Fortschritte und Rückschritte in der Philosophie: Von Hume und Kant bis Hegel und Fries [2 ed.] 9783787338467, 9783787338375

In diesen Vorlesungen behandelt Nelson den Abschnitt in der Geschichte der Philosophie, in dem, angeregt durch die Entwi

165 36 11MB

German Pages 780 [778] Year 1977

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Fortschritte und Rückschritte in der Philosophie: Von Hume und Kant bis Hegel und Fries [2 ed.]
 9783787338467, 9783787338375

Citation preview

L E ONA R D N E L S ON

GE SA M M E LT E S C H R I F T E N

Fortschritte und Rückschritte in der Philosophie Meiner

L E ONA R D N E L S ON

Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser

siebenter Band

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

L E ONA R D N E L S ON

Fortschritte und Rückschritte in der Philosophie Von Hume und Kant bis Hegel und Fries Aus dem Nachlaß herausgegeben von Julius Kraft

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3837-5 ISBN eBook 978-3-7873-3846-7 2., durchgesehene Auflage · Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1977. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren. Goethe

Vorwort Mit der Gelassenheit seiner Altersweisheit bemerkt Bertrand Russell: » The power of fashion is great, and even the most cogent arguments fail to convince if they are not in line with the trend of current opinion.« (Die Macht der Mode ist groß, und selbst die zwingendsten Argumente überzeugen nicht, wenn sie von der herrschenden Meinung abweichen.) Leonard Nelsons (1882-1927) Argumente befanden sich nie und befinden sich nicht »in line with the trend of current opinion«, die denn auch selbst seiner überlegenen Geisteskraft und einzigartigen Klarheit bis heute die verdiente öffentliche Anerkennung vorenthalten hat. Mag aber auch Nelsons Name nicht zu den vielgerühmten gehören, sein philosophisches Werk spricht für sich selbst: Es liegt vor in Gestalt seiner zwingenden Kritik der Erkenntnistheorie aller Spielarten, der positivistischen Rechtsphilosophie und der modernen Geschichtsprophetie, in Gestalt seiner tiefen und umfassenden Rekonstruktion der Ethik und in erhellenden Beiträgen zu allen übrigen philosophischen Disziplinen 1 • Als Wiederentdecker von J. F. Fries' grundlegender Fortbildung der kritischen Philosophie erneuerte Nelson außerdem die völlig vergessene Friessche Tradition 2, die Geschichte der Philosophie ihren Fortschritten und Rückschritten gemäß darzustellen. 1

2

Ein Verzeichnis von Nelsons Schriften ist enthalten in: Abhandlungen der Friessehen Schule, N. F., 5. Bd., 1. Heft, S. 81-94, Göttingen 1929, Verlag öffentliches Leben. Eine allgemeine Orientierung über sein Gesamtwerk bietet meine »Einleitung« zu: L. Nelson: Socratic Method and Critical Philosophy, Yale University Press, 1949 (wieder abgedruckt in: L. Nelson: System of Ethics, Yale University Press, 1956, pp. 263-275), sowie mein »Nachwort« zu dem vorliegenden Werk. J. F. Fries: Die Geschichte der Philosophie, dargestellt nach den Fortschritten ihrer wissenschaftlichen Entwicklung, Halle 1837 und 1840.

Wie seine »Kritik der praktischen Vernunft« (1916), so ist auch dies hiermit posthum vorgelegte, historisch-kritische Werk Nelsons 3 ein großer Wurf. Es mag daher gleich jener mit Kepler sich darein ergeben, seinen Leser, wenn nicht anders, dann nach hundert Jahren zu erwarten4 • Frankfurt a. M., 1960

3

4

Julius Kraft

Es wurde von Nelson in mehrfach wiederholten Vorlesungen (1919-1926) an der Universität Göttingen mehr und mehr ausgebaut. Diese Vorlesungen erstreckten sich jeweils über drei Semester und bezogen sich auf: 1. Fortschritte der Metaphysik, insbesondere bei Hume und Kant. 2. Rückschritte der Metaphysik seit Kant. 3. Fortschritte der Metaphysik seit Kant. Nelson: Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1917, S. XIII.

