst und seinen Möglichkeiten entfremdeten Menschen und bei Kant einen Traum vom vernünftigen Menschen. Hume bleibt bei einer realistischen Erzählung stehen und schwingt sich nicht zu letzten Begründungen erster Ursachen auf. Rousseau bekämpft alles, was die Autonomie des Menschen einschränkt. Kant gibt dem Reich der Abstraktionen eine neue Ordnung, die zurück auf Erden nur davon erzählen kann, wie es sein sollte. Wenn der Mensch in allen diesen Erzählungen sich aber beispielhaft zeigt, der Mensch in seinem dunklen Drange, wird es finster, und das Licht der Theorie erhellt die Szene nur so schwach, dass lediglich der Optimist behaupten kann, er sehe etwas Gutes. Die wichtigsten Schriften der drei Autoren werden zunächst in einer sehr engen Anlehnung an die Texte so durchmustert, dass die jeweiligen Argumente und Darstellungen sehr direkt zur Sprache kommen. Natürlich ist eine solche Paraphrasierung immer auch eine Interpretation, aber eine solche, die sich schnell überprüfen lässt und vor allem auch zu eigenen Gedanken und Wahrnehmungen des Lesers zu dem jeweiligen Autor einlädt. Auf diese Weise ergibt sich auch eine Darstellung der Kerngedanken des Gesamtwerkes der Autoren, ohne durch das Streben nach Vollständigkeit etliche weitere Schriften heranzuziehen und durch vielerlei Nuancen hier und da eher akademisch zu verwirren als plausibel zu machen. Die jeweiligen Werkausgaben umfassen viele tausend Seiten. Dass dabei manche weniger wichtige Details entfallen oder Probleme, die im Lichte der zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte diskutiert wurden, nicht adäquat behandelt werden, ist Absicht zugunsten der übersichtlichen Lesbarkeit, die letztlich der Frage nachgeht: Wie bin Ich und wie sind die Anderen? Als die entscheidenden Pole werden beide Begriffe im Folgenden immer groß geschrieben. Was verbindet, was trennt uns? Das Material zu einer solchen Positionsbestimmung, einem bewusst gemachten Men-

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A. Einleitung

schenbild, ist reichhaltig genug, um daraus – durchaus verschiedene – Elemente in das eigene Denken zu integrieren. Es geht also weniger um eine historische Rekonstruktion und eine Einordnung in die vielfältigen geistigen Einflüsse, sondern um eine Lektüre aus heutiger Sicht, die das Interessante und für die eigene Haltung Verwendbare herausarbeitet. Ein Beispiel mag die gut 270 Jahre alte Behauptung Humes sein, die sich wie viele Kommentare zur Finanzkrise 2008 ff. liest: „Nur die Begierde, Güter und Besitz für uns und unsere nächsten Freunde zu erlangen ist unersättlich, andauernd, allgemein verbreitet und unmittelbar zerstörend für die Gesellschaft. Es gibt kaum jemand, der nicht von ihr getrieben wird, und es gibt niemanden, der nicht Ursache hätte sie zu fürchten, wenn sie sich ohne Einschränkung entwickelt und ihren ersten und natürlichsten Regungen folgt.“ Dies ist eine anthropologische Aussage und hat damit von vornherein auch den Anspruch, nicht nur für sein zeitliches und lokales Umfeld 1740 zu gelten. Die Anthropologie der Aufklärung schaute sehr wohl auf Vergangenheit und Gegenwart, aber auch in die Zukunft. Wie wir die Vergangenheit interpretieren, interpretiert mancher Text aus früheren Zeiten auch unsere Gegenwart. Dieser Aspekt wird am Ende zusammenfassend für die drei Autoren aufgegriffen und eine Position bezogen, die die produktive Tragfähigkeit der Anthropologie der Aufklärung für die heutige Zeit behauptet. Ihre Gedanken werden also als Material zum Weiterdenken benutzt, so wie sie es mit einer Fülle früherer Autoren gehalten und jederzeit für ihr eigenes Werk gehofft haben. Abschließend wird eine kleine Theorie der Grundlagen unseres Verhaltens in Gesellschaften wie unserer entwickelt und daraus ein Zusammenhang von Anthropologie und Moral skizziert, denn es geht ja immer auch um die Frage: Was können und sollen wir tun? Man wird vielen Details und größeren Zusammenhängen begegnen, die bei einem Blick auf sich selbst und das eigene Umfeld durchaus wieder erkannt werden dürften. Und man kann diese Behauptungen jederzeit an sich selbst, der Beobachtung seiner Mitmenschen und der Verarbeitung alles Menschlichen in der Literatur und in Filmen überprüfen. Man



II. Drei Beziehungen15

kann die erzählenden Künste sehr wohl als die facettenreiche Entfaltung einer sich dahinter verbergenden Anthropologie betrachten. Sie liefern wohl eher die Empirie zur Theorie als die doch eng beschränkten persönlichen Perspektiven. Es wird also ein Orientierungswissen präsentiert, das kein Dogma sein will, sondern eine Anregung zum eigenen Denk-Gebrauch und der eigenen Positionsbestimmung. Und es gibt noch einen Aspekt, der die Konzentration auf Hume, Rousseau und Kant reizvoll macht. Sie standen als Zeitgenossen in sehr verschiedenen Beziehungen zueinander. Persönlich begegnet sind sich nur Hume und Rousseau. Keiner von beiden hat in den Schriften des anderen irgendwelche Spuren hinterlassen. Es war ein intellektuelles Nicht-Verhältnis. Kant hingegen hat von den Werken der beiden Älteren erheblich profitiert, ja verdankt ihnen entscheidende Anstöße. Sie waren alles andere als ein intellektueller Zirkel, aber ihr Denken geht im jüngeren Kant eine fruchtbare Korrespondenz ein. Es wäre allerdings lächerlich, Kant etwa nur auf die Rolle eines Nachfolgers von Hume reduzieren zu wollen oder diesen als einen Stichwortgeber für Kant. Und Rousseau war nicht nur als Person, sondern mit seinen Thesen die Provokation dazwischen, die er für viele bis heute geblieben ist.

II. Drei Beziehungen Kant war zwölf Jahre jünger als Rousseau, dieser nur ein Jahr jünger als der 1711 geborene Hume. Hume starb 1776 im Alter von nur fünfundsechzig Jahren, Rousseau 1778, nur ein Jahr älter als Hume. Kant hat beide um eine beträchtliche Spanne überlebt und noch die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit der Menschenrechtserklärung 1776 und die Französische Revolution 1789 mit den folgenden Turbulenzen als Zeitgenosse erlebt, als er 1804 mit achtzig Jahren starb. Entsprechend zeitversetzt war die Phase der Publikation ihrer wichtigsten Werke. Humes kühner „Traktat über die menschliche Natur“ erschien schon 1738 und wegen totaler Erfolglosigkeit dessen überarbeiteter erster Teil zehn Jahre später erneut. Rousseau

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A. Einleitung

wurde 1750 mit einem Schlag berühmt und schrieb sein wichtigstes „philosophisches“ Werk 1755, als Kant gerade erste publizistische Gehversuche machte. Im Jahr des zunächst völlig erfolglosen Erscheinens der ersten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 waren Hume und Rousseau schon tot. Sie hätten sich treffen können, wenn Kant zu Weihnachten 1765 nach Paris gereist wäre, wo Hume und Rousseau sich aufhielten. Hume hatte seit dem Erscheinen des „Émile“ 1762 brieflichen Kontakt zu Rousseau, der sich in einer schwierigen Lage befand, denn das Pariser Parlament und seine Heimatstadt Genf hatten auf Betreiben des Erzbischofs von Paris einen Haftbefehl ausgestellt, weil sie besonders in dem berühmten Teil „Bekenntnisse des Savoyischen Vikars“ schwere Angriffe auf die Kirche entdeckten. In Paris und Genf wurden die aufgefundenen Exemplare des „Émile“ öffentlich verbrannt. Für Hume war es ein Akt der Solidarität unter Intellektuellen, verbunden mit gehörigem Respekt vor der Leistung Rousseaus. Er bot ihm Zuflucht in seinem Haus in Edinburgh an, darüber hinaus eine eventuelle Pension durch den gerade gekrönten Georg III. Hume war 1763 als Gesandtschaftssekretär an die englische Botschaft in Paris gekommen und ein hoch geschätzter Gast in den Pariser Salons. Er weilte nach einem kurzen Zwischenspiel bei einem Bristoler Kaufmann, der auch am lukrativen Sklavenhandel beteiligt war, schon 1734 bis 1737 in Paris, Reims und La Flèche, wo er den „Traktat über die menschliche Natur“ verfasste. Hume war durch sein philosophisches Werk, viele kleinere Essays zu Fragen von Politik, Moral und Ökonomie und die ersten Bände seiner „History of England“, die zwischen 1754 und 1764 erschien, eine unbestrittene Größe in England und in Frankreich geworden. Rousseau nahm die Einlandung nach England erst 1765 an und geriet zuvor, weil er zunächst Zuflucht in Môtiers gefunden hatte, unter den Schutz Friedrichs des Großen, weil das Fürstentum Neuenburg (Neuchâtel) seit 1707 zur preußischen Herrschaft gehörte. Auch Friedrich, der „Philosophenkönig“, war ein großer Verehrer nicht nur Voltaire’s, sondern auch Rousseaus. Sein Statthalter war der gebürtige Schotte Georg Keith, den Rousseau voller Verehrung seinen



II. Drei Beziehungen17

„Vater“ nannte und dem nach Berlin zu folgen er 1765 entschied, als es auch hier kirchlich geschürten öffentlichen Aufruhr gegen seine Person gab. Jedenfalls traf er über Straßburg am 17. Dezember in Paris ein, das er am 4. Januar zusammen mit Hume nach England wieder verließ. Rousseau war im Gegensatz zu dem allseits beliebten Hume ein überaus schwieriger Zeitgenosse. Nicht zuletzt die Tatsache, dass er die insgesamt fünf Kinder, die er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse bis anfangs der 1750er-Jahre hatte, etwas beschönigend „der öffentlichen Erziehung übergab, da ich sie selber nicht zu erziehen vermochte“, (Bekenntnisse S. 502) weist auf einen problematisch narzisstischen Charakter hin. So scheiterte nach anfänglichem Einvernehmen sehr schnell auch die Beziehung zu Hume, obwohl Hume sich selbstlos um die Unterbringung Rousseaus in England auf dem Land in Staffordshire kümmerte und sogar eine Vorstellung bei Georg III. organisierte. Rousseau zog es jedoch vor, sich um seinen Hund Sultan zu kümmern. Jedenfalls bezeichnete Hume im Frühjahr 1766 in Briefen an französische Freunde, die ihm alle aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen das Desaster vorausgesagt hatten, Rousseau als ein Ungeheuer, „den schwärzesten und abscheulichsten Schurken, nicht zu vergleichen mit allem, das es gegenwärtig auf Erden gibt, und tiefsten Herzens schäme ich mich all dessen, was ich je zu seinen Gunsten geschrieben habe.“ (Streminger S. 500) Ende Mai 1767 ist Rousseau zurück in Paris und schreibt weiter an seinen „Bekenntnissen“, die erst posthum 1781 veröffentlicht werden. Sie enden ohne die Auseinandersetzung mit Hume damit, „wie ich im Glauben, nach Berlin aufzubrechen, in Wirklichkeit nach England abreiste …“ (Bekenntnisse S. 900) Wäre es dazu gekommen, und Kant hätte sich, wenn schon nicht nach Paris, wenigstens nach Berlin getraut … – die Dinge lagen nun einmal nicht so. Aber, dies muss hier angemerkt werden, die Dinge lagen ebenfalls nicht so, wie auf dem Mitte des 19. Jahrhunderts von Christian Rauch geschaffenen Reiterstandbild des Großen Friedrich, das Unter den Linden auf das ehemalige und zukünftige Schloss blickt: Unter dem Pferdeschwanz disputieren Kant und Lessing miteinander. Sie haben tatsächlich nie miteinander verkehrt. Rauch schuf übri-

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A. Einleitung

gens auch das Bronzestandbild Kants, das 1864 in Königsberg aufgestellt wurde. Statt also zu reisen, hatte Kant im Oktober 1765 an seinen „Allerdurchlauchtigsten Großmächtigsten König, Allergnädigsten König und Herrn“ einen Brief geschrieben und wegen seiner „misslichen Subsistenz“ um die Stelle eines „Subbibliothecarius“ gebeten. (Briefe S. 25 f.) Kant kannte zu dieser Zeit offenkundig den ersten Diskurs Rousseaus „Über Kunst und Wissenschaft“ als Antwort auf die Preisfragen der Akademie von Dijon 1750, der Rousseau zur Berühmtheit gemacht hatte. Auf einem Durchschussblatt seines Handexemplars der 1764 gedruckten „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ findet sich die handschriftliche Notiz: „Es war eine Zeit, da ich glaubte dieses allein (den zuvor erwähnten „Durst nach Erkenntnis“, VB) könne die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren …“ (Moralphilosophie S. 350) Rousseau hat mit seinem ersten Diskurs ganz offenkundig bei Kant „das Gefühl von der Schönheit und Würde der menschlichen Natur“ geweckt, wie es im unmittelbaren gedruckten Umfeld der Notiz in den „Beobachtungen“ heißt. (Beobachtungen S. 23) In einer seiner ersten Moralvorlesungen heißt es dann laut einer Mitschrift wohl aus dem Wintersemester 1774 / 75: „Warum soll ein Bürgersmann … nicht eben so viel Werth haben als der Gelehrte? … Rousseau hat in so weit Recht, aber darin fehlt er sehr, wenn er vom Schaden der Wissenschaften redet.“ (Moralphilosophie S. 351 f.) Laut einer weiteren Vorlesungsnachschrift wohl aus dem folgenden Wintersemester sagte Kant zum zweiten Diskurs Rousseaus „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ aus dem Jahr 1755, der den Kern unseres Kapitels über Rousseau ausmacht: „Dieses ist ein wichtiges Stück, worüber sich schon sehr viele Autoren gewagt haben zu schreiben, unter denen Rousseau der Vornehmste ist. Was soll man von der Menschheit überhaupt urteilen? Was hat sie für einen Charackter unter den Thieren, und unter allen Wesen? Wie viel gutes und wie viel böses ist darin?“ (Brandt S. 183). Es versteht sich demnach fast von selbst, dass Kant in vielen seiner gedruckten



II. Drei Beziehungen19

Werke auf Rousseau Bezug nimmt. Außerdem wird in drei 1804 zusammen erschienenen Biografien Kants kolportiert: „Des J. J. Rousseaus Werke kannte er alle und dessen Emil hielt ihn … einige Tage von seinen gewöhnlichen Spaziergängen zurück.“ (Biografien S. 69) Außerdem: „An der Wand hing Jean Jacques Rousseau in der Studierstube“, (ebd. S. 172) während es beim ersten Biografen „J. J. Rousseaus Kupferstiche“ im Wohnzimmer als einzigem Wandschmuck im ganzen Haus waren. (ebd. S. 72) Hume zog sich 1769 endgültig nach Edinburgh zurück und konnte sich ein neues Haus leisten, um einen ihm gemäßen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Schon 1765 hat er sich diesen in einem Brief ausgemalt: „Ich hatte niemals einen großen Ehrgeiz, ich meine nach Macht und Würden; und ich bin von dem wenigen, das ich hatte, aufrichtig kuriert. Ich glaube, dass ein offener Kamin und ein Buch für mein Alter und meine Disposition die besten Dinge in der Welt sind.“ (Streminger S. 522) So ähnlich war auch die Lebenseinstellung Kants, wenngleich er durch seine pünktlichen täglichen Spaziergänge rank und schlank blieb, während der dem geselligen Speisen zugeneigte Hume eine beträchtliche Leibesfülle pflegte. Und noch etwas verband Kant nach seiner Meinung wenn schon nicht mit Hume direkt, dann doch mit Schottland: „Dass mein Großvater, der in der preussisch-lithauischen Stadt Tilsit lebte, aus Schottland abgestammt sey … war mir selbst wohl bekannt“, schrieb er am 13. Oktober 1797 an den Hochwürdigen Herrn Bischof. Vor etwa hundert Jahren seien viele Schotten nach Schweden und ins Memelland ausgewandert, wie die dort noch vorhanden schottischen Namen bewiesen, argumentiert Kant. (Briefe S. 253) Tatsächlich gab es in Edinburgh ein Cant-Anwesen, und der 1685 verstorbene Andrew Cant war Rektor der Universität gewesen. Ob hier allerdings die Vorfahren Kants zu suchen sind, ist historisch nicht belegt und wohl kaum noch zu rekonstruieren (Streminger S. 76) Zu belegen ist aber der nachdrückliche intellektuelle Einfluss, den Hume auf Kant hatte. Kant besaß ein Exemplar der 1755 unter dem Titel „Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntnis“ erschiene-

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A. Einleitung

nen Übersetzung von Humes 1748 publizierten „Enquiry Concerning Human Understanding.“ (P S. XXXVI) Diese „Untersuchung“, wie sie später übersetzt wurde, war Humes Versuch, in einer verständlicheren Form für den ersten Teil seines zehn Jahre zuvor erschienenen „Traktats“ doch noch die Aufmerksamkeit zu finden, die diesem vollständig versagt geblieben war. Kant bezog sich auf Hume als großen Anreger ausdrücklich 1783 in seinen „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“, die er der zwei Jahre zuvor erschienenen „Kritik der reinen Vernunft“ nachschickte, nicht zuletzt, um dieses Hauptwerk verständlicher zu präsentieren, weil es gleichfalls nur ein geringes und nach Kants Auffassung unangemessenes Verständnis gefunden hatte. Kants Königsberger Freund Johann Georg Hamann, der ihm auch den Rigaer Buchhändler Hartknoch als Verleger der „Kritik der reinen Vernunft“ vermittelt hatte, schrieb nach der mühsamen Lektüre der „Kritik“ 1782 an Herder jedenfalls: „Soviel ist gewiss, dass ohne Berkeley kein Hume geworden wäre, wie ­ohne diesen kein Kant.“ (P S. XXIII) 1771 bereits hatte Hamann als Herausgeber der „Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen“ für sein Blatt das überaus eindrucksvolle Schlusskapitel des ersten Teils von Humes Traktat „Über den menschlichen Verstand“ übersetzt. Er titelte: „Nachtgedanken eines Zweiflers“ und nannte den Autor nicht, aber Kant wusste natürlich, dass es sich um Hume handelte. (Geier S. 141) In diesem Text von Hume findet sich auch eine Passage, die das Vorbild für Kants immer wieder und zu Recht zitierte komprimierte Grundfragen der Philosophie aus dem Ende der „Kritik der reinen Vernunft“ sein könnte: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Es geht um „die höchsten Zwecke der reinen Vernunft“, nachdem sie im „Feld der Erfahrungen“ und im Bereich der „spekulativen Ideen“ analysiert worden ist und nun noch daraufhin geprüft werden soll, ob sie „im praktischen Gebrauche anzutreffen sei.“ (KrV B S. 832 f.) Kant ist sich sicher, die großen Fragen gelöst zu haben, entsprechend klar und logisch formuliert er. Er hat eine Architektur der Vernunft errichtet, in der an jedem Ort der Weg ins Freie problemlos zu finden sein soll. Hume hingegen ist am Tiefpunkt „allen Glau-



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bens und allen Vertrauens auf unsere Schlüsse“ angekommen. Seine Kaskade der zu lösenden Fragen springt dagegen vergleichsweise ungeordnet im gesunden Menschenverstand umher, ist aber in ihrer scheinbaren Ratlosigkeit ebenfalls von eindrucksvoller Schönheit: „Wo bin ich, oder was bin ich? Aus welchen Ursachen leite ich meine Existenz her und welches zukünftige Dasein habe ich zu hoffen? Um wessen Gunst soll ich mich bewerben und wessen Zorn muss ich fürchten? Was für Wesen umgeben mich? Und auf wen wirke ich oder wer wirkt auf mich?“ (Traktat I S. 347) Es besteht kein Zweifel, dass Kants Neubegründung einer Metaphysik „als Naturanlage der Vernunft“ (P S. 156) in den drei großen Kritiken Hume den entscheidenden Anstoß verdankt, wie er selbst in den „Prolegomena“ formuliert. „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab … Wenn man von einem gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein anderer hinterlassen hat, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kam, dem man den ersten Funkten dieses Lichts zu verdanken hatte.“ (P S. 9) Was aber war der „Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden“? (P S. 5 f.) Es war Humes Verknüpfung von Ursache und Wirkung durch Erfahrung, die Kant allerlei Risiken ausgesetzt sah, die reine Wahrheit zu verfehlen, und die seinem konsequenten Denken niemals genügen konnte. Was tat Hume also in Kants kraftvoller Zusammenfassung und woran scheiterte er? Er „forderte die Vernunft …auf, ihm Rede und Antwort zu geben, mit welchem Recht sie sich denkt: dass etwas so beschaffen sein könne, dass, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas Anderes notwendig gesetzt werden müsse; denn das sagt der Begriff der Ursache. Er bewies unwidersprechlich, dass es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus Begrif-

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fen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas Anderes notwendigerweise auch sein müsse, und wie sich also der Begriff einer solchen Verknüpfung a priori einführen lasse. Hieraus schloss er, dass die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge, dass sie sich fälschlich für ihr eigenes Kind halte, da er doch nichts anderes als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die, durch Erfahrung beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Asso­ ziation gebracht hat und eine daraus entspringende subjektive Notwendigkeit, d. i. Gewohnheit, für eine objektive Einsicht unterschiebt. Hieraus schloss er, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdann bloße Erdichtungen sein würden, und alle ihre vorgeblich a priori bestehenden Erkenntnisse wären nichts als falsch gestempelte Erfahrungen, welches ebensoviel sagt als: es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben.“ (P S. 6) Kant merkt hierzu in einer Fußnote an, dass durch diese Kapitulation Humes „der Vernunft die wichtigsten Aussichten genommen werden, nach denen allein sie dem Willen das höchste Ziel aller seiner Bestrebungen ausstecken kann.“ Die Vernunft waltet hier als eine dem Menschen gegenübertretende, unabhängige Instanz, die letztlich objektive Einsichten garantiert und alle Wahrheit vom subjektiven Faktor befreit. Wie Menschen offenkundig denken, deren Strukturen Hume abzulauschen versucht, ist für Kant völlig uninteressant, weil er die höhere Instanz der Vernunft hat, die das Denken denkt. Sie ist allerdings kein quasi göttliches Geheimnis, sondern offenbart sich im Denken selbst, wenn es auf seine höchsten, von allen Kontaminationen der Wirklichkeit befreiten Prinzipien widerspruchsfrei zurückgedacht werden kann. Metaphysik aber bestehe, so Kant, „ganz und gar“ daraus, dass „der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt“. Aus diesem „einzigen Prinzip“ habe er durch Deduktion weiterer Begriffe „endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft“ vollständig bestimmt, was „meinem scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien.“ (P 10)



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Kant bezeugt seinem Inspirator durchaus Respekt, der aber dem Skeptizismus verfallen sei, „einer Denkungsart, darin die Vernunft so gewalttätig gegen sich selbst verfährt,“ (P 27) und nimmt sogar dessen verzweifelte Metapher vom gestrandeten Schiff aus den „Nachtgedanken eines Zweiflers“ auf (vgl. Traktat I, 341), das getrost „verfaulen mag, stattdessen es bei mir darauf ankommt, ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompass versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es sich gut dünkt.“ (P 12) Auch dies ist natürlich eine bildreiche Metapher, aber alle Künste des Piloten, die Seekarten und auch der Kompass verdanken sich der Erfahrung von Menschen damit, wie ein Schiff auf das Ruder reagiert, wie Küstenlinien verlaufen und wo Untiefen lauern, wie eine magnetische Nadel sich stets nur in eine Richtung ausrichtet usw. Ob die Möglichkeit, derartige Beobachtungen und Erfahrungen zu machen, dem Verstand gleichsam angeboren ist oder ihm durch den Vorgang erst eingeprägt wird, sei vorerst dahingestellt. Eine philosophisch überzeugende Wahrheit muss nicht zugleich die Wahrheit anderer Wissenschaften sein.

B. David Hume (7. Mai 1711 – 25. August 1776) Traktat über die menschliche Natur I. Wie wir denken – Traktat I „Über den Verstand“ 1. Das Maß aller Dinge Hume stellt sich zu Beginn seiner philosophischen Arbeit ähnlich wie Rousseau ganz elementar die Frage nach der Natur des Menschen. Bei Kants ersten Arbeiten dagegen tritt diese Frage aller Fragen zugunsten wissenschaftlicher Spezialfragen seiner Zeit in den Hintergrund und wird erst spät gestellt. Humes Motivation, dieser Frage auf den Grund zu gehen, mag im Lichte der späteren, immer differenzierteren Wissenschaften vom Menschen, fast naiv erscheinen. Die Natur des Menschen, sein Wesen, erfassen zu wollen, scheint angesichts des Alltagswissens, das heutzutage jeder mit sich trägt, zum Scheitern verurteilt oder, schlimmer noch, der Lächerlichkeit anheim fallen zu müssen. Denn jede Aussage „der Mensch ist so“ wird fast zwangsläufig die Erwiderung „oder so“ provozieren. Aber für jemanden, der mit Anfang zwanzig über diese Frage nachzudenken begann und sich mit Bacon (1561–1620), Newton (1643–1727) und besonders John Locke auseinandergesetzt hatte, dessen „Essay concerning human understanding“ 1689 erschienen war, lag hier eine zukunftsträchtige Aufgabe. Wie kann man eine Wissenschaft vom Menschen begründen, die genauso verlässliche Erkenntnisse liefert wie die Astronomie über das Sonnensystem und den Lauf der Gestirne? Nicht nur das menschliche Verhalten, sondern auch alles Wissen, das die Menschheit sich erarbeitet, ist von der Natur des Menschen abhängig. Mit dieser Feststellung beginnt Humes



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Traktat. Sie ist keineswegs trivial, denn man könnte ja auch davon ausgehen, dass zumindest die uns umgebende Natur ihren eigenen Gesetzen folgt, ganz unabhängig davon, ob wir sie finden und was wir davon halten. „Alle Wissenschaften haben offenbar mehr oder weniger Bezug zur menschlichen Natur. Wie sehr sie sich auch von ihr zu entfernen scheinen, alle kommen sie auf dem einen oder anderen Wege wieder zu ihr zurück. Selbst Mathematik, Naturwissenschaften und natürliche Reli­ gion sind in gewissem Maße von der Lehre vom Menschen abhängig; auch sie sind ja noch Gegenstände menschlicher Erkenntnis; das auf sie bezügliche Urteil ist Sache menschlicher Kräfte und Fähigkeiten.“ (I 2) Es war noch nicht so lange her, dass alles von Gott bestimmt gedacht wurde und jeder Zweifel daran tödlich enden konnte. Und die Kirche und ihre Ideologen waren immer noch mächtig und kompromisslos, auch in Schottland, wie Hume später zu spüren bekam. Das Hauptmotiv der Aufklärung, sich von diesen Fesseln zu befreien und auf die Welt so zu schauen, wie sie sich unseren Sinnen tatsächlich darbietet, war für Hume allerdings kein existenzielles Risiko mehr, sondern nur ein geistiges. Auch die Natur des Menschen kann nicht durch das fleißige Studium der Bibel und ihrer Exegeten (oder eines anderen dogmatischen Systems) aufgeklärt werden, sondern nur durch das genaue Beobachten seiner Wirklichkeit und, nicht zu vergessen, das scharfe Nachdenken darüber, wie sie wohl plausibel zu erklären sei. „Wie die Lehre vom Menschen die einzig feste Grundlage für die anderen Wissenschaften ist, so liegt die einzig sichere Grundlage, die wir dieser Wissenschaft geben können, in der Erfahrung und Beobachtung … Das eigentliche Wesen des Geistes ist ebenso unbekannt wie das der Körper außer uns. Darum, scheint mir, können wir auch von den Fähigkeiten und Eigenschaften des Geistes, ebenso wie von denen des Körpers, auf keinem anderen Wege ein Bild gewinnen, als auf dem der sorgfältigen und genauen Erfahrung, und der Beobachtung der besonders gearteten Wirkungen, die der Geist unter verschiednen Umständen und in verschiedenen Situationen zutage treten lässt.“ (I 4 f.) Es ist wichtig festzuhalten, dass es Hume nicht um ein System von dogmatischen Sätzen geht, die aus der Philosophie

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seit der Antike jederzeit zusammengesucht werden könnten, sondern um die systematische Beschreibung des tatsächlichen Denkens und Verhaltens der Menschen – wie letztlich er als Autor es wahrnimmt. Kein aufgewärmtes Bücherwissen also, sondern Orientierung an der normalen Lebenswelt. Das schließt die ­Nutzung der Argumente anderer Philosophen ebenso wenig aus wie die Festlegung auf Gesetze und Prinzipen, die dem Ganzen Halt und Struktur geben. Hume versteht sich schließlich als ­Philosoph und nicht als Unterhaltungsschriftsteller. Hume ist nicht der Erfinder dieses empirischen Ansatzes, aber ein nicht unbedeutendes Mitglied der Galerie der Ahnherren dieses Durchbruchs der Aufklärungszeit: nach Hobbes (1588–1679), Descartes (1596–1650), vor allem Locke (1632– 1704) mit seinem 1689 erschienenen „Essay concerning human understanding“ und dem späteren Bischof Berkeley (1685– 1753), dessen philosophisches Hauptwerk „Treatise concerning human knowledge“ ein Jahr vor der Geburt Humes erschienen war. Nicht zufällig lautet der vollständige Titel von Humes Traktat „A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects.“ Aus unerfindlichen Gründen hat Theodor Lipps, der deutsche Übersetzer aus dem Jahre 1895 den Untertitel weggelassen: „Ein Versuch, die auf Erfahrung basierende Methode des Schlussfolgerns auf Gegenstände der Moral anzuwenden.“ Hume gibt dieser Denkmethode eine konsequente und radikale Wendung, mit der die philosophische Schwester der Empirie, die Vernunft als letzte Instanz, ihren nahezu gottgleichen Platz verliert. Konsequent ist dies, weil man die Vernunft selbst nicht beobachten kann, sondern nur Verhalten und Erkenntnisse, als deren Ursache man die abstrakte Instanz Vernunft vermuten mag. Sie ist gleichsam eine Erklärungschiffre, die man heranziehen kann oder auch nicht, je nachdem, ob man das Geschehen positiv oder negativ einschätzt. Zumindest bedarf sie weiterer Parameter, um überhaupt einen Inhalt zu bekommen, wobei bei menschlichen Angelegenheiten das rein persönliche Interesse nicht weit zu sein pflegt. Mit anderen Oberbegriffen, sagen wir Stolz oder Liebe, verhält es sich nicht so, denn der von ihnen bezeichnete menschliche Zustand ist relativ eindeutig zu



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beobachten und zu beschreiben. Und eben deshalb ist diese Wendung auch radikal, weil sie die menschliche Natur nicht dem Diktat eines Begriffes aussetzt, der die Garantie für die Verbesserung der Welt darstellen soll und in seiner erwünschten Allmacht die logische Stelle Gottes eingenommen hat. Statt einer solchen Denkschablone sieht Hume Impulsivität und Gefühl, Leidenschaft und Launenhaftigkeit im tatsächlichen menschlichen Verhalten, das wenig Anlass gibt, den Menschen kraft seines Verstandes auf dem Weg zur Optimierung seiner Welt zu begreifen. Schon weil die Vernunft für Kant die entscheidende Rolle spielt, kommen wir an verschiedenen Stellen auf den Vernunftbegriff bei Hume zurück. „Keine Rede ist in der Philosophie und auch im täglichen Leben üblicher, als die Rede vom Kampf zwischen Affekt und Vernunft. Dabei gibt man der Vernunft den Vorzug, und behauptet, dass die Menschen nur insoweit tugendhaft seien, als sie sich ihren Geboten fügen … Es gibt kein reicheres Feld, sowohl für metaphysische Argumente, als auch für populäre Deklamationen, als dieser angebliche Vorrang der Vernunft vor den Affekten … Um die Hinfälligkeit dieser ganzen Philosophie zu zeigen, werde ich versuchen, zu beweisen, erstens, dass die Vernunft allein niemals Motiv eines Willensaktes sein kann; zweitens, dass dieselbe auch niemals hinsichtlich der Richtung des Willens den Affekt bekämpfen kann.“ (II 150 f.) Und wenig später folgt im gleichen Abschnitt mit der Überschrift „Von den Motiven des Willens“ die berühmte scharfkantige Formulierung: „Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.“ (II 153) Empirie also, die letztlich wie die Naturwissenschaften „eine möglichst geringe Anzahl einfachster Ursachen“ zutage fördern soll, und die Bescheidenheit eines Versuches bilden die Leitmelodie, denn „jede Hypothese, welche die letzten und ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur entdeckt haben will, sollte darum von vornherein als anmaßend und chimärisch zurückgewiesen werden.“ (I 5) Es kann also nicht um unum-

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stößliche Wahrheiten gehen, aber gleichwohl ist das Werk unverschämt im eigentlichen Wortsinne, denn Hume scheut sich nicht, eine Theorie vorzulegen, die weitgehend beansprucht, das zu leisten, was eigentlich als unmöglich gilt, nämlich letzte Auskunft über uns Menschen zu geben. Ein wenig Koketterie ist hier wohl schon am Werk, aber wie soll man den Widerspruch ausdrücken, der zwischen der eigenen Ambition, neue und wegweisende Bahnen zu beschreiten und dem Bewusstsein liegt, dass die einzige und letzte Wahrheit wohl ein Ding der Unmöglichkeit ist. Jedenfalls wenn man als Mensch die Menschen zu begreifen versucht. Nun hat es, dies sei hier eingeschoben, mit Theorien über den Menschen, sei es seine Natur oder sein sich daraus ableitendes und beobachtbares Verhalten, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften mit ihren wiederholbaren Experimenten die Besonderheit, dass ihre Aussagen grundsätzlich – man könnte auch sagen: statistisch – gelten mögen, aber niemals in jedem Einzelfall. Sie beschreiben Wahrscheinlichkeiten, die auf die übergroße Mehrzahl von Fällen zutreffen sollten, damit sie akzeptiert werden können, aber das Vorkommen ganz anderen Verhaltens zugeben müssen, ohne ihren Gültigkeitsanspruch einfach aufzugeben. Man hält aus sehr guten Gründen den Menschen für ein soziales Wesen mit entsprechend positiven Eigenschaften, die sich in seiner Fähigkeit zum Mitgefühl und Ähnlichem ausdrücken. Das hindert dieses Wesen aber keineswegs daran, in vielen Fällen ausgesprochen asozial aufzutreten oder auch andere zu massakrieren. Deshalb ist die erste Theorie nicht gleich falsch, bedürfte aber einer weiteren für den zweiten Fall, oder besser noch, einer Theorie, die beides erklären kann, aber dann vielleicht gar nichts Brauchbares mehr aussagt. Bindet man die positiven Eigenschaften an die Natur des Menschen, wird man dies auch bei den negativen tun müssen. Hume, wie auch Rousseau und Kant auf ihre Weise nehmen die Verästelungen menschlicher Möglichkeiten sehr wohl zur Kenntnis, denken aber über die unsichtbaren, ohne jeden Zweifel vorhandenen Wurzeln nach. Und sie denken über das Denken nach, das vielleicht am ehesten den Wurzeln entsprechen mag und uns zu Menschen macht.



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„Der gewöhnliche Fehler der Theorien, welche die Philosophen zur Erklärung der Tätigkeiten des Geistes aufgestellt haben, besteht darin, dass sie eine Kompliziertheit und Subtilität des Vorstellens voraussetzen, die nicht nur die geistige Fähigkeit der Tiere übersteigt, sondern auch schon die der Kinder und des gemeinen Volkes innerhalb unserer eigenen Spezies, obgleich diese doch derselben Gefühlserregungen und Affekte fähig sind, wie Leute mit dem ausgebildetsten Geist und Verstand.“ (I 238) Nicht das geschulte Denken, wie es etwa in einer Logik zu entfalten wäre, ist das Thema Humes, sondern unsere Reaktion auf unsere Welt, zu der auch das Denken gehört. Vor unseren Gefühlen und Leidenschaften als unmittelbaren Reaktionsformen sind wir alle gleich. 2. Das Modell des Geistes Jede Theorie hat einige zentrale Begriffe, die das weitere Argumentieren strukturieren. Humes Ansatz ist vorzugsweise von Locke und Berkeley geprägt. Die Schlüsselbegriffe, die er in seinem dreiteiligen „Traktat über die menschliche Natur“ (1739 / 40) zugrunde legt und auch in der späteren Neufassung des ersten Teils, der späteren „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ (1748) beibehält, sind Perceptions (Perzeptionen), Impressions (Eindrücke), Ideas (Vorstellungen) und Passions (Affekte). Wir übernehmen die deutschen Übersetzungen /  06 des „Traktats“ von Theodor Lipps, die 1895 und 1904  überarbeitet erschienen, und die Übersetzung der „Untersuchung“ von Raoul Richter, die 1907 erschien. Nur der dritte Teil des Traktats „Über Moral“ und die „Untersuchung“ liegen auch in vorzüglichen kommentierten Neuausgaben des Suhrkamp Verlages (2007) vor, denen gleichfalls die älteren Übersetzungen zugrunde liegen. (Sie werden ergänzend als „s“ mit Seitenzahl angegeben) Mit den etwas erweiterten Bedeutungen Bewusstseinszustände oder -inhalte, Eindrücke oder prägende Wahrnehmungen und Erlebnisse, Vorstellungen und Gedanken oder Ideen und Affekte oder Gefühle und Leidenschaften hat man den Rahmen der

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Begriffe durchaus auch abgesteckt. Hume selbst hat in einer Fußnote angemerkt, dass er „impressions“ und „ideas“ nicht im üblichen Sinne – und damit meinte er Locke – gebrauche, aber leider keine passenderen Begriffe kenne. Dass die Verwendung seiner zentralen und weiterer Begriffe nicht durchgehend strengsten Maßstäben an Präzision genügt und dass mancherlei Verständnis- und Interpretationsschwierigkeit im behandelten Gegenstand selbst liegen mag, sei hier nur nebenbei angemerkt. Betrachten wir also die Begriffe wie einen großen Baum auf einem Hügel, der je nach Tages- und Jahreszeit und unserem Standort verschieden aussieht, aber für uns doch immer der Baum bleibt. Hume hat sich mit den logischen Schwierigkeiten dieses hier als Metapher gebrauchten Bildes ausführlich auseinandergesetzt, wie zu zeigen sein wird. Ob dem weiten Feld der menschlichen Natur überhaupt mit einem strikten Begriffsapparat gerecht zu werden ist, der keinerlei Varianzen seiner Grundbedeutungen zulässt, sei dahingestellt. Denn dieses weite Feld abzustecken ist ja das Ziel Humes, nicht etwa nur die Prozesse des Denkens, der Emotionen und des gesellschaftlichen Verhaltens jeweils für sich, sondern letztlich in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Ein wahrlich kühnes Unterfangen, das heutzutage von Einzelwissenschaften mit ihren Bereichstheorien bearbeitet wird, die nur sehr begrenzt in Verbindung miteinander treten. Es geht also darum, wie der Mensch die Welt um ihn herum zunächst wahrnimmt und dann verarbeitet, wie „neue“ Ideen entstehen und welche Rolle dabei seine Gefühle spielen. Womit beginnen? Was wäre die erste Frage, die man stellen kann, wenn man eine Systematik der menschlichen Natur aufbauen will? Humes erstes Kapitel hat die Überschrift „Von dem Ursprung unserer Vorstellungen“. Eine Alternative hätte vielleicht ein Anfangskapitel über unsere Sinneswahrnehmungen sein können, denn schließlich fangen wir mit diesem Material an zu funktionieren. Aber für Hume sind sie kein Thema, weil „ihre letzte Ursache, meiner Meinung nach, durch menschliche Vernunft nicht zu erkennen (ist); es wird stets unmöglich sein, mit Gewissheit zu entscheiden, ob sie unmittelbar durch den Gegenstand veranlasst, oder durch die schöpferische Kraft des Geistes hervorgebracht werden, oder endlich von dem Urheber



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unseres Seins herstammen.“ (I 112 f.) Betrachtet man die Sinne, kommt man um die äußere Welt, die sie uns zuzuspielen scheinen, kaum herum. Die Natur des Menschen liegt aber in seiner inneren Welt, ganz gleich ob diese ein wahres Abbild der äußeren Welt oder eine Sinnestäuschung darstellt. Was sich innerhalb des Bewusstseins – und nur da – abspielt, ist Humes Thema. Also beginnt der Traktat mit folgenden Definitionen: „Die Perzeptionen des menschlichen Geistes zerfallen in zwei Arten, die ich als Eindrücke und Vorstellungen bezeichne. Der Unterschied zwischen ihnen besteht in dem Grad der Stärke und Lebhaftigkeit, mit welcher sie dem Geist sich aufdrängen und in unser Denken oder Bewusstsein eingehen. Diejenigen Perzeptionen, welche mit größter Stärke und Heftigkeit auftreten, nennen wir Eindrücke. Unter diesem Namen fasse ich alle unsere Sinnesempfindungen, Affekte und Gefühlserregungen, so wie sie bei ihrem erstmaligen Auftreten in der Seele sich darstellen, zusammen. Unter Vorstellungen dagegen verstehe ich die schwachen Abbilder derselben, wie sie in unser Denken und Urteilen eingehen.“ (I 9 f.) Einfacher hat Hume den Oberbegriff der Perzeptionen im kurzen Rückblick zu Beginn des Traktats III erklärt: „Alle die Tätigkeiten des Sehens, Hörens, Urteilens, Liebens, Hassens und Denkens fallen unter diese Bezeichnung. Der Geist kann sich in keiner Weise betätigen, die nicht unter den Begriff der Perzeptionen gebracht werden könnte.“ (III 196, s 14) Alles, was sich im Geist – oder, so würde man heute sagen, im Gehirn – abspielt, sei es der Anblick eines Gegenstandes, die Bewertung von etwas, ein Gefühlszustand oder das weite Feld des Denkens überhaupt, sind Perzeptionen. Damit ist natürlich die Außenwelt aktiv als Korrespondenzpartner einbezogen, aber nur als Widerlager der inneren Vorgänge. Humes Blick ist vergleichbar dem des Neurologen auf den Bildschirm seines Messgerätes, das die Aktivitäten in Hirnregionen sichtbar macht. Die Bilder oder Aufgabenstellungen, die der Proband sieht, sind dort selbst natürlich nicht zu sehen. Aber der Zweck des Versuches ist, eine Relation zwischen Hirnaktivität und Auslöser herzustellen. Humes Modell belässt es bei der Beschreibung der Aktivität des Geistes, wie immer der Auslöser beschaffen sein mag.

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Eigentlich ist der Oberbegriff Perzeption keine Definition, die irgendeinen Bereich von einem anderen abgrenzt, sondern nur eine grobe Markierung des Themas, das eben nicht die Physiologie oder Biologie oder die Logik ist, sondern auf ein ganzheitliches Verständnis der geistigen – vom Gehirn kontrollierten – Anstrengungen des Menschen zielt. Die Unterteilung der Funktionsweise des Geistes in Eindrücke und Vorstellungen nur nach Graden ihrer Intensität und nicht nach säuberlich zu trennenden Sinneseindrücken auf der einen und Denkprozessen auf der anderen Seite ist bemerkenswert. Das Denken ist weniger „eindrücklich“. Der menschliche Geist wird nicht von vornherein in verschiedene funktionale Bereiche zergliedert, sondern als geschlossene Einheit betrachtet. Er ist nur als Ganzes, nichts als Summe von Teilen zu begreifen. Da das Ganze naturgemäß komplex und nicht in einen oder wenige Begriffe zu fassen ist, muss seine Darstellung notgedrungen in verschiedene Elemente zerlegt werden, die nur scheinbar ein Eigenleben führen. Aus heutiger Sicht betrachtet ist es gleichsam der Versuch, gar nicht erst eine Unterscheidung zwischen Psychologie und Neurologie aufkommen zu lassen. Die Eindrücke sind entsprechend nicht nur von außen in den Geist eindringende Ereignisse oder Wahrnehmungen, sondern können auch intern entstehen. Hume unterscheidet zwei Arten: Sinneswahrnehmungen (impressions of sensations) und Selbstwahrnehmungen (impressions of reflexion). Er kommt damit seiner Absicht, die Natur des Menschen insgesamt zu beschreiben und nicht bei einer Theorie der Erkenntnis äußerer Gegenstände stehen zu bleiben, ein deutliches Stück näher. Mentale Zustände gehören nicht nur dazu, sondern sind für Hume geradezu konstitutiv. Wie die Sinne die äußere Welt wahrnehmen, wie also Augen oder Ohren funktionieren, ist ein Fall für Anatomen. Hume interessiert sich gleichsam nur für das von ihnen produzierte Ergebnis als Geisteszustand, konzediert aber natürlich ihre Brückenfunktion zur äußeren Welt. Die Abfolge der Ereignisse ist zugleich das Kernmodell des Geistes bei der Arbeit: „Ein Eindruck wirkt zunächst auf die Sinne ein und lässt uns Hitze oder Kälte, Hunger oder Durst,



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Lust oder Unlust der einen oder anderen Art empfinden. Von diesem Eindruck erzeugt der Geist ein Abbild, welches bleibt, nachdem der Eindruck aufgehört hat; dieses Abbild nennen wir Vorstellung. Die Vorstellung der Lust oder Unlust ruft aber weiterhin, wenn sie in der Seele von neuem entsteht, neue Eindrücke – des Verlangens und der Abneigung, der Hoffnung und Furcht – hervor, welche im eigentlichen Sinne Eindrücke der Selbstwahrnehmung genannt werden können, weil sie (unmittelbar) in derselben entstanden sind. Diese werden wieder von der Erinnerung und der Einbildungskraft nachgebildet, werden also zu Vorstellungen, welche vielleicht ihrerseits wiederum andere Eindrücke und Vorstellungen hervorrufen. Die Eindrücke der Selbstwahrnehmung gehen darnach (vielfach) nur den ihnen entsprechenden Vorstellungen voran, während sie Vorstellungen der Sinneswahrnehmung nachfolgen und in ihnen ihren Ursprung haben.“ (I 17 f.) Es ist die Empfindung in uns, nicht ihre Ursachen außerhalb von uns. Es ist nicht die Kälte der Luft, die man messen kann, sondern die Tatsache, dass wir frieren. Bekanntlich kann es einen auch frösteln, wenn es draußen warm ist, wenn man sich etwas Schreckliches vorstellt, gleichsam wie einen Gegenstand vor sich stellt. Die Erinnerung schaufelt fortwährend Eindrücke ins Bewusstsein, die Einbildungskraft ist nicht an die Reihenfolge und Form der ursprünglichen Eindrücke gebunden, sondern ihr Prinzip ist „die Freiheit … ihre Vorstellungen umzustellen und zu ändern.“ (I 20) So ungewöhnlich diese Herangehensweise erscheint, so plausibel ist sie doch. Was uns mit unmittelbarer Macht ergreift und eine gewisse Zeit dominiert, und dazu gehören auch Gefühle, hat eine andere Bedeutung als das spätere Nachdenken, mag es auch Millisekunden später einsetzen, bei dem noch weitere Elemente als „der erste Eindruck“ dazu kommen. Hume schließt keineswegs aus, dass auf dieser Skala der Intensität Eindrücke und Vorstellungen sich „im Schlaf, im Fieber, im Wahnsinn oder anderen sehr heftigen Erregungszuständen“ sehr nahekommen können. (I 10) Nicht die Zergliederung des Denkens als einer rationalen Veranstaltung für sich selbst, die sich fast zufällig im menschlichen Geist abspielt, ist das Thema, sondern das ganze Spektrum menschlicher Reaktionsweisen, soweit sie

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von seinem Geist oder seiner Seele – sprich Gehirn – bearbeitet und bewusst werden. Und das werden ja wohl alle, wenn man die Möglichkeit von Instinkten beiseite lässt, deren erste Steuerungsinstanz – die Gene – Hume natürlich nicht bekannt sind. Hume nimmt auf dem Wege zu der für ihn vollständigen Darstellung des menschlichen Geistes weitere Differenzierungen vor. So gibt es natürlich „einfache und zusammengesetzte Perzeptionen. Einfache Perzeptionen oder einfache Eindrücke und Vorstellungen sind solche, welche keine Unterscheidung oder Trennung zulassen; von den zusammengesetzten gilt das Gegenteil: sie können in Teile zerlegt werden.“ (I 11) Sein Beispiel ist ein Apfel, dessen Farbe, Geschmack und Geruch verschiedene unterscheidbare Eigenschaften sind. Hume braucht diese durchaus plausible Unterscheidung für den entscheidenden Schritt seiner Argumentation. Eindrücke und ihre schwachen Abbilder, die Vorstellungen, ähneln sich natürlich, denn „wenn ich meine Augen schließe und an mein Zimmer denke“, dann sind Vorstellung und Eindruck mehr oder weniger deckungsgleich und nur unterschiedlich intensiv. „Alle Perzeptionen des menschlichen Geistes (sind) doppelt vorhanden.“ (I 11) Allerdings, schränkt Hume sogleich ein, kann dies nur für einfache Perzeptionen wie zum Beispiel den Anblick eines Zimmers gelten, nicht aber für zusammengesetzte. Man kann sich schließlich alles Mögliche wie das „neue Jerusalem“ mit Straßen aus Gold und Mauern aus Rubinen vorstellen, obwohl man dergleichen nie gesehen hat. Da aber zusammengesetzte Perzeptionen wie letzteres Beispiel aus einfachen Perzeptionen wie im Zimmer-Beispiel bestehen müssen, wie es die Definition unvermeidlich macht, folgt, „dass alle unseren einfachen Vorstellungen bei ihrem ersten Auftreten aus einfachen Eindrücken stammen, welche ihnen entsprechen und die sie genau wiedergeben.“ (I 13) Dies ist der Angelpunkt, dessen weitere Überprüfung und Differenzierung der Zweck des ersten Buches „Über den Verstand“ als Eröffnung des dreigliedrigen „Traktats über die menschliche Natur“ ist, wie Hume selbst betont. Oder noch präziser die sogenannte Copy-These kurz darauf: „Unsere Vorstellungen sind Abbilder (copies) unserer Eindrücke.“ (I 16). In



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dem späteren Versuch, der „Untersuchung über den menschlichen Verstand,“ seiner Theorie größere Aufmerksamkeit durch größere Verständlichkeit zu sichern, heißt es dann: „Ob nun gleich das Denken diese unbegrenzte Freiheit zu besitzen scheint, so werden wir doch bei näherer Untersuchung finden, dass es in Wirklichkeit durch sehr enge Grenzen eingeschlossen ist und all diese schöpferische Kraft des Geistes auf weiter nichts hinauskommt als auf die Fähigkeit der Verbindung, Umstellung, Vermehrung oder Verminderung des Stoffes, den uns Sinne und Erfahrung liefern“. (U 19, s 28) Damit lässt Hume von der selbstschöpferischen Attitüde des Homo sapiens qua Verstand und Vernunft vielleicht ebenso wenig übrig wie hundert Jahre später Darwin auf andere Art. Der menschliche Geist ist auf seine Art nur, was ihm aus der Welt zugänglich wurde und „Eindruck“ gemacht hat, kein Schöpfer aus eigener Kraft. Der Mensch ist Gefangener seiner Welt, besonders seiner nachhaltigen Erlebnisse als Spielmaterial seiner Fantasien und Urteile. Er wird, anders ausgedrückt, von seinen Erfahrungen geprägt. Ob jeder Gedanke, wie verschachtelt auch immer, auf ein ursprüngliches Erlebnis, einen Eindruck, zurückführbar ist, scheint eine akademische Frage, die empirisch kaum zu beweisen oder zu widerlegen sein dürfte. Ob damit einem Determinismus das Wort geredet wird, der uns jenseits unserer engen individuellen Grenzen keine Chance lässt, sei zunächst dahingestellt. Zwar sind die Eindrücke, die uns von den Sinnen vermittelt werden, vornehmlich die ganz ordinäre Wahrnehmung von Gegenständen, aber das Kriterium der Intensität verleiht ihnen auch eine größere Spannweite. Man könnte sie auch Erst-Prägungen nennen, die also durch ihre Intensität nachhaltige Spuren hinterlassen und die Ursache der Vorstellungen sind, die wir uns zu einer beliebig anderen Zeit machen können. Dass Hume die Intensität von bewussten Erlebnissen zum Maßstab macht, scheint keineswegs ein exotischer Gedanke zu sein. Ein durch ein Schockerlebnis traumatisierter Mensch wird womöglich lebenslang dadurch und durch im weitesten Sinne damit zusammenhängende Dinge bestimmt. Er hat einen ersten Eindruck von etwas erhalten, was ihn nie wieder loslässt. Betrachten wir hingegen zum Beispiel eine Gewalttat im Kino, so dürfte sie in

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uns zwar Abscheu erregen, aber mit dem Ende des Films schon fast wieder vergessen sein. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes eine Vorstellung, eine Idee der Tat ohne unmittelbaren Bezug zu uns selbst. Auch die ersten Erfahrungen der Kindheit bleiben weitgehend haften und prägend. So könnte man das Erlernen der Muttersprache als einen Eindruck im Humeschen Sinne bezeichnen, weil sie auch beim späteren Erlernen neuer Sprachen in der Regel der Bezugspunkt des eigenen Denkens bleibt. Auch plötzliche oder neue Erkenntnisse gehören in diese Kategorie. Die Welt der möglichen Vorstellungen mag unendlich sein, doch gibt es einen harten Kern mächtiger Erfahrungen im Bewusstsein, die einen bestimmenden Einfluss ausüben und nicht beliebig ersetzt werden können. Als Beweis seiner Kernthese führt er Blind- oder Taubgeborene an, die ohne die Primärerfahrungen keine entsprechenden Vorstellungen entwickeln könnten, sowie als Beispiel den Geschmack einer Ananas, den man sich nur richtig vorstellen kann, wenn man die Frucht zuvor einmal gekostet hat. Und er gibt eine Ausnahme zu, die aber die Richtigkeit des allgemeinen Prinzips nicht beschädigt und keiner weiteren Beachtung wert ist: Legt man einem Probanden die gleichmäßigen Abstufungen einer Farbe von hell bis dunkel vor und spart dabei ein Element aus, so wird er das Fehlen dieses einen Tons sofort bemerken, auch wenn er diese Farbe so noch nie gesehen hat. Er kann sie sich also gleichwohl vorstellen. Hume hätte meines Erachtens diese Ausnahme leicht in sein System zurückholen können, denn Vorstellungen sind nur schwache, also modifizierte Abbilder vieler gesehener Blaus und nicht die Reproduktion der Grundfarbe Blau, sodass auch Töne vorstellbar sind, die geringfügig vom einem empirisch bekannten Blau abweichen. Außerdem könnte der vorgestellte, fehlende Farbton eine aus Helligkeit und Farbe zusammengesetzte Vorstellung sein, sodass sich aus dem einfachen Eindruck Blau und dem einfachen Eindruck Hell oder Dunkel beliebige Varianten der Farbe ergeben. Hume selbst weist diesen Weg, denn „wir können … auch Vorstellungen zweiter Ordnung bilden, welche ihrerseits Abbilder jener ersten Vorstellungen sind …Vorstellungen lassen in neuen Vorstellungen Bilder von sich entstehen.“ (I 16) Abgese-



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hen von der Schwierigkeit dieser Versuchsanordnung – man finde mal jemanden, der schwören kann, dass es etwas ganz Bestimmtes gibt, das er noch nie gesehen oder von dem er noch nie gehört hat – weist diese Ausnahme darauf hin, dass es ­Hume um ein prinzipiell plausibles Modell geht, das auch durch konstruierte Spezialfälle, die ihm zu widersprechen scheinen, nicht außer Kraft gesetzt werden kann. 3. Die äußersten Grenzen des Weltalls „Wenn nun dem Geist nichts gegenwärtig ist als Perzeptionen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon dem Geist gegenwärtig gewesen ist, so folgt, dass es unmöglich ist, eine Vorstellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrücken spezifisch verschieden wäre. Man richte die Aufmerksamkeit so intensiv als möglich auf die Welt außerhalb seiner selbst, man dringe mit seiner Einbildungskraft bis zum Himmel, oder bis an die äußersten Grenzen des Weltalls; man gelangt doch niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vorstellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Perzeptionen, welche in dieser engen Sphäre (des eigenen Bewusstseins) aufgetreten sind.“ (I 91 f.) Es mutet tautologisch an, dass im Geist nichts anderes vorhanden ist, als was in ihm vorhanden ist. Aber Hume geht es darum zu zeigen, dass im Geist selbst, das heißt potenziell in jedem Menschen, ein Reichtum schlummert, der bis an die Grenzen des Weltalls denken lässt, wenngleich diese Grenzen nur die Grenzen seines eigenen Denkvermögens sind, nicht die des Weltalls. Es ist die Einbildungskraft, die – vorzugsweise gestützt auf die Ähnlichkeit von Vorstellungen – Assoziationen herbeischafft und damit Akzentverschiebungen ermöglicht, die sich im Ergebnis als neue Erkenntnis darstellen mögen. „Eine Art magischer Fähigkeit der Seele“ ist hier am Werk, am vollkommensten in Genies vorhanden und letztlich für den menschlichen Verstand nicht zu erklären, so Hume. Man kann es sich

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am Beispiel Einsteins etwa so vorstellen: Alle Zutaten der Relativitätstheorie, also Masse, Energie, Lichtgeschwindigkeit, Gravitation usw. waren bekannt, aber eben nicht in dieser neuen Theoriekonstruktion. „Nichts ist bewunderungswürdiger als die Bereitschaft, mit der die Einbildungskraft ihre Vorstellungen herbeiholt, gerade in dem Augenblick, wo sie nötig oder nützlich werden. Die Phantasie eilt vom einen Ende des Weltalls zum anderen, um die Vorstellungen zusammenzuholen, die zu einem Gegenstand gehört. Man könnte denken, die ganze geistige Welt der Vorstellungen zeige sich mit einem mal unserem Blick und wir hätten weiter nichts zu tun als diejenigen herauszugreifen, die für unseren Zweck jedesmal am geeignetsten sind.“ (I 38) Die Fantasie in eine beliebige Freiheit zu entlassen wäre allerdings trivial. Dass man sich auf der Grundlage all dessen, was man weiß, alles Mögliche vorstellen kann, ist kein Gedanke, der zur Erklärung der menschlichen Natur viel beiträgt. Die Fantasie, ohnehin schon durch die vorhandenen Inhalte des Geistes im Vorwege eingegrenzt, erhält auch für ihre Produkte eine Rückbindung an die Realität. Alles Mögliche muss eben auch Wirklichkeit werden können – sonst wäre es nicht möglich. Es sei ein anerkannter Grundsatz der Metaphysik, so Hume, „dass alles, was der Geist sich deutlich vorstellt, zugleich die Vorstellung seines möglichen Bestehens einschließt, oder mit anderen Worten, dass nichts, was wir uns in unserer Einbildungskraft vergegenwärtigen können absolut unmöglich ist.“ (I 49, ähnlich 91, 325) Dies ist – spätestens seit Anselm von Canterburys ontologischem Gottesbeweis aus dem 11. Jahrhundert – eine uralte philosophische Denkfigur. Unser Denken bleibt an die tatsächliche oder mögliche Existenz seiner Inhalte gebunden. Es kann sich nicht in eine Sphäre aufschwingen, die mit der Welt, aus der es kommt, nichts mehr zu tun hat. Vielleicht sind Erzählungen in Literatur und Film ein geeignetes Beispiel, dies zu verdeutlichen. Sie sind Fiktionen des Möglichen, die verstanden werden, weil der Leser oder Zuschauer sie in seine reale und seine Fantasiewelt zurückführen kann. Sie hätten plausibel in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft passiert sein können. Die Brücke zwischen den Fiktionen des



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Autors und denen der Konsumenten ist die mögliche Realität des Dargestellten. Das heißt natürlich im Umkehrschluss, dass es nicht möglich ist, das Unmögliche zu denken, was man gemeinhin für das Kennzeichen der Fantasie hält. Die entscheidenden Wörter im obigen Zitat sind wohl „deutlich“ und „absolut.“ Was deutlich vorgestellt wird, ist auch begrifflich zu beschreiben, denn einen Berg ohne Tal können wir uns nicht vorstellen, weil ein Berg sich nun einmal aus seiner Umgebung hervorhebt. Aber einen goldenen Berg können wir uns sehr wohl vorstellen, so das zweite erläuternde Beispiel Humes, weil Gold zu einem Berg aufzuschütten deshalb möglich ist, weil wir beides kennen und unabhängig von jeder Technologie als Vorstellung vereinen können. Diese Struktur des Denkens in der Aufeinanderfolge von Ersteindrücken und Vorstellungen in der Einbildungskraft, deren Natur und Zusammensetzung dem vollziehenden Geist vielfach durchaus „dunkel“ bleiben mag, (I 50) hat für konkrete Ereignisse oder Gegenstände durchaus Plausibilität. Hume ist sich natürlich bewusst, dass es Abstraktionen gibt, die viele Einzelfälle unter sich subsumieren. Schon die menschliche Natur ist ja eine solche. Er bindet Abstraktionen konsequent so in sein System ein, dass sie den Bereich der individuellen Perzeptionen nicht überschreiten und folgt damit dem System Berkeleys. „Abstrakte Vorstellungen sind demnach in sich individuell, so sehr sie auch hinsichtlich dessen, was sie repräsentieren, allgemein sein mögen. Das Bild in unserem Geiste ist lediglich das Bild eines einzelnen Gegenstandes, wenn auch seine Verwendung in unseren Urteilen so sein mag, als ob das Bild allgemein wäre.“ (I 34) Es ist die Gewöhnung im Gebrauch von ursprünglichen Bezeichnungen für Einzeldinge, wenn sie gemeinsame Merkmale haben, die sie zu Allgemeinbegriffen reifen lässt. Aber das Festhalten an der Individualität ihres Entstehens weist darauf hin, dass ihre Bedeutung in jedem Einzelfall eine persönliche Färbung trägt. Wenn jemand das Wort „der Mensch“ benutzt, wird er genau betrachtet spontan darunter nicht das Gleiche verstehen, wie der, an den er es richtet. Vorzugsweise dürfte er das Bild vom eigenen Selbstverständnis ableiten. Bei abstrakten Begriffen, sagen wir „Gerechtigkeit“, legt das indivi-

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duelle Interesse gleichfalls Differenzen nahe, die in der sozialen Lage und ihrer Verarbeitung in allgemeine Vorstellungen ihre Wurzeln haben. Das Prinzip des Geistes, von einem Gegenstand zu einem nächsten, ihm naheliegenden überzugehen, also zu assoziieren, ist – neben einem beobachteten Ursache-Wirkung-Zusammenhang, dazu gleich mehr – jeweils der aktuelle Prozess des Denkens. Er ist allerdings ohne einen Speicher früherer Erfahrungen nicht vorstellbar, der das aktuelle Material erst operabel macht. Beide Momente, das aktuelle Denken und der vergleichende Rückgriff auf das Gedächtnis, konstituieren erst eine Komplexität, die wir zunächst als Realität begreifen. „Die Eindrücke oder Vorstellungen der Erinnerung nun vereinigen wir zu einer Art von System, das alles umfasst, von dem uns unsere Erinnerung sagt, dass es uns einmal, sei es als innere Perzeption, sei als Sinneseindruck, gegenwärtig war; und alles, was diesem System angehört, zusammen mit den jetzt in uns gegenwärtigen Eindrücken, belieben wir als ‚Wirklichkeit‘ zu bezeichnen. Mit diesem System von Perzeptionen sind durch die Gewohnheit oder, was dasselbe sagt, durch die Beziehung von Ursache und Wirkung anderweitige Vorstellungen verknüpft. Vermöge dieser Verknüpfung wendet der Geist dann auch diesen letzteren seine Tätigkeit zu; und da er dabei inne wird, dass für ihn eine Art Notwendigkeit besteht, gerade diesen Vorstellungen sich zuzuwenden, dass die Gewohnheit oder die kausale Beziehung, die ihn dazu zwingt, jede Veränderung (der Richtung, die sie dem Vorstellen aufnötigt) ausschließt, so fasst er diese Vorstellungen in ein neues System zusammen, das er gleichfalls mit dem Namen ‚Wirklichkeit‘ beehrt. Das erste dieser Systeme ist Gegenstand der Erinnerung und der Sinne, das zweite der Gegenstand des Urteilsvermögens (judgement). Dieser letztere geistige Faktor bevölkert die Welt; er belehrt uns über die Existenz von Dingen, die infolge ihrer zeitlichen und örtlichen Entfernung von uns außerhalb des Bereichs unserer Sinne und unserer Erinnerung liegen. Mit seiner Hilfe male ich mir das Weltall in meiner Einbildungskraft aus, und richte meine Aufmerksamkeit beliebig auf diesen oder jenen Teil desselben.“ (I 147 f.)



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Wohlgemerkt, wir nennen es Wirklichkeit, aber wir sind uns nur theoretisch darüber bewusst geworden, was in unserem Bewusstsein abläuft. Die Welt da draußen ist ein Fall für sich. Wir nehmen sie zwar „passiv“ durch unsere Sinnesorgane wahr, denn irgendwie muss das Bewusstsein ja zu seinen Inhalten kommen. Aber Denkvorgänge setzen erst danach ein und bestehen „lediglich“ in einem Vergleich der Vorstellungen von Gegenständen, die veränderliche oder unveränderliche Relationen zueinander haben. (I 99) „Richtiges“ Denken, und das dürfte heißen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, setzt allerdings voraus, die Genese der Vorstellung aus dem Eindruck nachvollziehen zu können. Denn „es ist unmöglich, irgend eine Vorstellung vollkommen zu verstehen, ohne dass man sie bis zu ihrem Ursprung verfolgt und den ursprünglichen Eindruck prüft, dem sie entstammt. Die Untersuchung des Eindrucks bringt Klarheit in die Vorstellung und die Untersuchung der Vorstellung bringt in gleicher Weise Klarheit in das Denken.“ (I 101) Erst wenn wir uns über die ursprünglichen Antriebe, Erlebnisse, Beobachtungen unserer Gedanken, Meinungen, Überzeugungen klar sind, ist unser Bewusstsein auf der Höhe seiner Möglichkeiten angekommen. Dies kann man als eine gewisse Vorwegnahme der Freudschen Psychoanalyse ansehen. Allerdings geht dieser Gedanke bei Hume über die Selbstvergewisserung der Persönlichkeit hinaus und schließt auch Meinungen und Überzeugungen allgemeiner Art ein, deren Überprüfung durch die Eindrücke, nehmen wir sie hier als eindrucksvolle Wahrnehmung von sozialen Tatsachen, einer Verwirrung im Denken Einhalt gebieten soll. Zugleich handelt es sich um ein Stück Wissenschaftsmethodik, denn erst die fortwährende Kontrolle der Theorie durch die Empirie liefert die angestrebte Klarheit und Tragfähigkeit. 4. Ursache und Wirkung, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit „Unsere ganze Kenntnis vom Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen besteht in dem Bewusstsein, dass gewisse Gegenstände immer miteinander verbunden gewesen sind und

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sich in allen früheren Fällen als untrennbar erwiesen haben. Wir können in den Grund dieser Verbindung nicht eindringen, wir beobachten nur die Sache selbst; wir finden zugleich, dass die beständige Verbindung der Gegenstände stets eine Verknüpfung derselben in der Einbildungskraft bedingt.“ (I 125) Für die landläufige Meinung, dass Kausalität zwischen Objekten bestehe, ist die Theorie Humes zumindest überraschend. Philosophiegeschichtlich ist Humes Position überaus bedeutsam, weil sie das scheinbar Selbstverständliche problematisiert und Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geholt hat. Bei Kant wird die Kausalität als synthetische Erkenntnis a priori vollständig in das Reich der dem Menschen zugänglichen Vernunft verlagert. Sie steht also als Gesetz über den Menschen. Hume holt sie gleichfalls in die Innenwelt der Perzeptionen, bleibt aber bei einer Analyse der sich nach seiner Auffassung tatsächlich vollziehenden Denkprozesse. Der Mensch funktioniert, wie es seiner Natur entspricht, und ist keinerlei jenseitigen Prinzipien ausgeliefert, sei es Gott oder die Vernunft. Die Zuschreibung von Kausalitäten ist keineswegs ein analytischer Vorgang wie etwa mit einer experimentellen Methodik, sondern vollzieht sich in der Alltagpraxis gleichsam automatisch. Es ist so, „dass unsere frühere Erfahrung, von welcher alle unsere Urteile über Ursache und Wirkung abhängen, auf unseren Geist in einer so unmerklichen Weise einwirken kann, dass ihre Einwirkung gar nicht von uns beachtet wird und uns sogar bis zu einem gewissen Grade unbekannt bleiben kann.“ (I 142) Humes Beispiel ist ein Reisender, der an einem Fluss haltmacht, weil er aus Erfahrung die Gefahr des Ertrinkens kennt, ohne sie sich ins Bewusstsein rufen zu müssen. Die Assoziationskette „Wasser, Sinken, Ersticken“ ist so eng geschlossen, dass er die einzelnen Schritte der Wirkungskette keinesfalls nachvollzieht, sondern dem Fluss getrost unterstellen kann, die Ursache einer – in diesem Fall unerwünschten – Wirkung sein zu können und daraus seine Folgerungen zieht. Es ist – zunächst – nicht die Vernunft, die uns diesen Wirkungszusammenhang vermittelt. Wenn sie der steuernde geistige Prozess wäre, müssten bereits gemachte Erfahrungen der jeweils neuen Situation genau gleichen, um die entsprechende Kausali-



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tät zu entdecken, so Hume. Es wäre also „vernünftig“, nicht ins Wasser zu gehen, wenn man schon einmal – beinahe – ertrunken ist. Der „Lauf der Natur“ oder die Probleme eines Reisenden sind aber nicht immer identisch mit vorherigen Erfahrungen und Schlüssen. Die Vernunft kann – zunächst – nur konkrete Gegenstände oder Fälle abbilden, aber nicht auf andere Gegenstände oder Fälle schließen. Sie ist sozusagen die unterste Schublade des Geistes. Das flexible Herstellen von Verbindungen leistet allein die Assoziation von Vorstellungen mithilfe der Einbildungskraft. Nur so erkennt der Geist kausale Beziehungen und kann sie auf Fälle übertragen, die er nicht selbst und unmittelbar gemacht hat. (I 123) Gegen Ende des Traktats I allerdings wird die Vernunft scheinbar ein wenig rehabilitiert, indem ihr die gleiche Funktion wie der Einbildungskraft zugeschrieben wird. Hume befasst sich mit den Tieren, die ebenso wie der Mensch – nicht umgekehrt – nach Erfahrung und Gewohnheit agieren. Recht betrachtet ist „auch die Vernunft gar nichts als ein wunderbarer und unfassbarer Instinkt unserer Seele, der uns in einer Vorstellungsreihe von Vorstellung zu Vorstellung weiter leitet und diese Vorstellungen mit bestimmten Eigenschaften ausstattet, entsprechend der jedesmaligen Stellung und Beziehung derselben zueinander. Freilich entsteht dieser Instinkt aus früherer Beobachtung und Erfahrung … Was die Gewohnheit kann, das kann sicherlich auch die Natur. Die Gewohnheit ist ja eben gar nichts, als einer der wirkenden Faktoren der Natur, sie schöpft ihre ganze Macht aus dieser Quelle.“ (I 240) Die Vernunft ist also nicht, was sie zu sein beansprucht, nämlich „die Herrscherin auf dem Throne, mit absoluter Macht und Autorität Gesetze vorschreibend und Grundsätze aufstellend“, (I 249) sondern ein in der Natur des Menschen verankerter Instinkt, der in den Operationen des Geistes als Einbildungskraft genauer beschrieben ist. Und sie steht im besten aufklärerischen Sinne in engstem Zusammenhang mit der Wahrheit, aber nur als Floskel, an deren Ende sich erweist, dass sie ihren absoluten Einspruch nicht einlösen kann. „Unsere Vernunft muss als eine Art Ursache angesehen werden, deren natürliche Wirkung die Wahrheit ist; zugleich aber müssen wir annehmen, diese Wirkung könne

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vermöge der Dazwischenkunft anderer Ursachen und der Unbeständigkeit in der Funktion unserer geistigen Kräfte gelegentlich vereitelt werden. Damit schlägt alles Wissen in bloße Wahrscheinlichkeit um.“ (I 241) Alles Wissen, und damit auch diese Behauptung, wie Hume kurz darauf anmerkt. Es ist zu fragen, ob Hume sein Modell des Geistes nicht mit der Strahlkraft der Vernunft hätte ausstatten können. Die Architektur wäre keine andere, wenn er ihr statt der Gewohnheit und der Einbildungskraft wesentliche Operationen zugeschrieben hätte. Aber der Begriff war und ist belastet durch den mit ihm zumeist erhobenen Anspruch, sich in der Nähe absoluter Wahrheit aufzuhalten, zumindest eine „vernünftige“ Lösung zu haben, die allenfalls mit Unvernunft infrage gestellt werden kann. Mit ihrer Autorität können allerlei Dogmen und auch deren Gegenteil in den Raum gestellt werden, bis schließlich die Vernunft die Vernunft bekämpft. Sie kann der entscheidende Maßstab nicht sein, weil sie letztlich inhaltsleer ist. Hume will genau einen solchen Dogmatismus vermeiden und sein durchaus auch formales Modell so dicht wie möglich in seiner geerdeten Beobachtung des Denkens und Verhaltens der Menschen ansiedeln, ohne ihnen mehr zuzutrauen, als sie tatsächlich zeigen. Dass er sich dabei in mancherlei Ungereimtheiten verirrt, tut der Konsequenz seines Versuches ebenso wenig Abbruch wie die Tatsache, dass der Traktat „Über den Verstand“ kaum zur Kenntnis genommen wurde und er selbst eine neue Darstellung als „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ verfasste. Wahrscheinlichkeit ist also die Gewissheit, „die uns im täg­ lichen Leben genügen muss“. (I 243) Natürlich sollten wir unsere ersten Urteile bei der Betrachtung eines Gegenstandes mithilfe unserer Denkfähigkeit, gewissermaßen einem zweiten Urteil, korrigieren. Und richtig ist auch, dass wir dem Urteil kluger Menschen eher trauen können, ohne diese absolut setzen zu müssen. „Hieraus nun entsteht eine neue Art des Wahrscheinlichkeitsbewusstseins, das das ursprünglich vorhandene zu berichtigen und zu regulieren und einen Maßstab für die Beurteilung des Grades seiner Gewissheit an die Hand zu geben ge­ eignet ist. Wie die Demonstration der Kontrolle durch eine



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Wahrscheinlichkeitserkenntnis fähig ist, so ist wiederum die Wahrscheinlichkeitserkenntnis einer Korrektur durch eine nach innen gerichtete Tätigkeit des Geistes zugänglich … bei der die Natur unseres Verstandes und die Schlüsse, die wir zunächst aus einer gegebenen Wahrscheinlichkeit gezogen haben, ihrerseits Objekte unseres Nachdenkens werden.“ (I 243 f.) Der Zweifel als gleichsam unausrottbare Institution beschreibt nicht nur den zaudernden Alltag zwischen erstem Eindruck und schließlicher Entscheidung, sondern auch das moderne Wissenschaftsverständnis. Aber da er immer vorhanden ist und von Stufe zu Stufe der Erkenntnis stets neue Nahrung erhält, befinden wir uns in einer Endlosschleife, die nirgends einen Halt finden kann. Dies ist für das Alltagsbewußtsein zumindest problematisch, weil es jede Handlung mit einem Fragezeichen belastet, und für die Philosophie, weil sie im Unsicheren stehen bleibt, statt eine beglaubigte Erkenntnis zu liefern. Zwar galt die Erde aus naheliegender Erfahrung die längste Zeit als Scheibe, aber seit ein paar Jahrhunderten ist sie eine Kugel. Etliche Menschen haben sie umkreist, Fotos und Filme beglaubigen ihre Gestalt für unsere Augen. Niemand bezweifelt dies mehr. Die gerade anderthalb Jahrhunderte alte Theorie der Evolution hat nachgeholt, was die Wissenschaftler der Aufklärung noch nicht schlüssig belegen konnten: Die biblische Schöpfung ist ein Mythos, die Natur hat alles Leben aus sich heraus hervorgebracht. Nicht ganz wenige Menschen überall auf der Welt hängen noch heutzutage dem alten Mythos an. So fruchtbar der Zweifel an jeder Erkenntnis prinzipiell ist – auch die Urknalltheorie hat ihre Kritiker –, irgendwann kommt er doch an ein Ende, wenn Erfahrung und Beobachtung ihm keinen neuen Schub geben. Dies ist ganz offensichtlich ein Vorgang, der mit einer darüber schwebenden Vernunft nichts zu tun hat. Im Alltagsleben wäre es ganz „lächerlich“ zu sagen, es sei wahrscheinlich, dass morgen die Sonne aufgehen würde oder alle Menschen sterblich seien. Um einer Kritik aus dieser Sicht aus dem Wege zu gehen „und die gewöhnliche Bedeutung der Worte beizubehalten“, bietet Hume eine Unterteilung mensch­

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licher Erkenntnisse „in drei Arten“ mit abnehmender Gewissheit an. Ganz oben steht ein Wissen als eine „durch Vergleichung von Vorstellungen gewonnene Überzeugung.“ Eingangs des Traktats beruht alles Wissen auf der adäquaten „Nachbildung von Gegenständen“ in der Vorstellung, (I 44) hier erhält es durch die gegenseitige Kontrolle verschiedener für sich adäquater Vorstellungen die Weihen höchstmöglicher Gewissheit. Die zweite Art beruht auf Erfahrungsgründen (proofs), bewegt sich also im Bereich des selbst Beobachteten und der daraus gezogenen kausalen Schlussfolgerungen, „die gänzlich frei von Zweifel und Ungewissheit“ sind. Die dritte Form, die Wahrscheinlichkeitserkenntnis, hat nur „jenen Grad der Gewissheit, dem noch Ungewissheit anhaftet.“ (I 171 f.) Dass in diesem Kosmos menschlicher Erkenntnismöglichkeiten nicht bereits der Ausgangspunkt, die Nachbildung unmittelbarer und elementarer Dinge in unserem Geist, zu einem Problem der absoluten Verlässlichkeit wird, dürfte pragmatische Gründe haben. Der menschlichen Natur abzusprechen, die Umwelt zunächst so wahrnehmen zu können, wie sie danach für uns auch ist, hieße wohl, eine ganz andere Welt konstruieren zu müssen, in der die nun einmal vorhandenen Menschen nicht mehr vorkommen. Humes Interesse ist aber zu analysieren, wie der empirische Mensch gemäß seiner Natur funktioniert, wie sein Denken und Verhalten zu erklären sein könnte, auch wenn er letztlich einer Illusion von Gewissheiten aufsitzt. Hume holt die formale Endlosschleife des Zweifels durch die Einführung der Kategorie des Glaubens in die soziale Wirklichkeit zurück, deren Beobachtung ja die Grundlage seiner Theorie ist. Schon die Vorstellung eines Gegenstandes schließt den Glauben an seine Existenz ein, ohne dass dadurch die Vorstellung selbst verändert wird. Also beeinflusst der Glaube nur die Art und Weise, in der unser Bewusstsein die Vorstellung vergegenwärtigt, in dem er ihr größere Bedeutung verleiht und sie in die Nähe eines intensiven Eindrucks rückt. Die Einbildungskraft, die nur für die Verknüpfung von Vorstellungen zuständig ist, aber nicht für deren Aufladung mit Intensität, kann die vorläufige Beendigung des infiniten Regresses des Zweifels durch Glauben nicht leisten. „Da aber dies Vermögen nie von



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sich aus Glauben herbeiführen kann, so leuchtet ein, dass der Glaube nicht in der Natur und Ordnung unserer Vorstellungen, sondern nur in der Weise, wie sie vollzogen werden oder der Art, wie der Geist sie erlebt, bestehen kann. Ich bekenne, dass es unmöglich ist, diese Art des Erlebens oder diese Art, wie Vorstellungen von uns vollzogen werden, vollkommen deutlich zu machen. Wir mögen allerlei Worte anwenden, die etwas Verwandtes ausdrücken; der wahre und eigentliche Name bleibt schließlich ‚der Glaube‘, ein Ausdruck, den im gewöhnlichen Leben jeder hinlänglich versteht. Philosophisch müssen wir uns mit der Erklärung begnügen, dass Glaube etwas vom Geist unmittelbar Erlebtes ist, das die Vorstellungen, die das Urteil konstituieren, von den Erdichtungen der Einbildungskraft unterscheidet. Er verleiht ihnen mehr Energie und Fähigkeit in uns zu wirken, lässt sie von größerer Wichtigkeit erscheinen, drängt sie dem Geist auf und macht sie zu herrschenden Faktoren bei unserem Handeln.“ (I 133) Humes erläuterndes Beispiel sind zwei Leser eines Buches, von denen der eine die Geschichte für Fiktion und der andere sie für wahr hält. Beide sind mit den gleichen Vorstellungen in der gleichen Reihenfolge konfrontiert, beim ersteren wirken sie schwach, beim zweiten so stark und lebhaft, dass er die Geschichte glaubt. Es ist für Hume ein „Grundsatz der Lehre von der menschlichen Natur“, dass ein Eindruck nicht nur mit Vorstellungen korrespondiert, sondern ihnen zugleich „etwas von seiner Stärke und Lebhaftigkeit“ mitgibt. Ob die Lektüre nun ein Eindruck ist oder sich nur im Reich der Gedanken abspielt, ob eine Vorstellung nun den Glauben an die Existenz des Vorgestellten einschließt und so die Tatsächlichkeit der Geschichte von sich aus beglaubigen müsste oder nicht, sind kleinere Ungereimtheiten, die man dahingestellt sein lassen kann, weil wir die Idee dahinter hinlänglich verstehen. Und wieder spielt die Gewohnheit für den Glauben an die Wahrheit von Tatsachen ihre Rolle, (I 140) die doch nur Erkenntnisse der Wahrscheinlichkeit sein können. Die Gewöhnung an „Meinungen und Betrachtungsweisen … von unserer Kindheit an“ führt auch durch spätere Erfahrungen und Vernunft

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kaum je zu ihrer Aufgabe und hat sogar den gleichen elementaren Status wie sonstige kausale Zusammenhänge oder die ansonsten erforderliche Intensität der Vorstellung. (I 158) Auch im sonstigen Alltagsleben (I 182) bleiben die Operationen des Geistes im sozialen Kontext der Menschen und werden nicht durch ein systematisch brillantes Modell des Geistes in eine Sphäre gehoben, in der sich nur noch Geister auf höchstem Niveau begegnen. „So ist alle Wahrscheinlichkeitserkenntnis nichts als eine Art von (subjektiver) Empfindung. Nicht allein in Poesie und Musik müssen wir unserem Geschmack und unserem Gefühl folgen, sondern auch in der Philosophie. Wenn ich von irgendeinem Satz überzeugt bin, so heißt dies nur, dass eine Vorstellung stärker auf mich wirkt. Wenn ich einer Beweisführung den Vorzug vor einer anderen gebe, so besteht, was ich tue, einzig darin, dass ich aus meinem unmittelbaren Gefühl entnehme, welche Beweisführung in ihrer Wirkung (auf meinen Geist) der anderen überlegen ist. An den Gegenständen findet sich nichts von einer Verknüpfung; wir können nach keinem anderen Prinzip als dem der Gewohnheit und ihrer Einwirkung auf die Einbildungskraft aus dem Auftreten eines Gegenstandes auf die Existenz eines anderen schließen.“ (I 141 f.)