Vorbetrachtungen

1. KAPITEL

Prinzipien der Gesamtdarstellung Die Art, wie ich hier die Geschichte der Philosophie behandeln werde, weicht sehr ab von der allgemein üblichen, und eben deshalb muß ich dafür einige Erläuterungen voranschicken. Es herrscht über das Wesen und die Aufgabe der Geschichte der Philosophie noch eine große Verwirrung. Und das ist kein Wunder bei dem Zustand der Verwirrung, in dem sich die Philosophie selber noch befindet. Wir müssen uns zuerst einmal fragen: Was ist überhaupt Geschichte? Und dann: Was ist Geschichte der Philosophie? Das Wort »Geschichte« ist zweideutig. Es kann sich beziehen einmal auf das Geschehen selber und dann auf die Darstellung dieses Geschehens. Sprechen wir zuerst von der ersten Bedeutung des Wortes. Geschichte in diesem Sinne bildet den Gegenstand dessen, was man Geschichte im anderen Sinne nennt, genauer: der Geschichtsdarstellung. Nun ist aber offenbar nicht jedes Geschehen schon Geschichte, und wir müssen uns fragen: Was ist das Auszeichnende, das ein Geschehen zu Geschichte macht, ihm den Charakter der Geschichte verleiht? Und darauf antworte ich: Damit wir von Geschichte sprechen können, dazu ist nötig ein identischer Gegenstand, der nacheinander verschiedene Zustände annimmt, wobei sich diese Zustände in der Art einer Entwicklung folgen: in der Art einer Entwicklung, das heißt, wir müssen ein Ziel angeben können, dem sich die verschiedenen Zustände des frag• liehen Gegenstandes allmählich annähern. Also ist zweierlei nötig, wenn von Geschichte die Rede sein soll: ein identischer Gegenstand, der sich entwickelt, und ein Ziel, auf das hin er sich entwickelt. Von beiden müssen wir einen klaren Begriff mitbringen, wenn wir uns an das Studium der Geschichte machen wollen. Erst also müssen wir diesen klaren

12

Vorbetrachtungen

Begriff haben, sowohl von dem Gegenstand, dessen Geschichte wir studieren wollen, wie von dem Ziel seiner Entwicklung, ehe wir an das Studium der Geschichte herantreten, wenn wir dabei als denkende Menschen verfahren wollen. Für uns ergibt sich demgemäß die Frage: Zunächst, welches ist der Gegenstand, um den es sich in der Geschichte der Philosophie handelt, und dann, welches ist das Ziel, mit Rücksicht auf das allein wir von einer Geschichte dieses Gegenstandes sprechen können? Den identischen Gegenstand, um den es sich bei der Geschichte der Philosophie handelt, bilden die Probleme der Philosophie, und das Ziel der Entwicklung, die wir Geschichte der Philosophie nennen, ist die Lösung dieser Probleme. Die Geschichte der Philosophie selber besteht in der Aufeinanderfolge der nach und nach besser gelingenden Lösungen jener Probleme. Nun kann man ein Problem nur dann lösen, wenigstens nur dann in planmäßiger Arbeit seiner Lösung näher kommen, wenn das Problem selbst hinreichend bestimmt ist. Die Vorbedingung für die Lösung ist daher das hinreichend bestimmte und klare Hervortreten des Problems selber. Demgemäß können und müssen wir die eigentliche Geschichte der Philosophie wohl trennen von ihrer bloßen Vorgeschichte. Die eigentliche Geschichte der Philosophie, wie ich sie verstehe, beginnt erst da, wo das Problem dieser Wissenschaft hinreichend bestimmt und klar hervortritt, hinreichend nämlich, um eine planmäßige Arbeit an seiner Lösung zu gestatten. Denn ehe die Klärung des Problems nicht abgeschlossen ist, handelt es sich bei den Lösungsversuchen, soweit man von solchen sprechen kann, mehr um ein Tasten in der Dämmerung als um ein planmäßiges Suchen. Ich beschäftige mich nur mit der eigentlichen Geschichte der Philosophie und nicht mit ihrer bloßen Vorgeschichte. Wir müssen also den Gegenstand, dessen Geschichte wir studieren wollen, genauer bestimmen. Wir müssen uns nämlich fragen: Was gibt einem Problem seinen philosophischen Charakter? Wir müssen uns darüber verständigen, worin wir das eigentliche Problem der Philosophie zu suchen haben, mit anderen Worten darüber, welche Aufgabe wir der Philosophie eigentlich stellen. Bei der Beantwortung dieser Frage können wir von zwei Gesichtspunkten ausgehen, die beide ihre Berechtigung haben, nämlich einmal