5. Das Theater der Perzeptionen oder was bin ich Mag es für manchen Philosophen und den gesunden Menschenverstand selbstverständlich sein, dass jeder Mensch eine Identität, ein Ich hat, ein Bewusstsein seiner selbst, so ist diese Annahme weder für die moderne Hirnforschung noch für David Hume ohne Probleme. Beide haben kein Zentrum ausmachen können, auf das alles zu einem Ich zusammenläuft. Die Summe aller Gefühle und Gedanken ist die Summe aller Gefühle und Gedanken, aber nicht das Ich. Nach Humes Sezierung des Verstandes beruht jede Vorstellung auf einem Eindruck, jede Idee auf einer sinnlichen Wahrnehmung. Es gibt aber keinen Eindruck, kein elementares Erlebnis eines Ich, denn ein solcher Eindruck müsste ja so unveränderlich wie die Vorstellung eines Ich bleiben. Aber es gibt keinen unveränderlichen Eindruck des



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Ichs: „Lust und Unlust, Freude und Kümmernis, Affekte und Sinneswahrnehmungen folgen einander; sie existieren nicht alle zur gleichen Zeit.“ (I 326) Alle diese Perzeptionen, also Inhalte des Bewusstseins, sind verschieden und können „für sich vorgestellt werden, also für sich existieren; sie brauchen keinen Träger ihrer Existenz.“ (I 326) Und jede Selbstbeobachtung stößt zwangsläufig nur auf Perzeptionen. Ohne sie, im Schlaf oder nach dem Tod, habe ich kein Bewusstsein und also auch kein „Ich“ im landläufigen Sinne. „Der Geist ist eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Anordnung untereinander mengen. Es findet sich in ihm in Wahrheit weder in einem einzelnen Zeitpunkt Einfachheit noch in verschiedenen Zeitpunkten Identität; sosehr wir auch von Natur geneigt sein mögen, uns eine solche Einfachheit und Identität einzubilden.“ Allerdings merkt Hume an, dass wir den Ort und das Baumaterial dieses Theaters nicht kennen. Verstand, Geist oder Seele sind die Begrifflichkeiten, ohne die wir auch heute trotz fortgeschrittener Hirnforschung nicht auskommen. Das anatomische Gehirn als zentrale Steuerungseinheit kommt bei Hume immerhin schon einmal vor als „Organ der Perzeption.“ (II 107) Wir sind also nichts „als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen.“ (I 327) Nun treibt uns unsere Einbildungskraft nach Hume gleichsam aus pragmatischen Gründen dazu, wiederholten Sinneswahrnehmungen und damit ihren realen Gegenständen eine dauernde Existenz und Identität zuzusprechen. „Ein Knabe wird ein Mann; er ist einmal stark, einmal mager, aber alles ohne Veränderung seiner Identität.“ (I 333) Dies ist und bleibt aber eine Fiktion, weil gemäß unserer tatsächlichen Wahrnehmung ein starker Knabe ein anderer ist als ein magerer Mann. Besteht zwischen beiden „ein reales Band“ oder verbinden wir nur beide Vorstellungen zu einer Einheit miteinander? Der Verstand kann niemals – eine zentrale These Humes – „eine wirkliche Verknüpfung zwischen Gegenständen“ wahrnehmen, sondern nur zwischen den Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen. Man sieht einen Tisch und einen Stuhl und denkt sich vielleicht:

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ein Esstisch. Dem Tisch und dem Stuhl sieht man nicht an, dass beide zusammen als Essplatz dienen können. Aber der Geist kann die Vorstellung des Tisches und die Vorstellung des Stuhls, die er qua Wahrnehmung in sich produziert, zur Idee oder Vorstellung eines dritten und so weiter verknüpfen. Vorstellungen sind also sein Material, das er nicht hinter sich lassen kann und mit denen allein er arbeitet. Ähnlichkeit, räumlicher oder zeit­ licher Zusammenhang und Ursächlichkeit sind „die verbindenden Prinzipien“, nach denen Vorstellungen sich zur Annahme einer Identität gruppieren. (I 335 f.) Die Kausalität als das zentrale Element der Wirklichkeitserkenntnis spielt auch hier eine zentrale Rolle. Sie kettet Perzeptionen im Fluss ihrer Veränderungen eng aneinander. Hume greift zu einem anschaulichen Bild, um die gewöhnliche Vorstellung einer Identität nicht vollständig aufgeben zu müssen. „In dieser Hinsicht lässt sich die Seele am besten mit einer Republik oder einem Gemeinwesen vergleichen, in dem die verschiedenen Glieder durch wechselseitige Bande der Herrschaft und Unterordnung miteinander verbunden sind und zugleich anderen Personen das Dasein geben, welche dieselbe Republik in unaufhörlichem Wechsel ihrer Glieder im Dasein erhalten. Wie eine Republik nicht allein ihre Glieder, sondern auch ihre Gesetze und Konstitutionen wechseln kann ohne ihre Identität einzubüßen, ebenso kann eine Persönlichkeit nicht nur ihre Eindrücke und Vorstellungen, sondern auch ihren Charakter und ihre Sinnesart wechseln, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. Was für Veränderungen auch die Persönlichkeit erleidet, ihre Elemente bleiben immer durch Beziehung und Ursächlichkeit verknüpft.“ (I 337 f.) Es gibt sie also doch, die Identität des Ichs, auch wenn Hume sie ebenso wenig philosophisch befriedigend definieren kann wie die Wirklichkeit überhaupt. Letztlich ist sie gar kein philosophisches Problem, sondern eher eine Frage des Sprachgebrauchs, so Hume. (I 339) Diese Umkreisung eines Problems, das sich ganz am Ende des Traktats I folgerichtig aus seiner Analyse des Verstandes ergibt, hat Hume weiter umgetrieben. In einem Anhang zu Buch III des Traktats, ein Jahr später veröf-



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fentlicht, greift Hume die Identitätsproblematik nochmal auf und gesteht, er könne sie weder berichtigen noch überzeugend beweisen, weil sich zwei unaufgebbare Prinzipien widersprechen. Erstens können alle Perzeptionen für sich existieren, und zweitens kann der Geist zwischen selbstständig existierenden Gegenständen keine „reale Verknüpfung“ erkennen, die doch für die Existenz einer Identität der Person zwingend erforderlich wäre. Also kann es eigentlich keine Identität geben, obwohl wir alle davon ausgehen, eine solche zu besitzen. „So muss ich hier für mein Privileg als Skeptiker plädieren und zugestehen, dass eine Schwierigkeit besteht und dass ihre Lösung für meinen Verstand eine zu harte Aufgabe ist. – Damit behaupte ich nicht ihre absolute Unlösbarkeit.“ (I 363 f.) 6. Wir erdichten die zweifache Existenz oder die Vernunft der Skepsis Ein Skeptizismus als Denkhaltung, die den Wahrheitsanspruch jeder Aussage mit guten Gründen bezweifeln kann, ist für Hume nur eine „phantastische Sekte“, (I 245) die selber nicht ernsthaft an die absolute Grundlosigkeit jedes Denkens und Seins glauben kann. Auch der Skeptiker „kann nicht umhin, weiter zu schließen und zu glauben, obgleich er versichert, dass er seine Erkenntnis nicht mit Vernunftgründen verteidigen kann. Er kann aus gleichem Grunde auch nicht umhin dem Satz, dass Körper existieren zuzustimmen, obwohl er nicht behaupten kann, dass er seine Richtigkeit mit philosophischen Gründen zu erweisen vermag. Die Natur hat uns eben in dieser Hinsicht keine Wahl gelassen; sie hat diesen Punkt ohne Zweifel für einen Punkt von zu großer Wichtigkeit gehalten, um ihn unseren unsicheren Schlussfolgerungen und Spekula­ tionen zu überlassen.“ (I 250) Gibt es also eine Welt außerhalb unseres Bewusstseins, denn sie ist mit den existierenden Körpern gemeint, obwohl wir uns doch nur unserer Perzeptionen bewusst sein können und die Gegenstände dieser Welt nur durch sie erfahren? Oder anders herum: Existiert die Welt einmal in einer tatsächlichen Mate­

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rialität und ein zweites Mal in unserem Bewusstsein? Und sind beide Existenzen eigenständig, also verschieden? Dies hat bekanntlich auch Kant umgetrieben, der das berühmte „Ding an sich“ für ewig unerkennbar hielt, ohne deshalb der Verzweiflung anheimzufallen. Mag dies auch als eine sehr klassische Frage der Philosophie erscheinen, die natürlich auch die Antike bewegt hat, so steht sie doch mit der Aufklärung in einer neuen Traditionslinie. Denn mit dem Ansatz, die Welt aus sich heraus und ohne Gott oder andere Hilfskonstruktionen zu erklären, ist auch die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes zu einer zentralen Frage geworden. Die Welt systematisch durch die Augen des Menschen zu betrachten, um nur den wichtigsten Sinn zu nennen, ist etwas anderes, als über den Sinn und die Ordnung der Natur zu spekulieren, in der auch der Mensch irgendeine Position zugewiesen bekommt. Wie sieht er und was denkt er sich dabei? Die Welt von innen heraus gesehen ist eine andere als die Welt für sich betrachtet. So steht zwar das Ergebnis gleich eingangs des Kapitels „Vom Skeptizismus in Bezug auf die Sinne“ fest, aber Hume geht sehr ausführlich der Frage nach, warum wir doch an die Existenz der Außenwelt glauben, deren Versatzstücke gar nicht permanent in unserem Bewusstsein vorhanden sind. Die Gegenstände haben ein „Dasein außer uns“ (I 251) und existieren dauerhaft unabhängig, ganz gleich ob wir sie gerade wahrnehmen oder nicht. Die Sinne können dafür also nicht die Ursache sein, weil nur sie uns äußere Gegenstände nur dann ins Bewusstsein liefern, wenn wir gerade hinschauen. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstand zu, dann ist der erste verschwunden. Während die skeptische Philosophie lehrt, so Hume, dass wir es bei der Erfassung der Wirklichkeit nur mit Perzeptionen zu tun haben, identifiziert der unverbildete Normalmensch Wahrnehmungen und Gegenstände und spricht letzteren ganz selbstverständlich eine von ihm selbst unabhängige Existenz zu. Auch wenn wir die „Wahrnehmungen und Objekte“ als verschiedene Elemente unterscheiden können, können wir nicht „von der Existenz der einen auf die Existenz der anderen“ schließen, schon gar nicht in einem kausalen Sinne. Die Vernunft oder die logische Operation des kausalen



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Schließens, die allein „zur Erkenntnis des Wirklichen führen kann“, (I 258) scheidet also gleichfalls als Instanz zur Bestätigung des Vorhandenseins der Welt aus. (I 277) Es ist die Einbildungskraft, die „wie ein Schiff“, einmal in Bewegung gesetzt, aus der Beobachtung von Gleichförmigkeiten uns schließlich zum Glauben an die Dauerhaftigkeit des Beobachteten führt. (I 264) Sie stützt sich allerdings auf zwei Eigenschaften, die die Objekte unserer Wahrnehmung haben müssen, damit wir an ihre dauerhafte Existenz unabhängig von uns glauben können. Hume nennt sie Konstanz und Kohärenz. „Berge, Häuser, Bäume“ z. B. sind immer da, wo sie sind, wenn ich hinschaue. Aus dieser beliebig wiederholbaren Wahrnehmung schließe ich, dass sie dauerhaft sind. Das Kriterium der Konstanz gilt natürlich nicht für alle Eindrücke, die meinen Geist erreichen. Und im Übrigen können sich die Gegenstände auch verändern. Hier sorgt die „Kohärenz der Eindrücke, ein gesetzmäßiges Abhängigkeitsverhältnis der Wahrnehmungsobjekte untereinander“ dafür, dass man ihnen eine dauerhafte Existenz zubilligen kann. Humes erläuterndes Beispiel ist das niedergebrannte Feuer in seinem Arbeitszimmer, wenn er nach einer gewissen Zeit zurückkehrt. Der Kamin ist noch da, wo er immer war, und die übrigen Möbel gleichfalls. (I 260) Und wenn er den Briefträger die Treppe hinaufkommen hört, läuft bewusst oder unbewusst eine beständige Zuordnung aller seiner Wahrnehmungen wie des Knarrens der Tür ab, die die Existenz des Hauses voraussetzen. „Kaum ein Augenblick meines Lebens nun verfließt, ohne dass ich Ähnliches erlebe und mich in der Lage befinde, die dauernde Existenz von Gegenständen voraussetzen zu müssen, um ihr vergangenes und gegenwärtiges Auftreten zu verknüpfen … Ich sehe mich so in natürlicher Weise dazu getrieben, die Welt als etwas Reales und Dauerndes zu betrachten … auch wenn es für meine Wahrnehmung nicht mehr besteht.“ (I 262) Nun könnte man sich befriedigt zurücklehnen und mit Hume sagen, es gibt also all die Dinge da draußen, nicht nur in meinem Kopf. Immer, wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich

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ein Haus, also ist es immer da. Aber die Einbildungskraft meines Geistes hat aus meinen wiederholten Beobachtungen zunächst nur die Erkenntnis gebracht, dass das Haus dauerhaft da zu sein scheint, nicht aber, dass es ganz unabhängig von mir und meiner Wahrnehmung da ist, eine eigene Existenz besitzt. Tatsächlich sieht es je nach Lichtverhältnissen usw. jedes Mal anders aus, wenn auch immer ähnlich. Wir füllen nun gleichsam die Lücken zwischen unseren Wahrnehmungen (I 275) durch die Annahme eines „wirklichen Daseins“ des Hauses, sprechen ihm eine eigene Identität zu, obwohl wir doch nicht auch nur zweimal exakt den gleichen Anblick hatten. (I 266) Unser Geist leistet sich diese „Fiktion“ (I 273) und arbeitet also nicht streng logisch, denn dann müsste er den minimalen Differenzen in den verschiedenen Wahrnehmungen irgendeinen Tribut zollen, sondern gleichsam träge nach dem Allerweltsprinzip: was man hat, das hat man. „Die geistigen Vermögen ruhen gewissermaßen und leisten nur soviel Arbeit, als erforderlich zur Festhaltung der Vorstellung, die wir bereits besitzen und die, ohne Veränderung und Unterbrechung bleibt, was sie ist.“ (I 270) Es ist also eine ursprüngliche und natürliche Tendenz des Geistes, vom Glauben an die dauerhafte Existenz eines Gegenstandes zu dem Glauben an seine von uns unabhängige Existenz fortzuschreiten. (I 278) Der Geist ist eben ein Sammelsurium verschiedenster Perzeptionen, die sich unterscheiden und vielfältig miteinander agieren, aber kein geschlossenes Ganzes bilden. (I 275) Nicht die Gegenstände dieser Welt, sondern der Geist produziert den Glauben an die Welt in Form einer intensiven Vorstellung in assoziativer Verbindung zu einem Eindruck mithilfe der Einbildungskraft, die eine für uns notwendige Fiktion gleichsam als abschließende Tat besiegelt. Entsprechend verfährt er auch bei völlig neuen Wahrnehmungen, die aus dem Erinnerungsspeicher mit Ähnlichem verglichen und analog eingeordnet werden. (276 f.) Das Problem ist nur, so Hume, dass diese Form der Anerkennung einer Wirklichkeit letztlich auf unseren Wahrnehmungen beruht, die schlechterdings nicht von uns selbst unabhängig sein können. (I 278) So schreiben wir eigentlich nur unseren wiederholten, ähnlichen Wahrnehmungen eines Gegenstandes Dauerhaftigkeit zu, nicht dem Gegenstand,



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auch wenn sie uns nicht permanent präsent sind, weil unsere Aufmerksamkeit sich auch auf andere Gegenstände richtet. Und im nächsten Schritt billigen wir dieser unserer ureigenen Wahrnehmung eines Gegenstandes eine selbstständige Existenz zu, eigentlich wiederum nicht dem Gegenstand, und vertuschen diese Unmöglichkeit damit, dass wir dem Gegenstand seine Selbstständigkeit unterstellen. So ist die gängige Philosophie auf die „zweifache Existenz, eine Existenz der Wahrnehmungen und eine Existenz der Gegenstände“ gekommen. (I 279) Es gibt aber im menschlichen Verstand keinen Faktor, der unmittelbar zu diesem Glauben führen kann. „Da nun nichts dem Geist gegenwärtig ist außer seinen Perzeptionen, so folgt, dass wir wohl eine Verknüpfung oder eine ursächliche Beziehung zwischen verschiedenen Perzeptionen entdecken können, nie aber eine solche zwischen Perzeptionen und Gegenständen. Es ist deshalb ausgeschlossen, das wir je aus der Existenz oder irgendwelchen Eigenschaften der ersteren einen Schluss auf die Existenz der letzteren ziehen, also jemals durch die Vernunft zu dem in Rede stehenden Ergebnis gelangen.“ (I 280) Dies ist nur möglich, wenn man den Operationen des Geistes folgt, also „von der Annahme (ausgeht), dass unsere Wahrnehmungen für uns die einzigen Gegenstände sind, und dass diese Wahrnehmungen fortfahren zu existieren, auch wenn sie nicht wahrgenommen werden.“ Die Behauptung der zweifachen Existenz ist zwar „falsch, doch die natürlichste von allen, und die einzige, die der Einbildungskraft von Haus aus zusagen kann.“ (I 281) Diese Einbildungskraft ist so tief verwurzelt, ja „eine Art Instinkt oder natürlicher Impuls … dass sie uns mitten in unseren tiefstgehenden Überlegungen Halt gebieten und davon abhalten kann, die letzten Konsequenzen eines philosophischen Gedankens zu ziehen.“ (I 282 f.) So treibt uns die Natur, auch die Natur unseres Geistes, zu lebenspraktischen Überzeugungen, die der philosophischen Vernunft nicht standhalten. Fürwahr ein skeptisches Dilemma. Es hat natürlich seine Wurzeln in der totalen Konzentration Humes auf die Binnenvorgänge unseres Bewusstseins. Zwar nehmen wir durch unsere Sinne etwas wahr, aber nur das Wahrgenom-

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mene interessiert Hume, das Etwas verschwindet aus dem Fokus der Analyse. Die Korrespondenz des Bewusstseins mit der Außenwelt wird zu einer Korrespondenz des Bewusstseins mit sich selbst. Und diese Beschreibung unserer Hirnfunktionen ist überaus modern. Und ebenso modern könnte es sein, die Grenzen der eigenen theoretischen Anstrengungen zu erkennen und sich nicht in einem Wolkenkuckucksheim zu verlieren, sondern immer wieder den Boden der Tatsachen zu suchen, wie sie sich auch im sogenannten gesunden Menschenverstand finden. Hume bekennt, dass er das Kapitel „Vom Skeptizismus in Bezug auf die Sinne“ mit der Vorstellung begonnen habe, den Sinnen könne man unbedenklich vertrauen. Nun aber sei er „viel eher geneigt, in meine Sinne, oder besser gesagt, in meine Einbildungskraft gar kein Vertrauen zu setzen … Ich kann nicht verstehen, wie solche triviale Neigungen der Einbildungskraft, von solchen falschen Annahmen geleitet, je zu einer begründeten und vernünftigen Anschauung sollen führen können … Wir können wohl, ganz im allgemeinen, die Annahme machen, dass es Gegenstände gebe, die nicht ihrem Wesen nach mit Perzeptionen durchaus identisch wären, aber wir können uns von dem Sinne einer solchen Annahme keine klare Vorstellung machen … Dieser skeptische Zweifel in Bezug auf die Vernunft sowohl als auf die Sinne ist eine Krankheit, die niemals vollkommen geheilt werden kann, sondern immer wiederkehren muss, mögen wir sie noch so oft vertreiben und bisweilen ganz von ihr befreit scheinen.“ (I 286 f.) Dabei hat er kurz zuvor in seiner Zusammenfassung des Kapitels seinen pragmatischen Frieden in dem Konflikt seiner Bewusstseinstheorie mit der üblichen Weltauffassung gemacht. „Um diesem Kampf zu entrinnen, machen wir eine neue Annahme, die den Forderungen der Vernunft sowohl wie der Einbildungskraft zu genügen scheint. Dies nun ist die philosophische Annahme einer zweifachen Existenz, der Existenz der Wahrnehmungen und der Existenz der Gegenstände. Diese Annahme befriedigt unsere Vernunft, sofern sie die von uns abhängigen Wahrnehmungen unterbrochen und verschieden erscheinen lässt, und ist zugleich der Einbildungskraft konform, sofern sie etwas anderem, das wir nun als ‚Gegenstand‘ bezeichnen, eine dauer-



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hafte Existenz zuschreibt. Die bezeichnete philosophische Anschauung ist darnach das widernatürliche Ergebnis aus zwei Voraussetzungen, die einander entgegengesetzt sind, vom Geist zu gleicher Zeit anerkannt werden und nicht imstande sind, sich gegenseitig zu vernichten … Da wir nicht imstande sind, die Feinde auszusöhnen, so sind wir bestrebt, uns so viel wie möglich von ihnen Ruhe zu verschaffen, indem wir nacheinander jedem gewähren, was er verlangt; wir erdichten die zweifache Existenz, in der jeder von beiden finden kann, was seinen Ansprüchen genügt.“ (I 283 f.) Es sei noch angefügt, dass Hume nach dem gleichen Muster auch die sinnlichen Eigenschaften von Gegenständen wie „Farben, Töne, Geschmack und Geruch“ untersucht, die der Vernunft nach nur in unserem Bewusstsein erscheinen und eben keine unabhängigen Eigenschaften sein können. Dass eine solche extravagante skeptische Vorstellung „statt die Vorgänge der Außenwelt zu erklären, vielmehr die ganze Außenwelt vollständig vernichtet“, ist eine weitere Bestätigung der pragmatischen Auflösung des logischen Skeptizimus durch Hume. Die Unabhängigkeit der Welt manifestiert sich eben in solchen durch unsere Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften. (I 298, 303). Die Einbildungskraft, „die letzte Richterin … in allen philosophischen Fragen“, stellt „dauernd, unwiderstehlich und allgemein“ als „Grundlage aller unserer Gedanken und Handlungen“ Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen und umgekehrt her, ohne welche „die menschliche Natur alsbald zugrunde gehen müsste.“ Allerdings kann die Einbildungskraft sich auch in unnötigen und nutzlosen Spekulationen verlieren, die vorzugsweise „von schwachen Geistern Besitz ergreifen.“ Sie ist eine Instanz, die zur Herstellung angemessener Wirklichkeitsbeziehungen neigt. Und ob sie dies leistet oder versagt, kann durch ­Erfahrung sortiert werden. „Wenn jemand im Dunkeln eine artikulierte Stimme hört, daraus schließt, es sei jemand in seiner Nähe, so denkt er richtig und natürlich, obgleich dieser Schluss lediglich der Gewohnheit entstammt, die in ihm die Vorstellung eines menschlichen Wesens erweckt und derselben vermöge ihrer gewohnheitsmäßigen Verbindung mit dem gegenwärtigen Eindruck Lebhaftigkeit verleiht. Wenn aber jemand ohne zu

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wissen weshalb, im Dunkeln von der Angst vor Gespenstern gequält wird, so kann man zwar vielleicht von ihm auch sagen, er denke und denke natürlich, aber ‚natürlich‘ ist dann doch solches Denken nur in dem Sinne, in dem man auch von einer Krankheit sagt, dass sie natürlich sei. Sie ist es, sofern sie aus natürlichen Ursachen entsteht; sie bleibt darin doch der Gesundheit, also dem eigentlich angemessenen und natürlichen Zustand des Menschen entgegengesetzt.“ (I 296) 7. Der öde Felsen Erfahrung und Beobachtung des wirklichen menschlichen Lebens ist das Programm, dass Hume im Vorwort zum Traktat I „Über den Verstand“ zum Maßstab einer Wissenschaft vom Menschen macht, die anderen Wissenschaften nicht nachstehen, ja sie sogar an Nützlichkeit weit übertreffen soll. Mag man auf diese Weise auch nicht zu „letzten Prinzipien“ vordringen, weil uns „das eigentliche Wesen des Geistes … ebenso unbekannt wie das der Körper außer uns“ ist (I 5), so muss doch die Beobachtung in ihrer theoretischen Aufbereitung auf die Realität rückführbar bleiben, der sie entnommen wurde. Die Begründung der Existenz einer Wirklichkeit außerhalb unseres Bewusstseins und der persönlichen Identität haben Hume an eine Grenze geführt, an der der Übergang von der Theorie des Verstandes zur Praxis des gewöhnlichen Denkens zumindest vermint, wenn nicht unmöglich ist. Humes vorläufige Antwort ist eine Skepsis auch seiner eigenen Theorie gegenüber, die man nach einem wunderbaren Essay von George Steiner wohl auch als „Traurigkeit beim Denken“ bezeichnen kann. (Steiner 2006) Im Schlussabschnitt des Traktats I reflektiert Hume sein bis hierher niedergeschriebenes Werk mit einer anrührenden poetischen Schönheit und Ehrlichkeit, die sich alle Tricks der sprachlichen Camouflage versagt. Der Abschnitt verdient es, ausführlicher zitiert zu werden, weil es eine Lust ist, ihn nach den manchmal überangestrengten Bemühungen der vorherigen Beweisführungen zu lesen. „Ich komme mir vor wie ein Mann, der, nachdem er auf viele Sandbänke aufgelaufen und in einer schmalen Meerenge



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mit Mühe dem Schiffbruch entgangen ist, doch noch die Kühnheit besitzt, auf demselben lecken, vom Sturm mitgenommenen Schiff in See zu gehen, ja, der unter so ungünstigen Umständen noch daran denkt, die Erde zu umschiffen. Meine Erinnerung an frühere Irrtümer und Verlegenheiten macht mich misstrauisch für die Zukunft. Der elende Zustand, die Schwäche und die Gesetzlosigkeit der geistigen Vermögen, auf die ich bei meinen Untersuchungen vertrauen muss, erhöhen meine Befürchtungen. Und die Unmöglichkeit, diesen Vermögen aufzuhelfen oder ihre Schäden zu bessern, bringt mich fast zur Verzweiflung und könnte mich zu dem Entschluss veranlassen, lieber auf dem öden Felsen, auf dem ich mich augenblicklich befinde, umzukommen, als mich auf jenen grenzenlosen Ozean zu wagen, der sich in die Unendlichkeit erstreckt … Zunächst sehe ich mich durch die menschenleere Einsamkeit, in die mich meine Philosophie geführt hat, in Schrecken und Verwirrung gesetzt: ich könnte mir einbilden, ich sei ein seltsames, ungeschlachtes Ungeheuer, das, nicht geeignet sich unter die Menschen zu mischen und mit Menschen zu leben, aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen worden und völlig einsam und trostlos gelassen worden ist. Gern möchte ich in der Menge Schutz und Wärme suchen, aber ich kann mich nicht entschließen, entstellt wie ich bin, Verkehr zu pflegen … Wenn ich den Blick nach außen wende, so sehe ich auf allen Seiten Streit, Widerspruch, Zorn, Verleumdung und Herabsetzung. Wenn ich mein Auge nach innen richte, so finde ich nichts als Zweifel und Unwissenheit … Nachdem ich die sorgfältigste und gründlichste Überlegung angestellt habe, kann ich doch keinen (zwingenden) Grund angeben, weshalb ich ihrem Ergebnis zustimme; ich fühle nur eine ‚lebhafte‘ Neigung, die Gegenstände unter dem Gesichtspunkt, unter dem sie sich mir darstellen, ‚lebhaft‘ aufzufassen. Die Erfahrung ist das Prinzip, das mich davon in Kenntnis setzt, dass Gegenstände in der Vergangenheit miteinander verbunden waren. Gewohnheit ist das andere Prinzip, das mich veranlasst, in Zukunft die gleiche Verbindung zu erwarten … Ohne diese Eigentümlichkeit des Geistes, gewissen Vorstellungen größere Lebhaftigkeit zu verleihen als anderen – eine an-

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scheinend so bedeutungslose und wenig auf Vernunft gegründete Sache – könnten wir nie einer Beweisführung zustimmen noch unseren Blick über jene wenigen Gegenstände, die unseren Sinnen gegenwärtig sind, hinaus richten. Ja, selbst diesen Gegenständen könnten wir keine Existenz zuschreiben, außer der Existenz für die Sinne; sie wären für uns nichts als Elemente in der Aufeinanderfolge der Perzeptionen, die unser Ich oder unsere Persönlichkeit ausmachen … Es beruht also alle Erkenntnis, die uns das Gedächtnis, die Sinne und der Verstand vermitteln, auf der Einbildungskraft, oder der Lebhaftigkeit unserer Vorstellungen.“ (I 341 ff.) Wir glauben sogar nur an die als natürlich empfundene Tatsache, dass Feuer wärmt und Wasser erfrischt, weil es uns zuviel Mühe macht, anders zu denken, bemerkt Hume in den weiteren Selbstbespiegelungen eines letztlich optimistischen Skeptikers. (I 348) Richtig gedacht hieße hier, dass wir ja nur das Gefühl von Wärme oder Erfrischung in uns verspüren und es gewohnheitsmäßig seinen Quellen zuordnen, aber nichts über die Eigenschaften von Feuer und Wasser wissen können außer eben jener, die wir in unserem Bewusstsein spüren. Aber die Philosophie als Versuch, den Dingen auf den letzten Grund zu gehen, ist bei allen möglichen Irrtümern Stärke und Schwäche des menschlichen Geistes zugleich und dem Verharren in allerlei Aberglauben allemal vorzuziehen. Denn der wahre Skeptiker wird nicht nur an seinen Überzeugungen zweifeln, sondern auch an seinen Zweifeln. (I 352). Und trotzdem den Plan des Traktats „Über die menschliche Natur“ vollenden, also Buch II und Buch III „Über die Affekte“ und „Über Moral“ schreiben. Wenn schon dem Erkenntnisvermögen unseres Geistes so wenig zu trauen ist, ist vielleicht in unseren Gefühlen eine sicherere Basis für unsere Selbsterkenntnis zu finden.



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II. Wie wir fühlen – Traktat II „Über die Affekte“ 1. Zwischen Vernunft und Lust Wenn der Mensch seinen Verstand gebraucht, kommt ihm keine abstrakte Vernunft zur Hilfe, die den Operationen seines Geistes die Bahn bereiten könnte. Er schöpft aus seinen Erfahrungen der Welt und gibt ihnen eine lebenstüchtige Form. Zu diesen Erfahrungen gehört aber zweifellos nicht nur die Wahrnehmung der Welt um uns herum durch die Sinne, sondern auch eine innere Welt der Gefühle, deren Architektur und Beitrag zur Natur des Menschen aufzuklären ist. „Ich glaube“, schreibt Hume in seinem häufig undogmatischen Duktus, „es darf ruhig als allgemeine Regel hin gestellt werden, dass kein Objekt sich den Sinnen darbietet und kein Bild von der Einbildungskraft geformt wird, ohne eine dasselbe begleitende Gefühlserregung und Bewegung der Lebensgeister, die der jedesmaligen Eigenart des Objektes entspricht. Die Gewohnheit macht, dass wir uns dieser Empfindung nicht (gesondert) bewusst werden, sondern sie mit dem Objekt oder der Vorstellung zusammenfließen lassen.“ (II 108) Schon die Welt der Dinge ist für uns mit Emo­ tionen behaftet. Die Wahrnehmung der Außenwelt allein als Leistung eines an Rationalität orientierten Verstandes begreifen zu wollen, verfehlt die menschliche Natur fundamental. Und die Gefühlswelt ist kein abgesonderter Bereich, der gegebenenfalls durch eine überlegene Vernunft beliebig zu kontrollieren wäre, sondern konstitutiver Bestandteil des geistigen Vermögens der Menschen. Vom unpräzisen Gebrauch des Wortes Vernunft war schon die Rede. Dies ist auch ein Problem der Übersetzung von „Reason“ und „Understanding“, wobei wir die Versionen der deutschen Übersetzung von Theoder Lipps (1906) beibehalten. Traktat I ist „Of the Understanding“ betitelt, wenngleich Hume im Verlauf gelegentlich das Wort „Reason“ verwendet, ohne dass es anderes bedeutet als „Understanding.“ Vernunft ist einerseits als Erkenntnisvermögen überhaupt zu verstehen, andrerseits als

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richtiges Denken mit wahren Ergebnissen. Als eigenständige Kategorie wie bei Kant – These: Der Gebrauch der Vernunft führt zu vernünftigen Ergebnissen – gibt es die Vernunft bei Hume nicht. „Reason“ als Vernunft ist eigentlich nur der kleinere Bruder Verstand, der wiederum nur den pragmatischen Einsatz der Geisteskräfte bei der Identifizierung „von Wahrheit und Irrtum“ bezeichnet. Aber etwas anderes als Vorstellungen und ihr Pendant in der Wirklichkeit zu vergleichen und auf Kausalitäten zu schließen, leisten Verstand respektive Vernunft im Humeschen Kosmos nicht. (III 198, s 16) Und schon gar nicht vermag diese Vernunft Gut und Böse zu unterscheiden. (III 204 ff., s 21 ff.) Sie wird im Traktat II „Über die Affekte“ selbst zu einem Affekt, wenn auch zu einem besonderen. „Was wir gewöhnlich unter Affekt verstehen, ist eine heftige und spürbare Gefühls­ erregung im Geiste, (die entsteht) indem ein Gut oder Übel … sich ihm darstellt. Unter Vernunft verstehen wir Gemütsbewegungen, die gleicher Art sind wie die Affekte, die aber ruhiger wirken und keinen Aufruhr in der Gemütsverfassung hervorrufen. Diese Ruhe verleitet uns zu einem Irrtum über ihr Wesen, d. h. sie lässt uns dieselben als reine logische Leistungen (conclusions) unserer intellektuellen Vermögen erscheinen.“ (II 176) Heftige und ruhige Affekte können je nach Umständen ihre Intensität ändern und miteinander konkurrieren. Dieser „Kampf zwischen Affekt und Vernunft, wie er genannt wird, (bringt) Mannigfaltigkeit in das Leben, sofern er bewirkt, dass Menschen so verschieden sind (wie sie sind), nicht nur voneinander, sondern auch jeder von sich selbst in den verschiedenen Zeiten.“ (II 177) Es wird mehr als deutlich, dass Vernunft – in welcher Bedeutung auch immer – kein Begriff ist, um den herum die menschliche Natur erklärt werden kann. Sie ist bei Hume eine Randerscheinung des Systems und damit des menschlichen Geistes, der von Erregungen verschiedener Intensität in Bewegung gesetzt wird. Hume geht es um den nie im allgemeinen Konsens aufgehenden Versuch, die Natur des Menschen jenseits der in der Philosophietradition bereitgestellten und bearbeiteten Begriffspaare



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Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit, Leib und Seele usw. so zu erklären, dass man konkrete Menschen darin erkennen kann. Es mag leichter verständlich sein, dem Menschen zwischen jeweils zwei Antipoden seine schwankende Existenz zuzuweisen, aber nur um den Preis, das abgesteckte Begriffsfeld bereits selbst für eine anthropologische Tatsache zu halten. Nicht die Perfektion eines zumindest logisch unangreifbaren Systems, nicht die Verkündigung von Dogmen sind seine Sache, für die man zeitweilig Anhänger auftreiben und sich auf der Seite der Wahrheit fühlen könnte, sondern die angestrengte, zuweilen überangestrengte Suche nach einem Modus des Verstehens, warum wir so und wie wir so sind, wie wir nun einmal zu sein scheinen. Der vertikale Aufbau eines Begriffssystems und dessen horizontale Anwendung auf die Dinge des Lebens müssen dabei wohl fast unvermeidlich hin und wieder in Turbulenzen geraten. Humes Begriffe sind nur scheinbar präzise definiert, wie er selbst verschiedentlich ohne Verlegenheit eingesteht. Sie decken nicht einer neben oder über dem anderen klar getrennt das gesamte Feld ab, sondern überlappen sich, gehen ineinander über und verwandeln sich. Er betreibt keine stringente Systematik, in der alles seinen festgefügten Platz hat, sondern folgt lieber seiner Beobachtung der Menschen inklusive natürlich seiner selbst. Und trotzdem ermöglichen die theoretisch gemeinten Begriffe eine gewisse Ordnung der Darstellung und der Schwerpunktsetzung. Sie organisieren also eher den Text als den Gegenstand. Zweites Buch des Traktats über die menschliche Natur also. Dessen erster Teil handelt in zwölf Abschnitten „Über Stolz und Niedergedrücktheit“ (pride and humility), der zweite in gleichfalls zwölf Unterthemen von „Liebe und Hass“, der dritte in zehn Abschnitten „Vom Willen und den unmittelbaren Affekten“. Der erste Teil unterstellt, so könnte man in einer ersten Annäherung sagen, dass es Gefühls- oder Bewusstseinszustände gibt, die den Eigenwert, das Selbstverständnis, jedes Menschen in sich konstituieren, aus welcher äußeren Quelle sie sich auch immer speisen mögen. Der zweite Teil untersucht die Gefühlsbeziehung zur Außenwelt zwischen den möglichen Extremen: „Stolz und Niedergedrücktheit sind reine

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Gefühle in der Seele, von keinen Wünschen begleitet und ohne unmittelbaren Antrieb zum Handeln. Liebe und Hass dagegen sind nicht in sich selbst abgeschlossen; sie bleiben nicht bei dem Gefühl, das sie erzeugen, stehen, sondern sie treiben den Geist vorwärts.“ (II 100) Der dritte Teil schließlich thematisiert die überragende Kraft der unmittelbar wirkenden, direkten Emotionen wie Begehren und Abscheu, Kummer und Freude, Hoffnung und Furcht auf unser Denken und Handeln und stellt die Frage nach der Willensfreiheit. Die Affekte, mit denen Hume arbeitet, sind für ihn Tatsachen, deren Funktionszusammenhang zu erklären ist. Ihre Existenz ist empirisch gegeben. Im Gegensatz zu den Phänomen der Natur, deren tiefstes Wesen uns unbekannt ist und deshalb immer zu Widersprüchen ihrer theoretischen Erklärungen führen muss – so ist es bis heute, oder seit der Quantenphysik wieder –, sind „die Perzeptionen des Geistes vollständig bekannt.“ (II 100) Der Mensch ist durchschaubar, die Natur nicht ganz. Gerade deshalb ist es sein Ehrgeiz, auch der Wissenschaft vom Menschen einen naturwissenschaftlichen Charakter zu geben. Die bisherige Geisteswissenschaft vergleicht er mit der Lage der Astronomie vor der kopernikanischen Wende, die immer neue Ursachen für ihre Systeme erfunden habe und durch Kopernikus „schließlich einer einfacheren und natürlichen Betrachtungsweise weichen musste. Wenn wir ohne Bedenken für jede neue Erscheinung ein neues Prinzip aufstellen, anstatt sie den alten anzupassen, wenn wir unsere Hypothesen mit einer Menge solcher Prinzipien belasten, so beweisen wir, dass keines derselben richtig ist, dass wir nur bestrebt sind, unsere Unkenntnis der Wahrheit durch eine große Anzahl von Unwahrheiten zu verdecken.“ Die Beobachtungen des „begrenzten Wesens“ Mensch, (II 11) die Hume umfänglich ausbreitet und zu systematisieren versucht, setzen sich zu einem konsistenten Menschenbild zusammen, ohne die Komplexität des Gegenstandes zu sehr durch zu einfache Prinzipien von vornherein zu beschädigen. Alle Affekte wie zum Beispiel Stolz und Niedergedrücktheit – man könnte auch gesundes Selbstbewusstsein und tiefe



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Selbstzweifel als mehr oder weniger entsprechende Pole einer Gefühlsskala nehmen – sind „einfache und in sich gleichförmige Eindrücke“, die man unmöglich genau definieren kann. Man kann allenfalls die sie „begleitenden Umstände“ beschreiben. (II 5) Jeder, so Hume, wird mit diesen Begriffen eine hinreichend klare Vorstellung verbinden. Im Zuge seiner weiteren Argumentation sieht er sich dann doch genötigt, lebensnaher aufzufüllen, was er unter Stolz versteht: „Um nun hier nicht um Worte zu streiten, bemerke ich, dass ich unter Stolz jenen angenehmen Eindruck verstehe, der im Gemüt entsteht, wenn das Bewusstsein unserer Tugend, oder unseres Reichtums oder unserer Macht uns mit Selbstzufriedenheit erfüllt.“ (II 28) Aber die Umkreisung des Begriffs geht an anderer Stelle weiter. „Menschen, die mit ihrem Charakter, ihrem Geist, ihrem Vermögen zufrieden sind, haben fast immer den Wunsch, in der Welt hervorzutreten und die Liebe und den Beifall der Menschen zu erwerben. Offenbar nun sind (dabei) die Eigenschaften und Umstände, die den Stolz oder die Selbstachtung erzeugen, genau dieselben wie diejenigen, die Eitelkeit oder den Wunsch anerkannt zu werden hervorrufen.“ (II 63) Und in dem eigenen Kapitel „Über das Streben geachtet zu werden“ wird der gesellschaftliche Status zu einer der Ursachen von Stolz, die Hume als sekundär bezeichnet. „Dieselbe beruht auf den Meinungen anderer und wirkt in gleicher Weise auf unsere Gemütsbewegungen. Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwer wiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes, Tugend, Schönheit und Reichtum, haben wenig Wirkung, wenn die Meinungen und Anschauungen anderer ihnen nicht Vorschub leisten.“ (II 47 f.). Es geht also von vornherein nicht um eine umfassende Definition von möglichen Affekten bei der Arbeit, sondern eher um eine beispielhafte Analyse ihrer Funktionsweise und grundsätzlichen Bedeutung für die menschliche Natur. Affekte gleichen „einem Saiteninstrument, bei dem die Schwingungen nach jedem Strich (noch eine Zeitlang) fortfahren, ihren Klang zu erzeugen und ihn nur allmählich und unmerklich ersterben zu lassen.“ (II 180) Jeder Mensch und jede Situation ist letztlich ein Einzelfall, aber es ist gleichwohl gerechtfertigt davon

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auszugehen, dass Menschen zwischen den Gefühlslagen des Stolzes oder der Selbstzufriedenheit und Selbstzweifeln oder depressiver Stimmung schwanken, wie immer man diese Pole benennen will. Humes Begriffsinstrumentarium nimmt die in Traktat I gemachte Unterscheidung der Eindrücke in solche der Sinneswahrnehmung und solche der Selbstwahrnehmung auf, nennt sie nun aber primäre und sekundäre Eindrücke. Die primären Eindrücke sind solche, „die in der Seele entstehen, ohne dass gleichartige Perzeptionen ihnen vorausgegangen sind. Sie entstehen aus der Körperbeschaffenheit, den Lebensgeistern oder aus der Einwirkung von Objekten auf die äußeren Organe.“ (II 3) Sie sind also ursprüngliche, erstmals auftretende, primäre mentale Zustände, die sich nicht von anderen mentalen Zuständen ableiten lassen. Die Eindrücke der Selbstwahrnehmung oder eben in neuer Nomenklatur sekundären Eindrücke leiten sich, wie es der Name unvermeidlich macht, von den primären Eindrücken ab, „entweder unmittelbar oder durch die Vermittlung der Vorstellung derselben. Zur ersteren Art gehören alle Sinneseindrücke und alle körperlichen Schmerz- und Lustgefühle; zur zweiten die Affekte und alle ihnen ähnlichen Gefühls­ erregungen. … Körperliche Schmerz- und Lustgefühle sind die Quellen vieler Affekte, sowohl wenn sie empfunden als auch wenn sie nur vorgestellt werden; aber sie entstehen ursprünglich in der Seele, oder wenn man lieber will im Körper, unabhängig von einer vorhergehenden Vorstellung oder überhaupt einer vorhergehenden Perzeption.“ (II 3 f.) Die Seele ist gleichsam ein Terminus technicus, der sich als mentaler Zustand reichhaltig ausstaffieren lässt. (II 34) Der Körper mag zwar die organische Basis für das Bewusstsein sein, aber er ist erst Körper, wenn er empfunden wird. Und die Signale, die er aussendet, schwanken zwischen den Polen Schmerz und Lust, oder weniger scharf zwischen Unwohl- und Wohlgefühlen aller Art. Es sind Gefühle. Schon im Traktat I hat Hume konstatiert: „Dem menschlichen Geist ist das Gefühl der Lust und Unlust eingepflanzt; und dies Gefühl bildet die hauptsächlichste Triebfeder und den hauptsächlichsten bewegenden



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Faktor bei allen unseren Handlungen.“ Ist es nahezu unmittelbar wirksam, muss es ein Eindruck sein, kann es relativiert werden, ist es nur die blasse Vorstellung des Gefühls. (I 162) Und im Traktat III heißt es über Lust und Unlust noch klarer: „Werden diese Empfindungen aus unserem Denken und aus unserem Fühlen entfernt, so sind wir in beträchtlichem Maße des Affektes und des Handelns, des Begehrens und des Wollens unfähig. Die unmittelbarsten Wirkungen von Lust und Unlust aber sind die Regungen der Neigung und Abneigung.“ (III 327, s 157) Man kann sich die Frage stellen, warum Hume das Duett Lust und Unlust oder noch einfacher positiv und negativ nicht an die Spitze oder an die Basis seines Systems gestellt hat. Dieses Paar erfüllt seine Forderung nach möglichst einfachen Hypothesen aufs Beste. Aber es entzieht sich der direkten Beobachtung. Zu sehen sind nur ihre Ausdrucksformen wie Fröhlichkeit oder Wut. Es muss eine letzte Ursache, deren Wirkungen wir kennen, einen zugrunde liegenden Faktor geben. Die Ursache selbst ist nicht beweisbar, sondern nur aus verschiedenen Erscheinungsformen plausibel anzunehmen. Und zugleich so selbstverständlich, dass damit letztlich alles und nichts erklärt werden kann. Lust oder Unlust rufen Affekte hervor, die wir aus Erfahrung kennen und deshalb analysieren können. Eindrücke und Vorstellungen, die beiden Zentralbegriffe Humes, sind in dem Sinne keine Ursachen, sondern deskriptive Begriffe. Sie sind Perzeptionen, Bewusstseinszustände, die das Procedere des menschlichen Geistes begrifflich ordnen und durchsichtig machen sollen. Auch wenn Eindrücke am Beginn des Denkens und Fühlens stehen, so sind sie doch nicht dessen Ursache. Diese wiederum ist mehr oder weniger mit dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Unlust identisch und gleichsam eine Naturkonstante. Jenseits der Zentralbegriffe und ihrer jeweiligen Ortsbestimmung im System bemüht Hume des Öfteren derartige Konstanten, die mal Eigenschaften oder Eigentümlichkeiten, mal Instinkte oder Natur genannt werden. „Wertvolle Eigenschaften des Geistes“ und damit mögliche Ursachen des Stolzes sind zum Beispiel Einbildungskraft, Urteilsfähigkeit, Gedächtnis, Tempe-

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rament, Witz, Verstand, Gelehrsamkeit, Mut, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit, (II 7) aber auch Sympathie. (II 48) Das Mitgefühl für das Glück oder Unglück anderer fungiert als „zufälliger und ursprünglich unserer Natur eingepflanzter Instinkt.“ (II 103) Es ist eine Eigenschaft der menschlichen Natur, dass sich ihre Einbildungskraft dem Wichtigen und Bedeutenden zuwendet, (II 39) dem Gewöhnlichen keinen Wert zumisst, (II 21) durch Widerstand gestärkt wird, (II 172) von Neugierde getrieben ist und ein schneller Wechsel der Umstände Unbehagen hervorruft. (II 193) Es ist ein ursprünglicher Instinkt des Geistes, das Gute zu erkennen und das Übel zu vermeiden, (II 177) und es entspricht seiner Natur, „nach fremden Objekten zu suchen, die eine lebhaften Empfindung zu erregen und die Lebensgeister in Bewegung zu setzen geeignet sind,“ (II 85) aber auch die Reichen zu achten. (II 94). Kurzum: „Die Natur hat dem Körper gewisse Triebe und Tendenzen verliehen; und sie steigert, verringert oder verändert dieselben je nach dem Bedürfnis der flüssigen und festen Bestandteile desselben. In gleicher Weise nun verfuhr sie mit dem Geist.“ (II 102) Zwischen einer Vernunft immerhin als Denkmöglichkeit und der natürlichen Disposition für das Angenehme als Tatsache liegt die mächtige Welt der Gefühle. 2. Das Modell der Affekte Die äußere Welt der Gegenstände stößt in der inneren Welt des Bewusstseins auf ein Regelwerk der Verarbeitung, das in den beobachtbaren Affekten seinen Ausdruck findet. Wenn man von äußeren Reizen ausgeht, die qua Sinneswahrnehmung Material für das Bewusstsein liefern, das dort beliebig wirken kann, verfehlt man die Intention Humes. Er geht zunächst nicht von der Wahrnehmung und dem äußeren Gegenstand aus, sondern von dessen gefühlter Bedeutung als Material, also zum Beispiel Lustgefühlen. Diese im Bewusstsein vorhandene Perzeption ist für ihn die Basis allen weiteren Procederes und wird in Vorstellungen zu neuem Material, also zum Beispiel Verlangen, umgearbeitet, dass sich dann wieder nach außen richtet. Die sekundären oder Eindrücke der Selbstwahrnehmung sind



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der Gegenstand des Modells. Er unterteilt sie in ruhige und heftige und schließt damit an die in Traktat I vorgenommene Klassifikation der Perzeptionen – Eindrücke und Vorstellungen – nach Intensität an. Wir zählen auf. Ruhig: „Gefühl der Schönheit und Hässlichkeit angesichts einer Handlung, einer künstlerischen Komposition oder äußerer Objekte.“ Heftig: „Affekte der Liebe und des Hasses, des Grams und der Freude, des Stolzes und der Niedergedrücktheit.“ Aber Hume merkt selbst an, das „diese Einteilung weit entfernt von Genauigkeit“ ist. Die eingangs erwähnte Vernunft, von gleicher Art wie ein ruhiger Affekt, wird hier nicht angeführt. Damit nicht genug, wenngleich er wiederum zugibt, auch die folgende Einteilung „nicht weiter rechtfertigen oder verständlich machen“ zu können. Auch die Affekte, die eine spezielle Form der per definitionem heftigen Eindrücke sind, kann man unterteilen, nämlich in direkte und indirekte. Die direkten Affekte entstehen „unmittelbar aus einem Gut oder Übel, aus Schmerz oder Lust.“ Hume zählt beispielhaft auf: „Begehren, Abscheu, Schmerz, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewissheit.“ Die indirekten Affekte beruhen „auf derselben Grundlage“, es wirken aber „noch andere Momente“ mit. Zu ihnen gehören: „Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit, Liebe, Neid, Mitleid, Groll, Großmut und die aus ihnen ableitbaren Affekte.“ (II 4 f.) Man bekommt nach diesen einleitenden Passagen eine Ahnung davon, dass der Traktat II weder ein Verkaufserfolg war noch die Kollegen Philosophen aller nachfolgenden Zeiten in besondere Erregung versetzt hat. Nicht unplausibel, aber vielfach eher verwirrend und viele Fragen offen lassend, erscheint hinter der angestrengten Systematisierung der Gefühlslagen ein Modell des Menschen, das die vorherige Modellierung des menschlichen Geistes nicht nur ergänzt, sondern abrunden soll. Es steht nicht zufällig zwischen den reinen Operationen des Geistes und seinen fragilen Erkenntnismöglichkeiten und den gesellschaftlichen, moralischen Realitäten, respektive deren Erklärung. Es gibt Erlebnisse, Lebenserfahrungen und intellektuelle Prägungen, die so „eindrucksvoll“ sind, dass sie gewohnheitsmäßig all das steuern, was man für wahr hält oder sich „vorstellen“ kann. Und es gibt über die kühl urteilende Verstan-

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destätigkeit hinaus die schwerer fassbare, aber ebenso wirkungsmächtige Welt gefühlsmäßiger Konnotationen. Hume schlägt für deren Verständnis ein dreistufiges Modell vor. Ganz unten die nicht weiter hinterfragbare Naturkonstante Lust und Unlust, die nichts anderes ist als der individuelle Überlebensinstinkt in einer weichen Form. Darüber die primären Eindrücke, die körperliche Reaktionen zwischen Schmerz und Lust sind und natürlich auch aus Wahrnehmungen der Außenwelt entstehen können. Und an der Spitze der Modellpyramide die den Einzelnen selbst beherrschenden Gefühle, die damit keineswegs seiner beliebigen Disposition zugänglich sind und sich in Affekte als von außen wahrnehmbare Reaktionsformen umsetzen. Damit ist eine Brücke zwischen dem Ich und den Anderen betreten, die dann im Traktat III in das Reich der Gesellschaft überschritten wird. Es versteht sich für Hume von selbst, dass seine Typologie zwischen primär und sekundär, ruhig und heftig und direkt und indirekt nur eine grobe Markierung mit jedweden Übergangs- und Zwischenformen darstellen kann, die ein unübersichtliches Gelände operabel machen soll. Die Affekte sind von Hume als selbstständig operierende und als solche benennbare Einheiten gedacht, die es nun einmal ungeachtet ihrer vielfältigen Ursachen gibt. Zorn zum Beispiel ist Zorn, und wenn ich zornig bin, dann hat er mich befallen wie eine Krankheit, die aufgrund welcher Ursache auch immer da ist. Affekte sind natürlich nicht wie Viren unter dem Mikroskop zu beobachten, sondern nur in ihrer Wirkung im menschlichen Fühlen, Denken und Verhalten identifizierbar. Sie haben ein Objekt und eine Ursache. „Das Objekt ist das eigene Selbst oder jene Folge untereinander zusammenhängender Vorstellungen und Eindrücke, die unserer Erinnerung und unserem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig sind. Hierauf ist unser Blick immer gerichtet, wenn wir durch einen dieser Affekte in Erregung versetzt werden.“ Ausgelöst wird der Affekt durch eine äußere Ursache, die natürlich wahrgenommen werden muss und dann als Vorstellung in unserm Geist präsent ist, sich aber sogleich automatisch auf unser Selbstwertgefühl richtet. „So steht also der Affekt zwischen zwei Vorstellungen, einer, die ihn hervorbringt, und einer anderen, die durch ihn hervorgebracht



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wird.“ (II 6 f.) Und diese andere Vorstellung, das Zielobjekt des Affektes also, ist das Ich-Bewusstsein in der jeweiligen Situa­ tion. Eine statische Vorstellung der Person weist Hume zurück, wie bereits dargelegt. Die Ursachen können sehr verschieden sein. Stolz kann man zum Beispiel auf „alle wertvollen Eigenschaften des Geistes“ von der Urteilsfähigkeit bis zur Rechtschaffenheit sein, aber auch auf Schönheit oder Geschicklichkeit und potenziell alles, „was uns irgendwie angehört“ wie Vaterland, Familie oder Reichtümer. Sehr viel später benennt Hume den harten gesellschaftlichen Kern seines Begriffes von Stolz: „Als engster Zusammenhang gilt der Zusammenhang zwischen der Person und dem Eigentum; er ist es darum, der von allen am häufigsten den Affekt des Stolzes hervorruft.“ (II 40) Dass ein jeder sich die Gegenstände seines Stolzes oder seiner Niedergedrücktheit gleichsam beliebig in der Welt zusammensuchen kann, wäre allerdings kaum eine weiterführende Erkenntnis. Dies macht eine weitere Unterscheidung nötig, nämlich zwischen dem Gegenstand und dessen Eigenschaften. Beim Stolz auf ein eigenes, schönes Haus ist dies der Gegenstand, seine Schönheit die Eigenschaft. „Jedes dieser beiden Momente ist wesentlich, und ihre Unterscheidung ist keineswegs nichtig oder illusorisch. Schönheit nur als solche betrachtet, ohne dass ihr Träger mit uns im Zusammenhang steht, erregt niemals Stolz oder Eitelkeit; und andererseits hat der stärkste Zusammenhang mit uns ohne Schönheit oder Etwas, das an die Stelle derselben tritt, keine Bedeutung für diesen Affekt.“ (II 8). Die Schönheit wiederum bezieht ganz allgemein ihre positive Bedeutung aus einer Empfindung der Lust. (II 30) Das schöne Haus als lustvoller Besitz erzeugt den Affekt des Stolzes, den der Eigentümer fühlt. Die unmittelbare Betroffenheit ist zwar eine wichtige Einkreisung der Affekte, aber es bleibt die Frage, welchen Status der Affekt zwischen Objekt und Ursache, zwischen Ich und Welt, zugewiesen bekommt. Hume greift auch hier auf die mensch­ liche Natur zurück. Die Beziehung der Affekte auf unser Selbst bezeichnet er als eine ursprüngliche Eigentümlichkeit des Geistes, weil sie immer und unveränderlich zu beobachten ist. Der

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Geist muss „primäre Qualitäten“ als Bedingung seiner Tätigkeit haben, „die ganz untrennbar von der Seele sind und auf keine anderen zurückgeführt werden können.“ (II 9) Die Ursachen der Affekte können angesichts der Fülle der Möglichkeiten nicht den gleichen systematischen Status beanspruchen, auch wenn sich für sie ein überzeitliches Muster ergibt: „Wir sehen da, dass zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieselben Dinge Stolz und Niedergedrücktheit erzeugen … Können wir uns etwa vorstellen, dass die Menschen, solange die menschliche Natur dieselbe bleibt, jemals ganz gleichgültig gegen Macht, Reichtum, Schönheit oder persönliches Verdienst seien, dass ihr Stolz und ihre Eitelkeit durch solche Vorzüge nicht berührt werden?“ (II 10) Hume bezeichnet diese Ursachen als natürlich – nicht im Sinne von naturgegeben, sondern eher von selbstverständlich. Nun wäre eine erweiterte Liste von „natürlichen“ Ursachen des Stolzes durchaus möglich. Aber sie würde den geistigen Zustand Stolz scheinbar eindeutig an die Außenwelt fixieren, obwohl er ein Phänomen der Innenwelt, der menschlichen Natur ist, das sich aus vielfältigen Quellen speist. Hume macht keinen Unterschied zwischen geistigen oder körperlichen Eigenschaften, sozialen Konstrukten wie Macht oder Reichtum und materiellen Gegenständen als Ursachen des Stolzes. Letztere sind auch deshalb keine primären Qualitäten, sondern „nur“ natürlich, weil viele Ursachen des Stolzes „künstliche Erzeugnisse“ des Gewerbefleißes sind. (II 10) Das heißt auch, dass die ursprüngliche Natur des Geistes flexibel der elementaren Beschaffenheit seiner Umwelt angepasst ist und vom Naturzustand bis zum zivilisatorischen Reichtum der gleichen Affektstruktur folgen kann. Es sei denn, und dies ist gewiss nur rhetorisch gemeint, die Natur des Menschen – nicht seine Kultur – änderte sich fundamental. Neben primären Qualitäten oder ursprünglichen Eigentümlichkeiten als Basis ihrer sekundären Operationen zeichnet sich die menschliche Natur durch weitere „gewisse Eigenschaften“ aus, die den Affekten – als einfache Eindrücke gedacht – erst ihre eigentliche Dynamik verleihen. Es ist das Prinzip der Assoziation von Eindrücken und Vorstellungen. Der Mensch ist nicht in der Lage, eine bestimmte Vorstellung längere Zeit



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festzuhalten. Der unvermeidliche Gedankenfluss folgt einer beschreibbaren Regel: „dass wir von einem Gegenstand zu einem, der ihm ähnlich ist, zu einem räumlich oder zeitlich mit ihm unmittelbar zusammenhängenden oder zu einem durch ihn ­hervorgebrachten übergehen.“ Ebenso verhält es sich mit den Eindrücken, deren Verbindung nur durch ihre Ähnlichkeit befördert wird: „Schmerz und Enttäuschung erzeugen Ärger, Ärger Neid, Neid Bosheit, und Bosheit wieder Schmerz, bis der ganze Kreis durchlaufen ist.“ Beide Assoziationsarten können sich gegenseitig unterstützen und entsprechend einen neuen Affekt „mit entsprechend größerer Heftigkeit“ hervorrufen. (II 12 f.) Wenn die Assoziationen sich zunächst in einem Feld von Ähnlichkeiten abspielen, liegt der Gedanke nahe, dass sich dahinter ein Prinzip verbirgt, das diese Ähnlichkeiten konstituiert. Ohne weiteren argumentativen Aufwand konstatiert Hume, „dass jede Ursache des Stolzes an sich oder durch ihre eigene Beschaffenheit Lust erregt und jede Ursache der Niedergedrücktheit an sich Unlust.“ Als weitere Voraussetzung, „die durch viele deutliche Beispiele Wahrscheinlichkeit gewinnt“, greift Hume erneut das Prinzip der Nähe auf, „dass die Ursachen oder Gegenstände von Lust und Unlust entweder Teile von uns selbst sind oder nahe mit uns zusammenhängen.“ (15) Die knappste und klarste Zusammenfassung seiner AffekteTheorie gibt Hume in der Einleitung zum letzten Abschnitt des ersten Teils, der sich mit „Stolz und Niedergedrücktheit bei Tieren“ befasst. Die Affekt-Theorie gilt im Prinzip auch für Tiere, denen Hume ja auch im Traktat I die Fähigkeit des Denkens zugeschrieben hat. „Kein Gegenstand (kann) einen dieser Affekte erregen, wenn er nicht mit uns zusammenhängt und auch schon unabhängig von dem Affekt Lust oder Unlust erzeugt. Wir haben nicht nur bewiesen, dass alle Ursachen des Stolzes und der Niedergedrücktheit die Tendenz, Lust oder Unlust zu erzeugen, miteinander gemein haben, sondern auch, dass dies das einzige Gemeinsame an ihnen ist, und dass dies folglich die Eigenschaft ist, durch die allein sie wirken. Wir haben ferner bewiesen, dass die Hauptursachen dieser Affekte in Wahrheit nichts anderes sind, als die Macht, angenehme oder unangenehme Empfindungen hervorzurufen. Daraus folgt, dass

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alle Wirkungen derselben, u. a. auch Stolz und Niedergedrücktheit, nur aus dieser Quelle hergeleitet werden können.“ (II 56 f.) Oder, an anderer Stelle ganz einfach: „Alles, was eine angenehme Empfindung erregt und mit dem eigenen Selbst zusammenhängt, erregt den Affekt des Stolzes, der gleichfalls angenehm ist und gleichfalls das Selbst zum Objekt hat.“ (II 18) Nun ist Hume pragmatisch genug, um seine Konstruktion individueller Funktionszusammenhänge in den sozialen Kontext einbetten zu können. Unter der Überschrift des sechsten Abschnittes „Einschränkungen dieser Theorie“ werden Konzessionen an die beobachtete Realität gemacht, die „sich aus der Natur des Gegenstandes“ ergeben. Und die Natur des Gegenstandes Stolz ist offenkundig kein individuell abgekapseltes Phänomen, auch wenn Hume ihn verschiedentlich als reines Gefühl der Seele behandelt, sondern ergibt sich erst im sozialen Kontext. So sind Freude, Vergnügen oder Ergötzen natürlich gleichfalls Affekte des Angenehmen, aber eben schwächer und nicht ganz so eng mit unserem Selbstbewusstsein verbunden wie der Stolz als stärkste Kategorie in dieser Abteilung. Humes Beispiel ist ein Gastgeber, der angesichts seines Festes Selbstzufriedenheit und Eitelkeit empfinden kann, während dem Gast dieser Affekt verwehrt und stattdessen nur Freude bleibt. Auch Freude wird als Affekt bezeichnet, der aber nur eine Ursache braucht und „streng genommen unser Selbst“ nicht als Objekt hat, wohingegen der Muster-Affekt Stolz sich genau dadurch auszeichnet. (II 20 ff.) Es gibt also Formen des Angenehmen, die nur in Stolz umschlagen, wenn wir die Herren und nicht die Beobachter des Vorgangs sind. Die zweite Einschränkung ist eine Verschärfung der Betroffenheitsthese. Es muss zur Erregung des Affektes nicht nur ein enger Zusammenhang zwischen Individuum und ihrem Gegenstand bestehen, denn er muss „uns allein gehören oder uns nur mit wenigen anderen gemeinsam gehören.“ Exklusivität entsteht nur durch den Ausschluss Anderer. „Es ist auffällig, dass Güter, die der ganzen Menschheit gemeinsam und uns durch Gewohnheit vertraut geworden sind, uns nur wenig Befriedigung gewähren, selbst wenn sie an sich wertvoller sind, als andere, die



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wir, wegen ihrer Seltenheit, viel höher schätzen.“ (II 21 f.) Eine weitere Einschränkung ist die Tatsache, dass Dinge, an die der Mensch lange gewöhnt ist oder die häufig vorkommen oder nur kurze Zeit mit ihm verbunden sind, ihren Reiz verlieren, selbst wenn sie eigentlich einen großen Wert darstellen. Die dritte Einschränkung besagt, dass das Objekt unseres Stolzes auch von Anderen wahrgenommen werden muss, um auf uns selbst seine Wirkung zu entfalten. „Wir halten uns für glücklicher, und ebenso für tugendhafter oder schöner, wenn wir anderen so erscheinen.“ (II 23) Die vierte Einschränkung konstatiert, dass „Zufälliges und Unbeständiges wenig Freude und noch weniger Stolz“ weckt, weil daraus kein Vorzug unserer Person abgeleitet werden kann. Der Freude steht allerdings nichts im Wege, denn ihr fehlt bekanntlich der Bezug zu unserem Selbst. (II 23) Die fünfte und letzte „Einschränkung oder eigentlich Erweiterung unserer Theorie“, die sich aus der „Natur des Gegenstandes“ ergibt, liegt in der Bedeutung der gesellschaftlichen Einbettung des Menschen, die Hume unter den Begriff „allgemeine Regeln“ fasst. „Auf einer solchen Regel beruht unser Begriff verschiedener Rangklassen unter den Menschen, die nach der Macht und den Reichtümern, die sie besitzen, sich bestimmen“, ganz unabhängig von der inneren Befindlichkeit der angesehenen Personen. (II 23) Regeln erleichtern den Affekten ihr Geschäft, denn diese sind durch allerlei Kleinigkeiten störanfällig und wirken besonders zu Beginn nicht mit „vollständiger Regelmäßigkeit. … Gewohnheit und Übung“ weisen den Dingen ihren „richtigen Wert“ als Auslöser der Affekte zu. „Angenommen, ein erwachsener und uns gleichgearteter Mensch würde plötzlich in unsere Welt versetzt, so würde er allen Dingen gegenüber in die größte Verlegenheit geraten und nicht so leicht wissen, welches Maß von Liebe oder Hass, Stolz oder Niedergedrücktheit, oder irgendwelchen anderen Affekten denselben zukommt.“ (II 23 f.) Dies ist natürlich ein Widerspruch zu der vorherigen Feststellung, dass überall und zu allen Zeiten die gleichen Ursachen für Stolz gelten. Hume hat dies nicht bemerkt. Solange sein Blick der formalen Konstruktion des Modells zugewandt ist, das die Natur des einzelnen Menschen erklären soll, gelingt diese Theoriebildung mehr oder weniger

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stimmig. Sobald die gesellschaftliche Realität, und das sind die Beziehungen zwischen Menschen, zur Erklärung beigezogen werden muss, verschwindet die Präzision des Modells hinter nur noch klugen Beobachtungen. Es wird schon so sein, dass ein Neuankömmling in einer fremden Kultur seine Orientierungsschwierigkeiten hat, und es wird wohl auch stimmen, dass Macht und Reichtum überall für denjenigen eine Quelle des Wohlbefindens sind, der sie besitzt. Vielleicht ist der Stolz als Beispiel für einen Affekt auch nur eine unglückliche Wahl. Dass der Gefühlshaushalt des Menschen vielleicht andere Prioritäten setzen könnte, das wiederum übersieht Hume nicht. Denn aus den fünf Einschränkungen ergibt sich für ihn: „Die stolzesten Menschen und diejenigen, die in den Augen der Welt den meisten Grund haben, es zu sein, sind nicht immer die glücklichsten; ebenso sind die bescheidensten nicht immer die elendesten, obgleich man dies nach unserer Theorie annehmen sollte.“ Denn es gibt Übel, die jenseits ihres Zusammenhangs mit uns nach den Regeln der Affekte wirkliche Übel sind. „Solche Übel werden nicht ermangeln, uns unglücklich zu machen. Aber sie sind wenig dazu angetan, unseren Stolz zu verringern. Vielleicht sind die wahrsten und andauerndsten Übel des Lebens von dieser Art.“ (II 24) Der zweite Teil des Traktats „Über die Affekte“ untersucht „Liebe und Hass“ in Analogie zu „Stolz und Niedergedrücktheit“ und soll hier nicht genauer betrachtet werden. Was immer man aus dem Humeschen Funktionsmodell Anregendes entnehmen mag, es bedarf ganz offenkundig einer entscheidenden Erweiterung. Denn wie der Mensch fühlt, erklärt nicht ohne weiteres, was er tut. Deshalb nennt Hume den dritten Teil „Vom Willen und den unmittelbaren Affekten.“ 3. Freiheit und Notwendigkeit Im dritten Teil des Traktats II „Über die Affekte“ wendet Hume sich den eingangs erwähnten direkten oder unmittelbaren Affekten zu. Sie sind „Eindrücke, die durch ein Gut oder Übel, durch Schmerz oder Freude ohne weiteres entstehen.“ Zu ihnen



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gehören „Begehren und Abscheu, Kummer und Freude, Hoffnung und Furcht.“ Die wichtigste Wirkung von Schmerz und Freude ist hingegen der Wille, der eigentlich nicht zu den Affekten gehört, aber zu deren Verständnis nötig ist, so Hume, und sich ebenso wenig definieren lässt wie Stolz und Niedergedrücktheit oder Liebe und Hass. Jedenfalls soll Wille nichts anderes bedeuten „als den innerlichen Eindruck, den wir fühlen und dessen wir uns bewusst werden, wenn wir mit Bewusstsein eine Bewegung unseres Körpers oder eine Perzeption des Geistes ins Dasein rufen.“ (II 136) Der Wille wird gemeinhin als die Sphäre freier Entscheidung betrachtet. Wir können so oder auch anders handeln oder denken. Damit gerät er in grundsätzlichen Widerspruch zu den Regelmäßigkeiten der Geistestätigkeit und den Automatismen der Gefühle. Was immer der von der Philosophie traktierte Wille sei, von Schmerz oder Freude verursacht oder nicht, Affekt oder nicht, er ist für Hume der altbekannte Agent zwischen Freiheit und Notwendigkeit, dem er sich hier zuwendet. Und Humes Überlegungen dazu sind gerade im Lichte der modernen Hirnforschung bemerkenswert. Denn, um es vorweg zu nehmen, für Hume gibt es keine Willensfreiheit, aber auch keine simple Determiniertheit menschlichen Verhaltens. Seine Lösung liegt in einer Balance zwischen unserem subjektivem Freiheitsgefühl und der gleichzeitigen Tatsache, dass wir die Handlungen anderer zumeist sehr wohl erklären und vorhersagen können. Ich bin frei zu tun, was ich will, kann Dir aber vorhersagen, was Du wohl als nächstes tun wirst. Hume wiederholt sein Kausalitätsmodell aus dem Traktat I. Allein die Gewohnheit regelmäßig zusammen auftretender Phänomene lässt unseren Verstand qua Einbildungskraft darauf schließen, dass diese Verbindung eine notwendige ist und es sich um Ursache und Wirkung handelt. Auch wenn wir das tiefere Wesen dieser Verbindung niemals durchschauen können, sondern nur ihre Erscheinung an der Oberfläche zur Kenntnis nehmen, handelt es sich doch um eine Determiniertheit, die Hume als „Notwendigkeit“ bezeichnet. Dies gilt nicht nur für die Materie, sondern auch für „unsere Handlungen in konstanter Verbindung mit unseren Motiven.“ (II 138)

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Widersprechende Beispiele lösen die angenommene Kausalität nicht auf, sondern weisen ihr nur den Status geringerer Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit zu, über die menschliche Erkenntnis gemäß Traktat I ohnehin nicht wirklich hinaus kommt. Und im Übrigen kann mangelnde Kenntnis des Vorgangs zu einem falschen Schluss führen, aber nicht die Verursachung von Wirkungen beseitigen. Allerdings bewegt Hume sich hier nicht im Bereich einer Psychologie, die noch die banalste Handlung einer Person in einer potenziell endlosen Kausalkette auflösen will, sondern hat den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang im Auge, der die Rahmenbedingungen setzt, die einfacher zu beobachten sind und schwerer individuell ausgehebelt werden können. „Es gibt einen allgemeinen Naturverlauf in den menschlichen Handlungen, so gut wie in den Wirkungen der Sonne und des Klimas. Es gibt Eigenschaften, die verschiedenen Nationen und einzelnen Menschen eigentümlich und solche, die allgemein menschlich sind.“ (II 140) Gerade in den Unterschieden der Einzelfälle vom Alter bis zu den Lebensbedingungen gibt sich „dieselbe Gleichförmigkeit und regelmäßige Wirksamkeit natürlicher Prinzipien zu erkennen.“ Hume meint zum Beispiel den Unterschied der Geschlechter, das eine durch „Kraft und Reife“, das andere durch „Zartheit und Weichheit“ ausgezeichnet. (II 138) Mag dies heute als haltloses Klischee gelten, so ist auch der gleich darauf folgende Blick aufs große Ganze bald dreihundert Jahre alt, nicht aber die abstrakte Folgerung daraus. Ein Tagelöhner wird sich nicht nur körperlich, sondern auch durch sein Innenleben von einem Vornehmen unterscheiden: „Die verschiedene gesellschaftliche Stufe beeinflusst das ganze Geschöpf, innerlich und äußerlich … Die Menschen können nicht ohne Gesellschaft leben, und können nicht zusammengehalten werden ohne Regierung. Die Regierung nun fixiert den Unterschied des Eigentums, und schafft so verschiedene Klassen von Menschen. Daraus entstehen Gewerbefleiß, Handel, Fabriken, Prozesse, Krieg, Bündnisse, Verträge, Seefahrten, Reisen, Städte, Flotten, Häfen und all die anderen Handlungen und Gegenstände, die jene Verschiedenheit und gleichzeitig die bei allem dem so auffallende Gleichmäßigkeit des menschlichen Lebens hervorbringen.“ (II 139)



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Wenn der Mensch gar nicht anders zu denken ist als ein aus Ursachen handelndes Wesen, dann kann die Gesellschaft nicht ohne praktische Anerkennung dieses Prinzips funktionieren. Diese Anerkennung erzeugt „moralische Gewissheit … im Denken wie im Handeln“, also eine Sicherheit in der Beurteilung Anderer. Sie ist nichts anderes als das Vertrauen darauf, dass es so ist, wie es scheint, weil es meistens so war. Und sie begründet die Erwartung, dass es immer wieder so sein wird. „Dergleichen Schlüsse sind (überhaupt) so innig in das menschliche Leben verwoben, dass es unmöglich ist, auch nur einen Augenblick zu handeln oder zu existieren, ohne sie zur Hilfe zu nehmen.“ Sie stützen sich in der Regel auf eine Vielzahl von Fällen, wie Hume an einer einfachen Tatsachenbehauptung erläutert. Lesen wir vom Tod Cäsars, so glauben wir daran, weil wir uns an etliche weitere Aussagen diesen Inhalts erinnern und davon ausgehen, dass nicht alle nur zu dem Zweck behauptet wurden, uns zu täuschen. Und ein Fürst kann aus gleichem Grund mit Steuerehrlichkeit, ein Feldherr mit Mut, ein Kaufmann mit Ehrlichkeit rechnen. Jeder solcher Schlüsse als Grundlage von Willensakten entspringt dem Bewusstsein seiner „Notwendigkeit“, lässt also keine andere Wahl zu. Und er ist zuletzt „nichts anderes als die Wirkung der Gewohnheit auf die Einbildungskraft“ und nur eine gefühlte Perzeption des Geistes, keine analytische Leistung des Verstandes. (II 142 f.) In diesem Sinne enthalten empirisch immer wieder beobachtete Zusammenhänge von Phänomen, also auch zwischen Motiven und Handlungen, eine „Notwendigkeit“ respektive Determiniertheit. Die Unterstellung einer Freiheit würde dem Zufall anstelle der Kausalität die Tür öffnen und Humes Anspruch einer Wissenschaft von der menschlichen Natur untergraben. Obwohl er sich seiner Theorie sehr sicher ist, setzt er sich abschließend mit dem herkömmlichen Begriff der Freiheit auseinander. Jedermann ist sich zwar bewusst, dass seine jeweiligen Handlungen von bestimmten Motiven beeinflusst werden, wird aber immer bestreiten, dass diese einer Notwendigkeit folgten und auch auf der Möglichkeit bestehen, ganz anders gehandelt zu haben können. Die „Freiheit der Spontaneität … die zur Gewalt im Gegensatz steht“, ist die vorherrschende Vorstellung

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im Unterschied zur „Freiheit der Indifferenz“, die Notwendigkeit und Ursächlichkeit verneint und mit Zwang und Macht verwechselt. Bei unseren Handlungen empfinden wir aber keine Zwänge. Und eben deshalb glauben wir, frei zu sein. Für den Handelnden besteht die Notwendigkeit aber nicht in äußeren Zwängen, also Eigenschaften der Materie oder des Geistes, die keine Alternative zulassen, „sondern sie gehört vielmehr dem denkenden oder intelligenten Wesen an, das die Handlung betrachtet; sie besteht in der Nötigung seines Denkens, ihr Vorhandensein aus vorhergehenden Dingen zu erschließen.“ Die Determinierheit zeigt sich also in der Beobachtung Anderer und nicht in der Selbstbespiegelung. Das Konstrukt von Freiheit oder Zufall wäre der Verzicht auf eine Grundstruktur des Denkens, nämlich Beziehungen zwischen Dingen herzustellen, also Kausalitäten zu generieren. Die Freiheitslehre kommt bei der Betrachtung der Handlungen anderer „selten“ zum Zuge, so Hume, „häufig“ aber bei der Ausführung eigener Handlungen. (II 147) „Wir fühlen, dass unsere Handlungen in den meisten Fällen von unserem Willen abhängig sind, und bilden uns ein, wir fühlten, dass der Wille selbst von nichts abhängig ist.“ Da wir den Willen frei in jede beliebige Richtung lenken können, haben wir auch eine Vorstellung von jenem Wollen, das wir dann doch nicht umgesetzt haben. Weil wir im Nachhinein glauben, dass wir auch jene Alternative hätten wählen können, erscheint uns der Wille als frei. „Wir können uns einbilden, die Freiheit in uns zu fühlen, aber ein Zuschauer wird wohl aus unseren Motiven und unserem Charakter auf unsere Handlungen schließen; und selbst, wo er dies nicht kann, nimmt er im allgemeinen an, dass er es könnte, wenn ihm jede Besonderheit unserer Lebensumstände, unser Temperament und die geheimsten Wurzeln unseres Charakters und unserer Gesinnung vollkommen bekannt wären. Dies aber ist nach obiger Lehre das eigentliche Wesen der Notwendigkeit.“ (II, 146) Hume wendet sich mit einer gewissen Emphase gegen die Unterstellung, „ich behauptete die Notwendigkeit der menschlichen Handlungen und stellte sie auf eine Stufe mit der Tätigkeit



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der unbeseelten Materie“. Denn diese Unterstellung geht davon aus, dass es eine „andersgeartete Verknüpfung materieller Wirkungen“ als die der beobachtbaren Gleichförmigkeit im Sinne seiner Theorie geben müsste, also einen naturgesetzlichen Determinismus. Hume ist an dieser Stelle ganz jugendlicher Sturm und Drang, denn rhetorisch ruft er seinen Lesern zu, er selbst könne sich wohl irren, würde aber dann gern mehr davon erfahren wollen, wie es mit der Kausalität denn stattdessen beschaffen sei. Und genau hier löst er auf konsequente und provoka­tive Weise die Eingangsbehauptung des Traktats ein, dass jedwede Wissenschaft offenbar mehr oder weniger Bezug zur menschlichen Natur habe. (I 2) Die, sagen wir Gesetzmäßigkeiten, denen die menschliche Natur unterliegt, sind nicht den Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaft nachgebildet, sondern genau umgekehrt. Die zweifelsfreien und beobachtbaren Bedingtheiten menschlicher Handlungen, ihre Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, die Kausalitäten, denen die menschliche Natur unterliegt, sind das Modell für die Kausalitäten der Naturwissenschaft. „Ich schreibe dem Willen nicht jene unbegreifliche Notwendigkeit zu, die man in der Materie annimmt; aber ich schreibe der Materie jene begreifliche Eigenschaft zu, – man mag sie Notwendigkeit nennen oder nicht – die auch von der strengsten Rechtgläubigkeit dem Willen zugeschrieben wird oder zugeschrieben werden müsste. Ich ändere also nichts an den herkömmlichen Theorien in Bezug auf den Willen, sondern nur in Bezug auf die materiellen Gegenstände.“ (II 147 f.) Wenn der Mensch als Teil der Natur nach bestimmten Prinzipien funktioniert, dann wird auch die übrige Natur nach vergleichbaren Prinzipien funktionieren. Aber unser Verständnis der Natur nicht nur von unserer Erkenntnisfähigkeit abhängig zu machen – wir bemerken den regelmäßigen Zusammenhang von Erscheinungen und denken sie uns als kausal –, sondern die grundlegenden Regelmäßigkeiten unseres Verhaltens – wir haben benennbare Motive, denen wir unter jeweiligen Bedingungen angepasst unausweichlich folgen – zum Modell der Naturwissenschaften zu machen, muss nicht nur seinerzeit als kühn erschienen sein. Es ist gleichsam die philosophische Weltformel, die für Natur und Mensch in gleicher Weise gilt. Auch

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die Natur hält – immer noch – manche Überraschung als Abweichung von bekannten Gesetzen bereit, und umgekehrt funktioniert der Mensch weit regelmäßiger, als er sich selbst zugestehen will. Diese Art der Notwendigkeit ist für Hume im gleichen Atemzuge die Bedingung für Religion und Moral, denn „alle menschlichen Gesetze gründen sich auf Belohnung und Strafe.“ Dahinter steht das „Fundamentalprinzip …, dass diese Motive einen Einfluss auf den Geist haben, dass sie die guten Taten erzeugen und die schlechten verhindern.“ (II 148) Auch Gott, ob er Gesetze gibt oder Verbrechen rächt, kommt daran nicht vorbei. Nach der Freiheitslehre hingegen besteht aber kein Zusammenhang mehr zwischen der „Ursache …, die in dem Charakter oder Temperament der sie vollbringenden Person liegt“ und der vergänglichen Tat, also auch keine Zurechenbarkeit. (II 149) Unsere Handlungen haben immer einen Grund, auch wenn wir selbst ihn vielleicht nicht benennen können. Humes Argumentation geht von einer beliebigen Handlung aus, für die man selbst oder Andere in jedem Fall einen passenden Grund finden können. Sie beginnt nicht mit einem speziellen Motiv, dass unweigerlich zu genau dieser Handlung führen muss. Das wäre ein lebensfremder Determinismus. Gemäß seiner Theorie des Geistes kann man niemals von einer Ursache auf eine Wirkung schließen und umgekehrt. Man kann nur beobachten, dass sich dieser spezielle Zusammenhang immer wieder ohne Ausnahme ergibt und dann vereinfachend denken, dass eine Kausalität gegeben ist. Eine entsprechende Regelhaftigkeit liegt auch Motiven und Handlungen zugrunde. Allerdings bringt dieser umgekehrte Determinismus, dass nämlich eine Handlung als Wirkung ein Motiv als Ursache haben muss, die Schwierigkeit mit sich, dass Motive nicht wie Gegenstände sichtbar sind, sondern unsichtbare Perzeptionen des Geistes darstellen. Sie können nur interpretativ erschlossen werden, sei es vom Handelnden selbst oder Anderen, die ihm dieses Motiv zuschreiben, weil diese Handlung in der Regel aus jenem Grund erfolgt. Die Methode ist somit eine erfahrungsgestützte Prognose rückwärts zur Ursache hin wie potenziell auch in Bezug auf eine zu erwartende Handlung in die Zukunft hinein.



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Vor einer auf diese Weise möglichen relativen Beliebigkeit der Zuschreibungen wird das Humesche System nur durch die alles entscheidende Empirie gerettet. Wir beobachten, nehmen wahr, schließen auf Gründe, ohne dafür letzte Gewissheit zu haben. Willkürliche Erklärungen scheiden aus, weil sie nicht durch viele, lebenspraktisch übliche Fälle gedeckt sind. Dieses flexible System der Wahrheitsfindung ist auch das System der Naturwissenschaften, deren Gesetze zeitweilig als gültig angesehen werden, bevor sie durch bessere Erklärungen abgelöst werden. Es ist das Verhalten der Vielen, das die Erklärung des Einzelfalls ermöglicht, und nicht das Verhalten eines Einzelnen, das die Erklärung des Verhaltens der Vielen liefert. Es ist Stochastik, die Mathematik der Wahrscheinlichkeiten, und keine Statistik der großen Zahlen. 4. Die Zerstörung der Welt Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die Vernunft für Hume anders als für Kant nicht das Maß aller Dinge ist. Spielt sie schon in der Ordnung der Operationen des Geistes keine Rolle, so kann sie kaum als Bestimmungsgrund des Willens Wiederauferstehung feiern. Der Verstand bewegt sich zwischen den „abstrakten Beziehungen unserer Vorstellungen“ und den „Beziehungen von Objekten … aus der Erfahrung“ und urteilt „nach demonstrativen Beweisgründen oder nach Wahrscheinlichkeiten.“ Er liefert uns Urteile über Kausalitäten. Sein „eigentliches Gebiet ist die Welt der Vorstellungen; der Wille aber versetzt uns immer in die Welt der Realität.“ (II 151) Wenn wir in einer Situation allerdings Lust oder Unlust empfinden oder erwarten – jene untergründig alles bestimmenden Antriebskräfte –, wägt der Verstand kraft seiner Einschätzung von Ursachen und Wirkungen das Umfeld ab und bringt uns Strategien zu Bewusstsein. Der Impuls geht nicht von einer strategischen Vernunft aus, wird aber zu einer Handlung operationalisiert. Das Basisgefühl Lust oder Unlust und nicht die Vernunft erstreckt sich auch auf die „vernünftigen“ Handlungsvorschläge und bestimmt letztlich die Handlung. Nur ein entgegengesetzter Impuls aus der Quelle der Basisantriebe oder auch Affekte kann

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den Willen beeinflussen, niemals die gleichsam technisch unterstützende Vernunft. „Ein Affekt ist ein originales Etwas, oder, wenn man will, eine Modifikation eines solchen, und besitzt keine repräsenta­ tive Eigenschaft, durch die er als Abbild eines anderen Etwas oder einer anderen Modifikation charakterisiert würde. Bin ich ärgerlich, so hat mich der Affekt tatsächlich ergriffen, und in dieser Gefühlserregung liegt sowenig eine Beziehung zu einem anderen (damit gemeinten oder dadurch repräsentierten) Gegenstand, als wenn ich durstig oder krank oder über fünf Fuß groß wäre.“ Der Affekt spielt gleichsam in einer anderen Liga als Vernunft oder gar Wahrheit. Die Vernunft kann nur die Übereinstimmung oder das Gegenteil von „Vorstellungen, die als Bilder von Dingen gelten, mit diesen durch sie repräsentierten Dingen selbst“ feststellen oder Urteile über deren Beziehung fällen. (II 153) Deshalb kann „ein Affekt wie Hoffnung oder Furcht, Gram oder Freude, Verzweiflung oder Zuversichtlichkeit“ unvernünftig sein, wenn er sich auf Dinge bezieht, die es gar nicht gibt, oder wenn wir die falschen Mittel als Reaktion auf unseren gefühlsmäßigen Zustand wählen. Wenn wir dies erkennen, werden wir die Urteile revidieren und entsprechend handeln. Aber die Zulieferungen der Vernunft waren falsch, nicht der Affekt. Im Normalfall ist die Vernunft eben „nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.“ (II 153) Es ist nicht nur die Abwertung der Vernunft als Krönung menschlichen Vermögens, und das in „ihrem“ Zeitalter selbst, der Aufklärung, die bis heute Widerspruch hervorruft. Ihre genaue Ortsbestimmung nur als Anhängsel der mensch­ lichen Natur wird als Skandal empfunden. Traktat I zeigt uns eine Natur, die ihre Bewusstseinsinhalte unmittelbar aus ihrer Umgebung als prägende Erlebnisse und deren lebenspraktischer Verarbeitung bezieht, Traktat II eine Natur, die von ihren LustUnlust-Instinkten in deren verschiedenen Erscheinungsformen als Gefühle angetrieben wird. Hier strebt kein kühl kalkulierendes Wesen dem Optimum der Weltgeschichte zu. Ganz im Ge-



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genteil, die Vernunft bedarf der Kontrolle durch die Emotion. „Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger. Es widerspricht nicht der Vernunft, wenn ich meinen vollständigen Ruin auf mich nehme, um das kleinste Unbehagen eines Indianers oder einer mir gänzlich unbekannten Person zu verhindern. Es verstößt ebenso wenig gegen die Vernunft, wenn ich das erkanntermaßen für mich weniger Gute dem Besseren vorziehe …“ (II 154) Aber es widerspricht, muss der Klarheit willen hinzugefügt werden, dem ursprünglichen Impuls der Lustgewinnung, der sich in dieser oder jener Aufregung des Gefühls ausdrückt. Für die Zerstörung der Welt mag die Vernunft „ohne fühlbare Erregung hervorzurufen“ (II 155) Gründe finden – und sie hat solche gefunden, vorerst zumindest für die Zerstörung von Welten –, aber es ist nicht die menschliche Natur, die danach suchen lässt, wenn man Hume folgt. Und im Übrigen gibt es die ruhigen Affekte, die eigentlich „unserer Natur eingepflanzte Instinkte wie … Wohlwollen und Übelwollen, Liebe zum Leben, Freundlichkeit gegen Kinder oder … das allgemeine Streben nach dem Guten“ sind, die fälschlich der Vernunft zugeschrieben werden, weil sie eher im Hintergrund der möglichen Erregungen wirken. Hume bezeichnet die darauf basierende Haltung als „Geistesstärke“, die allerdings niemand auf Dauer gegen seine heftigen Affekte behaupten kann. Jedenfalls folgen die Menschen nicht immer ihren unmittelbaren affektiven Impulsen, sondern handeln durchaus „wissentlich gegen ihren eigenen Vorteil. Also ist es nicht immer die Aussicht auf das größtmögliche Gut, die sie bestimmt … Aus diesem Wechsel der Stimmung entspringt die große Schwierigkeit des Urteils über die Handlungen und Entschlüsse der Menschen, sobald Motive und Affekte gegenüberstehen.“ (II 156) 5. Der Spiegel in uns Zwar ist die Architektur der ersten beiden Teile des Traktats auf die Darstellung der inneren Natur des einzelnen Menschen

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gerichtet, aber sie kommt gleichsam unter der Hand nicht ohne die Natur der Menschen als soziale Wesen aus. Die Zergliederung der Perzeptionen des Geistes und ihr Zusammenspiel bedarf der äußeren Objekte ebenso wie die Affekte auch Reak­ tionsformen auf andere Menschen sind. Die Verflechtung des Menschen mit einer Welt von Objekten und sozialen Tatsachen ist für Hume so selbstverständlich, dass er diese nicht zum Ausgangspunkt seiner Theorie macht, sondern zunächst in den Binnenzuständen des Individuums isolieren will. Auf diese Weise soll das entwickelte Modell rein erscheinen, also genau nicht gesellschaftlich kontaminiert, und damit den Status einer Wissenschaft erreichen, deren Erkenntnisse immer gelten, ganz gleich wie die Gesellschaft historisch organisiert sein mag. Es scheint, dass es ein Widerspruch ist, eine Natur des Menschen konstruieren zu wollen, ohne die Gesellschaft als seine zweite Natur systematisch zu berücksichtigen, die sich immer anders und fortwährend im historischen Fluss darstellt. Und es scheint, dass dies nicht gelingen kann und die Zeitgebundenheit der Theorie unvermeidlich ist. Zumindest die Ebene der Beispiele lässt das England des 18. Jahrhunderts deutlich vor Augen treten. Aber es stellt sich auch die Frage, was den Unterschied von Gesellschaften ausmacht und wie tief die eine oder andere Erscheinungsform in das Arkanum des Individuums hinein wirkt. Eigentum oder Macht mögen verschieden organisiert sein, Liebe oder Hass sich anders verkleiden, aber die Begriffe markieren unter allen Umständen einen Kern, ohne den wir nicht auskommen können. Und so gesehen sind wir mit Hume vielleicht doch zumindest in der Nähe einer Natur des Menschen, die dauerhafter ist als der eine oder andere gesellschaftliche Zustand. Ganz elementar begreift jeder Einzelne, dass er Mitmenschen hat. Schon bei der Betrachtung der Schönheit oder Hässlichkeit des eigenen Körpers, die positive oder negative Gefühle und also die Affekte Stolz oder Niedergedrücktheit erzeugt, bemerkt Hume: „Die Menschen ziehen eben immer die Gefühle anderer bei der Beurteilung ihres eigenen Ich in Betracht“. (II 33) Und kurz darauf bei der Erörterung der Ruhmsucht sind die „Meinungen anderer“ sekundäre Ursachen für Stolz oder sein Ge-



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genteil. (II 47) Hume bezeichnet es als die wichtigste „Eigenschaft der menschlichen Natur“, Sympathie mit Anderen entwickeln zu können. Diese hat allerdings zunächst nichts mit irgendeiner Art positiver Zustimmung zu tun, sondern ist nur die Fähigkeit, „auf dem Wege der Mitteilung deren Neigungen und Gefühle, auch wenn sie von unseren noch so verschieden sind, in uns aufzunehmen“, (II 48) und müsste deshalb besser Empathie heißen. Niemand kann sich den Haltungen seiner Umgebung entziehen, ja sogar Hass oder Liebe, Mut oder Schwermut wirken mehr durch das Mitfühlen als durch die jeweils eigenen Stimmungen. Da aber ein Affekt etwas mit uns selbst zu tun haben muss, bedarf es einer Erklärung, die darin liegt, „dass die Natur eine große Ähnlichkeit zwischen allen menschlichen Geschöpfen gestiftet hat, so dass wir niemals einen Affekt oder einen Faktor (des seelischen Lebens) bei anderen beobachten, ohne dazu mehr oder weniger ein Gegenstück bei uns selbst zu finden. Es gilt für den Organismus des Geistes dasselbe wie für den des Körpers.“ (II 49) Hume bezeichnet die Struktur des Mitgefühls als „deutliche Bestätigung“ seiner Theorie des Geistes und der analog aufgebauten Affekttheorie, die ja beide mit der Verschränkung von intellektuellen Vorstellungen und nachdrücklichen Eindrücken hantieren. Der Zustand oder die Meinung eines Anderen wird also als Vorstellung wahrgenommen und „in die wirklichen Eindrücke, deren Repräsentanten sie sind, umgewandelt …, so dass die Affekte entstehen in Übereinstimmung mit den Bildern, die wir uns von ihnen machen.“ (II 51) Dieser Me­ chanismus beschreibt die nahezu identische Reproduktion der Gefühlslage Anderer durch Simulation seitens des Mitfühlenden. Bei Meinungen Anderer, die eine umso stärkere Wirkung entfalten, je enger die Beziehung der Protagonisten ist, tritt zum Mitfühlen durchaus noch das Beurteilen, also Mitdenken hinzu. „Ganz allgemein dürfen wir sagen: Die Menschen verhalten sich in ihrem Innern zueinander wie Spiegel. Und dies nicht nur in dem Sinne, dass sie ihre Gefühlserregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch die Strahlungen der Affekte,

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Gefühle, Meinungen wiederholt hin- und zurückgeworfen, bis sie ganz allmählich verlöschen.“ (II 98) Bereits zuvor hat Hume das Bild des Spiegels als Medium der Selbstbetrachtung unsrer Wirkung auf Andere benutzt. (II 63) Nicht nur der Begriff, sondern auch die Bedeutung weist sehr direkt auf die Spiegelneuronen der modernen Hirnforschung hin. Ist Sympathie – besser: Empathie – insoweit eher eine neutrale Methode der Interaktion und deshalb treffender als paralleles Mitfühlen oder Mitdenken übersetzt, bekommt sie im Anwendungsfall bei Hume jedoch eine geradezu skurril erscheinende Note, weil sie die „Grundlage unserer Wertschätzung von Macht und Reichtum und unserer Verachtung von Armut und Niedrigkeit“ ist. (II 96) Nun scheint dies offenkundig ein Zeitgemälde zu sein, das Hume als nicht besonders hellsichtigen Maler zeigt. Aber es kommt auch darauf an, wie man das Bild betrachtet. Wertschätzung und Verachtung sind „Abarten“ von Liebe und Hass. Für die „Befriedigung“, die wir angesichts des Reichtums Anderer empfinden und für die „Wertschätzung“, die wir den Besitzern entgegenbringen, gibt es drei Gründe. Jeder empfindet „ein Gefühl von Lust“ angesichts der Gegenstände des Reichtums. Jeder erwartet, ein Stückchen von dem Reichtum abbekommen zu können. Und drittens lässt uns das Mitgefühl „Anteil nehmen“ am Wohlergehen „aller, die uns nahe treten.“ (II 91) Da wir ohnehin dazu neigen, uns eher mit den angenehmen Seiten des Lebens zu befassen, geht die Lust hier „zum großen Teil“ im Mitgefühl auf. Und die Vorteilsperspektive gilt qua Einbildungskraft, auch wenn „unter hundert angesehenen und reichen Leuten, denen wir begegnen“, uns keiner diese Hoffnung erfüllt. (II 94 ff.). Unsere Wertschätzung der Reichen „von Natur aus“ (II 94) befriedigt darüber hinaus deren „Eitelkeit“, die wiederum der Hauptgrund dafür ist, „weswegen wir (den Reichtum) für uns selbst wünschen oder an anderen wertschätzen.“ (II 99). Dies alles ist allzu offenkundig aus einer Standesgesellschaft heraus konzipiert. Reichtum und seine Ingredienzen mögen heutzutage andere Formen angenommen haben als in einer vom grundbesitzenden Adel dominierten Gesellschaft. Mag die Sympathie mit Reichen sich auch in Grenzen halten – und diesen Verdacht äußert auch Hu-



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me dann im Traktat über Moral (III 225, 46) – und eher auf die Bewunderung von Berühmtheiten oder Mächtigen – die zumeist als reich empfunden werden – umgeschlagen sein, das Streben nach Befriedigung der Eitelkeiten zumindest durch Wohlstand und Abgrenzung ist längst zum massenhaften Motiv geworden. Und um die Aufdeckung der nicht offen zutage liegenden Grundstrukturen geht es Hume ja. Ist die Illustrierung seiner Erkenntnisse unvermeidlich zeitgebunden und ihre Ableitung aus seiner Systematik häufig überangestrengt, so kehrt er doch immer wieder zum Einfachen, zum Grundsätzlichen zurück. So auch hier. Im ganzen Universum tritt die Kraft der Sympathie als „leichte Mitteilbarkeit der Gefühle zwischen einem denkenden Wesen und einem anderen“ zutage. Alle Geschöpfe, „die keine Raubtiere sind“, haben ein „deutliches Bedürfnis nach Gesellschaft … Dies springt aber noch mehr in die Augen bei dem Menschen, demjenigen Geschöpf des Weltalls, das das heißeste Verlangen nach Gesellschaft hat, und durch viele Vorzüge dafür am geeignetsten ist. Wir hegen keinen Wunsch, der sich nicht auf Gesellschaft bezöge. Vollständige Einsamkeit ist vielleicht die denkbar größte Strafe, die wir erdulden können. Jede Lust erstirbt, wenn sie allein genossen wird, und jeder Schmerz wird grausamer und unerträglicher. Welche anderen Affekte auch uns antreiben mögen, Stolz, Ehrgeiz, Geiz, Neugierde, Rachedurst oder sinnliche Begierde, das belebende Prinzip in ihnen allen ist die Sympathie. Sie alle hätten gar keine Macht, sähen wir bei ihnen von den Gedanken und Gefühlen anderer ab.“ (II 97) Die Sympathie ist hier eine metaphysische Hilfskategorie, die nur an einigen Stellen auftaucht. Sie bleibt eher eine Methode, das Denken Anderer in uns nachzuvollziehen, als eine Garantie für eine positive Haltung zu sein. Anlässlich eines Beispiels aus der griechischen Geschichte wird deutlich, was auch Gültigkeit hat: „Ungerecht und gewalttätig wie die Menschen gewöhnlich zu sein pflegen“, heißt es, haben die Griechen in einem Fall der Gerechtigkeit den Vorzug vor einem möglichen Vorteil gegeben. Es waren besondere Umstände am

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Werk. (II 164) Im Traktat III wird die Sympathie eine deutlich aktivere Rolle erhalten.

III. Wie wir zusammen leben – Traktat III „Über Moral“ 1. Die Nachbarsgattin und der Mord Der dritte Teil des „Traktats über die menschliche Natur – Über Moral“ erschien ein Jahr nach den ersten beiden Teilen und ist auch ohne deren Grundlegungen verständlich, so Hume. „Die Moral ist ein Gegenstand, der uns vor allen anderen interessiert: Wir meinen, bei jeder sie betreffenden Entscheidung stehe das Heil der Gesellschaft auf dem Spiel.“ (III 196, s 13) Ethik, um einen anderen Begriff zu gebrauchen, Moral, die Unterscheidung von Tugend und Laster, Gut und Böse werden üblicherweise so dargestellt, dass ganz unmerklich von „ist“ und „ist nicht“ zu „sollte“ und „sollte nicht“ übergegangen wird. (III 211, s 31) Realität und Ideal, was ist und was sein sollte, werden also gewöhnlich nicht sauber getrennt, wie Hume beklagt, sondern fahrlässig oder absichtsvoll vermischt. Dies ist nicht nur ganz unwissenschaftlich im Sinne seines Anspruches, mit der Analyse des Menschen den Naturwissenschaften so nahe wie möglich zu kommen, sondern auch gefährlich, weil es zu falschen Schlüssen führen muss. Es ist ganz unsinnig zu sagen, wie der Mensch sein sollte, wenn man nicht weiß, wie er ist. Man kann von ihm nur erwarten etwas zu leisten, was auch zu seinen Möglichkeiten gehört, also in seiner Natur bereits angelegt sein muss. Moralisches Verhalten gibt es ohne Zweifel, was immer man im Einzelnen darunter verstehen will. Die Menschheit hat den Allgemeinbegriff Moral als Bezeichnung für etwas Reales und etwas Erstrebenswertes zugleich entwickelt. Deshalb muss Moral für Hume in der Grundstruktur des Menschen verankert sein. Weil sie sich aber verschieden zeigt, muss es einen kleinsten gemeinsamen Nenner geben, aus dem sie erklärt oder hergeleitet werden kann. Das ist die Sympathie, die bereits in der



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Affekttheorie als reine Fähigkeit des Mitfühlens ihren Stellenwert hat. „Wenig Kenntnis des menschlichen Tuns und Lassens genügt um zu zeigen, dass der Sinn für Moral ein der Seele innewohnendes Prinzip ist und eines der mächtigsten, das sich in ihrer Organisation findet. Aber dieser Sinn gewinnt erhöhte Stärke, wenn derselbe bei der Reflexion über sich selbst auch die Gründe billigen muss, auf denen er beruht … Diejenigen, die den Sinn für das Sittliche auf ursprüngliche Instinkte des menschlichen Geistes zurückführen, mögen … genügend sichere Argumente haben; aber es fehlt ihnen der Vorteil, den diejenigen haben, die jenen Sinn aus dem extensiven Mitgefühl mit der Menschheit erklären.“ (III 373, s 208 f.) Dies ist, ganz am Ende des „Traktats über die menschliche Natur“ insgesamt formuliert, das Programm des dritten Teils „Über Moral.“ Der Vorteil seines Ansatzes besteht darin, so Hume, dass nicht nur die Tugend, wie sie sich empirisch zeigen mag, gelobt werden kann, sondern auch die Gründe nachvollziehbar werden, aus denen die Moral sich speist. Es ist ganz eindeutig ein Programm, das gegen das Hobbessche Verdikt gesetzt wird, der Mensch sei des Menschen Wolf. Angesichts der starken Rolle der Affekte und der schwachen Rolle der Vernunft in den ersten beiden Teilen des Traktats ist nicht verwunderlich, dass es für ihn ein moralisches Bewusstsein gibt, das sehr wenig mit Vernunft zu tun hat. Der Mensch fühlt mit seinesgleichen und gelangt über dieses Gefühl überhaupt nur zur Möglichkeit gelingender Gesellschaftlichkeit. Dies zu belegen ist die menschenfreundliche Absicht. Sie hindert allerdings reine Kalküle der Nützlichkeit für die Gesellschaft und den Einzelnen sowie den unübersehbaren Egoismus nicht an ihrem Auftritt im System. Zunächst geht es Hume darum zu zeigen, was Moral nicht ist. Sie ist kein integraler Bestandteil einer Handlung, einer Absicht oder einer Stimmungslage. Und deshalb ist sie weder durch die Vernunft zu erkennen noch gar ein Bestandteil derselben. Sie ist gleichsam ein eigener Bereich des Menschlichen, was natürlich durch die Tatsache unterstrichen wird, dass Hume ihr den dritten Teil des Traktats widmet. Hume will

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zeigen, dass Moral nur als Gefühl existiert und kein rationales Konstrukt irgendwelcher Regeln ist, die durch die Vernunft entdeckt werden können. Der empirische Blick auf die Verhältnisse des Menschen – seine Beziehungen und sein Verhalten dann doch wohl eher als seine Natur – hält ihn von Spekulationen darüber ab, wie eine moralische Idealnatur aussehen könnte. Hume referiert die gängige Lehrmeinung seiner Zeit, dass Moral genauso wie Wahrheit mit Vernunft übereinstimme und es unveränderliche Normen gäbe. Eben dies kann die Vernunft „allein“ nicht leisten, weil ihr in den Bewusstseinszuständen zwischen starken Eindrücken und daraus abgeleiteten schwachen Vorstellungen eine passive Rolle zugeschrieben wurde. Die Moral hingegen siedelt im Bereich der Eindrücke und „erregt Affekte und erzeugt oder verhindert Handlungen.“ Sie geht „über die ruhigen und trägen Urteile unseres Verstandes“ hinaus. (III 197, s 15) Die Vernunft hingegen ist „vollkommen passiv“ und hat „keinen Einfluss auf unsere Affekte und Handlungen.“ Ihr Reich ist die „Erkenntnis von Wahrheit und Irrtum“ als Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit „den wirklichen Beziehungen der Vorstellungen oder mit dem wirklichen Dasein und den Tatsachen.“ Affekte, Willensentscheidungen und Handlungen aber können nicht mit jeweils anderen als wahr oder falsch verglichen werden, denn „sie sind ursprüngliche Tatsachen und Wirklichkeiten, in sich selbst vollendet, ohne Hinweis auf andere Affekte, Willensentschließungen und Handlungen.“ (III 198, s 16) Diese totale Abschottung auch von Handlungen gegen jeden Anflug von Vernunft und ihre Betrachtung als autonome Einheiten, die sich sogar dem Vergleich entziehen, ist weit radikaler formuliert als gemeint. Die Vernunft bewegt sich für Hume nun mal nur auf der sekundären, man könnte auch sagen abstrakten Ebene der Vorstellungen, die als geistige Verarbeitungen unmittelbarer, elementarer Eindrücke von deren Kraft zehrt. Lust und Unlust, Zuneigung und Abneigung und die durch sie angeregten Affekte bestimmen den Willen und die Handlungen und letztlich auch das moralische Bewusstsein als dazwischen geschaltete Instanz. Hume will die Moral zunächst auch als autonome Einheit denken und erst



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nach und nach ihre Verwicklungen mit dem übrigen Leben darstellen. Die Quelle einer moralischen Bewertung von Handlungen ist also „das Gewissen oder moralische Bewusstsein“, ein aktives Prinzip, das uns unvermeidlich zur Beurteilung drängt. (III 199, s 17) Danach empfinden wir sehr wohl, ob unsere Absichten lobens- oder tadelnswert sind und können unsere Handlungen daran ausrichten. Aber wir denken nicht mit konzentriertem Verstand daran, ob das, was wir tun wollen, auch moralisch ist. Wir kalkulieren Vor- und Nachteile, Mittel und Wege zu einem Ziel, das wir nicht aufgrund eines solchen verstandesmäßigen Abwägens anstreben. Die tiefer liegende Motivation setzt sich aus Eindrücken und Gefühlen zusammen, die sich am Streben nach Lust und der Vermeidung von Unlust orientieren. Und auf dieser Ebene ist auch das Gewissen angesiedelt. Die Moral, die Tugend, das Gute ist ein Bestandteil unseres Gefühls, das uns immer einen möglichst positiven Zustand für uns selbst anstreben lässt. Vernunft oder Unvernunft geben keinen solchen Maßstab ab, weil sie nur eine beliebig nutzbare Zweckrationalität anliefern. Die Vernunft kann sich also bei der Analyse eines Gegenstandes oder einer Zweck-Mittel-Beziehung mit einem Affekt verbinden und zu einem Urteil gelangen, aber angesichts der Irrtumsmöglichkeit sagt sie nichts über die Moralität einer Handlung aus. Die Vernunft kann mir beim Anblick einer Frucht sagen, dass diese gut schmeckt und damit den Affekt auslösen, sie genießen zu wollen. Und sie kann mir sagen, wie ich sie am besten pflücke, um mein Bedürfnis zu befriedigen. Aber wenn sie sich als abscheulich herausstellt oder die benutzte Leiter zu kurz ist, die Vernunft also einen Irrtum hinsichtlich von Tatsachen oder Handlungsstrategien begangen hat, dann hat dies mit Moral nichts zu tun, sondern ist gegebenenfalls ein sehr menschlicher Fehler. „Ich bin mehr zu beklagen als zu tadeln, wenn ich mich hinsichtlich der Lust- und Unlustwirkung gewisser Gegenstände irre oder wenn ich nicht die geeigneten Mittel weiß, um meine Wünsche zu befriedigen. Solche Irrtümer können von niemandem als Mängel in meinem moralischen Charakter angesehen werden.“ (III 200, s 18 f.)