Prinzipien der Gesamtdarstellung

13

von einem allgemein kulturgeschichtlichen und dann von einem speziell wissenschaftlichen. Was zunächst das erste betriffi, so können wir sagen, daß der Philosophie ihre Aufgaben erwachsen durch den Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur, von der sie selber ein Glied ist. Es erwachsen ihr ihre Aufgaben aus ihrem Verhältnis zum Leben selber, zum Leben überhaupt und zu den einzelnen Lebensgebieten, im besonderen aus ihrem Verhältnis zur Religion, zur Kunst, zur Moral, zur Erziehung, zum Staat. Die höchsten Zwecke der Philosophie liegen, von dies'em allgemeinen Gesichtspunkt aus gesehen, stets in der praktischen Philosophie, das heißt in dem, was die Philosophie dem Leben selber bedeuten soll, also in der Ethik im allgemeinsten Sinne dieses Wortes. Die Philosophie soll uns die Regeln geben, die wir brauchen, um die Tatsachen des Lebens deuten und meistern zu können. Wir brauchen solche Regeln, um den Tatsachen des Lebens nicht blind und wehrlos gegenüberzustehen; wir brauchen sie, um über diese Tatsachen vernünftig urteilen zu können und, mehr noch, um handelnd auf sie einwirken, sie nach vernünftigen Zwecken umgestalten zu können. Denn um irgendwelche Eingriffe in die Tatsachen vernünftigerweise vorzunehmen, dazu müssen wir Klarheit haben über Ziel und Zweck unseres Lebens überhaupt. Wo diese Klarheit fehlt, da sind alle solche Eingriffe blind und willkürlich und können bestenfalls nur zufällig einen guten Ausgang haben. Die Philosophie soll uns also über die letzten Ziele und Zwecke unseres Lebens verständigen. Wir können diese Ziele und Zwecke nicht etwa aus der Erforschung der Tatsachen selber entnehmen, sondern wir brauchen dazu einen Standpunkt über den Tatsachen und unabhängig von allen Tatsachen. Ein solcher Standpunkt allein kann philosophisch heißen. Hier sind nun für die, die auf einem philosophischen Standpunkt zu stehen glauben, mannigfache Selbsttäuschungen möglich. Denn mancher glaubt, einen solchen Standpunkt einzunehmen, einen solchen Standpunkt über den Tatsachen, der doch im Grunde, ohne es selber zu wissen, nur ein Sklave der Tatsachen ist, der sich die Regeln, nach denen er urteilt und handelt, doch insgeheim von den Tatsachen diktieren läßt. Solche Tatsachen, die uns die Regeln unseres Urteilens und Handelns aufzuzwingen die Tendenz haben, die wir uns als philosophische Menschen nicht aufzwingen lassen sollen, solche Tatsachen sind die, die wir