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Denn die moralische Qualifizierung einer Handlung setzt logischerweise ein Bewusstsein von Moral voraus, das ganz unabhängig von jeder Handlung gegeben sein muss. Wir selbst fällen niemals ein Urteil hinsichtlich der Wirkung des Wahrheits- oder Vernunftgehalts – sei es ein richtiges oder ein falsches – unserer Handlungen auf Andere, sondern folgen nur unserer „Lust und Leidenschaft.“ Aber ein anderer Beobachter unserer Handlung kann durchaus zu einem Urteil gelangen, das mit unserer Absicht oder unserer Moralität nichts zu tun hat. Insbesondere, dies ist Humes ausnahmsweise in Ich-Form gehaltenes Beispiel, wenn jemand „mich durchs Fenster mit meines Nachbarn Frau vertraulich verkehren sieht“ und naiverweise glaubt, dies könne nur Humes eigene Gattin sein – die er nie hatte. Seine Interpretation des Beobachteten kann für Humes Verhalten nicht die „ursprüngliche Quelle“ eines moralischen Urteils sein, sei sie richtig oder falsch. (III 201, s 19 f.) Der Fenstergucker hat nicht genau genug hingeschaut, und weil er die Dame für die Gattin hielt, dürfte sein moralisches Gefühl entspannt gewesen sein, weil es billigte, was er sah. Hätte er die Nachbarin erkannt, wäre er wohl moralisch empört gewesen, weil derartiges als unmoralisch gilt. Hätte Hume die Fensterläden geschlossen, hätte es für ihn den Vorgang und damit ein moralisches Urteil gar nicht gegeben. Also ist die Vernunft oder Tatsachenerkenntnis, wahr oder falsch, Nachbarin oder Ehefrau, Empirie oder Einbildung, nicht der Boden, auf dem die Moral wächst. „Die Begriffe des moralisch Guten und des moralisch Bösen sind nur auf Bewusstseinsakte anwendbar; sie leiten sich aus unserem Verhalten zu äußeren Gegenständen ab.“ Das Verhalten ist noch nicht selbst eine Handlung, sondern die gedankliche Vorbereitung als Wille. Erst an der Nahtstelle zwischen dem Gedanken im Hinblick auf seinen äußeren Gegenstand, letztlich also an der Realisierung dieses Zusammenhanges in Wort und Tat, gibt es eine moralische Beurteilungsmöglichkeit. Sie ergibt sich nicht aus einem Verhältnis zu anderen Bewusstseinsakten und schon gar nicht aus dem Verhältnis äußerer Gegenstände zueinander. Die physische Welt kennt keine Moral, ebenso wenig die innere Welt des Bewusstseins, solange die Gedanken



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und Gefühle in sich kreisen. Wäre Letzteres anders, könnten „wir uns eines Verbrechens an uns selbst schuldig machen, unabhängig von unserer Situierung in der Welt“, (s 25, III 206) also ohne zum Willen oder zur Tat überzugehen. Das moralische Bewusstsein liegt gleichsam in Wartestellung, bis wir uns entscheiden, und wird dann zu einer inneren Stimme, auf die wir hören oder auch nicht. Das heißt, wir hegen durchaus Gedanken ohne praktische Folgen, die unmoralisch wären, wenn wir ihnen gefolgt wären. Hume dürfte vorrangig an das weite Feld sexueller Begehrlichkeiten gedacht haben, die natürlich seinerzeit außerhalb der Ehe eine erste Adresse für Unmoral waren. Hume erfindet einige etwas weit hergeholte Beispiele um darzulegen, dass moralische Gebote aus den üblichen Katalogen keine und schon gar keine ewig geltenden Tatsachen sind, die der Verstand in Vorgängen aller Art wie andere Fakten finden oder analytisch aufdecken kann. Undankbarkeit ist das „scheußlichste“ Verbrechen, insbesondere wenn sie zum Elternmord führt. Aber wenn eine Eiche heranwächst und schließlich den „elterlichen Baum“ vernichtet, so ist dies auf der Ebene blanker Fakten nichts anderes. Dass im ersten Fall ein Wille voranging und im zweiten ein Naturgesetz die Ursache ist, ändert daran nichts. Der tatsachengebundene Verstand entdeckt bei der Eiche keine Unmoral, also kann die Vernunft aus sich heraus auch beim Elternmord kein moralisches Urteil finden. Blutschande gilt bei Menschen als verbrecherisch, ist bei Tieren aber üblich. Ihre sozialen Beziehungen und Triebe sind die gleichen, also müssten sie zum Inzestverbot fähig sein, wenn die Moral aus dieser Struktur von Tatsachen hervorgehen würde. Im Gegensatz zum Menschen fehlt den Tieren das Vermögen, die Schändlichkeit ihres Tuns zu erkennen. Der Mensch begegnet also in seinem Bewusstsein der Moral, die schon vorhanden sein muss, damit er ihr begegnen kann. Diese Begegnung ist natürlich auch ein Erkennen als eine Leistung des Verstandes. Moral ist damit zwar gleichsam in einem zweiten Schritt ein Gegenstand der Vernunft wie andere Gegebenheiten auch, aber nicht durch sie als Erkenntnis hervorgebracht. „Die Vernunft muss sie finden und kann sie niemals erzeugen.“ Dieser Vorgang aber „setzt ein

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besonderes Vermögen voraus, dessen Beschaffenheit diese moralische Entscheidungen bedingt, und zwar ein Vermögen, das nur von dem Willen und den Begierden abhängt und sich sowohl im Denken wie in der Wirklichkeit als etwas von der Vernunft Verschiedenes darstellt.“ Moral ist für Hume keine Tatsache, die als „Gegenstand der Wissenschaft“ aus den Beziehungen zwischen Fakten ermittelt werden kann, sie ist in ihrem Wesen also „kein Gegenstand der Vernunft.“ (s 29 f., III 210) Wo aber ist die Moral angesiedelt, deren Existenz feststeht, die im Reich der Vernunft nichts zu suchen hat, die erkannt und letztlich auch analysiert werden kann? Man betrachte einen Mord. „Betrachtet denselben von allen Seiten und seht zu, ob ihr das tatsächliche oder realiter Existierende finden könnt, was ihr Laster nennt. Wie ihr das Ding auch ansehen möget, ihr findet nur gewisse Affekte, Motive, Willensentschließungen und Gedanken. Außerdem enthält der Fall nichts Tatsächliches. Das Laster entgeht Euch gänzlich, solange ihr nur den Gegenstand betrachtet. Ihr könnt es nie finden, wenn sich nicht euer Augenmerk auf euer eigenes Inneres richtet und dort ein Gefühl von Missbilligung entdeckt, das in euch angesichts dieser Handlung entsteht. Auch dies ist gewiss eine Tatsache, aber dieselbe ist Gegenstand des Gefühls, nicht der Vernunft. Sie liegt in euch selbst, nicht in dem Gegenstand. Erklärt ihr eine Handlung oder einen Charakter für lasterhaft, so meint ihr damit nichts anderes, als dass ihr zufolge der Beschaffenheit eurer Natur ein unmittelbares Bewusstsein oder Gefühl des Tadels bei der Betrachtung dieser Handlung oder dieses Charakters habt … Nichts kann ja wirklicher sein oder uns mehr betreffen als unsere eigenen Gefühle der Lust oder des Unbehagens; sprechen diese zugunsten der Tugend und gegen das Laster, so ist zur Regelung unserer Lebensführung und unseres Betragens nichts weiter nötig.“ (III 210 f., s 30) Nun kann man sich zweifellos sehr rationale Gründe für die Verurteilung des Mordes vorstellen, zum Beispiel nicht selbst Opfer werden zu wollen, weil man am Leben hängt. Aber ein allgemeiner Lebenswille und sich daraus ergebende moralische Bewertungen oder soziale Regeln sind zunächst nicht das Er-



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gebnis einer kühlen Kalkulation. Alle rationalen Verarbeitungen haben ihre Wurzeln in der Grundausstattung des Menschen, in der Gefühle wie Angst und Abscheu zum harten Kern gehören, die Zutaten des Verstandes oder der Vernunft hingegen ein Luxus sind, den man sich gerne leistet und der verschiedene Gestalten annehmen kann. Allein unser Gefühl, ein Eindruck, lässt uns Tugend und Laster unterscheiden. Es kommt allerdings zumeist „so sanft und zart“ daher, dass wir es leicht mit der zweiten Art von Perzeptionen verwechseln können, den schwächeren Vorstellungen als intellektuell handelbaren Gedanken, womit wir beim Verstand und seinen Operationen wären. Diese Verwechslung ist aber nur möglich, weil zwischen Eindrücken und ihrer Verarbeitung als Vorstellung natürlicherweise eine Ähnlichkeit besteht. Der Unterschied kann in Humes System aber nicht verwischt werden, um die elementare Kraft erster Wahrnehmungen gegenüber dem Allerlei des Alltags aufrechtzuerhalten. Das moralische Bewusstsein ist eine solche tief verwurzelte elementare Kraft. Die Eindrücke, die uns Gut und Böse unterscheiden lassen, sind „besondere Lust- und Unlustgefühle“, die ein anderer „Charakter“ oder eine Handlung in uns auslöst. Wir vergleichen nicht mit irgendeinem Maßstab, sondern fühlen das Positive als „eine besondere Art von Befriedigung“ und nennen jemanden tugendhaft auf die gleiche Weise, wie wir Schönheit oder Wohlgeschmack empfinden. Hume spürt allerdings, dass er den Lustbegriff als Motiv für alles und jedes hier zu überlasten droht und differenziert, „dass wir offenbar unter der Bezeichnung Lust Empfindungen zusammen fassen, die voneinander sehr verschieden sind und nur die allgemeine und entfernte Ähnlichkeit besitzen, die es uns eben erlaubt, sie mit demselben abstrakten Namen zu bezeichnen.“ Moralische Gefühle und solche „des persönlichen Interesses“ gehen allerdings „naturgemäß“ ineinander über und können leicht verwechselt werden. Aber es sind verschiedene Gefühle, die ein „charaktervoller und urteilsfähiger Mensch“ sehr wohl auseinander halten kann. Zugleich schlägt Hume den Bogen zu seiner Affekttheorie. Tugend und Laster bei uns oder Anderen erzeugen Lust- oder Unlustge-

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fühle, die wiederum Stolz oder Niedergedrücktheit und Liebe oder Hass als die dominanten Affekte hervorrufen, sofern der Anlass in einer Beziehung zu uns selbst steht. „Dies ist vielleicht die größte Wirkung, die Tugend und Laster auf das menschliche Bewusstsein ausüben.“ (III 212 ff., s 31 ff.) Die Differenzierung der Gefühle zwischen der Basismotiva­ tion Lust-Unlust und den Affekten dient der Präparation der Moral als gleichfalls ein Gefühl, aber ein so besonderes, dass es mit der einfachen Behauptung seiner Existenz nicht sein Bewenden haben kann. Denn ganz offenkundig geht Moral über die ganz für sich betrachtete individuelle Sphäre hinaus und kann auch nicht in die Skala der Affekte integriert werden, die ja neben der reinen Selbstbezüglichkeit (Stolz) bereits die anderen Menschen (Liebe und Hass) im Blick haben muss. Schon gar nicht kann es für jeden Einzelfall einen ursprünglichen Instinkt geben, und ebenso wenig kann „von frühester Kindheit an dem menschlichen Bewusstsein jede Menge von Regeln eingeprägt“ worden sein. Es muss allgemeine Prinzipien geben, die einerseits aus der Natur des Menschen stammen müssen. „Wenn es je etwas gab, das … natürlich genannt werden könnte, so sind dies unsere moralischen Gefühle. Denn es hat niemals auf der Welt eine Nation oder ein einzelnes Individuum … gegeben, das ganz ohne dieselben gewesen wäre … Diese Gefühle wurzeln so tief in unserem Wesen und Gemüt, dass sie ohne gänzliche Vernichtung des menschlichen Bewusstseins durch Krankheit oder Wahnsinn nicht ausgerottet und zerstört werden können.“ Andererseits allerdings halten wir uns für frei, also keinem Naturgesetz zwanghaft unterworfen. Deshalb bezeichnet Hume unsere Handlungen hier als „künstlich“ – also nicht gleichsam automatisch von der Natur gesteuert –, da sie mit einer selbstbestimmten Absicht erfolgen. Keinesfalls jedoch ist Tugend als Chiffre für das Gute zwangsläufig natürlich und Laster als Chiffre für das Böse zwangsläufig künstlich. Moral definiert sich nicht nach diesem Gegensatz, sondern kann sich aus beiden Quellen speisen und muss im Einzelfall daran gemessen werden, ob Lust- oder Unlustgefühle entstehen. (III 215 ff., s 35 ff.)



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2. Alles was Recht ist Der „Rechtssinn“ (justice), man könnte auch übersetzen das Gerechtigkeitsgefühl, ist der erste Fall einer moralischen Haltung oder Tugend, an dem Hume den „künstlichen“ Charakter der Moral im Gegensatz zum natürlichen moralischen Bewusstsein demonstrieren will. Dieser Abschnitt ist ein weiteres Vorspiel zu dem zentralen Bereich der moralischen Regulierung von Gesellschaften, die komplexeren Zwängen als das Individuum unterliegen, aber seine Natur nicht einfach hinter Abstraktionen zurücklassen können. So erweckt der Rechtssinn zwar „Lust und Zustimmung“, aber „nur auf Grund einer künstlichen Veranstaltung, die aus den Lebensverhältnissen und Bedürfnissen der Menschheit entsteht.“ (III 219, 39) Hume klärt zunächst, was die Tugend des Gerechtigkeitsgefühls nicht ist. Grundsätzlich ist eine Tugend nicht an den Handlungen selbst zu erkennen, sondern nur an den Motiven, die ihnen im Inneren des Menschen zugrunde liegen. Das „Böse in einem Menschen“ liegt in der Missachtung eines „richtigen“, also guten Motivs. Die Tugendhaftigkeit einer Handlung kann nicht selbst das Motiv respektive Ziel sein, sondern muss unabhängig von ihr gegeben sein. Niemand nimmt sich demnach vor, moralisch zu handeln, sondern nur etwas ganz Bestimmtes zu tun. Und was er dann tut, kann moralisch bewertet werden. Die Handlung selbst kann also tugendhaft werden. Diese Trennung von Motiv und Handlung mit einer je eigenen moralischen Qualität bedenkt die Tatsache, dass objektive Wohltaten nicht um ihrer selbst willen, sondern aus ganz anderen, eigennützigen und damit unmoralischen Gründen inszeniert werden können oder Verbrechen sich hinter Motiven tarnen, die zum Beispiel die allgemeine Beglückung der Menschheit als Absicht vorgeben. Zwischen dem, was Menschen tun, und dem, was sie genau dazu treibt, kann unter moralischen Gesichtspunkten eine tiefe Kluft liegen, über die keine Brücke führt. Eine zweifellos tiefschürfende These zur Befindlichkeit des Individuums in einer mehr oder weniger bürgerlichen Gesellschaft. Es steht für Hume zweifelsfrei fest, „dass keine Handlung tugendhaft oder moralisch gut sein kann, wenn sich nicht in der

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menschlichen Natur ein Motiv findet, das sie hervorruft und das von dem (nur oberflächlichen, VB) Sinn für Pflicht und Moral unterschieden ist.“ (III 221, s 41) Humanität oder Elternliebe zum Beispiel sind moralische Pflichten. Ein freigebiger Mensch wird bei seinen Taten moralisch geschätzt. Die Vernachlässigung der Kinder wird moralisch getadelt, weil die Pflicht der Zuneigung ein anderes Verhalten erfordert. Allerdings ist es möglich, dass jemand nur aus Pflichtgefühl handelt, gleichsam um nicht aufzufallen, ohne dieses grundlegende moralische Prinzip „in seinem Herzen“ zu spüren. Es kann also im Einzelfall außer Kraft gesetzt werden, ohne deshalb als Eigenschaft der menschlichen Natur im Allgemeinen aus dem Erklärungssystem zu verschwinden. Zeigt sich jemand anlässlich einer Wohltat dankbar und erfüllt damit die Erwartungen, schließen wir daraus, dass sein Motiv Dankbarkeit ist. Tatsächlich hat er vielleicht nur die moralische Pflicht erfüllt, sich so zu zeigen, ohne es wirklich zu sein. Aber auch ein solches Verhalten setzt „in der menschlichen Natur bestimmte Triebfedern voraus, welche fähig sind, die Handlung hervorzurufen, und deren moralische Schönheit die Handlung verdienstlich macht“. (III 219 ff., s 39 ff.) Es ist für Humes Argumentation zentral, das moralische Bewusstsein tief in der menschlichen Natur verankert zu wissen, ohne übersehen zu können, dass der Mensch auch ohne Moral handeln kann. Ob sie tatsächlich das Motiv der Handlung war, lässt sich aus der Handlung selbst nicht unmittelbar erkennen. Nur wenn das Motiv tatsächlich ein moralisches war, ist die Handlung im eigentlichen Sinne auch moralisch. Sie kann also der gesellschaftlich sanktionierten Erwartung an moralisches Verhalten entsprechen, aber individuell aus ganz anderen Motiven hervorgehen. Nur hier, im tiefsten Inneren des Einzelnen, hat die Moral ihre Wurzeln. Gesellschaftlicher Druck kann ihr Erscheinen befördern. Dem nachzugeben ist aber wiederum ein menschliches Motiv, das letztlich mehr moralische Handlungen erzeugt als individuelle Moral vorhanden sein mag. Dies ist das Problem: Ein moralischer Sinn gehört elementar zur menschlichen Natur, aber der Mensch ist ein affektgesteu-



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ertes Wesen, das den Verstand im Dienste seiner Gefühle instrumentalisiert. Wie kann dann seine Moralität garantiert werden, deren Nachweis doch das Ziel der Bemühungen ist? Jedenfalls, und das mag nach Humes Argumentation bis hierher überraschen, nicht so, dass der unterstellte moralische Sinn der Menschen sich umstandslos Bahn bricht und die Menschheit moralisch macht. Der aufklärerische Wille, den von seinem Gott als brauchbare Regulierungsinstanz verlassenen Menschen als gut aus sich selbst heraus sehen zu wollen, ja zu müssen, bestimmt den philosophischen Blick. Nicht zufällig ist später die Französische Revolution unter dem Banner Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit angetreten. Aber bald exekutierte sie sehr andere Leitbegriffe. Hume jedenfalls reduziert die Hypostasierung der Moral zügig auf ein menschlicheres und gesellschaftliches Maß, ohne einen Widerspruch zu höheren, theoretischen Ansprüchen zu konstatieren. Welchen Grund hat ein Schuldner, sein Darlehen zurückzuzahlen? Pflichtgefühl und moralisches Gewissen sind „für einen Menschen im Zustand der Zivilisation, der unter einer bestimmten Disziplin und Erziehung groß geworden ist“, zweifellos ein Motiv. (III 222, s 42) Eliminiert man die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und denkt sich einen „natürlichen Zustand“, also die Natur des Menschen ohne kulturelle Kontaminationen, sieht die Sache ganz anders aus. Worin könnte seine Basismotivation für „Redlichkeit und Rechtssinn“ liegen? Die Moralität der Tilgung ergibt sich nicht aus dem Vorgang der Geldübergabe, sondern daraus, dass eine solche Moral vorher existiert und als Motiv die Handlung auslöst. Das „Privatinteresse“ kann das auslösende Motiv ebenso wenig sein wie das „öffentliche Interesse“. Der Egoismus ist zum einen „die Quelle aller Widerrechtlichkeit und Gewalttat“, zum anderen taugt er rein formal nicht als Grundlage von Rechtssinn und Redlichkeit, weil es diese moralischen Eigenschaften dann nur dort geben könnte, wo er herrscht. Das öffentliche Interesse scheidet aus, weil es nicht „natürlicherweise“ existiert, sondern eine „künstliche Übereinkunft“ darstellt. Wir befinden uns noch in der reinen Natur des Menschen. Im Übrigen, würden Darlehen und Tilgung heimlich stattfinden, weil zum Beispiel der Darlehens-

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geber seinen Reichtum verbergen will, existierte überhaupt keine Öffentlichkeit. Außerdem stellen „die Menschen im gewöhnlichen Leben keine Reflexionen über das öffentliche Interesse“ an. Auch die Sympathie, in der Affekttheorie bereits als bloße Fähigkeit des Mitfühlens im Sinne des sich Hineinversetzens eingeführt, scheidet als Motiv für den Rechtssinn ist. „Im allgemeinen kann behauptet werden, dass sich im menschlichen Bewusstsein der Affekt der Nächstenliebe … nicht findet.“ Zwar fühlen wir uns berührt, wenn ein Schicksal uns nahegeht, aber dies ist „kein Beweis einer solch allgemeinen Menschenliebe“, da wir der Sympathie durchaus auch „über unsere eigene Spezies hinaus“ fähig sind. Gäbe es sie, müsste sie sich in ähnlichen „typischen Symptomen“ zeigen wie die natürliche Liebe zwischen den Geschlechtern. „Im ganzen aber können wir behaupten, dass die Menschen oder die menschliche Natur überhaupt, nur ein mögliches Objekt für Hass und Liebe ist, und dass eine andere Ursache da sein muss, damit – durch einen doppelten Zusammenhang zwischen Eindrücken und zwischen Vorstellungen – diese Affekte geweckt werden. Diese Hypothese können wir nicht umgehen. Es gibt keine Erscheinungen, die auf eine solche freundliche Zuneigung von Mensch zu Mensch, ohne Rücksicht auf Verdienst und allerlei sonstige Bedingungen hinweist. Im Allgemeinen lieben wir die Gesellschaft (anderer Menschen, VB); aber wir lieben sie so, wie wir jedes andere Vergnügen lieben.“ (s 44 f., III 223 f.) So scheidet auch das „Wohlwollen gegen einen Einzelnen oder Rücksicht auf den Nutzen für die jeweils in Betracht kommende Person“ als Motiv des moralischen Rechtssinns aus. Ich könnte einen Grund haben, den Darlehensgeber zu hassen. Er könnte ein böser Mensch sein, „der den Hass aller Menschen verdient“, ein Geizhals oder ein „lasterhafter Wüstling“, der sich mit dem zurückgezahlten Geld eher selbst schaden würde, oder ich könnte in großer Not sein: All dies hebelt meine Rücksicht auf sein Wohlbefinden als moralisches Motiv und zugleich den Rechtssinn insgesamt völlig aus. Damit wären „Eigentum, alles Recht und alle Verpflichtung hinfällig.“ (III 225, s 45)



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Hume deutet die Schlüsselrolle des Eigentums an dieser Stelle nur an, bei der wir uns noch gedanklich im vorgesellschaftlichen Zustand und also bei der reinen Natur des Menschen befinden. Moralisch ist ein Reicher verpflichtet, in Not befindlichen Menschen einen Teil seines Besitzes abzugeben. Wäre die Rücksicht auf das private Wohlergehen Anderer die Quelle des Rechtssinns, so wäre niemand verpflichtet, „anderen mehr an Besitz zu lassen, als er ihnen, falls er reich und sie bedürftig wären, zu geben verpflichtet wäre.“ Diese Urform eines Umverteilungsgedankens aus potenziell moralischer Quelle ist doch wieder an das fiktive Eigeninteresse gebunden. Eigentum wäre in dem Maße unantastbar, in dem ich es für mich selbst gerechtfertigt halte. Der Verdacht, dass diese Grenze weit über dem Existenzminimum liegen dürfte, sofern sie denn konkretisiert werden muss, ist kaum von der Hand zu weisen. Da die Menschen allerdings an ihrem Besitz zu hängen pflegen, wäre es eine „größere Grausamkeit“ ihnen diesen zu nehmen als Anderen etwas zu geben, „was sie niemals genossen haben“ und folglich weniger wertschätzen als der Besitzer sein Eigentum. Kurz: Reiche und Arme haben sich an ihre jeweiligen Umstände gewöhnt und sollten es zur Vermeidung gefühlsbeladener Turbulenzen dabei belassen. In keinem Fall taugt das Interesse am Wohlergehen anderer als Quelle des Rechtssinns, sondern mündet nur in der moralischen Pflicht, Almosen zu geben. Das allerdings war in der englischen Feudalgesellschaft weithin anerkannt. Im Übrigen ist Privatwohlwollen gegen einen Besitzer oder anerkennende Sympathie für eine Reichen „bei manchen Menschen schwächer als in anderen ausgebildet, und so sollte es auch sein. Und bei vielen, ja bei den meisten Menschen versagt es ganz.“ Etwas apokryph erscheint auf den ersten Blick seine Bewertung, dass es so sein sollte, hatte Hume doch im Traktat ff.) ausführlich begründet, warum die Menschen qua II (94  Sympathie naturgemäß die Reichen bewundern. Aus dem Blickwinkel der Oberschicht mag es wohl so erscheinen, allein, und dies hat Hume wohl doch bemerkt, es ist nicht so. Gewisse soziale Spannungen brechen sich hier vorsichtig Bahn. Und daraus müssen umso konsequenter Folgerungen abgeleitet wer-

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den. Es gibt kein „wirkliches und allgemeines Motiv für die Befolgung der Gesetze der Rechtsordnung“ in der menschlichen Natur außerhalb der Tatsache, dass ihre Befolgung als positiv empfunden wird. Da aber erst ein entsprechendes Motiv die Moralität einer Handlung ergibt, kann das Ergebnis aller Überlegungen nur sein, „dass das Gefühl für Recht und Rechtswidrigkeit nicht aus der Natur entspringt, sondern künstlich, wenn auch notwendigerweise durch die Erziehung und menschliche Übereinkunft erzeugt wird.“ (III 226, s 46) Dieses eindeutige Ergebnis wirft allerdings sofort die Frage auf, wie dies mit dem ansonsten zugrunde gelegten elementaren „Gefühl für Tugend“ als „Prinzip des menschlichen Geistes“ vereinbar ist. „Natürlich“, erläutert Hume, gebrauche er nur als Gegensatz zu „künstlich.“ Wenn eine Erfindung der Menschheit „sich aufdrängt und absolut notwendig ist, so kann man sie mit ebensolchem Recht natürlich nennen als irgendetwas anderes, das unmittelbar, ohne die Vermittlung des Denkens und der Überlegung aus ursprünglichen Triebfedern hervorgeht.“ In diesem Sinne ist die Rechtsordnung kulturell natürlich, also gleichsam eine zweite Natur des Menschen und in keinem Fall „willkürlich.“ Man könne sie deshalb durchaus als „Naturgesetz“ bezeichnen, weil sie der ganzen Menschheit gemeinsam und von ihrem Begriff nicht trennbar ist. Hume unterzieht sich zwar gründlich durchdachten philosophischen Begründungszusammenhängen, verfällt aber nie in den Rausch einer nur begrifflich geschlossenen Systembildung, sondern zieht im Zweifelsfall immer die Abbildung tatsächlichen Verhaltens der Menschen vor. Der moralische Sinn als Hintergrundrauschen ist das eine, davon verschiedene Motive und Affekte als aktuelle Kräfte das andere. Die Affekte beeinflussen den moralischen Sinn, ihre Stärke und Abweichung vom „gewöhnlichen Maße“ lässt uns zwischen Tugend und Laster unterscheiden. Ein Mensch liebt „naturgemäß“ die ihm näher Stehenden mehr als Andere, woraus sich ein entsprechender Maßstab für Pflichten ergibt. „Unser Pflichtgefühl folgt eben immer dem gewöhnlichen und natür­ lichen Lauf unserer Affekte.“ (III 227, s 47)



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3. Natur ist kein Zustand Wenn die Moral einerseits ein tief in unserer Natur verwurzeltes Gefühl ist, andererseits ein an der Oberfläche der Handlungen erscheinender Sinn für das Rechte nur auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft beruht, bleibt das Problem, beide Dimensionen plausibel zu verbinden. Natur und Gesellschaft sind zwei Sphären, die im Menschen ihre Spuren hinterlassen haben, zwar gedanklich voneinander getrennt betrachtet werden können, aber tatsächlich immer gleichzeitig wirken. So weist Hume das verbreitete Modell des Naturzustandes als „leere Erdichtung“ zurück, (III 237, s 59) konstruiert unter Hand aber selbst natürliche Ausgangsbedingungen der Menschheit, die man als gesellschaftlichen Naturzustand bezeichnen kann. Dies ist zwar nach dem üblichen Gebrauch der Begriffe ein Widerspruch, aber nicht in ihrer Bedeutung. Der „Naturzustand“ als theoretische Kategorie ist immer ein Rückblick aus dem gesellschaftlichen Zustand einzig zu dem Zweck, die Gesellschaft zu erklären, und trägt also mehr als nur ihre Spuren schon in sich. Der einzelne Mensch besitzt „weder Waffen noch Stärke, noch die natürlichen Geschicklichkeiten“, um seine elementaren Bedürfnisse befriedigen zu können. Sogar seine „Nahrung flieht vor ihm“, ein hübsches Bild. Zwar scheint er im „Zustande der Wildheit“ auf niedrigstem Niveau irgendwie überleben zu können, aber erst die „Vergesellschaftung“ gleicht seine Schwächen aus. Sie erweist sich als „nützlich“, vermehrt zwar sogleich seine Bedürfnisse, steigert aber durch Arbeitsteilung „in noch höherem Grade“ die Leistungsfähigkeit zu ihrer Befriedigung. Es ist unmöglich, dass die rohen Gesellen des vorgesellschaftlichen Zustands „einzig durch Überlegung und Nachdenken zu dieser Erkenntnis kommen.“ Gesellschaft ist keine Einrichtung menschlicher Vernunft, sondern wird durch das Triebgeschehen gleichsam immer schon automatisch generiert. Das „erste und ursprünglichste Fundament der menschlichen Gesellschaft“ ist „die gegenseitige Anziehungskraft der Geschlechter, die diese miteinander vereinigt und so lange vereinigt hält, bis in der Sorge für die gemeinsame Nachkommenschaft ein neues Band

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entsteht. Diese neue Sorge wird dann zugleich ein Grund der Verbindung zwischen Eltern und Nachkommenschaft, dient also dazu, eine umfassendere Gesellschaft zu bilden … In kurzer Zeit wirken Sitte und Gewohnheit auf das zarte Gemüt der Kinder und bringen ihnen die Vorteile zu Bewusstsein, die die Vergesellschaftung bietet.“ Denn „bewusst“ müssen die Vorteile schon werden, um wirken zu können. (III 227 ff., s 48 ff.). Der Affekt der Liebe schafft Tatsachen, die den Verstand nicht unberührt lassen. Ohne einen Schuss Rationalität jenseits des Gefühlshaushaltes geht es aber nicht, denn: „Die menschliche Natur besteht nun einmal aus zwei Hauptfaktoren, die zu allen ihren Handlungen notwendig sind, nämlich aus den Neigungen und dem Verstande; nur die blinden Aktivitäten der ersteren ohne die Leitung der letzteren machen die Menschen für die Gesellschaft untauglich.“ (III 237, s 58) Es ist durchaus eine Akzentverschiebung gegenüber der Affekttheorie, wenn hier dem Verstand die gleiche Bedeutung wie den Gefühlen eingeräumt wird, aber für Hume kein Widerspruch, weil die Vernunft in das System der Gefühle eingemeindet wird. Sie war in der Affekttheorie, wie Hume in einem kurzen Rückblick formuliert, „nichts anderes als eine allgemeine ruhige Ausgeglichenheit der Affekte, die sich auf die Betrachtung und Überlegung aus der Ferne gründet.“ (III 337, s 168) Diese gleichsam abgekühlte Affektlage vermindert nur die unmittelbare Wirksamkeit der Gefühle und gibt ihnen einen anderen Aggregatzustand, wird aber nicht durch die Vernunft als etwas Drittes hervorgerufen. „Sicherlich unterscheidet unser Gefühl und nicht unsere Vernunft zwischen moralisch Gutem und moralisch Bösem. Diese Gefühle nun entstehen entweder aus der Weise, wie sich Charaktere und Affekte unserer unmittelbaren Betrachtung darstellen, oder aus der Einsicht in ihre Tendenz, das Glück der Menschheit und bestimmter Personen zu fördern. Meiner Meinung nach nun vermischen sich diese beiden Ursachen bei unseren moralischen Urteilen … Doch bin ich zugleich der Meinung, dass bei Handlungen jene Tendenz die bei weitem größere Wirkung übt und die Grundlinien unserer Pflicht bestimmt.“ (III 343, s 175)



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So ist zwar die Einsicht in eine Tendenz zum allgemeinen Besten eine der Ursachen für das moralische Gefühl, rückt aber einer Verstandesleistung oder der Vernunft verdächtig nahe. Aber Hume rekurriert hier nur darauf, dass jeder Akt des Bewusstseins von einem Gefühl begleitet wird, das zwischen den Polen angenehm oder Lust und unangenehm oder Unlust angesiedelt ist. So ist also die Einsicht in die moralische Tendenz einer Handlung gleichbedeutend mit dem Entstehen eines positiven Gefühls und nicht mit einer Analyse von Tatsachen. Zwar war die Vernunft ehedem der Sklave der Affekte, aber nur als scharfkantige Formulierung, um der Vernunft die entscheidende Bedeutung für das menschliche Verhalten abzusprechen. Die Gesellschaft aber ist kein Subjekt, das denkt und fühlt, sondern ein Geflecht von Beziehungen, das nur begrenzt durch subjektive Erfahrungen wahrgenommen, aber durch das Denken erst als solche konstituiert wird. Folglich muss diese nie abgestrittene Fähigkeit des menschlichen Geistes hier stärker betont werden. Hieß es zuvor, dass die Vernunft allein niemals den menschlichen Willen bestimmt, könnte der Merksatz jetzt lauten, dass Gesellschaft allein durch die Affekte nicht möglich ist. Zumal es „in unserem natürlichen Temperament und in den äußeren Umständen Faktoren“ gibt, die nicht wie die „Affekte der sinnlichen Begierde“ der Verbindung von Menschen förderlich sind, allen voran „unsere Selbstsucht.“ Allerdings, fügt Hume sogleich hinzu, ist die Bedeutung, die „gewisse Philosophen“ – gemeint ist hier Hobbes – ihr zumessen, so weit von der Wahrheit entfernt wie die Ungeheuer aus Fabeln und Dichtung. (III 230, 50 f.) Zwar ist „nichts für unsere Lebensführung nützlicher als ein angemessenes Maß von Stolz. In ihm werden wir uns des eigenen Wertes bewusst“, ja es ist sogar besser uns zu über- als zu unterschätzen. Und es pflegt unser eigener Stolz zu sein, „der uns den Stolz anderer so unangenehm macht“, ebenso wie es unsere eigene Eitelkeit ist, die die Eitelkeit anderer unerträglich erscheinen lässt. So sind also Charakterzüge der Selbstsucht unvermeidlich und „erforderlich“, die auch in Analogie zu sonstigen Regulierungen des Eigennutzes durch „Regeln der guten Lebensart“ aufgefangen werden müssen.

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„Nichts ist unangenehmer als das übertriebene Selbstbewusstsein eines Menschen; fast jedermann aber hat eine starke Neigung zu dieser Untugend, und niemand kann in diesem Punkte in sich selbst die Tugend von der Untugend unterscheiden oder sicher sein, dass seine eigene Wertschätzung genügend begründet ist.“ (III 351, s 183 f.) Dies ist die private Seite der Selbstsucht. Sie bildet aber zugleich auch das „erste Motiv“ für die Errichtung einer Obrigkeit, die uns zur Einhaltung unserer „bürgerlichen“ und denen ihnen zugrunde liegenden „natür­ lichen“ Pflichten zwingen kann. (III 294, s 121) Aber nicht nur der Egoismus in allen seinen Spielarten ist eine Gefahr für die Gesellschaftlichkeit, sondern auch sein Gegenteil in Form des Wohlwollens Anderen gegenüber. Hume ist der Meinung, dass man „selten jemandem begegnet, dessen wohlwollende Regungen zusammengenommen nicht seine selbstischen Neigungen überwögen.“ Sein Beispiel aus dem Leben ist die Mehrzahl jener Familienoberhäupter, die freiwillig „den größten Teil ihres Vermögens für das Vergnügen ihrer Frauen und die Erziehung ihrer Kinder ausgeben.“ Das ist ganz ohne Zweifel ein schwaches Argument für eine so starke These, denn in solcher Art Wohlwollen könnte ja ein gerüttelt Maß Eigennutz stecken. Aber indem Zuneigung nach der Eigenliebe am stärksten gegenüber der Familie, schwächer gegenüber Bekannten und noch weniger gegenüber entfernteren Personen ausgeprägt ist, entsteht eine Abstufung von Affekten und Handlungen, die „für die neu gegründete gesellschaftliche Vereinigung gefährlich werden muss.“ (III 231, s 51) Wird in der Gesellschaft ein natürlicher Grad solcher Parteilichkeit überschritten, wird dies als moralisch schlecht bewertet. In „unseren natürlichen und der Kultur vorangehenden Vorstellungen von Moralität“ hingegen wird diese Art von Clandenken hoch bewertet. (III 232, s 53) Was aber ist das Problem, um das alles kreist? „Es gibt drei Arten von Gütern, die wir besitzen: die innere Befriedigung unserer Seele, die äußerlichen Vorzüge unseres Körpers und der Genuss des Besitzes, den wir durch Fleiß und gut Glück gewonnen haben.“ Für unser Seelenleben sind wir selbst verant-



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wortlich, unserem Körper kann man zwar Schaden zufügen, von dem aber niemand anderes profitieren kann, nur unser Eigentum kann uns gewaltsam genommen werden. Da die Menge solcher Güter, „um die Wünsche und Bedürfnisse aller zu befriedigen“, trotz ihrer Vermehrung durch die Vorteile der Gesellschaftlichkeit nicht ausreicht, „ist die Unsicherheit des Besitzes, vereint mit ihrer Begrenztheit, das Haupthindernis derselben.“ Es ist das Eigentum, das Selbstsucht und Parteilichkeit in Raub, Gewalt und allerlei Ungerechtigkeiten ausufern lässt. Im Naturzustand gibt es keine „im menschlichen Geist liegende Triebfeder, welche jene parteilichen Neigungen zügelte und uns die Versuchung überwinden hälfe, die aus unseren äußeren Verhältnissen entspringen.“ (III 231, s 52) Die „Idee einer Rechtsordnung“ ist keine natürliche Triebfeder, den „Rechtssinn“ konnten Menschen im vorkulturellen Zustand nicht entwickeln. Zwar war auch in dieser fiktiven Phase der Menschheitsentwicklung der Diebstahl nicht erlaubt, aber es gab kein Eigentum als Kernbestand einer Rechtsordnung. (III 245, s 68) Der Natur des Menschen in seiner unregulierten Gesellschaftlichkeit tritt die Künstlichkeit der gesellschaftlichen Unerlässlichkeiten als sein eigenes erkennendes Bewusstsein gegenüber. Aber auch die Fähigkeit, etwas künstlich zu schaffen, kann nicht vom Himmel fallen, sondern muss aus dieser Natur herauswachsen. Sie aktiviert den Verstand, mit dem der Mensch zweifellos auch ausgestattet ist. „Richtiger gesagt, die Natur sorgt für Abhilfe, indem sie uns das Unregelmäßige und Unzweckmäßige in unseren Zuneigungen beurteilen und verstehen lehrt. Wenn die Menschen durch frühzeitige Erziehung in der Gesellschaft sich der unendlichen Vorteile bewusst geworden sind, die aus derselben hervorgehen, und wenn sie nebenbei Gefallen an der Unterhaltung und Gesellschaft gewinnen, wenn sie dann weiter beobachtet haben, dass die Hauptstörungen in der Gesellschaft durch jene Güter, die wir äußerliche nennen, bedingt sind, durch ihre Unsicherheit und leichte Übertragbarkeit von einer Person auf die andere, so müssen sie Abhilfe suchen, indem sie den Status dieser Güter soweit als möglich den festen und dauerhaften Vorzügen des Geistes und der Person anzunähern suchen. Dies aber kann auf

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keine andere Weise geschehen als durch eine Übereinkunft, der alle Mitglieder der Gesellschaft zustimmen und durch welche dem Besitz jener äußeren Güter Sicherheit verliehen wird, so dass jedermann friedlich genießen kann, was er durch Glück und Fleiß erwirbt. Auf diese Art weiß jeder, was er sicher besitzen darf, und die Affekte werden in ihren parteiischen und einander widersprechenden Betätigungsweisen eingeschränkt. Eine solche Einschränkung ist der Natur dieser Affekte nicht zuwider; wäre sie das, so könnte sie nicht zustande kommen oder aufrechterhalten werden; sie hindert nur die gedankenlose und ungestüme Aktivität der Affekte … Eine solche Übereinkunft beruht auf dem allgemeinen Bewusstsein des gemeinsamen Interesses; dieses Bewusstsein geben sich alle Mitglieder der Gesellschaft kund, und sie werden so veranlasst, ihr Verfahren nach gewissen Normen zu ordnen. Ich sehe, es liegt in meinem Interesse, einen anderen im Besitz seiner Güter zu lassen, vorausgesetzt, dass er in gleicher Weise gegen mich verfährt.“ (III 232 f., s 53 f.) Kein Zweifel, das Eigentum und die darauf beruhende bürgerliche Gesellschaftsordnung sind der ins Auge springende Kern der Humeschen Gesellschaftstheorie. Er hat darin mit Hobbes, Locke und anderen bedeutende Vorgänger, die theoretisch begründeten, was in der Praxis mit grundbesitzendem Adel und dann beginnender Manufakturproduktion längst selbstverständlich war. Kein Zweifel auch, dass die theoretische Absicherung der herrschenden Eigentumsverteilung als Apologie der bürgerlichen Gesellschaft gelesen werden kann und damit nur ein Interesse ausdrückt, nicht unbedingt auch eine Wahrheit. Aber ein ernsthafter Versuch, in philosophischer Manier etwas gut begründet herzuleiten, kann leicht dem Interesse an einem bestimmten Ergebnis zuwiderlaufen oder den Garaus machen. Für Hume ist das Eigentum der Schlüssel zur Gesellschaft, aber nicht zur Freude seiner vermögenden Freunde, sondern auf einem langen Weg aus der Natur des Menschen heraus entwickelt. Das mag man so sehen wie er oder auch nicht, aber alle spätere Kritik an der bürgerlichen Eigentumsideologie als rein gesellschaftliche Festschreibung, die durch eine neue gesellschaftliche Übereinkunft abgeschafft werden könnte, hat die Dimen-



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sion der menschlichen – dem Individuum eigenen – Eigenschaften und Bedürfnisse gleich mit neu definiert und ist genau daran gescheitert. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Übereinkunft zur Anerkennung des Eigentums, die schließlich in einer „Rechtsordnung“ mündet, ist ein langsamer Prozess, der der Entstehung von Sprachen und der Nutzung von Gold und Silber als allgemeines Wertmaß gleicht, so Hume. Es gibt keinen fixierbaren Punkt eines fiktiven Vertragsschlusses, wie die Vertragstheorien unterstellen. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen und die Natur seiner egoistischen Interessen lässt gar keine andere Lösung zu. Seine anderen Affekte wie die Eitelkeit oder Neid und Rache wirken nur zeitweise gegen Einzelne und lassen sich leicht beschränken. (III 234 f., s 55 f.) „Nur die Begierde, Güter und Besitz für uns und unsere nächsten Freunde zu erlangen ist unersättlich, andauernd, allgemein verbreitet und unmittelbar zerstörend für die Gesellschaft. Es gibt kaum jemand, der nicht von ihr getrieben wird, und es gibt niemanden, der nicht Ursache hätte sie zu fürchten, wenn sie sich ohne Einschränkung entwickelt und ihren ersten und natürlichsten Regungen folgt.“ (III 235, s 57) Dieser elementare Egoismus verschwindet nicht einfach, sondern nimmt eine „Richtungsänderung“, die „bei geringstem Nachdenken notwendig eintreten muss“, weil die gesellschaft­ liche wechselseitige Garantie des Eigentums eine viel größere Chance auf Besitz bietet als der Zustand von Unsicherheit und Gewalt. Der Egoismus kann also „nur durch sich selbst im Zaum gehalten werden.“ So hat „ die Frage nach der Schlechtigkeit oder Güte der menschlichen Natur“ nichts mit dem Ursprung der Gesellschaft zu tun. Man mag den „Affekt des Eigennutzes“ moralisch bewerten wie man will, es gab ihn, es gibt ihn und wird ihn immer geben, weil er der Natur des Menschen entspricht, solange diese Natur sich nicht ändert. Das einzige Bollwerk gegen seine zerstörerische Kraft ist eine gefühlte Einsicht, die sich aus Erfahrung zur Garantie des Eigentums durcharbeiten und diese Erkenntnis durch Erziehung individuell verankern muss. Die Natur des Menschen, dies soll noch einmal hervorgehoben werden, enthält bei Hume wenig, worauf sich letztlich Gesellschaft gründen lässt, außer der Hoff-

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nung, das Wenige zu mehren. Und Gesellschaft ist damit in ihrem institutionellen Kern die Ansammlung von Besitzern äußerer Güter, die aus Eigeninteresse dem Raub entsagt haben. So ist der von Gewalt geprägte Naturzustand der Philosophen ebenso eine „leere Erdichtung“ wie das „Goldene Zeitalter“ der antiken Dichter, in dem Überfluss und wechselseitiges Wohlwollen der Menschen herrscht. Ein solcher Zustand würde in der Tat jede Rechtsordnung überflüssig machen. Allein, es ist nicht so: „Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, in Kombination mit knapper Fürsorge, die die Natur für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung.“ (III 239, s 61) Es ist für Humes Begriffssystem zentral, dass das Rechtsbewusstsein „nicht auf Vernunft gegründet“ ist. Die Vernunft ist per definitionem auf die angemessene Wahrnehmung von Gegenständen und vor allem die Herstellung sinnvoller Beziehungen der Vorstellungen beschränkt, die wir uns von ihnen machen. Die Entscheidung für ein Rechtsbewusstsein ist kein in diesem Sinn rationaler Vorgang des Abwägens der Vor- und Nachteile, also kein Gedankenspiel, sondern hat die Qualität eines Eindrucks, ist also ein elementares, prägendes Ereignis für unser Bewusstsein. Es geht allem rationalem Kalkül voraus, ist aber nicht naturgegeben, sondern abhängig von der menschengemachten, also „künstlichen“ Situation, die einen solchen Eindruck erzeugt. „Die Fürsorge für unser eigenes und das allgemeine Interesse ließ uns die Gesetze der Rechtsordnung aufstellen. Nichts kann aber gewisser sein, als dass keine Beziehung zwischen Vorstellungen uns zu dieser Fürsorge führt, sondern allein unsere Eindrücke und Gefühle, ohne die alles in der Welt uns gleichgültig wäre und nichts uns im geringsten affizieren würde. Das Rechtsbewusstsein gründet sich also nicht auf unsere Vorstellungen, sondern auf unsere Eindrücke.“ (III 240, s 62) Hume belässt es eben nicht bei einer reinen Zweckrationalität, mit der die Vorteile der Gesellschaftlichkeit ja auch begründet werden, sondern sucht sie tiefer zu verankern. Es ist nicht der Egoismus oder eine andere elementare Eigenschaft des Menschen, die sich auf geheimnisvolle Weise zur Anerkennung



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eines Gemeinwohls umformt, sondern es sind die harten Fakten, die der Egoismus schafft und die so beeindruckend sind, dass aus diesem negativen Impuls zwangsläufig Konsequenzen gezogen werden müssen, die wieder ein positives Gefühl erlauben. Ein solches gutes Gefühl, in Humes Nomenklatur also letztlich die Lust, ist der natürliche Antrieb der Menschen, dem auch die Selbstbeschränkung recht ist. Gäbe es den Egoismus und in seiner Konsequenz die Rechtsordnung aus eigenem Interesse nicht, wäre auch keine Rechtsordnung nötig. Sie ist eine konstruierte Antwort auf unser Selbst, die „indirekt und auf Umwegen zum Ziel“ kommen will, uns mit uns selbst zu versöhnen (ebd.) Dies schließt auch die Akzeptanz von Akten innerhalb der Rechtsordnung ein, die dem öffentlichen oder privaten Interesse widersprechen, wenn nur „Frieden und Ordnung“ in der Gesellschaft gewahrt bleiben. Hat sich erst einmal eine „Nation“ gebildet, also eine bürgerliche Gesellschaft im modernen Sinne, besteht durch die große Zahl von Menschen und Fällen und die daraus resultierende Unübersichtlichkeit die Gefahr, dass partikulare Interessen wieder stärker in den Vordergrund rücken. Auch wenn wir nicht selbst unmittelbar betroffen sind, entwickeln wir kraft unserer Fähigkeit zur Empathie doch ein Gefühl für die Vorgänge und qualifizieren sie moralisch in Tugend, wenn wir „Befriedigung“ empfinden, und „Laster“, wenn sie unser „Unbehagen“ erregen. „So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für das Allgemeinwohl ist die Quelle der moralischen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird. Dieses Prinzip der Sympathie ist zu schwach, um unsere Affekte zu leiten und zu kontrollieren; es hat aber genügend Kraft, um unseren Geschmack zu beeinflussen und in uns die Gefühle der Zustimmung und der Ablehnung entstehen zu lassen.“ (III 243 f., s 66) Menschen haben ein Sensorium für Recht und Unrecht nicht nur im Hinblick auf die Taten Anderer, sondern auch auf sich selbst. Es erwächst aus der Verletzung ihres Eigeninteresses, das sich in ihrem Hab und Gut materialisiert und mündet in der tiefen Sehnsucht nach Sicherheit durch Selbstbeschränkung. Die Natur des Menschen erzwingt aus sich selbst heraus ihre Zurichtung auf die Existenzbedingungen von

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Gesellschaft. Sie macht gleichsam einen immer prekären Schritt über sich selbst hinaus in einen neuen Aggregatzustand. Und weil Raub und Gewalt niemals als Recht empfunden wurden, barg dieser fiktive Naturzustand in sich bereits die Quelle der Zivilisation, in der die Natur des Menschen sich der Natur der Menschen anpasst, ohne ihre negativen und positiven Potenziale zum Verschwinden zu bringen. Natur ist eben kein Zustand, sondern ein Prozess, der auf Zivilisation zulaufen muss. 4. Zivilisation aus Eigeninteresse Die Gesellschaft ist zum „Wohlbefinden der Menschen absolut notwendig.“ Drei Grundgesetze sind „zur Erhaltung der Gesellschaft notwendig“. Sie beschränken die Entfaltungsmöglichkeiten der Affekte und sind zugleich ihre innerste Konsequenz. „Nichts ist wachsamer und erfinderischer als unsere Affekte, und nichts drängt sich den Menschen unmittelbarer auf als die Notwendigkeit einer Übereinkunft zur Einhaltung jener Gesetze. Die Natur hat daher diese Angelegenheit ganz dem Tun der Menschen überlassen, und sie hat dem Bewusstsein keine besonderen ursprünglichen Triebfedern eingepflanzt, um uns zu einer Reihe von Handlungen zu drängen, die durch die Handlungsprinzipien, die ohnehin in unserer Konstitution und Beschaffenheit liegen, ausreichend motiviert sind.“ (III 274, s 100) Weil der Mensch nicht nur potenziell, sondern ganz ursprünglich der Feind aller Anderen ist, generiert der kollektive Zustand auf seine Art ein Bedürfnis, das die gleiche Qualität hat wie die egoistische Grundausstattung des Einzelnen durch die Natur. Die Natur wird sozusagen Zivilisation, und die Zivilisation ist mit der Natur nahezu identisch. Eine letzte Differenz allerdings bleibt: Diese Natur ist „künstlich“, also menschengemacht und nicht vorgegeben. Und damit auch veränderlich. Den Spielraum im Hinblick auf diese zivilisatorische Natur des Menschen auszumessen, bedeutet zwangsläufig, sich den bekannten Phänomenen der Realgeschichte anzunähern, denn nur darin zeigen sich abstrakte Theorien empirisch. Und sind natürlich selber daraus abstrahiert worden. So kontrollieren sich



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Theorie und Wirklichkeit gegenseitig. Aber in den geringen wechselseitigen Unschärfen können sich noch verschwommen neue Formen zeigen, die einen neuen Zeitgeist anregen. Hume benennt „drei Grundgesetze des Naturrechts“ und markiert damit den theoretischen Zusammenhang, indem er argumentiert: „Das des Besitzes, das der Übertragung durch Zustimmung und das der Erfüllung von Versprechen.“ (III 274, s 100) Daran schließen sich „weitere Betrachtungen“ über den Staat, die Untertanenpflichten, das Völkerrecht und – auch das 18. Jahrhundert hatte seine bunten Themen – über Keuschheit und Schamhaftigkeit an. Das Eigentum ist für den Menschen so entscheidend wie die Sonne für die Erde, wie bereits hinlänglich deutlich geworden ist. Allerdings scheint sie nicht jeden Tag und nicht für jeden, weshalb weitere Definitionen erforderlich sind, um den Endzweck der Befriedung der Gesellschaft zu erreichen. Mag es für die Anfänge der Gesellschaftsbildung noch ausreichen, das als Eigentum anzuerkennen, was jemand gerade nutzt oder bearbeitet, so sind für die ausgebildete Gesellschaft „erste Besitzergreifung, Verjährung, Zuwachs und Erbfolge“ die entscheidenden Prinzipien. (III 249, s 73) Bei der Besitzergreifung plagt sich Hume im Wesentlichen mit dem Kolonialismus herum, mit dem er als Gehilfe eines Bristoler Kaufmanns in seinen jungen Jahren hinreichend in Berührung kam. Verjährung meint nicht etwa Verfall von Rechten, sondern das Gewohnheitsrecht auf langjährigen Besitz, und „die Früchte unseres Gartens, die Nachkommenschaft unseres Viehs, die Arbeit unserer Sklaven“ sind Zuwächse, die so selbstverständlich „unser“ Eigentum werden, wie es auch „natürlich“ vom Vater auf den Sohn übergeht. (III 254 ff., s 78 ff.). Der nach diesen Prinzipien entstandene Zustand ist allerdings stark vom „Zufall“ geprägt, weshalb „zwischen der starren Beständigkeit und einer stets wandelbaren und unsicheren Anpassung an die Bedürfnisse“ die Möglichkeit der „Übertragung von Eigentum durch Zustimmung“ als „natürliches Gesetz“ hinzukommen muss. (III 230 f., s 85 f.) Und schließlich die Verbindlichkeit von Versprechen, die ebenso wie der Rechtssinn auf einem gesellschaftlichen Über-

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einkommen beruht, also eine künstliche „menschliche Erfindung“ ist, „die sich auf die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft gründen.“ (III 266, s 91) Angesichts von „so viel Verderbtheit unter den Menschen“ (III 267, s 92) sind Humes Versprechen im heutigen Sinne die Einhaltung ziviler Verträge, „damit gegenseitiges Vertrauen und Zuversicht bei den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens bestehen könne.“ (III 295, s 121) Das erforderliche Grundvertrauen, das sich nicht aus der Natur des Menschen von selbst ergibt, sondern durch Konsens geschaffen werden muss, ist am ehesten mit den Prinzipien eines ehrbaren Kaufmanns vergleichbar, der zu Zeiten als Ikone hochgehalten wurde. So finden sich die Grundlagen der gelingenden Gesellschaftlichkeit des Menschen in einem Schwebezustand zwischen seiner Natur und den selbstgezogenen Konsequenzen, die alsbald als seine Quasi-Natur auf ihn zurückwirken. Vom Staat als letzter Versicherung ist noch nicht die Rede, wohl aber von der „öffentlichen Unterweisung der Politiker“ und der „privaten Erziehung der Eltern“, die die zweite Natur bestärken müssen. Gemeint ist, dass die Politiker die Öffentlichkeit ebenso erziehen müssen wie die Eltern die Kinder. Zwei Voraussetzungen also hat die Anerkennung des Eigentums als Zentrum jeder Rechtsordnung, „nämlich die Grundlage des Selbstinteresses, das sich dann einstellt, wenn die Menschen die Unmöglichkeit einsehen, in der Gesellschaft zu leben, ohne dass sie sich durch gewisse Regeln einschränken, und die Grundlage der Moral, die sich dann ergibt, wenn dieses Interesse als allen Menschen gemeinsam erkannt wird und die Menschen bei der Betrachtung von Handlungen Lust fühlen, die zum Frieden der Gesellschaft beitragen, und Unlust bei Betrachtung solcher, die demselben entgegenstehen … Ist aber jenes Interesse einmal zur Geltung gebracht und anerkannt, so folgt das moralische Gefühl der Beobachtung dieser Normen als etwas Natürliches ganz von selbst nach.“ (III 283, s 109) Damit allerdings ist die erste Natur nicht vollständig zum Verschwinden gebracht. Jedwede Empirie, sei es im 18. oder einem anderen Jahrhundert, belehrt nachhaltig darüber, dass die



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Schönheit des Gedankens von der Durcharbeitung der Menschheit zum Konsens über ihre Existenzbedingungen an offenkundigen Störungen leidet, die eher der Natur des Menschen als seiner Einsicht in die Notwendigkeit von Moral zuzuschreiben sind. So beginnt Humes Abschnitt über den „Ursprung der Regierung“ auch neuerlich mit dem egoistischen Ursprung der Gesellschaft: „Nichts ist gewisser, als dass die Menschen in hohem Maße durch ihr Interesse bestimmt werden und dass sie, selbst wenn ihre Sorge über die eigene Person hinausgeht, damit doch immer in der Nähe derselben bleiben; im täglichen Leben denken sie gewöhnlich nur an ihre nächsten Freunde und Bekannten.“ (III 283, s 109) Was ist der tiefere Grund oder die „Triebfeder in der menschlichen Natur“ dafür, dem „starken Affekt“ oder der „klaren Erkenntnis“ der Vorteile der Gesellschaft und ihrer Rechtsnormen nicht umstandslos zu folgen? Der Mensch wird „in hohem Grade“ von seiner Einbildungskraft und seinen lebhaften Vorstellungen geprägt. „Was im Raume und in der Zeit uns unmittelbar nahe liegt, weckt eine solche lebhaften Vorstellung in uns, hat einen entsprechenden Einfluss auf den Willen und die Affekte und wirkt gemeinhin mit mehr Kraft als ein Gegenstand, der entfernter und matter beleuchtet ist. Mögen wir auch voll überzeugt sein, dass der letztere Gegenstand wertvoller ist als der erstere, wir sind doch nicht imstande, unsere Handlungen nach diesem Urteil einzurichten, sondern geben dem Drängen unserer Affekte nach, die immer für das eintreten, was nahe ist und unmittelbar vor uns liegt.“ (III 284, s 110) Dies gilt „in gewissem Grade“ für alle Menschen, die damit dazu neigen, gegen ihre eigentlichen langfristigen Interessen zugunsten kurzfristiger Vorteile zu handeln und den Bestand der Gesellschaft zu gefährden. Und weil die Menschen niemals ihre natürlichen Neigungen zugunsten entfernterer, höherer Ziele freiwillig aufgeben werden, werden sie sich auch niemals freiwillig einer Macht unterwerfen, die sie dazu zwingen kann. Dies ist Hobbes’ Modell des Gesellschaftsvertrages, das Hume hier erneut zurückweist und neuerlich eine Lösung anbietet, die aus der egoistischen Schwäche des Individuums die überlegene

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Stärke der Gesellschaft begründet. Unsere natürliche „Gleichgültigkeit gegen entfernte Dinge“ bringt es mit sich, dass in der Ferne „ihre kleinen Unterschiede“ bedeutungslos werden. Denke ich darüber nach, was ich in einem Jahr tun will, so werde ich mich immer für das „Wertvollere“ entscheiden. Je näher der Punkt der Entscheidung kommt, desto mehr gefährden aktuelle Umstände den ursprünglichen Plan. „Diese natürliche Schwäche kann ich sehr beklagen, und ich kann mich auf alle mögliche Weise bemühen, davon frei zu sein … Endlich aber sehe ich, wie erfolglos das alles ist. Und dann greife ich vielleicht mit Freuden zu einem Mittel, durch das ich mir eine Nötigung auferlegen und mich vor dieser Schwäche schützen kann.“ (III 286, s 112) Da wir unsere Natur nicht ändern können, können wir nur „unsere Lage und Umstände so … verändern, dass die Einhaltung der Rechtsnormen unser nächstes und ihre Übertretung unser entfernteres Interesse wird. Dies aber ist unausführbar in Bezug auf die ganze Menschheit; es kann nur wenigen gegenüber geschehen. Nur wenige können wir in solcher Weise unmittelbar für die Ausübung der Rechtsnormen interessieren. Und diese wenigen nun, das sind die Personen, die wir bürgerliche Obrigkeit, Könige und Minister, Leitende und Regierung nennen. Sie sind dem größten Teil des Staates gegenüber neutrale Persönlichkeiten und haben daher kein oder nur ein sehr entferntes Interesse an Akten der Rechtswidrigkeit; sie sind mit ihrem augenblicklichen Zustand und mit ihrer Stellung in der Gesellschaft zufrieden und haben daher ein unmittelbares Interesse an allen Akten, die den Rechtsnormen gemäß sind, da diese zur Erhaltung der Gesellschaft so notwendig sind. Dies ist der Ursprung der bürgerlichen Regierung und der Untertanentreue.“ (III 286, s 113) Dieses schlichte Modell sieht aus heutiger Sicht ohne Zweifel allzu harmlos aus. Es wäre zu fragen, ob es nicht auch Mitte des 18. Jahrhunderts und nur im Blick auf die englische Geschichte als eine Fantasie ohne Realitätsbezug erscheinen musste, zumal die Hobbessche Alternative Schutz gegen Unterwerfung im Raume stand. So erscheint Hume als sehr schlichter Apologet der herrschenden Verhältnisse, der hier seinem auf den philosophischen Grund gehenden Anspruch nicht mehr



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­gerecht wird. Aber hätte er sich nicht zu dieser letzten Volte verstiegen, ex cathedra eine Klasse von Menschen zu schaffen, die fast keine natürlichen Menschen mehr sind, sähe die Sache anders aus. Wären auch diese von ihren unmittelbaren und eher kurzfristigen Interessen Getriebene wie alle Anderen auch, wäre das Bild weit realitätshaltiger und die daraus abzuleitenden Konsequenzen andere, zum Beispiel die Gewaltenteilung. Allerdings verklärt Hume das Bild des Adels nur theoretisch zu einer makellosen Leistungselite, denn letztlich ist auch sie „aus Menschen mit allen menschlichen Schwächen zusammengesetzt“, die aber in der Summe „bis zu einem gewissen Grade von allen diesen Schwächen frei ist.“ (III 289, s 115) Realismus, theoretischer Enthusiasmus und Zeitgeist gehen einen Formelkompromiss ein, der auf ungelöste, vielleicht unlösbare Fragen, hinweist. Aber wie dem einstweilen auch sei, liegt nicht auch dem Modell der Demokratie neben der legitimen Einzelinteressenvertretung auch das Postulat zugrunde, die Volksvertreter – nicht das Volk selbst – mögen das Allgemeinwohl im Blick behalten? Und werden sie damit nicht einem Anspruch wie Humes Regierungselite unterworfen, der von „normalen“ Menschen nicht verlangt wird und deshalb immer wieder in der Normalität der „Natur des Menschen“ endet, die Hume als Grundlage von allem aufschlüsseln will? Hume schafft trotz zahlreicher Ansätze den Quantensprung zum nachaufklärerischen Denken in Institutionen nicht, für die der Mensch sei wie er will, solange die Institutionen an seiner statt funktionieren und garantieren, was der Einzelne nicht unbedingt will. Aber ganz am Anfang und am Ende aller Fantasien steht eben doch ein Menschenbild, welche Umwege auch immer eingeschlagen werden, um nicht allzu sehr erschrecken zu müssen. Die drei Naturrechtsgesetze müssen gesellschaftlich etabliert sein, bevor eine Regierung entstehen kann. Die Sicherheit des Eigentums, seine Übertragbarkeit und das Halten von Versprechen sind die Voraussetzungen, die den Staat erst ermöglichen. „An sich aber ist eine Gesellschaft ohne Regierung einer der natürlichsten Zustände der Menschheit.“ (s 117 f., III 291) Erst mit einer Zunahme des Reichtums wird dieser Zustand prekär und bedarf aus jeweils eigenem Interesse der Absicherung durch

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eine Zentralinstanz. „Das Ziel unserer bürgerlichen Pflichten ist die Erzwingung der natürlichen Pflichten; aber das erste Motiv der Erfindung wie der Ausführung beider ist nichts als Selbstsucht.“ (III 292, s 121) Allerdings ist dies nicht der historische Anfang von Regierungen. Hume bemüht den Krieg und die Indianer Nordamerikas, die sich erst im Krieg einer Autorität unterstellen und auf diese Weise für die Zukunft lernen, welche Vorzüge diese bietet. Daraus folgt dann sogleich für ihn, dass Regierungen zuerst monarchisch sind und „Republiken erst durch Missbräuche der Monarchien und der despotischen Gewalt entstehen.“ (III 292, s 117) Im Gründungsakt versprechen die Bürger ihrer Obrigkeit Gehorsam. Dieses Versprechen der Untertanentreue gewinnt mit der Zeit „verpflichtende Kraft und Autorität“ (III 292, s 119) und wird zum „allgemeinen Bewusstsein der moralischen Verpflichtung zur Unterwerfung unter die Regierung“ (III 298, s 125) Da die Regierung eine zweckmäßige menschliche Erfindung ist, gibt es ein Widerstandsrecht für den Fall, dass sie ihren Zweck nicht erfüllt. „Alle Menschen“ haben zumindest die „unausgesprochene Überzeugung … dass sie der Regierung nur um des allgemeinen Besten willen Gehorsam schuldig sind. Gleichzeitig wissen sie, dass die menschliche Natur so sehr Schwächen und Affekten unterworfen ist, dass die Institution der Regierung leicht korrumpiert und ihre Herrscher zu Tyrannen und Feinden des öffentlichen Wohls werden können.“ (III 305, s 132 f.) Die Balance zwischen Egoismus und der moralischen Verpflichtung zur Anerkennung einer Obrigkeit, die das ihr entgegengebrachte Vertrauen mit gleicher moralischer Münze zurückzahlt, aber eben auch aus Menschen besteht, ist wahrlich schwer zu halten. Aber da es all diese Erscheinungsformen der menschlichen Natur nun einmal gibt, können die störenden Elemente auch nicht einfach unter einen dogmatischen Teppich gekehrt werden. Schiere Gewaltsamkeit oder reine Vernunft der Obrigkeit sind nur theoretische Pole, zwischen denen sich der Normalfall abspielt. „Wenn Menschen sich der Autorität anderer unterwerfen, so geschieht es, um sich Sicherheit gegen die Schlechtigkeit und



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Ungerechtigkeit der Menschen zu verschaffen, die fortwährend durch ihre zügellose Leidenschaft und durch ihren augenblicklichen und unmittelbaren Vorteil zur Verletzung der Gesetze der Gesellschaft getrieben werden. Wir wissen also, dass sie den Menschen in allen Lagen und Verhältnissen anhaftet und dass demnach auch diejenigen, die wir zu Herrschern wählen, ihrer Natur nach nicht ohne weiteres vermöge ihrer größeren Macht und Autorität über die restliche Menschheit erhaben sind. Wir gründen demgemäß auch die Erwartung, die wir von ihnen hegen, nicht auf den Glauben an eine Veränderung ihrer Natur, sondern auf ihre Lebenslage, vermöge welcher sie ein unmittelbares Interesse an der Erhaltung der Ordnung und Ausführung der Rechtsordnung gewinnen. Indessen ist dieses Interesse eben doch auch nur insoweit ein unmittelbares, als es sich um die Ausführung der Rechtsordnung unter ihren Untertanen handelt. Und auch abgesehen davon können wir oft vermöge der Unregelmäßigkeiten der menschlichen Natur darauf gefasst sein, dass sie sogar dies unmittelbare Interesse hintansetzen und von ihren Affekten in allerlei Exzesse der Grausamkeit und des Ehrgeizes getrieben werden. Unsere allgemeine Kenntnis der menschlichen Natur, unsere Betrachtung der vergangenen Geschichte der Menschheit, unsere der Gegenwart entnommenen Erfahrungen, alle diese Momente müssen … uns zu dem Schlusse führen, dass wir den Gewalttätigkeiten der obersten Macht Widerstand entgegensetzen dürfen.“ (III 304, s 131 f.) Das Widerstandsrecht gilt naturgemäß nur für extreme Ausnahmesituationen und ist nicht in Regeln zu fassen, wie Hume in einer Bemerkung zur Glorious Revolution von 1688 anmerkt. (III 316, s 144 f.) All dies sind Überlegungen, die nahezu genau auf halber Zeitstrecke zwischen der englischen Revolution, die eher ein Staatstreich war, und der Französischen Revolution 1789 formuliert werden. Hume lässt keinen Zweifel daran, „dass es kaum ein Geschlecht von Königen oder eine Staatsform gibt, die nicht ursprünglich auf Usurpation und Empörung begründet wäre.“ (III 309, s 136) Aber durch den Ablauf von Zeit und die entsprechende Gewöhnung entsteht Autorität und Legitimation. „Vollkommenheit“ kann weder bei Staatsformen noch bei den herrschenden Personen vorausgesetzt werden.

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(III 308, s 135) Eine realistische Beschreibung, die sehr viel zeitgenössischen „common sense“ enthält und nicht von theoretischen oder moralischen Postulaten belästigt wird, hat hier die Oberhand gewonnen. Und doch: „Nichts ist eben wichtiger für das allgemeine Wohl als die Erhaltung der politischen Freiheit.“ (III 317, s 146) Dieser Pragmatismus gilt auch für seine Anmerkungen zum Völkerrecht, die zunächst den „Staatskörper als eine Person“ definieren, der wie das Individuum „Unterstützung“ braucht, dessen Beziehung zu anderen Nationen aber durch wechselseitige „Selbstsucht und ihr(en) Ehrgeiz dauernde Quelle von Kriegen und Zwietracht“ ist. (III 320, s 149) Weil die Beziehung von Staaten nicht die gleiche Notwendigkeit wie die der Individuen in einer Nation hat, haben die moralischen Pflichten hier auch „eine geringere Kraft. Wir müssen daher notwendig mehr Nachsicht mit einem Fürsten oder Minister haben, der einen anderen hintergeht, als mit einem Privatmann, der sein Ehrenwort bricht.“ So gilt aus Erfahrung für die Außenpolitik ganz generell, „dass es ein Moralsystem gibt, das für die Fürsten berechnet und das viel freier ist als dasjenige, das unter Privatpersonen herrschen soll.“ (III 321 f., s 150 f.) Ein Beispiel dafür, wie bei Hume starke Eindrücke, schwache Vorstellungen und die Einbildungskraft immerhin Metaphern produzieren, ist die abschließende Analogie zwischen Völkerrecht und „geschlechtlichem Genuss“ des männlichen Teils der Gesellschaft. Zwar ist die „Keuschheit und Schamhaftigkeit“ der Frauen keine natürliche, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit – auf dass die Männer ihrer Nachkommenschaft sicher sein können –, aber sie hat in etwa den Status der „Normen des Naturrechts“, wohingegen die gleiche Forderung an die Männer etwa „den Verpflichtungen des Völkerrechts“ entspricht, also sehr viel freier gestaltet werden darf. Weil der „Vorteil ihrer Enthaltsamkeit nicht so groß (ist) wie bei dem weiblichen Geschlecht“, muss auch die moralische Verpflichtung „verhältnismäßig schwächer sein. Um dies zu beweisen, brauchen wir uns nur auf die Praxis und die Anschauungen aller Völker und Zeiten zu berufen.“ (III 326, s 156) Erwähnenswert ist diese Position am Rande des Systems, weil sie den Versuch Humes



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nochmals verdeutlicht, die empirische Beobachtung wenigstens beschreibend in sein philosophisch inspiriertes Modell zu integrieren, das die Natur des Menschen konsequent zum Ausgangs- und Endpunkt aller Argumentation macht. 5. Egoismus und Sympathie Ist Moral, also die Fähigkeit, Gut von Böse oder Tugend von Laster unterscheiden zu können, ein natürlicher Instinkt oder doch Ergebnis einer menschlichen Anstrengung, die unsere Grundausstattung wesentlich überschreitet? Die künstlichen Tugenden als gesellschaftliche Notwendigkeiten sind der zentrale Gegenstand des dritten Traktats, weil der das Eigentum sichernde Staat ein künstliches Werk ist, das aber alsbald als natürlich empfunden wird. Aber auch diese Künstlichkeit ist nur möglich, weil sie in einem natürlichen Sinn für Moral ihre Verankerung findet. Und dieser natürliche Sinn kann nicht nur als seine eigene Künstlichkeit in Erscheinung treten, sondern muss auch gleichsam naturbelassen zu erkennen sein. Nach heutigem Zeitgeist könnte man sagen, Moral muss es auch als Bioprodukt geben, also möglichst wenig durch allerlei Zusatzstoffe kontaminiert. „Natürliche Anlagen“ – heute würde man von den Genen sprechen – und „moralische Tugenden“ sind zwar nicht identisch, aber sie manifestieren sich beide als „geistige Eigenschaften“. Nur diese interessieren Hume wirklich, wenn auch später noch die körperlichen Vorzüge einer Spezies, „die wir Weiberhelden nennen“, (III 369, s 204) eine moralische Würdigung erfährt. Natürliche Klugheit und die tugendhafte Ausstattung eines Menschen, „beide erzeugen Lust und haben daher die Tendenz, die Liebe und Achtung der Menschen zu gewinnen. Es gibt wenig Menschen, die auf ihren Verstand und ihr Wissen nicht ebenso eifersüchtig sind wie auf ihre Ehrenhaftigkeit und ihren Mut oder gar auf ihre Mäßigkeit und Nüchternheit.“ (III 360 f., s 194) Verstand, Wissen und Urteilsfähigkeit, also letztlich Intelligenz, haben für Hume den gleichen positiven Stellenwert wie moralische Tugenden. Aber es

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gibt einen wesentlichen Unterschied. Die natürlichen Anlagen sind „durch künstliche Bemühungen fast unmöglich“ zu verändern, während moralische Tugenden „oder wenigstens die Handlungen, die aus denselben entspringen, durch Belohnung oder Strafe, Lob oder Tadel, verändert werden können.“ (III 363, s 197 f.) So scheinen die unveränderliche Natur und die flexible Moral doch sehr verschiedene Welten zu sein. Hume harmonisiert diesen scheinbaren Widerspruch durch einen Rückgriff auf seine Theorie der Willensfreiheit. Denn auch die moralischen Tugenden sind keineswegs beliebig zu manipulieren. „Es ist dem Menschen fast unmöglich, seinen Charakter in einem wesentlichen Punkt zu ändern.“ Die moralische Qualifizierung hängt von der Lust oder Unlust ab, die sie beim Betrachter erregt, und wie beim Empfinden von Schönheit oder Hässlichkeit nicht davon, ob der Gegenstand der Betrachtung oder die Handlung von der beurteilten Person frei gewählt wurde oder nicht. Und im Übrigen habe er gezeigt, „dass der freie Wille mit den Handlungen der Menschen ebenso wenig zu tun hat wie mit ihren Eigenschaften. Es ist kein richtiger Schluss, dass alles, was willkürlich ist, auch frei ist. Unsere Handlungen sind willkürlicher als unsere Urteile; aber wir haben bei den einen nicht mehr Freiheit als bei den anderen.“ (III 362 f., s 196 f.) So wird zwischen den Festlegungen und Unveränderlichkeiten der Natur und ihrer Transformation zur Kulturtauglichkeit einmal mehr die Statik der Natur zu Lasten der Flexibilität menschlichen Handelns betont. Es versteht sich für Hume von selbst, dass die gesellschaftlich notwendigen Tugenden im bürgerlichen Rechtsraum gewährleistet werden müssen, während „im gewöhnlichen Leben“ als Tugend gilt, was gefällt, also auch natürliche Anlagen wie „Klugheit“ oder „Scharfblick.“ Der Hauptgrund für ihre Wertschätzung „ist ihre Tendenz, der Person, die sie besitzt, Nutzen zu bringen … Die Menschen stehen hauptsächlich durch ihre höhere Vernunft über den Tieren. Und die Grade der Vernunft sind es, die die unendliche Verschiedenheit zwischen den Menschen bedingen. Alle Errungenschaften menschlicher Kunst sind der Vernunft zu danken …“ (III 264, s 198 f.)



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Da taucht sie dann doch am Ende des Traktats etwas überraschend wieder auf, die Vernunft. Aber sie ist nur ein individuelles Mehr an Intelligenz als Mittel zur Optimierung von Erfolg. So gehört sie zum Verstand, der im Humeschen Kosmos Vorstellungen miteinander und mit den Gegenständen vergleicht, auf die sie sich beziehen. Natürlich gibt es individuelle Unterschiede. Alles, was die Menschheit erfindet und hervorbringt, ist dieser Fähigkeit einzelner Menschen zu verdanken. Die Vernunft ist eben keine übergeordnete Instanz, deren Vorgaben die Menschheit Schritt für Schritt näher kommt oder die gar eine optimale Ordnung der menschlichen Welt kennt. „Und auch die Rolle, die ein Mensch in der Welt spielt, die Aufnahme, die ihm in Gesellschaft zuteil wird, die Achtung, die ihm seine Bekannten zollen, alle diese Vorgänge hängen fast ebenso sehr von seinem Verstand und seiner Urteilsfähigkeit ab wie von irgendeiner anderen Seite seines Charakters.“ (III 361, s 195) Hume handelt noch allerlei weitere tugendhafte Eigenschaften zwischen Fleiß und Sparsamkeit, guter Laune und Reinlichkeit ab, die den Menschen nützen oder sie für Andere angenehm machen und schließt diese Beschreibungen mit der Bemerkung, dass „Leute von besonderer Begabung und Fähigkeit“ unsere Bewunderung auch deshalb erregen, weil sie eine herausgehobene Stellung einnehmen. „Nichts, was sie angeht, darf übersehen oder geringgeschätzt werden. Wenn jemand diese Gefühle erregen kann, so erwirbt er leicht unsere Achtung, falls nicht andere Seiten seines Charakters ihn widerwärtig und unangenehm machen.“ (III 368, s 202 f.) Und so kehrt er nach dem Ausflug in die Kultur – zu den „künstlichen Tugenden“ – am Schluss des Traktates noch einmal zur menschlichen Natur in ihrer elementaren Form zurück. „Lust und Unlust“ sind das treibende Prinzip, ohne die es kaum Affekte, Begehren, Wollen und schließlich Handlungen geben kann. Diese Basistriebkräfte erscheinen in ihrer unmittelbarste Form als „Neigung und Abneigung“. Steht ihr Bezugspunkt in direkter Beziehung zu uns selbst, konkretisieren sie sich in den „indirekten Affekten des Stolzes und der Niedergedrücktheit, der Liebe und des Hasses“. Die Affekte stehen zu Lust und Unlust in einer

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doppelten Beziehung, zum einen als Eindrücke, weil sie unwillkürliche erste Empfindungen sind, zum anderen als Vorstellungen, weil sie konkrete und vergleichbare Inhalte haben. (III 327, s 157) Moralische Festlegungen werden letztlich von Lust- und Unlustgefühlen bestimmt. Die aus der Triebkraft Lust entspringenden positiven Gefühle münden in der Tugend, der Gegenpol im Laster. Beide Möglichkeiten „unseres geistigen Wesens“ sind von gleichem Gewicht, denn wir können „Liebe und Stolz“ als Tugenden ebenso wie „Scham und Hass“ als Laster empfinden. (III 328, s 158) „Ärger und Hass sind Affekte, die zu unserer Art gehören“ und die in Maßen nicht nur zu entschuldigen sind, sondern deren Fehlen „sogar ein Beweis von Stumpfsinn und Schwäche“ sein kann.“ (III 359, 193) Allerdings können einzelne Handlungen eines Menschen nicht moralisch bewertet werden. Sie sind nur Indizien für den dahinterstehenden Charakter. Denn die moralische Qualifizierung setzt „einen dauerhaften Grund im Geiste“ voraus, „der in dem ganzen Verhalten des Menschen sich kundgibt und zum persönlichen Charakter gehört.“ (III 328, s 158) Es ist das antike Ideal der Tugend als umfassender Lebensentwurf, dem Hume sich hier nicht entziehen kann. Die Zersplitterung des Individuums in unterschiedliche und auch gegenläufige Funk­ tionszusammenhänge und Eigenschaften, die er bis zum Verlust jedweder Einheit des Ichs im ersten Traktat dargelegt hat, erschüttert die Vorstellung vom Individuum als Ganzem nicht. Auch hier wird ja keineswegs behauptet, dass die Tugend dem Menschen in die Wiege gelegt wird, zumal das Laster immer vor der Tür steht. Mit dem plausiblen Hinweis auf den Charakter, der ja durchaus verhaltensrelevant ist, wird ein möglicher Weg zu differenzierten Kriterien für die Beurteilung von Handlungen verbaut. Dieser Weg durch die Wechselfälle des Lebens dürfte Hume zu steinig erschienen sein, denn ohne Einschaltung des Verstandes mit seinen prekären Fähigkeiten wird man angesichts aller Alternativen im wirklichen Leben kaum zu einem Raster von Tugend und Laster gelangen können. So bleibt einstweilen Tugend nur, was empirisch gefällt und für nützlich gehalten wird.



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Die Architektur der Gefühle und des Bewusstseins ist bei allen Menschen gleich. Deshalb gehen wie bei gleich gespannten Saiten „die Gemütsbewegungen leicht von einer Person auf die andere über und erzeugen korrespondierende Bewegungen in allen menschlichen Wesen.“ (III 329, s 159) Hilfreich ist dabei unsere sprunghafte Einbildungskraft, der Hume eine Fähigkeit zuschreibt, die eigentlich das Ende aller Probleme bedeuten könnte, wäre sie wörtlich und nicht nur metaphorisch gemeint: „Wir betrachten uns so, wie wir anderen erscheinen, oder andere so, wie sie sich fühlen. Dadurch machen wir uns Gefühle zu eigen, die uns nicht zugehören und an denen wir nur vermöge des Mitgefühls Anteil nehmen.“ (III 343, s 175) Aber so wunderbar ist es mit der Sympathie als große Erlöserin nicht wirklich. Die Sympathie, treffender als Empathie zu bezeichnen, entsteht als „Umwandlung einer Vorstellung in einen Eindruck“, ist also keine abstrakte Idee, sondern eine unmittelbare Empfindung. (III 349, 181) Als solche ist sie ein Nachhall der Affekte desjenigen, mit dem wir mitfühlen. Es ist das „Prinzip der Sympathie, das uns so weit über uns selbst erhebt, dass wir dem Charakter anderer gegenüber ein Behagen oder Unbehagen empfinden, als ob derselbe eine Tendenz auf unseren eigenen Vorteil oder Schaden hätte.“ (III 332, s 163) Der Umwandlungsprozess vollzieht sich dadurch, dass sich der Affekt des Anderen nicht „dem Bewusstsein unmittelbar (zeigt). Wir bemerken nur seine Ursachen und Wirkungen. Aus diesen schließen wir auf den Affekt, folglich sind es diese, die unsere Sympathie erwecken.“ (III 329, s 159) Mitfühlen ist also zunächst ein Mitdenken auf der Basis unserer jeweils eigenen Lage, durchaus von eigennützigen Motiven geprägt. Dieses Mitgefühl ist „ein sehr mächtiges Prinzip der menschlichen Natur“ und die „Quelle aller Wertschätzungen … für die künstlichen Tugenden.“ Die Sympathie erzeugt unser moralisches Gefühl hinsichtlich der künstlichen Tugenden nicht deshalb, weil wir uns in Andere hineinversetzen können, sondern weil wir sie in uns hineinversetzen und damit unsere besten Ambitionen auch zu den ihrigen machen. Entsprechend lässt das Mitgefühl alle Eigenschaften als tugendhaft erscheinen, die

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„für das Wohl der Menschheit zweckmäßig sind.“ Denn auch alle „Eigenschaften, die wir von Natur billigen“, zeigen eine Tendenz zum Wohle der Gesellschaft, die wiederum „das stärkste Gefühl für Moral“ hervorrufen. Natürliche Tugenden wie „Sanftmut, Wohltätigkeit, Barmherzigkeit, Großmut, Milde, Mäßigung“ haben gleichfalls diese Tendenz, beziehen sich aber immer auf einen Einzelfall. Die Rechtlichkeit hingegen ist die hervorstechendste unter den moralischen Eigenschaften, die, so Hume, für gewöhnlich als „soziale Tugenden“ bezeichnet werden. Ihre Bedeutung für das große Ganze wird auch nicht durch einzelne Fälle infrage gestellt, die einer natürlichen Menschlichkeit zuwider laufen. (III 331 f., s 161 f.) Weil die Sympathie gegenüber uns nahestehenden Personen naturgemäß ausgeprägter ist als zum Beispiel gegenüber „Ausländern“, also zwischen Lust und Unlust schon durch Nähe oder Entfernung allerlei Schwankungen ausgesetzt ist und die Eindeutigkeit moralischer Beurteilungen infrage stellen könnte, führt Hume „feste und allgemeine Standpunkte der Betrachtung“ als Ankerplatz ein. Der Mensch korrigiert automatisch seine momentane Gefühlslage zugunsten einer „konstanteren Beurteilung der Dinge“ nicht nur in moralischen Fragen, sondern bei allem, was ihm die Sinne zur Verarbeitung anbieten. „Und es wäre ganz unmöglich, uns der Sprache zu bedienen oder einander unsere Empfindungen mitzuteilen, wenn wir nicht die momentanen Erscheinungen der Dinge berichtigten und sie ohne Rücksicht auf die momentane Lage beurteilten.“ Ausdrücklich ist es nicht die Vernunft – respektive der Vergleich von Vorstellungen – oder irgendeine vergleichbare objektivierende Instanz, die die Pendelschläge der Gefühle ausbalanciert. Es ist die Erfahrung, die die Gefühle belehrt. (III 235  f., s  165 ff.) Gegenstand moralischer Billigung – oder einfacher von Lob und Tadel – ist für Hume, wie schon gezeigt, nicht die Tat, sondern Charakter und Eigenschaften der Person. Dabei irritiert ihn auch nicht die Beobachtung, „dass die Menschen von Natur, ohne Überlegung, den Charakter billigen, der ihrem eigenen am ähnlichsten ist.“ (III 358, s 192) Die Notwendigkeit,



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einen gewissen Grad von Allgemeinheit des moralischen Urteils jenseits subjektiver Stimmungsschwankungen verlangen zu müssen, lässt Hume „einen anderen Maßstab für Wert und Unwert“ suchen, damit die subjektiven Gefühle nicht allzu hart mit der Begründung einer Moral kollidieren. „Der Austausch der Empfindungen in der Gesellschaft und der wechselseitigen Unterredung lässt uns einen allgemeinen, unwandelbaren Maßstab gewinnen, nach welchem wir Charaktere und Sitten loben oder tadeln. Das Herz hat zuweilen keinen Anteil an diesen allgemeinen Standards und richtet sich in seinem Hass und in seiner Liebe nicht nach denselben; aber dieselben genügen für den Verkehr und dienen unseren Zwecken in der Gesellschaft, auf der Kanzel, auf dem Theater und in der Schule.“ (III 358, s 191) Gefühle bleiben potenziell unberechenbar, aber Berechenbarkeit wird auch bei moralischen Urteilen gefordert. Die eine Seite dieser Berechenbarkeit war der Nutzen für die Gesellschaft. Die andere ist eine unterstellte Kenntnis der menschlichen Natur bei den handelnden Personen, die in die moralische Qualifizierung auch gegen eigene Interessen eingeht. Wir akzeptieren andere Interessen, wenn sie für den Anderen „ein besonderes Gewicht“ haben. „Wir gestatten dem Menschen einen gewissen Grad von Selbstsucht, weil wir wissen, dass ein solcher unzertrennlich mit der menschlichen Natur verknüpft und unserer Art und Beschaffenheit eigen ist. Vermöge solcher Überlegungen berichtigen wir die Gefühle des Tadels, die uns so natürlich sind, wenn jemand zu unseren Interessen in Gegensatz tritt.“ Tatsächlich aber ist ein solches Verhalten wiederum in der sozialen Wirklichkeit kaum anzutreffen. „So können wir schließlich nur sagen, die Vernunft verlangt ein solch unparteiisches Verhalten, es gelingt uns aber selten, dies Verlangen zu erfüllen; unsere Affekte folgen eben nicht willig der Entscheidung unseres Urteils. Dies wird leicht verständlich, wenn wir uns erinnern, wie früher diese Vernunft, die sich unseren Affekten entgegenzustellen vermag, näher bestimmt wurde; dieselbe ist, so fanden wir, nichts anderes als eine allgemeine ruhige Ausgeglichenheit der Affekte, die sich auf die Betrachtung und Überlegung aus der Ferne gründet.“ (III 336 f., s 167 f.)

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Das gedankliche Ringen um die Erklärung der Zwischenmenschlichkeit ist noch nicht entschieden. Zwischen den vielen „Ichs“ mit ihren jeweils unvermeidbaren Ansprüchen und der gemeinsamen Vielheit dieser „Ichs“ mit ebenso unvermeidbaren Konsequenzen ist trotz aller Sympathie für die Sympathie noch keine tragfähige Brücke gebaut, die Humes systematischen Ansprüchen wirklich genügt. So ist dann am Ende nicht der Sieg eines alles erklärenden philosophischen Prinzips zu feiern, sondern das Geständnis eines Sowohl-als-Auch zu machen und dieses von der Höhe der Philosophie der weiteren Lebenspraxis, der Empirie der vielen „Ichs“, in ihre Verantwortung zurückzugeben. Lust und Unlust, also wahrlich subjektive Gefühle, scheinen einerseits die unmittelbare Quelle von Moral zu sein, doch andererseits „ist leicht zu sehen, dass sie auch in hohem Maße von dem nun so oft betonten Prinzip der Sympathie abhängt.“ (III 344, s 176) Aber: „Wir haben alle eine merkwürdige Vorliebe für uns selbst; würden wir aber unseren Gefühlen in diesem Punkt immer freien Lauf lassen, so würden wir uns gegenseitig immer wieder den größten Ärger bereiten … Dies veranlasst uns … Regeln der guten Lebensart aufzustellen, um den Konflikten, die aus dem menschlichen Stolz entspringen würden, vorzubeugen und den Verkehr mit anderen angenehm zu machen und zu verhüten, dass Stolz ihn verletze.“ (III 351, s 184) Kein Zweifel, als Handbuch, das uns über uns selbst informiert und einen kundigen Weg zu Regeln der guten Lebensart eröffnen kann, leistet Humes Traktat über Moral Beträchtliches. Es ist nicht das kunstvolle Gemälde der Landschaft des Menschen geworden, das Hume wohl vorgeschwebt haben mag, sondern die Arbeit eines Anatomen, der den Menschen in seine Einzelteile zerlegt. „Es liegt etwas Hässliches oder wenigstens Kleinliches in dem Anblick der Dinge“, die der Anatom freilegt, aber er kann einen Maler über die Zusammenhänge der Teile belehren. „So werden auch die abstraktesten Spekulationen über die menschliche Natur, trotz ihrer Kälte und Nüchternheit, doch der praktischen Moral dienstbar und können diese letzte richtiger in ihren Vorschriften und überzeugender in ihren Mahnung werden lassen.“ (III 375, s 211)



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Hume hat wie schon dem ersten Teil des Traktats auch dem dritten Teil für verschiedene Publikationen mehrere Überarbeitungen angedeihen lassen, deren erste Fassung als „Untersuchung über die Prinzipien der Moral“ 1751 erschien und bereits 1756 in einer deutschen Übersetzung vorlag. Die Art der Darstellung ist deutlich gefälliger, es gibt die eine oder andere leichte Akzentverschiebung, aber Hume hat seine Grundpositionen aus dem Traktat beibehalten. Und diese Grundpositionen bleiben für jede Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Ich und den Anderen bedenkenswert.

C. Jean-Jacques Rousseau (28. Juni 1712 – 2. Juli 1778) I. Ich träume mich „So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft außer mir selbst.“ (T 7) Mehr Einsamkeit geht nicht. Diesen ersten Satz seiner posthum veröffentlichten „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ schrieb Rousseau etwa zwei Jahre vor seinem Tod 1778 im Alter von sechsundsechzig Jahren nieder. So ganz stimmt diese pathetische Klage natürlich nicht, denn seine Frau Thérèse ist ständig bei ihm. Es gibt noch Bewunderer und Förderer wie den Marquis de Girardin, auf dessen Besitz in Ermenonville er seine letzten Monate verbringt. Und es gibt eine Welt voller Feinde, mit denen auch diese Träumereien abrechnen. Also ist er wahrlich nicht allein auf dieser Welt. Aber was kann eine solche Feststellung schon gegen ein tiefes Gefühl ausrichten, eine Art Traum oder Trauma, in denen der Mensch vielleicht ganz bei sich ist ohne die Störungen dessen, was man Realität oder Vernunft nennt. Mag das geträumte Ich auch beim Erwachen schnell von einer anderen Wirklichkeit in den Hintergrund gedrängt werden, es verschwindet nicht ganz im luftigen Reich der Hirngespinste. Was sich tief im Inneren abspielt, ist das eine überragende Interesse Rousseaus. Die grandiosen „Bekenntnisse“ zwischen Selbstverliebtheit und schonungsloser, wohl auch geschönter Offenheit, in den Jahren bis 1770 geschrieben, dokumentieren dieses Denken von den inneren Antrieben her. Und das andere Interesse ist die unvermeidliche Konfrontation des Ichs mit den Anderen, mit der Gesellschaft, die aus härterem Stoff als der Traum gemacht ist. Die „Bekenntnisse“ erschienen posthum wie auch die „Träumereien“, was abseits aller pragmatischen Gründe als Hinweis



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darauf verstanden werden kann, wie diffizil der Versuch der Selbsterkenntnis auf andere wirken kann. In einer ersten Fassung der „Bekenntnisse“ hielt er den Einfall fest, dass man üblicherweise von sich auf Andere schließe, „während man im Gegenteil damit anfangen müsste, um sein eigenes Herz zu kennen, das der anderen Menschen zu entziffern.“ (B 21) Es ist diese kleine Drehung gegen das langweilige Übliche, die aus seinen Texten Funken schlägt, die wirken können. Was hier Herz genannt wird und wie man es jenseits individueller Ausprägungen dechiffrieren können mag, letztlich geht es um die menschliche Natur als Maßstab aller Maßstäbe. Ohne Wahr-Nehmung – nicht Erkenntnis im naturwissenschaftlichen Sinne – dieses zwar beweglichen inneren Gerüstes gibt es kein realistisches Bild der Menschenwelt, das seine Tragfähigkeit auch dann nicht verliert, wenn das eine oder andere Element zerbrochen ist. So macht es sich ohnehin jeder zurecht, allerdings ohne es in der Regel angestrengt zu bedenken. Rousseaus Konstruktion der Natur des Menschen aus philosophischer Spekulation und empirischer Begründung soll hier anhand seines grundlegenden Schlüsselwerks, des „Diskurs über die Ungleichheit“, nachgezeichnet werden. Schon im ersten Diskurs „Über Kunst und Wissenschaft“, mit dem er den Preis der Akademie von Dijon 1750 gewann und der ihn schlagartig berühmt machte, zerreißt er den Schleier des Fortschrittsoptimismus und nimmt noch vage eine unbeschädigte Natur des Menschen in den Blick. Die Preisfrage der Akademie hatte gelautet: „Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?“ Rousseaus Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. „In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Künste zur Vollkommenheit fortschritten, sind unsere Seelen verderbt geworden.“ (I 15) Das war wieder das genaue Gegenteil von dem, was man erwarten konnte. Seine schriftstellerische Karriere gründete also auf dem überraschend belohnten Mut, konsequent gegen den herrschenden Zeitgeist anzuschreiben und diese Haltung nach und nach systematisch auszubauen. Dem ersten Diskurs allerdings gebrach es nach späterer eigener Einschätzung „völlig an jeder Logik und inneren Ordnung;

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von allem, was je aus meiner Feder geflossen ist, ist es das schwächste, was die Gedankenverknüpfung, und das ärmste, was Ebenmaß und Wohlklang anbetrifft.“ (B 295) Aber diese kleine Schrift war die kurze Ouvertüre zur großen Oper von Rousseaus weiterem Leben und Werk. Auf einem zweistündigen Fußmarsch von Paris nach Vincennes, wo er den soeben aus der Gefangenschaft entlassenen damaligen Freund Diderot besuchen wollte, las er im „Mercure de France“ die Akademiefrage für das Jahr 1750. „Sobald ich diese Zeile gelesen, sah ich rings um mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch … Ganz deutlich erinnere ich mich jedoch, dass ich in Vincennes in einer Erregung anlangte, die an Wahnsinn grenzte. Diderot bemerkte es … Er spornte mich an, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen und mich um den Preis zu bewerben. Ich tat es, und von diesem Augenblick an war ich verloren. Der ganze Rest und all mein Leiden war die unvermeidliche Wirkung dieses Augenblicks der Verirrung … All meine kleinen Leidenschaften wurden durch die Begeisterung für die Wahrheit, die Freiheit und die Tugend erstickt, und das erstaunlichste daran war, dass dieses innere Gären und Leuchten länger denn vier oder fünf Jahre in einem so hohen Grade vorhielt, wie es vielleicht noch niemals in dem Herzen eines andere Menschen der Fall gewesen ist.“ (B 494 f.) Die Verirrung, der sich Rousseau hier bezichtigt, war natürlich ironisch gemeint, denn gegen alle Kritik und Isolation ging er in einer Welt von Feinden, wie er es bis zur Paranoia empfand, den eingeschlagenen Weg weiter. Rousseau hatte vor seinem theoretischen Erweckungserlebnis 1749 einige Artikel über Musik zu Diderots Enzyklopädie beigetragen, erlebte 1752 die Aufführung seines Singspiels „Der Dorfwahrsager“ sogar am Hofe und veröffentlichte 1753 eine Streitschrift über Musik in Frankreich, bevor ihn im gleichen Jahr wieder die jährliche Preisfrage der Akademie von Dijon fesselte: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ob sie durch das natürliche Gesetz autorisiert wird“. Anlässlich eines mehrtägigen Ausfluges nach Saint-Germain verbrachte er die meiste Zeit allein „tief innen im Walde und suchte und fand dort das Bild der Urzeit, deren Geschichte ich kühn entwarf. Ich deckte schonungslos all die kleinen Lü-



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gen der Menschheit auf, wagte ihre Natur bis zur Nacktheit zu entblößen, ihre fortschreitende Entstellung durch Zeiten und Dinge zu erweisen und, indem ich den Menschen, so wie er durch den Menschen geworden, mit dem Menschen der Natur verglich, ihm gerade in seiner vermeintlichen Vollkommenheit die wahre Quelle seines Elends aufzudecken. Meine durch so erhabene Betrachtungen emporgehobene Seele stellte sich an die Seite der Gottheit, und da ich von dort gewahrte, wie meine Mitmenschen in der Blindheit ihrer Vorurteile den Weg des Irrtums, des Leidens und des Verbrechens gingen, rief ich ihnen mit einer schwachen Stimme, die sie nicht zu vernehmen mochten, zu: Ihr Toren, die ihr unaufhörlich über die Natur klagt, lernt doch endlich, dass all eure Leiden in euch selbst ihren Ursprung haben.“ (B 545) Wie die Gesellschaft das ursprüng­ liche Innere des Einzelnen bis zur Unkenntlichkeit deformiert, aber letztlich nicht vollständig zerstören kann, ist das provokante Thema dieses umfänglichen Essays. Er will kein philosophisches Lehrbuch sein, aber Gründe für ein ganz anderes Denken legen. Der „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, der im Titel bewusst den zweiten Teil der Akademiefrage nach dem natürlichen Gesetz beiseite lässt, ist der funkelnde Stern im umfangreichen Werk Rousseaus, der ganz früh aufleuchtet und auf alles Weitere ausstrahlt. 1762 erschienen die beiden Bücher, die zumeist mit der fortwirkenden Bedeutung Rousseaus verbunden werden. Der „Gesellschaftsvertrag“ untersucht die optimale Organisation und Legitimation des Staates, „wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind“, (G 5) der „Emil oder über die Erziehung“ entwirft ein komplexes Erziehungsprogramm, das „für den Menschen geeignet und dem menschlichen Wesen angemessen sei.“ (E 6 f.) Auch in diesen brillanten Werken geht es also abseits aller äußeren Erscheinungsformen immer um das Wesen des Menschen, dessen begreifbare Struktur im „Diskurs über die Ungleichheit“ systematisch entwickelt wird.

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II. Mensch der Natur und Natur des Menschen „Die nützlichste und die am wenigsten fortgeschrittene von allen menschlichen Kenntnissen scheint mir die Kenntnis des Menschen zu sein.“ (43) Mit diesem ersten Satz des Vorworts des „Diskurs über die Ungleichheit“ bezieht sich Rousseau ausdrücklich auf die gerade erschienene „Allgemeine Naturgeschichte“ Buffons, die ein Bestseller dieser Zeit wurde. Buffon beklagt, dass wir alle unsere Sinne und Energien auf die äußere Welt richten und die Seele als Instanz unsere Innenwelt verkümmert ist. Auch dies wird für Rousseau ein Bestätigung gewesen sein, die Differenz von Innen und Außen oder Individuum und Gesellschaft aufzuklären, um die es eigentlich geht, wie zu zeigen sein wird, und damit die Kenntnis des Menschen auf eine neue Stufe zu stellen. Denn der „Mensch der Natur“ ist einerseits eine historisch frühe Form des Menschen, über die man Vermutungen aller Art anstellen kann – das halten wir auch heute noch so, wenngleich mit etlichen archäologischen und anderen Befunden mehr ausgestattet. Andererseits muss diese frühe Form zugleich ein Ausgangspunkt für den zivilisierten Menschen der Moderne sein, „wie er durch den Menschen geworden“ ist, also dieser in jenem und jener in diesem noch in einem Kernbestand zu erkennen sein. Der Begriff Mensch behauptet ja wie andere Allgemeinbegriffe auch, dass alle damit bezeichneten Erscheinungsformen etwas Gemeinsames haben müssen, das diesen Begriff rechtfertigt. Und dieses Gemeinsame aller Erscheinungsformen kann kaum nur das rein Körperliche sein. Auch im Verhalten, das weit über die instinktiv eng gezogenen Reaktionsweisen der Tiere hinausgeht, wird es Gemeinsamkeiten geben, die mit einem scharfen Blick auf die Zeitgenossen gar nicht so schwer zu ergründen sind. Dabei ist die Akademiefrage nach den Ursachen der Ungleichheit der Menschen ein geradezu ideales Vehikel dafür, zunächst von ihrer Gleichheit auszugehen und dann die unübersehbare gesellschaftliche Ungleichheit der gesellschaft­ lichen und politischen Wirklichkeit des absolutistischen Frankreich anzugreifen. Dies ist die typische Denkweise Rousseaus,



II. Mensch der Natur und Natur des Menschen137

die scheinbaren Selbstverständlichkeiten durch einen Perspektivwechsel spannend zu machen. Wenn alle die Ungleichheit für naturgegeben halten, muss es intellektuell produktiv sein, die Gleichheit zum Ausgangspunkt der Argumentation zu machen. Selbstverständlich hat die Akademie das Gegenteil als Antwort erwartet. Acht der zehn erhalten gebliebenen Antworten argumentieren dann auch erwartungsgemäß, die Ungleichheit sei von Gott gegeben. (64, Anmerkung des Herausgebers) Natürlich ist sich Rousseau der politischen Dimension des Vorgangs nicht nur bewusst, sondern will die herrschenden Verhältnisse explizit grundsätzlich kritisieren, aber sich nicht unbedingt der Strafverfolgung aussetzen. So gibt es neben der Natur des Menschen als Basis der Argumentation auch die politische Dimension, die zumeist und mit gutem Recht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Rousseau steht. „Worum präzise handelt es sich also in diesem Diskurs? Darum, im Fortschritt der Dinge den Augenblick zu bezeichnen, in dem das Recht die Stelle der Gewalt einnahm und die Natur somit dem Gesetz unterworfen wurde; zu erklären, durch welche Kette von Wundern der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk, eine nur in der Vorstellung existierende Ruhe um den Preis einer wirklichen Glückseligkeit zu erkaufen.“ (69) Die Herrschaft des Gesetzes über die Menschen ist die politische und historische Dimension, die Beherrschbarkeit der menschlichen Natur durch äußere Zwänge die eigentliche philosophische Frage. Die wirkliche Glückseligkeit entspricht der inneren Natur des Menschen. Er hat sie nur in einem langen Prozess an eine trügerische äußere Ruhe verpfändet. Solche Sätze können zu weit ausholender Interpretation oder Aktualisierung einladen. Ist der Rechts- und Sozialstaat nur eine – notwendige – Hilfskonstruktion, die das menschliche Potenzial zum glücklichen Leben eher verschüttet als freisetzt? Was kommt zum Vorschein, wenn eine solche Ordnung zerbricht, das friedliche Glück oder der nackte Überlebenskampf? Um die Ungleichheit unter den Menschen – nicht nur ihre bloße Verschiedenheit – als solche begreifen zu können, muss

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man einen Maßstab ihrer Gleichheit entwickeln und begründen. Denn wenn etwas ungleich ist, muss die Gleichung einmal aufgegangen oder wiederherzustellen sein. Ungleichheit ist mehr als beliebige Verschiedenheit, sie ist eine Abweichung von einem gut begründeten Maßstab der Gleichheit. Aber das Gleiche ist auch nicht das Selbe, also keine immer wiederholte Identität in allen Einzelheiten, sondern bedeutet nur das Vorhandensein wesentlicher unveränderter Merkmale bei den Dingen, die verglichen werden. Dieser Maßstab kann schwerlich in der Addi­ tion oder Subtraktion von allerlei Verschiedenheiten liegen. Ein bisschen mehr von diesem und ein bisschen weniger von jenem ergäbe zwar auch ein Design, wäre aber nur ein geschmäcklerisches Jonglieren an der Oberfläche, dem die Begründung dafür fehlt, dass es genau so und nur so sein kann. Ein Grund oder eine Ursache liegt entweder als Tatsache in der Vergangenheit oder als nicht mehr infrage gestelltes Prinzip im abstrakten Raum des Denkens, das sich von seinen konkreten Anlässen gelöst hat, wenngleich es unvermeidlich auch eine Vergangenheit hat. Rousseau belässt es nicht bei einer bloß erdachten Theorie, die sich aus allem Wissen seiner Zeit speist und Behauptungen aufstellt, sondern will die Ursachen als reale Gegebenheiten der Vergangenheit verstanden wissen. Es muss einen frühen Zustand der Gleichheit gegeben haben, der in einer langen historischen, also tatsächlichen Entwicklung zu dem aktuellen Zustand der Ungleichheit geführt hat. Und dieser noch ganz in der Natur aufgehobene Zustand des Frühmenschen ist die „Natur des Menschen“ (51) nicht nur als historische Vorform, die verschwunden ist, sondern zugleich auch als „Grundbestand“ (43) seiner Möglichkeiten überhaupt, also auch der, aus dieser historischen Frühform herauszutreten und so zu den „wirklichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft“ (49) zu werden. Denn die Natur der Dinge liegt nicht in einer einfachen, rohen Form allein auf einer Zeitachse vor den Dingen in ihrer aktuellen Gestalt, sondern als harter Kern in ihnen verborgen. Und dies gilt auch dann, wenn man von einem Naturzustand ausgeht, in dem sich die Menschen vor ewigen Zeiten befunden haben müssen. Denn dass sich der Mensch „im Schoße der



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Gesellschaft durch tausend unablässig neu entstehende Ursachen“ bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, steht für Rousseau zweifelsfrei fest. Der Fortschritt ist nur eine Bewegung weg von den Ursprüngen und so weit gediehen, dass hinter lauter „Kenntnissen und Irrtümern“ wir „in gewissem Sinne“ kaum noch in der Lage sind, zum Kern der Sache vorzudringen. (43 f.) Es muss also realiter eine tiermenschliche, frühmensch­ liche Phase gegeben haben, in der unsere Vorfahren sich so gleich waren wie „die Tiere einer jeden Art, ehe verschiedene physische Ursachen in einigen Arten die Varietäten einführten, die wir bei ihnen bemerken.“ (45) Mehr ist mit dem Begriff der Gleichheit nicht gemeint als die Gleichheit einer Art ohne Ansehen individueller Unterschiede oder gar gesellschaftlicher Rangordnungen. Diese vordarwinistische Bemerkung bestätigt aber nochmals Rousseaus Auffassung, dass Natur kein statischer Zustand ist, sondern ein Entwicklungsprozess, der von physischen Ursachen so bewegt wird, wie die Menschheitsentwicklung von gesellschaftlichen Ursachen, die einstweilen noch im Dunkeln bleiben. So ist dieser Naturzustand als lange Entwicklungsphase zu begreifen und historisch unbestreitbar. Aber seine Einzelheiten können nicht als historische Tatsachen ausgegeben werden, weil es keine Überlieferungen gibt und sie nur im plausiblen Denken beglaubigt werden können. Und er ist logisch zwingend, weil es vor der Gegenwart eine uns bekannte Vergangenheit gegeben hat und davor eine uns weniger bekannte Vergangenheit gegeben haben muss. „Man darf die Untersuchungen, in die man über diesen Gegenstand eintreten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern nur für hypothetische und bedingungsweise geltende Schlussfolgerungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen, und jenen vergleichbar, welche unsere Naturwissenschaftler alle Tage über die Entstehung der Welt machen.“ (71) Es ist also schwer genug, so Rousseau, das „Ursprüngliche“ vom „Künstlichen,“ die Natur des Menschen also von seinem gegenwärtigen Erscheinungsbild zu unterscheiden, „und einen Zustand richtig zu erkennen, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird, und von dem zutreffen-

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de Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen.“ (47 f.) Es mag rätselhaft erscheinen, wie weit Rousseau sich hier von einer doch auch immer wieder unterstellten Realität eines frühmenschlichen Zustandes distanziert. Aber dieser Naturzustand ist ja zugleich auf einer anderen Ebene die Natur der Art Mensch überhaupt und deshalb mehr als nur eine historische Erscheinungsform. Deshalb ist es für ihn auch im gleichen Atemzug möglich, für die Zukunft eine historische Entwicklungsstufe auszuschließen, in der sich diese Natur ungebrochen und rein zeigen kann. Wir sehen die Natur des Menschen hinter allen Oberflächen nicht, wir können sie nur denken und müssen sie auch als möglich und wahrscheinlich und letztlich real denken wie andere abstrakte Begriffe auch, etwa Freiheit oder Gerechtigkeit. Und dies geht nur in zutreffenden Begriffen, wobei das Zutreffen die Bindung an all die wahrnehmbaren Oberflächen und damit die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit sichert und der Begriff wie ein Röntgenbild die dahinterliegenden Strukturen sichtbar machen soll. Dies ist eine theo­ retisch-philosophische Versuchsanordnung: Allerdings nicht im luftleeren Raum reiner Spekulation oder dogmatischer Festlegungen, sondern so weit wie möglich auf das anerkannte Wissen seiner Zeit gestützt. Rousseau nimmt wahr, was er erkennen kann, und hält für wahr, was sein Denken als Herstellung von Beziehungen der Dinge und ihre Beurteilung erlaubt. Die Bibel gehört explizit nicht in den Kanon ernst zu nehmender Erkenntnisse über die Genealogie des Menschen, was zu behaupten seinerzeit alles andere als selbstverständlich war. Auf dieser logischen Ebene verwendet Rousseau mehrfach die Formulierung, er habe dies oder jenes „bewiesen“, mildert die Apodiktik der Behauptung aber sofort wieder ab, weil es sich um „Vermutungen“ handele, die „zu Gründen werden, wenn sie die wahrscheinlichsten sind, die man aus der Natur der Dinge herleiten kann, und die einzigen Mittel, die man haben kann, um die Wahrheit zu entdecken.“ So sind die Vermutungen, wenn sie alternativlos und zwingend der Natur der Dinge entsprechen, „keineswegs mutmaßlichen Charakters“,



II. Mensch der Natur und Natur des Menschen141

sondern entsprechen nur der Wahrheit, wie sie eine Naturwissenschaft konstruieren würde, weil es in diesem Felde der ersten und letzten Erkenntnisse keinen anderen Weg zu beglaubigten Aussagen geben kann. Wo es im Kontext der historischen Entwicklung vom Natur- zum Gesellschaftszustand keine gesicherten Tatsachen gibt, ist es die genuine Aufgabe der Philosophie, „ähnliche Tatsachen zu bestimmen, die sie verbinden könnten.“ ff.) Es ist eine theoretische Versuchsanordnung, deren (167  Tragfähigkeit allein durch ihre Plausibilität entschieden wird. Und so endet die „Untersuchung über die Ungleichheit“ mit dem Bekenntnis Rousseaus, er habe „versucht … allein durch das Licht der Vernunft … aus der Natur des Menschen“ abzuleiten, wie es zu dieser Ungleichheit kam, die historisch „dauerhaft und legitim“ (271) geworden ist. Allerdings ganz anders, als die Apologeten der jeweils herrschenden Verhältnisse sich dies vorstellen. Die sichtbare Oberfläche hat sich zweifelsfrei verändert. Aber zumindest irgendeine Spur des Ausgangszustandes muss noch aufzufinden sein, so wie jede neue Variante einer Art – man denke nur an die unzähligen Hunderassen – nicht gänzlich hinter sich lassen kann, was ihre Vorläufer ausmachte. So gibt es keine ein für allemal als überzeitliche Konstante definierte Natur des Menschen, wenngleich Rousseau an diesem statisch erscheinenden Begriff festhält, sondern nur einen beschreibbaren entwicklungsoffenen Kern. Um das Ergebnis des Diskurses vorwegzunehmen: Der Mensch der Moderne ist ganz offenkundig ein Anderer als der Mensch vor der Vergesellschaftung. „Dies ist in der Tat die wahrhafte Ursache all dieser Unterschiede: Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz.“ (269) In sich und außer sich, innen und außen sind die Pole, von denen aus Rousseau den Menschen analysiert. Die Natur des Menschen im Naturzustand ist gleichsam die biologische Natur, die spätere die kulturelle Natur. Beide gehören zusammen. Es gibt die eine Natur nicht ohne die andere, denn der Naturzustand steht ja unvermeidlich in einer zumindest logischen Verbindung zur Gegenwart. Genau

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genommen ist er eine Rückprojektion aus der Gegenwart, und die Gegenwart ist nicht die vollautomatische Verlängerung der Vergangenheit, weil so das jeweils Neue schwer vorstellbar wäre. Die Natur des Menschen ist in der Summe das Spektrum der Möglichkeiten, seine angenommene innere Welt der Grundbedürfnisse und Fähigkeiten mit den Anforderungen der Umwelt zu synchronisieren, ohne von ihnen determiniert zu werden. Dabei kann der Begriff der Natur des Menschen allerdings nicht mit beliebigen Spekulationen je nach Bedarf angefüllt werden. Der Mensch ist schließlich kein philosophisches Fantasiegebilde, sondern bevölkert leibhaftig die Welt.

III. Voraussetzungen Die Lehre von angeborenen Rechten des Menschen war unter dem Titel „Naturrecht“ längst im Schwange und zweifellos eine wichtige Etappe in der geistigen Emanzipation des Europäers. Das Naturrecht ist für Rousseau aber nicht die natür­ liche Schwester des Naturzustandes, weil es sich auf rein „metaphysische Prinzipien“ (53) gründet und eben keinerlei reale Basis hat, die er selbst für seinen Naturzustand unterstellen muss. Zwar haben die Gesellschaftsphilosophen – Hobbes, Locke, Grotius, Pufendorf und andere – immer „die Notwendigkeit gefühlt, bis zum Naturzustand zurück zu gehen, aber keiner von ihnen ist bei ihm angelangt.“ Sie reden von Bedürfnis, Habsucht, Unterdrückung, Begehren oder Stolz, haben aber alle damit verbundenen Vorstellungen ihrer Gegenwart entnommen, so Rousseau. „Sie sprachen vom wilden Menschen und beschrieben den bürgerlichen Menschen.“ (69) Deshalb kann der Naturzustand bei ihnen auch verschieden ausgestattet sein, je nach politischer Interessenlage. „Zunächst sucht man nach den Regeln, über die übereinzukommen für die Menschen zum allgemeinen Nutzen gewesen wäre; und dann gibt man der Sammlung dieser Regeln den Namen ‚natürliches Gesetz‘, ohne anderen Beweis als das Wohl, das – wie man findet – aus ihrer universellen Praxis resultieren würde. Das ist sicherlich eine sehr bequeme Art, Definitionen aufzustellen und die Natur



III. Voraussetzungen143

der Dinge durch beinahe willkürliche Zweckdienlichkeiten zu erklären.“ (55) Dies ist eine Bezugnahme auf den zweiten Teil der Akademiefrage, ob die Ungleichheit unter den Menschen „durch das natürliche Gesetz autorisiert wird.“ (65) Dies zu widerlegen ist ja die Absicht Rousseaus. Ein als interessengeleitete Rückprojektion formuliertes natürliches Gesetz kann die Erklärung des Ursprungs der Ungleichheit nicht sein, weil es nicht die Forderung erfüllt, „durch die Stimme der Natur“ (55) zu sprechen. Stattdessen hat ihn sein Nachdenken „über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele“ zur Erkenntnis zweier Prinzipien geführt, „die der Vernunft voraus liegen, von denen das eine uns brennend an unserem Wohlbefinden und unserer Selbsterhaltung interessiert sein lässt, und das andere uns einen natürlichen Widerwillen einflößt, irgendein empfindendes Wesen, und hauptsächlich unsere Mitmenschen, umkommen oder leiden zu sehen. Aus dem Zusammenwirken und aus der Verbindung, die unser Geist aus diesen beiden Prinzipien herzustellen vermag, scheinen mir – ohne dass es notwendig wäre, das Prinzip der Soziabilität einzuführen – alle Regeln des Naturrechts zu fließen: Regeln, welche die Vernunft später auf einer anderen Grundlage wiederzuerrichten gezwungen ist, wenn sie es durch ihre sukzessiven Entwicklungen fertig gebracht hat, die Natur zu ersticken.“ (57) Selbsterhaltung und Mitleid sind die ersten Strukturelemente der menschlichen Natur, die Rousseau benennt. Sie sind Eigenschaften, die von Natur aus als Tatsachen unverhandelbar gegeben sind. Sie bedürfen keiner weiteren Begründung als Ausgangsdefinitionen des Systems. Kurz darauf, anlässlich der Beschreibung des Menschen im Naturzustand, kommt noch die Perfektibilität als „Fähigkeit, sich zu vervollkommnen“ dazu, „eine Fähigkeit, die, mit Hilfe der Umstände, sukzessive alle anderen entwickelt und bei uns sowohl der Art als auch dem Individuum innewohnt – während ein Tier nach einigen Monaten ist, was es sein ganzes Leben lang sein wird, und seine Art nach tausend Jahren, was sie im ersten dieser tausend Jahre war.“ (103) Die Perfektibilität ist einfach als Lernfähigkeit zu

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verstehen und macht den entscheidenden Unterschied zu anderen Lebewesen aus, während Selbsterhaltung und Mitleid ganz unmittelbar natürlich sind und für alle Lebewesen gelten. Aber die Perfektibilität führt zwangsläufig über diesen ursprüng­ lichen Zustand hinaus und von ihm weg und keineswegs zwangsläufig zu einem besseren Zustand als zuvor. Welche Rolle dabei die Vernunft spielt, die irgendwann erwacht, sei vorerst dahingestellt. Weil Selbsterhaltung und Mitleid aber Grundelemente sind und nicht völlig verschwinden können, müssen sie je nach Entwicklungsstufe immer wieder neu definiert werden. So hat das Lebensprinzip der Selbsterhaltung beim Menschen zwei Formen, die auf der einen Seite der Natur des Einzelmenschen und auf der anderen ihrer Umformung zu einer Eigenschaft des Individuums im gesellschaftlichen Zustand entsprechen: Die Selbstliebe (L’Amour de soi-même) und die Eigenliebe (L’Amour propre). Rousseau hat die Definitionen in eine Anmerkung ausgelagert: „Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlasst, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das im Menschen, von der Vernunft geleitet und durch das Mitleid modifiziert, die Menschlichkeit und die Tugend hervorbringt. Die Eigenliebe ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlasst, sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen, das den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich wechselseitig antun, und das die wahrhafte Quelle der Ehre ist.“ (369) Beide Begriffe sind im „Emil“ und in den „Dia­ logues“ weitschweifiger erläutert (368 ff., Anmerkung des Herausgebers). Die Eigenliebe nährt sich aus dem Vergleich mit Anderen und wird im Wesentlichen zum Neid als Antriebskraft, nicht hinter ihnen zurückzubleiben. Sie kann im vorgesellschaftlichen Naturzustand isolierter Einzelwesen naturgemäß nicht vorhanden sein. Hier regiert der Selbsterhaltungstrieb ohne jede auf Andere gerichtete Leidenschaften wie bei anderen Lebewesen auch. Im Zeichen der natürlichen Selbstliebe ist der Raub einer Beute oder ihre Preisgabe angesichts eines Stärkeren einfach nur ein „natürliches Ereignis“ (371) der elementaren Bedürfnisbefriedigung.



III. Voraussetzungen145

Bei der Definition der Selbstliebe wird bereits die Vernunft erwähnt. Sie kann hier aber nur als Vorgriff auf den gesellschaftlichen Zustand gemeint sein, in dem mit ihrer Hilfe aus der elementaren Basis Selbstliebe nicht nur die Eigenliebe, sondern auch Mit-Menschlichkeit und Tugend entwickelt werden können. Das Mitleid wiederum als „reine Regung der Natur, die jeder Reflexion vorausgeht“, grenzt jedenfalls die Selbstliebe und weit weniger wirkungsvoll die Eigenliebe ein. Dieser natürliche Reflex hat sich sogar in das Publikum der Theater herübergerettet, allerdings nur als Karikatur seiner selbst. Dort kann man täglich sehen, „wie mancher sich vom Leid und Unheil eines Unglücklichen rühren lässt und darüber weint, der, wäre er an der Stelle des Tyrannen, die Qualen seines Feindes noch verschärfen würde.“ (145) Ein plastisches Bild für die Differenz einer natürlichen Eigenschaft des Menschen und ihrer Umzingelung durch gesellschaftlich erworbene Handlungsstrategien. Im Naturzustand ist das „Mitleid ein natürliches Gefühl“ der unmittelbaren Identifikation mit dem Opfer, „das, da es in jedem Individuum die Aktivität der Selbstliebe mäßigt, zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Art beiträgt.“ Es „vertritt die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend“ in der modernen Gesellschaft, die diese sich kraft Vernunft geben muss. (149 f.) Allein aus dem Mitleid ergeben sich „alle gesellschaftlichen Tugenden.“ (147) Es ist eine Konstante der menschlichen Natur, die auch im gesellschaftlichen Zustand des Menschen nicht völlig verschwunden sein kann. Mitleid ist eine „Stütze der Vernunft“ (147). Die Vernunft wiederum „erzeugt die Eigenliebe und die Reflexion verstärkt sie.“ (149) Vernunft leistet nur das nüchterne Kalkül des eigenen Vorteils ohne Rücksicht auf Verluste Anderer und lässt dem natürlichen Gefühl des Mitleids kaum noch Raum. Das kennzeichnet allerdings nur den „klugen Mensch“, in dem wir einen Vertreter der Oberschicht vor uns haben, während der Pöbel und die Marktweiber bei Streitereien auf der Straße beherzt eingreifen und die „rechtschaffenen Leute daran hindern, einander umzubringen.“ (149) Diese Zweiteilung der Gesellschaft ist natürlich kein Zufall. Wer oben ist oder bleiben will, nutzt das ganze Repertoire der Möglichkeiten gegen die

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Konkurrenten – vorzugsweise von unten. Wer unten ist und weiß, dass er dort bleiben muss, ist seinem natürlichen, nichtstrategischen Verhalten noch sehr viel näher. Über die Vernunft allein jedenfalls führt kein Weg zur Tugend, außer vielleicht bei Sokrates und anderen Philosophen seines Schlages, wie Rousseau anmerkt. Die Vernunft mag eine naturrechtliche oder biblische Maxime hervorbringen wie: „Tue anderen, wie du willst, daß man dir tue.“ Sie verfehlt aber das natürliche Gefühl des Mitleids als zentrale Antriebskraft des Menschen neben der Selbstliebe, das in einer anderen Maxime zum Ausdruck kommt, „die viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher“ ist: „Sorge für dein Wohl mit dem geringstmöglichen Schaden für andere.“ Dies will kein kategorischer Imperativ aus den eisigen Höhen der Vernunft sein, sondern nur eine Beschreibung des maximal Möglichen angesichts der Natur des Menschen. Um sein eigenes Wohl kümmert er sich ohnehin. Aber es sollte nicht von vornherein das Kalkül sein, Anderen zu schaden, um einen Vorteil zu erlangen. „Das Menschengeschlecht wäre längst nicht mehr, wenn seine Erhaltung nur von den Vernunfterwägungen derer abhängig gewesen wäre, aus denen es sich zusammensetzt.“ (151) Während kaum jemand dem Egoismus in all seinen Formen die Anerkennung als menschliche Grundeigenschaft verweigern dürfte, stellt sich dies für das Mitleid schon schwieriger dar. Angesichts diverser Genozide bis in die jüngste Zeit auf allen besiedelten Kontinenten kann man das Vertrauen der Aufklärung in die Menschlichkeit – auch Hume misst ja der Empathie entscheidende Bedeutung bei – schwerlich teilen. Aber vielleicht hat Rousseau – und ähnlich Hume – doch Recht, dass Mitleid in der Konfrontation Mensch gegen Mensch eine natürliche Regung bleibt – von seltenen Einzelfällen abgesehen, die wir als krank bezeichnen –, wenn keine gesellschaftlichen und politischen Indoktrinationen dazwischentreten. Dass Verblen­ dung möglich ist, nimmt er später genauer ins Blickfeld, ganz abgesehen davon, dass eine durch Macht korrumpierte Gesellschaft in den Augen Rousseaus von vornherein den Blick aller auf eine ursprüngliche Menschlichkeit versperrt.



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IV. Der Wilde im Menschen Mit der Beschreibung des Naturzustandes verfolgt Rousseau zwei Strategien, die sich wechselseitig beglaubigen und in eine grundlegende Kritik der Gesellschaft – nicht nur des vorrevolutionären Frankreich – münden sollen. Denn die Vereinbarkeit von Individualität und Gesellschaftlichkeit oder von „innen“ und „außen“ bleibt auch dann ein Problem, wenn politische Formen wie die Demokratie gefunden werden, die diesen Widerspruch erträglicher machen als andere. Die eine Strategie heißt, eine Rekonstruktion der frühmenschlichen Entwicklungsstufe zu versuchen. Dabei kommt es auf eine genaue historische Verortung und vielerlei Details nicht an, obwohl Rousseau zeitgenössisches Material wie Reiseberichte von „Naturvölkern“ heranzieht und in Anmerkungen diverse Überlegungen diskutiert. Es ist keine Ereignisgeschichte, sondern eine Geschichte der wesentlichen Strukturen einer weit in der Vergangenheit liegenden Epoche. Die andere Strategie heißt, den Naturzustand gerade nicht nur als historische Vergangenheit zu begreifen, sondern als Herausbildung der Natur des Menschen, die im Kern auch in allen späteren Phasen der historischen Entwicklung der Menschheit nicht verloren gegangen sein kann. Es ist eine Geschichte des Menschen, „wie ich sie zu lesen geglaubt habe“, die sich ganz auf die „Natur, die niemals lügt“, verlässt. „Ich werde dir sozusagen das Leben deiner Art beschreiben, nach den Eigenschaften, die du erhalten hast, die deine Erziehung und deine Gewohnheiten haben depravieren können, die sie aber nicht haben zerstören können.“ (75) Rousseau verzichtet ausdrücklich auf jede Spekulation über die Entwicklung der Gattung Mensch im „Tiersystem“ und macht sich ein Modell des Homo sapiens ohne alle kulturellen Zutaten, „wie es aus den Händen der Natur hat hervorgehen müssen …“ Dieser Prototyp ist „ein Tier, das … alles in allem genommen am vorteilhaftesten von allen organisiert ist“, (79) also dank seiner menschlichen Grundausstattung körperliche Nachteile gegenüber anderen Tieren kompensieren kann. Natürlich ist diese Projektion einer scheinbar leeren Hülle schon zu-

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mindest mit einem Vorbegriff Mensch strukturiert, der Schritt für Schritt mit allem aufgefüllt wird, was jedermann gemeinhin als menschlich versteht. Der Tiermensch lebt „nackt und ohne Waffen“ (81) in einer reichhaltigen Natur und lernt von den anderen Tieren besonders, was essbar ist und was nicht. Wäre er reiner Vegetarier gewesen, wäre die menschliche Gattung womöglich im Naturzustand verblieben, gibt Rousseau in einer Anmerkung zu bedenken. Zumindest hätte „sie viel weniger Bedürfnis und Gelegenheit gehabt“, diesen Zustand des friedlichen Miteinanders zu verlassen, der Pflanzenfresser im Gegensatz zu den Raubtieren auszeichnet. (Anmerkung. V, 287 ff.) Durch natürliche Auslese wie im antiken Sparta, das die Schwachen zugrunde gehen ließ, entwickelt sich ein den Unbilden der Natur gewachsener Körper, der zugleich das einzige Werkzeug des Frühmenschen ist. Nach Kraft und Geschicklichkeit ist er dem zivilisationsgeschädigten modernen Menschen mit seinen Maschinen haushoch überlegen. Er kennt Krankheiten nur in dem unerheblichen Maße wie andere Wildtiere auch, schon gar nicht Zivilisationskrankheiten der Moderne wie Gicht oder Rheuma, und scheidet unauffällig aus dem Leben, wenn seine Zeit gekommen ist. Und dann folgt die erste Provokation all jener, die an die Vernunft als wesentliches Merkmal des Menschen glauben: „Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, dass der Zustand der Reflexion ein Zustand wieder die Natur ist und dass der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist.“ (89) Es ist eine scharfe Akzentuierung seiner Grundüberzeugung, dass der Frühmensch vollständig in seiner Umwelt aufging, ohne die Notwendigkeit zu spüren, sie anders als mit seinen Händen zu begreifen, jedenfalls beinahe. So wie das domestizierte Tier wesentliche Stärken seiner wilden Vorfahren einbüßt, ergeht es auch dem wilden Menschen, wenn er in gesellschaftlich strukturierten Verhältnissen lebt: „Indem er soziabel und Sklave wird, wird er schwach, ängstlich, kriecherisch.“ (93) Jedweder zivilisatorische Fortschritt wie Kleidung – mit Ausnahme von Tierfellen, die in



IV. Der Wilde im Menschen149

kalten Landstrichen zur Jagdbeute gehören – oder eine Behausung tragen zur weiteren Schwächung bei. Die Selbsterhaltung ist die einzige Sorge des Wilden. Deshalb sind Augen, Ohren und Geruchssinn bei ihm als Jäger hervorragend ausgebildet, wie Reiseberichte von „wilden Völkern“ belegen. (99) So weit die physische Seite des besonders vorteilhaft organisierten Tieres Mensch. Aus der Sicht von 1750 und den folgenden zwei Jahrhunderten mag die Beschreibung der körperlichen Überlegenheit des Frühmenschen, die seinen physischen Herausforderungen geschuldet ist, unsinnig erscheinen. Denn noch und immer härter war bis weit ins Maschinenzeitalter die körperliche Arbeit die Existenzgrundlage der allermeisten Menschen und somit kein Grund zu verweichlichen. Rousseau hat natürlich jenen schmalen Teil der Gesamtbevölkerung im Auge, der bei Hofe, im Adel oder Klerus und im aufkommenden Bürgertum von dieser Fron unmittelbaren Kampfes ums Überleben weitgehend befreit ist. Aber seitdem körperliche Arbeit selbst einerseits durch effizientere Maschinen in weiten Bereichen deutlich erleichtert wurde und andererseits nur noch ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung von größtenteils körperlicher Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreitet, hat Rousseau eine überraschende Bestätigung erfahren. Die Fitness- und Gesundheitsbewegungen aller Art in den Industriegesellschaften berufen sich nicht auf ihn, aber ihr Motiv „Zurück zur Natürlichkeit“ entspricht seinem vielfach erwähnten Motto „Zurück zur Natur“, das er allerdings nie formuliert hat. Gemeint ist damit zunächst die natürliche Konstitution des Körpers, dem offenkundig eine naturnahe Mischkost ebenso bekömmlich ist wie gelegentliche Bewegung, für die er eigentlich entwickelt wurde. Dass auch der Körper durch gesellschaftlich angelieferte Bequemlichkeit depraviert werden kann, ist das eine. Dass aber auch der Frühmensch mehr ist als ein Körpertier, ist das andere. „Ich sehe in jedem Tier nur eine kunstvolle Maschine, der die Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder aufzuziehen und sich bis zu einem gewissen Grade vor allem zu bewahren, was darauf hinzielt, sie zu zerstören oder in Unordnung zu bringen. Präzise dieselben Dinge stelle ich in der menschlichen

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Maschine fest, mit dem Unterschied, dass bei den Operationen des Tieres die Natur allein alles tut, wohingegen der Mensch bei den seinen als ein frei Handelnder mitwirkt. Jenes wählt oder verwirft aus Instinkt und dieser durch einen Akt der Freiheit …“ (99) Es geht dabei zunächst um die Differenz zum Tier, dem Rousseau kurz zuvor in einem Nebensatz bescheinigt hat, zwar „wenig“, aber immerhin grundsätzlich doch zu „denken“. (97) Hier fährt er fort, auch Tiere haben Vorstellungen (Ideen), weil sie Sinne haben, die sie in Beziehungen zueinander verarbeiten. Das ist die Leistung des Verstandes, in der Mensch und Tier sich nicht grundsätzlich unterscheiden. Aber der Mensch zeichnet sich nur als „frei Handelnder“ und „im Bewusstsein dieser Freiheit“ durch die „Geistigkeit seiner Seele“ aus. Die Erzeugung von Vorstellungen ist ein „Mechanismus“, den „in gewisser Weise“ die Physik erklären kann. Aber das „Vermögen zu wollen“ und das „Gefühl dieses Vermögens“ sind „rein geistige Akte“, die Mechanik oder Physik, sagen wir zeitgemäßer Neurologie und Hirnforschung, nicht erklären können. (101 f.) Mit den Begriffen Maschine, Mechanik und Physik bedient sich Rousseau bei seinen materialistisch denkenden Zeitgenossen – Lamettries „L’homme machine“ war 1748 erschienen –, ist aber eigentlich auf der Spur einer rein biologischen Erklärung der Funktionsweisen des Menschen, zu der auch der Verstand als elementare Versicherung seiner Überlebensfähigkeit gehört. Denken und Sprache – dazu gleich mehr – und überhaupt die geistige Ausstattung des Menschen werden nicht als einfach gegebene Wesensmerkmale des Menschen hingenommen, sondern an ihre Entwicklung aus dem Tierreich angebunden. Aber es muss andererseits eine entscheidende Differenz zu den Tieren geben, die nicht in nur einer geistigen Überlegenheit liegen kann – der Mensch gleichsam als das optimierte Tier –, sondern die in einem markanten Sprung aus dem Tierreich bestehen muss. Dies ist die Freiheit, durchaus auch zum eigenen Schaden von den Vorgaben der Natur im eigenen Verhalten abweichen zu können. Tiere haben diese Fähigkeit nicht, sondern folgen ausnahmslos den Verhaltensregeln, die ihnen von der Natur in Form der Instinkte als Regeln vorgegeben sind.



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Beim Menschen „(spricht) der Wille noch, wenn die Natur schweigt.“ (101) Wenn die Natur schweigt, könnte man ganz im Sinne Rousseaus sagen, spricht die Gesellschaft. Es gibt kein Vakuum, in dem sich das Individuum ohne Beeinflussung durch die Natur, seine Natur, oder die Anderen, die Gesellschaft, aufhalten könnte. Irgendjemand spricht immer mit. Der Wille, der dem Menschen seine Freiheit verschafft, wird als bloße Behauptung unmittelbar vor der Fähigkeit des Menschen eingeführt, sich zu vervollkommnen. Auch die Perfektibilität wird zunächst nicht begründet. Es zeigt sich aber, dass der freie Wille des Menschen seine Perfektibilität erst möglich macht und diese beiden zentralen Eigenschaften des Menschen, die ihn vom Tier unterscheiden, erst im gesellschaftlichen Zustand entstehen können. Der Frühmensch als Übergangsform vom Tier zum Homo sapiens wird zwar auch als Mensch angesprochen, womit ihm diese Eigenschaften per definitionem zukommen müssten. Aber nach Rousseaus Konstruktion verfügt er genau darüber gerade nicht. Der Naturzustand erweist sich weniger als historische Vorform, in der alles Spätere bereits angelegt ist, sondern als theoretischer Nullpunkt, von dem aus erst die verschiedenen Kurven der Beschreibung das eigentliche Diagramm ergeben. Und dieser Nullpunkt Rousseaus ist der Mensch als völlig isoliertes Einzelwesen, das es, auch Rousseau weiß dies, nie gegeben haben kann. Aber er braucht diese Fiktion, um der Kultur als einziger Produktivkraft einen Maßstab gegenüberstellen zu können, der den gesellschaftlichen Fortschritt nicht in eine Beliebigkeit entlässt, die am Ende das fiktive Einzelwesen Mensch zerstört. Nicht nur die Ambivalenz des Fortschritts kann so zum Thema werden, sondern auch die Grundsicherung des als frei gedachten, aber tatsächlich existierenden Individuums. Der wilde Mensch, „in den Wäldern unter die Tiere zerstreut“, (117) beginnt seine Karriere „mit den rein tierischen Funktionen“ des Wahrnehmens und Empfindens. Statt der Automatismen des Instinkts, „der ihm vielleicht fehlt“, verfügt er ersatzweise über Fähigkeiten, „die ihm zunächst den Instinkt ersetzen und ihn danach weit über die Natur hinauszuheben vermögen.“

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Folgt man den ersten Charakterisierungen im Diskurs, handelt es sich um eine gewisse Lernfähigkeit, also mithilfe eines den Tieren überlegenen Verstandes Beziehungen zwischen Tatsachen herstellen und bewerten zu können. Zwar nennt Rousseau als seine „nahezu“ einzigen geistigen Operationen „Wollen und Nichtwollen“, aber als Synonym gleich darauf „Begehren und Fürchten.“ Ganz offensichtlich ist hier nicht der Wille eines frei Handelnden gemeint, der zwischen Alternativen mit Gründen wählt, sondern eher das Getriebensein eines sehr schlichten Gemüts. Begehren und Fürchten sind generell Gefühle oder Leidenschaften, die die Vernunft stimulieren. „Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren …“ (105 f.) An ganz anderer Stelle, in den „Fragments Politiques“, hat Rousseau dazu bemerkt: „Der Irrtum der meisten Moralisten war stets, den Menschen für ein essentiell vernünftiges Wesen zu halten. Der Mensch ist nur ein empfindendes Wesen, das einzig seine Leidenschaften zu Rate zieht, um zu handeln, und dem die Vernunft nur dazu dient, die Dummheiten zu bemänteln, die sie ihn begehen lassen.“ (zit. nach Anmerkung 106) Die Leidenschaften, argumentiert er im Diskurs weiter, entstammen den Bedürfnissen entweder direkt „aus den Antrieben der Natur“ oder aus erworbenen „Kenntnissen“ über zu begehrende oder zu fürchtende Dinge. Der Frühmensch aber wird zunächst noch ganz allein von seinen physischen Bedürfnissen bestimmt: „Nahrung, ein Weibchen, und Ruhe.“ (107) Das Ruhebedürfnis oder auch die Faulheit ist nach der Selbsterhaltung die stärkste Leidenschaft des Menschen, heißt es in Rousseaus Essay über den „Ursprung der Sprachen“. Leidenschaften, die den Menschen aktivieren, „entstehen erst in der Gemeinschaft.“ (UdS 127) Besonders trennscharf sind die Leidenschaften zwischen Naturzustand als QuasiInstinkten und dem gesellschaftlichen Zustand als Aktivierungsagenten nicht postiert. Es schimmert nur durch, dass sie im Zusammenspiel mit dem Verstand die Triebkraft sein könnten, die den Menschen schließlich aus dem Naturzustand herausführt. Wie leicht einzusehen, handelt es sich bei Selbst- und Arterhaltung und vielleicht auch abgegrenzter Autonomie um Grundbedürfnisse, die mit dem wilden Menschen keineswegs verschwun-



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den sind. Ganz generell sei leicht beweisbar, „dass sich bei allen Nationen der Welt die Fortschritte des Geistes präzise nach den Bedürfnissen bemessen haben, welche die Völker von der Natur erhalten haben oder denen sie die Umstände unterworfen hatten, und folglich nach den Leidenschaften, die sie dazu antrieben, für diese Bedürfnisse zu sorgen.“ (109) Es sind die bereits im Zusammenhang mit der Perfektibilität erwähnten äußeren Umstände oder Zufälle, die wahrgenommen und wertend empfunden werden und menschliche Aktivität auslösen, um ihrer Herr zu werden. Man kann es auch Fortschritt nennen. Im Naturzustand hingegen überlassen sich die – immer noch vereinzelten und sprachlosen – Menschen ganz „dem bloßen Gefühl ihrer gegenwärtigen Existenz“, (111) ohne von Fantasien über weitere Möglichkeiten behelligt zu werden. Mag die Selbsterhaltung noch ohne jede Form von Hordenbildung gedacht werden können, unterstellen wir der Arterhaltung gemeinhin, eine Keimzelle von Gesellschaft zu sein. Dies ist, so Rousseau, eine Übertragung unseres historisch gewachsenen Familienbildes auf den Naturzustand und damit notwendig falsch. Es muss zuvor auch anders gegangen sein, und zwar so, wie in der tierischen Natur üblich: „Männchen und Weibchen vereinigten sich zufällig“ und gingen „mit der gleichen Leichtigkeit“ wieder ihrer Wege, wie sie zusammengetroffen waren. Die Mutter stillte zunächst aus Eigenbedürfnis, dann weil die Brut sich „ihr lieb gemacht hatte“, bevor die Kinder sie verlassen und sich ihr eigenes Futter suchen und alsbald beide sich nicht mehr erkennen, wenn sie sich zufällig in Wald und Flur wieder begegnen. (119) Ganz unwillkürlich mag man hier die Frage aufwerfen, wie viel Naturzustand respektive wie viel ursprüngliche Natur des Menschen – oder Rousseauscher Naturzustand – in der Moderne sich wieder Bahn bricht, nachdem die eherne Macht der bürgerlichen Familie zumindest an den Rändern der Gesellschaft im Schwinden begriffen scheint und durch die allein erziehende Mutter als Massenphänomen ersetzt wird. Allerdings gibt es auch im Naturzustand „eine schreckliche Leidenschaft, die in ihrer Raserei geeignet erscheint, das Men-

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schengeschlecht zu zerstören, das sie zu erhalten bestimmt ist.“ (153) Die Liebe als geistig-seelische Leidenschaft für „einen bevorzugten Gegenstand“ hingegen ist „ein künstliches Gefühl, aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt gepriesen, um ihre Herrschaft zu begründen und das Geschlecht dominant zu machen, das gehorchen sollte.“ (155) Damit scheint Rousseau für die Frauenemanzipation verloren. In der dem Diskurs vorangestellten Widmung – und an anderen Stellen seiner Schriften – wird die Herrschaft der „keuschen Hüterinnen der Sitten“ geradezu besungen, welche „die Rechte des Herzens und der Natur zum Besten der Pflicht und der Tugend zur Geltung“ bringen. (39) Allerdings ist die „unbestreitbare“ Begründung von zentraler Bedeutung, dass alle Leidenschaften, so auch das Verlangen oder die Liebe, „erst in der Gesellschaft jene ungestüme Hitze erworben hat, die sie für die Menschen so oft unheilvoll macht.“ Der Wilde weiß nichts von „Verdienst“ oder „Schönheit“ und „Vergleichen“. Er kann sein physisches Begehren deshalb auch nicht mit „abstrakten Vorstellungen“ aufladen. Für ihn, denn er ist immer männlich, sind alle Frauen gleich. „Die Einbildungskraft, die so viele Verheerungen unter uns anrichtet, spricht nicht zu wilden Herzen; jeder wartet friedlich auf den Antrieb der Natur, überlässt sich ihm ohne Wahl, mit mehr Vergnügen als Raserei, und ist das Bedürfnis befriedigt, so ist das ganze Verlangen erloschen.“ (155  f.) Im gesellschaftlichen Zustand dagegen müssen die Leidenschaften durch Gesetze respektive Sitten gebändigt werden, die immer unzulänglich sind und deshalb selbst Ursache von „Unordnungen“ und „Verbrechen“ werden können. (153 f.) Die Pflicht der ehelichen Treue schafft Ehebrecher, die Pflicht zur Enthaltsamkeit schafft „Liederlichkeit“ und vermehrt Abtreibungen. Eifersucht und „die Rache der Ehegatten“ bringt „täglich Duelle, Morde und noch Schlimmeres“ mit sich. (161)



V. Sprache155

V. Sprache Die Frage, die sich Rousseau nach der Umschreibung des Naturzustandes stellt, lautet: Wie konnte der Mensch aus den „reinen Empfindungen“ seines rohen, frühmenschlichen Zustandes „zu den einfachsten Erkenntnissen“ gelangen? Es ist im Hintergrund zugleich die Frage, wie der Mensch die Fähigkeit erlangte, seinen unmittelbaren Affekten nicht mehr unmittelbar zu folgen, sondern den Verstand als ergänzende – ohnehin nicht bestimmende – Kontrollinstanz zu etablieren. Dazu bedurfte es der „Hilfe der Kommunikation“, einer „Notwendigkeit“ und „vieler unterschiedlicher Zufälle“, lautet die Antwort. Es handelt sich also um einen Prozess, der einerseits eine Reaktion auf äußere Umstände darstellt und über das Verhaltensrepertoire des isoliert lebenden Wilden hinausgeht. Andererseits ist er ohne den Kontakt zu anderen Frühmenschen nicht denkbar. Ohne Kommunikation würde die Nutzbarmachung des Feuers mit dem jeweiligen Erfinder wieder verschwinden, und ohne eine von den Anderen anerkannte Nutzung des Bodens für sich selbst allein, also die Beendigung des Naturzustandes, könnte es keinen Ackerbau geben. Rousseau formuliert diesen Übergang vom isoliert lebenden Wilden zum sozialen Menschen nicht einfach als Theorie oder Behauptung, sondern kleidet es in die Feststellung, dass dieser Übergang anders „unmöglich zu begreifen“ ist. (113) Kommunikation im Sinne von Sprache ist eine erworbene Fähigkeit, die nicht zur Grundausstattung des Menschen gehört. Ganz unabhängig davon, ob es sich so verhält oder nicht – über den evolutionären Zeitpunkt der Sprachentwicklung gibt es auch heute verschiedene Spekulationen –, ist dies für die Systematik von Rousseaus Menschenbild ein entscheidender Punkt mit Konsequenzen. Was nicht zur Grundausstattung – des isolierten Wilden – gehört, ist zwangsläufig veränderbar. „Die erste Sprache des Menschen, die universellste, die kraftvollste und die einzige Sprache, die er nötig hatte, bevor es erforderlich war, versammelte Menschen zu überreden, ist der Schrei der Natur.“ Es ist der unwillkürliche Schmerzensschrei

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oder wird ausgestoßen, „um bei großen Gefahren Hilfe … zu erflehen.“ Also wendet sich der Schrei der Natur – ganz gegen Rousseaus Absicht, man könnte sagen versehentlich – bereits an andere Menschen, wenn auch „kein großer Gebrauch von ihm gemacht“ wurde. Wieder einmal wird die totale Autarkie des Frühmenschen außer Kraft gesetzt und erweist sich als nur theoretisch denkbare, nicht historisch tatsächliche Kategorie. Irgendwann erweiterten sich die „Vorstellungen“ der Menschen, und es begann „eine engere Kommunikation unter ihnen.“ (123) Zwar lag eine „unermessliche Spanne“ (121) oder auch „Tausende von Jahrhunderten“ (117) zwischen dem „reinen Naturzustand und dem Bedürfnis nach Sprache“ (121). Rousseau beharrt aber gegen die Argumentation des Abbé de Condillac in dessen „Essai sur l’origine des connaissances humaines“ aus dem Jahre 1746 ausdrücklich darauf, dass es unter den „Erfindern der Sprache“ noch keinerlei Art von Gesellschaft gegeben habe, und vor allem: „Wenn die Menschen die Sprache nötig hatten, um denken zu lernen, so hatten sie noch viel nötiger, denken zu können, um die Kunst der Sprache herauszufinden.“ (121) Das ist in der Tat eine interessante Frage, aber da sie kaum zu beantworten sein dürfte, muss die Frage wohl falsch gestellt sein. Sein Denken ist ganz zeitgemäß auf die Herstellung einer eindeutigen Kausalität gerichtet und kann sich eine Parallelität von Entwicklungen schwer vorstellen. Kurz darauf wiederholt Rousseau mit der gleichen Ratlosigkeit: „Was ist das Notwendigere gewesen – eine zuvor gebildete Gesellschaft für die Einführung der Sprachen, oder zuvor erfundene Sprachen für die Errichtung der Gesellschaft?“ (131) Das Bedürfnis des Frühmenschen nach Kommunikation wurde zunächst durch Gebärden im Hinblick auf sichtbare Dinge und durch nachahmende Laute für alles Hörbare erfüllt. Wegen der begrenzten Reichweite einer gestischen Artikulation ersetzte man diese schließlich durch die Stimme, die aber eine Übereinkunft über die Bedeutung der Laute voraussetzt, was eigentlich nur durch die Benutzung von Sprache möglich scheint, so Rousseau. (123) So werden die ersten Wörter eine viel umfassendere Bedeutung als in entwickelten Sprachen gehabt und ganze Sätze repräsentiert haben. Als nächste Stufe wurde das



V. Sprache157

Subjekt eines Satzes als Eigenname und das Verb nur im Infinitiv unterschieden, schließlich auch Attribute und Adjektive, die bereits Abstraktionsvermögen verlangen. Alle einzelnen Dinge wurden auch einzeln benannt, was schließlich die Erfindung von Allgemeinbegriffen erforderlich machte, um das Wörterbuch handhabbar zu halten. Um diesen Prozess der Entwicklung einer gewissen Ordnung der Dinge als Voraussetzung einer Zuordnung in der Sprache zu erreichen, bedufte es einer Methode, „die ich nicht begreife“, (129) weil Allgemeinbegriffe „nur mit Hilfe der Wörter in den Geist gelangen; und der Verstand erfasst sie nur durch Sätze.“ (127) Ganz zu schweigen von metaphysischen Begriffen „wie Materie, Geist, Substanz, Modus, Gestalt, Bewegung … da unsere Philosophen, die sich ihrer seit so langer Zeit bedienen, große Mühe haben, sie selbst zu verstehen, und da sie für die Vorstellungen, die man mit diesen Wörtern verbindet, keinerlei Vorbild in der Natur fanden …“ (129) Angesichts der Komplexität einer voll ausgebildeten Sprache beendet Rousseau hier seine Überlegungen und zeigt sich überzeugt „von der nahezu erwiesenen Unmöglichkeit, dass die Sprachen durch rein menschliche Mittel haben entstehen und sich etablieren können.“ (131) Dass die kritische Befragung der Position Condillacs zur Sprachentstehung, die seinerzeit als maßgeblich und einflussreich galt, keine Erklärung brachte, die aus der Natur der Menschen selbst zu einem Ergebnis führte, konnte Rousseau nicht befriedigen. Genau genommen ist es ein Desaster, das er seiner Fixierung auf den isolierten, autonomen Einzelnen als Basis jeder weiteren Erklärung verdankt. Dies ist der entscheidende Einfall des Diskurs, der seiner ganzen Argumentation den radikalen Schwung verleiht, sei er nur theoretisch angenommen oder historisch für stichhaltig erklärt, je nachdem. Dabei hat er mit dem „cri de la nature“ Condillacs die Lösung eigentlich schon im Ansatz vor sich liegen. Erst drei Jahre nach seinem Tod wird sein „Essai sur l’origine des langues ou il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale“ publiziert, in dem er diesen Lösungsweg beschreitet und der Gesellschaftlichkeit des Menschen einen Stellenwert zuweist, der diese nicht als künstlich und eigentlich überflüssig bezeichnet, sondern aus der

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Natur des Menschen hervorgehen lässt. Der Mensch ohne Sprache ist eine Frühform der Evolution und als solcher historisch interessant, aber nicht der Mensch, um den es auch Rousseau aktuell geht. Der „Essay über den Ursprung der Sprachen“, 1989 erstmals auf Deutsch erschienen, war wohl partiell schon Teil des Entwurfs des „Diskurses über die Ungleichheit“, wurde von Rousseau aber verworfen und später wohl für eine 1761 geplante Sammelpublikation überarbeitet, die allerdings nie zustande kam. (Gülke, Rousseau und die Musik, in UdS 447 ff.) „Das Wort“, so lautet der erste Satz des Essays, „unterscheidet den Menschen von den Tieren; die Sprache scheidet die Nationen voneinander.“ Und gleich darauf: „Das Wort, die früheste soziale Einrichtung, verdankt seine Formung ausschließlich natürlichen Voraussetzungen.“ Erst die Sprache verleiht dem Frühmenschen seine eigentliche Menschlichkeit. Sie erwächst aus seinen naturgegebenen Voraussetzungen und ist zugleich ohne Gesellschaftlichkeit nicht denkbar, wie immer die Übergangsformen aussehen mögen. Denn sobald der Mensch seinesgleichen erkennt, hat er den „Wunsch oder das Bedürfnis nach Mitteilung seiner Gefühle und Gedanken“. Das eine Mittel, das ihm zur Verfügung steht, ist die gestische Bewegung, die vom Auge, das andere die Stimme, die vom Gehör erfasst wird. (UdS 99 f.) Es ist eine „dem Menschen eigene Fähigkeit“, die entsprechende Benutzung dieser Organe zu erlernen und nicht durch ihre schiere Existenz zwangsläufig vorgegeben, wie die Differenz zum Tier verdeutlicht. Die Kommunikationsmethoden der Tiere dagegen sind angeboren und bleiben unveränderlich. (103 f.) Dabei macht Rousseau eine bemerkenswerte Unterscheidung über die Wirksamkeit visueller und akustischer Kommunikation, die an die Lehrbuchformel für Filmemacher „Show, dont’t tell“ erinnert. Mit der Geste kann ohne Worte alles gesagt sein, wobei allerdings „heutzutage“ Gesten nur noch ein Zeichen „natürlicher Unruhe“ sind. Die Antike sei voller Belege davon, schließt sich Rousseau auch an dieser Stelle an Condillac an, „wie man für die Augen argumentiert – womit man stets eine



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sicherere Wirkung erzielt als mit all dem Gerede …“ Das Sichtbare ist einerseits „genauer“, kann aber andererseits nicht „in die Tiefe des Herzens“ und damit in die Gefühlswelt eindringen. Wahre Empfindung bedarf der weiteren Information durch Sprache. Hätte der Mensch nur physische Bedürfnisse, hätte eine Sprache der Gesten statt einer der Worte völlig ausgereicht, sogar um „Gesellschaften zu gründen.“ (UdS 100 ff.) Die physischen Bedürfnisse sind nicht der Anlass für Entwicklung der Sprache, sondern die „Leidenschaften“ als moralische Bedürfnisse. „Die Leidenschaften bringen die Menschen einander näher, wie die Notwendigkeit zu leben sie auseinanderzulaufen zwingt. Nicht Hunger oder Durst, sondern Liebe, Hass, Mitleid, Zorn haben ihnen die ersten Worte entrissen. … Um … ein junges Herz zu rühren, um einen bösen Gegner zurückzuweisen, diktiert uns die Natur Worte, Schreien und Klagen: da finden sich die ältesten Worte …“ (UdS 105) Auch hier ist der Überlebenskampf kein Grund, mit anderen zu kooperieren und ihre Nähe zu suchen. Im Gegenteil: Die Basis seiner Existenz sichert man lieber allein. Die weitere Entwicklung stellt sich Rousseau etwa in Analogie zur Entwicklung der Schrift vor. Sie begann mit Abbildungen von Gegenständen, dann Symbolen, bis schließlich die Sprache in die Bestandteile Vokale und Konsonanten zergliedert wurde, aus denen Silben und Worte beliebig zusammengesetzt werden konnten. Mit einer größeren gesellschaftlichen Komplexität „verändert die Sprache ihren Charakter; sie wird exakter und verliert an Emotionalität. Sie ersetzt Gefühle durch Gedanken und spricht nicht mehr zum Herzen, sondern zum Verstand.“ (UdS 108) Anzumerken bleibt noch, dass die drei Schritte der Schriftentwicklung den „wilden Völkern“, den „Barbaren“ und den „gebildeten Völkern“ zugeordnet werden. (UdS 109) Rousseau variiert die Themen des Diskurses in einiger Breite und betont, „dass im Grunde alles auf die Mittel bezogen ist, mit denen er (der Mensch, VB) seine Existenz sichert:“ (UdS 126 f.) So werden auch die Sprachen „natürlicherweise nach den Bedürfnissen der Menschen geformt, sie wandeln und verändern sich mit den Veränderungen eben dieser Bedürf-

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nisse.“ (UdS 157) Er untersucht den Einfluss der Klimazonen auf Gesellschafts- und Sprachentwicklung, führt „Naturkatastrophen (wie) Sintfluten, insbesondere über die Ufer getretene Meere, Vulkanausbrüche, durch Blitze entfachte Feuersbrünste“ als wesentliche Ursachen für die „Zusammenschlüsse der Menschen“ an, (UdS 129) die das „goldene Zeitalter“ der „Barbarei“ beendeten, in dem die Menschen „voneinander getrennt lebten … Wenn man so will, griffen die Menschen einander an, wenn sie sich begegneten; aber sie begegneten sich selten. Allgemein herrschte Kriegszustand, aber die ganze Welt lag in Frieden.“ (UdS 122) Aber nicht nur die Gefühlswelt der Leidenschaften, sondern auch die „Vorsehung“ zwang durch Naturkatastrophen die Menschen dazu „einander näherzukommen“, stellte aber immer wieder ein „Gleichgewicht“ in der Natur selbst her, bis die Menschen durch ihre Arbeit fähig waren, ihrerseits für ein „Gleichgewicht“ zu sorgen, das ihr Überleben sicherte. Denn dabei bedarf die Natur als Ressource des Menschen nicht nur der Bearbeitung, sondern hat aus sich heraus eine apokalyptische Dimension. Ohne den Menschen müsste es bald nur noch „Bäume und wilde Tiere“ geben, der „Kreislauf des Wassers“ würde versiegen, die Berge würden verfallen, „und am Ende wäre alles zugrunde gegangen.“ (UdS 131 f.) Kommunikation, Sprache, Kooperation erhalten hier ein Gewicht, das den Menschen als soziales Wesen in einer Natur sieht, die jede idyllische Unschuld verloren hat. Aber die Übernahme einer solchen Sichtweise als Voraussetzung allen weiteren Denkens hätte für Rousseau den Verlust seiner Kontrastposition zu den üblichen Ansichten bedeutet, die bestätigen und im Großen und Ganzen rechtfertigen, was der Mensch so treibt, eben weil er es so treibt und nicht anders. Sich mit der Beschreibung all dessen zu bescheiden, was alle Welt so denkt und für richtig hält, war Rousseaus Anspruch nicht, auch wenn er gelegentlich der Allerweltsweisheit Tribut zollt. Denn an den Brunnen trafen die jungen Hirten auf die jungen Mädchen, die Wasser holten, und: „Das Herz neigte sich ihnen zu, ein bislang unbekannter Zauber sänftigte seine Wildheit, und es empfand Freude daran, nicht allein zu sein.“ (UdS 133)



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Und so kommt Rousseaus Absicht der Gesellschaftskritik am Ende des Essays, der immer noch seinen theoretischen Ansprüchen nicht genügte und deshalb in seinen autobiografischen Äußerungen kaum Erwähnung findet, noch einmal zum Tragen: „Die gängigen Sprachen sind für uns ebenso unbrauchbar geworden wie die Redekunst. Die Gesellschaft hat ihr letztes Stadium erreicht; an dieser wird man nichts mehr ändern außer mit Schild und Schwert. Und da man dem Volk nichts mehr zu sagen hat außer ‚gebt das Geld her‘, sagt man das mit Anschlagzetteln oder mit Soldaten, die man in die Häuser schickt. Für solche Botschaften braucht man niemanden zu versammeln, im Gegenteil: man hält die Menschen zerstreut. Das ist die oberste Maxime der modernen Politik.“ (UdS 157) Allerdings nicht, um der ursprünglichen Natur autarker Einzelwesen gerecht zu werden. Im „Diskurs über die Ungleichheit“ bleibt er seiner Linie treu, den Menschen nicht nur als Einzelwesen zu betrachten, sondern dessen Vereinzelung als seine Natur zu behaupten. Mag die Gesellschaft vor der Sprache oder die Sprache vor der Gesellschaft entstanden sein, „an der geringen Mühe, die sich die Natur gegeben hat, die Menschen durch wechselseitige Bedürfnisse einander anzunähern und ihnen den Gebrauch der Sprache zu erleichtern, sieht man zumindest, wie wenig sie deren Sozia­ bilität vorbereitet hat und wie wenig sie zu all dem, was die Menschen getan haben, um die gesellschaftlichen Bande zu knüpfen, das Ihrige beigetragen hat.“ (131) Der Naturzustand ist kein Elend und wird schon gar nicht so empfunden. Er kennt auch kein Gut oder Böse, wie Hobbes meint, denn wenn der Wilde schon unfähig war, seine Vernunft überhaupt oder zum eigenen Vorteil zu gebrauchen, so war er auch unfähig, sie zu missbrauchen. (135 ff.) Allerdings hat die Natur respektive „eine sehr weise Vorsehung“ – wir nehmen die Evolution dafür in Anspruch – dafür gesorgt, dass der Mensch „die Fähigkeiten, die er der Möglichkeit nach hatte“, immer erst dann auch entwickelte, wenn die Umstände sie für ihn nützlich machten. „Im Instinkt hatte er alles, was er brauchte, um im Naturzustand zu leben; in einer gebildeten Vernunft hat er nur, was er braucht, um in der Gesellschaft zu leben.“ (135)

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VI. Die Natur der Gesellschaft „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“ (173) Dies ist der erste wahrlich markante Satz des zweiten Teils des „Diskurs über die Ungleichheit“, der das Verfahren Natur versus Gesellschaft neu eröffnet. Im ersten Teil, so Rousseau, habe er bewiesen, dass im Naturzustand die Ungleichheit unter den Menschen „fast null“ ist und seine grundsätzlich angelegte Entwicklungsfähigkeit – die Perfektibilität – äußerer Ursachen oder Zufälle bedurfte, ohne die er in seinem Anfangszustand verblieben wäre. Es bleibe also im zweiten Teil die Aufgabe, „die verschiedenen Zufälle zu betrachten und zusammenzubringen, die imstande waren, die menschliche Vernunft zu vervollkommnen, indem sie die Art verdarben, ein Wesen böse zu machen, indem sie es soziabel machten, und den Menschen und die Welt von einem so entfernten Stadium schließlich bis zu dem Punkt hinzuführen, an dem wir sie sehen.“ (167) Die Entstehung des Eigentums setzt eine lange Entwicklung voraus und ist das letzte Stadium des Naturzustandes, keinesfalls das erste einer bürgerlichen Gesellschaft. (173) Bei dem Versuch, die „sukzessiven Entwicklungen des menschlichen Geistes“ (167) zu rekonstruieren, scheint eine scharfe Grenzziehung zwischen verschiedenen Stadien wenig sinnvoll. So markiert der erste Besetzer eines Stückchen Landes in einer Welt nomadisierender Wilder noch keine allgemeingültige Struktur, sondern nur den Prototyp einer Vorstellung, über deren Zukunft er nichts wissen kann. Hätte sein Vorbild nicht allmählich Nachahmer gefunden, wäre der Menschheit zwar viel erspart geblieben, aber: „Mit großer Wahrscheinlichkeit waren die Dinge damals bereits an dem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr bleiben konnten, wie sie waren.“ (173) Innerhalb des Naturzustandes hat sich also eine Entwicklung abgespielt, die über ihn hinaus weist und folglich der Natur des Menschen und ihren Möglichkeiten nicht widerspricht.



VI. Die Natur der Gesellschaft163

Während im ersten Teil des Diskurses der Mensch bar jeden kulturellen Zusammenhangs im Fokus steht und als isoliert lebender Wilder daherkommt, richtet Rousseau im zweiten Teil seinen Blick auf die Entwicklungspotenziale, die auch zu dieser Natur gehören. Der „entstehende Mensch“ führt zunächst „das Leben eines Tieres“, ist aber keins, weil „er lernte, die Hindernisse der Natur zu überwinden, mit anderen Tieren wenn nötig zu kämpfen, selbst mit den Menschen um seinen Lebensunterhalt zu streiten …“ (175) Auf die Vermehrung ihrer Zahl und die Unbilden der Natur antworten die Menschen mit einer neuen „Kunstfertigkeit“ wie der Nutzung von Angeln, Fallen oder Pfeil und Bogen und lernen das Feuer zu zähmen und zu kochen. Kurz: Sie entwickelten „eine mechanische Klugheit“, die auf den „Wahrnehmungen bestimmter Beziehungen“ der Dinge um sie herum beruhte. Dies hatte allerdings Folgen für ihr Selbstverständnis. Der Mensch fühlte seine „Überlegenheit über die anderen Tiere“, und diese „erste Regung von Hochmut“ bereitete ihn „von weitem darauf vor“, auch als Individuum jeweils den „ersten Rang“ zu beanspruchen. (177) Noch also haben wir es eher mit einem Tierwesen zu tun, das sich aber durch die ihm innewohnenden Potenziale aus den Beschränkungen des Tierreiches zu entfernen begonnen hat. Dies ist, wenn man so will, der Rousseausche Sündenfall. Nicht Evas Ungehorsam gegenüber dem Wort Gottes, als sie den Einflüsterungen der Schlange nachgab und den verbotenen Apfel aß, sondern die eigenmächtige Erhebung aus dem Gleichgewicht der Natur, die dem Menschen das Machtgefühl der Überlegenheit und der Besonderheit in der Natur gab. Und dieses diffus wachsende Gattungsgefühl wanderte, wie Rousseau hier andeutet, allmählich auch in die psychische Disposition des Individuums ein, das die Mitmenschen gleichsam wie die anderen Tiere als den eigenen Potenzialen unterlegen definierte. Obwohl sie irgendwie schon immer da sind – wie erscheinen die Mitmenschen im Bewusstsein des sich entwickelnden Menschen? Nun, sie wurden wie andere Tiere auch „bei seinen Beobachtungen nicht vergessen.“ (179) Er stellte „Übereinstimmungen“ zwischen ihnen, „seinem Weibchen“ und sich selbst

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fest, „und da er sah, dass sie sich alle so verhielten, wie er sich unter ähnlichen Umständen verhalten hätte, schloss er, dass ihre Art zu denken und zu fühlen mit der seinen gänzlich übereinstimmte.“ Und weil er aus Erfahrung wusste, „dass die Liebe zum Wohlbefinden die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen ist“, konnte er „die seltenen Gelegenheiten (herausfinden), bei denen das gemeinsame Interesse ihn auf die Hilfe seiner Mitmenschen zählen lassen sollte, und jene noch selteneren, bei denen die Konkurrenz ihn ihnen misstrauen lassen sollte.“ (179) Das Interesse an der Beförderung des jeweils eigenen Wohlergehens oder Vorteils und nicht etwas das Mitleid mit oder die Freude an den Artgenossen ist der Antrieb zur Bildung erster Formen von Gemeinschaftlichkeit. Rousseau nennt sie „Herde oder höchstens (eine) Art von freier Assoziation“ ohne jede Verpflichtung, die mit der Befriedigung ihres Zweckes endet. Immerhin ist dieser Fall offenkundig etwas öfter denkbar als die andere Variante, „in der jeder seinen eigenen Vorteil zu erlangen (suchte) sei es durch offene Gewalt … sei es durch Gewandtheit und List …“ (179) So entwickelte sich „unmerklich eine rohe Vorstellung von wechselseitigen Verbindlichkeiten“, die aber immer nur an „das gegenwärtige und sinnlich wahrnehmbare Interesse“ gebunden war. (179) Aber diese erste Phase von Kooperation und Konkurrenz war zugleich die Grundlage für eine Beschleunigung des Fortschrittes. Jede hinzugewonnene Erfahrung und Kenntnis konnte der Ausgangspunkt für weitere Verbesserungen aller Art sein, die sich wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins kreisförmig ausbreiteten. Man erfand das Steinbeil und begann Hütten zu bauen und nicht mehr unter Bäumen und in Höhlen zu schlafen. Rousseau nennt dies „die Epoche einer ersten Revolution, welche die Gründung und die Unterscheidung der Familien hervorbrachte und eine Art von Eigentum einführte – woraus vielleicht schon viele Streitereien und Kämpfe entstanden.“ (181) Sie führte zwar zu einer „Entwicklung des Herzens“ in Form der Gatten- und Elternliebe, aber auch zugleich zu einer gewissen Verweichlichung des Lebens. Der Fortschritt schafft Bequemlichkeiten, denn um ihretwillen wird er gemacht, führt aber gleichzeitig zum Verlust von Fähig-



VI. Die Natur der Gesellschaft165

keiten, die ohne ihn selbstverständlich vorhanden waren. Die Frauen hüteten Haus und Kinder, die Männer sorgten für den Lebensunterhalt und hatten zugleich viel „Muße“, die sie zur Schaffung weiterer „Bequemlichkeiten“ nutzten. (183) Diese Verweichlichung von Körper und Geist bezeichnet Rousseau als „das erste Joch … und die erste Quelle der Übel, die sie für ihre Nachkommen vorbereiteten.“ (183 f.) Die Liebe zum Wohlbefinden war soeben noch die einzige Triebfeder des Menschen. Nun aber erscheint sie als Stolperfalle in seiner Entwicklung, die ihn von seiner ursprünglichen Natur wegführt und allmählich seine wahren, elementaren Bedürfnisse durch neue ersetzt. Der Weg aus der Natur in die Zivilisation ist für Rousseau prinzipiell ein Weg des Verlustes, der sich aus der Dynamisierung von Fortschritten und Bedürfnissen eine Bahn bricht, die weder zu leugnen noch anders zu deuten ist, will man eine Fundamentalkritik der zeitgenössischen Gesellschaft historisch und theoretisch vorbereiten. Der andere Weg wäre gewesen, jeden technischen und gesellschaftlichen Fortschritt positiv zu feiern. Das hieße aber, Geschichte und Gesellschaft in einer Fortschrittsspirale zu sehen und angesichts aller Missstände nur auf den nächsten Fortschritt zu warten. Und es hieße vor allem, die Geschichte als dynamischen Prozess von der Natur des Menschen zu entkoppeln, die bei aller Flexibilität im Detail ein statischer Bezugspunkt von Rousseaus Denken bleibt. Die Gesellschaft mag allerlei Entwicklungen durchmachen, die Natur des Menschen bleibt als Maßstab aller Abweichungen im Wesentlichen gleich. Auch dann, wenn sie schließlich empirisch nicht mehr aufzudecken ist und der Mensch scheinbar ein ganz anderer geworden ist. Nach dem Ende der Phase des freien Umherschweifens in den Wäldern durch den Bau von Hütten und die Etablierung von Familien bilden sich schließlich „Nationen“, die sich durch die gleiche Art des Lebens in ihrer jeweiligen Klimazone auszeichnen, aber noch lange nicht durch Gesetze. Auch dieser Entwicklungsabschnitt hat seinen Preis. Der Verkehr der „jungen Leute“ wird, durch die Nähe erleichtert, intensiver und „süßer“. Vorstellungen von „Verdienst und Schönheit“ entwi-

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ckeln sich, Vergleiche werden angestellt, und „die Eifersucht erwacht mit der Liebe; die Zwietracht triumphiert, und die süßeste der Leidenschaften empfängt Opfer menschlichen Blutes.“ (189) Ein großer Romantiker war Rousseau nicht. Eifersucht, die durch Vergleichsmöglichkeiten unter vielen entsteht, ist eine Schwester des Besitzergreifens. Das Aufeinanderprallen elementarer Bedürfnisse in der Gesellschaft führt gleichsam zwangsläufig zu Problemen, die es ohne die Gesellschaft der Anderen nicht gäbe. Das ist so logisch wie trivial. Wenn es keinen Gegen- oder Mitspieler gibt, gibt es kein Spiel. Und diese Gesellschaft spielt sich „vor den Hütten oder um einen großen Baum“ mit Gesang und Tanz der Müßigen ab. Die „öffentliche Wertschätzung“ der Besten, Schönsten, Stärksten und so weiter „hatte einen Wert“ und war „der erste Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster.“ Eitelkeit und Geringschätzung, Scham und Neid sind die Zutaten, die zu gären beginnen und die Gesellschaft zwangsläufig von ihrer unschuldigen Reinheit entfernen. Die wechselseitigen Einschätzungen begründen den jeweils eigenen Anspruch auf Achtung durch die Anderen, der sich in Verhaltensregeln ausdrückt. Beleidigung und Geringschätzung fordern aus Selbstachtung schärfste Sanktionen, „und die Menschen (wurden) blutgierig und grausam.“ (191) Status, Prestige, Anerkennung sind Kategorien, die dem Individuum in keiner Weise unmittelbar zukommen, sondern von Anderen zugewiesen werden. Das ursprünglich ganz frei in seiner Natur und in der Natur vagabundierende Einzelwesen hat sein Selbstverständnis in die Hände der Anderen gelegt. Mit zwangsläufig konfliktreichen Folgen. Das ist bereits „weit …vom ersten Naturzustand entfernt“, entspricht aber der Stufe der meisten bekannten „wilden Völker.“ Deshalb „haben manche sich beeilt zu schließen, dass der Mensch von Natur aus grausam sei und dass er der Zivilisation bedürfe, damit diese ihn sanfter mache. Indessen ist nichts so sanft wie der Mensch in seinem anfänglichen Zustand, wo er – von der Natur in gleicher Entfernung zur Stupidität des Viehs wie zur unheilvollen Einsicht und Aufgeklärtheit des bürgerlichen Menschen platziert und durch den Instinkt und die Vernunft gleichermaßen darauf beschränkt, sich vor dem Schaden zu schüt-



VI. Die Natur der Gesellschaft167

zen, der ihm droht – durch das natürliche Mitleid zurückgehalten wird, selbst jemandem Schaden zuzufügen – wozu er durch nichts veranlasst wird, selbst dann nicht, wenn er Schaden erlitten hat.“ (191) Mit der Verstärkung der gesellschaftlichen Bindungen wird die Sanftmut des Anfangs allerdings obsolet. Andere Eigenschaften sind nun gefordert. Das „natürliche Mitleid“ macht „eine gewisse Veränderung“ durch, die aufkommende „Moralität“, nach der jeder Richter in eigener Sache ist, manifestiert sich nur durch den „Schrecken der Rache“. Aber diese „Periode der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten (muss), da sie die rechte Mitte zwischen der Indolenz des anfänglichen Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe hielt, so die glücklichste und dauerhafteste Epoche gewesen sein.“ (193) Dieser Zustand ist „die wahrhafte Jugend der Welt“, aus der „der Mensch nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls herausgetreten sein muss, der sich zum allgemeinen Nutzen niemals hätte ereignen sollen.“ (193 f.) Die emphatische Bezeichnung dieser Phase zwischen reinem Naturzustand und gefestigten gesellschaftlichen Strukturen gleichsam als Höhepunkt der Menschheitsentwicklung, nach dem es wieder bergab zum blanken Egoismus ging, verwundert dann doch. Denn die Beschreibung konstatiert zwar einerseits gewisse Verhaltensregeln, die sich pragmatisch herausbilden und nicht weiter thematisiert werden, sieht aber andererseits die Menschen in plötzlicher Bösartigkeit gefangen. Der Naturzustand konnte für Rousseau wegen der Perfektibilität des Menschen das eigentliche Paradies nicht bleiben – oder schlicht, weil die historische Entwicklung unübersehbar ist –, die aktuelle Gesellschaft mit ihren skandalösen Ungleichheiten niemals die beste aller Welten sein. Denn der Maßstab ist nicht eine technologisch aufgerüstete oder soziologisch abgeschliffene und halbwegs befriedete Gesellschaftlichkeit, sondern die Natur des Menschen, die in jedem gleich ist und deshalb gebieterisch auch äußere Gleichheit verlangt. In einer Anmerkung preist Rousseau die Unverführbarkeit der „Wilden der verschiedenen Länder der Welt“ durch unsere Lebensweise „nicht einmal mit

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Hilfe des Christentums“, weil sie leicht erkennen, „dass sich alle unsere Anstrengungen nur auf zwei Gegenstände richten: nämlich auf die Annehmlichkeiten des Lebens für einen selbst und auf das Ansehen bei den anderen.“ (374 f.) Die Sorge für das eigene Wohlergehen gehört zur Grundausstattung, die Suche nach Anerkennung nicht, weil der Mensch als autarker Einzelner sich selbst genügt. Erst wenn er sich auf die Anderen bezieht, wird er schwach und in seiner Autarkie gefährdet. Die unerlässlichen Verhaltensregeln dienen nur dem Schutz der individuellen Autarkie, nicht etwa der Beförderung einer kooperativen Harmonie. Wird der Einzelne in seiner Autarkie, seinem Selbst- und Weltverständnis verletzt, richtet er seine Energie auf die Heilung dieser Wunde, koste es was es wolle. Die „glücklichste Epoche“ war die relativ glücklichste, noch nah am autarken Individuum, noch nicht allzu tief in Zwänge der Gesellschaftlichkeit verstrickt. Irgendwo musste Rousseau einen Haltepunkt definieren, wenn er die historische Realität der Menschheitsentwicklung nicht ganz aus den Augen verlieren wollte. Alles, was danach kam, waren „dem Scheine nach ebenso viele Schritte zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art.“ (195) Dies ist eine bemerkenswerte Feststellung. Die Entwicklung individueller Fähigkeiten im Umgang mit der Welt, die sich von Generation zu Generation verbreitern mag, kommt nicht parallel der Entwicklung der Gattung zugute, sondern ruiniert die Menschheit. Das Individuum spiegelt sich in gewisser Weise nicht in der Gesellschaft und die Gesellschaft nicht in ihm. Denn es hat unübersehbar die Entwicklung von Fähigkeiten gegeben, gemeinhin Fortschritt genannt, die eigentlich die Selbstständigkeit des Einzelnen vergrößern und ihm sozusagen durch Technologie auf neuer Stufe eine neue Freiheit gewähren könnten, die gegenüber dem Naturzustand sogar bequemer wäre. Aber diese denkbare neue Freiheit des Einzelnen fordert unvermeidlich den Preis der Kooperation der Einzelnen, also die moderne Gesellschaft, die der autarken Natur des Menschen nicht angemessen ist. Wenn der Mensch endgültig in die Gesellschaft fällt, hat er seine Natur verraten und muss dafür büßen. Solange die Menschen „sich nur Arbeiten widmeten, die ein



VI. Die Natur der Gesellschaft169

einzelner bewältigen konnte … lebten sie so frei, gesund, gut und glücklich, wie sie ihrer Natur nach sein konnten, und fuhren sie fort, untereinander die Süße eines unabhängigen Verkehrs zu genießen. Aber von dem Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines anderen nötig hatte … verschwand die Gleichheit, das Eigentum kam auf, die Arbeit wurde notwendig und die weiten Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiß der Menschen getränkt werden mussten und in denen man bald die Sklaverei und das Elend sprießen und mit den Ernten wachsen sah.“ (195 f.) Die Abhängigkeit von der Arbeit der Anderen, nicht etwa positiv gewendet die Zusammenarbeit mit Anderen, bezeichnet Rousseau als die „große Revolution“ in der Menschheitsentwicklung. (197) Möglich und notwendig wurde sie durch die Metallurgie und den Ackerbau. Wie die Menschen darauf kamen, Erze abzubauen und zu schmelzen, ist für Rousseau ebenso schwer zu erklären wie das Entstehen der Sprache, denn sie hätten eigentlich bereits den möglichen Nutzen antizipieren können und also gleichsam vor ihrer Zeit sein müssen, als sie damit begannen. Wahrscheinlich also wird ein Vulkan geschmolzenes Erz ausgestoßen haben und irgendjemand beschlossen haben, die Natur zu imitieren, so Rousseau. Der Schritt zum Anbau der Pflanzen, die man ohnehin nutzte, war dagegen sehr viel naheliegender, wurde aber erst in größerem Umfang vollzogen, als man eiserne Werkzeuge herstellen konnte. Ackerbau wurde notwendig, weil diejenigen, die das Eisen schmiedeten, von anderen ernährt werden mussten. Die einen bearbeiteten Eisen und bekamen dafür Lebensmittel, die anderen fanden heraus, dass man mit den Eisenwerkzeugen mehr Lebensmittel produzieren konnte. Warum aber befassten sich einige mit der Eisenherstellung, wenn sie doch ihren Tag damit hätten verbringen können, zu jagen und zu sammeln und anfangs kaum eine Vorstellung vom möglichen Nutzen des Eisens gehabt haben können? Rousseau lässt uns hier ratlos zurück. Ein Fortschritt, der nicht hätte sein müssen, aber leider gegen die natürliche Interessenlage der Menschheit am naturbelassenen Wohlbehagen irgendwann stattgefunden hat. Oder hat er hier die Erwähnung der Perfektibilität nur vergessen?

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VII. Eigentum Mit der Arbeit auf dem Felde und dem Recht auf Boden und Ertrag entsteht durch Kontinuität das Eigentum und mit ihm „erste Regeln der Gerechtigkeit.“ (201) Dieses neue, gesellschaftlich begründete Eigentumsrecht ist nicht mehr das natürliche Gesetz, das jedem zugesteht, was er sich selbst geschaffen hat. Weil aber die Talente unter den Menschen verschieden sind, der Stärkere mehr und der Erfindungsreiche effektiver arbeiten kann, „entfaltet sich die natürliche Ungleichheit unmerklich mit jener der Verbindung; und so werden die Unterschiede zwischen den Menschen – durch die Unterschiede der äußeren Umstände entwickelt – fühlbarer, anhaltender in ihren Auswirkungen und beginnen im selben Verhältnis Einfluss auf das Schicksal der Einzelnen auszuüben.“ (205) Es ist die natürliche Ungleichheit der Fähigkeiten der Menschen, die in Konkurrenz und Kooperation überhaupt erst bedeutsam wird und sich vor allem materiell niederschlägt. Die Menschheit ist nun in eine „neue Ordnung der Dinge“ hineingestellt. „Alle unsere Fähigkeiten wären nun also entwickelt, das Gedächtnis und die Einbildungskraft im Spiel, die Eigenliebe interessiert, die Vernunft aktiviert und der Geist beinahe an der Grenze der Vollkommenheit angelangt, deren er fähig ist. Alle natürlichen Eigenschaften wären nunmehr in Tätigkeit versetzt, der Rang und das Schicksal eines jeden Menschen festgelegt, nicht nur in Bezug auf die Menge der Güter und die Macht, zu nützen und zu schaden, sondern auch in Bezug auf den Geist, die Schönheit, die Stärke oder die Gewandtheit, in Bezug auf das Verdienst oder die Talente; und da diese Eigenschaften die einzigen waren, die einem Achtung verschaffen konnten, war es bald notwendig, sie zu haben oder sie vorzutäuschen; man musste sich um eines Vorteil willen anders zeigen, als man tatsächlich war. Sein und Schein wurden zwei völlig verschiedene Dinge, und aus diesem Unterschied ging der aufsehenerheischende Pomp, die betrügerische List und alle Laster hervor, die zu ihrem Gefolge gehören.“ (207)



VII. Eigentum171

Wo auf der Entwicklungslinie der Menschheit befinden wir uns hier? Sind wir schon in „unserer“ Gesellschaft angekommen, wie man leicht meinen könnte, wenn man die „neue Ordnung“ ein wenig weiter ausmalt? Ganz sicher handelt es sich nicht mehr um den Naturzustand, aber es ist auch nicht der voll entfaltete Gesellschaftszustand, sondern eine Übergangform. Es ist ein gesellschaftlich kontaminierter Naturzustand oder ein noch natürlich aufgeladener Gesellschaftszustand. Alle unsere natürlichen Fähigkeiten und Eigenschaften sind voll aktiviert und reagieren nicht mehr nur auf die Natur, sondern vor allem auf die Anderen. „Der Mensch, der früher frei und unabhängig war, (ist) jetzt durch eine Vielzahl neuer Bedürfnisse sozusagen der ganzen Natur untertan und vor allem seinen Mitmenschen, zu deren Sklave er in gewissem Sinne wird, selbst wenn er zu ihrem Herrn wird; ist er reich, braucht er ihre Dienste; ist er arm, braucht er ihre Unterstützung, und mäßiger Wohlstand versetzt ihn keineswegs in die Lage, ohne sie auszukommen. Er muss daher unablässig danach trachten, sie für sein Schicksal zu interessieren und sie ihren Profit tatsächlich oder scheinbar darin finden zu lassen, dass sie für den seinen arbeiten: Das macht ihn betrügerisch und hinterlistig gegen die einen, herrisch und hart gegen die anderen und versetzt ihn in die Notwendigkeit, all jene, die er nötig hat, zu missbrauchen … Schließlich gibt der verzehrende Ehrgeiz, der Eifer, sein relatives Vermögen zu erhöhen – weniger aus einem wahrhaften Bedürfnis heraus, als sich über die anderen zu setzen – allen Menschen einen finsteren Hang ein, sich wechselseitig zu schaden, eine geheime Eifersucht, die um so gefähr­ licher ist, als sie, um ihren Schlag in größerer Sicherheit führen, oft die Maske des Wohlwollens annimmt, mit einem Wort: Konkurrenz und Rivalität auf der einen Seite, Gegensatz der Interessen auf der anderen und stets das versteckte Verlangen, seinen Profit auf Kosten anderer zu machen; alle diese Übel sind die erste Wirkung des Eigentums und das untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit.“ (207 f.) Rousseau belässt es nicht bei einem frühbürgerlichen Schlachtengemälde, sondern hat immer die Wirkungen im Auge, die eine solche Gesellschaft auf das Individuum in einer den Charakter formenden Weise ausübt. Und zwar auf alle gleichermaßen.