14

Vorbetrachtungen

zusammenfassend bezeichnen mit dem Namen der Tradition oder der Konvention und jeder Art von Autorität. Von allen diesen Einflüssen muß sich der vollständig frei machen, der einen wahrhaft philosophischen Standpunkt gewinnen will. Wir können mit Sokrates sagen: Die Philosophie soll uns die ungeschriebenen Gesetze lehren, wie sie uns die menschliche Vernunft selbst frei von allen außer ihr bestehenden Mächten vorzeichnet. Wir können auch mit Leibniz sagen: Die Philosophie soll uns die notwendigen Wahrheiten lehren, im Gegensatz nämlich zu allen nur zufälligen Tatsachenwahrheiten. Da aber nun die philosophischen Wahrheiten keine Tatsachenwahrheiten sind, sondern unabhängig von aller Erkenntnis der Tatsachen feststehen müssen, eben darum sind sie Wahrheiten, über die wir allein durch Denken klar werden können. Damit kommen wir schon hinüber zu der Betrachtung der Aufgabe der Philosophie, wie sie sich uns darstellt vom eigentlich wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus. Philosophie kann nach dem eben Gesagten nur eine Wissenschaft des reinen Denkens sein, und das genügt wirklich bereits, um sie hinreichend von allen anderen Wissenschaften zu unterscheiden. Wir können das Eigentümliche der Philosophie, was sie hiernach auszeichnet gegenüber allen anderen Wissenschaften, auch negativ ausdrücken, indem wir sagen: Die Philosophie schöpft nicht aus der Anschauung. Sie ist frei von aller anschaulichen Erkenntnis. Alle Tatsachenerkenntnis beruht in der Tat auf Anschauung, und keine kann durch reines Denken gewonnen werden. Philosophische Erkenntnis dagegen ist eine solche durch reines Denken. Was ich sagte von der Aufgabe der Philosophie in allgemein kulturgeschichtlicher Hinsicht, das können wir auch so ausdrücken: Ihre Aufgabe liegt in dem Aufbau einer allgemeinen Welt- und Lebensansicht; denn so nennen wir den Inbegriff der Regeln zur Deutung der Tatsachen. Demgegenüber können wir nun sagen, daß die Aufgabe der Philosophie, wissenschaftlich betrachtet, in der Begründung dieser allgemeinen Weltund Lebensansicht liegt. Nur dadurch, daß die Philosophie die Weltund Lebensansicht, die sie entwickelt, begründet, wird sie zur Wissenschaft. Diese Begründung geschieht zunächst dadurch, daß die Mannigfaltigkeit der einzelnen philosophischen Urteile zurückgeführt wird auf bestimmte Grundurteile. Aber diese Zurückführung dient doch zuletzt

Prinzipien der Gesamtdarstellung

15

nur dazu, das eigentliche wissenschaftliche Problem der Philosophie zu konzentrieren auf die Frage nach der Bedeutung und die nach der Wahrheit dieser Grundurteile selber. Es gehört also zur Philosophie als Wissenschaft auch und vor allem eine Antwort auf die Frage nach dem Erkenntniswert dieser Grundurteile, auf denen sie ihre allgemeine Weltund Lebensansicht errichtet. Wir brauchen eine Antwort auf diese Frage, wenn die Philosophie ihr System nicht auf willkürlich auf geraffi:en Grundsätzen errichten soll, und das verbietet sich für die Philosophie als Wissenschaft. So muß sie sich denn wohl oder übel der Aufgabe unterziehen, auch die Grundurteile ihres Systems noch zu. begründen. Eine Philosophie, die das nicht leistet, nennen wir dogmatisch. Sie ruht auf willkürlichen Voraussetzungen, ihr System mag im übrigen mit noch so vollkommener Konsequenz aufgebaut sein; denn auch auf den absurdesten Voraussetzungen läßt sich mit Konsequenz weiterbauen. Die Voraussetzungen, auf denen die Philosophie als Wissenschaft baut, sollen Wahrheit sein. Und sie sollen ihren ~'ahrheitscharakter rechtfertigen können, wenn Philosophie Wissenschaft sein soll. Deshalb stellen wir aller dogmatischen Philosophie, die auf willkürlich angenommenen Voraussetzungen ruht, die kritische Philosophie gegenüber, die es unternimmt, auch die Prinzipien, auf denen sie ihr System errichtet, noch zu begründen. Ob diese Aufgabe lösbar ist, ob und wie also Philosophie in diesem strengen Sinne als Wissenschaft möglich ist, das ist selbst eins der größten Rätsel, das sich durch die Geschichte der Philosophie hindurchzieht. Im Gegensatz zu der Welt- und Lebensansicht, die das Ergebnis der Philosophie sein soll, können wir den Inbegriff der Mittel zur Begründung dieses Ergebnisses zusammenfassen unter dem Namen der Dialektik. Die Dialektik ist dann, vom Standpunkt der Weltansicht aus betrachtet, ein bloßes Mittel zum Zweck; vom Standpunkt der Wissenschaft aus betrachtet, ist aber gerade die Dialektik das Wesentliche. Ob und wie eine wissenschaftlich begründete Weltansicht möglich ist, das ist eine Frage, die ihrerseits ganz auf dialektischem Gebiet liegt. Nur wenn wir diese Frage bejahen können, dann hat die Geschichte der Philosophie für uns ein höheres, ein wissenschaftliches Interesse. Die wissenschaftliche Begründung der Weltansicht ist das Ziel, im Hinblick auf das wir von einer Geschichte der Philosophie sprechen und im Hinblick

16

Vorbetrachtungen

auf das wir die Geschichte der Philosophie studieren. Diese Geschichte selbst kann nur bestehen in einer Folge von allmählich besser gelingenden Annäherungen an dies Ziel. Und das eigentlich geschichtliche Interesse gilt daher gerade diesen mehr oder weniger unvollkommenen Versuchen, und nicht dem Ziel selbst, der Philosophie als vollendeter Wissenschaft. Demgemäß müssen wir beim Studium der Geschichte der Philosophie unser Interesse den mannigfachen Umwegen zuwenden, auf denen man sich dem Ziel der Philosophie als Wissenschaft angenähert hat. Diese Umwege sind in der Tat für uns bedeutsam. Denn es würde wenig nützen, wenn ich das Ziel im vollendeten System unmittelbar entwickelte, sondern es kommt darauf an, sich mit dem Weg vertraut zu machen, der über Schwierigkeiten und Umwege zum Ziel führt. Von solchen Umwegen kann man in zweifacher Hinsicht sprechen. Man denkt gewöhnlich, wenn man von Umwegen spricht, die der Forscher zu gehen hat, nur an Irrtümer, die durchlaufen werden müssen, um zur Wahrheit zu gelangen. Es gibt aber noch einen anderen Umweg, der durchlaufen werden muß, wenn man zur Philosophie als Wissenschaft gelangen will: Das ist der Umweg über noch unbegründete Wahrheiten. Von ihm hat man im allgemeinen eine sehr unzureichende Vorstellung und deshalb auch eine sehr unzureichende Vorstellung vom Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts. Was ich darüber sage, gilt übrigens nicht allein für die Philosophie. Man stellt sich im allgemeinen den Fortschritt der Wissenschaft so vor, daß neue Ergebnisse auf dem Wege ihrer wissenschaftlichen Ableitung gefunden werden und daß es, um zur Wahrheit zu gelangen, darauf ankommt, diese wissenschaftliche Begründung zu vervollkommnen. Das ist ein ganz und gar verkehrtes Bild von dem Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts. Wer die Geschichte der Wissenschaft kennt, der weiß, daß nur die allerunbedeutendsten Entdeckungen, nur solche, die eigentlich nicht mehr diesen Namen verdienen, auf diese Weise gemacht worden sind. Es gibt keine wirklich bedeutende Entdeckung, die auf dem Wege ihrer wissenschaftlichen Ableitung gemacht worden wäre. Es verhält sich gerade umgekehrt: Erst wird die Wahrheit entdeckt, und dann kommt, wenn es gut geht, ihre wissenschaftliche Ableitung. Und der Fall, daß die Begründung in wissenschaftlich strenger Form gelingt, ist jedenfalls immer das Ende und nie der Anfang der Entwicklung der Wissenschaft.