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Der einfältige und wohl auch deshalb gutherzige Wilde, der sogar gelernt hat mit Seinesgleichen entspannt auszukommen und die ihm innewohnenden Potenziale zu entwickeln, ist zum bösartigen Feind aller Anderen geworden. Das Eigentum, das die materielle Welt ungleich sortiert, ist ein sekundäres Phänomen der Außenwelt. Das Bedürfnis, eine Vorzugsstellung gegenüber den Anderen einzunehmen, spielt sich im Bewusstsein ab. Es ist ein Reflex der Autarkie des Naturzustandes unter neuen Bedingungen. Wenn nicht mehr nur die Natur mir alles bereitwillig gibt, was ich zur Selbsterhaltung und meinem Wohlbefinden brauche, sondern ich direkt und indirekt meine materiellen und geistigen Lebensmittel über Andere beziehen muss, dann komme ich der völligen Unabhängigkeit um so näher, je bedeutender meine Stellung unter den Anderen ist. Der Ehrgeiz und die Eitelkeit, die List und der Betrug sind die natürlichen Erben der selbstzufriedenen Selbsterhaltung, die als Basis der menschlichen Natur am Ausgangspunkt der Entwicklung steht. Bevor das Geld erfunden wurde, konnte Reichtum nur in Grund und Boden und Vieh bestehen. Schließlich, stellt sich Rousseau vor, war der Boden vollständig aufgeteilt. Diejenigen, die sich aus „Schwäche oder Indolenz“ kein Land gesichert hatte, waren plötzlich arm, „weil, während sich um sie herum alles veränderte, sie allein sich nicht verändert hatten“. Wer in der begonnenen Dynamik des Reichtumserwerbs nicht mithalten konnte, fiel zurück, ohne auch nur irgendetwas anderes getan zu haben, als alle Anderen zuvor auch. Almosen oder Raub sind seine Alternativen. „Herrschaft und Knechtschaft“ sortieren die Gesellschaft. Die Reichen frönen „ausgehungerten Wölfen gleich“ ihrer „Lust zu herrschen“ und sich das Gut anderer anzueignen, die „Elendesten“ betrachten ihre Bedürfnisse als „dem Eigentumsrecht gleichwertig“, und „die zügellosen Leidenschaften aller erstickten das natürliche Mitleid und die noch schwache Stimme der Gerechtigkeit und machten die Menschen so geizig, ehrsüchtig und böse.“ Der „Kriegszustand“ ist das Signum der entstehenden Gesellschaft. (211)



VIII. Der philosophische Staatsstreich173

Wenn es denn so gewesen ist, stellt sich unvermeidlich die Frage, warum die Menschheit, wenn sie schon auf eine solche schiefe Bahn geraten ist, nicht alles dafür tut, zum vorherigen Zustand auskömmlicheren Wohlbefindens in relativer Autarkie zurückzukehren. In einer Anmerkung gibt Rousseau drei Antworten. Erstens hat der Naturzustand eine „exzessive Bevölkerung“ hervorgebracht, die über kurz oder lang keine Rückzugsräume mehr gelassen hätte. Niemand konnte mehr der Nähe seiner Mitmenschen ausweichen. Zweitens hatten sie sich bereits „an tausend Annehmlichkeiten“ gewöhnt, die das Zusammenleben mit sich brachte. Und drittens handelt es sich um einen sehr langsamen Prozess, in den sie jeweils hineingeboren wurden und der sie daran gewöhnte, den erreichten Zustand zu ertragen, wenngleich sie auf eine Gelegenheit warteten, das „Joch … abzuschütteln.“ (379) Ganz verschwinden kann nicht, was im tiefsten Inneren des Menschen schlummert. Das quantitative und das qualitative Argument und die sedierende Kraft des Faktischen können aber nicht das Ende der Geschichte sein, solange diese etwas mit einer Natur des Menschen – wie aktuell verformt auch immer – zu tun hat, die auf ihrer grundsätzlichen Autarkie beharrt und Kooperation und Konkurrenz allenfalls in Kauf nimmt. Diese Natur lauert gleichsam permanent auf ihre Chance.

VIII. Der philosophische Staatsstreich Natürlich haben die Menschen ihre „elende Lage bemerkt“, so Rousseau, und darüber „Reflexionen angestellt.“ (213) Und diese Reflexionen, mit denen die Menschheit nicht mehr nur durch ihre Entwicklung zu immer mehr Konfliktpotenzial stolpert, sondern eine Strategie zur Bewältigung ihrer Dauerkrise formuliert, mündet in einem philosophischen Staatsstreich. Staatsstreich, weil die Gewinner die ohnehin Mächtigen sind, und philosophisch, weil er so historisch natürlich nicht stattgefunden hat, sondern das Ergebnis eines umfassenden Denksystems ist, sowohl unterstellt bei den Protagonisten als auch bei Rousseau selbst. Er beendet zwar erst den Naturzustand und

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begründet Gesellschaft und Staat, aber er entscheidet eben auch von vornherein die Machtverhältnisse zwischen den Eigentümern und dem Rest der potenziell räuberischen Bedürfnisbefriediger eindeutig zugunsten nur eines Interesses. „Vor allem die Reichen“, keineswegs miteinander gegen den Rest verbündet und schon so etwas wie eine Klasse, sind sich der prekären Lage ihrer selbst und ihres Eigentums bewusst und schmieden den „durchdachtesten Plan, der dem menschlichen Geist jemals eingefallen ist. Er bestand darin, die Kräfte selbst jener, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten einzuspannen, aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maximen einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht (sich zu nehmen, was man gerade brauchte, VB) ihm widrig war.“ (215) Rousseau lässt hier einen Reichen auftreten, der seine unerfahrenen und leicht verführbaren Nachbarn mit „Scheingründen“ zu überzeugen weiß: „Vereinigen wir uns, sagt er zu ihnen, um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen in Schranken zu halten und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört: Lasst uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, denen nachzukommen alle verpflichtet sind, die kein Ansehen der Person gelten lassen und die in gewisser Weise die Launen des Glücks wiedergutmachen, indem sie den Mächtigen und den Schwachen gleichermaßen wechselseitigen Pflichten unterwerfen. Mit einem Wort: lasst uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und in ewiger Eintracht erhält.“ (215 f.) Die Etablierung des Eigentums, das weit über dasjenige hinausgeht, was dem Einzelnen unmittelbar und handgreiflich zu eigen ist, schließt zwangsläufig eine größere Zahl vom Zugang zu natürlichen Ressourcen aus, die vormals allen zugänglich war. Die verschiedenen Interessen und damit der Konflikt sind endgültig in die Welt gekommen, die nach zunehmend rücksichtsloserer Durchsetzung verlangen und sich in der nunmehri-



VIII. Der philosophische Staatsstreich175

gen Bösartigkeit der Menschen niederschlagen. Auch hier gibt es keinen Weg zurück ins goldene Zeitalter, in dem jeder Einzelne seine Interessen ungestört ausleben konnte, weil das Interesse der Menschheit am Wohlergehen aller von niemandem vertreten wird, sondern sich in zwei separate Welten aufgespalten hat. Jede dieser Welten hat ihre Weltbilder, in der die eigenen Interessen wie selbstverständlich als das Interesse aller fungieren, aber dies nicht wirklich sein können, weil es ja zwei Modelle gibt. Also wird die Ideologie geboren, die sich jeder erdenklichen Perfidie bedienen kann, den unwiederbringlich verlorenen Anspruch auf ein einheitliches Interesse der Menschen wenigstens zum Schein zu wahren. Die Frage ist natürlich, ob und warum die unterlegene Seite der Nichteigentümer darauf hereinfällt. Einerseits sind sie als „leicht verführbare Menschen“ selbst schuld. (217) Zur Regelung ihrer Alltagshändel beduften sie ohnehin eines Schiedsrichters, und aufgrund von „zuviel Geiz und Ehrsucht“ kamen sie nicht „lange ohne Herren“ aus. Sie haben die Zeichen der Zeit einfach noch nicht verstanden. Wir befinden uns also im schon weit fortgeschrittenen Stadium, in dem die Grundherrschaft mit ihren Leibeigenen bereits etabliert ist. Andererseits muss man ihnen aber auch etwas bieten, was ihrem überholten Glauben an die Gleichheit aller entgegen kommt: Sicherheit, Gerechtigkeit und sogar eine gewissen Form von sozialem Ausgleich. „Alle liefen auf ihre Ketten zu im Glauben, ihre Freiheit zu sichern.“ Ihre Vernunft reichte aus, „um die Vorteile einer politischen Einrichtung zu ahnen“, aber nicht, „um deren Gefahren vorherzusehen … dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben, die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten und um des Profits einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen.“ (219) Hat sich auf diese Weise eine Gesellschaft, ein „politischer Körper“ (221) oder sagen wir gewohnheitsmäßig ein Staat ge-

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bildet, beginnt das Trauerspiel von neuem eine Ebene höher – und grausamer. Umgehend müssen sich andere Staaten formieren, um ihre Gebiete und Bevölkerung gegen Übergriffe schützen zu können. Sie befinden sich zunächst in genau dem fortgeschrittenen Naturzustand, in dem sich die Menschen als noch autarke Einzelne befanden, als sie sich nach der Etablierung des Eigentums gezwungen sahen, die nun unvermeidlichen Konflikte zu regulieren. Die Staaten handeln und entwickeln sich nach dem gleichen Muster wie die Menschen. Sie sind Individuen nach Art der Natur des Menschen. Nur sind die Staatenkriege ungleich verheerender als die vorherigen Auseinandersetzungen zwischen Einzelnen, „welche die Natur erschaudern lassen und die Vernunft schockieren.“ (221) Denn nun lernten auch „die rechtschaffensten Leute … ihre Mitmenschen umzubringen; schließlich sah man, wie sich die Menschen zu Tausenden niedermetzelten, ohne zu wissen weshalb; und es wurden mehr Mordtaten an einem einzigen Gefechtstag begangen und mehr Gräuel bei der Einnahme einer einzigen Stadt, als im Naturzustand während ganzer Jahrhunderte auf der gesamten Eroberfläche begangen worden waren.“ (223) Einen Unterschied allerdings gibt es zwischen der Natur des Menschen und der Natur des Staates. Das Mitleid, das Menschen füreinander empfinden können, hat „zwischen Gesellschaft und Gesellschaft fast die ganze Kraft“ verloren. Aber diese natürliche und für Rousseau zentrale Fähigkeit des Menschen scheint mit der Gründung von Staaten bei ihm selbst gleichfalls verschwunden zu sein. Die beschworenen Gräueltaten hätten durch das Mitleid ansonsten eine Grenze finden können. Denn sie wurden und werden von Menschen an Menschen verübt und nicht von Staaten an Staaten. Immerhin haben sich in Analogie zum bürgerlichen Recht „unter dem Namen ‚Völkerrecht‘ … einige stillschweigende Konventionen“ als Ersatz für das „natürliche Mitleid“ gebildet, „um den Verkehr möglich zu machen.“ Das Mitleid „über die imaginären Barrieren, die die Völker trennen,“ hinweg wohnt „nur mehr in einigen großen kosmopolitischen Seelen“, die „das ganze Menschengeschlecht in ihr Wohlwollen einschließen.“ (221)



VIII. Der philosophische Staatsstreich177

Durch welchen „Zufall“ der „politische Zustand“ (225) auch historisch immer eingetreten sein mag, so folgt er dann einer inneren Logik, die von der Natur des Menschen diktiert wird, deren „edelste Fähigkeit“ die Freiheit ist. (237) „Die Gesellschaft bestand zunächst nur aus einigen allgemeinen Konven­ tionen, die alle Einzelnen sich einzuhalten verpflichteten und zu deren Garant die Gemeinschaft sich gegen jeden von ihnen machte.“ (227) Dies ist das Prinzip, das allerdings nicht unmittelbar praxistauglich ist, weil die „Öffentlichkeit“ allein die erwartbaren und zunehmenden Verstöße nicht ausreichend sank­ tionieren kann. Also ist der nächste Schritt, „die gefährliche Treuhandschaft der öffentlichen Autorität Privatpersonen anzuvertrauen und … Magistraten die Sorge dafür (zu übertragen), den Beschlüssen des Volkes Gehorsam zu verschaffen.“ (227) Rousseau setzt sich mit den Argumenten auseinander, die „den Menschen einen natürlichen Hang zur Knechtschaft“ (229) zuschreiben oder absolutistische Herrschaft von der „väterlichen Autorität“ (233) herleiten. Aber „stolze und unbezähmbare Menschen“ (227) – wir sind noch in einem frühen, weniger deformierten Stadium – werden sich nicht in die „Sklaverei“ begeben, wenn sie nur „allgemeine Sicherheit“ wollen. „In der Tat, warum haben sie sich Obere gegeben, wenn nicht zu dem Zweck, sie gegen die Unterdrückung zu verteidigen, ihre Freiheiten und ihr Leben zu schützen, die sozusagen die konstitutiven Elemente ihres Seins sind? Nun ist in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch das Schlimmste, was dem einen widerfahren kann, sich dem Belieben des anderen ausgeliefert zu sehen; wäre es daher nicht wider den gesunden Menschenverstand gewesen, damit den Anfang zu machen, der Gewalt eines Oberhauptes die einzigen Dinge auszuliefern, zu deren Erhaltung sie seiner Hilfe bedurften? … Es ist daher unbestreitbar, und es ist die Grundmaxime des gesamten Politischen Rechts, dass die Völker sich Oberhäupter gegeben haben, damit diese ihre Freiheit verteidigten, und nicht, damit sie die Völker knechteten.“ (229) Nun ist seinerzeit und heute ebenso unübersehbar, dass Völker sich wohl oder übel in ihrer Knechtschaft einrichten müs-

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sen. Dies legt aber die Natur des Menschen mit ihrem Freiheitsdrang nicht zu den historischen Akten. Das optimal Denkbare ist die Messlatte, nicht irgendeine historische Realität. Aus ihr heraus gelangt man nicht zu Vorstellung von der Natur des Menschen, sondern nur zu einem Zerrbild. Man darf, sagt Rousseau, diese Disposition zur Knechtschaft „nicht nach der Erniedrigung der geknechteten Völker, man muss sie nach den Wunderdingen beurteilen, die alle freien Völker getan haben, um sich vor der Unterdrückung zu bewahren.“ (231) Das Akzeptieren der Unfreiheit wegen der Ruhe und des Friedens, die sie aufzwingt, verrät die ursprüngliche Natur des Menschen und damit die Möglichkeiten der Gattung, ihre Natur zur Entfaltung zu bringen. Wessen innerer Kompass so weit verrutscht ist, dem steht es eigentlich nicht mehr zu, „über Freiheit zu räsonieren.“ (233) Allerdings ist dies nur ein Gefühl, das Rousseau hier beschleicht, kein Verdikt. Wer sich das Denken über die Freiheit aus Opportunismus verbietet, ist auf der Skala aller möglichen Depravationen der menschlichen Natur sehr weit gekommen, weit weg von dem harten Kern seiner menschlichen Potenziale. Zivilisation, Kultur und Politik haben an ihm ihr Werk getan. Das „Leben und die Freiheit“ sind „essentielle Gaben der Natur“, welche die „Eigenschaft als Menschen“ überhaupt erst konstituieren und die aufzugeben „die Natur und die Vernunft zugleich beleidigen.“ (241) Am Schluss des Vorwortes zum „Diskurs“ kündigt Rousseau an, der „Diskurs“ enthalte auch eine lehrreiche „hypothetische Geschichte der Regierungen.“ Dem geht die neuerliche Erwähnung von Gewalt und Unterdrückung als vorherrschenden Zuständen voran, aber auch und trotz allem die Betonung der „unerschütterlichen Grundlage“, auf der „die menschlichen Einrichtungen“ ruhen. Man könne sie durch das Studium des Menschen und seiner Entwicklung freilegen, müsse aber unterscheiden, „was der göttliche Wille geschaffen“ und „was die menschliche Kunst zu schaffen beansprucht hat.“ (60 f.) Der göttliche Wille tritt im „Diskurs“ noch einmal als Begründer des absolutistischen Gottesgnadentums auf, der dem Souverän unverletzliche Heiligkeit zuschreibt, weil „menschliche Regierungen eine solidere Basis benötigen als die bloße Vernunft“.



VIII. Der philosophische Staatsstreich179

Und dieser Auftritt war „notwendig … für die öffentliche Ruhe.“ Die Religion hat damit Gutes für die Menschen bewirkt, „da sie noch mehr Blut erspart, als der Fanatismus vergießt.“ (247) Mag dies noch als taktische und vielleicht sogar ironische Verbeugung vor den weltlichen und kirchlichen Autoritäten erscheinen, so steht der allerletzte ein wenig kryptische Satz des Vorwortes zum „Diskurs“ im krassen Gegensatz zur Stoßrichtung der folgenden Abhandlung: „Wenn wir betrachten, was wir, uns selbst überlassen, geworden wären, müssen wir den zu segnen lernen, dessen wohltätige Hand dadurch, daß sie unsere Einrichtungen korrigierte und ihnen eine unerschütterliche Grundfeste gab, den Unordnungen, die aus ihnen resultieren mussten, vorgebeugt und unser Glück aus den Mitteln erschaffen hat, die unser Elend vollmachen zu müssen schienen.“ (61) Er ist wohl der Annahme zu verdanken, ein Zensor oder sonstige staatliche und kirchliche Autoritäten würden allenfalls das Vorwort lesen und den konträren Gang der Argumentation so nicht bemerken. Die hypothetische Geschichte ist eine Staatstheorie mit einem Ausblick auf die wahrscheinliche Weiterentwicklung des Staates in eine noch düsterere Zukunft, die sich aus seinen Ingredien­ zien, und das sind im Wesentlichen die Menschen, ergibt. Die unvermeidliche Entwicklung einer politischen Organisation des Zusammenlebens kann theoretisch nur im Konsens aller begonnen haben. Anders als im später (1762) veröffentlichten „Gesellschaftsvertrag“ folgt Rousseau im „Diskurs“ der „allgemeinen Meinung“, dass der „Politische Körper“ – die Regierung – durch „einen wahren Vertrag zwischen dem Volk und den Oberhäuptern … die es sich wählt“, (243) begründet wird. Vertragstheorien waren die vorherrschende Denkfigur der Zeit, um das Entstehen des Staates zu erklären und vor allem zu legitimieren. Der Staat wurde damit aus einem gleichsam naturwüchsigen Prozess von Gewalt und Herrschaft in eine Theorie überführt, die immerhin dem Volk als Rechteinhaber eine Rolle gab und nicht den Herrschenden allein. Auch Rousseau arbeitet mit dieser Denkfigur, die ihn hier aber nicht wirklich zu überzeugen scheint. Denn sie steht in einem offenkundigen Widerspruch zu den sonstigen Ausführungen des „Diskurs“ von der

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Etablierung politischer Herrschaft als Beute der Reichen. Die theoretische Harmonie des Vertrages erscheint als allzu naiv. Jedenfalls verpflichtet der Vertrag einstweilen beide Seiten zur Einhaltung der Grundgesetze, die auch die Wahl der Magistrate regeln und die dem zu einem einzigen Willen zusammengeflossenen Willen der Einzelnen entspringen. Der bleibt immer und überall die letzte Instanz. „Das Gesetz (ist) das Wesen des Staates“, nicht etwa die Magistrate genannte Personengruppe an seiner Spitze. Das ist auch der hier kurz und knapp vorweggenommene Kerngedanke des „Gesellschaftsvertrages“, nur das in diesem späteren Werk die Regierung nicht durch einen Vertrag mit dem Volk legitimiert wird. (243 f.)

IX. Der Gesellschaftsvertrag Das Pathos des freien Subjektes ist auch im Zustand der Gesellschaftlichkeit mit seinen wechselseitigen Abhängigkeiten nicht verflogen. Aber wie kann dieses Pathos in die Sphäre der Politik hinüber gerettet werden, die durch Macht und Herrschaft geformt wird, woran im Zweifelsfall jede einzelne Wahlfreiheit unweigerlich ihre Grenze findet. Rousseau findet im „Gesellschaftsvertrag“ in weiten Teilen pragmatische Lösungen, die aber voraussetzen, dass die freien Subjekte sich freiwillig zum Verschwinden bringen und als neues, alle vorherigen Individuen umfassendes freies Super-Subjekt wieder auferstehen können: Ich bin nichts mehr, die Anderen aber auch, die Anderen sind alles, aber ich bin auch ein Anderer. Ich und die Anderen müssen eins werden. Obwohl und weil empirisch hinreichend gezeigt wurde, dass alle Anderen meine Konkurrenten, Gegner, Feinde sind. Sie müssen in der Salzsäure der Metaphysik aufgelöst werden, damit wenigstens denkbar wird, was in praxi unmöglich erscheint. „Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten“, so beginnt das erste Kapitel des „Gesellschaftsvertrags.“ Erstaunlicherweise formuliert Rousseau gleich anschließend so, als habe er den „Diskurs über die Ungleichheit“ nie geschrieben, er wisse nicht, wie es dazu kommen konnte, wohl aber,



IX. Der Gesellschaftsvertrag181

wie man der gesellschaftlichen und politischen Ordnung „Rechtmäßigkeit“ verleihen könne. Die Haltung des „Diskurses“, die gesellschaftliche Ordnung als ungerecht zu erklären, ist im „Gesellschaftsvertrag“ der Haltung gewichen, pragmatisch eine Ordnung zu denken, die die Ungerechtigkeit keineswegs zu den Akten legt, sondern trotz allem politisch heilt. Denn „die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das die Grundlage aller übrigen bildet.“ Es entspringt nicht aus der Natur, sondern ist Menschenwerk in Form von Verträgen. (G I, 1) Die entscheidende Frage lautet: „Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt, und kraft deren jeder einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?“ (G I, 6) Rousseaus Lösung ist „das gänzliche Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit all seinen Rechten in der Gesamtheit“ ohne jeden individuellen Vorbehalt. Somit sind alle gleich, und wenn sich „jeder allen übergibt, übergibt er sich damit niemandem  …“ Zusammengefasst bedeutet der Gesellschaftsvertrag: „Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. An die Stelle der einzelnen Person jedes Vertragschließenden setzt solcher Gesellschaftsvertrag sofort einen geistigen Gesamtkörper, dessen Mitglieder aus sämtlichen Stimmabgebenden bestehen, und der durch eben diesen Akt seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen erhält.“ Und dieser Gesamtkörper, auch Staatskörper oder Republik genannt, ist als „öffent­ liche Person“ zu betrachten. (G I, 6) Da nun jeder „gleichsam mit sich selbst einen Vertrag“ abgeschlossen hat, ist er zugleich sein eigener Herr und dessen Untertan, was ein gleiches Interesse in beiden Rollen zumindest hinsichtlich des allgemeinen Willens verbürgt. Der Einzelne ist zwar in der Allgemeinheit aufgegangen, wenn auch als leicht gespaltene Persönlichkeit, aber er kommt trotzdem noch „als Mensch“ mit einem besonderen Willen vor,

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der dem „gemeinsamen Interesse“ aller zuwider laufen kann. Deshalb ist integraler Bestandteil des Gesellschaftsvertrages, dass er zum Gehorsam gezwungen werden kann: „Das hat keine andere Bedeutung, als dass man ihn zwingen werde, frei zu sein.“ (G I, 7) Eine solche erzwungene Freiheit ist wahrlich eine andere als die aus der Naturwüchsigkeit des „Diskurses“ begründete. Aber wenn schon Staat, wenn schon etwas die Einzelnen überwölbendes, dann wird es nicht ohne Verbindlichkeiten gehen. Und Freiheit kann nicht mehr die Freiheit von den Anderen sein, sondern Freiheit mit und zu den Anderen, die so heißen darf, weil der Gesellschaftsvertrag freiwillig eingegangen wurde und sich letztlich jeder nur sich selbst unterwirft. Jeder darf sich dem Gesellschaftsvertrag am fiktiven Zeitpunkt seines Abschlusses verweigern und das Staatsgebiet verlassen. Bleibt er, so lautet Rousseaus pragmatisch gewitzte Lösung, hat er zugestimmt. (G IV, 2) Der Urvertrag, der den „allgemeinen Willen“ als schwer fassbare Größe konstituiert, setzt den Willen zur Einvernehmlichkeit voraus und erzeugt so trotz kleinerer Differenzen immer das allgemeine Beste. Im Gegensatz dazu kann der „Wille aller“ – ein eher empirischer Gegenbegriff zum eher metaphysischen „allgemeinen Willen“ – als Summe partikularer Interessen irren. Aber wenn man die verschiedenen Positionen gegeneinander verrechnet, bleibt der allgemeine Wille übrig. (G II, 3) Im Übrigen werden alle Entscheidungen mit Ausnahme des Gesellschaftsvertrages am Beginn durch Mehrheiten getroffen. (G IV, 2) Bilden sich Parteien, so haben diese ihren eigenen „allgemeinen Willen“ ihrer Mitglieder, der im großen Ganzen als Einzelwille fungiert. Parteiprogramm steht gegen Parteiprogramm, könnte man sagen. Sie bündeln zwar die Interessen zu einem neuen Einzelwillen und reduzieren damit die Differenzpunkte. Aber zugleich wird die Zahl der Einzelwillen zwangsläufig kleiner als die Zahl der Stimmbürger und damit die Basis für den „allgemeinen Willen“ schmaler und das Ergebnis weniger allgemein. Das Ideal ist die Artikulation des Willens jedes einzelnen Staatsbürgers. Wenn es aber Parteien gibt, „muss man ihre Anzahl vermehren und ihrer Ungleichheit vorbeugen“, um eine möglichst breite Basis von nunmehr gebündelten Einzelwillen für die Er-



IX. Der Gesellschaftsvertrag183

mittlung eines Durchschnitts zu haben. Obsiegt dagegen eine Partei mit ihrer eigenen Weltsicht, hat der vormalige „allgemeine Wille“ zum „allgemeinen Besten“ gegen „eine Privatansicht“ verloren. (G II, 3) Wenn der „allgemeine Wille nicht mehr der Wille aller (ist)“, ist der Staat seinem Untergang nahe und nur noch „eine illusorische und leere Form.“ Aber der „allgemeine Wille“ ist weder „vernichtet oder verfälscht“, sondern gleichwohl „beständig, unwandelbar und lauter.“ Denn auch jeder, der seine Privatinteressen über das Allgemeinwohl stellt, „will schon um seines eigenen Vorteils willen das allgemeine Beste ebenso eifrig wie irgendein anderer. Sogar, wenn er seine Stimme für Geld verkauft, vernichtet er nicht den allgemeinen Willen in sich; er umgeht ihn nur.“ Wir sind auf Gedeih und Verderb innerlich an die Gesellschaft und ihren Staat gebunden, zumindest so lange „die Stimmenmehrheit noch alle Kennzeichen des allgemeinen Willens trägt.“ (G IV, 2) Der Blick auf das genuin Politische verheddert sich zwangsläufig in Strukturen, Institutionen und geistigem Über- und Unterbau und verliert das Individuum, mag seine Natur sein wie sie will, ein wenig aus den Augen, das doch letztlich die Materie ist, aus der alle Gesellschaftsordnungen bestehen, worauf Rousseau ansonsten immer wieder besteht. Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Konstruktion des Gesetzgebers führt Rousseau aus, dass es darum gehen muss, „gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein zu setzen … Je mehr dieser natürlichen Kräfte erstorben und vernichtet und je größer und dauerhafter die erworbenen sind, desto sicherer und vollkommner ist auch die Verfassung.“ (G II, 7) Der gesellschaftlich und politisch geformte und zu formende Mensch hat

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seine ursprüngliche Freiheit in einer Konstruktion abgelegt, ablegen müssen, die zugunsten eines harmonischen Arrangements mit den Anderen nicht nur keine verschiedenen Interessen mehr kennt, sondern auch kaum noch eine Individualität. Eine solche Interpretation entspricht gewiss nicht Rousseaus kritischen Intentionen. Aber wenn man mit den Flügeln der Theorie der brennenden gesellschaftlichen Realität zu nahe kommt, muss man damit rechnen, dass die Schwungfedern zumindest versengt werden, wenn nicht gar der Absturz droht. Rousseau ist nicht der Einzige, dem dergleichen beim denkenden Bewältigen der ihm bekannten Wirklichkeit passiert. Hegel und Heidegger wären zum Beispiel zu nennen. Die politiktheoretischen Implikationen des „Gesellschaftsvertrages“, der gern als politische Utopie bezeichnet wird, sollen hier nicht weiter interessieren. Es ist leicht ersichtlich, dass darin zum Allgemeingut der Demokratien gewordene Elemente enthalten sind, aber ebenso auch Pfade zu einem totalitären Staatsverständnis. So verzichtet Rousseau auf das Modell der Gewaltenteilung, das Montesquieu bereits 1748 in der viel beachteten Streitschrift „Vom Geist der Gesetze“ einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz – und damit über Locke hinausgehend – ausführlich diskutiert. Wer sich in der Wirklichkeit auf Erden zum Herrn von Rousseaus „allgemeinem Willen“ – einer letztlich nur moralischen Kontrollinstanz – machen kann, dem sind Tür und Tor zu einem „allgemeinen Besten“ geöffnet, das weder gut noch allgemein zu sein braucht. Robespierre jedenfalls war ein glühender Verehrer Rousseaus und ließ 1794 den Leichnam des Verblichenen ins Pariser Pantheon überführen. Ansätze von Rousseaus politischen Ideen sind in dem bereits 1755 für die Enzyklopädie geschriebenen Artikel „Politische Ökonomie“ enthalten, weitere Ausführungen in den „Briefen vom Berge“ von 1764, in denen er sich mit der Verfassung Genfs auseinandersetzt, und in den 1765 und 1772 geschriebenen Auftragsarbeiten „Verfassungsentwurf für Korsika“ und „Betrachtungen über die Regierung Polens.“ Im „Diskurs“ ist der Gründungsakt des Staates immer eine Wahl, die je nach Gegebenheiten eine Monarchie oder eine



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Aristokratie hervorbringen kann. Nur diejenigen, „die sich am wenigsten vom Naturzustand entfernt hatten, behielten sich die höchste Verwaltung gemeinsam vor und bildeten eine Demokratie.“ (249) Nun könnte man vermuten, dass sich hier der Kreis allmählich schließt und wesentliche Ingredienzien der menschlichen Natur, die sich partiell in die Moderne herübergerettet haben, ihre gesellschaftliche Form gefunden haben. Dem ist allerdings beileibe nicht so. Und auch das hat in der mensch­ lichen Natur seine Gründe. Im „Gesellschaftsvertrag“ heißt es: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.“ (G III, 4) Und eine grundlegende Begründung gibt der „Diskurs“ dazu: „Denn die Laster, welche die gesellschaftlichen Institutionen notwendig machen, sind ebendieselben, welche ihren Missbrauch unvermeidlich machen; und da … die Gesetze, die im allgemeinen weniger stark sind als die Leidenschaften, die Menschen im Zaum halten, ohne sie zu ändern, wäre es leicht zu beweisen … dass ein Land, in dem niemand die Gesetze umginge und die Magistratur missbrauchte, weder Magistrate noch Gesetze nötig hätte.“ (251 f.)

X. Gleichheit und Wirklichkeit Die Ausgangsfrage des „Diskurs“ war, wie die Ungleichheit der Menschen zwischen historischer Urzeit und theoretischem Urgrund und der Gegenwart zu erklären ist und was die Zukunft bereit hält. „Wenn wir den Fortschritt der Ungleichheit in diesen verschiedenen Revolutionen verfolgen, werden wir finden, dass die Etablierung des Gesetzes und des Eigentumsrechts sein erstes Stadium, die Einrichtung der Magistratur das zweite und die Verwandlung der legitimen Gewalt in willkürliche Gewalt das dritte und letzte war, so dass der Status von arm und reich durch die erste Epoche autorisiert wurde, der von mächtig und schwach durch die zweite und durch die dritte der von Herr und Sklave, welche der letzte Grad von Ungleichheit ist und das Stadium, zu dem alle anderen schließlich hinführen, bis neue Revolutionen die Regierung völlig auflösen oder sie der

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legitimen Einrichtung näher bringen.“ (251) Es scheint also trotz allem denkbar, eine gesellschaftliche Form zu finden, deren Vernunft sich niemand entziehen könnte. Rousseau entfaltet ein durchaus ambivalentes Modell der historischen Entwicklung, das über die politisch angepasste und verformte menschliche Natur zu einem „neuen Naturzustand“ hinführt. (263) Politische Herrschaft ist nur durch ein verzweigtes Netz von Menschen auszuüben, denen eine Teilhabe an der Macht weit vorteilhafter erscheint als ihre persönliche und geistige Unabhängigkeit. Rousseau nennt sie „Kreaturen“. Ohne ihren „blinden Ehrgeiz“ und die Bereitschaft, „Ketten zu tragen, um ihrerseits (anderen) welche anlegen zu können“ (253) wäre dies nicht möglich. So „breitet sich die Ungleichheit mühelos unter ehrgeizigen und feigen Seelen aus, die stets bereit sind, ihr Glück zu wagen und beinahe ohne Unterschied zu herrschen oder zu dienen, je nachdem ob das Glück ihnen günstig ist oder widrig.“ (255) Diese Skizze einer Psychologie der Herrschenden kann aber nur die Spitze des Eisberges sein, denn Herrschaft rekrutiert sich zwangsläufig nur aus einer wie immer strukturierten Gesellschaft. Und diese bringt – auch ohne Einflussnahme politischer Herrschaft, wie Rousseau in einer späteren Edition einfügt – Unterschiede hervor. „Persönliche Eigenschaften“ sind zwar der Ursprung aller Ungleichheiten, „Adel oder Rang, Macht und persönliches Verdienst“ (255) drücken sich in „tausend Arten“ (253) aus, aber am Ende ist der Reichtum die entscheidende Kategorie. An der Balance der Ungleichheiten, ihrem „Zusammenklang oder … Widerstreit“, (255) heute würde man sagen an ihrer Sozialverträglichkeit, bemisst sich die relative Qualität eines Staates. Und die Reichtumsverteilung speziell lässt erkennen, wie weit sich „jedes Volk von seinen anfänglichen Einrichtungen entfernt hat, und über die Wegstrecke, welches es bis zum äußersten Stadium der Korruption hin zurückgelegt hat.“ (257) Eine solche Soziologie von Macht und Reichtum gedenkt Rousseau nicht weiter zu verfolgen, weil sie „der Stoff eines beträchtlichen Werkes“ wäre, deutet aber die Hauptstoßrichtung an: „Ich würde darauf aufmerksam machen, wie sehr jenes



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universelle Verlangen nach Reputation, Ehren und Auszeichnungen, das uns alle verzehrt, die Talente übt und vergleicht; wie sehr es die Leidenschaften anstachelt und vervielfacht; und – da es alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen, oder vielmehr Feinden macht – wie viele Schicksalsschläge, Erfolge und Katastrophen aller Art es täglich dadurch verursacht, dass es so viele Bewerber dasselbe Rennen laufen lässt. Ich würde zeigen, dass wir diesem Eifer, von sich reden zu machen, dieser Raserei, sich zu unterscheiden, die uns beinahe immer außerhalb unserer selbst hält, verdanken, was es an Bestem und an Schlechtestem unter den Menschen gibt; unsere Tugenden und unsere Laster, unsere Wissenschaften und unsere Irrtümer, unsere Eroberer und unsere Philosophen, das heißt eine Menge schlechter Dinge gegenüber einer geringen Zahl guter. Schließlich würde ich beweisen, dass, wenn man eine Handvoll Mächtiger und Reicher auf dem Gipfel der Herrlichkeiten und des Glücks sieht, während die Masse in der Dunkelheit und im Elend dahinkriecht, dies daran liegt, dass die ersteren die Dinge, die sie genießen, nur soweit schätzen, als die anderen sie entbehren, und sie – ohne dass sich an ihrem Status etwas änderte – aufhören würden glücklich zu sein, wenn das Volk aufhörte, elend zu sein.“ (257) Bemerkenswert an dieser Passage ist ihre Ambivalenz in der Einschätzung der Konkurrenz, ja Feindschaft der Menschen untereinander. Denn sie erweist sich auch als Triebkraft des äußerlichen Fortschrittes, der aber letztlich nur ein Nebeneffekt der menschlichen Natur im gesellschaftlichen Zustand ist. Das Streben nach Anerkennung durch die Anderen, das nach der verloren gegangenen Autarkie des Einzelnen eine positive Selbstwahrnehmung erst ermöglicht, bricht sich in verschiedensten Formen der Raserei Bahn und produziert gelegentlich Nützliches und zwangsläufig Schädliches. Aber mit der menschlichen Natur als Maßstab sind dies alles Äußerlichkeiten, wie schon die Gesellschaftlichkeit das Äußere der Individualität darstellt, mit der sich zu arrangieren niemand umhinkommt. Konkurrenz ist nur eine mildere Form der Feindschaft, Zynismus eine schärfere Form allgemeiner Gemeinheit, wenn das relative Elend anderer geradezu zur Voraussetzung eigenen

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Wohlbefindens wird. Eine durchaus interessante Beobachtung über schichtenspezifische Abgrenzungsrituale. Dies ist die Basis für eine mögliche und wahrscheinliche Entwicklung zum Despotismus, die Rousseau knapp skizziert. Die Unterdrückung der Freiheit wird beständig stärker, Vorurteile nehmen zu, die Herrschenden tun alles, „was den verschiedenen Ständen durch den Gegensatz ihrer Rechte und ihrer Interessen Misstrauen und wechselseitigen Hass einflößen und folglich die Gewalt stärken kann, die sie alle im Zaume hält.“ Nach „Zeiten der Wirren und des Unglücks und der Not“, (261) in denen schließlich nur noch das Recht des Stärkeren und nicht mehr das Gesetz gilt, wird der „äußerste Punkt erreicht“, in dem „alle Einzelnen wieder gleich (sind), weil sie nichts sind.“ Und dieser neue Naturzustand unterscheidet sich „von jenem, mit dem wir begonnen haben, darin … dass der eine der Naturzustand in seiner Reinheit war, und dieser letzte die Frucht eines Exzesses an Korruption ist.“ (263) Und nach dem Sturz der Tyrannen wird der Weg zum „bürgerlichen Zustand“ (265) von Neuem beginnen müssen, ist Rousseau hier hinzuzufügen. Der Absturz in einen neuen Naturzustand und eine „natür­ liche Ordnung“ (263) der ungebremsten Herrschaft der Gewalt ist eine Pointe, die suggerieren könnte, Rousseau entfalte hier ein Kreislaufmodell der Geschichte und entziehe sich damit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung. Aber all diese perspektivischen Ausblicke stehen im Modus der Möglichkeit, nicht dem der prognostischen Gewissheit. Und es ist nicht die äußere Geschichte der Menschheit mit ihren Haupt- und Staatsaktionen, die der Gegenstand von Rousseaus Diskurs ist, sondern die innere der Menschen, die weit unter den Möglichkeiten ihrer Natur bleiben. Wer den Szenarios und Gedanken Rousseaus folgt, kann sich – nach seinen abschließenden Worten – „erklären, wie die Seele und die menschlichen Leidenschaften, indem sie unmerklich entstellt werden, sozusagen ihre Natur verändern; warum unsere Bedürfnisse und unsere Vergnügungen auf die Dauer ihre Gegenstände wechseln; warum der ursprüngliche Mensch nach und nach verschwindet und die Gesellschaft in den Augen der Weisen nur mehr eine Ansammlung artifizieller



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Menschen und künstlicher Leidenschaften darstellt, die das Werk all dieser neuen Verhältnisse sind und keine wahre Grundlage in der Natur haben.“ (267) Und nach einem letzten Vergleich zwischen dem wilden und dem zivilisierten Menschen in all seinem Selbstbetrug als Lebensgrundlage: „Es gehört nicht zu meinem Thema zu zeigen, wie aus einer solchen Disposition so viel Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Böse entsteht – bei so schönen Reden über Moral; wie, da sich alles auf den Schein reduziert, alles künstlich und gespielt wird: Ehre, Freundschaft, Tugend und häufig sogar die Laster selbst, deren sich zu rühmen, man schließlich das Geheimnis findet; mit einem Wort, wie wir, da wir immer die anderen fragen, was wir sind, und es niemals wagen, mit uns selbst hierüber zu Rate zu gehen, inmitten von soviel Philosophie, Humanität, Höflichkeit und erhabenen Maximen nichts als ein trügerisches und wertloses Äußeres haben: Ehre ohne Tugend, Vernunft ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück. Es genügt mir, bewiesen zu haben, dass dies nicht der ursprüngliche Zustand des Menschen ist und dass es allein der Geist der Gesellschaft ist und die Ungleichheit, welche sie gebiert, die alle unsere natürlichen Neigungen so verändern und entstellen.“ (269 ff.)

D. Immanuel Kant (22. April 1724 – 12. Februar 1804) 1740 beginnt die Regierungszeit Friedrichs des Großen in Preußen. In diesem Jahr wird der 16-jährige Immanuel Kant an der Königsberger Albertus-Universität immatrikuliert. Er beantragt kein Stipendium und bezahlt seine Studiengebühren aus eigener Tasche. Zwar erhält er hier und da Unterstützung, verdient aber vor allem durch Nachhilfeunterricht selbst Geld. Längere Zeit teilt er sich mit seinem Freund Johann Heinrich Wöllner ein Zimmer, mit dem er auch häufig um Geld Billard spielen geht. Scheinbar ziellos und fünfzehn Jahre ohne universitären Abschluss – ab 1748 verdingt er sich notgedrungen verschiedentlich als Hauslehrer –, widmet er sich den Naturwissenschaften und der Mathematik, der Philosophie und der Theologie, der Literatur und den Sprachen. Im Januar 1744 ist über dem Himmel von Königsberg ein beachtlicher Komet zu sehen, der nicht nur ihn fasziniert, sondern auch den Extraordinarius für Logik und Metaphysik Martin Knutzen, der für dieses Jahr das Wiedererscheinen eines Kometen aus dem Jahre 1698 prophezeit hatte. Wenn es auch nicht dieser Komet war, sondern ein anderer, wie sich später ergab, so hatte Knutzen mit seinem naturwissenschaftlichen Ansatz den wohl größten Einfluss unter den Professoren auf den jungen Immanuel. Kant bewarb sich später auf seine Nachfolge, bekam aber erst 1770 eine Professorenstelle. Er machte ihn auch mit den „Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie“ Newtons vertraut, die einen Meilenstein der abendländischen Wissenschaftsentwicklung darstellen und 1687 erschienen waren. Diese Begründung der klassischen Physik durch die mathematische Beschreibung von Naturphänomenen, zunächst der Himmelsbewegungen mithilfe der Gravitation, war natürlich nach der kopernikanischen Wende „Über die



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Umwälzungen der Himmelssphären“ (etwa 1530 von Kopernikus vollendet, 1543 veröffentlicht) und den epochalen Weiterentwicklungen durch Galileo Galilei (1564–1642) und Kepler (1571–1630) ein entscheidender Fortschritt der Aufklärung über die Welt, wie sie ohne metaphysische oder religiöse Spekulation wirklich zu sein schien. Das reine Denken über Gott und die Welt konnte ja nur in Bewegung gebracht werden, wenn etwa Neues über die Welt zu erfahren war. Die Rolle Gottes wurde schließlich aufs allerstrengste in Rom und seit Kurzem etwas näher liegend in den protestantischen Staaten verwaltet. So kann es nicht verwundern, dass Kant in diesem naturwissenschaftlichen Zeitgeist mitschwimmen wollte. Sein erstes Werk aus dem Jahre 1746, mit großem Selbstbewusstsein vorgelegt und 1749 gedruckt erschienen, setzt sich dann auch mit der „Kraft der Körper überhaupt“ und der „Beurtheilung der Beweise“ auseinander, „derer sich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker“ bedient haben, wie es in der Titulatur seiner „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ heißt. Sehr viel weiter greift dann schon die zweite Veröffent­ lichung Kants – allerdings anonym – aus dem Jahre 1755, in der auf verblüffende Weise das Thema angeschlagen wird, das wir hier verfolgen: Was und wie ist der Mensch? Sein Titel: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und den mechanischen Ursprüngen des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.“ Kant hatte die Schrift Friedrich II. untertänigst gewidmet und ihm auch geschickt, allein, dieser war anderweitig beschäftigt. Zudem machte sein Verleger Petersen bankrott, sodass nur eine kleine Auflage in den Handel kam und kaum wahrgenommen wurde. Eine neue Kosmologie aus Königsberg? Das konnte wohl kaum sein, auch wenn der Titel sich auf die europaweit berühmte „Allgemeine Naturgeschichte“ des Comte de Buffon bezog, deren erster Band seit 1750 auf Deutsch vorlag. Dem Franzosen Buffon ist die Titulatur entlehnt, der Engländer Newton wird als Vorbild genannt – man sieht schon daran, wie sehr die Aufklärung ein abendländischer Prozess war. Kant beschreibt

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im Wesentlichen einfach das kosmologische Standardmodell der Zukunft, in dem auch Fixsterne und Galaxien nach einheitlichen Gesetzen entstehen und vergehen und ihre Bahnen ziehen, dabei in manchen Aspekten über den Stand der Theorie seiner Zeit hinausgehend. Aber dieser grandiose Entwurf „einer systematischen Verfassung der Welt“ (A VI), einer „Milchstraße von Welten“, (A 122) ist kein neues astronomisches Kalkül, sondern der Versuch der philosophischen Durchdringung der Bedeutung des Ganzen durch reines Denken, ja Weiterdenken und spekulieren aus Grundsätzen. Gerade weil die Erde nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sein kann und damit der Mensch auch nicht mehr gleichsam natürlich die Krone der Schöpfung in seinem engen Bezug zum Gott der Kirchen, stellt sich für Kant die Frage nach der Stellung des Menschen überhaupt. Es geht nicht um die konkreten Menschen, wie sie mit all ihren Eigenschaften wahrgenommen werden können, denn: „Es ist uns nicht einmal recht bekannt, was der Mensch anjetzo wirklich ist“, (A 119) weil „uns gleich seine innere Beschaffenheit annoch ein unerforschtes Problema ist.“ (A 180) Aber die Frage nach seiner inneren Beschaffenheit, seinem „Vermögen, vernünftig zu denken“, (A 180) seinen lebenspraktischen Grenzen und Möglichkeiten wird immer wieder hier und da am Rande großer philosophischer Erörterungen auch empirisch beantwortet: So ist der Mensch (leider) nun einmal. Natürlich spielen auch die drei großen Kritiken nicht im menschenleeren Raum der Philosophie, sondern versuchen zentrale Fragen des Menschseins theoretisch zu lösen. Das letzte Werk, das Kant vor seinem Tode 1804 von Hand geschrieben und korrigiert hat, war 1798 die Veröffentlichung seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Der Text beruht auf seinen Vorlesungen zur Anthropologie, die er regelmäßig in den Wintersemestern von 1772 bis 1795 gehalten hat, weil dies zum Lehrangebot der Albertina gehörte. Ganz am Anfang, danach verstreut immer wieder und ganz am Ende seines Werkes stehen, wenn man so will, pragmatische Beschreibungen des Menschen. Da ohne solche Beobachtungen und Einsichten kein Alltagsleben und auch kein sich darüber



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erhebendes philosophisches Gebäude möglich ist, eröffnen sich von hier aus durchaus Verständnismöglichkeiten für das „eigentliche“ Werk Kants, ohne von „synthetischen Urteilen a priori“ in Ratlosigkeit getrieben werden zu müssen. Einführungen, Zusammenfassungen und Interpretationen zu Kant sind Legion. Sie setzen in aller Regel bei den Hauptschauplätzen an, wir bewegen uns hier zunächst auf Nebengleisen, von denen aus man auch in pragmatischer Hinsicht ans Ziel kommen kann. Kant hat 1785, als das „philosophische System“ der drei Kritiken noch im Werden ist – die hier zum Abschluss betrachtet werden sollen – in der Vorrede der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ ausdrücklich verlangt, „den empirischen vom rationalen Teil jederzeit sorgfältig abzusondern“, weil zum Beispiel in Fragen der Moral „der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft …“ Wer dies nicht beachte, sei ein „Stümper.“ (BA VII f.). Dies muss uns nicht schrecken, denn wie Theorie ohne jedwede Empirie oder Weltkenntnis überhaupt möglich sein soll, erschließt sich nicht jedem. Woher die Begriffe und Gesetze der reinen Vernunft auch immer kommen mögen, von dieser Welt werden sie schon ebenso sein wie die Menschen, für die sie gemacht sind.

I. Eine Milchstraße voller Welten In der „Theorie des Himmels“ hat neben den Sternen auch der Schöpfergott seinen Platz zu finden. Ihn abzuschaffen, obwohl fast alles dafür spräche, wäre für einen preußischen Professor das Ende seiner Lehrbefugnis, wie Kant später bei religionskritischen Schriften zu spüren bekommen hat. Denn „wenn die blinde Mechanik der Naturkräfte sich aus dem Chaos so herrlich zu entwickeln weiß und zu solcher Vollkommenheit von selbst gelanget“, dann heißt dies einerseits: „die göttliche Regierung ist unnötig“. (A XII f.) Die Materie ist „an gewisse notwendige Gesetze gebunden.“ (A XVIII) Aber es muss andererseits ein „Urwesen“, einen „höchsten Verstand“, eine „höchs-

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te Weisheit“ und „eine unendliche Macht“ als letzte Erklärung der „Ordnung des Weltbaues“ geben, also: „Es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“ (A XXIX f.) Dies ist so nicht mehr der christliche Gott für die Menschen, sondern das logische Konstrukt einer Erstursache, da eben alles einen Anfang oder eine Ursache haben muss. Gott ist ein logisches Prädikat der Wissenschaft da, wo sie (noch) keine anderen Erklärungen und Beweise anführen kann, eine Position, die auch zu Beginn des dritten Jahrtausends keineswegs verschwunden ist und von vielen Naturwissenschaftlern geteilt wird. Dies war von Kant durchaus mutig, man denke an die Schwierigkeiten Galileis mit der Kirche, aber keine sensationelle Kompromissformulierung, hatte doch bereits zum Beispiel Kepler in den Planetengesetzen nur ein Abbild Gottes gesehen und Newton seine „Ehrfurcht gegen die Offenbarung“ der göttlichen Allmacht deutlich zum Ausdruck gebracht, wie Kant betont. (A 121) Die Annahme einer gleichsam physikalischen Erstursache verschiebt den Schöpfergott nur ein wenig weiter nach hinten. Kant hat eine Idee des Urknalls, die erst im 20. Jahrhundert zu einem mächtigen Baustein der physikalischen Theorie wurde, durch reine Spekulation vorweggenommen: „Wenn man in dem unermesslichen Raume … einen Punkt annimmt, um welchen durch ich weiß nicht was vor eine Ursache die erste Bildung der Natur aus dem Chaos angefangen hat“, wird sich eine riesige Masse gebildet haben müssen, die ihrer „ungeheuren Sphäre“ ihre Strukturen aufzwingt. (A 102) Dabei sei erwähnt, um den Abstand zum heutigen Stand der Dinge deutlich zu machen, dass Kant meint, zur völligen Ausbildung eines größeren Himmelskörpers brauche es „Jahrhunderte, und vielleicht Tausende von Jahren“. (A 175) In der Unendlichkeit des Universums werden Welten ohne Zahl entstehen, die der „sukzessiven Vollendung der Schöpfung“ zutreiben. (A 112) Dieser teleologische Gedanke ist im christlichen Abendland natürlich nicht neu, ebenso wenig wie die Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen. „Die schädlichen Wirkungen der angesteckten Luft, die Erdbeben,



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die Überschwemmungen vertilgen ganze Völker von dem Erdboden.“ (A 121) Bei Kant sitzt am Tage X niemand über die Menschen zu Gericht, denn das Ende der Welt wird der Beginn einer neuen sein, aber keine Wiederauferstehung der Seelen. „Alles, was endlich ist, was einen Anfang und Ursprung hat … muss vergehen, und ein Ende haben.“ Kant spekuliert beiläufig über die „unendliche Dauer“, die „tausend, vielleicht Millionen Jahrhunderte“ währen mag und „alle möglichen Perioden“ enthalten dürfte, bis sie durch einen allmählichen Verfall doch schließlich zu einem Ende kommen müsse, führt aber ein verblüffendes zusätzliches Argument ein, das so ähnlich wie die Idee einer Art Urknall weit in die Zukunft vorauszugreifen scheint: „allein, weil die Eitelkeit, die an denen endlichen Naturen haftet, beständig an ihrer Zerstörung arbeitet.“ Man wird diese Eitelkeit getrost als Selbstüberschätzung des Menschen begreifen dürfen, der wenige Zeilen weiter aber eben auch „das Meisterstück der Schöpfung zu sein scheinet“, wie es das tradif.) tionelle christliche Selbstverständnis vorschreibt. (A 120  Beide Motive, die potenzielle Zerstörung der Welt durch die Fehlerhaftigkeit des Menschen selbst und seine Rolle als Endzweck der Natur tauchen am Ende der drei Kritiken im Paragraphen 83 der „Kritik der Urteilskraft“ wieder auf, den wir als Abschluss des „Systems“ sehen. Den „Untergang eines Weltgebäudes (dürfen wir) nicht als einen wahren Verlust der Natur bedauern“, denn ihr verschwenderischer Reichtum aus „Vergänglichkeit“ und „neuen Zeugungen“ tangiert die „Vollkommenheit“ im Ganzen nicht. (A 121) Auch dieses Motiv taucht an besagter Stelle wieder auf, allerdings etwas konkreter als Krieg, der sich sehr wohl als Beitrag auf dem Wege zur Vollkommenheit erweisen kann. Hier, wo es ums Ganze geht, bezeichnet Kant die Untergangsfantasie als Hypothese. Sie speist sich aus keinerlei religiösem Weltbild, sondern aus dem spekulativen Zu-Ende-denken bekannter Fakten der Astronomie, also aus einem kalten wissenschaftlichen Blick auf die Welt, der auch da erlaubt sein muss, wo Beweise im strengen Sinne nicht erbracht werden können. Denn aus dem Chaos des Endes der Welt wird nach den immer gleichen Gesetzen wieder eine neue entstehen, ja der „Umfang des Uni-

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versi“ (A 123) wird sich gleichsam Urknall für Urknall er­ weitern. Erstaunlich aber ist der dritte Teil der „Theorie des Himmels“ mit der im kommentierten Inhaltsverzeichnis angeführten Überschrift „Enthält eine Vergleichung zwischen den Einwohnern der Gestirne“, wobei Unterpunkte angegeben sind, darunter: „Betrachtung des Menschen. Ursachen der Unvollkommenheit seiner Natur.“ (A LVI) Die „Unendlichkeit der Schöpfung“ hat auf Erden einen „überschwenglichen Reichtum“ hervorgebracht, wobei von „den denkenden Wesen, bis zu dem verachtetesten Insekt“ alle zur „Schönheit des Ganzen“ beitragen und gleich notwendig sind. (A 178) Warum soll dies nicht in den übrigen Sternenwelten auch so sein? Die Gültigkeit der Naturgesetze, einmal in Bewegung gesetzt, läuft auf die Erreichung einer Vollkommenheit hinaus, die auf dem kleinen Planeten Erde keineswegs ihren Abschluss gefunden haben muss. Nicht der Himmel auf Erden, sondern eine bessere Erde im Himmel ist das Modell, das Kant mit sichtlichem Vergnügen an den Einzelheiten ausbreitet. Nicht jeder Planet, aber doch die meisten werden jetzt schon oder zumindest in Zukunft bewohnt sein, weil diese Vollkommenheit nun mal der „Zweck seines Daseins“ ist. Auch auf der Erde mag es „tausend oder mehr Jahre“ gedauert haben, bevor hier die belebte Natur existieren konnte. (A 176) Zwar bildet der Mensch sich nur ein, der Mittelpunkt der Natur zu sein, und deshalb mag es sehr wohl auch den einen oder anderen unbelebten Himmelskörper geben, „obgleich es an und vor sich schöner wäre, dass er Einwohner hätte.“ (A 178) Aber am Menschen als Maßstab auch der spekulativsten Überlegungen über die Natur kommt Kant nicht vorbei. Wie sollte er auch, hat die Aufklärung doch das emphatische Ziel, den Menschen qua Vernunft über sich und seine Befindlichkeit in der Welt so zu belehren, dass er die richtigen Schlüsse daraus ziehen möge. Die Vernunft ist ganz selbstverständlich im Zuge der Vervollkommnung der Welt als oberste Instanz vorgesehen. Aber woher kommt die Vernunft? Kant hat sich eine solche Frage offenkundig nie gestellt, ebenso wenig die Scharen seiner



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Interpreten. Aber die Theorie des Himmels, die vom Großen und Ganzen und objektiven Gesetzen handelt, hat ihm doch einen Hinweis abgenötigt, der sein philosophisches Hauptwerk nicht aus den Angeln hebt, aber keinesfalls unbeachtet bleiben sollte. Kant stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die je nach Abstand zur Sonne anders geartete Materie auf „das Vermögen, vernünftig zu denken, und die Bewegungen seines Leibes, die diesem gehorchet“, wohl haben mag. Der Mensch dient als Vergleichsmaßstab. Lässt man den unendlichen Abstand „zwischen der Kraft, zu denken, und der Bewegung der Materie, zwischen dem vernünftigen Geiste, und dem Körper (beiseite), so ist es doch gewiss, dass der Mensch, der alle seine Begriffe und Vorstellungen von dem Eindrucke her hat, die das Universum, vermittelst des Körpers in seiner Seele erregt, sowohl in Ansehung der Deutlichkeit derselben, als auch der Fertigkeit, dieselben zu verbinden und zu vergleichen, welche man das Vermögen zu denken nennt, von der Beschaffenheit dieser Materie völlig abhängt, an die der Schöpfer ihn gebunden hat.“ Der Körper als Diener des „unsichtbaren Geistes“, der ihn bewohnt, vermittelt nicht nur die „ersten Begriffe der äußern Gegenstände“, sondern ist auch in der innern Handlung diese zu wiederholen, zu verbinden: kurz, zu denken, unentbehrlich. (A 180 f.) Nicht nur, weil hier das Wort Materie auftaucht, könnte dies ein Anflug materialistischen Denkens sein: Das Universum, die äußere Beschaffenheit der Welt, geben dem Menschen Begriffe und Vorstellungen vor. Er kann gar nicht anders, als die Sinneseindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Aber damit ist natürlich wenig, oder soll man sagen nichts, geklärt. Das Sonnensystem funktioniert so, wie es funktioniert, und nicht anders. Man hat es qua Beobachtung und Nachdenken über die möglichen Gründe seines Funktionierens erkannt. Es hat sich nicht von selbst erklärt. Aber das Nachdenken, man nenne es Verstand oder Vernunft, das Geheimnis der menschlichen Erkenntnis, dass sich nicht durch die Sinneseindrücke von selbst löst, wird in den folgenden Jahrzehnten das Thema Kants mit einer radikalen Wende, die er nicht zufällig in Anlehnung an die epochale Leistung des Kopernikus vorstellt. Es dürfte Zufall sein, dass

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hier Humes „Eindruck“ als Begriff ganz in dessen Sinne auftaucht, zumal er nur die Übersetzung von Impression ist. Einstweilen kann er die Menschen noch so darstellen, wie sie zu sein scheinen. Sie entwickeln Körper und parallel auch Geist ausreichend, um den üblichen Anforderungen genügen zu können. „Das Vermögen, abgezogene Begriffe zu verbinden, und, durch eine freie Anwendung der Einsichten, über den Hang der Leidenschaften zu herrschen, findet sich spät ein, bei einigen niemals in ihrem Leben; bei allen aber ist es schwach: es dienet den unteren Kräften, über die es doch herrschen sollte, und in deren Regierung der Vorzug seiner Natur besteht.“ Aber der Mensch verfehlt den Zweck seines Daseins zumeist, weil er seine „vorzüglichen Fähigkeiten“ nur so einsetzt wie die Tiere ihre Instinkte, ja, er wäre die „verachtungswürdigste“ unter allen Kreaturen, wenn es nicht die Hoffnung gäbe, dass nunmehr eine Periode der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten bevorstände. (A 181 f.) Da die Vernunft bei Kant nicht nur für die Menschen zuständig ist, sondern häufig auch für alle vernünftigen Wesen, sei hier darauf hingewiesen, dass Schopenhauer 1840 den Verdacht äußert, Kant habe dabei „an die lieben Engelein gedacht …“ (Schopenhauer S. 488) Wodurch wird der Mensch daran gehindert, jenes Vernunftwesen zu werden, das Kant von ihm selbstverständlich verlangt und das natürlich seinem eigenen Selbstverständnis nachgebildet ist. Nun, der grobe Körper und „die Nerven und Flüssigkeiten seines Gehirns liefern ihm nur grobe und undeutliche Begriffe“, denen er keine „kräftigen Vorstellungen“ entgegensetzen kann, sodass er von seinen „Leidenschaften hingerissen“ wird. Da sind sie wieder, die Leidenschaften, die es ganz anders als bei Hume „den Bemühungen der Vernunft, sich dagegen zu erheben“, so schwer machen. Allerdings gibt Kant zu, dass Nachdenken und der Gebrauch der Vernunft ein mühsamer Zustand ist, der sich nur schwer gegen die sinnlichen Reize behaupten kann. (A 183) Als Prinzip gilt: Je weiter denkende Naturen von der „Sonne, dieser Quelle des Lichts und des Lebens“ (A 191) entfernt wohnen, desto vollkommener werden sie sein. Die Bewohner der Venus und des Merkur stehen weit



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unter der „Vollkommenheit der menschlichen Natur“, die des Jupiter oder Saturn weit darüber. Sie werden nicht nur ein längeres Leben genießen, sondern bei ihnen haben auch „die Einsichten des Verstandes … weit lebhaftere Reizungen als die sinnlichen Anlockungen an sich, und sind vermögend, diese siegreich zu beherrschen.“ (A 180 f.) Die „Theorie des Himmels“ endet mit der Spekulation, dass die „unsterbliche Seele“ dereinst „in andern Himmeln neue Wohnplätze“ finden mag und „der unsterbliche Geist … sich über alles, was endlich ist, empor schwingen, und in einem neuen Verhältnisse gegen die ganze Natur, welche aus einer höheren Verbindung mit dem höchsten Wesen entspringet, sein Dasein fortsetzen“ mag. (A 199) Das Hintergrundrauschen für die drei Kritiken, deren erste sechsundzwanzig Jahre später und deren letzte dreiunddreißig Jahre später erscheint, ist unüberhörbar vorbereitet.

II. Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht Ganz am Ende seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) und damit seiner letzten eigenhändigen Publikationen macht Kant ein Gedankenexperiment, in dem er Individuen und Gesellschaft, Realismus und Idealismus und in gewisser Weise auch Natur und Kultur aufeinanderprallen lässt. Was würde es bedeuten, wenn (auf einem anderen Planeten) vernünftige Wesen nicht anders könnten, als laut zu denken, also immer und jederzeit aussprächen, was ihnen im Kopf herum geht? Wären sie keine Engel, sondern wie Menschen, ist nicht vorstellbar, „wie sie miteinander auskommen, einer für den anderen nur einige Achtung haben und sich miteinander vertragen könnten.“ Die für den Menschen kluge Verhaltensweise der „Verheimlichung eines guten Teils seiner Gedanken“ verrät schon den „Hang unserer Gattung, übel gegeneinander gesinnt zu sein.“ Ob die Bösartigkeit zur Natur und ihre Kontrolle durch Unterdrückung zur Kultur gehört, sei zunächst dahingestellt, realistisch ist die These allemal. Aber Kant kann hier wie überall sonst, wo er mit klarem Blick auf das Böse, Negative stößt, nicht anders, als einen Ausweg anzubieten. Sein ganzes Denken

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ist die optimistische Suche nach einem aufgeklärten, also realistischen Weg aus den Fesseln der menschlichen Existenz in eine durch Vernunft beherrschte Zukunft. Zwar gehört „zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs“ die Erkundung der Gedanken anderer und die Zurückhaltung der eigenen, was sich in praxi schnell von der Verstellung über die Täuschung zur Lüge steigert. Aber die gleichzeitige Ablehnung solcher Eigenschaften weist eben auf „eine moralische Anlage in uns, eine angeborene Aufforderung der Vernunft, auch jenem Hange entgegen zu arbeiten, mithin die Menschengattung nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen; wobei dann ihr Wollen, im allgemeinen, gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, dass die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zustimmung der einzelnen, sondern nur durch die fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zur Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.“ (B 330 ff.) Das ist das ganze Programm. Man kann es mit Fug und Recht als idealistisch im heutigen Sinne des Wortes bezeichnen und als allgemeine Richtschnur der Geschichte ausgeben, weil ihm kaum jemand widersprechen wird, obwohl vielleicht doch im weiten Feld der verheimlichten Gedanken ganz andere Triebfedern lauern. Unsere Darstellung folgt nicht dem Gang der Publikation, die unter der Überschrift „Anthropologische Didaktik“ mit dem Fixpunkt von Kants philosophischen Anstrengungen, dem „Erkenntnisvermögen“ beginnt und die Hälfte des gesamten Textes umfasst. Das zweite und dritte Buch dieses Teils „Vom Gefühl der Lust und Unlust“ und „Vom Begehrungsvermögen“ machen ein weiteres Viertel aus, der abschließende Teil „Anthropologische Charakteristik“ ebenso. Wie gesagt, die latente Feindseligkeit der Menschen untereinander und deren potenzielle Eliminierung durch Vernunft steht am Ende der Anthropologie. Was aber ist Natur und was Kultur? Kant unterscheidet beide Sphären sehr wohl, nicht verwunderlich in einer Zeit, in der Naturzustand und Naturrecht als



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Gegenbegriffe zum vermeintlich erreichten zivilisierten Zustand zumindest den philosophischen Köpfen vertraute Begriffe waren. Die Natur erhebt ihr vernunftfeindliches Haupt bei der Erörterung des Begehrungsvermögens. Begierde, Neigung, Wunsch und Sehnsucht, Leidenschaft und Affekt sind die eingangs des Buches vorgestellten Begrifflichkeiten. Der Affekt ist ein Gefühl ohne jede Überlegung, die Leidenschaft aber „eine durch die Vernunft des Subjektes schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung.“ Kant ist hier Hume sehr nah, der die Vernunft als Sklave der Leidenschaft in ihre Schranken gewiesen hat. Bei Kant werden Affekt und Leidenschaft aber gleichsam aus dem System eliminiert und zu Gemütskrankheiten, „weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.“ Der Affekt als die gleichsam mildere Form ist zwar wie ein Rausch, geht aber wie dieser vorüber, während die Leidenschaft sich „wie ein Wahnsinn … immer tiefer einnistelt.“ Die blind machende Liebe wird hier als Beispiel kurz erwähnt, nicht ohne den Kommentar, dass der „geliebte Gegenstand“ acht Tage nach der Hochzeit sein wahres Gesicht schon wieder zeigen wird. Nun gut, Kant und die Frauen wäre ein wenig hilfreiches Thema dabei, das Menschenbild der Aufklärung unter der Flagge der Vernunft zu erkunden. „Leidenschaft dagegen wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?“ (B 206) Es gibt also Gefühlsaufwallungen aller Art. Kant ist allemal Realist genug. Aber sie sind gleichsam systemwidrig und müssen gleichwohl irgendwie mit der Vernunft als zentraler Kategorie kompatibel gemacht werden. Hegel hat dann später zu gleichem Zwecke die List der Vernunft erfunden. Wie erkläre ich offenkundig unvernünftige Tatsachen in einer Welt, die von Vernunft durchtränkt sein soll? Indem ich sie indirekt wieder zu einem Werkzeug der Vernunft mache. Und schon ist man der offenkundig tautologischen Struktur eines Vernunftbegriffes auf den Leim gegangen, der sich die ganze Welt unterwerfen will. Denn wenn etwas als unvernünftig bezeichnet werden kann, muss das Gegenteil, die Vernunft, als existent vorausgesetzt werden. Umgekehrt würde dies natürlich genauso gelten: Wäre die Unvernunft der Zentralbegriff einer Erklärung der Welt,

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müsste es auch die Vernunft geben. Dies ist zunächst ein Spiel mit Worten und ein Hinweis darauf, dass nur die sachliche Substanz ihrer Bedeutungen die zirkuläre Selbstdefinition auflösen kann. Wenn ich also wie Kant in mein Weltsystem „oben“ Vernunft reinstecke, muss überall, wenn auch teils auf verschlungenen Wegen, wieder Vernunft als Ergebnis herauskommen. Es handelt sich um eine Erklärung aus sich selbst heraus ohne äußeren Bezugspunkt. Das gleiche Problem hat die Theologie, die ja auch erklären muss, wieso der gütige Gott das Böse zulässt. Das Gute oder die Vernunft als Zentralbegriffe müssen tautologisch sein, weil sich schon rein sprachlich ihr Gegenteil unübersehbar in der Welt befindet. Bei Kant ist es nicht die List der Vernunft, sondern die „Weisheit der Natur, die hier zur Hilfe kommt, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen.“ (B 206) Die Vernunft hat also die Natur als Geburtshelfer. Nur darin besteht deren Daseinsberechtigung, nicht etwa als eigenständige Vorstufe eines großen Ganzen. Und schon gar nicht ist die Vernunft ein Teil der Natur, ein nur begrifflich unterscheidbares Artefakt, das zu ihr gehört wie der Körper mit seinen Bedürfnissen. Affekte oder Leidenschaften, beide unterschiedlich intensiv, aber gleich schädlich, sind also Reaktionsformen und als solche auf einen Gegenstand bezogen. Was ihnen fehlt, obwohl sie menschliche Eigenschaften und keine tierischen Instinkte sind, ist die Vernunft. Sie ist das einzig gerechtfertigte Medium der Auseinandersetzung mit der Welt. Die Leidenschaft bezieht sich gleichermaßen auf die Welt außerhalb des Subjektes, deshalb muss sie eine Vorform oder ein Ersatz für die Vernunft sein, denn es kann nichts geben, was sich nicht diesem Zentralbegriff unterwirft. Dies gilt für die Entwicklung der Menschheit insgesamt und die des Einzelnen ebenso. Was leistet (sich) die Natur sonst noch? Sie darf die Vernunft simulieren. „Die stärksten Antriebe der Natur, welche die Stelle der unsichtbar das menschliche Geschlecht durch eine höhere,



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das physische Weltbeste allgemein besorgenden Vernunft (des Weltregierers) vertreten, ohne dass menschliche Vernunft dazu hinwirken darf, sind Liebe zum Leben, und Liebe zum Geschlecht; die erstere um das Individuum, die zweite um die Spezies zu erhalten, da dann durch Vermischung der Geschlechter im ganzen das Leben unserer mit Vernunft begabten Gattung fortschreitend erhalten wird, unerachtet diese absichtlich an ihrer eigenen Zerstörung (durch Kriege) arbeitet.“ (B 242) Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb sind also die Naturbasis des Menschen, die zwar von der Vernunft nicht gestört werden darf und gleichzeitig als ihr Wirkungsbereich akzeptiert wird. Die Natur liefert der Vernunft zu und ist ein gleichsam outgesourcter Bereich ihrer selbst. Sie gehört unverzichtbar zum Konzern, ist aber formalrechtlich selbstständig. Eigentlich könnte sie auch abgestoßen werden, aber dann müsste der Konzern Vernunft die Selbsterhaltung und die Fortpflanzung selbst organisieren. Beides ist ja nicht unvorstellbar. Für die Selbsterhaltung gibt es zumindest einen vernünftigen Grund, und die Fortpflanzung nicht als Ergebnis individueller Sexualität zu betreiben, sondern für höhere Zwecke (sei es in utopischen Kommunen oder für Führer, Volk und Vaterland, sei es zur wirtschaftlichen Absicherung der Elterngeneration oder des Familienbesitzes, sei es nach der Pille vernünftig geplant und nicht naturwüchsig) ist auch kein Phänomen, das die Welt noch nicht gesehen hat. Die Kantsche Vernunft steht selbstredend über derartigen interessengeleiteten Zwecken. Sie ist für das Beste der ganzen Menschheit zuständig. Diese entwickelt sich auf dieses Ziel hin, weil die Vernunft dies so will. Die Liebe zum Leben und die Liebe zum Geschlecht sind zwar die stärksten Antriebe der Natur, aber der Selbsterhaltungstrieb kommt in der „Einteilung der Leidenschaften“ in natürliche (angeborene) und die „aus der Kultur hervorgehenden (erworbenen)“ nicht mehr vor. Stattdessen wird hier neben der Geschlechts- die „Freiheitsneigung“ genannt. (B 229) Sie wird, eine Reverenz an Rousseau und Hobbes, dem „Naturmenschen“ zugeschrieben. Der „noch nicht an Unterwürfigkeit gewöhnte“ Wilde wehrt sich, so Kant, zu Recht, gegen die Unfreiheit, „so lange noch kein öffentliches Gesetz ihn sichert: bis ihn Diszip-

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lin allmählich dazu geduldig gemacht hat“. Bis dahin befindet er sich im Zustand des beständigen Krieges. Nomaden- und Jagdvölker werden als Beispiele einer angeborenen Freiheitsneigung genannt, aber auch neugeborene Kinder, die „mit lautem Geschrei in die Welt“ treten, weil sie es als Zwang ansehen, ihre Gliedmaßen noch nicht bedienen zu können und so einen „Anspruch auf Freiheit (wovon kein anders Tier eine Vorstellung hat) so fort“ ankündigen. (B 230) Für die Formulierung dieser merkwürdig uninspirierten, ja desinteressierten kurzen Passage gibt es wohl zwei Gründe. Seit der Etablierung des neuzeitlichen Naturrechtsgedankens durch Thomas Hobbes (1588–1679) ist der Topos der angeborenen Freiheitsrechte des Menschen zumindest aus der intellektuellen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Kant verbeugt sich vor dem Zeitgeist. Aber Freiheit gleichsam nur als Naturkonstante hebelt seine ganze Philosophie der Etablierung der „Vernunft … die allein den Begriff der Freiheit begründet“, (B 232) systematisch aus. Deshalb diese ostentative Feststellung. Generell gilt: „Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar.“ (B 227) Neigungen oder Instinkte „wie der Begattungstrieb, oder der Elterntrieb des Tieres, seine Junge zuschützen u. d. g.“ (B 226) sind Bedürfnisse, „die lebende Natur (selbst die Menschen) nicht entbehren kann. Aber dass sie Leidenschaften werden dürfen, ja wohl sogar sollten, hat die Vorsehung nicht gewollt …“ (B 228) Freiheit als, sagen wir natürliche Vorgabe, erzwingt ein ganz anderes Denken über den Menschen als eine Freiheit, die von einer weltbeherrschenden Vernunft dem Menschen aufgegeben und durch Einsicht in ihre Grenzen zu erwerben ist. Die erstere verlangt einen sehr viel größeren Spielraum als die letztere von vornherein zugestehen kann. Die natürliche Freiheit ist der tatsächlichen Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen viel näher als die vernünftige Freiheit, die ja auch Kant als Ziel in die Zukunft verlegen muss. Sie ist Philosophie und unter dem nicht zu haben. Das tatsächliche Verhalten der Menschen, von den Segnungen der Vernunft nur gelegentlich ergriffen, kann zwar beschrieben werden, darf aber keinen Eingang in die Sphäre des reinen Denkens finden.



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Die Trias der kulturbedingten Leidenschaften oder Neigungen lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Die großen Drei, wie man sie leicht ironisch markieren kann, tauchen in Kants Werk an verschiedenen Stellen auf und sind somit anthropologische Leitbegriffe. Es sind „Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht“, (B 229, 233, 235 ff.) die erste „gehasst“, die zweite „gefürchtet“, letztere „verachtet.“ (B 239) Alle drei entspringen der Neigung, „anderer Menschen Neigungen … zu kennen.“ Und die Fähigkeit dazu, das „Vermögen enthält gleichsam eine dreifache Macht in sich: Ehre, Gewalt und Geld; durch die, wenn man im Besitz derselben ist, man jedem Menschen, wenn nicht durch einen dieser Einflüsse, doch durch den andern beikommen und zu seinen Absichten brauchen kann.“ Als Mittel zum Zweck können sie zu den genannten Leidenschaften werden und nähern „sich am meisten der technisch-praktischen i. der Klugheitsmaxime.“ Sie haben also einen Vernunft, d.  „Anstrich der Vernunft“, weil sie als Mittel zu einem Zweck frei gewählt werden können, und sind zugleich „Neigungen des Wahnes … welcher darin besteht: die bloße Meinung anderer vom Werte der Dinge dem wirklichen Werte gleich zu schätzen.“ (B 229 ff.). Es liegt Kant selbstredend völlig fern, eine solche Zweckrationalität gutzuheißen. Er redet hier von „Klugheit“ – wir würden wohl eher Schläue sagen – und nicht von Weisheit, die nicht von Leidenschaft affiziert ist. Aber weil in diesen Leidenschaften ein Kalkül schlummert, sind sie zunächst dem Reich der Vernunft verwandt. Weil Zweckrationalität zu einem unmoralischen und damit zugleich auch unvernünftigen Ziel den Vernunftbegriff am Rande auszufransen droht, kommt die Natur neuerlich ins Spiel. „Die Natur will“ – hat also eine ebensolche eigenschöpferische Kraft wie ansonsten die Vernunft – Phasen der stärkeren „Erregungen der Lebenskraft“, damit der Mensch nicht im Genießen verharrt und gar „das Gefühl des Lebens“ einbüßt. Deshalb spiegelt „sie sehr weise und wohltätig dem von Natur faulen Menschen“ Einbildungen als wirkliche Zwecke vor, treibt ihn also in Aktivitäten zur Erlangung von Ehre, Macht und Geld. Die Natur aber spielt nur mit ihm, weil er glaubt, sich selbst entschieden zu haben, während er doch nur einem „Interesse

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des bloßen Wahns“ folgt. (B 240) Dies gilt auch von der „Rachbegierde“, die hier plötzlich als eigener Abschnitt ins Spiel kommt, „welche aus der Natur des Menschen unwiderstehlich hervorgeht“, aber aus verletztem Recht gespeist wird und damit dieses als Institution letztlich anerkennt. „Was allerdings Recht ist, ist eine Frage der freien Willkür durch reine praktische Vernunft“. Die Rachsucht kann bis zum wahnhaft selbstzerstörerischen Hass gesteigert werden und wendet sich schließlich gegen den Verursacher des Unrechts, nicht die eigentliche Ungerechtigkeit. Diese mächtige Triebkraft kann „gar selbst zwischen Völkerschaften erblich werden.“ Alle Leidenschaften „als sinnliche Triebfedern … sind doch in Ansehung dessen, was die Vernunft dem Menschen vorschreibt, lauter Schwächen.“ (A 234 f.) Die Vernunft ist das Programm, dem der empirische Mensch nicht oder nur zum Teil folgt. Sie hat etwas Statisches, das von den Verhaltensweisen der doch vernunftbegabten Menschen vollständig unberührt bleibt. Auch wenn ein Kalkül zur Erreichung eines Zweckes eine Form von Rationalität ist und somit der Vernunft nahe kommt, bleibt noch die Bewertung des Zieles, bei der die Vernunft unabhängig vom Handelnden den Daumen hebt oder senkt. Die Trias der kulturell erworbenen „Schwächen der Menschen“ beinhaltet die Methoden der Beherrschung Anderer. Die „Ehrsucht“ bedient sich des Mittels der „Meinung“. Sie hat nichts mit dem wohlverdienten Ansehen eines Menschen wegen seines inneren (moralischen) Werts zu tun, sondern ist geradezu lächerlicher „Hochmut“. Kant empfiehlt, dem Hochmütigen zu schmeicheln und so seine ihn selbst schwächende Leidenschaft zu instrumentalisieren. Der Hochmut ist also eine verfehlte Strategie, aber auch die Schwester der Niedertracht, denn wer sich besser dünkt als Andere, ist auch zu Schandtaten bereit. Die „Herrschsucht“ speist sich aus der Furcht vor der Beherrschung durch Andere. So gesehen hat sie einen präventiven Charakter, ist aber „an sich ungerecht“, weil sie andere Menschen für eigene Zwecke benutzt und also Widerstand hervorruft, und unklug, weil sie der „Freiheit unter Gesetzen“ zuwider läuft. Nicht um Herrschaft (mit oder ohne Gesetz) geht es Kant



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hier, sondern um menschliche Schwächen. So kommt im größeren Teil dieses kurzen Abschnittes auch wieder einmal die Liebe ins Spiel, die Frauen den Männern „einflößen“, um sie für ihre Zwecke zu gebrauchen. Da sie dies allerdings nicht mit dem männlichen Mittel der Gewalt, sondern mit Reizen tun, durch die beherrscht zu werden Männer nur allzu geneigt sind, fällt diese sicherlich das Publikum der Vorlesung unterhaltende Bemerkung als nur „mittelbare Beherrschungskunst“ im strengen Sinne nicht unter das Thema, so Kant. Die „Habsucht“ nutzt das eigene Interesse der Anderen, so Kant einleitend, ohne diesen Aspekt weiter eines Gedankens zu würdigen. Geld, besonders seit der Erfindung der metallischen Münzen, hat keinen Eigenwert und dient nur „zum Verkehr des Fleißes der Menschen, hiermit aber auch alles Physich-guten unter ihnen“. Ihm wird auch im schieren Besitz eine Macht zugesprochen, die „den Mangel jeder anderen zu ersetzen hinreichend sei.“ So pflegt es der Geizige zu halten; der sein Geld nicht in „Genuss“ verwandelt. Diese „bloß mechanisch geleitete Leidenschaft“ befällt vornehmlich das „Alter zum Ersatz seines natürlichen Unvermögens.“ (B 235 ff.) Eher beiläufig und kaum noch systematisch aufwendig begründet und hergeleitet erfahren die drei Leidenschaften eine Ergänzung durch die drei Laster „Faulheit, Feigheit und Falschheit.“ Auch sie entspringen der Natur des Menschen, wobei Kant „den Abscheu für anhaltende Arbeit manchem Subjekt“ als natürlich nachsieht, wenn die Anstrengung der Erholung bedarf. Aber so wie die Leidenschaften realistisch betrachtet ein Moment der „Lebenskraft“ sind, findet Kant auch im gesellschaftlichen Zusammenspiel der Laster etwas Positives, ohne dafür die Vernunft bemühen zu müssen. Zugleich definiert er unter der Hand wie nebenbei eine Natureigenschaft des Menschen: seine angeborene Bösartigkeit. Seine „rastlose Bosheit“ würde alles Übel in der Welt noch vergrößern, wenn nicht „Feigheit sich der Menschen erbarmte, der kriegerische Blutdurst die Menschen bald aufreiben würde, und, wäre nicht Falschheit (da nämlich unter vielen sich zum Komplott vereinigenden Bösewichtern in großer Zahl (z. B. in einem Regiment)

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immer einer sein wird, der es verrät) bei der angeborenen Bösartigkeit der menschlichen Natur ganze Staaten bald gestürzt sein würden.“ (B 242 f.) Kant wäre nicht Kant, wenn er nicht schon im nächsten – allerdings endlos langen – Satz darauf bestehen würde, dass „doch die immer an Kultur wachsenden vernünftigen Geschöpfe, selbst mitten in Kriegen … dem Menschengeschlecht in kommenden Jahrhunderten einen Glückseligkeitszustand, der nicht mehr rückgängig sein wird“, in Aussicht stellen werden. (B 243) Kant wäre aber auch nicht Kant, wenn er den Zustand der Welt nicht mit klarem Blick wahrnehmen und aussprechen würde. Ein Seitenblick in die Rostocker Anthropologiehandschrift, die vermutlich 1796 / 97 entstand und als Vorlage für das endgültige Druckmanuskript diente, zeigt nicht gerade Zweifel an der Substanz seines Werkes im Dienste der aufklärerischen Vernunft – dies wäre bei einem über 70-jährigen auch kaum zu vermuten –, aber doch eine gewisse Vorsicht. Diese zögernde Nachdenklichkeit öffnet zumindest einen kleinen Blick in die Differenz zwischen Gedachtem und Publiziertem: „Zwar nicht eine höhere Stufe der Menschheit so wie die Amerikaner auch nicht zu einer spezifisch verschiedenen – sondern einer größeren Vermenschlichung  /  /  humanisatio  /  /  Ist die Menschheit im immerwährenden Fortschritt zur Vollkommenheit begriffen. Wird das menschliche Geschlecht immer besser oder schlechter oder bleibt es von demselben moralischen Gehalt?  /  /  Von dem Kinde in den Armen der Amme bis zum Greisesalter ist immer das Verhältnis der List des Betrugs (?) der Bosheit dasselbe  /  /  Die Antwort auf die Frage, ob Krieg sein soll bestimmt weiter (?) der oberste Gewalthaber  /  /  Die höchste Stufe der Kultur ist der Kriegszustand der Völker im Gleichgewicht und das Mittel ist die Frage wer von ihnen fragt ob Krieg sein soll oder nicht.“ (zit. nach Werke, Hrsg. Weischedel, XII, 615) So geht es denn gedruckt mit der Humanität weiter, die als Vereinigung des sinnlichen Wohllebens mit der moralischen Tugend definiert wird. Wie es nun überhaupt sehr Kantisch privat wird. So endet der große erste Teil des Werkes, überschrieben „Anthropologische Didaktik“, und darin das dritte



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Buch über das Begehrungsvermögen, also die Leidenschaften und Laster, mit nichts anderem als Kants ureigenster, von allen Biographen bezeugten Lebenseinstellung: Ruhe nach der Arbeit sei der größte Sinnesgenuss, (B 242) eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft mit guter Konversation Wohlleben, (B 245) Lachen gut für die Verdauung. (B 249) Und: „Allein zu essen (solipsismus convictorii) ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund.“ Er braucht offenkundig Versuchskaninchen, wie Kant in einer Anmerkung hinzufügt: „Denn der philosophierende muss seine Gedanken fortdauernd bei sich herumtragen, um durch vielfältige Versuche ausfindig zu machen, an welche Prinzipien er sie systematisch anknüpfen soll, und die Ideen, weil sie nicht Anschauungen sind, schweben gleichsam in der Luft vor ihm.“ (B 247)

III. Königsberg am Pregelflusse Menschenkenntnis erwirbt man zunächst in seinem lokalen Umfeld, bevor man sie mit einer Art „Generalkenntnis“, also „durch Philosophie geordnet und geleitet“, zur „Weltkenntnis“ erweitern kann. Und so kann auch die Stadt, immerhin „der Mittelpunkt eines Reiches“, die Kant nur kurz als Hauslehrer in der näheren Umgebung je verlassen hat, „schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“ Kant merkt dies in einer Anmerkung zu seiner Vorrede der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ ausdrücklich ebenso an, wie die Tatsache, dass dieser seiner halbjährlich gehaltenen Vorlesung „auch andere Stände beizuwohnen geraten fanden.“ Der veröffentlichte Text sei das „gegenwärtige Handbuch“ dieser akademischen Pflichtaufgabe. In jedem Fall dürfte Kant kein Missverhältnis zu den tiefer gehenden, ambitionierteren und längst abgeschlossenen drei Kritiken empfunden haben. Inwieweit aber die hier formulierten anthropologischen Einsichten die Grundlage der eigentlichen philosophischen Schriften darstellen, sei zunächst dahingestellt.