Prinzipien der Gesamtdarstellung

17

\'Vollte man also in einem Zustand der Wissenschaft, der überhaupt noch zu ihrer Geschichte gehört und somit vor der vollendeten Entwicklung ihres Systems liegt, den Wahrheitswert eines Satzes nach der Vollkommenheit seiner Begründung beurteilen, so würde man dazu gedrängt, alle großen Entdeckungen aus der Wissenschaft zu streichen. Das erscheint befremdlich. Aber wenn man wirklich folgerichtig nach dieser Maxime verfährt, so dürfte sich schwerlich auch nur etwas so Einfaches wie das Einmaleins festhalten lassen. Ein für den ganzen Verlauf der Geschichte der Wissenschaft nicht nur, sondern des menschlichen Geistes überhaupt besonders bedeutsames Beispiel, das hierher gehört, ist der Weg, durch den Kepler zu der Entdeckung der nach ihm genannten Gesetze gelangt ist, der Entdeckung, die den Weg zu den größten Fortschritten der Astronomie gebahnt hat. Der französische Mathematiker Poincare hat darauf aufmerksam gemacht, daß diese Keplersche Entdeckung überhaupt nur dadurch möglich geworden ist, daß Kepler bei seiner Erforschung der Planetenbahnen von unrichtigen Beobachtungen ausging. Ohne die ungenauen Beobachtungen, auf die Kepler angewiesen war, wäre man nie zu diesen Ergebnissen gelangt. Die Keplerschen Gesetze gelten nämlich nur mit einer gewissen Annäherung, die ihre Form außerordentlich vereinfacht. Und der Weg zu dieser vereinfachten Form war es gerade, der sich durch die Ungenauigkeit der Beobachtungen eröffnete, von denen Kepler ausging. Hätte er die genauen Beobachtungen vor sich gehabt, wie wir sie mit Hilfe der modernen Methoden machen können, so wäre dadurch nicht nur ihm der Weg zu seiner Entdeckung, sondern auch seinen Nachfolgern der Weg versperrt worden; insbesondere die Newtonsche Entdeckung des allgemeinen Gravitationsgesetzes wäre dadurch unmöglich geworden. Denn dieser Weg führte und konnte psychologisch nur führen über die Keplerschen Gesetze, die ihrerseits nur unter einer gewissen Einschränkung gültig sind. übrigens hat schon früher, vor mehr als einem halben Jahrhundert Apelt in seinem schönen und allgemein lesenswerten Buch über »Die Reformation der Sternkunde« gezeigt, wie Kepler, von den Beobachtungen abgesehen, nur durch das eigentümliche Zusammentreffen von zwei Fehlern, die voneinander unabhängig sind, von denen aber der eine in seinen Folgen die des anderen gerade ausgleicht, zu seiner Entdeckung gelangt ist.