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Begonnen haben wir unsere Darstellung der „Anthropologie“ mit einem kurzen Hinweis auf die Verschwiegenheitsregel, „dass in unserer Rasse jeder es geraten finde, auf der Hut zu sein und sich nicht ganz erblicken zu lassen …“, (B 330) die sich ganz am Ende der Anthropologie in dem schmaleren zweiten Teil findet, überschrieben „Anthropologische Charakteristik“. Dann haben wir uns einen Überblick über das dritte Buch des ersten Teils verschafft, der „Vom Begehrungsvermögen“ handelt. Hier geht es weniger um die fröhliche Konversation bei Tische, sondern um die feindliche Grundhaltung der Menschen untereinander. Kein Wunder, wenn Status, Geld und Macht und Faulheit, Feigheit und Falschheit die eigentlichen Antriebskräfte des Subjektes sind. Nun wenden wir uns wieder der „anthropologischen Charakteristik“ zu, worin der Begriff des Charakters „in pragmatischer Rücksicht“ in vier Erscheinungsformen behandelt wird, die Kants empirische Feststellungen über den Menschen weiter präzisieren: als Charakter der Person, des Geschlechts, des Volkes und der Gattung. Zweifellos hätte Kant die Verwendung dieses Sammelbegriffes für die Struktur von Eigenschaften bei der ersten oder den ersten beiden auf das Individuum bezogenen Typologien belassen können. Dass zusätzlich Volk und Gattung oder Nation und Menschheit zu charakterisieren sind, ist zeitgenössisch nichts Ungewöhn­ liches und verdeutlicht den umfassenden Weltkenntnis-Anspruch des Werkes. Es erlaubt aber auch einen tieferen Einblick in die kulturellen Prägestrukturen der Menschheit. Nach einer kurzen Bemerkung über das „Gemüt“ beginnt Kant mit der Einteilung der Temperamente als unterste, naturnahe Stufe und Grundlage des Charakters. Dabei bedient er sich des aus der Antike überkommen Musters: sanguinisch, melancholisch, cholerisch, phlegmatisch. Das ist gewiss auch heute noch hübsch zu lesen und soll hier mit einem Satz über den Phlegmatiker illustriert werden, der vielleicht auch die oben genannten Antriebskräfte in Aktion zeigt: „Man nennt ihn auch oft durchtrieben; denn alle auf ihn losgeschnellete Ballisten und Katapulten prallen von ihm als einem Wollsack ab. Er ist ein verträglicher Ehemann, und weiß sich die Herrschaft über Frau und Verwandte zu verschaffen, indessen dass er scheint allen zu



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Willen zu sein, weil er durch seinen unbiegsamen aber überlegten Willen den ihrigen zu dem seinen umzustimmen versteht.“ (B 261) Die Temperamente beschreiben den Rahmen, in dem der Mensch sich entfalten kann. Dagegen „einen Charakter aber schlechthin“ zu haben bedeutet „diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat … Es kommt hierbei nicht auf das an, was die Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht.“ Charakter hat einen „inneren Wert“ und ist somit über alle Praxis erhaben. Kant setzt ihn so hoch an, dass er schon fast in der Nähe der Vernunft zu siedeln scheint. Dagegen haben positive und „nutzbare Eigenschaften … einen Preis, sich gegen andere, die eben so viel Nutzen schaffen, austauschen zu lassen; das Talent einen Marktpreis, denn der Landes- oder Gutsherr kann einen solchen Menschen auf allerlei Art brauchen.“ Wir sind noch in der Feudalgesellschaft, aber schon zu Marktpreisen. Bösartigkeit kann es als Charaktereigenschaft nicht geben, sondern nur als „Temperamentsanlage“. Als solche ist sie sogar „weniger schlimm“ als Gutartigkeit ohne Charakter, einfach weil der Charakter, wenn er denn gebildet worden ist, das böse Temperament per definitionem eliminieren wird: „Der Mensch aber billigt das Böse in sich nie und so gibt es eigentlich keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Veranlassung derselben.“ Temperament ist das natürliche Potenzial, Charakter als vernünftige Denk- und Handlungsweise „ist absolute Einheit des inneren Prinzips des Lebenswandels überhaupt“ und als solche zugleich „das Minimum … was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann.“ Wie aber gelangt das Temperamentsbündel Mensch dahin? Einfach nur ein besserer Mensch werden zu wollen reicht nicht, weil die alltagsübliche Beschäftigung mit diesem und dann mit jenem Problem nicht zum Kern vordringen kann. Desgleichen, erstaunlich genug, reichen auch „Erziehung, Bespiele und Belehrung … nach und nach“ nicht aus. Erst wenn der „Überdruss am schwankenden Zustande des

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Instinkts“ groß genug ist, kann die „Explosion“ der Charakterbildung erfolgen. „Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahr versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben.“ (B 264 ff.) Explosion und Revolution sind wahrlich starke Begriffe für die Erlangung der von der Vernunft geforderten Minimalausstattung des Menschen. Kant wird sie nicht ohne Bedacht verwandt haben. Sie unterstreichen die Differenz zwischen der Zielvorgabe für die Menschheit und ihrem offenkundigen Alltagsverhalten. Auch ein Allerweltsbegriff wie Charakter wird von den Anfechtungen der Realität gereinigt und mit höheren philosophischen Weihen ausgestattet. In der „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant dies mit der Unterscheidung von „intelligiblem“ und „sensibelem“ Charakter begrifflich noch weiter getrieben. Beide Begriffe kommen in der „Anthropologie“ auch vor. (B 318, vgl. auch S. 215 f., 251–254, 259, 266) Hier, für das größere Publikum, erwähnt er Zweifel daran, dass es Poeten, Hofleuten oder Geistlichen je vergönnt sein könnte, einen „inneren (moralischen) Charakter“ zu gewinnen und bringt seine eigene Philosophie geschickt ins Spiel. Die Zweifel könnten ja daran liegen, dass (andere) Philosophen den Begriff noch nie „in genugsam helles Licht gesetzt und die Tugend noch nie ganz in ihrer schönen Gestalt … für alle Menschen interessant gemacht haben.“ (B 269 f.) Der Charakter des Geschlechts, vornehmlich des weiblichen, ist wegen seiner altbacken männlichen Perspektive heutzutage in das Panoptikum der Skurrilitäten verbannt. Dies ist bei Sätzen wie „das Weib wird durch die Ehe frei; der Mann verliert dadurch seine Freiheit“ nicht verwunderlich, wenn auch gegenüber dem Naturzustand schon ein Fortschritt: „Das Weib ist da ein Haustier.“ Gemeint ist hier ganz sicher kein philosophischer Begriff von Freiheit. Bei der einen oder anderen anthropologischen Behauptung zum Geschlechterkrieg mag der oder die eine nachdenklich werden und geneigt sein, sich die ganze Passage mit Vergnügen anzusehen: „Die Frau will herrschen, der Mann beherrscht sein (vornehmlich vor der Ehe).“ Oder: „Der Mann bemüht sich in der Ehe nur um seines Weibes, die Frau aber um



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aller Männer Neigung; sie putzt sich nur für die Augen ihres Geschlechts aus Eifersucht andere Weiber in Reizen oder im Vornehmtun zu übertreffen …“ Aber die „Naturabsicht bei Einrichtung der Weiblichkeit“ muss trotz aller Torheit der Menschen Weisheit sein, die nicht nur „1. die Erhaltung der Art“, sondern auch „2. die Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben“ zum Ziel hat. Trotz mancherlei zu beobachtender „Lüderlichkeit“ ist die Ehe zumindest im bürgerlichen Zustand die angemessene Form des Zusammenspiels der Geschlechter, aber eben auch nur ein Ausdruck der Natur des Menschen, nicht der Vernunft. Sie wird in diesem Kontext kein einziges Mal ins Feld geführt. Dies ist bemerkenswert, weil Kant sie immer herbeizitiert, wenn ihm der Mensch problematisch wird. Wo Natur waltet, hat die Philosophie ihr Recht verloren: „Die Natur hat auch in diese ihre Ökonomie einen so reichen Schatz von Veranstaltungen zu ihrem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Erhaltung der Art, hinein gelegt, dass, bei Gelegenheit näherer Nachforschungen, es noch lange Stoff genug zu Problemen geben wird, die Weisheit der sich nach und nach entwickelnden Naturanlagen zu bewundern und praktisch zu gebrauchen.“ (283 ff.) Die Spielarten der Geschlechterrollen werden durch die Natur begründet. Der Charakter eines Volkes ist angeboren und zugleich erworben und künstlich, was Kant unter anderem am Beispiel Englands und Frankreichs demonstriert, „die zwei zivilisiertesten Völker auf Erden“, die aufgrund ihres vermutlich „unveränderlichen Charakters“ permanent Konflikte austragen. In einer Anmerkung fügt Kant hinzu: „Es versteht sich, dass, bei dieser Klassifikation, vom deutschen Volk abgesehen wird; weil das Lob des Verfassers, der ein deutscher ist, sonst Selbstlob sein würde.“ Allerdings relativiert Kant diese Konstruktion sogleich sehr nachhaltig, weil mangels Dokumenten die Urquellen des Volkscharakters nicht wirklich zu erschließen sind und „gewagte Versuche“ bleiben, „die Varietäten im natürlichen Hang ganzer Völker“ zu erschließen, die keinesfalls nach Vernunftprinzipien darzustellen sind. (B 297 f.) Die „Regierungsart“ jedenfalls ist nicht maßgeblich für den Nationalcharakter, weil die Regierung sich schließlich aus der gleichen Quelle

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speist wie das Volk, ebenso wenig Klima und Boden, weil die Völkerwanderung beweist, dass die Völker ihre Eigenarten auch unter anderen Umständen im Wesentlichen beibehalten. Der Franzose, kurz gesagt, ist leicht und locker, der Engländer streng und tüchtig, die Spanier und Italiener übergehen wir, „die Deutschen stehen im Ruf eines guten Charakters, nämlich dem der Ehrlichkeit und Häuslichkeit“ und fügen sich „unter allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten, der Regierung“, (B 307) die Russen sind noch nicht so weit, einen Nationalcharakter zu entwickeln, die Polen nicht mehr und die Türken werden es nie sein. Die Möglichkeit, einen Charakter anzugeben, besteht grundsätzlich nur im Vergleich verschiedener Charaktere, also in der empirischen Erfahrung. Dies ist mangels Vorhandensein einer anderen Menschengattung mit der gesamten Menschheit unter dem Begriff der Gattung schlechterdings nicht möglich. Also bleibt nur die Feststellung, dass der Mensch „einen Charakter hat, den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfek­ tionieren; wodurch er, als mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile), aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann.“ So wird er dann seine Art erhalten, diese „für die häusliche Gesellschaft“ belehren und erziehen und die nach „Vernunftprinzipien“ geordnete Gesellschaft regieren. Diesem Ideal vernünftiger Wesen steht allerdings als Charakteristikum der Menschheit entgegen, „dass die Natur den Keim der Zwietracht in sie gelegt und gewollt hat, dass ihre eigene Vernunft aus dieser diejenige Eintracht, wenigstens die beständige Annäherung zu derselben, herausbringe“, welche der Zweck des Ganzen ist, „die Perfektionierung des Menschen durch fortschreitende Kultur. wenngleich mit mancher Aufopferung der Lebensfreude desselben.“ Warum im „Plane der Natur“ aber der Konflikt die Methode ist, das Ziel zu erreichen, bleibt eine „uns unerforschliche Weisheit.“ (B 314) Dass Kant die disharmonische Realität zwar der Natur zuschreibt, sie aber nicht wie auch immer ausblendet, beweist seine Bodenhaftung; dass sie ihn aber nicht zu einem Überden-



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ken seines Ansatzes führt, der in nichts anderem als der Gewissheit des Endzieles Vernunft besteht, teilt er mit den fortschrittsgläubigen Zeitgenossen der Aufklärung und vielen, die trotz allem in diesen Fußstapfen weiter gegangen sind. In der weiteren Charakterisierung der Menschheit gibt es einen Hinweis darauf, dass der kluge alte Kant in dieser Frage sich durchaus nicht so sicher war, wie es den Anschein hat. Denn die Frage, ob der Mensch „von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschafts-scheues Tier sei“, beantwortet der publizierte Text schon wenig eindeutig dahingehend, dass „das letztere wohl das wahrscheinlichste ist“. In den handschriftlichen Anmerkungen hatte Kant zunächst „erstere“ geschrieben, dann aber gestrichen und durch „letztere“ ersetzt. Als Sozialwesen würde der Mensch zweifellos besser in die Konstruktion passen, als Einzelgänger wohl kaum. Kants wunderbare Formulierung „nachbarschafts-scheu“ lässt zumindest beides zu, den Konflikt und den Versuch der Harmonie. (B 315) In dem Aufsatz für die „Berlinische Monatsschrift“ von 1784 „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, findet sich auch der Dank an die „Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit“, auch „die ungesellige Geselligkeit des Menschen“ (A 392 f.) und die gern zitierte Formulierung: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden.“ (A 397) Jedenfalls unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch seine technische, pragmatische und moralische Anlage. Es ist die vielseitige Einsatzfähigkeit der Hand, die ihn dank seiner Vernunft zum „vernünftigen Tier“ macht. „Die pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur“ ist eine höhere Stufe. Sich auf Rousseau beziehend, hält Kant fest, dass bei den „Tieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur die Gattung.“ Also muss der Mensch doch ein Sozialwesen sein, und nicht nur das, sondern zugleich moralisch, denn dank Vernunftvermögen und „Bewusstsein der Freiheit seiner Willkür“ sieht er sich immer „unter einem Pflichtgesetze.“ Dieser sein „intelligibeler“ Charakter ist angeboren und macht ihn von Natur „gut“. Aber ebenso ist

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er seinem gleichfalls angeborenen „sensibelen“ Charakter nach „böse“, ohne dass Kant darin einen Widerspruch sieht, weil hier vom „Charakter der Gattung“ die Rede ist, deren „Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren besteht.“ (316 ff.). An dieser Stelle schwingt Kant sich zu einer Summe seiner pragmatischen Anthropologie auf, die Reinhard Brandt zugleich als Summe der Kantischen Philosophie im Ganzen bezeichnet. (Die Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 122) „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.“ Kant fährt dann unmittelbar fort: „ Der Mensch muss also zum Guten erzogen werden; der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt, und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf. Daher die beständige Abweichung von seiner Bestimmung, mit immer wiederholten Einlenkungen zu derselben.“ (B 319) Spätestens mit dieser „Ausführungsbestimmung“ wird klar, in welchem Dilemma sich eine Weltanschauung befindet, um hier den Begriff Philosophie zu vermeiden, die große Ziele fordert, aber beständig im Auge behält, was ihrer Verwirklichung grundsätzlich, nicht hin und wieder, im Wege steht. Dass die Unaufgeklärten die Aufklärung bringen können, erscheint dann doch ein wenig zu viel verlangt. Das Laster der Faulheit findet hier noch seinen Widerhall, alle anderen negativen Eigenschaften werden pauschaliert der Natur zugeschoben, die zu bekämpfen den Menschen zu einem Glied der Gattung machen. Mag der Einzelne auch versagen, die Naturbestimmung der Gattung ist ihre eigene, letztlich nur zu verzögernde, aber nicht zu verhindernde Perfektibilität. Aber Kant wäre nicht Kant, wenn er nicht trotz aller Emphase auch



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hier die Widersprüche sehen würde. Wie kann es funktionieren, dass die von den Gebresten ihrer Natur geplagten Menschen sich gegenseitig zu ihrem Zwecke erziehen? Kant verspricht eine „Auflösung dieses Problems“, die wiederum eine „Weisheit, die nicht die seine (des Menschen), aber doch die (durch seine eigene Schuld) ohnmächtige Idee seiner eigenen Vernunft“ bemüht. Die Naturanlagen der Menschengattung bieten keinesfalls „a priori“ die Gewissheit, dass die Menschheit „Schöpferin ihres Glücks“ sein wird, aber die Geschichte erlaubt die Erwartung, „an diesem ihrem Fortschreiten zum Besseren nicht zu verzweifeln.“ Es ist nun einmal eine „Tendenz der Natur“, in der vernunftbegabten Menschengattung „durch ihre eigene Tätigkeit die Entwicklung des Guten aus dem Bösen dereinst zu Stande zu bringen“. Der „bösgeartete“ und „selbstsüchtige“, aber doch vernünftige Mensch, wird aus Einsicht den „Privatsinn“ zugunsten des „Gemeinsinns“ allmählich zurückstellen und sich schließlich durch das „Bewusstsein veredelt fühlen, zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist.“ (B  325 ff.)) Weil dieses Ideal auch den Zeitgenossen mit Blick auf die Geschichte nicht umstandslos überzeugen musste, integriert Kant auch den Krieg in seine Argumentation. Jedes Volk versucht den Nachbarn zu „unterjochen“, sei es aus Vergrößerungssucht oder Furcht. Aber „der innere oder äußere Krieg in unserer Gattung ist doch zugleich die Triebfeder, aus dem rohen Naturzustande in den bürgerlichen überzugehen.“ Kant benutzt hier zur Beschreibung des bürgerlichen Zustandes erstaunlicherweise eine technische Metapher. Er ist „ein Maschinenwesen der Vorsehung, wo die einander entgegenstehenden Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch tun, aber doch durch den Stoß oder Zug anderer Triebkräfte lange Zeit im regelmäßigen Gange gehalten werden.“ Freiheit und Gesetz sind die „Angeln“, um die sich alles dreht, aber damit sie wirken können, bedarf es eines dritten Faktors, der Gewalt. In der Republik als der einzig wahren bürgerlichen Verfassung gehen sie die ideale Kombination ein: „(Gewalt, mit Freiheit und Gesetz).“ In der Anarchie, Despotie oder Barbarei fehlt jeweils einer der Faktoren. Das

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Endziel freilich ist eine entsprechende „weltbürgerliche Gesellschaft“, eine „an sich unerreichbare Idee“, aber als „regulatives Prinzip“ unverzichtbar (B 329 ff.). Die „Erkenntnis des Menschen als Weltbürger“ ist das Ziel der Anthropologie, wie es in der Vorrede heißt. Dazu ist „Weltkenntnis“ erforderlich, und ihr „wichtigster Gegenstand … ist der Mensch: weil er sein einziger letzter Zweck ist.“ Die „physiologische“ Betrachtung des Menschen, in Kants Worten „was die Natur aus dem Menschen macht“, also die Biologie nach heutigem Verständnis, ist für Kant überflüssiges „theoretisches Vernünfteln“, weil der Mensch hier „bloßer Zuschauer (ist) und die Natur machen lassen muss, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht.“ Dagegen hat „die Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie) … in pragmatischer Hinsicht“ zum Gegenstand, was der Mensch „als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ Die Natur des Menschen selbst steht allerdings der „Gründlichkeit“ einer solchen Wissenschaft entgegen: Der Mensch verstellt sich, wenn er beobachtet wird, er kann sich im Affekt nicht selbst beobachten, und er entwickelt „Angewöhnungen“, die den scharfen Blick auf den harten Kern vernebeln. (B  III ff.) Die Menschheit steht also ihrer Selbsterkenntnis immer schon im Wege. Es bleibt nur eine systematische Darstellung von Beobachtungen als praktischer Erfahrungsbericht, keine Theorie, die den Menschen erklären könnte wie die Laufbahn der Himmelskörper. Warum aber gilt die bestenfalls eingeschränkte Wissenschaftlichkeit für den Menschen als sozial agierendes Wesen, aber nicht für seine elementare Fähigkeit, seinen Verstand zu gebrauchen? Seine Vernunft ist sehr wohl bis zu ihren Grenzen zu sezieren und ergibt schließlich sogar die Formulierung von unhintergehbaren Handlungsanweisungen, wenn er seine Vernunft und ihre Grundgesetze nicht willkürlich außer Kraft setzt. Das tatsächliche, empirische Procedere des Menschen, vielmehr noch die dahinter stehenden Triebkräfte, entzieht sich diesem Reich der Philosophie der Vernunft. Die empirische Welt und die tiefe-



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ren Gründe ihres So-Seins kann sich jedermann nach Gusto ausmalen. Aber: Ich denke mir die Welt letztlich als eine Materialisierung von Vernunft, wie Gott nun umbenannt wird, ist eine epochale Leistung der Aufklärung und so auch ein Schlüssel zur Erkenntnis. Dafür wird zugleich wissentlich und willentlich der Preis gezahlt, die empirische Welt in das Prokrustesbett dieser Deutung zu zwingen.

IV. Die Fracht von hundert Kamelen So beginnt Kant dann auch seine pragmatische Anthropologie mit dem Erkenntnisvermögen. Allerdings gibt er damit keinen Abriss seiner „Kritik der reinen Vernunft“, sondern allenfalls ihrer Grundlagen. Der Mensch bleibt bei allen Veränderungen immer dieselbe Person, weil er im Unterschied zu den vernunftlosen Tieren „in seiner Vorstellung das Ich hat“, also das Selbstbewusstsein. Auch wenn er es nicht artikulieren kann, ist die „Einheit des Bewusstseins“ kraft seines Verstandes gegeben. Kant notiert die Beobachtung, dass ein Kleinkind zunächst von sich in der dritten Person spricht, bevor es das Ich entdeckt. „Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. – Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen“, aber nicht dem Philosophen der Vernunft, hätte die Fortsetzung des Satzes lauten können. Denn die Erklärung folgt schon in der nächsten „Bemerkung“: Dass Kinder erst nach einem Vierteljahr weinen oder lächeln, weist für ihn auf die Entwicklung „gewisser Vorstellungen von Beleidigung und Wohltun (hin), welche gar zur Vernunft hindeuten.“ Wir folgen hier ausnahmsweise in der Zitierung der Textausgabe von Cassirer, der „Wohltun“ statt „Unrechttun“ setzt, weil Letzteres wenig Sinn macht. (B 3 f.) Ebenso beginnt in dieser Phase die Wahrnehmung äußerer Gegenstände, um die Sinneseindrücke allmählich zur Erkenntnis (Anschauung plus Denken) zu erweitern. Weil aber in dieser frühen Entwicklungsphase die Sinneseindrücke noch nicht unter Begriffen organisiert sind, gibt es für den Erwachsenen keine Erinnerung an diese Zeit. Der Verstand, so könnte man sagen, erinnert sich nur an Inhalte, die er selbst bereits bearbeitet hat.

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Das Selbstbewusstsein führt unmittelbar zum Egoismus: „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism anderer), doch verdeckt und mit scheinbarer Selbstverleugnung und vorgeblicher Bescheidenheit, sich desto sicherer im Urteil anderer einen vorzüglichen Wert zu geben.“ (B 6) Dies ist, so scheint mir, eine zentrale Aussage der Anthropologie, klar und apodiktisch. Sie lässt keine Relativierung durch welche Umstände auch immer zu. Auch die scheinbare Selbstlosigkeit steht im Dienste des Egos. Es ist nicht einmal so, dass Kant dies für eine besondere Erkenntnis hält, schon gar nicht, um darauf eine Theorie zu bauen. Es ist einfach und selbstverständlich so wie vieles andere auch, das man am Menschen bemerken kann. Man kann noch weiter gehen und sagen, dass Kant sich dafür auch nicht sonderlich interessiert. Denn sein Geschäft ist die Vernunft, das einzige Heilmittel gegen eine Realität, die sein mag wie sie wolle. In dem üblichen Netz weiterer Begriffe, mit dem Kant einen Hauptbegriff differenziert und erläutert, verwendet er hier drei Formen des Egoismus. Der logische Egoist lässt das Urteil anderer völlig außer Acht und verzichtet damit auf „dieses Mittel, uns der Wahrheit unseres Urteils zu versichern.“ Sogar die Mathematik bedarf der letztlichen Übereinstimmung der Kundigen. Die Philosophie hingegen darf sich zur Bestätigung ihrer „Urteile“ nicht wie die Juristen auf Andere berufen, unterliegt aber wie „jeder Schriftsteller“ dem „Verdacht des Irrtums“, wenn sie „keinen Anhang“ findet. Dem prekären Verhältnis von Wahrheit und Anerkennung widmet Kant noch einen Absatz, der dem „logischen Eigensinn“ eine Lanze bricht, denn nur mit der Orientierung an Mehrheitsmeinungen wäre intellektueller Fortschritt schlechterdings nicht möglich. Er nennt den Widerspruch dagegen eine „Paradoxie“, ein „Wagestück“ und eine „Kühnheit“, wenn der Eigensinn nicht bloß der Eitelkeit dient, „nicht Nachahmer von anderen sein zu wollen“, sondern nur in Kauf nimmt, nicht von allen verstanden zu werden. Die allgemeine Meinung „schläfert ein“, das Paradoxon weckt auf und kann zu Entdeckungen führen. So erscheint der logische Eigen-



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sinn in mildem Licht und ist „von keiner schlimmen Bedeutung.“ (B 7 f.) Als „ästhetischer Egoist“ erscheint der Künstler, der sich um das Publikum nicht schert und „sich selbst Beifall klatscht.“ (B 8) Dass er in einer ähnlich vertrackten Lage wie der logische Egoist sein könnte, erwägt Kant hier nicht weiter. Wie sollte er auch, die modernen Ansprüche der Kunst liegen noch in sehr weiter Ferne. Kunst hat etwas mit Einbildungskraft und Fantasie zu tun, (B 80) nicht mit Wahrheit und Vernunft. Der „moralische Egoist“ verfolgt ausschließlich seine „eigene Glückseligkeit“ und ist bar jeden „echten Pflichtbegriffs … welcher durchaus ein allgemein geltendes Prinzip sein muss.“ All den Formen des Egoismus „kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (B 8) Der kongeniale Partner des Selbstbewusstseins, ein innerer Vorgang, ist der nach außen gerichtete Egoismus. Was aber kann der Mensch noch in sich entdecken? Sich ohne Kontrolle durch den Verstand von seinen inneren Vorstellungen treiben zu lassen „ist entweder schon eine Krankheit des Gemüts (Grillenfängerei) oder führt zu derselben und zum Irrenhause.“ Aber es gibt Vorstellungen, die uns allenfalls mittelbar bewusst sind. Kant nennt sie „dunkele“ im Gegensatz zu „klaren“. „So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen.“ Dies teilt der Mensch mit den Tieren, er ist ihnen passiv ausgeliefert, nicht einmal der Verstand vermag ihn davor zu bewahren, auch wenn er sie als Täuschungen erkennt. Das einzige Beispiel, das Kant hier wählt, ist die „Geschlechtsliebe“, sofern sie nur „den Genuss ihres Gegenstandes beabsichtigt.“ Aber der „unermessliche“ Bereich des Kontrollverlustes gehört für Kant zur physiologischen Anthropologie. Was der Verstand nicht im Griff hat, davon muss der Philosoph schweigen. (B 15 ff.) Bewusste Vorstellungen in Bezug auf Gegenstände ordnen sich und führen zur Erkenntnis, wenn die Abstrahierung von jeweiligen Details zu Begriffen und mit ihrer Hilfe zur Refle­ xion führt. Dies macht das „obere“ oder „intellektuelle“ Erkennt-

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nisvermögen aus, weil es die Aktivität des Denkens einschließt, während die unverarbeiteten Vorstellungen passiv bleiben und als „sinnliches“ Erkenntnisvermögen bezeichnet werden. Wie immer die „Beschaffenheit des Objektes der Vorstellung“ auch sein mag, sei es ein innerer oder ein äußerer Gegenstand, er wird nur so erkannt, wie er erscheint, nicht wie er „für sich allein betrachtet“ auch sein mag. Deshalb kommt es auch auf das Subjekt und seine spezielle „Empfänglichkeit“ an, „darauf das Denken desselben (der Begriff vom Objekt) folgt.“ (B 27 f.) Für die Introspektion des Menschen heißt das natürlich, dass er sich zwar immer als ein und dasselbe Subjekt empfindet, aber auch in sich nichts anderes erkennen kann, als was ihm erscheint. „Das Passive in der Sinnlichkeit, was wir doch nicht ablegen können, ist eigentlich die Ursache alles des Übels, was man ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin: dass er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, dass der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte.“ (B 32) Aber die Sinnlichkeit, wenn man so will, der unmittelbare Kontakt des Menschen zu seiner Umwelt mithilfe der Sinne, scheint nachgerade im Gegensatz zum Verstand zu stehen, der alle eigentlichen Leistungen aktiv vollbringt. Wir haben den Rohstoff der „dunklen“ Vorstellungen, die man auch zumindest zum großen Teil mit Instinkten gleichsetzen kann. Sie werden nicht in das helle Licht des Verstandes getaucht. Und wir haben die Vielfalt der Sinneseindrücke, die den Rohstoff der Verstandesverarbeitung bilden. Aber Kant verschafft ihnen ausdrücklich mit der Ernennung zu einem „Erkenntnisvermögen“ einen gewichtigen Platz, weil Verstand ohne Material schwer vorstellbar ist. Die Sinne repräsentieren gleichsam die Welt in uns, lassen sie uns erscheinen, der Verstand operationalisiert die Welt zur menschlichen Erkennbarkeit. Bleibt folgerichtig noch die Frage: Wenn wir die Welt erkannt haben, was machen wir dann mit ihr? Dafür gibt es – nicht an dieser Stelle – die Vernunft als



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höchste, nicht nächst-höhere Instanz. Damit endet die Hierarchie menschlicher Möglichkeiten. Aber speist der Verstand die Vernunft so wie die Sinne den Verstand als obere Ebene speisen und beherrscht die Vernunft den Verstand so wie er die Sinne beherrscht? Dann müsste analog die Vernunft eine neue Qualität besitzen, so wie der Verstand eine andere Qualität als die Sinne hat. Woher kommt diese neue Qualität (Welt – erkannte Welt – vernünftige Welt)? Kant sieht sich ausdrücklich zur Verteidigung der Sinnlichkeit veranlasst. Dies ist für eine metaphysische Tradition, die sich noch hauptsächlich mit Gott als erster Ursache befasst, eine wichtige Akzentverschiebung, wenngleich keine Premiere. Denn Locke und Hume, Kant bestens bekannt, haben bei der Sezierung des Menschen den Sinnen längst ihren unübersehbaren Platz verschafft. „Die Sinne verwirren nicht“, dies könnte nur der verarbeitende Verstand bewirken. Sie „gebieten nicht über den Verstand“, sondern „bieten sich (ihm) vielmehr nur an“. Und sie „betrügen nicht“, weil sie nicht urteilen, also auch nicht falsch liegen können. (B 32 ff.) Zwar gibt es Blendwerk, Illusion und derlei mehr im eher technischen Sinne, aber auch im moralischen. „Alle menschliche Tugend ist Scheidemünze; ein Kind ist der, welcher sie für echtes Gold nimmt.“ Denn „die Natur hat den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr hinzuleiten.“ So ist der „ehrbare Anstand ein äußerer Schein“ und die „Sittsamkeit ein Selbstzwang, der die Leidenschaft versteckt … als Illusion sehr heilsam, um zwischen einem und dem anderen Geschlecht den Abstand zu bewirken, der nötig ist, um nicht das eine zum bloßen Werkzeuge des Genusses des anderen abzuwürdigen.“ Dies alles sind lässliche Sünden, denn „die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter desto mehr, Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen, weil ein jeder andere, dass es eben hiermit nicht herzlich gemeint sei, dabei einverständig ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in der Welt angeht.“. Ja, die gekünstelten Tugenden werden nach und nach „in die Gesinnung“ übergehen.

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So dient das So-tun-als-ob gleichsam als eine menschlich reduzierte Übergangsform tugendhafter Eigenschaften letztlich doch den Tugenden als tatsächlich vorhandenen Normen. Was im gesellschaftlichen Umgang mit Anderen aktuell nicht möglich ist und einer unbestimmten Zukunft überantwortet wird, sollte der Einzelne sich selbst aber sofort abverlangen, auch wenn er damit gegen das Existenzgesetz verstoßen muss, unter dem Kant ihn hat antreten lassen: „Nur der Schein des Guten in uns selbst muss ohne Verschonen weggewischt, und der Schleier, womit die Eigenliebe unsere moralischen Gebrechen verdeckt, abgerissen werden.“ (B 42 ff.) Je realitätshaltiger die Überlegungen Kants werden, desto schwieriger, ja widersprüchlicher wird die Wahrung der großen Architektur der Aufklärung. Bei genauerem Hinsehen, und dies ist Kant wahrlich nicht abzusprechen, erscheint immer wieder ein Wesen, dessen Natur gänzlich ungeeignet erscheint, nach einem theoretischen Modell zu funktionieren, das sich nicht von dem Rohstoff des Wahrnehmbaren ernährt, sondern von einer Fiktion. Nun, Kant hat hier keine kleine kopernikanische Wende erwogen: Wenn die Vernunft den Menschen nicht wirklich bestimmt, wie wäre es damit, den Menschen die Vernunft so bestimmen zu lassen, dass sie wirklich werden kann? „Die Sinnlichkeit im Erkenntnisvermögen (das Vermögen der Vorstellungen in der Anschauung) enthält zwei Stücke: den Sinn und die Einbildungskraft“, (B 46) wobei Ersterer die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes, Letztere nur seine Vorstellung meint. So kann der Körper durch äußere Dinge wie auch durch das „Gemüt“ affiziert werden. Dieser „innere Sinn“, als dessen „Organ“ auch die Seele bezeichnet werden könnte, kann zu Täuschungen führen, die nur durch einen Bezug zur äußeren Welt „in Ordnung gebracht werden“ können: „Denn nach gerade hält der Mensch das, was er sich selbst vorsätzlich ins Gemüt hineingetragen hat, für etwas, was schon vorher in demselben gelegen hätte, und glaubt, das, was er sich selbst aufdrang, in den Tiefen seiner Seele nur entdeckt zu haben.“ (B 58 f.) Könnte die Vernunft also nicht etwas sein, das der Mensch für sich empirisch entwickelt, und nicht ein überindividuell und über-



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zeitlich vorgegebenes Modell aus eigenem Recht, das Kant in den Tiefen der Welt entdeckt hat? Natürlich gibt es auch bei Kant fünf Sinne, die „von der Natur für das Tier zum Unterscheiden der Gegenstände zubereiteten Eingänge.“ (B 47) Tastsinn, Sehsinn und Gehör sind „mechanisch“ und „mehr objektiv“. Sie „leiten durch Reflexion das Subjekt zum Erkenntnis des Gegenstandes als eines Ding außer uns.“ (B 51) Geschmackssinn und Geruchssinn sind „chemisch“ und „mehr subjektiv“, weil „Salze“ in den Körper eindringen müssen, um den „Körper, der sie ausströmt“, wahrnehmen zu können. In der Rostocker Anthropologiehandschrift findet sich noch die interessante Anmerkung: „Ob nicht wirklich noch ein 6ter Sinn nämlich in Ansehung des Geschlechts anzunehmen.“ (B 56) Bemerkenswert ist auch die Einordnung von Genussmitteln: „Das gemeinste Material derselben ist der Tobak“, eine reine Ersatzhandlung, indem er „die Leere der Zeit statt des Gesprächs mit immer neu erregten Empfindungen … ausfüllt.“ (B 57) Die Anschauung durch die Sinne, das „untere Erkenntnisvermögen“ also, vermag „nur das Einzelne in Gegenständen“ wahrzunehmen. Das „obere Erkenntnisvermögen“ hingegen besteht aus Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Der Verstand ist gleichsam das „untere“ der „oberen“ Erkenntnisvermögen, oder auch das „obere“ der „unteren“ sinnlichen Kenntnisnahme. Ihm kommt eine vorausgesetzte und unverzichtbare Vermittlungsposition zu, die keiner besonderen philosophischen Durchdringung bedarf. Denn der Verstand ist einfach „das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen).“ Der Begriff enthält „das Allgemeine der Vorstellungen, die Regel … der das Mannigfaltige der sinnlichen Vorstellungen untergeordnet werden muss, um die Einheit der Erkenntnis des Objekts hervorzubringen“. (B 116) Dabei geht es nicht um ein „Verfahren“ wie bei den Instinkten der Tiere, die ja auch auf irgendeine Art ihre Umwelt operationalisieren, sondern nur um Begriffe nach Regeln, die der Mensch „selbst macht“ und nicht solche, „nach welchen die Natur den Menschen in seinem Verfahren leitet.“ Natürlich ist damit noch nichts über die Wahrheit der Erkennt-

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nis gewonnen, denn mancher Mensch hantiert mit Begriffen, die bestenfalls Ähnlichkeiten mit dem Objekt formulieren. Der Begriff muss also „Angemessenheit“ aufweisen, „nicht mehr auch nicht weniger, als der Gegenstand erfordert.“ Ist dies der Fall, haben wir den „gesunden“ oder „richtigen“ oder auch „natürlichen“ Verstand, der „unter den intellektuellen Vermögen das erste und vornehmste (ist); weil er mit den wenigsten Mitteln seinem Zweck Genüge tut.“ Er jedenfalls kann durch „Belehrung“ mit Begriffen und Regeln erweitert werden. (B 117 ff.) Für die nächsthöhere Stufe, die Urteilskraft, gilt dies nicht. Sie kann „nur geübt werden.“ Denn Belehrung heißt allgemeine Regeln angeben, und Regeln zur Beurteilung der Richtigkeit von Regeln führen „ins Unendliche“. Also bedarf es „langer Erfahrung“ zur Entwicklung der eigenen Urteilskraft. Ihre Leistung besteht darin, den Einzelfall, das „Besondere“ zu erkennen, sofern der Verstand es ordnungsgemäß unter Begriffen darstellt. Weil der Verstand in Kants Architektur des Erkennens allzu sehr auf die Möglichkeit von Worten mit einem klar definierten Inhalt, also Begriffen, eingeschränkt ist, scheint ihm eine Instanz für komplexere Erscheinungen erforderlich zu sein. Zugleich ist das Erkennen durch den Verstand nur in einem eng begrenzten Feld aktiv, das Beurteilen aber bereits etwas umfassender Aktives. Die Urteilskraft steht „bloß dem gesunden Verstande zur Seite“ und ist das Bindeglied zur nächsthöheren Stufe, der Vernunft. (B 120) Die Vernunft wiederum ist „das Vermögen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere also nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen. – Man kann sie also auch durch das Vermögen, nach Grundsätzen zu urteilen und (in praktischer Rücksicht) zu handeln, erklären.“ (B 120) Die Hierarchie des Denkvermögens erläutert Kant sehr plastisch mit einer gesellschaftlichen Hierarchie. Der „Haus- oder Staatsdiener braucht nur Verstand zu haben; der Offizier … bedarf Urteilskraft; der General … muss Vernunft besitzen.“ (B 119) Von dieser gelinde gesagt problematischen Hierarchisierung des Zentralbegriffes der Aufklärung entfernt sich Kant aber sogleich wieder mit einem anderen Fall, denn „im Moralischen (muss)



IV. Die Fracht von hundert Kamelen227

jeder sein Tun und Lassen selbst verantworten.“ Deshalb darf der Laie in der Religion – „denn das Wesentliche aller Religion ist doch Moral“ – seiner eigenen und nicht der fremden Vernunft des Geistlichen folgen. (B 122) Ergänzt werden diese Definitionen und Illustrationen noch um die Begriffe der „Idee“ und der „Weisheit“. Denn irgendwoher zwischen dem Allgemeinen, dem Besonderen und Prinzipien muss sich ja auch die Vernunft speisen, die als höchste Verarbeitungsform des Empirischen kaum zureichend beschrieben sein kann. „Ideen sind Vernunftbegriffe“ – die sich nicht „adäquat“ auf einen erfahrbaren Gegenstand beziehen – „von einer Vollkommenheit, der man sich zwar immer nähern, sie aber nie vollständig erreichen kann.“ (B 120) Und die „Weisheit als die Idee vom gesetzmäßig vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von den Menschen gefordert“, zumal der Mensch „sie aus sich selbst herausbringen“ muss. Gleichwohl gibt Kant drei Tipps (Maximen), wie man sich der Weisheit annähern kann, die zumindest für die „Klasse der Denker“ zu „unwandelbaren Geboten“ werden müssen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“ (B 167) Und gleichwohl kann der Mensch etwa im zwanzigsten Lebensjahr zum vollständigen Gebrauch seiner Vernunft gelangen, im vierzigsten zur Klugheit (andere Menschen zu seinen Absichten zu brauchen) und etwa im sechzigsten zur Weisheit. Leider pflegt sie hier zu verpuffen, weil sie mehr dazu taugt, die „Torheiten“ der ersten beiden Phasen (also auch des Gebrauches der Vernunft) einzusehen und kaum noch Möglichkeiten lässt, Weisheit zu leben. (B 123) Ganz ohne Zweifel sind diese und auch die folgenden Passagen von den Krankheiten und Talenten des Erkenntnisvermögens (der Witz!) auch heute noch lesenswerte Einzelbemerkungen, eher im Plauderton für eine gelehrte Zuhörerschaft vorgetragen, denen es aber doch an einer systematischen Überzeugungskraft mangelt, wie das Hin und Her zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Allgemeinheit und Besonderem, Empirie und Abstraktion gezeigt haben dürfte. Es scheint – tröstlich genug –,

228

D. Immanuel Kant

als ob der weise alte Kant bei der Drucklegung seiner ungeliebten Pflichtvorlesung über den Menschen, wie er wohl ist, vor lauter Vernunft hier und da ein wenig den Faden verloren hat, als ob sein ansonsten theoretisch sehr angestrengtes Werk in der Konfrontation mit seinem eigentlichen Objekt, einer unmittelbaren Zuhörerschaft, überanstrengt ist. Es bedarf eben der wahren Philosophie, nicht der „gigantischen Gelehrsamkeit“, um „die Fracht von hundert Kamelen durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen.“ (B 164) Da ist sie wieder, die Vernunft als Agent, dem sich alles unterzuordnen hat, auch der Gebrauch des Erkenntnisvermögens, dessen oberster Teil sie doch eigentlich ist. Die Vernunft stellt dem Erkenntnisvermögen und sich selbst drei Fragen: •• „Was will ich? (frägt der Verstand)“ (Anmerkung dazu: „Das Wollen wird hier bloß im theoretischen Sinn verstanden: Was will ich als wahr behaupten“) •• Worauf kommt’s an? (frägt die Urteilskraft) •• Was kommt heraus? (frägt die Vernunft).“ (B 165) Viel poetischer aber sind die Antworten, die Kant kurz darauf gibt: „Der Verstand ist positiv und vertreibt die Finsternis der Unwissenheit – die Urteilskraft mehr negativ zur Verhütung der Irrtümer aus dem dämmenden Lichte, darin die Gegenstände erscheinen. – Die Vernunft verstopft die Quelle der Irrtümer (die Vorurteile) und sichert hiermit den Verstand durch die Allgemeinheit der Prinzipien.“ (B 166) Und ganz zum Schluss dieses ersten Buches der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ wiederholt Kant das Credo seines die Epoche kennzeichnenden Aufsatzes „Was ist Aufklärung?“ aus der „Berliner Monatsschrift“ 1784: „Die wichtigste Revolution im Innern des Menschen ist: ‚der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘.“ (B 167)

E. Das System Kant Kant hat sich in etlichen Schriften mehr oder weniger systematisch dazu geäußert, was er an den realen Menschen beobachtet oder über sie gelesen hat, kurz: was er von ihnen weiß oder hält. Ausführlich haben wir die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755) und die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798) durchmustert. Dazwischen liegt die sogenannte kritische Periode, in der sein philosophiegeschichtlich bis heute bedeutsames Hauptwerk mit den drei großen Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft zwischen 1781 und 1790 erschien. Sie sind jede für sich von reichhaltigem Gedankenmaterial, das auch Veränderungen und Akzentverschiebungen durchmacht, und verfolgen insgesamt einen Plan, auch wenn jede der Kritiken auf den ersten Blick ein selbstständiges Feld zu durchdringen scheint. Der Plan, nach und nach herauskristallisiert und am Ende nicht wirklich eingelöst, ist die Suche nach der philosophischen Weltformel. Philosophisch heißt hier: die Klärung aller menschlichen Angelegenheiten auf einer einheitlichen Grundlage, nicht die Erklärung der Naturphänomene aus den von uns erkannten Gesetzen der Physik. Dabei ist von Menschen im empirischen Sinn kaum je die Rede, obwohl es nur um sie geht, allerdings nicht darum, wie sie sind, sondern ausschließlich darum, wie sie sein müssten, könnten und eines Tages werden sollen: vernünftig. Denn die Vernunft ist das Fenster zu einer besseren Welt als derjenigen, in der wir mit unserem bescheidenen Menschenverstand und allerlei Gebresten wandeln. Das Ziel seiner Überlegungen hatte Kant schon lange vor der Veröffentlichung der ersten Kritik vor Augen, aber wohl noch nicht die Form, in die es gegossen werden sollte. Jedenfalls liest sich die Mitschrift seiner Vorlesung zur Moralphilosophie aus dem Wintersemester 1773 / 74 oder 1774 / 75 wie die vor-

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E. Das System Kant

weggenommene Summe aller Anstrengungen: „Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist die gröste moralische Vollkommenheit, so fern sie durch die Freyheit des Menschen bewerkstelligt wird, wodurch alsdenn der Mensch der grösten Glückseligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen können und jedem die Glückseligkeit ausgetheilt haben, allein alsdenn wäre es nicht aus dem inneren principio der Welt entsprungen, das innere principio der Welt aber ist die Freyheit … Gott will nicht allein, daß wir sollen glücklich sein, sondern wir sollen uns glücklich machen, das ist die wahre Moralität. Der allgemeine Zweck der Menschheit ist die höchste moralische Vollkommenheit, wenn sich nun alle so verhalten möchten, daß ihr Verhalten übereinstimmen möchte mit diesem allgemeinen Zweck, so wäre dadurch die höchste Vollkommenheit erreicht; es muß dahero jeder einzelne sich bemühen sein Verhalten diesem Zweck gemäs einzurichten, wodurch er das seinige dazu beyträgt, daß wenn ein jeder so macht die Vollkommenheit erreicht ist.“ (Vorlesung zur Moralphilosophie, Hrsg. Werner Stark, S. 364 f.) Es sei vorab betont, dass eine sich so eng an die Texte anlehnende Interpretation wie im Falle Humes oder Rousseaus bei Kant nicht möglich ist, ohne jeden Rahmen zu sprengen. Das Material ist zu umfangreich und zu verschlungen, um für unsere Zwecke alle Argumentationen der Kritiken bis ins Detail verfolgen zu können. Gleichwohl soll das Gerüst hinreichend genau erkennbar werden und als Einführung in die drei Kritiken dienen können, die ja kaum noch – wenigstens in Umrissen – Teil eines allgemeinen Bildungskanons sind. Aber darum geht es auch gar nicht, sondern darum, was Kant heute zu einer Präzisierung von Positionsbestimmungen beitragen kann. Wie kann ich mich selbst – und damit Andere – begreifen, wie funktionieren wir im gesellschaftlichen Zusammenhang und warum so und nicht anders? Die Kritiken machen es nicht leicht, den Blick auf diese Fragen zu richten. Denn ihr Ausgangspunkt ist nicht der gute Mensch in seinem dunklen Drange (Goethe), sondern die Vernunft, die wie einstmals Gott über ihm schwebt, aber dem Mensch auch zuteilwerden kann, ja muss. Sie ist ein eigenes Reich und zugleich konstitutiv für den Menschen. Man



I. Kritik der reinen Vernunft231

kann es sich vielleicht so vorstellen: Ein Land zum Beispiel kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren und darstellen, historisch, geografisch, soziologisch, ökonomisch, ohne damit seine Einwohner als Individuen zu charakterisieren. Aber alle allgemeinen Faktoren haben unweigerlich auch den Einzelnen geprägt und sind ein wesentlicher Teil seiner Individualität. Aus dieser empirischen Individualität aber umgekehrt den tatsächlichen Zustand des Landes ablesen zu wollen, dürfte kaum gelingen. Die Vernunft Kants ist keine Instanz, mit deren Hilfe wir hier unten auf Erden dies oder das ein wenig besser machen könnten, sondern sie schreibt uns alternativlos aus Prinzipien vor, wie wir die Welt sehen und wie wir uns verhalten müssen, auch wenn wir es nicht glauben wollen. Das allerdings interessiert die Vernunft mit ihren ehernen Gesetzen in ihrem abstrakten Reich überhaupt nicht, aber uns umso mehr. Wenn wir Kant verstanden haben oder dies zumindest glauben, was haben wir dann verstanden? Kant? Uns selbst? Die Welt?

I. Kritik der reinen Vernunft Dieses zweifellos bis heute überaus bedeutsame Exerzierfeld der Philosophie erschien zweimal mit verschiedenen Vorworten und etlichen Veränderungen: 1781 und 1787. Ziemlich allgemein bekannt ist die Formel Kants, er wolle es einmal in Analogie zur Erkenntnis des Kopernikus – der die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt verbannt hat – damit versuchen, ob die Gegenstände sich nicht überhaupt nach unserer Erkenntnisfähigkeit richten und nicht umgekehrt, wie bis dato allgemein angenommen. Und wohl noch bekannter ist das ominöse „Ding an sich“, das allerlei Rätsel aufzugeben scheint. So wurde die Kritik – was nichts weiter bedeutet als systematische Darstellung und Erörterung – dann auch bis heute überwiegend als Erkenntnistheorie wahrgenommen, die nur für eine wissenschaftstheoretische und philosophische Auseinandersetzung im engeren Sinne interessant ist. Tatsächlich aber ging es Kant um etwas anderes, allerdings auf verschlungenen Wegen, die ihn über die „Kritik der prakti-

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E. Das System Kant

schen Vernunft“ (1788) – die „reine“ konnte offensichtlich nicht alle Fragen beantworten – und die „Kritik der Urteilskraft“ (1790) – die auch noch Fragen zurückließ – zu einem Endpunkt schlichter Schönheit im letztgenannten Werk gelangen ließ, der aber auch nur ein Abbruch des Weges war. Denn zum „Opus postumum“ gibt es Notizen, aber keine Fertigstellung und damit keine Publikation mehr. Und, so darf vermutet werden, hätte Kant weit länger geistig frisch gelebt, er hätte auch hiermit sein höchstes Ziel nicht völlig befriedigend erreicht: die philosophische Weltformel, die alles erklären kann. Die drei Kritiken streben für sich und als Gesamtkomplex betrachtet jeweils einem höchsten Punkt zu, der absolute Geltung beansprucht. Und dies ist die Beantwortung der Sinnfrage: Was kann und soll ich – jedes Ich auf Erden – aus meinem Leben machen? Nicht einfach mit ein paar philosophisch verkleideten Tipps – „sei einfach ein guter Mensch“ –, sondern aus unserer Begabung zur Vernunft zwingend hervorgehend. Dies wirft natürlich eine Fülle von Fragen auf. Die wichtigste scheint mir: Was ist diese Vernunft mit ihren Gesetzen im Vergleich zum tatsächlichen Verhalten der Menschen, über das uns Kant ja keineswegs im Unklaren gelassen hat? Angenommen, mein Ich genügt dieser Philosophie, was aber ist mit den Anderen, die es offenkundig nicht tun, obwohl sie es müssten, weil sie doch auch per definitionem über Vernunft verfügen? Muss ich dieser Philosophie genügen oder diese Philosophie mir? Ist der Mensch als eine Schablone aus philosophiegeschichtlichen Zutaten oder doch eher nur aus empirischen Verhaltensweisen zu entziffern? Die „Kritik der reinen Vernunft“ beginnt mit der Feststellung, dass alles, was wir wissen, mit der sinnlichen Erfahrung beginnt, aber erst durch davon völlig unabhängige, immer bereit liegende Verarbeitungsprinzipien unseres Verstandes und unserer Vernunft zu unserem Wissen wird. Die Verarbeitungsprinzipien, mit denen wir die Welt der sinnlichen Eindrücke zu Erkenntnissen ordnen, nicht etwa die Welt selbst, sind aber nur notwendige Vorüberlegungen zum eigentlichen Thema der Kritik. Denn wir reagieren ja nicht nur auf unmittelbare Wahrneh-



I. Kritik der reinen Vernunft233

mungen, sondern denken auch in übergreifenden Zusammenhängen und Begriffen, die wir empirisch gar nicht wahrnehmen können. Solche höchsten und abstrakten Begriffe, an deren Bedeutung wir für Kant mit unserer Vernunft ein ureigenes Interesse haben, sind „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.“ (B 7) Es kann nicht überraschen, dass die Vernunft am Ende alle drei in ihr Regelwerk eingliedern wird, aber mit sich selbst als oberstem Gesetzgeber. Die Wissenschaft, die sich mit diesen letzten Themen ohne empirische Beweisbarkeit befasst, ist traditionell die „Metaphysik“, die bis dato auf der Ebene bloßer Behauptungen operiert und deshalb nach Kants Auffassung auf eine neue Grundlage gestellt werden muss. Und diese Grundlage ist die Analyse dessen, was wir ganz generell im Zusammenspiel unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes überhaupt erkennen können und was nicht. In einem schönen Bild sagt Kant, dass es einem sonst wie der Taube gehen könnte, die im freien Fluge den Widerstand der Luft fühlt und deshalb denken könnte, „dass es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen könnte. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstand so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.“ (B 8) Der Weg zu einer solchen Wissenschaft setzt Klarheit über die Bedeutung der Begriffe voraus, die allgemeine Vorstellungen aus der Gemeinsamkeit verschiedener Objekte (sprachlich) abbilden. So gelangt man bereits zu grundlegenden, von vornherein und immer gültigen Feststellungen – Erkenntnissen a priori in Kants Terminologie –, wenn sie notwendigerweise und allgemein anerkannt definiert sind. Kant interessiert sich nicht dafür, wie Sprache und damit allgemeingültige Begriffe für Gegenstände entstanden sind, sondern setzt ihre Existenz als Leistung der überzeitlichen Vernunft voraus. Damit befinden wir uns noch auf der Ebene eines sehr einfachen Umgangs mit der Welt, mit dem unsere Vernunft sich nicht zufrieden gibt. Also „erschleicht die Vernunft, ohne es selbst zu merken … Behauptungen von ganz anderer Art, wo die Vernunft zu gege-

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E. Das System Kant

benen Begriffen ganz fremde und zwar a priori hinzu tut, ohne dass man weiß, wie sie dazu gelange …“ (B 10) Dies sind die synthetischen Urteile a priori, für Kant der Schlüsselbegriff des erkenntnistheoretischen Gehalts der „Kritik der reinen Vernunft.“ „Alle Körper sind ausgedehnt“, lautet das Beispiel Kants. Es ist eine Feststellung – in Kants Terminologie ein analytisches Urteil – über den Begriff Körper, den man sich ohne seine Räumlichkeit nicht denken kann. Man braucht dazu keine praktische Erfahrung mit irgendeinem gegenständlichen Körper. „Alle Körper sind schwer“ dagegen fügt dem Begriff etwas hinzu, was sich nicht aus dem Kernbegriff zwingend ergibt und wird synthetisches Urteil im Sinne eines Erläuterungs- oder Erweiterungsurteils genannt. (B 11) Dazu bedarf es der Erfahrung mit einem oder mehreren Körpern, aus denen ich schließe, dass sie alle ein Gewicht haben. Alle Erfahrungsurteile sind synthetisch, enthalten also den Kernbegriff und eine empirische Wahrnehmung. Synthetische Urteile a priori, also schlechthin und immer gültige Feststellungen von einiger Komplexität, können dagegen nicht im Reich der Erfahrungen kontrolliert werden, weil sie abstrakt und ohne letztlich beliebige konkrete Erscheinungen die entscheidenden Elemente unseres Verstehens der Welt sind. Mit dem Beispiel: „Alles, was geschieht, hat eine Ursache“, (B 15) erläutert Kant den nichtempirischen Gehalt dieser synthetisch-apriorischen Behauptung. Es handelt sich offenkundig um einen Prozess, über dessen Ausgangs- und Endpunkt ich jeweils analytisch etwas aussagen kann, aber die hergestellte Verknüpfung ist etwas anderes als die wahrnehmbare Verschiedenheit von Ausgangs- und Endpunkt und muss also im Verstand bereitliegen. Und gegen Hume, dass unser Verständnis von Ursache nur eine Verallgemeinerung von Erfahrungen sei, wendet Kant ein, dass der reine Vernunftgebrauch aus eigenem Recht mit Allgemeinheit und Notwendigkeit dem Prozess den Begriff Ursache zuordnet. „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ (B 20) lautet die erkenntnistheoretische Schlüsselfrage Kants. Warum?



I. Kritik der reinen Vernunft235

Weil erst dann, wenn die Struktur komplexer Tatsachenbehauptungen entschlüsselt ist, wenn die Möglichkeiten unserer Vernunft durchschaut sind, mit ihren Prinzipien a priori zu zweifelsfrei vernünftigen, also von allen anerkennbaren Wahrheiten zu gelangen oder eben auch nicht, wir uns unserer Welt sicher sein können. Kants Antwort auf seine Schlüsselfrage soll hier nicht verschwiegen werden: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“ (B 197) Regeln und Grundsätze des Verstandes sind mit der Existenz von Gegenständen oder Sachverhalten so verbunden, dass sie für uns Gültigkeit besitzen können. Belassen wir es dabei. Die Antwort ergibt sich auch aus der Motivation Kants, die Schwäche des Rationalismus – die Erkenntnisse werden nur definiert – und die Schwäche des Empirismus – nur was tatsächlich erfahren wird, zählt – aufzulösen. Das synthetische Urteil a priori ist die Kompromissformel, die von beiden großen philosophischen Strömungen etwas enthält. Es bleibt philosophiegeschichtlich interessant, setzte sich aber nicht als Zentralbegriff durch. Das Ziel ist, die Metaphysik durch die Kritik der reinen, also nicht mit den unendlichen Einzelfällen des Lebens belasteten Vernunft, auf eine allgemein verbindliche Grundlage zu stellen. Zumal „wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation (über die letzten Dinge, VB) erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben.“ (B 21) Sobald, nicht sofern. Irgendwann in seinem Leben wird sich jeder Mensch, weil er mit Vernunft ausgestattet ist, mit letzten Fragen nach dem Sinn des Lebens konfrontiert sehen, ganz gleich, welche Mechanismen er entwickeln mag, sie nicht zu beantworten oder sich nur dem Alltag zu verschreiben. Bei der „Kritik der reinen Vernunft“ handele es sich aber nur um Vor­ überlegungen zu einer Transzendental-Philosophie, die sich mit unserer Erkenntnisart, nicht den zu erkennenden Gegenständen selbst befasst, so Kant. Sie zielt nicht auf eine Erweiterung unserer konkreten Erkenntnisse, sondern vornehmlich auf die Beseitigung von grundsätzlichen Irrtümern über das Leistungs-

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E. Das System Kant

vermögen unserer Vernunft und konzentriert sich auf die „Stammbegriffe“ und die unverzichtbaren Prinzipien synthetischer Urteile a priori. So gehören die „obersten Grundsätze der Moralität“, die zwar gleichfalls apriorisch aus der Konstitution unserer Vernunft erwachsen, nicht zu einer Transzendental-Philosophie, weil diese Grundsätze nicht an empirischen Phänomenen vorbeikommen. Denn alle Handlungsmotive wie Lust und Unlust, Begierden und Neigungen beziehen sich auf Gefühle, nicht auf die Vernunft, und müssen in einem „System der reinen Sittlichkeit“ als Hindernis oder Anreiz behandelt werden. (B 27 ff.) So weit der Vorgriff Kants auf die Notwendigkeit einer „Kritik der praktischen Vernunft“ in der Einleitung zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft.“ Letztere ist, jeweils vielfach untergliedert, in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre unterteilt. Erstere hat in der zweiten Auflage 732 Seiten, letztere 152. Kant fasst am Ende der Elementarlehre deren Aufbau zusammen: „So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauung an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.“ (B 730) Einige Hinweise zu diesem Basisteil der Kritik sollen hier genügen. Der spannendere Kant für unsere Zwecke beginnt mit dem zweiten Teil, der danach fragt, was der erste letztlich bedeuten kann.

II. Wie es scheint Es gibt „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis …, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.“ (B 30) Die Vernunft als oberstes Erkenntnisvermögen kommt später ins Spiel. Die Sinne vermitteln uns Vorstellungen von einzelnen Gegenständen, die wir als Begriffe denken. Prinzipien der Erkenntnis a priori sind Raum und Zeit. Ohne diese Ordnungskategorien in unserem Verstand, nicht in den Gegenständen der Wahrnehmung, könnten wir gar nichts erkennen, weil wir Raum und Zeit selbst nicht „anschauen“ können. Sie sind „Anschauungsformen“, in denen wir



II. Wie es scheint237

Gegenstände als „Erscheinungen“ wahrnehmen, also nur so, wie sie sich unseren Sinnen präsentieren. Alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, hat als Minimalvoraussetzung, dass es irgendwann irgendwo sein muss. Die Grundsätze unseres Verstandes antizipieren die Erfahrung (B 790) und machen sie so erst zu einer Erkenntnis. Was es mit den „Dingen an sich selbst“, (B57) „Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit (für eine Bewandtnis) haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.“ (B 60) Das heißt nun nicht, dass die wahrgenommenen Gegenstände nur „bloßer Schein“ (B 69) sind, sie also gar nicht wirklich existieren. Es heißt, dass sie uns nicht aus sich heraus vorgeben, was sie sind, sondern nur, dass die eigenen Kapazitäten unseres Verstandes bestimmen, was sie für uns als Vernunftwesen sind. Es darf allerdings nicht unbeachtet bleiben, dass Kant beim mäandern durch verschiedene Begründungszusammenhänge nicht immer eindeutig bleibt. So gibt es denn auch im Überschwang seiner epochemachenden Erkenntnis – der sogenannten kopernikanischen Wende – in der ersten Auflage der Kritik den Satz: „Das Reale äußerer Erscheinungen ist also wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein.“ (A 376) Allerdings löst sich bei der Betrachtung der transzendentalen Aufgaben der Vernunft das Rätsel des „Ding an sich“ als das nicht oder noch nicht erkannte auf einfache Weise: Es gibt da draußen eine reale Welt mit Eigenschaften, die wir nur nicht alle entziffern können. Denn „in der Naturkunde (gibt es) eine Unendlichkeit von Vermutungen, in Ansehung deren niemals Gewißheit erwartet werden kann, weil die Naturerscheinungen Gegenstände sind, die uns unabhängig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns liegt, und eben darum in vielen Fällen nicht aufgefunden werden kann.“ (B 509) Wie das? Es ist für Kant kein Widerspruch, so von den Gegenständen selbst zu reden, wohingegen die Kritik sich nur mit dem Ursprung der Begriffe in ihrer reinen, abstrakten Form befasst und ohne jede Konkretheit auskommen muss, eben weil sie reine Vernunft ist. Und da kann der Verstand mit Erschei-

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E. Das System Kant

nungen nach Regeln hantieren, nicht aber mit dem Ding an sich als einem verbleibenden Rest. Mit der Wende zum subjektiv Bedingten jeder Erkenntnis hat Kant die Grundlage für weitere Schritte zur Orientierung der Weltsicht vom Subjekt aus gelegt. Wenn wir schon die Welt nach autonomen Prinzipien in uns selbst betrachten, warum soll sich dann nicht auch unser Verhalten, bestimmt von Freiheit und Moralität, aus Prinzipien in uns selbst und nicht nach äußeren Vorgaben speisen? Werden wir von allerlei Zwängen aus unserer Umwelt in einem bestimmten Sinne automatisiert oder bleibt uns ein großes Maß selbstgesetzter Freiheit? Was aber macht das Subjekt zwischen Außen- und Innenwelt aus? Für Kant ist dies keine Frage nach der Funktionsweise konkreter Individuen, sondern eine Frage an die Vernunft, Unterabteilung Verstand, wie sich unsere Wahrnehmung mit den vorgegebenen Strukturbegriffen unseres Verstandes zu einer Erkenntnis von Gegenständen vereinigt. Es ist nicht einfach so, dass wir vielfältige Wahrnehmungen eines Gegenstandes wie Form, Farbe, Geräusch, Temperatur munter mit Begriffen assoziieren, die unser Verstand schon hat, und zu dem Ergebnis kommen: In dem Zimmer steht ein Tisch. Wie beziehen sich apriorische, von jeder Empirie freie Begriffe der Sinnlichkeit wie Raum und Zeit und die anschließend als Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität gesetzten Verstandesbegriffe auf Gegenstände, letztlich also die Form der Erkenntnis auf die Materie der Erkenntnis, damit es eine Erkenntnis werden kann? Das Herstellen der Verbindung des „Mannigfaltigen“, Kants „Synthesis“, entspringt nicht dem Element Wahrnehmung und nicht dem Element reiner Verstandesbegriffe, sondern der Vorstellungskraft unseres Verstandes. Aber dem Vorgang der Verbindung, dem Zusammenfassen von Verschiedenen zu einem neuen Ergebnis, muss ein höheres Prinzip zugrunde liegen, nämlich die Einheit. „Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen.“ (B 131) Einfacher gesagt: Die vielen Details müssen sich sinnvoll zu einem Ergebnis sortieren lassen. Da wir uns hier im Bereich der „Transzendentalen Deduk­ tion“, also einer argumentativen Rechtfertigung der Bedingungen



II. Wie es scheint239

für die Möglichkeit von etwas befinden, haben wir mit dieser Darstellung einer ergebnisorientierten Assoziationskette das Ende noch nicht erreicht. Denn alle diese Schritte setzen eines voraus: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt, was gar nicht gedacht werden könnte …“ Als Akt der Spontaneität denke ich zugleich, dass ich denke. Ich bin mir dessen notwendig bewusst. Dies ist das ursprüngliche Selbstbewusstsein, oder in Kants Terminologie die „ursprüngliche Apperzeption“ oder die „transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.“ (B 132 f.) Nur dadurch, dass ich die Vielfalt der Inhalte meines Bewusstseins begreife, werden sie „meine Vorstellungen“. Allerdings argumentiert Kant später im Kapitel über die Fehlschlüsse (Paralogismen) der Vernunft, dass mein Denken mir nicht als Anschauung wie andere Vorstellungen auch gegenübertritt, weil das Denken dann etwas Gegenständliches sein müsste, für das die Verstandesoperationen zuständig sind. Das Denken, nunmehr die „Seele, oder das denkende Ich“, (A 352) ist empirisch nicht fassbar, sondern nur eine notwendige transzendentale Idee. Jedenfalls ist diese Fähigkeit meines Verstandes, die apriorische Verbindung des Mannigfaltigen zur Einheit in meinem Selbstbewusstsein zu bringen, das „oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs.“ (B 136) Es konstituiert für mich die Objekte der Betrachtung oder des Nachdenkens überhaupt erst und ist „allein objektiv gültig.“ Allerdings ist dies ein von allen Wirklichkeiten befreites reines Modell des Erkennens, das im tatsächlichen Vollzug durch empirische Menschen sehr wohl weit entfernt von einer objektiven Erkenntnis landen kann. „Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Worts mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewusstseins in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend.“ (B 140) Die Objektivität des Prozesses ist die Voraussetzung der Subjektivität des Ergebnisses. Diese Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt bedeutet zugleich: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und

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E. Das System Kant

würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ (A 125) Für Kant ist es zweifelsfrei so, dass die Natur zwar ihren eigenen Gesetzen folgen mag, aber die Möglichkeiten unseres Verstandes gleichsam die äußerste Grenzen dessen bilden, was wir entdecken können. Das Ding an sich findet sich weit jenseits der Regeln, mit denen unser Verstand ausschließlich arbeiten kann. „Es ist also der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung vor die Natur, d. i. ohne Verstand würde es überall nicht Natur, d. i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinung nach Regeln geben: denn Erscheinungen können, als solche (nicht die Gegenstände! VB), nicht außer uns stattfinden, sondern existieren nur in unserer Sinnlichkeit. Diese aber, als Gegenstand der Erkenntnis in einer Erfahrung, mit allem, was sie enthalten mag, ist nur in der Einheit der Apperzeption möglich. Die Einheit der Apperzep­ tion aber ist der transzendentale Grund der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in einer Erfahrung. Eben dieselbe Einheit der Apperzeption in Ansehung eines Mannigfaltigen von Vorstellungen (es nämlich aus einer einzigen zu bestimmen) ist die Regel und das Vermögen dieser Regel der Verstand. Alle Erscheinungen liegen also als mögliche Erscheinungen eben so a priori im Verstand, und erhalten ihre formale Möglichkeit von ihm. Wie sie als bloße Anschauungen in der Sinnlichkeit liegen, und durch dieselbe, der Form nach, allein möglich sind.“ (A 126 f.) Und, weil es sich um den Kerngedanken der Kritik handelt, noch einmal wenige Seiten später am Ende der transzendentalen Deduktion: „Reine Verstandesbegriffe sind also nur darum a priori möglich, weil unser Erkenntnis mit nichts, als Erscheinungen zu tun hat, deren Möglichkeit in uns selbst liegt, deren Verknüpfung und Einheit (in der Vorstellung eines Gegenstandes) bloß in uns angetroffen wird, mithin vor aller Erfahrung vorhergehen, und diese der Form nach auch allererst möglich machen muss.“ (A 130) Die anfängliche Frage, ob sich die Gegenstände nicht eher nach uns richten müssen als wir nach ihnen, ist damit eindeutig beantwortet. Ohne uns Menschen



II. Wie es scheint241

gäbe es sie gar nicht, aber weil es uns gibt, gibt es auch sie. Das allerdings darf man sich nicht individualisiert vorstellen, denn es wäre kaum zu glauben, dass der Baum vor meinem Fenster aufhört zu existieren, wenn ich nicht mehr existiere. Es ist eben die überindividuelle Vernunft, welche die – natürlich auch individuelle – Konstituierung der Welt möglich macht. Letztlich heißt dies nur, dass es ohne das Vernunftwesen Mensch keine Welt gäbe. Zumindest keine, über die sich irgendjemand nach Art der Menschen Gedanken machen könnte. Ganz nebenbei wird hier auf der Ebene des Verstandes die Grundlage für die Beantwortung der unabweisbaren Frage der Vernunft nach Gott gelegt. Die Gegenstände der Sinne sind nur möglich, weil sie unauflöslich mit unserem apriorischen Denken verbunden sind und umgekehrt. Dazu muss es aber zunächst einen neutralen Allgemeinbegriff für den materiellen Inhalt aller Erscheinungen geben, der dann jeweils für konkrete Gegenstände herunterdefiniert werden kann. Schon der Verstand setzt in der Gegenstandserkenntnis etwas Abstraktes als Bedingung der Möglichkeit des Konkreten voraus. Folglich werden wir dazu neigen, „dies für ein transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt“ zu halten und uns „ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält“ und „an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht …“ (B 610 f.) Mit einer solchen Verdinglichung einer gedachten obersten Ursache greift der Verstand allerdings viel zu kurz – im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten verständlich – und muss das Eingreifen der Vernunft abwarten, die mit Ideen „zur Vollendung des empirischen Vernunftgebrauchs“ (B 593) und darüber hinaus hantiert. Bis hierher ist für Kant geklärt, wie der Verstand nach eigenen Regeln grundsätzlich Erkenntnisse über Gegenständlichkeit aller Art produziert. Es ist aber nicht geklärt, wie er diese Regeln treffsicher auf konkrete Gegenstände anwendet. Dazu bedarf es neben Sinnlichkeit und Verstand eines weiteren Erkenntnisvermögens, der Urteilskraft, die zwischen den beiden anderen fungiert. Wir erwähnen diesen umfänglichen Abschnitt hier nur, weil später noch Kants „Kritik der Urteilskraft“ folgt, die sehr

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E. Das System Kant

viel weiter reichende Überlegungen anstellt als nur erkenntnistheoretische Schemata und Grundsätze anzubieten. Nur so viel in aller Verkürzung an einem Beispiel Kants: Aus dem Begriff „Hund“ schafft meine Einbildungskraft einen Prototyp, mit dem erst ich in der Lage bin, jenes Untier, das mich gerade anbellt, als solchen zu erkennen. Diese Produktion eines Prototyps „ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jeweils abraten …“, (B 181) die aber doch transzendetal-philosophisch zergliedert und mit den Verstandeskategorien in Beziehung gesetzt werden können. Ein gutes Drittel der „Kritik der reinen Vernunft“ hat Kant auf die vorbereitende Grundlegung für sein eigentliches Interesse, die Entzifferung der Vernunft, verwandt. Mit der Ästhetik (sinnliche Wahrnehmung in Raum und Zeit) und der Analytik (Verstandesbegriffe und -operationen) haben wir hochkomplex den Bereich durchmessen, der uns unsere Alltagstauglichkeit erklären will. Wir wissen zwar nichts vom Ding an sich, aber, immerhin, was ein Hund ist: ein abstrakter Sammelbegriff für eine Fülle sehr verschiedener Vierbeiner mit ein paar gemeinsamen Merkmalen, den die Ordnungsleistung unseres Verstandes aus eigener Kraft hervorbringt. Wir selbst erkennen dies und uns selbst dadurch als denkende Person. Der Hund, der auf der Straße bellt, hat uns niemals verraten, dass er ein Hund sein will. Er ist nur einfach (im doppelten Sinne als einer und ohne unser Zutun) da wie andere Phänomene auch. Kant ist nun systematisch da angekommen, wo Hume mit seinem ersten Traktat „Über den Verstand“ gut vierzig Jahre vorher geendet hat. Aber Hume hat keine zwingende letzte Sicherheit dafür gefunden, dass alles so ist, wie es ihm scheint. In einem Meer der Verzweiflung sieht er sich auf einem „öden Felsen“ und denkt doch daran, auf seinem lecken Schiff weiter die Erde zu umschiffen. Er wendet sich dann im zweiten Traktat den Affekten zu. Genau diese maritime Metaphorik benutzt – nicht zufällig – Kant, um das eigentliche Reiseziel anzusteuern: die Vernunft. Das Land des reinen Verstandes ist nur „eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen



II. Wie es scheint243

eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“ (B 294 f.) Hier blitzt fast ironisch ein kleiner Schuss Skepsis auf, zumal es gleich darauf heißt, es wäre den ganzen Aufwand nicht wert, nur den empirischen Gebrauch des Verstandes dargelegt zu haben, der sich auch ohne diese „subtile Nachforschung“ so abspielen würde. Wir können auch ohne die Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ zu einer zutreffenden Vorstellung vom Hunde gelangen. Aber wir wollen sehr viel mehr wissen, als die Verstandesregeln mit Kategorien, Anwendungsschema, Grundsätzen und der Urteilskraft dazu hergeben, das Allgemeine mit dem Besonderen zu verbinden. Niemals kann der Verstand allein, die kleine Insel im Meer unserer Erkenntnisinteressen, über konkrete Erscheinungen hinaus gehen. Das Regelwerk zeigt nur, wie er überhaupt ein Objekt gleich welcher Art identifiziert. Und Kant hat natürlich eine Lösung, indem er das Verfahren neu eröffnet und für Vorstellungen frei macht, die sich nicht unmittelbar auf empirische Gegenstände beziehen. Denn in abstrakten Begriffen wie Freiheit liegt unser eigent­ liches Erkenntnisinteresse. Die Erscheinungen, deren Verarbeitung bis hier der Fixpunkt unsere Verstandes waren, heißen nun „Sinnenwesen (phännomena).“ Alle zweifelsfrei vorhandenen Vorstellungen, die sich nicht auf empirische Gegenstände beziehen, heißen „Verstandeswesen (noumena).“ (B 306 f.) Wir können der Einfachheit halber von – wahrnehmbaren – Phänomenen und – abstrakten – Gedanken sprechen. Wenn unser Verstand ein Phänomen bearbeitet, macht er sich zugleich eine Vorstellung „von einem Gegenstande an sich selbst“ und vermeint, sich auch davon einen Begriff nach den Verstandesregel machen zu können. Das aber kann er nicht leisten, weil er nur dem Gegenstand als Er-

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E. Das System Kant

scheinung, nicht als Ding an sich, gewachsen ist. Dazu bedarf es einer anderen, nicht-sinnlichen Anschauungsform, die uns „eine Welt im Geiste“ (A 255) zugänglich macht. Deshalb ist Noumenon keinesfalls der willkürliche Begriff für eine abstrakte Gedankenwelt, sondern nur ein „Grenzbegriff“ (B 311) für die eher bescheidene Welt des Verstandes. Der Verstand selbst schränkt sich auf die Beherrschung der Sinnlichkeit ein. Da wir aber nach höheren Erkenntnissen streben und also „die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes “ spüren und für objektiv halten, haben wir „es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion“ zu tun, objektiv etwas über die „Dinge an sich selbst“ zu wissen. Dieser „Schein“ objektiver Erkenntnisse entsteht nicht etwa durch falsche Anwendung der Verstandesregeln oder unangemessene Urteile, sondern hängt „der menschlichen Vernunft unhintertreiblich“ an. Hier kommt erstmalig die Vernunft ins Spiel. Denn sie, „subjektiv als menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet“, verfügt über Grundregeln ihres Gebrauchs, welche „gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben“ und den Verstand gleichsam auf die nächst höhere Ebene locken, für die er aber nicht geschaffen ist. (B 353 f.) Die Vernunft wird also verblüffenderweise als Produzentin von Scheinerkenntnissen eingeführt. So wie die „Kritik der reinen Vernunft“ die Grenzen des Verstandes gezeigt hat, besteht ihr Geschäft auch darin, die Grenzen der Vernunft zu zeigen. Und neuerlich einen Ausweg zu finden. „Kritik“ erweist sich also durchaus auch im heutigen Sinne des Wortes als Vorwurfshaltung. Beide leisten nicht, was man ihnen gemeinhin unterstellt. „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.“ (B 355) Was also leistet die Vernunft im Unterschied zum Verstand? „Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen).“ (B 368) Der Verstand schöpft seine Erkenntnisse aus Begriffen und nach Regeln, die Vernunft beruht aber „auf bloßem Denken“ nach



II. Wie es scheint245

Prinzipien – einer höherwertigen Form von Regeln –, welche die Grundlage der Einheit der Verstandesregeln bilden und somit komplexere Erkenntnisse als nur eine adäquate Gegenstandswahrnehmung möglich machen. Die Vernunft ist aber kein Sammelsurium von allerlei obersten Regeln für den Verstandesgebrauch, die unserer Gegenstandserkenntnis die letztgültige Form gibt, sondern als reine Vernunft unvermeidlich auf der Suche nach dem Prinzip der Prinzipien, der höchsten Einheit des Denkens. Da Regeln die Bedingungen für untergeordnete Regeln definieren und so ein Regelkreis entsteht, sucht die Vernunft zwangsläufig das Unbedingte als letzte Instanz. Das Unbedingte, der absolute Maßstab für alles Denken und Erkennen, schwebt über allen Erscheinungen und Erfahrungen, die es doch reflektiert und beurteilen kann. Einstweilen ist die reine Vernunft in den ihr zugehörigen Begriffen darstellbar, die bei Kant transzendentale Ideen heißen. „Ich verstehe unter Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogenen Vernunftbegriffe transzendentale Ideen. Sie sind Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher notwendigerweise auf den ganzen Verstandesgebrauch.“ (B 383 f.) Was heißt hier Natur der Vernunft? Ist damit ihr Wesenskern gemeint oder die Möglichkeit, dass die Natur im Zuge der Evolution die Vernunft entsprechend ausgestattet hat? Ideen entspringen der selbstschöpferischen Kraft der Vernunft, hat Kant hier zweifelsfrei gemeint. Das ergibt sich bereits aus dem Diktum der Einleitung, wir schrieben kraft unserer Vernunft der Natur deren Gesetze vor. Man könnte den letzten Satz aber auch gegen Kant missverstehen, die Natur schreibe unserer Vernunft vor, wie sie zu funktionieren habe, indem sie zum Beispiel Ideen entwickele, die für den Umgang mit Natur und darauf fußend Gesellschaft angepasst und nützlich seien. Wie gesagt, ein solcher evolutionärer Gedanke liegt Kant fern. In

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E. Das System Kant

der „Kritik der Urteilskraft“ – dies als kleiner Vorgriff – wird der ja durchaus nahe liegende Gedanke, die Natur allgemein bestimme unsere menschliche Natur und damit unsere Kultur, ausführlicher diskutiert und durch die Teleologie, die Zweckbestimmtheit allen Daseins, versuchsweise aufgelöst. Gleich darauf macht Kant selbst einen Vorgriff auf die noch nicht geschriebene „Kritik der praktischen Vernunft“ und skizziert das Verhältnis von Idee als Abstraktum und ihrem Erscheinen in der Wirklichkeit: „… weil es im praktischen Gebrauch des Verstandes ganz allein um die Ausübung nach Regeln zu tun ist, so kann die Idee der praktischen Vernunft jederzeit wirklich, obzwar nur zum Teil, in concreto gegeben werden, ja sie ist die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft. Ihre Ausübung ist jederzeit begrenzt und mangelhaft, aber unter nicht bestimmbaren Grenzen, also jederzeit unter dem Einflusse des Begriffs einer absoluten Vollständigkeit. Demnach ist die praktische Idee jederzeit höchst fruchtbar und in Ansehung der wirklichen Handlungen unumgänglich notwendig. In ihr hat die Vernunft sogar Kausalität, das wirklich hervorzubringen, was ihr Begriff enthält …“ (384 f.) Die Vernunft nötigt also den praktischen Verstand, ihrem höchsten Begriff – dem 1781 noch nicht formulierten kategorischen Imperativ – zu folgen, kann es aber nicht wirklich erzwingen. Das ist, wird man sagen dürfen, eigentlich bedauerlich. Und das ist im System Kant so, weil er die schnöde Wirklichkeit meidet wie der Teufel das Weihwasser und sich nur im Reich der reinen, nur formalen Vernunft aufhält, welche die Regeln des Denkens darstellen soll, die letztlich eine bessere Welt ermöglichen würden. Aber er hat zugleich einen sehr triftigen Grund: „… in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird.“ (B 376) Dass eine Differenz zwischen Sein und Sollen besteht, ist leicht einzusehen. Warum sie allerdings entsteht, wenn dem Menschen doch die Vernunft zugeteilt ist und ihm gleichwohl



III. Freiheit247

der Verstand bei den Erfahrungen im Kernbereich seines Verhaltens nur Hohlheiten liefert, ist das Hintergrundthema der „transzendentalen Dialektik“, die drei Fünftel des Umfangs der „Kritik der reinen Vernunft“ ausmacht. Nach dem ersten Teil, der „Ästhetik“ als Darstellung der Grundlagen sinnlicher Wahrnehmung, folgt als zweiter die „Analytik“ der bescheidenen Leistungskraft des Verstandes. Der dritte Teil, die „Dialektik“, diskutiert auf verschiedenen Ebenen die Widersprüche, in die sich die reine Vernunft auf dem Wege zur sicheren Erkenntnis des letzten Grundes, des allerhöchsten Prinzips, des Unbedingten zwangsläufig verwickelt und also scheitert. Und nach dieser Selbstkritik bleibt ihr nur der Anspruch eines „regulativen Gebrauchs“, nicht etwa die eines Garanten für letzte Wahrheiten. Diesen Anspruch hatte die bisherige Metaphysik und natürlich die Theologie erhoben. Das ist der nicht nur von Kant vollzogene epochale Durchbruch am Ende der Aufklärungsphilosophie auf dem Weg in die Moderne einer wissenschaftsgeprägten, säkularen, nichtständischen, pluralen Gesellschaft.

III. Freiheit Es erweist sich schließlich, dass die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes nicht beweisbar, aber notwendige transzendentale Ideen sind, weil sie den menschlichen Vorstellungen eine Ordnung und einen Sinn geben. So formuliert klingt diese Thematik aber sehr viel mehr nach dem 18. und sehr viel weniger nach dem 21. Jahrhundert. Zentral aber bleibt die Frage nach der menschlichen Freiheit und / oder Determiniertheit durch äußere Zwänge, die Kant auch in den beiden folgenden „Kritiken“ verfolgt. Sie wird in der dritten von insgesamt vier Antinomien verhandelt, die jeweils einer für sich begründbaren These eine ebensolche Antithese gegenüberstellen. „Die transzendentale Vernunft also verstattet keinen anderen Probierstein, als den Versuch der Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst, und mithin zuvor des freien und ungehinderten Wettstreits derselben untereinander …“ (B 455)

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E. Das System Kant

These: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ Neben den Naturgesetzen gibt es eine eigene Gesetzlichkeit der menschlichen Handlungsfreiheit. Antithese: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ Wir sind vollständig durch Naturgesetze determiniert. In Beweisen und Anmerkungen arbeitet Kant seinen ersten Begründungsschritt des Freiheitsbegriffes heraus, indem er zeigt, dass These und Antithese beide falsch sein müssen. Unter einem allgemeingültigen Kausalitätsgesetz kann es keinen ersten Anfang geben, weil dann auch dieser eine Ursache haben muss. Also muss es eine „absolute Spontaneität der Ursachen geben … mithin transzendentale Freiheit“, die naturgesetzliche Kausalprozesse in Gang setzt. Gäbe es dagegen aber diese transzendentale Freiheit, so bliebe sie ein „leeres Gedankending“, denn die Spontaneität als Anfang einer Kette von Ursachen hinge im luftleeren Raum, wenn sie nicht in einem Umfeld erfolgte, das von Kausalgesetzen bestimmt ist. Die Naturgesetze können nicht außer Kraft gesetzt werden, und das „Blendwerk von Freiheit“ als Ursache hieße nur, dass sie selbst auch Natur nach Gesetzen sein muss. Wenn es aber möglich ist, eine Erstursache der Welt aus Freiheit anzunehmen, ist es auch möglich, „im Laufe der Welt“ eine weitere Ursache als Beginn einer neuen Kausalitätskette zu setzen, indem ich zum Beispiel „von meinem Stuhle aufstehe …“ Rein zeitlich betrachtet geht dieser Handlung zwar etliches voraus, aber eben nicht kausal. Dieses Verständnis würde aber in der Antithese die für die Möglichkeit der Erfahrung unerlässliche kausale Gesetzmäßigkeit der Welt zum Verschwinden bringen. Es ließe sich „kaum mehr Natur denken.“ (B 472 ff.) In einer Bemerkung zur Antithese taucht zum ersten Mal der später für den kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft wichtige Begriff der Maxime auf. Die Antithese zeichne sich durch eine „völlige Einheit der Maxime“ aus, nämlich als Prinzip des reinen Empirismus. Maxime ist also die Basistheorie hinter einer konkreten Behauptung. (B 494)



III. Freiheit249

Bei den Grundfragen aller vier Antinomien, „ob die Welt einen Anfang oder irgend eine Grenze ihrer Ausdehnung im Raume habe, ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergänglich gebe, ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehen bleiben müssen …“, befindet sich die Vernunft „in einem Gedränge von Gründen und Gegengründen“, die sie aufzulösen bestrebt sein muss. (B 492 f.) Alle vier Antinomien kreisen um die „Grundsteine der Moral und Religion“, welche die jeweiligen Antithesen „uns zu rauben“ scheinen. (B 494) Sie machen darüber hinaus „die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich“, weil sie der Architektur der menschlichen Vernunft widersprechen. Denn diese „betrachtet alle Erkenntnis als gehörig zu einem möglichen System.“ Gleichwohl plädiert Kant nachdrücklich dafür, dass es niemandem verwehrt sein darf, „die Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten zu lassen.“ (B 503) Das Motiv des Gerichtshofes und des unparteiischen Abwägens von Beweisen – hier philosophischen Begründungen – taucht bei Kant immer wieder auf, am deutlichsten wohl in den Antinomien. Die ganze Architektur der „Kritik der reinen Vernunft“ ist mehr oder weniger wie ein Zivilprozess vor Gericht aufgebaut. Ein Prozess, den die Vernunft als höchstes Steuerungsorgan sich im Streitfall Empirismus versus Dogmatismus selbst macht, namhaft durch Locke / Hume und Leibniz / Wolff. Es geht in diesem Prozess nicht darum, wer letztlich Recht hat. Das Urteil könnte nur ein neuerlicher Dogmatismus sein. Es geht – aus heutiger Sicht – auch nicht darum, wie eine Metaphysik als Wissenschaft der Wissenschaften gebaut sein müsste. Das Thema ist vielmehr: Bei allen Erkenntnissen, die die Menschheit jeweils angesammelt hat – wir befinden uns hier

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am Ende des 18. Jahrhunderts –, können wir nie sicher sein, die richtigen Fragen gestellt, geschweige denn die richtigen Antworten gegeben zu haben. Wir müssen beides immer wieder überprüfen und das Vorhandene nutzen und gegebenenfalls neu arrangieren, damit vielleicht etwas Besseres entstehen kann. Kant hat dem Empirismus seine Reverenz erwiesen, indem er alle Erkenntnis strikt an Erfahrungen gebunden hat, ohne zuzugestehen, dass dies bereits alles ist. Und er hat dem Dogmatismus seine Reverenz erwiesen, indem er die Vernunft notwendige Ideen hervorbringen lässt, die nicht abgewiesen, aber auch nicht bewiesen werden können und letztlich der individuellen Freiheit unter Gesetzen überantwortet werden. Wie sieht die Auflösung der Widersprüche aus, in die sich die Vernunft angesichts des notwendigen Postulats der Freiheit verwickelt sieht? Es sei zwar „unverschämte Großsprecherei“ zu behaupten, man könne alle Fragen zur empirischen Welt beantworten, aber Fragen, welche die Vernunft uns aufdrängt, müssen auch mit und durch Vernunft zumindest kritisch beantwortet werden können. (B 450 f.) Es können sehr wohl Fragen gestellt werden, die über unseren Verstand gehen, aber nicht solche, die über unsere auf Ideen und Ideale – wie Kant etwas später hinzufügt (B 597) – bezogene Vernunft gehen, die einen autonomen Bereich für Fragen und Antworten bildet. All dies bezieht sich nicht auf eine von Freiheit bestimmte Praxis, sondern auf ein transzendentales Subjekt, also die inhaltlose, reine Idealform der Möglichkeit einer „transzendentalen Freiheit“ unserer Vernunft. In der nicht unkomplizierten Begründung wird zugleich eine Grundlage für die unbedingte Geltung des kategorischen Imperativs gelegt, den Kant dann 1785 in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und neuerlich 1789 in der „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. Der Verstand als unser unteres Erkenntnisvermögen nimmt alle Erscheinungen als Natur wahr und verknüpft sie unvermeidlich nach dem Kausalitätsprinzip. Es ist eine Arbeitsweise unseres Verstandes, allen unseren Wahrnehmungen einem diesen vorhergehenden Zustand zuzuordnen und als dessen Ursache anzunehmen. Wir wollen automatisch für alles und jedes ir-



III. Freiheit251

gendeine Erklärung haben. Der Mensch selber ist natürlich auch eine sinnlich wahrnehmbare, empirische Erscheinung und unterliegt somit den Naturgesetzen, namentlich der Kausalität. Aber er erkennt sich selbst nicht allein nur durch die Sinne wie die Tiere, sondern qua Vernunft nach Ideen als, wie Kant es nennt, intelligibel, also etwa mit Intelligenz Handlungsfähigen. Er denkt halt, wenn er handelt, was auch immer der Inhalt sein mag. Nun hat auch dieses Vermögen eine „Naturursache“, das selbst aber nicht von den empirischen Bedingungen in einer Handlungssituation abhängig, sondern generell vorhanden ist. Die Handlung wiederum als konkrete Erscheinung unterliegt dem Naturgesetz der Kausalität, nicht aber das Motiv für die Handlung. Der intelligibele Charakter ist die zentrale Hintergrund-Ursache der empirischen Taten, die sich in die Gesetze der Empirie einordnen, und bestimmend für den ihnen zugrunde liegenden empirischen Charakter des Handelnden. (B 580) Wir handeln also je nach unserer augenblicklichen Verfassung in einer konkreten Situation. Aber zu dieser Verfassung gehört ein Überschuss an Erfahrungen, Ideen, Überzeugungen, die von uns nicht unmittelbar in die Entscheidung mit einbezogen werden, sondern im Hintergrund – eher unbewusst – schlummern. Aber auch wach werden könnten. Das Ziel einer Handlung – dass etwas anders sein soll als vorher – ist nur unter allgemeinen Naturbedingungen möglich. „Aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung. Es mögen noch so viele Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht notwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegensetzt. Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die

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empirischen Bedingungen hinein passt, und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die noch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allem aber gleichwohl voraussetzt, dass die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könnte; denn, ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.“ (B 577) So hat einerseits jeder Mensch „einen empirischen Charakter seiner Willkür“, der sich in seinen empirischen Taten manifestiert. Wenn wir diese beobachten und „bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten.“ So gesehen gäbe es keine Freiheit. Wenn wir allerdings andererseits die Vernunft als Ursache der praktischen Absichten in Betracht ziehen, „finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, dass die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und dass sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren.“ (B 578) Der empirische Charakter manifestiert sich in erkennbaren Erscheinungen. Den intelligibelen Charakter als Einfallstor der Vernunft und Hintergrund der Handlungen „kennen wir aber nicht.“ Deshalb bleibt uns „die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) … selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen sein. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel davon der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit … zuzuschreiben ist, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ Die reine Vernunft kann aber nicht plötzlich in einer Handlungssituation entstehen und dann über den intelligibelen und empirischen Charakter zur Empirie werden, weil sie und ihre Kausalität dann selbst dem „Naturgesetz der Erscheinungen“ unterliegen müsste. Sie ist also „ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer Reihe von Wirkungen



III. Freiheit253

zuerst anfängt … Denn hier ist die Bedingung außer der Reihe der Erscheinungen (im Intelligibelen) und mithin keiner sinn­ lichen Bedingung und keiner Zeitbestimmung durch vorhergehende Ursachen unterworfen.“ (B 580) Bei Hume haben wir eine Vorwegnahme der 1996 experimentell entdeckten Spiegelneuronen gefunden, wenn natürlich auch nicht in der Sprache der Hirnforschung. Bei Kant finden wir eine vergleichbare Vorwegnahme einer 1983 publizierten hirnphysiologischen Erkenntnis der modernen Forschung: Die für bestimmte Handlungen „zuständigen“ Hirnareale zeigen Millisekunden vor der Ausführung bereits Aktivität. Unser Gehirn „handelt“, bevor wir uns dessen bewusst werden. Kant: „Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint. Jede derselben ist im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt, ehe noch als sie geschieht.“ (B 581) Wenn man die Kantsche Vernunft hier von allerlei moralischen Aufladungen im Interesse der ganzen Menschheit befreit und nur als innere Tendenz zur Optimierung subjektiver Interessen begreift, dann könnte das Gehirn partiell über eine vorbewußte Fähigkeit verfügen, uns so zu beeinflussen, wie es Kant für die Vernunft postuliert. Die Humesche und Kantsche Analogie zur modernen empirischen Wissenschaft zeigen allerdings nur, wie weit tiefgründiges philosophisches Denken in Angelegenheiten des Menschen auch ohne empirische Beweise führen kann und stellen zugleich die Frage, was solche Ergebnisse empirischer Wissenschaft bedeuten. Kant steigt an dieser Stelle sogar von den transzendentalen Höhen der Verortung der reinen Vernunft in die Tiefen der Empirie hinab, um dieses „regulative Prinzip der Vernunft durch ein Beispiel aus dem empirischen Gebrauch desselben zu erläutern …“ Wenn man eine „boshafte Lüge“ untersucht, wird man vom eigentlichen Anlass bis zu „schlechter Erziehung, übler Gesellschaft“ allerlei Faktoren finden, die dazu geführt haben. Wie plausibel oder gar entschuldigend diese Gründe auch seien, man tadelt die Person wegen der Lüge und deren Folgen als Beginn einer Ereigniskette, nicht wegen der

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vorhergehenden Ursachenkette. „Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders hätte bestimmen können und sollen.“ Die Vernunft ist eben kein inhaltlich definierter Katalog guter Taten – du sollst nicht lügen – und tritt nicht etwa in Konkurrenz zu den sinnlichen Triebfedern oder empirischen Bedingungen, sondern ist völlig frei und unveränderlich immer dabei, auch – wohl als schlechtes Gewissen – bei der Lüge: „Sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar …“ Deshalb kann man nicht fragen, warum sie den Lügner nicht am Lügen gehindert hat, „sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich. Denn ein anderer intelligibeler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben haben …“ (B 582 ff.) Die Vernunft als höchste denkbare Kategorie bleibt in ihrer die Freiheit der Handlungen ermöglichenden Funktion jenseits des intelligibelen Charakters unberührt. So ist sie in ihrer reinen Form nichts konkret Fassbares, sondern nur der Schlussbaustein eines Gewölbes aus sinnlicher Erkenntnis und Empirie, empirischem und intelligibelen Charakter, das ohne sie nicht tragfähig wäre. Oder aber, wenn man die Blickrichtung wechselt, das Fundament, auf dem das ganze Gebäude ruht, wie die „Kritik der praktischen Vernunft“ darlegen wird. Einstweilen gilt für Kant nur als bewiesen, dass die unaufgebbare Kausalität der Naturerscheinungen einer Kausalität aus Freiheit nicht widerspricht, sondern nur zu widersprechen scheint.

IV. Die scheiternde Vernunft Was haben wir nun nach dem Durchgang des ersten Teils der „Kritik der reinen Vernunft“, der „Transzendentalen Elementarlehre“, an Erkenntnissen gewonnen, die über das hinausgehen, was zumindest heutzutage als selbstverständlich betrachtet wird? Abgesehen davon, dass Kant ganz wesentlich dafür mitverantwortlich ist, was heute als selbstverständlich gilt, und er im Detail luzide Begründungen ausgebreitet hat, nicht viel. Nun



IV. Die scheiternde Vernunft255

gut, die Welt ist nicht einfach da, sondern spielt sich in unseren Köpfen ab. Unsere Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt sind unsere eigenen, die von der Leistungsfähigkeit unseres zu diesem Zweck evolutionär angepassten Gehirns bestimmt werden. So muss man wohl Verstand und Vernunft übersetzen. Ob die Welt oder jedes „Ding an sich“ auch ganz anders gesehen werden könnte, muss dahingestellt bleiben. Unser geistiges Vermögen kann in Analogie zu den unterscheidbaren Arealen unseres Gehirns mit seinen verschiedenen Zuständigkeitsschwerpunkten differenziert analysiert werden, bildet aber tatsächlich eine hochkomplexe Einheit, als die wir uns selbst wahrnehmen. Dazu gehört die nur scheinbar einfache sinnliche Wahrnehmung und die (sprachliche) Begriffsbildung als Garant jeder sinnvollen Kommunikation, die Fähigkeit zur Verallgemeinerung, Abstraktion und Assoziation und Entwicklung von Vorstellungen, die über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgehen und als Ideen oder Ideale unser Verhalten und Denken beeinflussen. Letztere schreibt Kant der Vernunft zu, die über die empirischen Fakten hinausgeht – „außerhalb welchen kein Dokument der Wahrheit irgendwo angetroffen wird“ (B 779) – und deshalb die Verankerung in einer verlässlichen Gewissheit aufgibt, obwohl die Vernunft trotz der „Feierlichkeit und dem gründlichen Anstande, womit sie auftritt“, (B 739) keinerlei unbezweifelbare Wahrheiten liefern kann. Zwischen der Vernunft und ihrem empirischen Erscheinen steht der Mensch, der diesem seinem Vermögen zwar formal ausgeliefert ist, aber eben auch der Macht seiner jeweiligen Umwelt. „So enthält die reine Vernunft, die uns anfangs nichts Geringeres, als Erweiterung der Kenntnisse über alle Grenzen der Erfahrung zu versprechen schiene, wenn wir sie recht verstehen, nichts als regulative Prinzipien, die zwar größere Einheit gebieten, als der empirische Verstandesgebrauch erreichen kann … wenn man sie aber missversteht, und sie für konstitutive Prinzipien transzendenter Erkenntnisse hält, durch einen zwar glänzenden, aber trüglichen Schein, Überredung und eingebildetes Wissen, hiermit aber ewige Widersprüche und Streitigkeiten hervorbringen.“ (B 729 f.) Die Kritik der reinen Vernunft ist bis hier nicht das geworden, was Kant sich vielleicht auch in sei-

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E. Das System Kant

nem zehnjährigen Nachdenken und Schreiben erhofft hat: die Begründung eines nicht mehr bezweifelbaren Maßstabs für ein den Menschen angemessenes Leben. Es muss sie zwar geben, die Vernunft als höchstes Prinzip, aber sie kann für beliebige Positionen in Anspruch genommen werden, ohne aus eigener Kraft widersprechen zu können. Es sei denn, der ihr zugrunde liegende Verstandesgebrauch importiert von vornherein faktische Unwahrheiten. „Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht … zur Erweiterung, sondern … zur Grenzbestimmung dient, und, statt Wahrheiten zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten. Indessen muss es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen geben, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören, und die vielleicht nur durch Missverstand zu Irrtümern Anlass geben, in der Tat aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen.“ (B  823 f.) Kant hat diesen Bruchpunkt eines möglichen Scheiterns sehr wohl gespürt, aber natürlich einen Ausweg gefunden. Der Impetus einer Analyse der Vernunft kann bei einer reinen Erkenntnistheorie nicht stehen bleiben. Was nützt es, wenn wir wissen können, wie wir etwas wissen oder nichtwissen? Könnten wir nur mit dem leben, was wir nach allen Regeln der Kunst definitiv wissen? Wenn man „eine Wissenschaft“ – hier also eine geläuterte Metaphysik – oder nach heutigem Verständnis eine Theorie entwickeln will, hat man als Ausgangspunkt eine Idee, die keineswegs in völliger Klarheit vor einem liegt, schon gar nicht in ersten Definitionen usw. sich zu erkennen gibt, so Kant. Diese Idee aber findet sich nicht unbedingt in den Absichten des Verfassers, sondern auf der Basis seiner Teilerkenntnisse „in der Vernunft selbst gegründet … Es ist schlimm, dass nur allererst, nachdem wir lange Zeit nach Anwendung einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodisch viele dahin sich beziehende Erkenntnis, als Bauzeug, gesammlet, ja lange Zeit hindurch sie technisch zusammengesetzt haben, es uns dann allererst möglich ist, die Idee in hellerem Licht zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.“ (B 862 f.) Dies ist in der Selbstreflexion Kants die



IV. Die scheiternde Vernunft257

Genese der Begründung viel weiter gehender Ansprüche der Vernunft als nur zu erweisen, was sie nicht kann. Sie muss als positive Kraft etabliert werden können, also letztlich als Maßstab für ein menschliches Leben. Das Bauzeug liegt mit der Elementarlehre bereit, und der zweite Hauptteil der Kritik, die Methodenlehre, soll nun „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft“ liefern. (B 736) „Philosophische Erkenntnis ist Vernunfterkenntnis aus Begriffen“ und betrachtet „das Besondere nur im Allgemeinen.“ (B 742 f.) Aber damit kann sie keine Diktatur der wahren Erkenntnisse errichten, sondern muss fortgesetzt einer kritischen Prüfung unterworfen bleiben. „Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, deren Anspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhalten muss äußern können.“ (B 767 f.) Dies kann aber nicht die gleichberechtigte Gültigkeit beliebiger – interessengeleiteter – Behauptungen bedeuten, sondern beschreibt nur den Prozess, an dessen Ende sich ein Ergebnis finden lassen muss, dem alle zustimmen können, wenn sie sich aus den Fesseln ihrer privaten Interessen lösen und so den Forderungen der Vernunft nachkommen. Die Vernunft selbst ist nicht unmittelbar in streitige Gegenstände verwickelt, sondern agiert eine Ebene höher oder neutraler als „Gerichtshof“ nach ihren Grundsätzen und „verschafft uns die Ruhe eines gesetz­ lichen Zustandes.“ Andernfalls befände sie sich im Naturzustand, also im dauerhaften Krieg. Kant folgt hier Hobbes, der bekanntlich behauptet: „Der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit, und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich dem gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin einschränkt, dass sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne.“ (B 779 f.) Denn im Streit der Meinungen neigt der Mensch dazu, zu Hypothesen Zuflucht zu nehmen, die aus dem weiten Raum der Spekulation nur scheinbar etwas erklären. Sie sind, merkwürdig genug, „im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen er-

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E. Das System Kant

laubt … Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst suchen. Denn spekulative Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch ist an sich dialektisch. Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen in uns selbst. Wir müssen sie … hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtung zu gründen. Äußere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muss ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mir der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwürfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist … Es ist hierbei gar nichts zu fürchten, wohl aber zu hoffen, nämlich, dass ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet.“ (B 806 f.) Es ist sehr selten, dass Kant die Leser direkt anspricht und sich als „wir“ in einen Appell mit einbezieht. Denn eigentlich spricht aus ihm die reine Vernunft, die mit den Zufälligkeiten des Lebens nichts zu schaffen hat. Aber letztlich ist die Vernunft doch unser Vermögen, dass wir in uns herauszuarbeiten aufgefordert sind. Ohne uns gibt es sie nicht, und wir sind dann doch keine transzendentalen Subjekte, also abstrakte Formen des Menschseins, sondern konkrete Individuen weit unterhalb der Höhen der Philosophie. Und, schlimmer noch, von „Gesinnungen“ geprägt, die der Vernunft und der Freiheit aller empirisch im Wege stehen. Kant hat sich auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ neben seinem Vernunftideal einen gehörigen Realismus im Hinblick auf die menschlichen Dinge bewahrt. Dass die Vernunft aber gleichwohl und mithilfe der aus heiterem Himmel herbeigerufenen Natur zu ihrem Recht kommen kann, mag eine List der Vernunft sein, ist aber pure Soziologie oder Psychologie: „Es gibt eine gewisse Unlauterkeit der menschlichen Natur, die am Ende doch, wie alles, was von der Natur kommt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muss, nämlich eine Neigung, seine wahren Gesinnungen zu verhehlen, und gewisse angenommene, die man für gut und rühmlich hält, zur Schau zu tragen. Ganz gewiss haben die Menschen durch diesen Hang, sowohl sich zu verhehlen, als



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auch einen ihnen vorteilhaften Schein anzunehmen, sich nicht bloß zivilisiert, sondern nach und nach, in gewissem Maße, moralisiert, weil keiner durch die Schminke der Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit durchdringen konnte, also an vermeintlich echten Beispielen des Guten, die er um sich sahe, eine Schule der Besserung für sich selbst fand. Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als man ist, und Gesinnungen zu äußern, die man nicht hat, dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen aus der Rohigkeit zu bringen, und ihn zuerst wenigstens die Manier des Guten, das er kennt, annehmen zu lassen; denn nachher, wenn die echten Grundsätze einmal entwickelt sind und in die Denkungsart übergegangen sind, so muss jene Falschheit nach und nach bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt, und gute Gesinnungen unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen lässt.“ (B 776)

V. Die wiederauferstandene Vernunft Da die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch, also dem Versuch, Ideen jenseits der Erfahrung zu verifizieren, gescheitert ist, kann ihr eigentliches Feld nur die praktische Anwendung sein. Dies ist ein bedeutender Schritt Kants. So wie die Analyse des Verstandes sich von der zu erkennenden Wirklichkeit den subjektiven Bedingungen zuwandte, wendet sich die Analyse der Vernunft von der Chimäre hehrer letzter Wahrheiten ab und ihren handhabbaren Spuren in der menschlichen Praxis zu. Denn diese können ebenso wenig reine Beliebigkeit sein, wie die subjektiv basierte Kenntnis alles für wahr gelten lassen kann. Die „Endabsicht“ der – wohlgemerkt – spekulativen Vernunft betrifft „drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes.“ Die Willensfreiheit hat nur eine intelligibele Ursache, derweil die Handlungen dem Kausalgesetz unterliegen. Die unkörperliche Seele ist eine Erdichtung, Gott ist als Naturursache nicht aufzufinden. Weil aber unsere Vernunft an diesen Denkfiguren nicht einfach vorübergehen kann, muss ihre Bedeutung im Praktischen liegen. „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich

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E. Das System Kant

ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben …“ (B 828) Sie leitet uns nicht durch apriorische Gesetze, sondern nur pragmatisch zur „Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke“, also der angestrebten individuellen Glückseligkeit. Daneben aber gibt es moralische Gesetze, „deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben“ ist und die somit in das Reich der reinen Vernunft gehören, aber zum praktischen Gebrauch bestimmt. „Die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, (ist) eigentlich nur aufs Moralische gerichtet.“ (B 826 ff.) Es gibt also eine bloß instrumentelle Vernunft als Kants Referenz an die Alltagspraxis. Aber es gibt auch eine moralische Vernunft, die ohne Surrogate von Gott und Unsterblichkeit für Kant nicht zu begründen ist, wie gleich zu zeigen sein wird. Die transzendental-philosophische Betrachtung, um die es Kant hier allein geht, muss säuberlich von Psychologie, Lust und Unlust und anderen Gefühlen getrennt werden, da Gefühle „außer der gesamten Erkenntniskraft“ liegen. (B 830) Lässt sich unser freier Wille von sinnlichen Antrieben bestimmen, so ist er für Kant „bloß tierisch“ oder „pathologisch.“ Andererseits: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist, beruht auf der Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.“ Für die reine Vernunft im praktischen Gebrauch gibt es „nur … zwei Fragen … nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (B 831)



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Wenn wir uns mit der Endabsicht unserer Vernunft befassen, sie also von allem überflüssigen Beiwerk gereinigt haben und uns unserer Freiheit bewusst sind, lässt sie uns zunächst mit zwei empirisch unbeantwortbaren, spekulativen Fragen allein. Die reine Vernunft verfolgt aber ein höchstes Ziel, das die Qualität eines Ideals hat, also nie vollständig zu erreichen ist, und für die empirisch unbeantwortbaren Fragen eine pragmatische Lösung anbietet, wie gleich zu zeigen ist. Die Vernunft, sei sie rein, transzendental oder praktisch orientiert, treibt also mit sich selbst ein Spiel auf verschiedenen Ebenen, das durchaus verwirrend wirken kann. Es ist denkbar, dass man etwas gradliniger zur Begründung eines Ideals als Ende aller Bemühungen gelangen kann. Zumal die nur zwei Fragen nun zu dreien werden, den berühmten Kardinalfragen, die sich aber auf Gott und die Unsterblichkeit beziehen und keineswegs inhaltlich identisch mit den nur zwei Fragen zuvor sind: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (B 833 f.) Zwar ist die allgemein menschliche Vernunft gemeint, die natürlich Kants eigene einschließt, aber explizit eben auch Kants ureigenes Interesse, die Metaphysik als Leitwissenschaft auf eine rationale Basis zu stellen. Es heißt eben nicht nur, was kann man oder die Vernunft wissen, sondern durchaus, was kann ich, Immanuel Kant aus Königsberg, wissen, tun und hoffen? So kommt es nach dem einmal mehr nicht unkomplizierten Durchgang durch die aufgeworfenen Fragen zu einem durchaus persönlichen Bekenntnis: „Da aber also die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist … so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen Augen verabscheuungswürdig zu sein.“ (B 856) Und die Beantwortung der drei Fragen endet mit der normativen Setzung eines Ideals

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des höchsten Guts, (B 838) keineswegs mit einer endgültigen Gewissheit der Vernunft. Was ich über Gott und die Unsterblichkeit wissen kann, ist „bloß spekulativ“ und führt niemals zu einer gesicherten Erkenntnis, wie die vorhergehende Analyse – „wie ich mir schmeichele“ – eindeutig erwiesen hat. Die ganze Kritik der reinen Vernunft galt in gewisser Weise dem Nachweis, dass die Existenz Gottes eine Unterstellung ist. Was ich – angesichts dieser Tatsache – tun soll, ist eine bloß praktische Frage. Sie kann aber zum Reich der reinen Vernunft gehören und ist dann eine Frage der Moral. Bei der dritten Frage, was ich hoffen kann, wenn ich moralisch handele, ist die praktische Dimension ein „Leitfaden zur Beantwortung der theoretischen.“ Der Gegenstand allen Hoffens ist die Glückseligkeit. Sie bekommt für Praxis und Moral den gleichen Stellenwert zugewiesen, den das Wissen und das Naturgesetz für die Erkenntnis der Dinge haben. Sie ist also ein erkenntnisleitender Begriff und ganz zweifellos als kleinster gemeinsamer Nenner aus dem empirischen Bestreben der Menschheit entnommen, nicht aus einer abstrakten Vernunft. Im System Kants aber ist sie ein Geschöpf der Vernunft. „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen …“ Sie kann pragmatisch nach Klugheitsregeln angestrebt werden, hat aber zugleich eine moralische Dimension, nämlich „die Würdigkeit, glücklich zu sein“ als eigentliches Ziel zu verfolgen. Die Würdigkeit besteht darin, dass nicht nur ich selbst, sondern auch alle Anderen meine Glückseligkeit als legitim anerkennen können sollen. Diese moralische Dimension der Glückseligkeit „abstrahiert von Neigungen … und betrachtet nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, und die notwendigen Bedingungen, unter denen sie allein mit der Ausstellung der Glückseligkeit nach Prinzipien zusammenstimmt, und kann also wenigstens auf bloßen Ideen der reinen Vernunft beruhen und a priori erkannt werden. Ich nehme an, dass es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und dass



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diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetische unter Voraussetzung anderer empirischer Zwecke) gebieten, und also in aller Absicht notwendig seien. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen, nicht allein, indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten beziehe, sondern auf das sittliche Urteil eines jeden Menschen berufe, wenn er sich ein solches Gesetz deutlich denken will.“ (B 834 f.) Das sozusagen private, kleine Glück bleibt immer im Horizont menschlichen Strebens. Dies ist unbezweifelbar empirisch zu beobachten, woraus immer es bestehen mag. Aber es begründet nur sich selbst und nicht eine Moral, die wie die Vernunft selbst eine das rein Individuelle überschreitende Dimension haben muss. Die Funktionsweisen der Vernunft und die Funk­ tionsweisen der Moral haben Gültigkeit für alle Menschen, was immer sie im Einzelnen für Erkenntnisse gewinnen oder Ideen verfolgen mögen oder für das Moralische ihrer Taten ausgeben mögen. Beide, Vernunft und Moral, sind damit aber nicht einer völligen Beliebigkeit überlassen, sondern folgen einer bestimmbaren Operationsweise, die sie überhaupt erst als Vernunft und als Moral konstituieren. Die Vernunft ist auf den Verstand und seine Wirklichkeitserkenntnis angewiesen und holt sich gleichsam ihre Legitimation von unten, aus der empirischen Welt, über die sie dann spekulativ hinausgeht. Die Moral dagegen muss sich ihre Legitimation von oben, von einem höchsten Prinzip holen, das die empirischen Fälle als moralisch erst erkennbar macht und vom allzu anfälligen subjektiven Meinen unterscheiden kann. Die reine Vernunft operiert mit der Möglichkeit von moralischen Handlungen in der wirklichen Welt, nicht mit ihrer Tatsächlichkeit, weil die Vernunft angesichts der menschlichen Freiheit eine Ursache ist, nicht aber hinsichtlich der einmal durch sie erkannten Naturgesetze. Der Wille zur Moralität stößt unvermeidlich auf Umstände, die anderen Gesetzen als denen der Vernunft gehorchen und ihn verformen können. Das Schisma zwischen einer Welt der Moral, in der wir uns zunächst natürlich – interessen- und instinktgesteuert – bewegen und einer moralischen Welt, in der wir unsere subjektive Begrenztheit

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überschreiten, muss die Vernunft überbrücken können. Obwohl also die spekulative Vernunft die Weltformel eines obersten Kausalgesetzes für Natur und menschliche Handlungsfreiheit gleichermaßen zunächst nicht finden konnte, „haben die Prinzipien der reinen Vernunft, in ihrem praktischen, namentlich aber dem moralischen Gebrauche, objektive Realität.“ (B 836) Was denkbar möglich und nötig ist, kann wirklich sein und hat die Bedeutung einer praktischen Realität. Die „moralische Welt“ kann es also angesichts der menschlichen Freiheit geben, und „nach den notwendigen Gesetzen der Sittlichkeit“ soll es sie geben. „So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Welt so viel als möglich gemäß zu machen.“ Die moralische Welt ist „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ und, für Kant, damit zugleich objektive Realität. (B 837) So mag es denn wohl sein: Unsere Vernunft und ihre moralischen Ansprüche sind ein „geheimnisvoller Körper“, der aber doch durch rationale Anstrengungen einigermaßen dingfest gemacht werden kann. Kant hätte es dabei belassen können, dem Menschen eine tiefgründige moralische Anlage zu attestieren, wie Hume zum Beispiel von der Empathiefähigkeit oder Rousseau vom Mitleid als Prämisse ausgeht. Aber das sind dann doch sehr eindimensionale Behauptungen, die bei einem kritischen Blick auf die Geschichte der Menschheit sehr schnell und zu allen Zeiten eines Schlechteren belehrt werden. Deshalb und nur deshalb ist für Kant jedwede Empirie dermaßen kontaminiert, dass mit ihr kaum ein Ausweg aus dem selbstverschuldeten Schicksal der Menschheit gedacht werden kann. Aber einen solchen Ausweg muss es geben, fordert ein Zeitalter der Fortschritte auf allen Gebieten, wie es die Epoche der Aufklärung insgesamt ist, und sei es um den Preis, eine Welt ohne den empirischen Menschen zu konstruieren, in der eine reine Vernunft ihr Wesen treibt und vielleicht wie Manna vom Himmel auf die Menschheit zurück fällt. So hat es schließlich schon die Religion versucht und ist damit nicht allzu weit gekommen, weil sie dem Mystischen zu viel Glauben schenkte. Aber Kant wäre nicht Kant, wenn er nicht versuchte, dem Corpus mysti-



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cum eine Struktur zu geben, die sich zumindest rationaler Überprüfbarkeit durch jedermann aussetzt. Und der Rückfall des geistigen Manna auf die Erde ist weit ergiebiger als der Absturz des Ikarus, der nur zu der Erkenntnis führte, dass man der Sonne nicht zu nahe kommen dürfe. Kursorisch sei hier angemerkt, dass Kant bei der Beantwortung der zwei bzw. drei Kardinalfragen zum praktischen Inte­ resse der reinen Vernunft ein wenig durcheinandergerät, wenn er als Beantwortung der ersten Frage (Gott? Wissen?) angibt, sie bestehe in dem Streben würdig für die Glückseligkeit zu werden, und die zweite Frage als die nach der Berechtigung der Hoffnung bezeichnet, wenn ich der Glückseligkeit würdig bin. (B 837) Wie dem auch sei, die Glückseligkeit, der kleinste theoretische Nenner, spielt eine zentrale Rolle auf dem Weg zum „Ideal des höchsten Guts.“ Sie hat nicht nur eine praktische, sondern auch, wie eingangs von ihm bereits angedeutet, eine theoretische Dimension, weil sie nur erkannt werden kann, wenn man „eine höchste Vernunft“ annimmt, die „nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird.“ Diese oberste Steuerungsinstanz als Überwindung des Schismas definiert also die Moral und die Natur – sagen wir die empirischen Umstände – so, dass beide in Form der Glückseligkeit zusammenkommen können und diese auch erst durch die Vernunft erkannt werden kann. Denn in der Idee der reinen Vernunft ist die Moral mit der Glückseligkeit „unzertrennlich“ verbunden, weil unter dem Gebot der Moral die Menschen „Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden.“ Die Moral der Vernunft oder die Vernunft der Moral garantiert Glück. Aber dieses „System der sich selbst lohnenden Moralität“ setzt als Bedingung voraus, das jedermann ihm folgt, und dies wiederum setzt voraus, dass alle Handlungen aus einem „obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befasst, entsprängen.“ Noch hat Kant 1781 die Figur des kategorischen Imperativs nicht klar vor Augen. Trotz einer Verbindlichkeit der Moral für alle ist weder aus der Kausalität der Natur – der empirischen Umstände – noch aus der Kausalität der Handlungen aus Freiheit allein (nicht alle werden umstandslos moralisch sein) verlässlich zu

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bestimmen, ob sich daraus tatsächlich Glückseligkeit ergibt, „sondern darf nur gehofft werden“, wenn man sich unablässig darum bemüht, ihrer würdig zu werden. (B 838) Die Gesetze der Natur – des empirischen Lebens auf Erden – und die Gesetze der Moral müssen also einer einheitlichen Quelle entstammen, die beide so miteinander vereinbar gegeben hat, dass wir unser bescheidenes Ziel der Glückseligkeit auch erreichen können. In der „Kritik der Urteilskraft“ wird Kant dann beide Bereiche durch die Teleologie verbinden, die ihnen und damit der Welt überhaupt einen klaren Endzweck zuschreibt. Einstweilen aber gibt es für die Glückseligkeit keinen Automatismus, sondern nur die Hoffnung. „Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit, glücklich zu sein) in genauem Verhältnis steht, das Ideal des höchsten Guts.“ Wir stellen uns qua Vernunft vor, zu einer solchen „intelligibelen, d. i. moralischen Welt“ gehören zu können. Aber weil wir mit unseren Sinnen nur Erscheinungen wahrnehmen können, also kein Ideal des höchsten Guts, werden wir dies „als eine für uns zukünftige Welt annehmen müssen. Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“ (B 839) Einerseits also ideales Ziel, andererseits Voraussetzung unseres Denkens. Wir können gar nicht anders als vernünftig zu sein, weil die Welt und wir in ihr so eingerichtet sind. Es ist ein angestrengter Weg zu jenem „weisen Urheber und Regierer“ als notwendige Annahme unserer Vernunft, ohne den moralische Gebote nur „leere Hirngespinste“ bleiben. Ganz irdisch müssen sie regelkonform mit „Verheißungen und Drohungen“ verbunden sein. Und für uns ergeben sich daraus praktische Gesetze als subjektive Grundsätze, genannt Maximen: „Es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, dass dies geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze,



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welches eine bloße Idee ist, eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang, es sei in diesem, oder in einem anderen Leben, bestimmt. Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und eben durch dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.“ (B 841) Man mag es drehen und wenden wie man will, Kant hat sich in seinem Corpus mysticum verlaufen, wenn nicht gar verraten, also sich zu erkennen gegeben oder den Grundimpetus aufgegeben. So spannend der Weg auch ist, den seine Vernunft verfolgt, so deprimierend ist ihre Selbstaufgabe am Ende. Zugegeben, Gott ist nicht mehr der Popanz einer weltlichen Macht namens Kirche, sondern eine notwendige Vernunftidee, also weidlich säkularisiert. Das war ja ohnehin ein wesentliches Element der Aufklärung und insoweit nichts Neues, wenn auch nach wie vor nicht ungefährlich. Aber dass die Vernunft, die ja in ihren aufregenderen Momenten mit Ideen und Idealen und deren Konstitutionsbedingungen hantiert, sich selbst entmündigt und einer höheren Kraft unterwirft, die sie zwar zu erfinden vorgibt, aber deren Funktion als Erstursache selbst nicht erfüllen kann oder will, ist aus heutiger Sicht enttäuschend. Die Grenzen der Vernunft hat Kant als wahrlich bleibende Leistung sehr eng gezogen, aber er hat ihre Stärken als Überlebensmittel der Menschen wohl doch unterschätzt: sich nicht in Illusionen zu verlieren, sondern alle Vorstellungen mit einer Rückbindung an die Realität, die Empirie, die Erscheinungen freizusetzen für das Überschreiten dessen, was einfach nur schon da ist. Das Jenseits ist dafür ein schwacher Kandidat. Der aufklärerisch emphatisch geforderte Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, um der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen, endet hier nicht mit der Konstituierung eines wirklich freien, aber gesellschaftlich eingebundenen Subjekts, sondern mit einer oberflächlich rationalisierten Form der abendländisch christlichen Weltordnung.

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Das ist die eine nahe liegende Sichtweise. Die andere könnte Kant doch recht geben. Denn weder ist Gott in welcher Form auch immer seither zugunsten freier Selbstverantwortung aus dem Denken verschwunden, noch scheint eine Selbstbegründung aus völliger Freiheit des Subjektes überhaupt möglich. Es gibt keine Tabula rasa, die völlig nach eigenem Gusto selbst beschrieben werden könnte, sondern jeweils ein komplexes Umfeld von Bedingungen, die dem Griffel die Hand führen. Allerdings, wie Kant mit seiner Begründung des Freiheitsbegriffs ja sehr überzeugend gezeigt hat, kann man wählen, welche der Bedingungen man wie zum Zuge kommen lässt und damit das Umfeld der Bedingungen des eigenen Denkens und Handelns, von dem man selbst ein nicht zu unterschätzender Teil ist, verändern. Das Subjekt ist für sich selbst auch Teil der Objektwelt, die ihm zunächst chaotisch gegenüber tritt. Ihr eine handhabbare Ordnung zu geben, mag qua Vernunft, respektive Wissenschaften, möglich sein, ihr aber und sich selbst darin einen Sinn zuzusprechen, bedarf einer weiteren Dimension, sozusagen der Ordnung der Ordnung der Welt, die aus dem Reich der Erscheinungen zu den Dingen an sich vorstößt. Sie bleiben zwar letztlich unerkennbar, werden aber vordergründig subjektiv wahr, wenn sie aus einer einheitsstiftenden Ordnung der Ordnung der Welt betrachtet werden können. Man mag dieses Prinzip der Selbstentlastung wie Kant Gott, „höchstes Wesen“, „fehlerfreies Ideal“ (B 669) oder „schlechthinnotwendiges Wesen“ nennen. Es scheint „dasjenige, dessen Begriff zu allem Warum das Darum in sich enthält“, zu sein. (B 613) Wo Fragen bleiben, muss es eine allerletzte Instanz geben, die nichts anderes erklärt, als dass sie da ist, aber keine eigenen Antworten gibt und uns doch wieder auf uns selbst zurückwirft. „Die Welt muss als aus einer Idee entsprungen vorgestellet werden“, wenn sie mit unserem moralischen Vernunftgebrauch und „der Idee des höchsten Guts … zusammenstimmen soll.“ (B 844) So wie die Natur zweckmäßig organisiert ist, ist es letztlich auch unsere Vernunft und läuft auf die Moralität als höchsten Zweck zu. Die „systematische Einheit der Zwecke“ oder „die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen“, vereinigt in den Naturgesetzen



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und den Sittengesetzen „die praktische Vernunft mit der spekulativen.“ (B 843) Die spekulative „Bearbeitung sittlicher Ideen“ schärfte zwar das Interesse der Vernunft an einem „Begriff vom göttlichen Wesen … den wir jetzt für den richtigen halten“, aber am Ende hat die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch erwiesen, dass dieser Begriff „mit den moralischen Vernunftprinzipien vollkommen zusammenstimmt.“ Denn die moralischen Gesetze setzen eine selbstständige Ursache, ein einiges Urwesen oder einen weisen Weltregierer voraus, „um jenen Gesetzen Effekt zu geben“, und nicht umgekehrt. „Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind. Wir werden die Freiheit, unter der zweckmäßigen Einheit nach Prinzipien der Vernunft, studieren, und nur so fern glauben, dem göttlichen Willen gemäß zu sein, als wir das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen selbst lehrt, heilig halten, ihm dadurch allein zu dienen glauben, dass wir das Weltbeste an uns und an andern befördern.“ (B 846 f.) Die „Kritik der reinen Vernunft“ endet also mit einem als unvermeidlich und notwendig konstruierten Begriff eines „weisen Welturhebers“ (B 855), den wir qua Vernunft in uns selbst als Moral finden und der allein eine Ordnung der Welt garantieren kann. Und nur weil die Welt in Ordnung ist, also gesetzmäßig und zweckmäßig funktioniert, kann die Vernunft als ihr Pendant in uns sie überhaupt erkennen. Die Philosophie hat zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, Naturgesetz und Sittengesetz, die schließlich in einem einzigen philosophischen System – nennen wir es Weltformel – zusammenfließen sollten, „und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.“ (B 867) Der Mensch als Gesetzgeber der Natur aus der Emphase des Vorwortes der „Kritik“ hat doch schleichend anerkennen müssen, dass seine Vernunft nur noch scheinbar die Herrscherin der Welt ist, weil sie diese zwar partiell erkennen kann, aber sich auch ihren Bedingungen unterwerfen und sogar eine einheitsstiftende Instanz zu Hilfe rufen muss. Umso fragwürdiger

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nun, den Philosophen nicht als Analytiker, sondern als Gesetzgeber auszurufen. Die Welt ist eine „zweckmäßige Einheit“ (B 854) von Vernunft und Natur, und das Warum-Darum auf Erden – eigentlich nur für die Empirie – ist die Kausalität, die aber schließlich doch auf den Himmel übergreift. Der Endzweck für den Gesetzgeber der menschlichen Vernunft „ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.“ (B 868) Bestimmung heißt nicht, wie Kant einmal in der „Logik“ auch formuliert: „Was ist der Mensch?“, sondern was ist ihm vom Gesetzgeber aufgetragen sein zu sollen. Allerdings heißt es in der „Logik“ auch, einer Vorlesungsmitschrift, dass alle diese Fragen (Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?) von der Anthropologie als einer empirischen Wissenschaft beantwortet werden. „Im Grunde aber könnte man all dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“ (Logik, 1800, S. 26) Man könnte, aber als Gesetzgeber im Reich der Vernunft lässt sich ungestörter spekulieren.

VI. Kritik der praktischen Vernunft „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir … ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz … Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs … Der zweite dagegen erhebt meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das morali-



VI. Kritik der praktischen Vernunft271

sche Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welches nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen lässt“ (A 289 f.) So heißt es emphatisch am Ende der „Kritik der praktischen Vernunft“ und verdeutlicht den unbedingten Willen Kants zur Sinnstiftung durch Moral. Sie findet in einem Gesetz, nicht etwa einer anzunehmenden oder abzulehnenden Allerweltsformel, ihren Höhepunkt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (A 54) Die „Kritik der praktischen Vernunft“ erschien 1788, also ein Jahr nach der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“. Kurz zuvor, 1785, war die vergleichsweise kurze Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ erschienen, die das gleiche Thema umkreist und bereits den kategorischen Imperativ in verschiedenen Formeln begründet. Hier kann der Leser „mit dem Prinzip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft“ machen, wie Kant in der Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft“ beiläufig erwähnt. (A 14). Die „Grundlegung …“ wird in der Regel zur Auseinandersetzung mit dem kategorischen Imperativ herangezogen. Sie endet mit dem Satz: „Und so begreifen wir zwar nicht die praktisch unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze menschlicher Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann.“ (GMS BA 128) Wohl deshalb sah sich Kant zu einem neuen, gut doppelt so umfangreichen Ansatz genötigt. Er beobachtet die Vernunft in ihrer angestrengten Praxis 1797 dann noch einmal von seiner metaphysischen Warte aus. „Die Metaphysik der Sitten“ ist die vorletzte Publikation, an die er selbst noch Hand angelegt hat. Sie beruht auf Notizen und Manuskripten zu seinen diversen Vorlesungen und ist in eine Rechtslehre und eine Tugendlehre unterteilt. Alles in allem ist dieses Spätwerk vergleichsweise redundant und tut seinem Hauptwerk keinen Abbruch, fügt aber auch nichts Wesentliches hinzu und wird deshalb hier nicht herangezogen. Einen Satz

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daraus aber wollen wir festhalten, der das Dilemma des Zwangs zur Moralität ohne Empirie verdeutlicht: „Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht, und diese Pflicht verliert nichts an ihrem Gewicht, wenn man gleich die traurige Bemerkung machen müsste, dass unsere Gattung, leider! dazu nicht geeignet ist, dass, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig befunden werden dürfte.“ (MdS, Tugendlehre A 41) Kant begründet zu Beginn der „Kritik der praktischen Vernunft“, warum es nicht in Analogie zur ersten Kritik „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ heißen muss. Nun, als „reine“ gäbe es sie zwar zweifelsfrei, aber sie müsse sich zwangsläufig eben in der Praxis zeigen und sei von daher zu beweisen. „Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.“ (A 3) Versuchsweise stellt sich doch die Frage, warum die reine Vernunft bei ihrem Geschäft der Erkenntnis in der ersten Kritik nicht ebenso an ihren Taten respektive Erkenntnissen gemessen werden konnte, zumal Kant ansonsten in der „Kritik der praktischen Vernunft“ eine Parallelität zu ihr mit einer Elementarlehre aus Analytik und Dialektik und einer Methodenlehre herstellt. Können Handlungsmotivationen den gleichen Stellenwert als Systemgrundlage einnehmen wie reine Verstandesbegriffe, die relativ leicht von den empirischen Erkenntnissen zu isolieren sind? Offenkundig nicht, weil das Erkennen der Wirklichkeit ein ganz anderes Feld der Vernunft ist als ihre Veränderung durch Handeln. Empirische Erkenntnisse sind in der ersten Kritik nur das Ergebnis der philosophischen Betrachtung ihrer Möglichkeit aus Verstand und Vernunft, empirische Handlungen sind nur das Ergebnis der philosophischen Betrachtung ihrer Möglichkeit aus Freiheit. Anthropologie oder Psychologie können in folgendem Sinne als Gemeingut vorausgesetzt werden, aber nicht viel erklären: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Lust ist die Vorstellung der Über-



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einstimmung des Gegenstands oder der Handlung mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts …“ (A 17 Anm.) Wir wollen etwas, und wenn wir es haben, sind wir zufrieden. Das kann aus Sicht der Vernunft nicht alles sein. Die „Kritik der reinen Vernunft“ hat die Freiheit als transzendentalen Begriff erwiesen. Wenn ihre „Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist“, haben wir den „Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft“, und alle weiteren Ideen wie Gott und Unsterblichkeit werden durch die Realität der Freiheit bewiesen. Sie ordnen sich als „subjektive Notwendigkeit“ einer „reinen, aber praktischen Vernunft“ objektiv unter. Die Freiheit, deren Möglichkeit wir a priori erkannt haben, ist zugleich die Bedingung des moralischen Gesetzes, „welches wir wissen.“ Gäbe es sie nicht, müsste es auch kein moralisches Gesetz geben. Weil wir so oder auch anders entscheiden können, muss es einen Bewertungsmaßstab geben. Hätten wir kein moralisches Gesetz in unserer Vernunft, könnten wir auch keine Freiheit annehmen. Weil wir einen Bewertungsmaßstab haben, der uns Gut und Böse unterscheiden lässt, muss es auch die Freiheit geben, sich dazwischen zu entscheiden. Gott und Unsterblichkeit als solche werden keinesfalls für die Begründung der Moral gebraucht. Sie dienen nur als Symbole für die Zielsetzung moralischen Handelns. „Gleichwohl aber sind sie die Bedingungen der Anwendung des moralisch bestimmten Willens auf sein ihm a priori gegebenes Objekt (das höchste Gut).“ (A 4 ff.) Dies ist bereits eine Vorwegnahme eines Ergebnisses der folgenden detaillierten Analyse. Kant treibt in der Vorrede einigen argumentativen Aufwand, um den theoretischen Gebrauch der Vernunft mit dem praktischen zu verbinden. Denn Gott und Unsterblichkeit waren ja von der reinen Vernunft nicht als Wirklichkeit zu erkennen, sondern nur als Möglichkeit einer praktischen Zielbestimmung des freien Willens. Und diese in ihrer gesetzlichen, also unabdingbar notwendigen Struktur – nicht einer beliebigen Spekula-

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tion – aufzudecken, ist die Aufgabe der Kritik. Die spekulative Kritik hatte ja zwischen Erscheinungen und „Dingen an sich selbst“ wohlweislich unterschieden, wobei Letztere zwar einen Raum des „Übersinnlichen“ freigegeben haben, der aber keineswegs „leer an Inhalt“ oder nur mit „Erdichtung“ gefüllt sein muss. Die praktische Vernunft verschafft nun „einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Kausalität, nämlich der Freiheit, Realität …“ Was mit der reinen Vernunft nur gedacht werden konnte, wird hier zum Faktum. Praktische Vernunft ist Freiheit, aber Freiheit ist noch nicht das Ganze der praktischen Vernunft. Damit wird durch die praktische Vernunft „die befremdliche, obzwar unstreitige Behauptung der spekulativen Kritik, dass sogar das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren Anschauung, bloß Erscheinung sei …“, bestätigt. (A 10) Der Mensch betrachtet einerseits sich selbst wie andere Gegenstände der Erfahrung auch als Erscheinungen. Andererseits lauert hinter den Grenzen der Erfahrung immer das durch diese nicht zu erkennende „Ding an sich“, so auch in der Selbstbetrachtung des Menschen. Denn, wie Kant in einer Anmerkung hinzufügt, wenn die Kausalität, die durch Freiheit möglich wird, und die Kausalität der Naturerscheinungen gemeinsam im Menschen wirksam sind, dann muss Erstere zum Menschen „als Wesen an sich selbst“ gehören, also zum empirisch nicht erkennbaren Bereich eines „Ding an sich.“ Und Letztere, die Gesetzmäßigkeit der Natur also, gehört ins Reich der Erscheinungen, also in das empirische Bewusstsein des Menschen. Wäre es nicht so, würde die Vernunft – Abteilung „reine“ – die ja das eindeutig Erkennbare vom nur Spekulativen geschieden hat, mit der Vernunft – Abteilung „praktische“ – in Widerspruch geraten, die ja die Erkenntnis der Welt mit dem Handeln in dieser Welt der Erscheinungen vereinbaren muss. Die Brücke ist die Kausalität. „Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mit ihr, als Naturmechanism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjekte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen



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an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewusstsein, vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich.“ (A 10 Anm.) Ob Kant mit der Etablierung des „Ding an sich“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ über den Freiheitsbegriff bereits den Ort für die Möglichkeit der Moral im Sinn hatte, sei dahingestellt. In jedem Fall war es ein Platzhalter für alles, was über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht und auch schon als Corpus mysticum auftrat. So wird der Mensch systemgetreu in zwei Teile gespalten: als qua Verstand unmittelbar seine Welt erkennend und in ihr dementsprechend handelnd und als ein der Freiheit ausgesetzter, qua Vernunft Sinn suchender, über Ideen und Ideale nachdenkender. Die Kantsche Vernunft, die diese Spaltung als ihr Wesen begreift – eigentlich hat sie diese verursacht –, muss natürlich wieder zu einer Einheit zurückfinden, denn sie kann als höchste Instanz nicht Verschiedenes sein. Der kategorische Imperativ, auf den alles hinausläuft, ist „als kategorisch praktischer Satz, a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch die praktische Regel selbst, die hier also Gesetz ist) objektiv bestimmt wird. Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend.“ (A 55) Es bedarf immer wieder einiger Mühe, zwischen der reinen und der praktischen Vernunft säuberlich zu unterscheiden. Es sind halt zwei Abteilungen der alles überwölbenden Vernunft, deren Lebenselixier die Erkenntnis a priori ist, die durch keine Empirie kontaminiert sein kann. Und doch letztlich nur aus dem tatsächlichen Streben der Menschen nach allgemeiner Glückseligkeit philosophisch herauskonstruiert wird. Eigentlich fällt die ganze Vernunftkonstruktion nun in einem Nebensatz auf die sehr schlichte Erkenntnis zusammen, dass wir immer wissen, dass wir mehr wissen könnten, als wir jeweils aktuell zur Geltung bringen können. Denn Vernunfterkenntnis ist für Kant nun einmal, „wenn wir uns bewusst sind, dass wir es auch hätten wissen können, wenn es uns auch nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre; mithin ist Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori einerlei.“ (A 23) Nicht so, aber vielleicht mehrfach anders, woraus wir eine abstrahierende

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Summe ziehen. Aber das Apriori entstammt für Kant der Vernunft, eben nicht der Lebens- und Erkenntnispraxis. Aus der Erfahrung Notwendigkeit und Allgemeinheit, also Gesetzmäßigkeit, herausdestillieren zu wollen, bleibt für ihn immer subjektiv und damit untauglich. Aber wie anders als subjektiv und empirisch können wir eine Regel für unseren Handlungswillen festlegen, die dann, wenn wir alles richtig gemacht haben sollten, in eine andere Sphäre übergeht und zufällig auf die Vernunftvorgabe trifft und Gesetz werden kann? Mit dem zuletzt zitierten Satz schrumpft das ganze Gebäude der Vernunftkritik auf ein sehr menschliches Maß zusammen: Vernunft ist das, was wir ohnehin schon immer wissen und denken, wenn wir auch nicht in jedem Falle danach handeln. Die Kritik der praktischen Vernunft „hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.“ Da die Vernunft im Verhältnis zum freien Willen, nicht zu Gegenständen, das Thema sein muss, beginnt der kritische Weg mit Grundsätzen der empirisch unbedingten Kausalität und schreitet von da zu den Begriffen und ihrer Anwendung auf Gegenstände fort, „zuletzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit …“ (A 32) Praktische Grundsätze sind allgemeine Willensbestimmungen. Sie sind Maximen, wenn sie nur subjektive Bedeutung haben. Sie sind praktische Gesetze und damit Ausfluss der reinen Vernunft, wenn sie objektiv für den Willen jedes vernünftigen Wesens gelten. Diverse Lehrsätze und Anmerkungen sollen den kategorischen Imperativ plausibel machen und werden hier knapp zusammengefasst. Jeder Wille, der sich auf einen konkreten Gegenstand bezieht (unteres Begehrungsvermögen), ist nur empirisch und gehört zum „Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit.“ (A 40) Er kann kein praktisches Gesetz ergeben. Nur wenn die Vernunft ohne Rücksicht auf Neigungen oder Gefühle den Willen bestimmt und also als „reine Vernunft praktisch sein kann“, ist sie auch gesetzgebend. (A 45) Das subjektive Glücksstreben in seiner ganzen Vielfalt ist zwar „ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz).“ Aber es ist eben nur zufällig, weil



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hier der konkrete Inhalt entscheidend ist, und nicht die Form der Gesetzmäßigkeit. (A 46) Halten wir fest: Es ist ein Naturgesetz – entspricht der Natur des Menschen –, dass der Mensch für sich ein Optimum seiner Verhältnisse anstrebt. Als allgemeines Gesetz können subjektive Maximen nur gelten, wenn sie sich nicht auf die Materie des Begehrens beziehen, „sondern bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.“ Beides „kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden.“ (A 48 f.) Kant gibt als Beispiel, dass jemand das Geld eines Anderen verwaltet, der dann verstirbt, ohne dieses Geld in seinem Testament erwähnt zu haben. Die Maxime des Verwalters ist, dieses Geld behalten zu wollen. Es ist umstandslos klar, dass die individuelle Habsucht kein allgemeines Gesetz sein kann, „weil es machen würde, dass es gar kein Depositum gäbe.“ Also taugen empirische Bestimmungsgründe „zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung, aber auch ebenso wenig zur inneren …“ Aus den vielfältigen und gegenläufigen subjektiven Maximen „ein Gesetz ausfindig zu machen … ist schlechterdings unmöglich.“ (A 50 f.) Die Form des Gesetzes – es muss für alle und nicht nur wenige Einzelfälle gelten können – ist von der Vernunft vorgegeben. Alle empirischen Bestimmungsgründe des Willens unterliegen der Kausalität der Natur, von der der Wille sich völlig freimachen muss, um der Form des Gesetzes Genüge tun zu können. Er muss also alle unmittelbaren und konkreten Absichten vergessen und die tiefer liegenden Gründe für diese Absicht freilegen, die wiederum auch für andere konkrete Handlungen maßgebend sein können. „Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.“ (A 52) Der Freiheit als abstraktem Begriff – „im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande“ und also von der Vernunft geboren (A 52) – aber sind wir uns nicht unmittelbar bewusst, weil ihr „erster Begriff negativ ist“, also Freiheit von etwas und nicht zu etwas. Auch aus der Erfahrung, die ja mit empirischen Kausalitäten hantiert, können wir das praktische Gesetz nicht erkennen, weil dazu wiederum die Freiheit des Willens als Bewusstsein jeweils verschiedener Handlungsmöglichkeiten erforderlich ist. Und so, wie in der „Kritik

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der reinen Vernunft“ das synthetische Urteil a priori als reine Vernunftgeburt immer schon vorhanden ist, so wird in der „Kritik der praktischen Vernunft“ das moralische Gesetz als a priori der Vernunft für das ganze System vorausgesetzt und nicht erst neu erfunden. „Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewusst werden (sobald wir uns Maximen des Willens unterwerfen), welches sich uns zuerst darbietet, und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnlichen Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt.“ (A 53) Im Normalbereich der Dinge, die immer nach dem Wenn-Dann-Schema ablaufen, hat die Freiheit nichts verloren, sondern nur da, wo sich uns Fragen stellen, wie vernünftig und moralisch wir selbst handeln können. Wir haben zumindest ein Gefühl für die bestmögliche Antwort. Die transzendentale Freiheit bot in der „Kritik der reinen Vernunft“ ja die Möglichkeit, durch Handeln neue Kausalketten zu begründen und sich insoweit von einem durchgängigen Determinismus der Natur zu verabschieden. Nun erkennen wir auf dem Wege zum Handeln das moralische Gesetz bereits von vornherein. Wie ist das möglich?, fragt sich Kant sehr wohl. Praktische und theoretische Gesetze oder Grundsätze, deren Notwendigkeit uns die Vernunft vorschreibt, können wir jederzeit erkennen. Der reine Wille entstammt der Praxisorientierung, der reine Verstand der Theorieorientierung der metaphysischen Wissenschaft, womit Ersterer Letzterem einige Probleme aufgegeben hatte, die in der „Kritik der reinen Vernunft“ behandelt wurden. Aber die Entdeckung des Begriffs der Freiheit in praktischer Bedeutung verdankt sich der „Sittlichkeit“ als Postulat der praktischen Vernunft. Ein moralisches Bewusstsein ist immer schon vorhanden und wohnt jedem Individuum inne, wie es an anderer Stelle hieß. Es ist ein natürlicher Teil des Alltagsbewußtseins und als solches letztlich ein empirisches Phänomen, das im Kantschen System aber erst noch zur Philosophietauglichkeit erhoben werden muss. „Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz der Sittlichkeit einführen, und diesen gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht ist, unwissend, oder in durchgängigem Irrtume



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gewesen wäre“, hat Kant bereits zuvor in einer Anmerkung betont. (A 16) Und so wäre „man niemals zu dem Wagstücke gekommen … Freiheit in die Wissenschaft (als ihren Gegenstand, VB) einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen, und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen.“ (A 54) Bereits zuvor hat Kant die tautologische Verschränkung von Moral und Freiheit durch den Hinweis in einer Anmerkung aufzuheben versucht, dass Freiheit nur der Kern (Ratio essendi) der Moral, Moral aber der Erkenntnisgrund (Ratio cognoscendi) der Freiheit sei. (A 6) Gleichwohl: Moralisches Handeln ist Freiheit, und Freiheit ist, moralisch zu handeln. Wir können also die Freiheit als entscheidendes Element der Moral nur durch diese wahrnehmen, was bedeutet, wir können einen Teil nur über das Ganze, in das es eingebettet ist, erkennen. Das ist zumindest fragwürdig, aber Kant denkt die Freiheit der praktischen Vernunft ja nicht als beliebige Wahlfreiheit oder gar nur Meinungsfreiheit, sondern als Chance, sich von unmittelbaren persönlichen Impulsen zugunsten einer höheren Vernunft zu befreien. Unmittelbar vor der Ausformulierung des kategorischen Imperativs gibt Kant zwei für heutige Verhältnisse skurrile Beispiele für das Zusammenspiel von Sittlichkeit und Freiheit. Wenn „jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt“, sie überkomme ihn bei Gelegenheit „ganz unwiderstehlich“, so würde er doch widerstehen können, „wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen … Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er (der Fürst, VB) gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; dass es ihm aber möglich sei, muss er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, dass er es kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er

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es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (A 54) Die sicher wohlerwogenen Beispiele verdeutlichen, unter welchen historischen Bedingungen Kant wirkte, um diese letztlich aufzuheben. Dass Derartiges in etlichen Teilen der Welt auch heutzutage kaum als irreale Fantasie abgetan werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Halten wir an den obigen Beispielen fest: Der Lüstling kann seine Triebabfuhr beherrschen, wenn er mit dem Tode bedroht wird. Soll heißen, wir sind nicht Sklaven unserer Neigungen, sondern können uns entscheiden. Im zweiten Fall weiß der mit dem Tode bedrohte arme Teufel aus der schon vorhandenen Moral, dass man niemandem schaden soll. Aber woher weiß die Moral das? Weil sie ein „vernünftiges“ System von Regeln ist, das sich historisch und gesellschaftlich entwickelt hat, das die wechselseitigen Interesse aller miteinander verträglich machen soll und das immer schon qua Sozialisation vermittelt wird. Sie hätte in diesem Fall allerdings auch zu der Regel gelangt sein können: Gehorche immer den Befehlen deiner Oberen, weil dies die Funktionalität einer Gesellschaft garantiert. Jedenfalls könnte eine solche Maxime durchaus zum allgemeinen Gesetz werden, „und es gibt gar nichts, was nicht auf diese Weise zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte“, schrieb Hegel bereits zwei Jahre vor dem Ableben Kants im „Kritischen Journal der Philosophie.“ (Hegel 461) Allerdings steht unserem Beispielopfer dieser Fluchtweg nicht zur Verfügung, weil der Befehl offenkundig unmoralisch ist und die unmittelbar verlangte Handlung kein Ausweichen in abstraktere moralische Rechtfertigungen erlaubt. Und außerdem: Den Oberen zu gehorchen gilt ja für die Oberen selbst nicht, ist also nicht für alle gültig. Es sei denn, sie etablieren Gott über sich. Es gibt also durchaus verschiedene potentiell moralisch gerechtfertigte Lösungen in Konkurrenz zueinander, und das Problem ist für Kant, eine Formel zu finden, die alle abdeckt und zugleich keine Zweifel über die richtige Lösung zulässt. Einstweilen hat unser Kandidat nur entdeckt, dass er in seiner Entscheidung frei ist, aber für die moralisch richtige Lösung am Galgen enden würde. Auch dies wieder ein moralisches Problem: die Opfe-



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rung des eigenen Lebens gegen irgendeinen Schaden, den ein anderer erleidet? Die „reine, an sich praktische Vernunft“ hat also als „Grundgesetz“ erlassen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (A 54) Es ist bewusst und willentlich eine Leerformel, die mit keinerlei konkretem Inhalt aufgefüllt werden kann, weil sie nur die Möglichkeit einer zarten Berührung von Praxis und Vernunft beschreibt. Die allgemeine Gesetzgebung ist nicht zufällig die Schwester von Rousseaus „volonté générale“ als Grundlage von Rechtsstaat und Republik, aber die praktische Vernunft zielt doch eindeutig auf die individuellen Voraussetzungen einer vernünftigen Gesellschaftsordnung. Niemand kann sich anmaßen, aus dem seiner Überzeugung nach noch so moralischen Grund für seine Handlungsabsicht den Anspruch zu erheben, dass alle Anderen sich genauso verhalten müssen, weil deren Maximen zwangsläufig auch von der konkreten Handlungssituation kontaminiert sind, auch wenn sie sich an der potenziellen Gesetzestauglichkeit zu orientieren bemüht waren. Jedwede Empirie hat für Kant hier wieder einmal nichts zu suchen. Es heißt ja nicht: Da gibt es ein Gesetz, dass du nur ausführen musst. Es heißt nur: Bedenke, wenn du etwas tust, ob auch andere vernünftige Wesen den tieferen Grund für dein Handeln teilen könnten, ob sie dir keine begründeten Vorwürfe machen würden, wenn sie an deiner Stelle wären. Bevor deine Maxime einen Geltungsanspruch für alle erreichen kann, muss sie erst noch durch den Filter der Formulierung eines deutlich abstrakteren Prinzips gehen, bevor das Traumziel eines moralischen Gesetzes erreicht ist. Aber dann hast du selbst das moralische Gesetz nach dem Rezept des kategorischen Imperativs – mit vielen anderen – geschaffen und letztlich gerade für dich in Kraft gesetzt. Kant formuliert allein die Beschreibung der Operationsweise unserer praktischen Vernunft, die sich notwendig an Zielen orientiert, die uns selbst nicht schaden wollen, indem sie Anderen nicht schaden sollen, zu denen wir einen Moment später selber gehören könnten und so an den Folgen unserer

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eigenen Entscheidung leiden müssten. „Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Die Sache ist befremdlich genug, und hat ihres gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntnis nicht.“ (A 55) Was Zeitgenossen und Schüler Kants, die in seinem Todesjahr 1804 ihre drei Biografien herausgaben, für Maximen ihres verehrten Lehrers hielten, führt auf eine sehr schlichten Boden von Alltagsdingen zurück. Sein „ganzes Leben (war) eine Kette von Maximen geworden“, hielt Jachmann fest. Nach einer etwas zu ausgedehnten Kutschfahrt über Land mit einem ungenannten Grafen fasste Kant „die Maxime, nie wieder in einen Wagen zu steigen, den er nicht selbst gemietet hätte“, und als ihm geraten wurde, bei seiner häufigen Übelkeit zwei statt nur eine Pille zu schlucken, „die Maxime, nie in seinem Leben mehr als täglich zwei Pillen zu nehmen“, ebenso „die Maxime … täglich nur eine Tonpfeife zu rauchen.“ (Biografien 131 f.) Und der Biograf Borowski fragte sich angesichts von Kants Ehelosigkeit: „Stand ihm vielleicht hier auch eine Maxime im Wege?“ (ebd. S. 60) Maxime war kein Frauenname, aber offensichtlich ein Modewort unter den Kundigen geworden. Die „allgemeine Gesetzgebung“ ist als ein „Gedanke a priori“ und wie andere apriorische Theorieelemente auch von der Vernunft ohne jede Empirie als Gesetz geboten. Es handelt sich auch um keine Handlungsvorschrift, wie Kant betont, sondern um den apriorischen Bestimmungsfaktor des Willens. Die „objektive Form eines Gesetzes“, die „bloß zum Behuf der subjektiven Form der Grundsätze dient, (ist) wenigstens zu denken, nicht unmöglich.“ Es ist ein „Faktum der Vernunft … weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori …“ (A 55 f.) Was man sich denken kann, ist „ein Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen … bezeichnet wird, dass, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen wird.“ (A 37) Wie immer der Wille gebildet wird, er ist die Vorstufe zum



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Handeln. Was aber ist Handeln? Kant unterscheidet nicht zwischen einer Tat und einer Meinung, die sich in einem gesprochenen Satz äußert. Eine Lüge ist eine solche gesprochene Tat, die Folgen haben kann. Sie ist, auch wenn sie einen Mord verhindern könnte, nach dem Moralgesetz unzulässig, weil ja auch die Wahrheit, wo sich beispielsweise das potenzielle Opfer versteckt, nicht zwangsläufig zum finalen Ende führen müsste, wie Kant umständlich argumentiert. („Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen“, 1797) Es muss sich eben jede Lebenssituation den nun endlich aufgedeckten Prinzipien der alles beherrschenden Vernunft unterordnen. Wie aber steht es mit der Meinungsfreiheit, ohne Frage eine zentrale Forderung der Aufklärung? Es kann nicht mehr überraschen, dass ein wirklicher Pluralismus, der die Geltung verschiedener begründbarer Auffassungen als Voraussetzungen von Handlungen zulässt, für Kant systematisch gar nicht möglich ist, weil die eine Vernunft letztlich immer die eine Lösung vorschreibt. Ein Moralsystem, das nicht auf „die“ moralische Lösung eines Problems hindenkt, wäre kein System, sondern ein Rezeptbaukasten. Schon die gepriesene „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1783) hat aus heutiger Sicht ein prekäres Verständnis von Meinungsfreiheit, die dem Gelehrten als Fleischwerdung der Vernunft uneingeschränkt zusteht, dem Inhaber eines „bürgerlichen Postens“ aber empfiehlt, „sich bloß passiv verhalten“ zu sollen. Aber das berührt ja noch nicht die Frage der inneren Meinungsbildung, die kraft der Vernunft ohnehin alternativlos enden wird: „Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt … zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen? Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objektiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich bloß der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjekten zu gründen, ist also gar leicht; man muss nur früh anfangen, die jun-

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gen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.“ („Was heißt: Sich im Denken zu orientieren?“, 1786, A 330 Anm.) Vernunft und die aus ihr folgende Moral besetzen das weite Feld des Nichtwissens in unsicherem Gelände. Das von der Vernunft gegebene Sittengesetz gilt „für alle vernünftigen Wesen“ und „schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz, mit ein.“ Gott wird also neuerlich beiläufig der Vernunft unterworfen. Für den Menschen „aber hat das Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar, als vernünftigem Wesen, einen reinen … aber keinen heiligen Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann. Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist.“ Weil der Mensch bekanntermaßen auch von anderen subjektiven Ursachen bestimmt wird, bedarf er einer moralischen Nötigung, „eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller, Zwang genannt werden kann.“ Es ist seine Pflicht, dem Imperativ zu folgen, bis schließlich die „Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die selbst wiederum … nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle niemals apodiktische Gewissheit wird, und als Überredung sehr gefährlich ist.“ (A 57 f.) Kant hat sich auch hier ein gehöriges Realitätsbewusstsein bewahrt und sein philosophisches Glasperlenspiel letztlich nicht für eine sichtbare Wirklichkeit ausgegeben. Im Grunde schwankt er zwischen der Behauptung einer aus Vernunft einzig möglichen Lösung für die menschliche Praxis als Faktum und der Einsicht, allenfalls einen Vorschlag anzubieten, dem die Vernünftigen bitte folgen mögen. Die ein Jahr später beginnende Französische Revolution dürfte hinlänglich klar gemacht haben, dass die Realität aus dem Kommandostand der Metaphysik weder adäquat zu begreifen noch gar zu beeinflussen ist. Alle Notwendigkeiten und Zwänge der praktischen Vernunft verlaufen sich vor der empirischen Wirklichkeit wie eine Welle am Strand, die sich wieder in ihr Meer zurückziehen muss. Man mag ja, wie es häufig geschehen ist, mit der praktischen Ver-



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nunft Kants an das allgemeine Beste appellieren, man mag es hoffnungsvoll für wünschbar halten, dass die Kantsche Vernunft eines Tages überall ihren Einzug halten möge, aber das kann nur ein Missverständnis sein. Mit Kant hätte man wieder nichts anderes in der Hand als die Hoffnung, eine fern des gesellschaftlichen Alltags angesiedelte Abstraktion möge irgendwie Empirie werden. Denn welche gesellschaftliche Realität auch immer, sie hat nichts mit Kants Sittengesetz zu schaffen, dessen Prinzip es geradezu ist, für alles gelten zu sollen und damit für nichts wirklich zu gelten. Es ist Metaphysik, nicht Physik. Es ist zweifelsfrei so, wenn man sich aus der Kantschen Denkweise herausbegibt und irgendein halbwegs praxistaug­ liches Rezept erwartet. Aber das ist gerade der Clou seiner Argumentation aus den Sphären der Vernunft, der uns am Ende auf uns selbst und unsere jeweiligen Entscheidungen zurückwirft, auch wenn unser Inneres nicht von der Vernunft umzingelt sein mag. Er will uns gar nicht vorführen, was wir zu tun hätten, sondern nur, wie es in uns denkt und denken soll, wenn wir uns entscheiden. Die „Autonomie des Willens“, also die Freiheit, ist die eigentliche Entdeckung. Nicht ein konkretes, wünschbares Ziel oder gar ein Gegenstand sind die beherrschenden Mechanismen unseres Denkens, sondern ein dahinter liegendes, tiefgründiges Prinzip, das uns erst gesellschaftsfähig macht, wie immer unvollkommen es im Einzelfall bewusst oder unbewusst zum Tragen kommt. Nur wenn es Wahlfreiheit gibt, sind Maximen überhaupt und schließlich ihre Übereinstimmung „mit dem obersten praktischen Gesetze“ möglich. Wenn „die Materie des Wollens … als das Objekt einer Begierde“ hineinkommt, ist die Freiheit sofort durch ihre „Abhängigkeit vom Naturgesetz, irgendeinem Antriebe oder Neigungen“ nicht nur eingeschränkt, sondern aufgehoben, „und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze …“ (A 59) Und weil der reine freie Wille nicht im Bereich empirischer Kalküle spielt, sondern ausdrücklich in einer ganz anderen Sphäre, kann die Notwendigkeit seines obersten Gesetzes „bloß in formalen Bedingungen der Möglichkeit eines Gesetzes überhaupt bestehen.“ (A 60)

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Denn in der empirischen Wirklichkeit der Menschen dreht sich unvermeidlich alles um ihre eigene Glückseligkeit. Sie sind also als Egoisten das genaue Gegenteil von dem, was das Sittengesetz fordert. Die Glückseligkeit aller kann sehr wohl das Objekt eines vernünftigen Willens sein, aber dieses Ziel kann nicht der Bestimmungsgrund des Willens – der Maxime – sein, da man nicht annehmen kann, dass allen Menschen das Wohlergehen Anderer ein ebensolches Bedürfnis ist. Nur wenn es anders wäre, könnte die Maxime zu einer allgemeinen moralischen Gesetzgebung taugen, die ja allgemeine Gültigkeit voraussetzt. Man kann die bloße Form des Gesetzes mit einem konkreten Inhalt anreichern, aber diesen Inhalt eben nicht als dessen Voraussetzung ansehen. Wenn also die eigene Glückseligkeit das Ziel sein soll, dann bedarf die Vernunftbedingung der Allgemeingültigkeit den Einschluss aller, wenn es ein objektiv geltendes praktisches Gesetz werden soll. Das bedeutet zugleich, dass ich wohl meine eigenen Glücksvorstellungen einschränken muss. Also war nicht die Glückseligkeit Anderer der Bestimmungsgrund des Willens, sondern die unerlässliche Form des Gesetzes, welche die Berücksichtigung der Anderen als Ausfluss der reinen praktischen Vernunft erforderlich machte. (A 60 f.) Weil die Vorstellungen der Glückseligkeit aber empirisch sehr verschieden sind, reicht es auch dann nicht zu einem praktischen Gesetz, wenn ich der Form Genüge tue und alle Anderen einzuschließen versuche. Es ergibt allenfalls eine generelle Regel, „die im Durchschnitte am öftersten anzu­ treffen“ ist, aber keine universelle Regel. „Dieses Prinzip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselbe praktische Regeln vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objektiv notwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat.“ (A 64) Das moralische Gesetz ist in seinem Kern also nur eine Denkfigur am Anfang oder Ende einer konkreten Willensentscheidung, dem nahe zu kommen eine schwere Aufgabe bleibt. Es enthält auch keine Handlungsvorschrift, die in Stein gemeißelt wäre, obwohl Kant ihm immer wieder den Status der ope-



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rativen Praktikabilität zuschreibt. Dabei ist ihm auch immer wieder die Differenz zwischen Denkfigur und rauer Wirklichkeit durchaus bewusst. Denn diese Denkfigur ist für ihn keine Abstraktion aus welcher Realität auch immer, sondern ein der Realität von der Vernunft vorgesetztes, ausgedachtes, gewünschtes Zielobjekt. Was moralische „Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt, und erfordert viel Klugheit, um die praktisch darauf gestimmte Regel durch geschickte Annahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen. Gleichwohl gebietet das sittliche Gesetz jedermann, und zwar die pünktlichste, Befolgung. Es muss also zu der Beurteilung dessen, was nach ihm zu tun sei, nicht so schwer sein, dass nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüsste.“ Deutlicher kann das Schwanken zwischen Denk- und Realitätsprinzip kaum formuliert werden, zumal Kant gleich darauf nochmals betont, dass jedermann jederzeit dem „kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge“ tun könne, aber „der empirisch-bedingten Glückseligkeit nur selten …“ (A 65 f.) Unter der Glückseligkeit firmiert das Individuum in seinem persönlichen Glücksstreben, über das nicht mehr herauszufinden war, als dass es vernunftbegabt und Letzteres sein natürliches Verhalten ist. Kant erörtert später noch ein Wortfeld aus Selbstsucht und Selbstliebe, Eigenliebe und Eigendünkel und „vernünftiger Selbstliebe“, das zum Beispiel bündig zum Ergebnis hat: „Also schlägt das moralische Gesetz den Eigendünkel nieder.“ (A 130) Allerdings stellt sich ja noch die Frage, wie die Vernunft qua moralischem Gesetz zu weiteren Inhalten gelangen kann. Wenn sie als freier Wille sich nicht den empirischen Bedingungen sklavisch unterwirft, sondern selbst Objekte kreiert, (A 77) stößt sie unvermeidlich auf das „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft …: dass nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetz (dem es dem Anschein nach sogar zu Grunde gelegt werden müsste), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.“ (A 110)

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Wir haben die Wahl. Wenn wir irgendein für uns positives Objekt anstreben, bewegen wir uns im Reich der Empirie, die auch „vernünftige, praktische Vorschriften“ zulässt, aber keine Gesetze. Wenn aber ein Vernunftprinzip „ohne Rücksicht auf mögliche Objekte des Begehrungsvermögens (also bloß durch die gesetzliche Form der Maxime)“ als Bestimmungsgrund des Willens fungiert, dann ist „jenes Prinzip praktisches Gesetz a priori, und reine Vernunft wird für sich praktisch zu sein angenommen.“ Definiert man nun ein Objekt als Gut oder Böse, hat die Empirie gesiegt und der Moral Vorschriften gemacht, die niemals zu einem Gesetz werden könnten. Also ist es das moralische Gesetz, wir können auch sagen der kategorische Imperativ, der definiert, was als gut oder böse angesehen werden kann. Gut ist demnach, was dem Maßstab der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit standhält, Böse was nicht. Oder, wie Kant ergänzend als „Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft“ formuliert: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut oder böse sind.“ (A 122) Und für den sittlichen Wert der Handlungen kommt es darauf an, nicht aus einem Gefühl heraus „gemäß dem moralischen Gesetze“ zu handeln, sondern „dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme.“ (A 127) Gefühle sind für Kant bekanntlich „pathologisch“, weil sie der Vernunft entgegenstehen. Nachdem Kant noch des Längeren und Breiteren im ersten Teil der „Kritik“, der Analytik, über Triebfedern, Achtung, Disziplin, „Pflicht! du erhabener großer Name“, (A 155) Gewissen, „Gott, als allgemeines Urwesen“ räsoniert, (A 180) geht es im zweiten Teil, der Dialektik, um „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts.“ (A 194) Es ist analog zur Argumentation der ersten Kritik „das notwendige Objekt eines durchs moralischen Gesetz bestimmbaren Willens“, nie vollständig zu erreichen und daher auf einen „ins Unendliche gehenden Progressus“ angelegt, der wiederum die „Unsterblichkeit der Seele“



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und die „Existenz Gottes“ voraussetzt. (A 220 ff.) Das Christentum genügt mit seinem Begriff des höchsten Guts als Reich Gottes „der strengsten Forderung der praktischen Vernunft“. Dazu heißt es in einer Anmerkung Kants: „Die christliche Moral, weil sie ihre Vorschrift (wie es auch sein muss) so rein und unnachsichtlich einrichtet, bestimmt dem Menschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu sein, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, dass, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, dass, was nicht in unserem Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht.“ (A 230 f.) So gelangt das moralische Gesetz über das höchste Gut. „als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d. i. willkürliche für sich selbst zufällige Verordnungen, eines fremden Willens, sondern als wesent­ licher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebungen zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können.“ (A 233) Es sei noch darauf hingewiesen, dass Kant auch diesen rationalen Gott in seine Schranken weist, indem er ein sehr handfestes moralisches Postulat formuliert, das immer wieder gern hervorgeholt wird: „Dass, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals bloß als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hierbei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, dass also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des moralischen Gesetzes … ist. Denn dieses moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines Willens, als eines freien Willens, der nach seinen allgemeinen Gesetzen notwendig zu demjenigen zugleich muss einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll.“ (A 237)

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Ob es zu dieser Erkenntnis als Voraussetzungen der Moralität der drei Postulate Unsterblichkeit, Freiheit und das Dasein Gottes wirklich bedurfte, wie Kant behauptet (A 238), sei dahingestellt. Er hätte sich auf andere Weise, empirisch gesättigter, dem moralischen Überlebensinteresse der Menschheit nähern können, wie er anlässlich der Erörterung des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft durchaus andeutet: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses, und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zu machen. Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese bloß zur Befriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens, zu gebrauchen. Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, dass er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre alsdenn nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zweck zu bestimmen. Er bedarf also freilich, nach dieser einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt, Vernunft, um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hat sie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessierte Vernunft nur allein urteilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese Beurteilung von jener gänzlich zu unterscheiden, und sie zur obersten Bedingung des letzteren zu machen.“ (A  108 f.)

VII. Kritik der Urteilskraft Kants „Hiermit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft“, (B X) schreibt Kant in der Vorrede zur 1790 erschienenen dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft.“ Sie enthält nicht unbedingt das, was man unter einem solchen Titel erwarten könnte,



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sondern ist ganz der Ergänzung, und wenn man so will, Reparatur des Systems der ersten beiden Kritiken gewidmet, die Kant noch nicht als abgeschlossenes System betrachtet. Dem Werk ist heiße Bewunderung und tiefe Verachtung und Ratlosigkeit in vielen Details entgegengebracht worden, aber es liefert auch einen krönenden Abschluss des Systems, der seine Faszination weniger transzendentalen Verschachtelungen verdankt, sondern vergleichsweise einfachen und direkten Aussagen über die Welt des Menschen. Im Jahr des Erscheinens der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ schrieb er in einem Brief, er sei nun unbesorgt, „dass jemals ein Widerspruch … meinem System erheblichen Abbruch thun (könne) … So beschäftige ich mich jetzt mit der Critik des Geschmacks bey welcher Gelegenheit eine neue Art von Prinzipien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn der Vermögen des Gemüths sind drey: Erkenntnisvermögen Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Critik der reinen (theoretischen) für das dritte in der Critik der praktischen Vernunft Principien a priori gefunden. Ich suche sie auch für das zweyte … so dass ich jetzt drey Theile der Philosophie erkenne deren jede ihre Principien a priori hat die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnisse bestimmen kann – theoretische Philosophie Teleologie und practische Philosophie von denen freylich die mittlere als die ärmste an Bestimmungsgründen befunden wird.“ (Briefe, 128 f.) Nun ist der Zusammenhang von Lust und Teleologie – der zweckmäßigen und zweckgerichteten Ausrichtung der Natur – nicht auf den ersten Blick einleuchtend, aber in der „Kritik der Urteilskraft“ wird die Lust zum Diener der Erkenntnis. Sie tritt genau dann ein, wenn wir bei der Verfolgung einer Absicht entdecken, dass aufgefundene empirische Gesetze der Zweckmäßigkeit der Natur und also unserem Verstand entsprechen, der eine solche Teleologie der Natur vorgegeben hat, weil er ohne sie nichts wirklich erkennen kann. (B XXXVIII ff.) Wir freuen uns also, wenn stimmt, was wir vermuten. Nun taucht die Urteilskraft neben Begriffen wie Einbildungskraft, Vorstellungsvermögen, Spontaneität, Erkenntnisvermögen,

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Begehrungsvermögen, regulativen Ideen, Prinzipien und Gesetzen auch schon in den beiden vorhergehenden Kritiken auf und lässt vermuten, ihre nähere Analyse stelle ein Zwischenglied zwischen den grundlegenden Gesetzen der Erkenntnis und ihrer menschlichen Umsetzung in die Praxis dar: Urteilskraft als Methode oder Fähigkeit, die richtigen Schlüsse sowohl in der Erkenntnis als auch für die praktischen Folgerungen zu ziehen. Dies würde allerdings wohl in eine gefährliche Nähe zur Empirie führen müssen und den Status der ersten beiden Kritiken gefährden. Denn in diesen hat die Vernunft durch die Formulierung der grundlegenden Gesetze für Theorie und Praxis ihre Aufgabe abschließend erledigt, wenngleich Kant jeweils anmerkt, eine vollständige Ausführung des Systems sei eine noch zu leistende Aufgabe. Sie hat – und mehr kann sie nicht – den nicht mehr überschreitbaren Rahmen für alle Antworten gezogen, die auf entsprechende Fragen gegeben werden könnten. Wenn Kant die Philosophie als Handbuch für die Praxis verstanden hätte, wäre der Urteilskraft als Verbindung von Theorie und Praxis sicher größerer Raum eingeräumt worden. Das will sie aber nicht sein, sehr wohl aber ein Handbuch für das Denken, das nicht unmittelbar auf die Zumutungen der Wirklichkeit reagieren muss und etliche Begriffe als selbstverständlich benutzen darf. Warum aber erscheint in der ersten brieflichen Erwähnung des Vorhabens einer dritten Kritik ausgerechnet der Geschmack als würdiges Thema und unvermittelt die Teleologie, die ja auch schon in der ersten Kritik angedeutet wird? Es könnte die Vorstellung sein, dass es zu Richtig und Falsch, Gut und Böse nichts mehr zu sagen gibt, aber zu Schön und Gut, dass also Schönheit wie Moral zum Inventar des Endzwecks der Menschheit gehören und folglich einem höchsten Prinzip unterliegen müssen wie alles, was der Vernunft zugeschrieben wird. Die Urteilskraft, wobei „unter dem Namen des gesunden Verstandes kein anderes, als eben dieses Vermögen gemeint ist“, gehöre zwar als besonderer Teil zur Kritik der reinen Vernunft, so Kant in der Vorrede „obgleich ihre Prinzipien in einem System der reinen Philosophie keinen besonderen Teil zwischen der theoretischen und praktischen ausmachen dürfen, sondern im



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Notfalle jedem von beiden gelegentlich angeschlossen werden können.“ Und der Notfall wäre der Mangel eines Prinzips, der beispielsweise bei den Urteilen zutage tritt, „die man ästhetisch nennt, die das Schöne und Erhabene, der Natur oder der Kunst, betreffen“. Sie gehören also einerseits zum Erkenntnisvermögen, beziehen sich aber andererseits auf das „Gefühl der Lust und Unlust nach irgend einem Prinzip a priori, ohne es mit dem, was Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens sein kann, zu vermengen, weil dieses seine Prinzipien a priori in Begriffen der Vernunft hat.“ Zwischen der Erkenntnis von Gegenständen und den Vorgaben der Vernunft für positiv aufgeladene Zielsetzungen steht die Lust – als positives Gefühl zu verstehen – als merkwürdiger Schwächling, der von zwei Mühlsteinen zermahlen zu werden droht. Und die Mühlsteine sind die beiden vorherigen Kritiken, denen sich alles zu fügen hat. Ausdrücklich geht es nicht um „Bildung und Kultur des Geschmacks“, sondern um die transzendentale Ebene, auf der das „Geschmacksvermögen“ trotz „einiger nicht ganz zu vermeidenden Dunkelheit“ in das Vernunftsystem eingepasst werden muss. (B  VI ff.) So kommt es dann hinsichtlich der Gefühle des Schönen und, nächst mächtige Stufe, des Erhabenen zu feingeschliffenen Erkenntnissen, die dem prinzipiell subjektiven Urteil doch seine Allgemeinverbindlichkeit attestieren, denn das Subjektive muss im Dienste der Vernunft das Objektive sein können. Weithin bekannt ist das „interessenlose Wohlgefallen“ am Schönen, welches vom Subjektiven absieht und deshalb aufgrund eines Gemeinsinns von allen teilbar ist. (§ 2 ff.) Und das Erhabene ist dann nicht mehr in der sinnlichen Anschauung zu haben, „sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihm angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lässt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden. So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist grässlich; und man muss das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und

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sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird.“ (B 77) Es geht, wie im Beispiel angedeutet, um das Bild, das wir uns von der Natur als philosophischem Bezugspunkt machen, nicht um die Kunst. Denn das eigentliche Problem Kants ist es, die Dichotomie zwischen dem Naturbegriff als gesetzmäßigem Geschehen und dem Freiheitsbegriff mit seiner eigenen Gesetzlichkeit neuerlich und endgültig aufzulösen. Die Brücke ist die Urteilskraft, deren tragende Säule die vorgegebene zweckmäßige Organisation der Natur ist und auch dem Schönen zugrunde liegt. Das ist durchaus listig gedacht, denn wenn alles schon prinzipiell zweckmäßig geordnet ist, müssen wir es nur noch bestätigen und nicht mehr entscheiden, ob es denn wirklich so ist, und haben ein wunderbar geschlossenes Ganzes vor uns. „Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so dass von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erstere auf die zweite keinen Einfluss haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluss haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. – Also muss es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zu Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigentüm­ liches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen, zu der nach Prinzipien der anderen, möglich macht.“ (B XX 20) Nun muss die Urteilskraft, um hinter den Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft (für das Nichtsinnliche) nicht marginal zu werden, gleichfalls mit gesetzgeberischer Kraft ausge-



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stattet werden. Unter dem geht es nun mal nicht. Sie ist zunächst einmal „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ Ist zum Besonderen das zugehörige Allgemeine nicht selbstverständlich vorhanden, wird sie zur reflektierenden Urteilskraft. Sie muss es geben, weil trotz der a priorischen Gesetze des reinen Verstandes die Vielfalt der empirischen Natur eine Vielfalt von empirischen Gesetzen hervorbringt, die ihrer Beurteilung harren. Aber sie bedarf auch „eines Prinzips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen kann, weil es eben die Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien, und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben untereinander, begründen soll. Ein solches transzendentales Prinzip kann also die reflektierende Urteilskraft sich nur selbst als Gesetz geben … Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als: dass, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (ob zwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte … Weil nun der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck, und die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist, die Zweckmäßigkeit der Form derselben heißt: so ist das Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesichtspunkten überhaupt, die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit. D. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat.“ (B  XXVII f.)

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Unser Verstand formuliert also bekanntlich die Naturgesetze. Man könnte – unkantisch – auch sagen, sie spiegeln sich in unserem Verstand wider. Täten sie das nicht, gäbe es sie für uns auch nicht. Aber weil wir nur einige Gesetze kennen, die Natur aber noch unendlich viele weitere Rätsel aufgibt, muss es ein grundlegendes Prinzip geben, mit dem wir gegebenenfalls neue Gesetze überhaupt als solche erkennen können. Und dieses Gesetz der Gesetze ist unsere Unterstellung, die Natur sei generell so zweckmäßig organisiert, wie aus einem Keim eine vollständige Pflanze wird, die wiederum Samen hervorbringt usw.: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts in ihr ist umsonst; man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.“ (B 301 f.) Warum für Kant das Verstandesgesetz der Kausalität – alles hat eine Ursache – nicht hinreichend ist, scheint spätestens seit der „Kritik der praktischen Vernunft“ klar zu sein: Für den Menschen hat alles auch ein Ziel. Ohne seine moralische Bestimmung kann nicht sinnvoll über ihn nachgedacht werden. Und so müssen nur noch Natur und Freiheit zielorientiert parallelisiert werden. Natürlich gibt Kant noch allerlei Erläuterungen und Differenzierungen zum Begriff des Zweckes, der als innerer und äußerer, letzter und Endzweck erscheint, bevor sein ganzes kritisches Geschäft, sein philosophisches System, in dem Paragraphen 83 seinen abschließenden Höhepunkt erreicht. Von äußerer Zweckmäßigkeit ist übrigens „die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zur Fortpflanzung ihrer Art; denn hier kann man immer noch, eben so wie bei einem Individuum, fragen: warum musste ein solches Paar existieren? Die Antwort ist: Dieses hier macht allererst ein organisierendes Ganze aus, obzwar nicht ein organisiertes in einem einzigen Körper.“ (B 381) „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“ ist der im Original achtseitige Abschnitt überschrieben, der hier mit einiger Ausführlichkeit zu Worte kommen soll, obwohl damit nicht alle Fragen und Folgerungen erörtert wer-



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den können. Denn hier versucht Kant, man muss schon sagen auf geniale Weise, den in der Anlage unserer Darstellung konstatierten Bruch zwischen den empirischen Aussagen über den Menschen und der philosophischen Begründung zu heilen, wie er anders sein sollte. Denn das ganze philosophische System bewegt sich unter der Herrschaft einer Vernunft, die uns sagt, was wir wissen können und was nicht, wenn wir ihr Respekt zollen, und was wir tun können und müssen, wenn wir ihrer Emanation als Moral die gleiche Achtung entgegenbringen. Dabei sind die Gesetze, die sie erlässt, bei Lichte betrachtet nur Appelle, diese – nach selbstständiger Prüfung ihrer Plausibilität – zur Grundlage des eigenen Denkens und Handelns zu machen, zumal dabei noch Fragen ohne Ende zu lösen bleiben. „Wir haben im Vorigen gezeigt, dass wir den Menschen nicht bloß, wie alle organisierten Wesen, als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur, in Beziehung auf welchen alle übrige Naturdinge ein System von Zwecken ausmachen, nach Grundsätzen der Vernunft … zu beurteilen hinreichende Ursache haben.“ Der erste Zweck der Natur ist seine Glückseligkeit, sofern die äußere Natur den inneren Bedürfnissen Genüge tun kann. Sie ist keine Abstrahierung seiner tierischen, natürlichen Instinkte, sondern die „bloße Idee eines Zustands, welcher er den letzteren unter bloß empirischen Bedingungen (welches unmöglich ist) adäquat machen will.“ Ich kann meine Triebe und Launen niemals umstandslos umsetzen, so sehr dies mich auch augenblicklich glücklich machen könnte. Der Mensch „entwirft sich selbst, und zwar auf so verschiedene Art, durch seinen mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelten Verstand; er ändert sogar diesen so oft, dass die Natur, wenn sie auch seiner Willkür gänzlich unterworfen wäre, doch schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen könnte,“ was, wie im Kantschen Sinne fortgesetzt werden könnte, die Voraussetzung für eine seriöse Betrachtung wäre. Der zweite Zweck der Natur ist „die Kultur des Menschen.“ Sie beruht auf der Tauglichkeit der Natur und der Geschicklichkeit des Menschen, die Natur zu „allerlei Zwecken“ zu gebrau-

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chen. Aber wie immer es um das instrumentelle Vermögen des Menschen bestellt sein mag, „sich eingebildete Zwecke zu verschaffen … so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der Tat sein eigener letzter Natur­ zweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden.“ Die Natur hat den Menschen halt nicht zu ihrem „besonderen Liebling“ gemacht, weshalb er „wie jedes andere Tier“ ihre vielfältigen Unbilden wie Pest oder Hunger zu ertragen hat. „Noch mehr aber, dass das Widersinnische der Naturanlagen in ihm ihn noch in selbstersonnene Plagen und noch andere von seiner eigenen Gattung, durch den Druck der Herrschaft, die Barbarei der Kriege u.s.w. in solche Not versetzt und er selbst, so viel an ihm ist, an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet, dass, selbst bei der wohltätigsten Natur außer uns, der Zweck derselben, wenn er auf die Glückseligkeit unserer Spezies gestellet wäre, in einem System derselben auf Erden, nicht erreicht werden würde, weil die Natur in uns derselben nicht empfänglich ist. Er ist also immer nur Glied in der Kette der Naturzwecke.“ Aber als einziges Wesen mit Verstand, also dem „Vermögen, sich selbst willkürliche Zwecke zu setzen, ist er zwar betitelter Herr der Natur (mit einem Rechtsanspruch, VB), und, wenn man diese als ein teleologisches System ansieht, seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur; aber immer nur bedingt, nämlich dass er es verstehe und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweckbeziehung zu geben, die unabhängig von der Natur sich selbst genug, mithin Endzweck, sein könne, der aber in der Natur gar nicht gesucht werden muss.“ Der Mensch kann nur insoweit Herr der Natur sein, als er nicht in ihr und ihren Gesetzen völlig aufgeht, ihre Limitationen also willentlich überschreiten kann. Sie bereitet ihn nur vor, „um Endzweck zu sein.“ Die Glückseligkeit hingegen beruht nur auf der „Möglichkeit von Dingen …, die man allein von der Natur erwarten darf.“ Wenn er sich ausschließlich in diesem Rahmen bewegt, ist er unfähig, „seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammen zu stimmen.“ Was



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also von seinen Zwecken in der und gegenüber der Natur bleibt, ist „nur die formale, subjektive Bedingung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen, und …die Natur … als Mittel zu gebrauchen …“, um den außerhalb der Natur liegenden Endzweck anzustreben. „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat. (nicht seine eigene Glückseligkeit auf Erden, oder wohl gar bloß das vornehmste Werkzeug zu sein, Ordnung und Einhelligkeit in der vernunftlose Natur außer ihm zu stiften).“ Durch seine Begierden und Instinkte ist der Mensch zweifellos ein Naturprodukt. Sein Verstand eröffnet ihm die weitere Möglichkeit, ein Kulturwesen zu werden. Im Hintergrund lauert ohnehin die alles bestimmende Vernunft. Und sie hat ja aus sich heraus der Natur die grundlegenden Gesetze wie Kausalität und Teleologie vorgegeben, durch die diese für den Menschen überhaupt erst erkannt werden kann. Er ist das vornehmste Werkzeug, das Ordnung in „die Materie aller seiner Zwecke auf Erden“ gebracht hat, gleichsam als ersten Schritt, um sie in einem zweiten überschreiten zu können. Er ist als Endzweck ein Produkt der Natur und zugleich ihr großer Steuermann. Schließt sich hier ein Kreis oder öffnet sich ein Widerspruch? Ist die Natur nicht doch, was sie aus sich selbst heraus ohne unser erkennendes Zutun ist, und die Kultur ein zwischenmenschliches, gesellschaftliches Produkt aus eigenem Recht, mit dem wir auf unsere Mitmenschen und weniger auf die Natur reagieren? Zwar ist eine gewisse „Geschicklichkeit … freilich die vornehmste subjektive Bedingung der Tauglichkeit zur Beförderung der Zwecke überhaupt“, aber das eigentliche Problem ist die Bestimmung des Willens hinsichtlich seiner Ziele. „Die letzte Bestimmung der Tauglichkeit, welche man die Kultur der Zucht (Disziplin) nennen könnte … besteht in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu

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wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen, die uns die Natur statt Leitfäden beigegeben hat, um die Bestimmung der Tierheit in uns nicht zu vernachlässigen, oder gar zu verletzen, indes wir doch frei genug sind, sie anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern.“ Die Geschicklichkeit – respektive instrumentelle Vernunft – ist keine Beigabe des Verstandes allein, sondern „kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter den Menschen.“ Hier macht sich Rousseau bemerkbar. Die üblichen „Notwendigkeiten des Lebens“ werden „gleichsam mechanisch“ von der „größten Zahl“ von Menschen „zur Gemächlichkeit und Muße anderer, besorget, welche die minder notwendigen Stücke der Kultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten, und von diesen in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird, auf welche Klasse sich denn doch manches von der Kultur der höheren nach und nach auch verbreitet.“ Dies ist zwar der gegebene Zustand einer Klassengesellschaft, zu dem die Vernunft wie zu allen anderen Tatsächlichkeiten kein Urteil a priori bereithält, aber es kann nur altersmilde Taktik oder Verallgemeinerung des eigenen Status sein, ausgerechnet die wenigen Intellektuellen für die Profiteuren dieses System zu halten und nicht den grundbesitzenden Feudaladel oder die Manufakturbesitzer. Mit dem Fortschritt der Kultur aber wachsen „die Plagen … auf beiden Seiten gleich mächtig, auf der einen durch fremde Gewalttätigkeit, auf der anderen durch innere Ungenügsamkeit; aber das glänzende Elend ist doch mit der Entwicklung der Naturanlagen in der Menschengattung verbunden, und der Zweck der Natur selbst, wenn es gleich nicht unser Zweck ist, wird doch hierbei erreicht. Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnis der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen.“ Dazu wäre auch,



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„wenn gleich Menschen sie auszufinden klug und sich ihrem Zwange willig zu unterwerfen weise genug wären, noch ein weltbürgerliches Ganzes, d. i. ein System aller Staaten, die aufeinander nachteilig zu wirken in Gefahr sind, erforderlich. In dessen Ermangelung und dem Hindernis, welches Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, vornehmlich bei denen, die Gewalt in Händen haben, selbst der Möglichkeit eines solchen Entwurfs entgegen setzen, ist der Krieg … unvermeidlich: der, so wie er ein unabsichtlicher (durch zügellose Leidenschaft angeregter) Versuch der Menschen, doch tief verborgener vielleicht doch absichtlicher der obersten Weisheit ist, Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten, und ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, und der vielleicht noch größeren, womit die beständige Bereitschaft dazu im Frieden drückt, dennoch eine Triebfeder mehr ist (indessen die Hoffnung zu dem Ruhestande einer Volksglückseligkeit sich immer weiter entfernt), alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln.“ Da sind sie wieder, die großen Drei: Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht, gleich darauf die „unvertragsame Selbstsucht“, es fällt der scharfe Begriff der Klasse, die Selbstzerstörung der Gattung kommt neuerlich ins Blickfeld, alles Ingredienzien einer Realität, die, philosophisch recht bedacht, nicht anders kann, als einer Vernunft zur zivilisierten Herrschaft zu verhelfen, die sich auf diese Realität nie ernsthaft eingelassen hat. Unsere Neigungen, „zu denen die Naturanlage in Absicht auf unsere Bestimmung, als einer Tiergattung, ganz zweckmäßig“ sind – es dürfte das Fortpflanzungsgeschehen gemeint sein – erschweren allerdings „die Entwicklung der Menschheit“, wenngleich sich auch zeigt, dass uns auch hinsichtlich des „zweiten Erfordernisses zur Kultur ein zweckmäßiges Streben der Natur zu einer Ausbildung, welche uns höherer Zwecke, als die Natur selbst liefern kann, empfänglich macht.“ Kunst und Wissenschaft, „wenngleich (sie) den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab, und bereiten dadurch den Menschen zu

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einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll: indes die Übel, womit uns teils die Natur, teils die unvertragsame Selbstsucht der Menschen heimsucht, zugleich die Kräfte der Seele aufbieten, steigern und stählern, um jenen nicht zu unterliegen, und uns so eine Tauglichkeit zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegt, fühlen lassen.“ Dies sind die letzten Worte des Paragraphen 83, den man durchaus als Ergebnis aller Systemanstrengungen Kants bezeichnen kann, gleichsam als systembefreit dahergeplauderte Meinung zu den Dingen dieser Welt, die aber seine tiefgründige Anstrengung zur Modernisierung der Metaphysik mit ihren fein ziselierten Verschachtelungen nicht schmälern können. Er hat dem Ende des Paragraphen eine Anmerkung hinterhergeschickt, deren letzter Satz vielleicht als kleinster gemeinsamer Nenner eines nachdenklichen Ergebnisses für uns heute dienen kann: „Es bleibt also wohl nichts übrig, als der Wert, den wir unserem Leben selbst geben, durch das, was wir nicht allein tun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig tun, dass selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann.“ Das Pathos der freien Selbstbestimmung durch Vernunft ist zwar der leuchtende Kerngedanke Kants, aber es schimmert doch immer wieder die Natur des Menschen durch, die als letzte benennbare Quelle seiner Möglichkeiten immer die Hand im Spiel haben wird. Kant fragt sich 1793 in der Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, wodurch der „immerwährende Fortschritt zum Besseren“ zustande kommt oder gar beschleunigt wird. Er wird „nicht sowohl davon abhängen …, was wir tun (z. B. von der Erziehung, die wir der jüngeren Welt geben), und nach welcher Methode wir verfahren wollen, um es zu bewirken; sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden.“ (A 278) Die menschliche Natur scheint derweil in ihrem evolutionären Gleisbett zu verbleiben. Einstweilen scheint die Weiche nicht in Sicht, hinter der die menschliche Vernunft als einzige benennbare Quelle unserer Taten die Herrschaft übernehmen kann.