18

Vorbetrachtungen

Was hiernach schon für die anderen Wissenschaften gilt, das gilt in sehr erhöhtem Maße für die Philosophie. Die Geschichte der Philosophie ist in der Tat reich an Beispielen dafür, wie der Fortschritt der Wissenschaft dadurch aufgehalten worden ist, daß die Nachfolger eines bedeutenden Philosophen darum seine Resultate preisgaben, weil sie in der Begründung, die er ihnen gegeben hatte, Mängel und Lücken erkannten, die auszufüllen sie selbst außerstande waren. Der Fortschritt der Wissenschaft kommt gerade hier dadurch zustande, daß man, statt die Entdeckungen preiszugeben, sich die Aufgabe stellt, an der Vervollkommnung ihrer Begründung zu arbeiten. Ein klassisches Beispiel dafür bildet das Schicksal der Platonischen Ideenlehre und aller der großen Entdeckungen Platons, die mit seiner Ideenlehre zusammenhängen, Entdeckungen, die noch heute gelten, aber selbst heute zum größten Teil noch nicht anerkannt sind, noch heute verworfen werden, weil man ihre Begründung nicht kennt. Platons Schüler Aristoteles hat zuerst, bewogen durch die offensichtliche Unvollkommenheit der Platonischen Dialektik, diese Entdeckungen seines Lehrers fallen gelassen. Und die weiteren Nachfolger sind durch die Jahrtausende hindurch dem Weg des Aristoteles gefolgt. Erst bei Kant finden wir wieder Ansätze dazu, sich der großen Platonischen Entdeckungen anzunehmen, um ihnen den Eingang in die Wissenschaft zu verschaffen. Und merkwürdig, hier wiederholt sich dann das gleiche Schauspiel. Wir beobachten, daß die großen Entdeckungen, die Kant in Anlehnung an Platons Ideenlehre gemacht hat, wieder auf gegeben worden sind darum, weil seine Nachfolger die Mängel der dialektischen Begründung erkannten, die Kant hinterlassen hat. Noch eins kommt hinzu, was das Verhältnis von Weltansicht und Dialektik betriff!: und was wir im voraus beachten müssen, um falsche und schiefe Urteile zu vermeiden. Was den einzelnen Philosophen und seine Stellung in der Geschichte der Philosophie auszeichnet, was ihm charakteristisch ist, das liegt auf dem Gebiete der Dialektik und nicht der Weltansicht. Die Wahrheiten, die zusammen die philosophische Weltansicht bilden, diese Wahrheiten bedürfen nicht eigentlich der Entdeckung; sie sind im Grunde ein Gemeingut für alle bedeutenden Denker, für alle diejenigen, qie in ihren Überzeugungen sicher genug sind, um die Forderung zu erfüllen, die ich vorhin ausgesprochen habe, näm~

Prinzipien der Gesamtdarstellung

19

lieh, ihre auf die Weltansicht bezüglichen Oberzeugungen nicht abhängig zu machen von dem Stande der dialektischen Hilfsmitte1, über die sie verfügen, um sie zu begründen. Kein wirklich bedeutender Philosoph gelangt zu seiner Weltansicht auf dem Wege der Dialektik, sondern seine Weltansicht steht ihm fest unabhängig von aller Dialektik. Nachträglich erfindet er sich dann dialektische Methoden, um die ihm ohnehin feststehende Weltansicht zu begründen. Das heißt nicht etwa, daß er seiner Wissenschaft willkürlich ein Ziel vorschreibt, nach dem sich ihr Gang wohl oder übel zu richten hat, sondern das heißt nur, daß er sich durch seine mehr oder weniger unvollkommene Dialektik nicht beirren läßt in seinen philosophischen Überzeugungen, in seinem Wahrheitsgefühl. Was dieses Wahrheitsgefühl, psychologisch betrachtet, eigentlich ist, das ist eine schwierige Frage, aber eine Frage, auf deren nähere Untersuchung wir an dieser Stelle nicht einzugehen brauchen, um uns die Tatsache vor Augen zu führen, daß es ein solches Wahrheitsgefühl jedenfalls gibt, das heißt ein bestimmtes, vor aller dialektischen Begründung sicheres Urteil über die Wahrheit. In bezug auf die Kraft und Sicherheit dieses Wahrheitsgefühls unterscheiden sich die Menschen. Nur der kann ein bedeutender Philosoph sein, in dem dieses Wahrheitsgefühl stark und sicher ist und der sich infolgedessen durch dialektische Konsequenzen seines Systems nicht von seinem Wahrheitsgefühl abdrängen läßt. Das heißt nicht, daß er sich mit einem bloßen Gefühl für die Wahrheit begnügt. Die Wissenschaft beginnt erst da, wo an der Begründung der Wahrheit gearbeitet wird, wenn wir auch dieser Wahrheit vermöge jenes Gefühls im voraus sicher sind, und nur darum, weil wir es sind, überhaupt dazu kommen, uns die Aufgabe ihrer dialektischen Begründung zu stellen. Aber, und nur darauf kommt es mir an dieser Stelle an, wer über ein ausgeprägtes Wahrheitsgefühl auf philosophischem Gebiete verfügt, der wird der Gefahr gewachsen sein, sich allein von der Konsequenz seines Systems leiten zu lassen bei dem Aufbau seiner Weltansicht. Er wird nicht ruhen, bis er die Weltansicht, deren er vermöge seines Wahrheitsgefühls sicher ist, dialektisch fest begründet hat. Die Schüler eines großen Philosophen begehen dagegen leicht den Fehler, daß sie, in Ermangelung eines festen und sicheren Wahrheitsgefühles, allein auf die Konsequenz des Systems bauen. Indem sie die Widersprüche, die im System ihm, Lehrers stehengeblie-