F. Anthropologische Motive Was also tut die Natur in uns und mit uns, wenn wir sie als Erklärungshintergrund unseres tatsächlichen Verhaltens begreifen wollen? Philosophische Anthropologien erlebten zwar zwischen 1790 und 1840 eine beachtliche Blütezeit und erblickten auch danach immer wieder neu das Licht der Welt, gerieten aber in Konkurrenz zu den modernen Lebens- und Gesellschaftswissenschaften zunehmend an den Rand des Interesses. Das mag auch an der vergleichsweisen Trivialität ihrer Kernaussagen über den Menschen als nicht festgestelltes Wesen (Gehlen) oder neuerdings als flexibles Vielfachwesen (Lenk) liegen, die sich mit ihrem umfassenden Erklärungsanspruch einfach nicht weit genug vorwagen, um eine Erkenntnis oder Selbsterkenntnis in praktischer Absicht möglich machen zu können. Natürlich sind Gehlens Werke sehr viel differenzierter als eine solche Überschrift, und Hans Lenk gibt einen umfassenden und außerordentlich materialreichen Überblick über den Stand der Anthropologie. Das geringe allgemeine Interesse an einem definierten Menschenbild mag auch an der unbezweifelbaren Tatsache liegen, dass sich das Verhalten verschiedenen gesellschaftlichen Umständen anpasst, also keine wirkliche Konstanz erkennbar zu sein scheint, die es nahelegen würde, an eine unwandelbare menschliche Natur zu denken. Die beobachtbaren Oberflächen menschlichen Verhaltens in bestimmten Umständen sind fasslicher und leichter zu Erklärungssträngen zusammenzufügen, als dahinter eine Natur des Menschen zu vermuten, die erst noch theoretisch behauptet werden muss. Bereits Rousseau war klar, dass angesichts der überbordenden gesellschaftlichen Einflüsse die reine Natur nur eine immer angreifbare Konstruktion sein kann. Andererseits: Ist nicht jede Philosophie, die ihren Geburtsnamen als „Liebe zur Weisheit“ verdient, letztlich eine anthropologische Behauptung? Und gehen nicht implizit zumindest die Sozialwissenschaften von einem Menschenbild aus, das

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erst den Vordergrund der empirischen Beobachtungen stillschweigend möglich macht? Die Psychologie zum Beispiel weiß spätestens seit Freud von einem Ich im Zangengriff von Triebstruktur und interpersonalen Einflüssen, die Ökonomie unterstellt bis heute noch überwiegend die Rationalität der Wirtschaftssubjekte, wenngleich in der Verhaltensökonomie allmählich auch die Irrationalität ins Blickfeld gelangt. Und der Begriff der Macht ist längst nicht mehr nur für das Politische reserviert, sondern wird als konstitutiv für jedwede menschliche Beziehung betrachtet. Dass auch in unserem jungen Jahrhundert fortwährend anthropologische Behauptungen thematisiert werden, wenn auch weniger unter dem Dach der Philosophie, aber umso mehr auf der Basis anderer Wissenschaften, soll kurz mit vier Hinweisen illustriert werden. John Gray, englischer Sozialphilosoph, veröffentlichte 2002 eine ideengeschichtlich unterlegte Absage an jeden Fortschrittsglauben, dem unsere Tiernatur grundsätzlich im Wege steht, deutsch 2010 unter dem Titel: „Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus.“ Jeremy Rifkin, ein bekannter amerikanischer Soziologe und Ökonom, entfaltete 2009 eine Weltgeschichte der beständigen Zunahme der Empathie, die das Zeitalter der Vernunft ablöst und die Chance des Überlebens der Menschheit darstellt, deutsch 2010 unter dem Titel: „Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein.“ Und Antonio Damasio, in Amerika lehrender und forschender Neurowissenschaftler, der sich in der Bewusstseinsforschung einen großen Namen gemacht hat, gibt nun auch mit einer evolutionären Perspektive einen Zwischenbericht über unsere letztlich bescheidenen Erkenntnisse, wie wir mit unserem Hirn zurechtkommen: „Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“, 2010, deutsch 2011. Zu nennen wäre etwa noch der in Leipzig arbeitende evolutionäre Anthropologe Michael Tomasello, der die Entwicklung unseres Denkens in eine kulturelle Perspektive einordnet: „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition“, 1999, deutsch 2002. Es ist keineswegs verwunderlich, dass hier die Themen der Aufklärung in renoviertem Gewande weiterhin präsent sind



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und die modernen Antworten sich weit weniger von der Substanz der Tradition unterscheiden, als man vermuten würde. Auch die einzelwissenschaftlichen Perspektiven kommen nicht ohne den Versuch aus, das Ganze in den Blick zu nehmen. Wenn man jenseits ihrer jeweiligen Systematiken die zentralen Aussagen von Hume, Rousseau und Kant betrachtet, sich also in die Gründungsepoche der europäischen Moderne begibt, ist die real- und geistesgeschichtliche Bedingtheit dieser Denksysteme nicht zu übersehen. Das Gleiche gilt natürlich für jeden Interpreten zu welcher Zeit auch immer, aber weil dies unvermeidlich ist und niemand über allen Wassern schweben kann, reduziert es die Qualität der Gedanken noch lange nicht auf ein flüchtiges Zeitphänomen. Die Behauptung erster oder letzter Wahrheiten im konkreten Fall verbietet sich ohnehin, auch für alle empirischen Wissenschaften, die nur beweisen können, was wir uns vorher denken, worauf schon Hume und Kant in unterschiedlicher Weise hingewiesen haben. Allerdings muss mit Begriffen und Aussagen operiert werden, die in einer langen Erfahrung unserer Wirklichkeitserkenntnis allgemeine Gültigkeit erworben haben, weil ohne einen solchen Bestand nicht mehr zu hinterfragender Begriffe und Bedeutungen Kommunikation unmöglich wäre. Jeder weiß zum Beispiel, was Liebe und was Krieg ist, auch wenn beide Extreme menschlichen Verhaltens sich in verschiedenen Epochen durchaus unterschiedlich darstellen. Aber eine Geschichte ihres Bedeutungswandels durch die Zeiten käme nicht an ihrem jeweils harten Kern als Ausdruck menschlichen Verhaltens vorbei, das mit diesen Begriffen bezeichnet wird. Während Hume und Rousseau sich sehr direkt der Interpretation der menschlichen Natur zuwenden, schiebt Kant die schillernde Vernunft zwischen sich und die Menschheit. Sie hat die Funktion eines Prismas und zerlegt das einfallende Licht in sein Spektrum, zielt also auf die Analyse dessen, was Kant für das entscheidende Moment des Menschen hält. Das konkrete Bild, das vom Licht transportiert wird, geht dabei verloren. Gleichwohl kommt auch er natürlich nicht ohne konkrete Bilder aus, die sehr anders aussehen als das reine Farbspektrum, aus dem

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sie sich zusammensetzen. Aus der Summe unserer drei Autoren lässt sich eine Anthropologie der bürgerlichen Gesellschaft aus der Zeit lesen, in der diese Gesellschaftsordnung sich ihrer wesentlichen Elemente bewusst wurde, wenn sie auch politisch, ökonomisch und sozial noch nicht voll ausgebildet war. Man darf dabei die drei Protagonisten mit ihren verschiedenen Ausgangs- und Beobachtungspositionen durchaus als repräsentativen Querschnitt der europäischen Aufklärung betrachten. Ihre Setzungen sind rein äußerlich noch von den aktuellen feudalen Strukturen gekennzeichnet und lassen sich in ihrem Kern auf die voll ausgebildeten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften fortschreiben. Sie haben also den Charme eines klaren Anfangs, der seine Wurzeln Eigentum und Recht nicht verleugnet und sich zugleich in den historischen Weiterentwicklungen nachhaltig wiederfindet. Weil es sich nicht um soziologische Zustandsbeschreibungen handelt, die einer sich ständig verändernden Welt kaum schnell genug hinterherlaufen können, sondern generelle Annahmen über die Befindlichkeit des Menschen liefern, angesiedelt im Rahmen bedeutender philosophischer Systeme, ist außerdem der Verdacht begründet, dass sie nicht nur den Anspruch genereller, nicht zeitgebundener Gültigkeit erheben wie andere Philosophien auch, sondern diesen Anspruch sogar für eine lange Strecke im Wesentlichen auch einlösen können. Inwieweit die Summe dieser drei so aufgefassten anthropologischen Modelle auch über den Bürger der modernen westlichen Zivilisation hinaus Plausibilität beanspruchen kann, ist zumindest diskussionswürdig. Aber es ist gar nicht nötig, wenn dieses Modell Einsichten über uns und die Menschen eröffnet, die wir kennen. Im Lichte ihrer Zeitbedingtheit kann Anthropologie also nur der Mut zu essentiellen Feststellungen sein, die hinter den Oberflächen des Alltäglichen Erklärungen für unser durchschnittliches Verhalten anbieten. Und diese Erklärungen sollten für uns nützlich sein können, uns eine Perspektive der Selbst­ erkenntnis eröffnen, die jedermann jederzeit an sich und den Anderen überprüfen kann. Zunächst: Für alle drei Autoren steht außer Frage, dass es so etwas wie die Natur, das Wesen des Menschen gibt. Über diese Essenz nachzudenken ist nicht nur praktisch lohnend, sondern



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sie ist geradezu der Grundbaustein aller weiteren Erkenntnisse. Weil alles Weitere davon abhängt, was man der Natur des Menschen zuschreibt, ist ihr Verständnis der Schlüssel zum Verständnis der Welt überhaupt. Denn sie kann nur aus der Sicht des Menschen beschrieben werden, nicht aus irgendeiner anderen imaginären Position heraus. Weil die Welt aber vielleicht doch nicht nur unsere Welt ist, die wir mit den von uns entwickelten Naturgesetzen für uns zutreffend beschreiben, sondern immer wieder und immer neu weitere Geheimnisse zu bergen scheint, schieben wir immer einen unaufgeklärten Rest vor uns her. Das gilt für die großen physikalischen Fragen des Kosmos wie für die kleinen nach den letzten Ursachen unseres Denkens und Handelns und dessen schwerlich immer abzusehenden Folgen. Für Hume bleibt uns die innere, nicht nach außen tretende Natur unseres Geistes ebenso verschlossen wie die jedweder Gegenstände. Bei Kant ist dieser unauflösbare Rest das unerkennbare Ding an sich, in dem bei uns Menschen dann doch unsere Freiheit an sich Platz nimmt. Hume endet mit dem pragmatischen Glauben an eine gedoppelte Form der Existenz der Welt, einmal in unserem Bewusstsein und einmal außerhalb unserer selbst, obwohl diese letztlich nicht überzeugend bewiesen werden kann. Aber der Mensch denkt und handelt, und von dieser beobachtbaren Oberfläche aus will er in Analogie zu den modernen Naturwissenschaften auf die dahinterliegenden Strukturen und Triebkräfte schließen. Kant geht in bester metaphysischer Tradition einen anderen Weg, denn er will ja die Metaphysik als Basiswissenschaft von allen unüberprüfbaren schieren Behauptungen entrümpeln, aber beibehalten. Schon das ist ein Anfangsfehler, denn jedes über den Dingen schwebende – also metaphysische – Denken neigt zu dogmatischen Behauptungen. Und so landet er folgerichtig wieder bei dogmatischen Setzungen, nachdem er doch auf dem Wege dahin der Vernunft ihre bescheidenen Grenzen aufgezeigt hat, aber ohne der vorherrschenden Unvernunft als mächtigster Erscheinung die gebührende Reverenz zu erweisen. Sein Theoriemodell soll kraft seiner Argumente im reinen Denken überzeugen, hat aber mit der beobachtbaren Praxis der Menschen nur insoweit etwas zu tun, als es natürlich für sie gedacht ist.

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Für sie gedacht heißt, an ihrer Stelle gedacht und ihnen zur Bewertung und zum Gebrauch überlassen. Kaum jemand dürfte tatsächlich überlegen, ob das, was er gerade tut, wie ein Gesetz für alle gelten kann und soll. Aber immerhin könnte er zumindest jenseits von Alltagshandlungen bei bedeutenden Problemstellungen erwägen, was seine Vorstellungen für Andere bedeuten können. Und in der Regel tun wir dies auch, weil wir uns unvermeidlich in einem Umfeld anderer Menschen bewegen. Dieses simple Faktum sozialer Realität zu einem moralischen Gebot zu erheben, unterschätzt die Praxis menschlichen Handelns ganz erheblich, in der die Möglichkeit zur Moralität schon automatisch eingebaut ist. Die reine Vernunft Kants als Zentralpunkt der Menschheit und des Individuums bleibt nicht lange rein, sondern kehrt mit sehr konkreten Ansprüchen aus der Theorie zur Praxis zurück und ist dann eigentlich nur noch, was wir hätten wissen und uns bewusst machen können, bevor wir handeln. Sie ist ein uns einverleibtes Korrektiv unseres Denkens und Handelns, das allerdings häufig zu spät kommt. Die Vernunft als zweckrationales Abwägen kann durchaus im Sinne Kants als eine anthropologische Grundausstattung des Menschen verstanden werden – niemand hat das bestritten –, wenngleich sie als Philosophie auch ein sehr abgehobenes Eigenleben führt, das nicht jedem leicht zugänglich ist. Rousseau schlägt den Pfad einer evolutionär-historischen Entschlüsselung der Natur des Menschen ein. Dabei denkt er sich über die frühmenschliche Entwicklung kaum etwas anderes, als auch heute in etwa der Stand der archäologisch belegten Annahmen ist. Allerdings hat sein Modell einen philosophisch inspirierten Geburtsfehler: Der Mensch fängt bei ihm als Einzelwesen an, der nur zufällig Kontakt zu anderen hat. Aber weil es ihm generell um die Behauptung des Individuums gegen die gesellschaftlichen Übergriffe geht und nicht um ein soziologisch definiertes Durchschnittswesen, bleiben seine Überlegungen als Kontrastprogramm interessant. Über eine Erkenntnistheorie hat Rousseau sich keinerlei Gedanken gemacht. Aber über die Entstehung der Sprache, die sich für ihn wie der Mensch evolutionär entwickelt hat. Vermutlich hätte er die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ebenso erklärt und festge-



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stellt, dass sie immer gerade ausreichend ist, um der jeweiligen Überlebensnotwendigkeit zu genügen. Jedenfalls schöpft der Mensch das Potenzial seiner Fähigkeiten immer erst dann aus, wenn es durch äußere Umstände erforderlich ist. Für Hume ist mit der menschlichen Vernunft die Frage nicht entscheidbar, ob die Gegenstände unsere Sinneseindrücke formen oder allein die Kraft unseres Geistes ihr Bild erzeugt. Kant hat gemeint, dies entscheiden zu können: Es ist die uns innewohnende Vernunft, die aus eigener Kraft mithilfe von angebbaren Denkmustern unser Bild der Welt erschafft. Beide befassen sich ausschließlich mit dem, was in uns passiert. Die äußere Welt ist zwar fraglos der Anlass für unser Denken und Handeln, aber wir haben über sie nur subjektiv bedingte Erkenntnisse. Und diese subjektiven Bedingungen in einer für alle Subjekte gültigen, also allgemeingültigen Form darzustellen, ist das Ziel. Bei Hume sind es die Perzeptionen als Sammelbegriff für jede Leistung unseres Gehirns, bei Kant die Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft. Während Kant die Erkenntnisvermögen im Prinzip sehr klar nach ihrem Leistungsvermögen untergliedert, wobei der Verstand für die einfache Erkenntnis von Gegenständen zuständig ist und die Vernunft für alles Wesentliche, unterscheidet Hume die geistigen Vorgänge nach ihrer Intensität, was mit der Bedeutung gleichzusetzen ist, die sie für uns haben. Kant entwirft also eine Architektur, Hume baut ein Haus mit vielen Zimmern. In dem größten Raum versammeln sich die Eindrücke, also alles, was uns nachhaltig beeindruckt und deshalb von großer Bedeutung ist, auch unsere Gefühle und Affekte. Im Nebenzimmer, nur durch eine große Flügeltür getrennt, lagern deren gedanklichen Abbilder als Vorstellungen oder Ideen zur weiteren Verwendung, denn jeder Eindruck ist ein einmaliger Vorgang, der langsam verblasst. In weiteren Räumen sind die Erinnerung und die Einbildungskraft untergebracht. Unsere Vorstellungen können allerdings wiederum Eindrücke hervorrufen, also zum Beispiel intensive Gefühle. Aber alles, was uns ausmacht oder geprägt hat und was wir denken können, ist irgendwann mit einiger Wucht in unserem Bewusstsein gelandet. Und deshalb sind wir nicht beliebig frei, sondern wir sind unsere Erfahrun-

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gen. Und deshalb wird unsere Vernunft, diese kleine Schaumkrone in einem Meer von Empfindungen, uns nicht von uns selbst befreien können. Hume bietet damit eine Erklärung für ein erstaunliches, aber alltägliches Phänomen: die Beharrlichkeit, mit der wir an einmal gewonnenen Überzeugungen und Verhaltensmustern festhalten. Wie immer diese im jeweiligen Umfeld gebildet wurden, einmal nachhaltig angenommen sind sie nur sehr schwer oder nur scheinbar wieder aufzulösen, eben weil sie Teil der eigenen Identität sind. Naiverweise könnte man ja annehmen, dass zum Beispiel eine Verbesserung der Lebensumstände und ein deutlich größerer individueller Freiheitsspielraum gute Argumente sind, um von eingepressten Wertvorstellungen eines anderen Gesellschaftssystems Abschied zu nehmen, aber dies scheint nur opportunistisch begrenzt möglich zu sein. Die Intensität früher Eindrücke scheint durch spätere intellektuelle Einsichten kaum außer Kraft zu setzen zu sein, auch im Bereich privater, nicht nur gesellschaftlicher Traumata. Wir können uns selbst weit weniger manipulieren, als uns lieb ist. Kant dagegen setzt alles auf die Karte der Vernunft, die für ihn das einzige Potenzial des Menschen ist, über sich selbst in seiner zufälligen Beschränktheit hinaus gehen zu können. Und weil sie das Medium des Überschreitens der engen und klein­ lichen Verhältnisse der tatsächlich existierenden Menschen ist, muss sie in einem freien Raum konstruiert werden und kann erst dann, wenn die Vernunft mit allen ihren Ansprüchen sozusagen fertig hergestellt ist, von außen zu den Menschen zurückkehren, für die sie gedacht ist. Was bietet sie ihm an? Zunächst Raum und Zeit und Kausalität als ewig geltende Wahrnehmungs- und Denkformen aus ihrem Besitz. Es ist schon richtig, dass irgendetwas irgendwann irgendwo sein muss, damit wir es wahrnehmen können, und wir auch für alles einen vorhergehenden Zustand annehmen, den wir Ursache nennen. Aber ohne jeden Zweifel erarbeitet sich jedes Neugeborene durch Erfahrung ein Gefühl für Raum und Zeit und Ursache und Wirkung an der Mutterbrust selbst. Es ist elementar, aber Ontogenese, die von der natürlichen Evolution angeliefert wurde, wie wir



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heute wissen. Humes Macht der Gewohnheit ist diesem Gedanken weit näher als Kant. Für Hume können wir alles Mögliche durch Einbildungskraft und Abstraktion denken, aber nur insofern, als es auch Wirklichkeit werden könnte. Es wäre ein Widerspruch in sich, das Unmögliche denken zu wollen. Für Kant gibt es keine wahre Erkenntnis jenseits der Erfahrung, deren Procedere der Verstand festlegt. Die Vernunft dagegen ist für alle Ideen jenseits der Empirie zuständig und gibt uns am Ende doch vor, was wir für richtig halten dürfen. Für Hume ist sie dagegen keine Gesetzgeberin, sondern eher ein Instinkt, aus unseren gewohnheitsmäßigen Erfahrungen mithilfe der Einbildungskraft zu Ergebnissen zu kommen, die nie absolute Gewissheit sein können, sondern nur brauchbare Zwischenergebnisse als Wahrscheinlichkeiten. Man kann den Zweifel nie eliminieren, aber alltagstauglich durch genaue Prüfung minimieren, und endet schließlich damit, dass man ganz sicher glaubt, etwas sei so oder so. Dies ist zumindest nah an jedermanns Alltagserfahrungen und zukunftsoffen. Die Kantsche Vernunft hingegen endet damit, dass es für uns im eigenen Interesse schon besser sei, an das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu glauben. Ihre imposante Rundreise durch Denken und Handeln führt zurück zu einem sehr statischen Weltbild, das dem Mittelalter näher ist als der Moderne. Diese Antworten Kants sind für uns weit weniger ergiebig als seine uns nahegehenden Fragen, was wir eigentlich wissen und hoffen dürfen und tun sollen, die dem zugrunde liegen. In den Antworten liegt die Bestimmung des Menschen als Zielvorgabe der Vernunft. Sie also weiß es, derweil wir uns doch auch mit der Frage plagen, wer wir wirklich sind und nicht nur mit der weitergehenden, wozu wir da sind. Hume hat sich wahrlich mit der Identitätsproblematik gequält, aber findet doch immerhin in der modernen Hirnforschung eine Bestätigung: Es gibt kein steuerndes Zentrum des Ich, sondern nur hochkomplexe, variable neuronale Vernetzungen als materielle Grundlagen unseres Bewusstseins. Bei ihm heißt das ein Bündel von Perzeptionen, das dauernd im Fluss ist. Und doch empfinden wir dieses Sam-

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melsurium als Ich. Für Kant steht das Ich als Einheit des Bewusstseins und Einfallstor der Vernunft außer Frage. Geradezu antikantisch und damit weit über Kant hinausgehend, für den das Spektrum der menschlichen Möglichkeiten nur im Medium der Vernunft zu erfassen ist, integriert Hume die Welt der Gefühle als entscheidende Faktoren in die Natur des Menschen. Die Vernunft selbst wird als eine Gemütsbewegung verstanden, also als ein Affekt, der uns nur etwas gelassener reagieren lässt als sonstige heftigere Erregungszustände. Die Gefühle suchen sich rationale Gründe, hinter denen sie sich tarnen können. Selbstzufriedenheit und Selbstzweifel sind die Affekte unseres inneren Selbstbewusstseins, denen er ein gewisses statisches Beharrungsvermögen zuschreibt, Liebe und Hass die nach außen gerichteten dynamischen Affekte. Die Gefühle von Lust und Unlust sind die konstitutiven Motive unseres Handelns, oder einfacher, Schmerz oder Freude lösen unseren bewussten Willen aus, etwas Bestimmtes zu tun oder zu denken. Bei Rousseau heißen die ersten Antriebe Begehren und Fürchten. Ganz generell sind es wie bei Hume die Leidenschaften, die uns in Bewegung setzen, keinesfalls die Vernunft. Ist der Wille aber frei? Subjektiv ja, objektiv trotz zugestandener Variationsbreite nein, ist Humes Antwort. Es gibt regelmäßige Muster in dem, was wir und vor allem Andere tun. Diese Muster sind geradezu die Voraussetzung dafür, dass wir gesellschaftlich agieren können, weil wir gewohnheitsmäßig bestimmte Reaktionen auf bestimmte Verhältnisse erwarten. Wir selbst können uns immer Handlungsalternativen vorstellen und tun doch zumeist das Naheliegende. Durch eine solche Denk­ alternative fühlen wir uns frei, folgen aber doch zumeist den Notwendigkeiten des Lebens. Die zweifelsfrei vorhandenen Bestimmungsfaktoren unseres Willens durch Motive haben die gleiche Wirkung auf uns, wie sie aus unserer Sicht die Naturgesetze für die Natur haben, die wir nach dem Vorbild der für uns selbst geltenden Automatismen gefunden haben. Kant hat das gleiche Problem anders herum gelöst, indem er den Rückblick auf die Ursachen unseres Handelns abschneidet und jede Handlung als Erstursache betrachtet, deren Wirkung sich in die



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Zukunft erstreckt. Der große Steuermann ist natürlich auch hier die Vernunft, die bei Hume als kleiner, dienstbarer Geist weit hinter der Bedeutung unserer Bestimmung durch unsere Gefühle zurück bleibt. Für Rousseau ist es keiner Diskussion wert, dass der Mensch per definitionem ein frei Handelnder ist. Diese Freiheit macht ihn überhaupt erst zum Menschen und ist die Grundlage seiner Offenheit für Entwicklungen, seiner Perfektibilität. Für Kant wie für Hume ist es eine empirische Tatsache, dass Menschen über ein moralisches Bewusstsein verfügen. Das heißt, dass sie aus sich heraus grundsätzlich Gut von Böse unterscheiden können. Aber die Begründungen für die Moralität sind völlig verschieden, obwohl es in den Erwähnungen des tatsächlichen Verhaltens der Menschen weitgehende Übereinstimmung gibt. Kant hat im eigentlichen Sinne gar keine Moral entwickelt, die nach dem Vorbild der biblischen Zehn Gebote Du-sollst-Regeln aufstellt. Er ist auf der Suche nach etwas Stärkerem, etwas Verbindlicherem als bloße Appelle. Dabei drängt sich der Gedanke an Gesetze, deren Einhaltung mit staatlich legitimierter Gewalt durchgesetzt werden kann, in den Vordergrund. Bei ihm ist es die praktisch werdende Vernunft, welche die Möglichkeit und zwingende Notwendigkeit moralischen Verhaltens als Gesetz vorschreibt. Schon die keinerlei Alternative mehr zulassende Wortwahl kategorischer Imperativ zeigt an, dass hier etwas aufgezwungen werden soll – natürlich im Namen der Vernunft – und nicht gleichsam von unten aus dem unterstellten moralischen Bewusstsein der Menschen entwickelt wird. Staatliche Gesetze legen in der Außenwelt fest, was verboten und was erlaubt ist, sei es in einem Herrschaftsinteresse oder an einem fiktiven Allgemeinwohl orientiert. Ihre Spielräume sind sehr groß und verhandelbar. Das Reich der Moral ist die Innenwelt mit eindeutigen Alternativen, die gegebenenfalls etwas Zeit zum Nachdenken erfordern. Rousseau als Verteidiger der individuellen Freiheit hätte diese Kantsche Konstruktion aufs Schärfste als verfehlt zurückgewiesen. Moral als Zumutung kann es nicht geben. Sie erwächst entweder aus der inneren Freiheit und Freiwilligkeit, oder sie ist nur eine weitere Form von Herrschaft. Seine Konstruktion des Allgemeinwillens als

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einzig möglicher Vermittlung der individuellen Freiheiten weist darauf hin, wenngleich seine Durchsetzung gegen individuelle Abweichungen an Rigorosität für potenzielle Exekutoren dieses Allgemeinwillens nichts zu wünschen übrig lässt. Kant wiederum nimmt für sich in Anspruch, genau diese Freiheit als entscheidendes Elixier der Moralität begründet zu haben, aber hier begegnet nur die reine Vernunft der praktischen und kein Mensch einem Anderen. Für Hume ist Moral nicht irgendeinem Gedanken, einer Tatsache oder einer Handlung direkt zuzuordnen und besteht schon gar nicht aus einem festen Regelsystem. Unser Bewusstsein oder die äußere Welt stellt sich zunächst ganz wertfrei dar. Aber wir haben ein elementares moralisches Gefühl der Lust oder des Unbehagens, der Zustimmung oder Ablehnung, das uns untrüglich auf die moralische Spur bringt. Unter gesellschaftlichen Bedingungen, die Hume wie später Rousseau als künstliche Veranstaltung betrachtet, bleibt das natürliche moralische Bewusstsein nicht im Innenraum, sondern mündet in konkreten Handlungen. Aber die eigentliche Moralität oder Tugendhaftigkeit findet in diesem Innenraum statt, nicht in der Gesellschaft. Und dieser Innenraum ist durch den Egoismus in all seinen Erscheinungsformen von vornherein keine moralische Anstalt mit eingebauten Garantien, sondern nur mit Möglichkeiten. Mit einer gesellschaftlich wahrnehmbaren Handlung gibt der Einzelne diese Souveränität auf und setzt sich dem Urteil der Anderen aus. Diese Ambivalenz der Moral zwischen natürlichem Bewusstsein und gesellschaftlicher Wirkung erzwingt geradezu eine Struktur, die feste Maßstäbe schafft: die Idee einer Rechtsordnung. Sie widerspricht nicht der affektiven Erregbarkeit des Menschen, sondern zügelt sie und lenkt sie in das schließlich verstandene Eigeninteresse, das nicht mehr nur im Innenraum kreist, sondern sich an das äußerliche Eigentum heftet. Rechtsordnung und Staat arbeiten sich im zivilisatorischen Prozess natürlich aus dem Egoismus hervor, nicht etwa durch einen kühl kalkulierten Akt der Vernunft wie bei Kant oder in einem fiktiven Vertragsschluss aller mit allen wie bei Rousseau. So setzt sich für Hume schließlich im allgemeinen Bewusstsein die moralische Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Staat



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durch, der – mit allen Risiken – von Menschen verwaltet wird, die weit mehr an das Allgemeinwohl denken sollen als jeder andere Bürger und weit weniger als dieser an ihre Privatinte­ ressen. Auch bei Hume landet die Moral schließlich in den starken Armen des Gesetzes. Dabei ist ihm der Rousseausche Gedanke keineswegs fremd, dass die menschlichen Schwächen, die starke Institutionen nötig machen, zugleich der Grund dafür sind, dass diese auch missbraucht werden können. Im unmittelbaren persönlichen Umfeld ist für Hume Moral oder Tugend alles, was nützlich ist und gefällt. Dabei ist die Empathie unsere entscheidende Fähigkeit, aus den jeweiligen Bedingtheiten der Anderen eine Vorstellung und daraus einen Eindruck zu entwickeln, der auf uns als positives oder negatives Gefühl wirkt, also von einem eigenen Kalkül eingerahmt wird. Auch für Kant gehört die Empathie neben dem widerspruchsfreien Selbstdenken zum wohl nie erreichbaren Ideal der Weisheit. Was bei Hume dabei als nützlich für alle erscheint, also auch für uns selbst, wird gebilligt. Zwar neigen wir instinktiv dazu, uns selbst zum Maßstab aller Werte zu machen, sind aber gleichzeitig dem Urteil der Anderen ausgesetzt und müssen versuchen, uns in der Balance beider Perspektiven unsere Werturteile zu bilden. Die Erkenntnis Anderer ist scheinbar leicht, das Problem ist die Selbsterkenntnis, die das Urteil über Andere erst realistisch macht. Rousseau radikalisiert dieses Austauschverhältnis ganz erheblich, wenn er behauptet, dass der Mensch in der Gesellschaft sich selbst nur noch aus der Perspektive der Anderen definiert und ein etwaiges eigenes Selbst vollständig aufgegeben hat, um dessen Restaurierung es ihm eigentlich geht. Und Hume ist Realist genug, um nicht doch bei aller Empathie als konstruierter Brücke zu den Anderen die Vorherrschaft der egoistischen Kalküle zu konstatieren. Was bleibt, ist der Appell, Regeln der guten Lebensart zu entwickeln, die das eigene Selbstwertgefühl nicht zwangsläufig mit dem der Anderen kollidieren lassen. Die logische Fortsetzung von Humes „Traktat über die menschliche Natur“ wäre in diesem Sinne das 1788 erschienene beachtliche Werk „Über den Umgang mit Menschen“ des Aufklärers Adolph Freiherr von Knigge, der genau dieses mit großem Publikumserfolg versucht hat.

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Eine vergleichbare Funktion wie Humes Empathie hat bei Rousseau das Mitleid. Es ist ein natürlicher Instinkt wie bei manchen Tieren die Tötungshemmung gegenüber Artgenossen und entschärft die naturgegebene Selbstliebe, welche die Grundlage der Selbsterhaltung ist. Mitleid kann so zur Quelle von Tugend und Moral werden, die sich in eine einfache Formel kleiden lässt: Kümmere dich um deine Interessen, aber versuche, Anderen so wenig wie möglich zu schaden. Dass es gleichwohl zu Kollateralschäden kommen muss, steht spätestens mit der Weiterentwicklung zur Eigenliebe außer Zweifel, die als purer Egoismus ausschließlich Kalküle des Eigennutzes verfolgt. Was das Mitleid als Element der menschlichen Natur ganz von allein leisten könnte, muss im gesellschaftlichen Konkurrenzzustand durch Gesetze und Regeln abgelöst werden, die erzwingen können, was sich von selbst nicht mehr Bahn brechen kann. Ganz verschwunden ist das Mitleid auch da nicht, nur qua Vernunft in eine andere Form gegossen. Auch für Rousseau wird das Recht die Instanz, die uns vor uns selbst und unseresgleichen schützen muss. Rousseaus Begriff der Selbstliebe lässt in pragmatischer Absicht sehr wohl Kooperation zu. Aber die Kooperationswilligkeit wird damit nicht zu einem Wesenselement der mensch­ lichen Natur, sondern bleibt eine Randbedingung egoistischer Strategien. Es dürfte, recht betrachtet, die Perfektibilität des Menschen sein, die ihn nützliche Kooperationen eingehen lässt. Auch für Hume gibt es keine Nächstenliebe. Die Anderen erscheinen nur als Objekte eigener Befindlichkeiten und nicht als Subjekte um ihrer selbst willen. Selbstsucht und Eitelkeit prägen den Umgang mit Anderen, die wir natürlich suchen und schätzen, aber nur, wie wir alles für uns Angenehme anstreben. Dabei kann man allzu leicht wohlwollende Taten mit den egoistischen Motiven verwechseln. So ist bei aller Eigenliebe Zuneigung durchaus möglich, allerdings pragmatisch abgestuft nach der jeweiligen Nähe zu uns selbst. Das Band wird von der Familie über die Freunde und dann weitere Bekannte immer dünner, der Mensch ganz allgemein jedenfalls ist kein Objekt der Sympathie. Wir benutzen uns wechselseitig, und in der



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Wechselseitigkeit liegt die einzige Garantie, dass der Egoismus nicht überhand nimmt. In der Gesellschaftlichkeit ist der eigentlich friedlich auf seine Autarkie bedachte Mensch böse geworden, so Rousseau apodiktisch. Auch Kant scheut sich nicht, immer wieder die rastlose Bosheit des Menschen zu konstatieren und sogar Rousseaus Autarkiegedanken aufzunehmen, indem er den Menschen als „nachbarschafts-scheues Tier“ bezeichnet. Der Konflikt ist geradezu ein Plan der Natur, die Vernunft und schließlich die gesellschaftstaugliche Perfektionierung des Menschen hervorzubringen. Auch für Rousseau und Hume sind Konflikt und Konkurrenz letztlich die unvermeidlichen Triebkräfte der Entwicklung. Daneben muss und kann der Mensch den Egoismus in sich zumindest bekämpfen, so Kant, denn seinem Charakter nach ist er eigentlich nicht von übler Gesinnung, sondern nur aus gegebenem Anlass. Und dieser Anlass sind die Anderen, zu deren Abwehr im wesentlichen drei Strategien zum Einsatz kommen: Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht. Sie kommen in der Maske des aggressiven Wolfes daher, sind aber eigentlich nur das friedliche Lamm des Selbstschutzes, denn die Furcht vor den Anderen ist die Triebkraft dahinter. Möglichst weitgehend und über möglichst viele Kontrolle ausüben zu können und nicht selbst der Kontrolle Anderer ausgeliefert zu sein ist das eine defensive Motiv. Möglichst große Verfügungsgewalt über weltliche Güter zu haben, um in seiner Subsistenz nicht von Anderen abhängig zu sein, ein weiteres. Und die in ihrer feudalen Verkleidung daherkommende Ehre ist die weiche Mischung der beiden anderen Motive als Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung, die gleichfalls einen Schutzraum um die anfällige Individualität legen soll. Hinzu gesellt sich wie bei Hume die Eitelkeit. Der Selbsterhaltungswille und die Sexualität sind für unsere drei Protagonisten nicht hintergehbare Naturprodukte, während für Kant die Leidenschaften und Laster zwar auch natürlich sind, aber nur als Anreize zur Ausbildung der Vernunft, in deren Reich dafür kein Platz mehr bleiben kann. So sind die Laster Faulheit, Falschheit und Feigheit gleichsam eine List der Natur,

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den Menschen von noch viel übleren Taten abzuhalten, wie auch der Krieg nur eine Etappe auf dem Weg zur Vervollkommnung der Menschheit sein kann. Bewegen wir uns hier noch an der Oberfläche des empirisch Beobachtbaren, so macht Kant noch einen anderen Schritt darüber hinaus, der nicht zum ewigen Appell an die Vernunft führt, sondern in dunkle Abgründe des nicht mehr Beherrschbaren. Denn der größte Teil unserer Antriebe bleibt für uns selbst undurchschaubar, da hilft auch keine Vernunft mehr. Zwar nur eine Nebenbemerkung, die sich auf das für ihn unbegreifliche Mysterium der Liebe jenseits des Gebrauchs der Geschlechtswerkzeuge bezieht, aber doch auch das Eingeständnis, dass mit Verstand und Vernunft nicht alles aufzuklären ist. Dazu mag auch gehören, dass das Aussprechen all unserer Gedanken über Andere das Ende jedes vernünftigen Umgangs miteinander bedeuten müsste und wir alle folglich Schauspieler sind, die den Schein des Wohlwollens lieber für bare Münze nehmen. Überhaupt: der Schein. Auch für Hume und Rousseau besteht kein Zweifel daran, dass das So-tun-alsob, das Vortäuschen und Täuschen zum Zwecke der Erhöhung des eigenen Ansehens eine feste Größe gesellschaftlichen Verhaltens geworden ist, die sie noch vorzugsweise bei der dekadenten Oberschicht konstatieren. Denn da ist der Status in der Konkurrenz ungleich gefährdeter als in der überschaubaren Welt der einfachen Arbeit. Wie immer ein angestrebter Zustand der Menschheit aussehen soll, die Erziehung ist auf dem Wege dahin die entscheidende Methode, den Einzelnen dafür zuzurichten. Sie ist das Hinzufügen oder Verändern von Einsichten, die von Menschen bewerkstelligt werden muss, die selbst noch nicht dort angekommen sein können, also in ihrer Natur und aktuellen gesellschaftlichen Prägungen gefangen sind. Dies ist ein Paradoxon, wie Kant bemerkt. Aber er lässt sich die Zuversicht nicht nehmen, dass der kulturell-evolutionäre Fluss der Dinge gar nicht anders kann, als irgendwann bei seiner Vernunft zu landen. Es ist bedauerlich für die Wirklichkeit, dass sie angesichts der Geschichte der letzten zweihundert Jahre immer noch und immer wieder Wege einschlägt, die sich aus anderen Motiven speisen als aus der Kantschen Vernunft. Und dies kann nur als



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Hinweis verstanden werden, dass die Vernunft dem Menschen weit weniger nahe liegt, als Kant gehofft hat. Für Hume dagegen hat es die Natur dem Menschen überlassen, was er im Rahmen seiner Möglichkeiten aus seiner Zivilisation macht, wenn er nur erkennt, wer er ist. Flexibel sind nur die gesellschaftlichen Umstände, nicht seine Natur.

G. Anthropologische Perspektiven der Moral Die sogenannte kopernikanische Wende Kants in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bezieht sich auf unsere Fähigkeit, die Welt überhaupt zu erkennen. Statt wie bisher davon auszugehen, die Gegenstände dieser Welt würden von uns irgendwie eins zu eins abgebildet, wolle er es damit versuchen, dass wir, unser Geist nach seinen Funktionsweisen, der Welt vorschreibe, wie sie für uns ist. Aber wir sind auch daran interessiert zu erkennen, wie wir in Übereinstimmung mit unseren Möglichkeiten leben können und sollten, womit wir bei Fragen der Moral sind. Sie heißt bei Kant praktische Vernunft und endet in einer sehr allgemeinen Formel. Aber auch diese Formel ist ein Gebot, ein moralisches Gesetz, das uns Minimalbedingungen eines gesellschaftsverträglichen Verhaltens vorschreibt, so wie die Natur uns vor der Wende vorgeschrieben hat, wie wir sie zu sehen haben, weil sie eben erfahrungsgemäß so ist und nicht anders. Leider hat Kant in Fragen der Moral nicht gleichfalls eine kopernikanische Wende vollzogen, wenngleich er kein Rezeptbuch von Du-sollst-Regeln mehr aufstellt. Diese kopernikanische Wende hätte in Anlehnung an seine Formulierung in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft so lauten können: „Bisher nahm man an, all unser Verhalten müsse sich nach dem Sittengesetz richten, aber alle Versuche, ein solches Verhalten tatsächlich auszumachen, gingen zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Moral damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Moral müsse sich nach unserem Verhalten richten, welches so schon besser mit der Möglichkeit einer Formulierung von Sittengesetzen übereinstimmt, die über unser Verhalten, ehe es geschieht, etwas festsetzen soll.“ Im Folgenden wird also ver-



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sucht, getragen von den breit dargelegten Einsichten Humes, Rousseaus und Kants, Grundzüge eines solchen Modells einer realistischen Moral zu skizzieren. Dazu sind zunächst die Konstitutionsbedingungen des Individuums zu klären, durchaus in einem anthropologischen Sinne als Natur des Menschen. Von vornherein gehört die Abgrenzung von den Anderen und ihre Integration in das Eigene gleichermaßen dazu. Die Formen, in denen dies geschieht, folgen egoistischen Nützlichkeitskalkülen. Dies gilt für die Individuen wie in einem erweiterten Sinn auch für Körperschaften, Gruppen oder Staaten, die als Handelnde auftreten. Eine solche einfache, aber realistische Annahme, die bei einem Blick auf die Geschichte oder gegenwärtige Gesellschaften schwerlich zu bestreiten sein dürfte, lässt seit Jahrtausenden theoretisch – oder religiös – gepflegte moralische Prinzipien nur noch als verhandelbare positive Rechtssetzung zurück. Das einzige Prinzip, das dabei in der Handlungssphäre die Möglichkeit moralischen – oder humanistischen – Handelns ermöglicht, ist eine empirische, jedermann bewusste Tatsache: Nichts, was geschieht, kann rückgängig gemacht werden. Im Moment der Entscheidung ist die Wahlfreiheit auf die Zukunft gerichtet und bleibt doch der Gegenwart verbunden, weil jedermann weiß, dass die empirische Gegenwart durch genau solche Entscheidungen gebildet wurde und nun nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wie es gleichermaßen das Ergebnis der eigenen, aktuellen Handlung einen Moment später sein wird. Nun ist jede Moral oder einfacher, jede Formulierung von Du-sollst-Regeln immer schon nur die zusammenfassende Präsentation von Denkergebnissen, die darum für möglich gehalten werden, weil sie hier und da, nur nicht überall, auch schon nützlich und wirklich sind. Menschen handeln offenkundig zu allen Zeiten keinesfalls nur unmoralisch. Moral als Handlungsempfehlung ist ein Ausfluss sozialer Realitäten und reagiert auf vorhandene und schwerlich vermeidliche Defizite. Für Kant ist es die Vernunft, die diese Defizite heilen soll. Wenn sie dies nicht bewerkstelligen sollte, ist dies bedauerlich für die soziale Realität, aber nicht für die Vernunft, die davon unberührt weiter

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ihre Bahn zieht. Aber vielleicht liegt ja in der als defizitär empfundenen sozialen Welt selbst der Schlüssel für das Verständnis dessen, was für Menschen, nicht Vernunftwesen, an Verhaltensweisen realistisch möglich, also auch moralisch möglich ist. Die Differenz von „Ist“ und „Soll“, die ja überhaupt erst die Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit einer Moral begründet, ist nur ein konstruierter Gegensatz. Eigentlich meint er nur den tatsächlichen Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft. Denn jede Wahrnehmung eines Ist-Zustandes schließt seine Bewertung oder gefühlsmäßige Einkleidung ein. Wir empfinden das, was wir da sehen, als gut oder schlecht, nützlich oder schädlich, angenehm oder unangenehm oder auch als für uns völlig belanglos. Das so aufgewertete „Ist“ ist also kein neutrales Objekt für sich selbst, sondern enthält für mich eine Botschaft für meine Zukunft. Ich ziehe aus dem „Ist“ wertende Konsequenzen für mein sich darauf beziehendes Handeln. Es sagt mir ganz persönlich, was ich nach meinem Empfinden tun soll, wenn es erforderlich ist, je nachdem, ob es für mich negativ oder positiv aufgeladen ist. Und da ich ganz generell im Umfeld der Gegebenheiten, zu denen auch die Anderen gehören, einen für mich positiven Zustand anstrebe, liegt hier das Potenzial moralischer Handlungen, ganz unabhängig von Regeln oder äußeren Geboten. Die Moralität meiner Handlung ergibt sich von selbst – oder eben auch nicht. Sie folgt keinem Regelsystem, sondern reagiert auf einen konkreten Zustand nach meinem Empfinden. So läuft unter verschiedenen Namen und Bedeutungen alles auf den Egoismus als Schlüsselkategorie hinaus, der ja als individuell unerwünschtes Verhalten von der Moral in Acht und Bann getan wird. Dabei hält er sich von vornherein ein Hintertürchen offen, durch das er fliehen kann und als Allgemeininteresse, man könnte sagen den gleichen Egoismus aller, aus der Verbannung zurückkehrt. Denn das Allgemeinwohl ist zwar als Abstraktum denkbar und entsprechend anfällig für seine handlungsrelevante Definition, muss aber als gleichgerichtetes Interesse aller auch wieder zu jedem Einzelnen zurückkehren und eine angepasste Form seines Egoismus werden. Die Demokratie



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beruht auf diesem Gedanken, hat sich aber längst als bloße Form der Interessenbündelung und -durchsetzung realistisch gemacht, auch weil hinter lauter Interessen kaum noch das Allgemeine zu erkennen ist. Der „klassische“ Egoismus, der die Rücksichtslosigkeit eines Einzelinteresses meint, wäre wohl sprachlich treffender als Egozentrik zu verstehen. Zwar ist ein Egozentriker heute umgangssprachlich wohl ein noch größerer und rücksichtsloserer Egoist, aber in dem Wort steckt das eigentlich Gemeinte viel genauer: auf sich selbst zentriert, mit sich als Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt aller Überlegungen und Handlungen. Das ist der Egoist zwar auch, aber man billigt ihm doch wenigstens von Fall zu Fall die Chance der Heilung seines unsozialen Charakters zu. Beim wirklichen Egozentriker scheint jede Hoffnung dahin. Und so scharfkantig soll im Folgenden der Egoismus verstanden werden, der gewohnheitsmäßig als Wort weiter verwendet wird. Er soll als realistischer Egoismus bezeichnet werden, weil er sich zwingend aus der Betrachtung der Konstitutionsbedingungen des Menschen ergibt. Es sei noch angemerkt, dass Kants „moralischer Egoist“ dieser Bedeutung am nächsten ist und besonders mit Schopenhauer und Nietzsche weitere philosophische Karriere macht. Bemerkenswert ist ohnehin die übereinstimmende Beobachtung unserer drei Protagonisten, dass sich hinter ausdrücklich nicht-egoistischem Verhalten allzu häufig egoistische Nützlichkeitserwägungen zu verbergen suchen. Angesichts der starken Neigung der Menschen, ihre wahren An- und Absichten eher zu verschleiern als offenzulegen, scheint äußerste Vorsicht geboten, wenn jemand einem anderen eine Wohltat zukommen lassen will. Umgekehrt scheint der Begünstigte stark dazu zu neigen, dem Wohltäter die Wohltat zu verübeln, eben weil er sie angenommen hat oder in elementarem Sinne auf sie angewiesen war. Auch hierbei ist der Egoismus im Spiel, denn er ist die einzige unausgesprochene Selbstdefinition des Individuums. Das natürliche Überlebensinteresse vorausgesetzt, hat das Individuum schlicht keine andere Chance, als die Welt aus seiner Warte, von sich als Zentrum seiner Welt, zu betrachten. Wenn es Schmerzen, Hunger, Durst oder ein Verlangen hat, ist

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zunächst nur es selbst davon betroffen und niemand sonst. Dabei ist es zunächst gleichgültig, wie das Entstehen dieser Zustände biologisch erklärt werden kann, zum Beispiel durch den Einfluss von Hormonen oder die Verschaltung von Neuronen im Hirn. Diese materialen Prozesse erscheinen ja selbst nicht in unserem Bewusstsein. Was sich dort findet, ist zum Beispiel nur ein Lustgefühl. Wenn wir Meinungen, Überzeugungen oder bestimmte Verhaltensweisen haben, sind sie für uns selbst der Maßstab unserer Betrachtung der übrigen Welt. Dabei ist es wiederum zunächst gleichgültig, durch welche Erfahrungen, Erziehung, Vorbilder und dergleichen wir zu einer bestimmten Meinung oder einem bestimmten Verhalten gelangt sind. In unserem Bewusstsein ist diese Meinung oder jenes Verhalten und kein anderes. Wir sind zu jedem Zeitpunkt ein selbstbezüglicher Kreislauf von Empfindungen und Denkhaltungen, der vor anderen als Körper, als Person steht. Wenn man einen biochemischen, neurologischen oder wie immer gearteten Determinismus annimmt, für den mit fortschreitender Aufklärung materialer körperlicher Prozesse als Vorbe­ dingungen jeweiliger Bewusstseinszustände einiges zu sprechen scheint, dann wollte zumindest die Natur uns diese Determina­ tion unseres Bewusstseins verheimlichen, denn die biologischen Prozesse selbst erscheinen nicht in unserem Bewusstsein. Wir wissen nicht, welche Vorgänge in unserem Körper uns vielleicht in einen bestimmten Zustand unseres Bewusstseins geführt haben, wenn wir ihn denn haben. Man kann diese Vorgänge allerdings weitgehend im Nachhinein auf der Basis des Standes der Wissenschaft plausibel machen oder auch aktuell verfolgen, wenn man an die passenden Messgeräte angeschlossen ist. Aber all dies ist nur eine Einkreisung plausibler Ursachen für die ­körperliche Bereitschaft zu einer allgemeineren Stimmungslage, nicht die zweifelsfreie Determination eines bestimmten Bewusstseinszustandes. Wir können allerdings durch Medikamente, ­Pheromone, Drogen, Alkohol allgemeine Gestimmtheiten unseres Bewusstseins herbeiführen, aber keine ganz speziellen Willenszustände, wie sie einer bestimmten konkreten Handlung zugrunde liegen. Umgekehrt können Zustände unseres Bewusstsein wie Zorn oder Wut, die durch einen äußeren Anlass hervorgeru-



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fen werden, umgehend die passende Biochemie auslösen, zum Beispiel Adrenalin oder Testosteron ausstoßen mit den möglichen Folgewirkungen Flucht oder Aggression. Das Zusammenspiel der zweifellos gegebenen materialen Grundlagen unseres Bewusstseins – dazu gehören neben unserem Körper auch die von außen hereingelassenen Reize – und den konkreten Inhalten unseres Bewusstsein selbst ist die größte aller Rätselfragen. Als Dualismus von Körper und Geist beschäftigt sie die Philosophie schon lange, wird aber mit dem Fortschritt der Humanwissenschaften kaum noch als scharfe Trennung begriffen, sondern als ein Monismus, der eben den Menschen ausmacht. Und vielleicht bewahrt uns ja irgendein Zufall in unserer evolutionären Entwicklung gütigst davor, je zu einer deterministischen Maschine zu werden, in der wir ganz sicher keine Menschen der Art mehr wären, die wir zu kennen glauben. Sehr viel einfacher scheint es, klar definierte und sprachlich formulierbare Bewusstseinsinhalte wie Meinungen, Absichten, Überzeugungen nach ihrer Herkunft zu erklären. Warum aber genau diese und nicht mögliche andere aus der Kultur ins eigene Bewusstsein übernommen werden und dann nach außen wirken, hat ebenfalls eine scheinbar deterministische und eine rätselhafte Komponente. Soziale Umstände und Bildungsangebote sind hier die aufklärbare materiale Grundlage, die der entstehenden individuellen geistigen Welt eine gewisse Plausibilität unterlegen, aber ihrer vielleicht rätselhaften Freiheit durch Fantasie keine unüberwindbaren Fesseln anlegen. Ohne die Unterstellung einer solchen Freiheit der Vorstellungskraft wäre die Veränderung und Entwicklung geistiger Positionen kaum vorstellbar. Dass dabei aber der Egoismus in einer bestimmten Form eine entscheidende Rolle spielt, wird zu zeigen sein. Das Individuum ist für sich zwar zu jedem Zeitpunkt ein in sich geschlossenes Ganzes, aber es kann nicht immer dasselbe sein, weil es sich in beständiger Korrespondenz mit seiner Umwelt und in beständiger, alterungsbedingter biologischer Veränderung befindet. Beide Faktoren wirken zumeist eher unbemerkt, weil der Mensch sich selbst jederzeit als ein Ganzes empfindet, von jenen abgesehen, die an schweren psychischen Störungen

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leiden. Dazu gehört auch, dass er im Laufe des Lebens seine quantitativ anwachsende Korrespondenz mit seiner Umwelt Schicht für Schicht in sich anlagert. Diese Erfahrungen mit sich selbst und Anderen werden allerdings auf der Basis des jeweils erreichten Zustandes qualitativ selektiert und geordnet, und zwar zwangläufig so, dass sie mit dem aktuellen Status des Selbstverständnisses vereinbar sind. Niemand übernimmt im Normalfall in seinen Bestand etwas, was sich völlig gegen ihn selbst richtet. Ein untrennbar zum Egoismus gehörende Begriff ist der Respekt. Das lateinische Verb respicere und das Substantiv respectus bedeuten zurückschauen. Respekt ist damit für uns die Anerkennung des Gewordenen. Das beinhaltet natürlich keine Wertung, sondern nur die Hinnahme, dass etwas sich ergeben hat und nun so ist, wie es ist. Und für das Individuum bedeutet Respekt, wiederum ohne Wertung, sich selbst so an- und hinzunehmen, wie man sich sieht, und Andere ebenso, wie man sie sieht, weil sie nun einmal auch da sind. Dass Andere uns mit einiger Wahrscheinlichkeit anders sehen als wir uns selbst, ist aus deren Bedingtheiten unvermeidlich. Respekt zu haben bezeichnet keinen rationalen oder gar moralischen Vorgang und schon gar keine fortlaufende Analyse, sondern das unaufgebbare Gefühl seiner selbst in einer Welt mit Anderen. Es ist eher ein Wahrnehmen und Gelten lassen als ein Wertschätzen. Die Frage bleibt natürlich, wie das Individuum zu all dem kommt, dass es als sein Selbst wahrnimmt. Eigentlich ist die Antwort ganz einfach: indem es lebt. Das bedeutet, dass es biologischen und angeboren Faktoren ausgesetzt ist und ebenso ganz unvermeidlich den menschlichen und damit kulturellen aus seiner näheren und ferneren Umwelt. Nah und fern gelten sowohl für die räumliche Entfernung als auch mit dem Fortschritt von Zivilisation und Kultur für leicht und weniger leicht begreifbar, weil jedes Wahrnehmen und Begreifen eine Notwendigkeit und eine Bereitschaft des Individuums verlangt. Wie hoch man immer den evolutionär vorgeprägten, genetischen Einfluss im Vergleich zum kulturellen bei der Herausbildung eines Individuums einschätzen mag, er muss schon deshalb



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vorhanden sein, weil ansonsten unter stabilen kulturellen Bedingungen sich weitgehend gleiche Individuen entwickeln müssten. Dies ist bei aller kulturell erreichbaren äußeren Konformität nicht der Fall. Allerdings muss es einen Kern des Mensch-Seins geben, der über die Möglichkeiten des Körpers hinausgeht und das Denkund Verhaltensrepertoire bestimmt. So wie wir jedem Tier bestimmte Eigenschaften zuordnen, die uns bei aller Individualität zweifelsfrei sagen, was wir zum Beispiel von einem Hund oder einem Pferd erwarten können und was nicht, muss es mit der gleichen Treffsicherheit auch möglich sein, diese Kerneigenschaften für den Menschen festzustellen. Der Mensch ist so gesehen nur ein komplizierteres Tier. Kompliziert deshalb, weil wir die Anderen nach unserem eigenen Vorbild bis in die Verästelungen ihres Bewusstseins zu kennen glauben, was wir bei dem einfacheren Tiermodell nicht nötig haben. In gewisser Weise stehen wir uns selbst bei der Einschätzung Anderer im Wege. Oder: Wir begegnen uns selbst bei einem Urteil über Andere, ohne dass uns dies bewusst wird. Die individuellen Denk- und Verhaltensgewohnheiten werden unvermeidlich die Grundlage der Betrachtung Anderer. Eine vorurteilsfreie Betrachtung ist gar nicht möglich, schon gar nicht eine solche, die der Selbstwahrnehmung der Anderen gleichen könnte. Das Urteil ist – von den Möglichkeiten des Individuums ausgehend – immer egoistisch, ganz gleich, wieviel altruistische Überzeugungen ihm zugrunde liegen mögen. Und deshalb muss der Egoismus gelobt werden, weil er unvermeidlich vorhanden ist, aber auch kulturell organisiert nützliche Formen annehmen kann. Kultur ist die Übersetzung des Egoismus in eine lebbare Form, einerseits für den Einzelnen selbst, andererseits in der Gemeinschaft mit den Anderen. Der Egoismus ist einerseits ein unverzichtbarer Mechanismus des Selbstschutzes, andererseits die Grundlage des Kontaktes zu Anderen. Es ist ausgeschlossen, dass man einen Anderen so versteht wie sich selber und aus dessen Sicht der Dinge heraus agieren könnte, auch wenn man es wollte. Und es ist ausgeschlossen, dass ein Anderer das eigene Selbst so sieht, wie es

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das bewusste Selbstverständnis will. Zwar können allerlei kulturelle Normen als gleichsam automatisierte Hilfsmittel des Selbstverständnisses und des Verständnisses Anderer dazwischentreten, aber auch sie müssen in das Eigene übernommen oder verwandelt werden. Das üblicherweise Anzunehmende ist eben nur das Gewohnheitsmäßige, nicht das jeweils Besondere. Aber das Einander-Gegenübertreten ist zunächst als Wahrnehmung auch ein Akt des Respektes. So wie ich ein Bewusstsein meiner selbst habe und mich als Individuum respektiere, erscheint der Andere auch in meinem Bewusstsein und wird als Anderer respektiert, weil er von meiner Art ist. Unmittelbar darauf setzt aber ein Abschätzungsprozess ein, der wegen des egoistischen Überlebensinteresses unverzichtbar ist und als evolutionäre Fortentwicklung des Fluchtinstinktes betrachtet werden kann. Artgenossen sind zwar in der Regel nicht ganz so gefährlich wie Fressfeinde, aber wegen ihrer unvermeidlichen Eigeninteressen auch zumindest potenziell eine Bedrohung, gegen die es gilt, auf der Hut zu sein. Die Anderen werden also abschätzend zur Kenntnis genommen, ihr Dasein respektiert und automatisch in einem egoistischen Kalkül des Nützlichen oder Angenehmen auf der Basis eigener Erfahrungen, Empfindungen oder Denkhaltungen bewertet. Sie werden sortiert, natürlich auch als zu Vermeidende aussortiert. Sie alle sozusagen neutral gleich zu bewerten würde die Kapazität des Individuums bei Weitem überfordern, eine Vereinbarkeit ihrer Wahrnehmung mit dem Selbstbild und -interesse herzustellen. Denn das kann nicht neutral sein. Es ist egoistisch, auf sich selbst bezogen. So weit zunächst der realistische Egoismus. Er beruht auf der abgegrenzten, körperlichen Eigenexistenz jedes Individuums. Nun gibt es das tatsächlich völlig isoliert aus dem Ei schlüpfende Individuum, das von der ersten Sekunde an allein seine Instinktausstattung und keine Anfangsbetreuung hat, nur etwa bei Fröschen oder Krokodilen, also sehr alten Tierformen. Die mütterliche oder elterliche Sorge ist also zweifelsfrei evolutionär entwickelt worden und biologisch ebenso angelegt wie der Sexualtrieb. Gesteuert wird diese Biologie über allerlei Hormo-



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ne, die das entsprechende Verhalten hervorrufen. Aber es erscheint zugleich im Bewusstsein als positives Gefühl und belohntes Verhalten. Was bewusst wird, kann – zumindest ab einem bestimmten Stadium der evolutionären Hirnentwicklung – auch gedacht werden und als Material für weitere kulturelle Umgehensweisen genutzt werden. Bekanntlich hat die Kinderaufzucht auch in jüngeren Jahrhunderten sehr verschieden ausgesehen, und bekanntlich gibt es auch heute noch eine kulturell oder sozialökonomisch aufgenötigte Tötung von (weiblichen) Babys, die an der Mütterlichkeit als letztlich biologischer Kategorie zweifeln lassen können. Allerdings scheint damit eher eine unterstellte Tötungshemmung des Sozialwesens Mensch infrage zu geraten. Im Übrigen ist dies ein Hinweis auf die Kraft kultureller Normierungen, die als zweite Natur des Menschen seine erste biologische nachhaltig verformen, aber wohl nicht grundsätzlich außer Kraft setzen können. Die Ausbildung zur Person findet ab der Geburt nicht nur im biologischen Sinn mit Kontakt zu Bezugspersonen statt. Das instinktive Repertoire von Babys dient ausschließlich ihrem Überleben und wird mit der Entwicklung der Körper- und Hirnfunk­ tionen in ein Verhaltensrepertoire umgesetzt, das sich seine Umwelt und besonders seine Kontaktpersonen zunutze machen muss. Der Lebenswille erzwingt Strategien des Umgangs mit anderen Menschen, die experimentell zu Erfahrungen werden. Umgekehrt haben die Bezugspersonen Verhaltensweisen und Interessen, die sie dem Kleinkind nahebringen oder aufnötigen, und seiner rein egoistischen Selbsterfahrung Widerstand entgegensetzen. Aber zumindest für eine längere Periode werden diese Widerstände in die eigenen Erfahrungen integriert – häufig durch Imitation – und erweitern unbemerkt das eigene Repertoire durch die Interessen der Anderen. Irgendwann erreicht diese erste Erfahrungsgrundlage die Stufe einer gewissen Bewusstheit, die dann weiteres Denken freisetzt und Alternativen denkbar macht. Aber die Anderen sind unvermeidlich als partiell Eigenes und somit getarnt nunmehr im Bewusstsein präsent. Die Anderen verweigern sich aber nicht grundsätzlich meinen Wünschen und Interessen, sondern erfüllen sie auch. Sie sind

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auf der Basis ihrer eigenen Wünsche und Interessen durchaus bereit, meine zu erfüllen, wenn sie sich mit ihren zumindest längerfristig und allgemein decken. Kooperation ist das Zusammenführen verschiedener Egoismen mit einem Ziel, das jedem einzelnen Egoismus entspricht. Kooperation ist nicht das AußerAcht-Lassen der eigenen Interessen zugunsten anderer. Allerdings kann es faktisch so erscheinen, auch im eigenen Selbstbewusstsein. Damit wird der Egoismus aber nur auf eine andere Ebene als die der unmittelbaren Interessenwahrung verlagert. Entweder wird auf eine entsprechende Gegenleistung in der Zukunft spekuliert oder ein Ansehensgewinn erwartet, der zu meinem egoistischen Bedürfnis gehört. Durch Verzicht erkaufe ich mir Wohlwollen von denjenigen, von denen ich es mir wünsche, weil ich es ihnen entgegenbringe. Ich verzichte sozusagen in harter Währung, will aber in weicher, sozialer Münze gewinnen. In jedem Fall steht unvermeidlich ein egoistisches Kalkül dahinter, das aber sehr vielschichtige Inhalte haben kann, die nicht immer leicht an der Oberfläche von Handlungen und Worten auszumachen sind. Die theoretische Gegenposition, dass der Mensch ein grundsätzlich und von vornherein auf Kooperation angelegtes Wesen sei, ist kein Widerspruch. Denn sie will ja nur besagen, dass der Mensch zumeist und stark dazu neigt, mit anderen zu kooperieren. Dies ist bei der immer gegebenen sozialen Verflechtung auch gar nicht anders vorstellbar. Weil immer viele Menschen miteinander leben und soziale Interaktion jeder Art – auch feindselige – unvermeidlich ist, ist die Kooperation als Teilmenge der Interaktion zwar eine Tatsache, aber noch kein Ausdruck des generellen menschlichen Willens, als sei es gleichsam seine Natur als soziales Wesen, das Zusammen in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns zu stellen. Die Tatsache kooperativen Verhaltens ist nicht zugleich auch der Grund der Tatsache. Es muss für den Menschen vorteilhafter sein, so zu agieren, als den Anderen gegenüber feindlich zu bleiben. Und dieser Vorteil muss für alle kooperierenden Einzelnen gelten, also ihrem Egoismus entspringen. Es kann nicht aus einem metaphysischen Gefühl abgeleitet werden, dass Kooperation für alle besser sei, weil alle immer nur viele Einzel-



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ne sind. Sie sind und bleiben die Agenten, nicht irgendeine Form von Gemeinschaft oder Gesellschaft. Kooperation als freiwilliger Akt ist erst möglich, wenn eine gewisse Selbstständigkeit erreicht ist, die mich in meinem Selbstbewusstsein von Anderen abgrenzt und deshalb von mir eine bewusste Entscheidung im Verhältnis zu ihnen verlangt. Diese selbstbewusste Selbstständigkeit ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, deren ungefährer Abschluss mit gesellschaftlichen Ritualen des Übertritts ins Erwachsenenalter begleitet wird, wie zum Beispiel der sogenannten Reifeprüfung. Zwar sah und sieht sie bei Völkern außerhalb der technischindustriellen Zivilisation anders aus als zum Beispiel das deutsche Abitur, beinhaltet aber immer einen gesellschaftlich für notwendig erachteten Wissens- und Verhaltenskodex. Selbstbewusste Selbstständigkeit ist also immer die Reproduktion eines gesellschaftlich vorgegebenen Wertekanons, der mit allerlei individuellen Varianten zu rechnen hat. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass die Anderen in Form der näheren Angehörigen und der ferneren sonstigen Mitglieder einer Gesellschaft einen unabwendbaren, erheblichen Einfluss auf sein Selbstbewusstsein haben, es aber nicht notwendigerweise vollständig determinieren, weil die gesellschaftliche Prägung aus verschiedenen Quellen stammt, von verschiedenen Personen und Institutionen. Und schließlich haben offene Gesellschaften, um einen Begriff des Soziologen Popper zu verwenden, eher ein Spektrum des Zulässigen entwickelt, um sich ihre Anpassungsfähigkeit zu erhalten, als einen starren Kodex erzwingen zu wollen. In jedem Fall sind die Anderen im engeren und weiteren Sinn im Selbstverständnis so präsent, dass eine Unterscheidung des genuin Eigenen (durchaus auch im Sinne von genetisch festgelegt) vom sozial Anderen nicht mehr zweifelsfrei möglich ist. Aber der Begriff der Selbstständigkeit, der irgendwann auf der Zeitachse des Lebens eintreten soll, suggeriert alsdann einen relativ freien Umgang mit den erworbenen Inhalten des Selbstbewusstseins. Man kann den Anderen heimzahlen wollen, was sie einem angetan haben, weil man es nun auch kann, man kann mit ihnen und gegen sie nutzen wollen, was sie

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angeboten und aufgezwungen haben, aber man kann sich selbst nicht mehr aus der Verantwortung entlassen, das zu sein, was man selbst glaubt. Und wird von den Anderen schon gar nicht aus der Verantwortung entlassen, das zu sein, was sie glauben, das man ist. Hier kommt Rousseaus elementarer Freiheitsbegriff ins Spiel der Gedanken. Immer bleibt ein Ressentiment gegen den hohen Grad an Fremdbestimmung, zumindest ein genuines Bedürfnis, sich selbst als ganz Eigenes begreifen zu wollen und so auch anerkannt zu werden, weil ich mit den Anderen nach meiner Art umgehen will und nicht nur sie in ihrer Art mit mir. Der Optionen sind viele, aber nicht die Selbstaufgabe. Alle münden im realistischen Egoismus. Wo Kooperation nicht ohnehin unvermeidlich ist, folgt sie diesem unbewussten Kalkül mit wahrlich wechselndem Erfolg. Das Wettrennen zwischen dem Hasen Selbstbewusstsein und dem Igel, der die Anderen repräsentiert, gewinnt mit List immer der Igel. Der Hase weiß zwar, dass er der schnellere ist. Aber so wie der Igel schummelt, haben sich die Anderen in das Selbstbewusstsein hineingeschummelt, ohne dass ich dies bemerkt oder gar gewollt habe. Der realistische Egoismus schließt einen wohlwollenden Umgang mit den Anderen also keineswegs aus. Er setzt ihn geradezu voraus, allerdings als Kalkül der Beförderung des eigenen Wohlbefindens und nicht als Ausfluss angeborener Menschenliebe. Die Strategien der Selbstbehauptung unter gesellschaftlichen, also konkurrenziellen Bedingungen werden von Hume, Rousseau und Kant mit verschiedenen Akzentuierungen klar benannt. Sie lassen sich unter die Kantschen großen Drei Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht subsumieren, allerdings in erweiterter, moderner Bedeutung, wie bereits als anthropologische Motive benannt. Sie ordnen die Welt in Hierarchien zwischen oben und unten, die genauso elementar zu sein scheinen wie Raum und Zeit. Soziale Anerkennung, Status, Prestige, Berühmtheit, Eitelkeit, Stolz als Autosuggestion sind die Begriffe für die neueren Formen der alten Ehre. Je mehr ich mich aus den Vielen heraushebe, desto eher kann ich das sein, wofür ich mich heimlich schon immer gehalten habe: etwas Besonderes. Es sind selbstverständlich keine Begabungen und zufällig günstige Konstella-



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tionen, die mich in den Augen der Anderen auf eine von außen definierte höhere Ebene gehoben haben, sondern das eigene Verdienst, in dem ich mich wiedererkenne. Und ein gewisses Maß an Macht zu haben, bedeutet nicht nur, Andere für eigene Zwecke instrumentalisieren zu können, sondern auch, sich vor den Zumutungen Anderer schützen zu können. Dabei muss es sich keineswegs immer nur um den eigenen, unmittelbaren Vorteil handeln, sondern Macht kann natürlich auch bewusst zum Vorteil Anderer gebraucht werden, allerdings wohl kaum zum eigenen Schaden. Aber wenn sie für Andere eingesetzt wird, so bleibt es doch meine Macht, die nicht auf die Begünstigten übergegangen ist. Ihr Vorteil ist geliehen, mir bleibt das erhabene Gefühl, die Welt um mich herum nach meinen Vorstellungen beeinflussen zu können und nicht nur Spielball fremder Kräfte zu sein. Gern wird der Macht der Begriff der Verantwortung beigefügt, um ihr die unangenehme Schärfe zu nehmen. Aber Verantwortung als Balance zwischen den eigenen Interessen und denen Anderer ist ein Abwägen, in dem zumeist nur das eigene Interesse als das eigentliche der Anderen ausgegeben wird. Da hilft nur Gegenmacht, die im gleichen Dilemma steckt. Und schließlich die Habgier als offenkundigste Ultima Ratio egoistischen Strebens, die zumindest die modernen Gesellschaften in allen Facetten so durchsetzt, als gäbe es Glück nur in Form äußerer Güter und Verfügungsgewalt über diese. Aber das Wissen darum, dass dem eigentlich nicht so sein kann, wie besonders Reiche gerne mitteilen lassen, ist deshalb nicht aus der Menschheit verschwunden. Derweil pflegen die Vielen die Illusion, Reichtum könne es für alle geben, übersehen aber, dass auch die Hierarchisierung der Dinge dieser Welt angesichts eines realistischen Egoismus so schnell kein Ende finden wird. Bekanntlich sind alle Versuche, diese drei Hierarchisierungen außer Kraft zu setzen, sei es im Kleingruppenformat oder als politischer Großversuch, regelmäßig zum Scheitern verurteilt. Das kann kein Zufall sein. Sie konstituieren nicht nur eine öffentlich sichtbare Elite, sondern sind auf jeder gesellschaftlichen Ebene implizit anzutreffen, in jeder Familie, in jedem Betrieb, an jedem Ort. Jeder ist bereit, viel für eine angesehenere oder vorteilhaftere Position auf der Skala

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der Hierarchien zu investieren, natürlich auch Wohlwollen gegenüber Anderen. Zwei Probleme bleiben, wenn man den Egoismus als realistische Beschreibung der Grundlagen des vorherrschenden menschlichen Verhaltens akzeptiert, der ja von vornherein ein beträchtliches Konfliktpotential in sich birgt. Wie können Gesellschaften trotzdem funktionieren? Ist der Konflikt das entscheidende Medium des Fortschritts? Die erste Frage ist schon durch die Aufklärungsphilosophie eindeutig beantwortet. Es ist allein die klare Definition und Durchsetzung dessen, was im Interesse aller verboten ist. Und dieses Interesse ist in einem weiten Spektrum verhandelbar. Staat und Recht sind die einzigen Institutionen, die unseren Egoismus in erträgliche Schranken weisen können und müssen. Sie verdanken die Möglichkeit ihrer Existenz durchaus unserer Selbsterkenntnis, durch welche historische oder individuelle Erfahrung auch immer angestoßen. Natürlich wird eine solche Einsicht nicht jedem einzelnen Mitglied einer Gesellschaft zuteil, aber doch der übergroßen Mehrheit und damit der Gesellschaft insgesamt. Und natürlich gilt diese Einsicht nur für das Prinzip, nicht zwangsläufig für den konkreten Staat und das konkrete Recht, die sich allemal durch Nützlichkeit und Erträglichkeit zu legitimieren haben. Staat und Recht sind Ausfluss harter empirischer Fakten und haben einen langen Entwicklungsweg hinter sich, der zwischen äußerer Macht gegen die Vielen, ohne die Vielen und ein wenig abgemildert für die Vielen und schließlich auch mit den Vielen schwankte und schwankt, wie jederzeit ein Blick auf das Weltgeschehen lehrt. Staat und Recht sind keine abstrakten Ideen vom Reißbrett der Vernunft – deshalb wohl auch sind sie immer im Detail unvollkommen –, sondern folgerichtiger Ausdruck unseres grundsätzlichen Verhaltensspektrums, das, wie die Form des Sozialstaats zeigt, durchaus Wohlwollen gegenüber Anderen einschließen kann. Wenngleich letztlich aus egoistischen Herrschaftsinteressen, um gegebenenfalls einem nicht mehr zu kontrollierenden elementaren Überlebensinteresse die Spitze zu nehmen. Der Staat operiert nach dem gleichen egoistischen Realismus, der auch uns Einzelne vorantreibt. Das durch ihn



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gesetzte Recht fällt dabei unterschiedlich aus, je nachdem, wer gerade die Machtpositionen besetzt hält. Wir, die Einzelnen, setzen durch unser Agieren und seine Wirkung in der großen Zahl die Agenda der Politik. Kein Zweifel, dass Demokratie und Gewaltenteilung Formen der Mäßigung der Machtausübung sind, die den Vielen eine Chance gibt. Der Konflikt ist aufgrund unserer anthropologischen Konstitutionsbedingungen ganz offensichtlich unvermeidbar. Er hat im Umfeld der Kernbegriffe Anerkennung, Macht und Profit seine Anlässe auf der individuellen Ebene bis hinauf zu den Staaten und nimmt sehr verschiedene Verläufe. Zweifellos ist der Rechtsstaat aus der Perspektive der Aufklärung ein großer gesellschaftlicher Fortschritt, der aufgrund viel effizienterer Informations- und Kommunikationsmedien immer weniger nur als Verhüllung blanker Interessendurchsetzung oder gar des gewollten Unrechts taugt. Es ist auch durchaus zu vermuten, das zivilgesellschaftliche Einflussnahmen, zivil- und strafrechtliche Prozesse Lerneffekte erzeugen, wenngleich sie das Konfliktpotenzial insgesamt nicht reduzieren und vergleichbare Konflikte immer wieder neu aufflammen, aber seltener mit den gleichen Beteiligten. Und es darf auch angenommen werden, dass die großen historischen Katastrophen auf dem Wege dahin die gesellschaftliche Entwicklung letztlich befördert haben. Aber die großen Katastrophen, den Krieg als Extremfall, ex post als notwendiges Durchgangsstadium zu einer verbesserten Welt anzusehen, erscheint doch allzusehr als ein Denken aus einer anderen Zeit, das sich hier einer Faktizität ergibt, die es ansonsten überwinden will. Für Hume, Rousseau und Kant lag der Dreißigjährige Krieg mit seinen Verheerungen über hundert Jahre zurück und hatte eine gewisse Stabilisierung der absolutistischen Staatenwelt gebracht, die Französische Revolution war gerade angedacht und stand unmittelbar bevor, der Holocaust schien undenkbar und war noch fast 200 Jahre entfernt. Man wird aber festhalten müssen, dass Konflikte als gefühlsbeladene Selbstbehauptungen sich immer wieder in Gewalt entladen werden, weil die viel beschworene Vernunft allenfalls unbeteiligten Dritten zuteil werden mag. Und dass dann, wenn am Ende die gerechte Sache gesiegt haben sollte, wie es gelegent-

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lich geschieht, von Fortschritt gesprochen werden darf, ohne dass man den Krieg als notwendiges Medium dieses Fortschritts bezeichnen muss. Fortschritt ist eigentlich die Verbesserung eines Zustandes ohne den Umweg über seine Verschlechterung. Aber gerade Wege sind selten das, was Menschen einfach zustande bringen, weil jeder seine Vorstellungen hat. Sie müssen gebaut werden und sich der Landschaft anpassen, durch sie führen. Was kann unter solchen Bedingungen eines realistischen Egoismus, den mancher nicht als realistisch anerkennen wird, weil er von vornherein unmoralisch zu sein scheint, Moral überhaupt noch sein? Den Menschen die Möglichkeit zu moralischem Handeln abzusprechen, wäre in der Tat unmoralisch. Brauchen wir angesichts der Behauptung, dass wir unvermeidlich tun, was uns naheliegt, allgemeine Sätze, die uns sagen wollen, was wir tun sollen? Und können solche allgemeinen Sätze im Einzelfall tatsächlich eine Orientierungshilfe sein? Sie gehen ja immer von einer Beziehung des Ichs auf die Anderen aus und sind mehr oder weniger in der Formel abgebildet „Was Du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu.“ Das Problem und der Charme jeder Tugendlehre, Moral oder Ethik ist, dass sie völlig unbescheiden immer allgemeine Gültigkeit behaupten wollen. Sie soll aus dem Gedanken der Realität menschlichen Handelns übergestülpt werden. Naturgesetze gewinnen ihre allgemeine Gültigkeit aus empirischen Beobachtungen, in denen sie zweifelsfrei immer wieder angetroffen werden. Moralische Gebote können ohne Zweifel nicht immer und überall in der Wirklichkeit menschlichen Handelns angetroffen werden. Sie werden geradezu als Gegenbild zur empirischen Realität entwickelt. Sie schweben also in einem fast menschenleeren Vorstellungsraum und sind deshalb auch kaum interessant und schon gar nicht praxisrelevant. Menschen handeln andauernd und orientieren sich dabei in aller Selbstbezüglichkeit an ihrer Umwelt, weil sie ihre Grenzen nicht metaphysisch überschreiten können. Eine Theorie in moralischer Absicht, die ihre Konsequenzen aus der Faktizität menschlichen Handelns zieht und auf allgemeine Gültigkeit ihrer Sätze für alle und jeden verzichtet, hätte vielleicht größere Chancen, in den



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Orientierungsrahmen der Menschen Eingang zu finden und so Wirksamkeit zu entfalten. Machen wir den Test mit dem fünften Gebot, das hinsichtlich meiner Beziehung zu Anderen die elementarste Anweisung formuliert: Du sollst nicht töten. Diese Regel hat eine scheinbare praktische Bedeutung für diejenigen, die gar keine Veranlassung oder Möglichkeit haben, jemanden zu töten. Wer nicht tötet, hält sich nicht an eine oberste moralische Anweisung, sondern tut es einfach nicht, weil es zufällig keine Umstände gibt, die ihm eine solche Tat als optimale Lösung seines egoistischen Interessenverständnisses aufdrängen. Wer es jedoch im Affekt tut, wird von seinen momentanen egoistischen Antrieben überwältigt, die keine halbwegs rationale Kontrolle, schon gar keine allgemeine Moralvorschrift, aufhalten kann. Wer geplant tötet, folgt ohne Zweifel einem egoistischen Kalkül, in der Regel seiner Habgier, oder hat sich einer subjektiv entlastenden Strategie unterworfen, die die Tat aus höheren, letztlich die Menschheit rettenden Motiven rechtfertigt. Wer den Tyrannen tötet, kann sogar zum Helden werden, zumindest bei denjenigen, die den Tyrannen eindeutig als solchen erkannt haben. Wer die Todesstrafe an verurteilten Verbrechern vollstreckt, erfüllt eine notwendige Funktion in Gesellschaften, die dies für richtig halten, obwohl ihnen zum Beispiel die christlichen Gebote sehr präsent sind. Das Töten in Notwehr oder auch als sogenannter finaler Rettungsschuss ist zumeist gesellschaftlich erlaubt. Und wer für sein Land als Soldat in den Krieg zieht, wird nicht nur mit einer moralischen Lizenz zum Töten ausgestattet, sondern ausdrücklich dazu aufgefordert, den Gegner mit allen Mitteln aufzuhalten. Es wird tatsächlich überall und andauernd getötet. Man könnte dies für eine beklagenswerte Schwäche der Moral halten, aber eigentlich ist das Tötungsverbot gar keine moralische Vorschrift. Es ist ein Traum und keine immer und allgemein geltend zu machende Beschränkung individueller Handlungen. Weil der Konflikt zwischen Staaten und auch analog zwischen Individuen niemals auszuschließen ist, bleibt der Krieg und der Mord immer im Handlungshorizont. Man kann politisch oder mit Gewaltprävention aller Art sehr konkret durch pragmatisches

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Handeln das Töten weniger häufig zu machen versuchen, aber nicht mit einer Moral, die durch Einsicht ein Verhalten verhindern möchte, das Menschen im Normalzustand ohnehin ablehnen, im individuellen oder politischen Ausnahmezustand aber tun oder gar tun müssen. Dies mag man so sehen oder auch nicht, aber ist nicht jeder pragmatische Versuch, das Töten überhaupt verhindern zu wollen, Ausfluss einer allgemeingültigen Moral? Hat sie nicht eigentlich in der Setzung großer Ziele, die keinesfalls die Alltagspraxis der Menschheit immer bestimmen, ihre wahre Bedeutung? Nein, so ist es nicht, denn die generelle Verhinderung des Tötens ist ein elementares egoistisches Interesse, nicht weil Andere getötet werden, sondern weil ich selbst getötet werden könnte, wenn dies nicht nach Möglichkeit geächtet wird. Ich selbst bin für die Anderen ein Anderer. Also bezieht sich wie im moralischen Gebot mein egoistisches Interesse auf die Anderen, aber nur, weil töten und getötet werden ohne sie gar nicht möglich ist. Mein Egoismus weiß vom Egoismus der Anderen, und deshalb will ich, dass sie mir zumindest mein Leben lassen und dafür pragmatische Vorsorge getroffen wird. Dass es nicht immer funktioniert, hat nichts mit einer Schwäche der Moral zu tun, sondern mit der egoistischen Grundstruktur der Menschen, die zumindest zeitweise nicht rational ist, weil Egoismus ja auch kein rationales Kalkül, sondern eine unvermeidliche Gegebenheit ist. So bleibt als Pendant des realistischen Egoismus zum allgemeinen Verständnis von Moral als oberster menschlicher Handlungsrichtlinie (und zum Kantschen kategorischen Imperativ) nur eine Formel, die eine unbestreitbare Tatsache als oberstes Prinzip egoistischen Handelns klarstellt und zugleich moralisches Verhalten im herkömmlichen, allgemeinen Sinne aus jeweils eigener Entscheidung und im eigenen Interesse aufnötigt. Nur die Notwendigkeit, die Folgen unseres Tuns für uns selbst zu bedenken, weil wir es nicht mehr rückgängig machen können, kann uns zwingen, Gut und Böse zu bedenken. Jeder weiß dies, aber ist sich dessen vermutlich nicht in jedem Moment seines Denkens und Tuns bewusst. Niemand ist sich immer aller Grundlagen seines Selbst bewusst, auch nicht



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seines unvermeidlichen Egoismus. Aber jeder ist permanent gefordert, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Die wenigsten Situationen berühren überhaupt die Moral, die sich ja als Richtschnur für die großen, allgemeinen Fragen begreift und hofft, man möge sie in seine konkrete Situation übersetzen wollen und können. Allein, man hat mit den Dingen des Lebens genug zu tun, wünscht sich und vielen Anderen das Allerbeste und geht seiner Wege. Alles geschieht inmitten von Anderen, mit denen umzugehen man lebenspraktisch gelernt hat, und die immer im Horizont des eigenen Egoismus bleiben. Durch sie und die lernende Lebenspraxis ist man natürlich auch mit Vorstellungen davon versorgt, was man selbst für erstrebenswert halten soll, seien es materielle Güter oder sinnvolle Lebensziele. Das immer interessengeprägte Kaleidoskop solcher Vorstellungen wirkt unvermeidlich auf das Selbst ein, ohne dass von irgendwoher ein Schein der reinen Wahrheit, der Humanität, der Moral leuchtet, mit deren Hilfe man den manipulativen Zusammenhang wirklich durchbrechen könnte. Auch wohlmeinende Handlungen können für Andere erhebliche Schäden bedeuten. Man wird sich nur entscheiden müssen, was man für sich akzeptieren will. Und man weiß immer, dass man sich hier und da anders hätte entscheiden und verhalten sollen, aber von Entscheidung zu Entscheidung wächst das eigene Profil für sich selbst und die Anderen. Man wird zur Summe seiner nicht mehr rückholbaren Entscheidungen und der von Anderen, ohne davon determiniert zu sein, weil man ja auch neue Wege einschlagen kann, was aber immer schwieriger wird, je schwerer die Vergangenheit wiegt. Wie fahrlässig man auch immer mit der eigenen Lebenspraxis umgehen mag, was immer sich gegebenenfalls für Reparaturmöglichkeiten bieten – einmal Geschehenes entfaltet unerbittlich seine Folgewirkungen. Und wir wissen das, auch wenn wir es verdrängen wollen und die Folgewirkungen unserer Handlungen gar nicht oder falsch einschätzen. Es ist die einzige tatsächliche Einschränkung unserer Freiheit, die aus unserer Vergangenheit erwächst, sich in der Gegenwart bewusst vollzieht und in die Zukunft wirkt. Und weil unser Wohlbefinden ganz wesentlich vom Wohlwollen der Anderen abhängt, werden wir ihr

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Wohlbefinden berücksichtigen, soweit es mindestens die gesellschaftlichen Konventionen verlangen, die ansonsten unserer Freiheit nichts weiter in den Weg stellen als Recht und Gesetz. Sei es die Furcht vor den Folgen, sei es das Kalkül der wechselseitigen Abhängigkeit, sei es das Mitleid oder die Empathie, wir haben jederzeit die naheliegende Chance, uns menschlich zu verhalten, weil wir wissen: Nichts, was geschieht, kann rückgängig gemacht werden.

Literaturverzeichnis Zitierweise A. Vorschau Bekenntnisse

Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Ernst Hardt, Leipzig 1966

Streminger

Streminger, Gerhard: David Hume. Der Philosoph und sein Zeitalter, München 2011

Beobachtungen

Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Kant. Werke in zwölf Bänden, Bd. II, S. 821 ff. Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1969

Briefe

Immanuel Kant: Briefe. Hrsg. Jürgen Zehbe, Göttingen 1970

Moralphilosophie Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie. Hrsg. Werner Stark, Berlin 2004 Brandt

Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007

Biografien

Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Hrsg. Felix Gross, Darmstadt 1993

P

Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hrsg. Konstantin Pollock, Hamburg 2001

Geier

Geier, Manfred: Kants Welt. Reinbek 2004

KrV B

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. III, IV, Paginierung 2. Aufl. (B). Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1969.

342 Literaturverzeichnis

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II, III David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch II. Über die Affekte. Buch III. Über Moral. Übersetzt, mit Anmerkungen und Register versehen von Theodor Lipps, Hamburg 1978 s

David Hume: Über Moral. Aus dem Englischen von Theodor Lipps, durchgesehen und überarbeitet von Herlinde Pauer-Studer. Kommentar von Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt am Main 2007

U

David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Aus dem Englischen von Raoul Richter. Durchgesehen und überarbeitet von Lambert Wiesing. Kommentar von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main 2007

David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Manfred Kühn, Hamburg 2003 Steiner, Georg: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein, Frankfurt am Main 2006

C. Rousseau (Seitenzahl) Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Edition Meier, Paderborn, 6. Auflage 2008 (E)

Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Vollständige Ausgabe. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn 1971

(T)

Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Übersetzt von Ulrich Bossier. Nachwort von Jürgen von Stackelberg, Stuttgart 2003

Literaturverzeichnis343 (I)

Jean-Jacques Rousseau: 1. Diskurs über Kunst und Wissenschaft, in: Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand. 5. Auflage, Hamburg 1995

(B)

Bekenntnisse, s. o. Vorschau

(UdS)

Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, in: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften. Mit einem Essay von Peter Gülke, Leipzig 1989

(G Buch, Kapitel)

Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts. In der verbesserten Übersetzung von H. Denhardt. Mit einem Nachwort herausgegeben von Heinrich Weinstock, Stuttgart 1974

Zitiert wird außerdem: Biografien: s. o. Vorschau G.  W. F. Hegel: „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“, 1802, in G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Band 2, S. 461 Arthur Schopenhauer: „Preisschrift über die Grundlagen der Moral“, in: Werke in fünf Bänden, Herausgegeben von Ludger Lütkenhaus, Frankfurt am Main 2006, Band 3, S. 488 Brandt, Reinhard: s. o. Vorschau

D. Kant Alle Schriften Kants werden – soweit nicht unten gesondert aufgeführt – nach „Werke in zwölf Bänden.“ Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, zitiert. Dabei werden jeweils die Seitenzahlen der Originalausgaben angegeben, für die ersten Auflagen als A, für die zweiten als B, um die Vergleichbarkeit zu anderen Ausgaben zu erleichtern. Außer den drei Kritiken wurden folgende Schriften herangezogen: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746), Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) (1785), Was heißt: Sich im Denken

344 Literaturverzeichnis orientieren? (1786), Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Die Metaphysik der Sitten (MdS) (1797), Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797), Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Logik (1800). Des weiteren (Vorlesung zur) „Moralphilosophie“, „Briefe“ und „P“, s. o. Vorschau.

E. Anthropologische Perspektiven Damasio, Antonio:. Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2010 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und Seine Stellung in der Welt (1. Aufl. 1940), textkritische Edition, Frankfurt am Main 1993 Gray, John: Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus, Stuttgart 2010 Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen, diverse Ausgaben seit 1788 Lenk, Hans: Das flexible Vielfachwesen. Einführung in die moderne anthropologische Forschung zwischen Bio-, Techno- und Kulturwissenschaften, Weilerswist 2010 Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1. Aufl. 1945); Gesammelte Werke, Bd. 5, Tübingen 2002 Rifkin, Jeremy: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt / New York 2010 Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt am Main 2006

Sachwortverzeichnis (Nichtaufgeführt sind fortlaufende Begriffe wie Aufklärung, Natur des Menschen, Menschenbild, Bewusstsein, Geist, Vernunft, Erkenntnis, Gesellschaft) Adel  11, 88, 110, 119 Affekt(-theorie)  27, 29, 62, 64, 70, 73, 84, 87, 97, 106, 110, 114, 129, 201 f., 309 Allgemeinwohl  113, 119, 313 f., 315, 322 Arbeitsteilung  105 Autonomie  12 f. Bedürfnis  105 Bösartigkeit  207 f., 211 Charakter  65, 80, 97, 124 ff., 210–215, 317 Copy-These  34 Corpus mystikum  264, 267, 275 Demokratie  119, 323, 335 Determinismus  35, 77, 79 ff., 82, 247, 278, 324 f. Ding an sich  52, 231, 237 f., 240, 244, 255, 275 Dreißigjähriger Krieg  335 Egoismus  101, 108, 111, 113, 117, 120, 146, 167, 220 f., 286, 314, 316 f., 322 f., 326 Ehre / Ehrsucht  144, 205 ff., 301, 317, 332

Eigenliebe  108, 144, 167, 170, 224, 287, 316 Eigentum  14, 71, 86, 102 f., 108 f, 112 f., 115, 162, 164, 167, 171, 306, 314 Einbildungskraft / Vorstellungskraft  22, 33, 37 f., 39 f., 42 f., 46, 53 f., 55, 57, 61, 67, 77, 117, 127, 170, 224, 238, 242, 297, 309 Eindruck  29, 31 f., 33–35, 37, 40 f., 65–67, 69, 112, 197 f., 309, 315 Eitelkeit  65, 69, 74, 195, 215, 316 f. Empathie  87 f., 113, 264, 304, 315 Evolution  12, 45, 302, 304, 308, 310 Faulheit  152, 205, 207, 216, 317 Finanzkrise  14 Französische Revolution  11, 15, 101, 121, 284, 325 Freiheit  12, 63, 79, 150, 177 f., 182, 203 f., 215, 217, 230, 233, 238, 247, 257, 259, 262, 273, 278 f., 294, 339 Freudsche Psychoanalyse  41, 304

346 Sachwortverzeichnis Gefühl  27, 33, 48, 61, 66 f., 86, 91 f., 97, 106, 127 f., 236, 260, 288, 309, 312 Gehirn  31, 34, 49, 218, 253 Geld  11, 172, 205, 207 Gesellschaftsvertrag  117, 181 f. Gesetz  180, 185, 217, 260, 262 f., 266, 275 f., 280, 284 f., 289, 294, 295, 320 Gewaltenteilung  119 Gewissen  93, 101 Gewohnheit  39, 43, 47, 77, 115 Glaube  46 f., 54 Glorious Revolution  11, 121 Glückseligkeit  137, 208, 230, 260, 262, 265, 275 f., 286 Gott  10, 42, 25, 27, 42, 52, 82, 101, 178, 191–194, 202, 219, 230, 233, 241, 247, 259, 262, 266–269, 273, 284, 286, 288– 290, 297 f. Gut und Böse  10, 63, 90, 94, 97 f, 106, 123, 161, 189, 200, 217, 273, 287 f., 290, 292, 313, 338 Habsucht(-gier)  14, 111, 142, 205 ff., 277, 301, 317, 332 Herrschsucht  205 ff., 301, 317, 332 Hirnforschung  48 f., 77, 88, 150, 253, 311 Holocaust  335 Identität  48 f., 50 f. Imperativ (kategorischer)  146, 260, 265, 275, 282, 284, 287, 313, 338 Instinkt  34, 43, 55, 67 f., 91, 150 f., 161, 166, 198, 204, 212, 222, 225, 290, 311, 316

Kapitalismus  11 Kausalität  42, 50, 52, 62, 77 f., 81, 248, 250, 252, 254, 264 f., 270, 272, 274, 277, 310 Kooperation  159 f., 164, 168, 316 Kopernikanische Wende  64, 237, 320, 330 f. Krieg(-szustand)  120, 122, 160, 172, 195, 203 f., 208, 217, 298, 301, 305, 318, 336 f. Leidenschaft  27, 29, 152 f., 159, 198, 201 f., 204, 206 f., 312, 317 Liebe  63 f., 69, 86 ff., 106, 154, 159, 166, 201, 203, 207, 305, 318 Lust / Unlust  33, 49, 66 f., 70, 73, 83 f., 92 f., 97, 107, 116 f., 125 f., 130, 236, 260, 272, 291, 293, 312 Macht / Machtgier  65, 72, 75 f., 80, 86, 304, 333 Maxime  146, 161, 174, 177, 227, 248, 261, 266, 276 f., 280 ff., 286, 290 Menschenrechtserklärung  15 Metaphysik  21 f., 38, 142, 180, 233, 235, 256, 284 f., 302, 307 Mitleid(-gefühl)  28, 87 f., 91, 127–129, 143 f., 145 f., 167, 176, 264, 316, 340 Moral  14, 82, 90–98, 100, 116, 123, 130, 189, 193, 227, 236, 238, 249, 252, 260, 262 f., 265, 269–273, 275, 278 f., 289 f., 292, 297, 313 ff., 320, 336 ff. Mord  96, 283, 337

Sachwortverzeichnis347 Nächstenliebe  102, 316 Natur  55, 64, 137, 139, 147 f., 239 f., 258, 260, 268, 290, 299, 320 Naturgesetz(-recht)  104, 142 f., 174 Naturzustand  101, 105, 109, 111, 138 f., 142, 143, 161, 176, 188, 200, 257 Perfektibilität  143 f., 151, 162, 214, 216, 313, 316 f. Perzeption  29, 31 f., 34, 37, 40, 42, 49, 55, 64, 66, 69, 82, 309 Pflicht  100 f., 104, 108, 120, 122, 154, 215, 271 f., 278, 284, 287, 289 Recht(ssinn, -ordnung)  99, 101 f., 104, 109, 111 f., 116, 118, 121, 137, 206, 306, 314, 316, 334 Regierung  78, 117–120, 179, 213 f. Religion  82, 179, 227, 249, 264, 289 Republik  50, 217, 281 Seele  34, 37, 43, 49 f., 66, 72, 91, 150, 197, 199, 239, 247, 259, 288, 302, 311 Selbstbewusstsein(-verständnis)  74, 108, 163, 219 ff., 239, 312, 331 Selbsterhaltung   143 f., 149, 316 f. Selbstliebe(-sucht)  107.f, 109, 120, 122, 129, 144, 276, 287, 301 f., 316 Selbstwahrnehmung(-erkenntnis)  32 ff., 49, 66, 68, 315, 326, 327 f.

Sinne, Sinneswahrnehmung  30 ff., 33, 49, 56, 61, 66, 68, 197, 222–225 Skeptizismus  23, 51, 57, 60 Spiegel  87 f. Stolz  26, 63–66., 69, 71, 89, 107, 113, 142 Sympathie  68, 87–90, 102 f., 127 f., 130, 316 Synthetische Erkenntnis (Urteile)  42, 234 f. Teleologie  194, 246, 266, 291, 296 Unsterblichkeit  233, 259, 273, 288, 290, 311 Urknall  194–196 Ursache – Wirkung  21, 40, 57, 234, 254 Urteilskraft  225 f., 228, 241, 291 f. Vegetarier  148 Vertragstheorien  111, 179 Völkerrecht  122, 176 Vorstellung  29, 31, 33 f, 36, 37, 41, 66, 309 Wahrheit  28, 43, 62, 64, 92, 139 ff., 225, 243, 247, 255 f., 259, 305, 339 Wahrscheinlichkeit  28, 44 f., 46 f., 48, 311 Wille, Willensfreiheit  27, 64, 77, 80 f., 83, 92, 124, 151, 181 ff, 211, 251, 259 f., 275 ff, 282, 285, 289, 299, 312 Zivilisation  101, 306, 319 Zweck  294 ff., 297 ff.