20

Vorbetrachtungen

ben sind, entdecken und sie zu beseitigen trachten, kommen sie dann leicht zu einer Weltansicht, die derjenigen ihres Lehrers gerade entge·gengesetzt ist, wie uns dies das vorhin angeführte Beispiel von Platon und Aristoteles zeigt. Der eigentliche Gehalt der Weltansicht ist also nicht das Wesentliche, auf das wir bei einem Philosophen zu achten haben. Er ist im Grunde allen großen Philosophen gemeinsam. Wodurch sie sich unterscheiden, das ist der Grad ihrer dialektischen Ausbildung, das ist die Strenge der Begründung, die sie ihrer Weltansicht geben. Das Ziel der Geschichte der Philosophie als Wissenschaft ist nicht, die Wahrheiten der Weltansicht zu entdecken, sondern sie zu begründen. Bei diesen Wahrheiten handelt es sich nämlich um notwendige Wahrheiten der menschlichen Vernunft, die als solche unabhängig von der Erfahrung feststehen, um Wahrheiten, deren Umkreis durch die Vernunft selbst umgrenzt ist und die auch der weiseste und tiefste Denker nicht vermehren kann. Was sich entwickelt und eine Geschichte hat, das ist die Dialektik, das ist der Grad der begrifflichen Klarheit und Strenge, mit der jene Wahrheiten ausgesprochen und begründet werden. Die Aufgabe, die wir der Philosophie als Wissenschaft stellen, ist keine andere als die, die notwendigen Wahrheiten der menschlichen Vernunft auf wissenschaftliche Form zu bringen. Die Erkenntnis dieser Wahrheiten liegt an und für sich im Geist eines jeden, aber der Grad des Bewußtseins um diese \Vahrheiten ist bei den einzelnen verschieden. Er hängt ab von der Ausbildung der Kunst des Abstrahierens. Wir gelangen zur Klarheit über eine philosophische Wahrheit nur dadurch, daß wir von dem anschaulichen Gehalt unserer Erkenntnis, das heißt von allem, was in ihr nicht philosophisch ist, abstrahieren, um so die mit diesem Gehalt verbundene philosophische Wahrheit in abstracto aufzufassen und ins Bewußtsein zu heben. Die Kunst dieser Abstraktion ist die eigentliche Kunst zu philosophieren, die sich im Lauf der Geschichte der Philosophie allmählich entwickelt. Sie kann von Generation zu Generation weitergebildet werden, indem der eine, was er in dieser Hinsicht erarbeitet hat, als Lehrer auf den Schüler überträgt. Darauf beruht die Möglichkeit des Fortschrittes in der Philosophie und damit die Möglichkeit der Geschichte der Philosophie selber. Wir werden deshalb auch beim Studium der Geschichte der Philoso-

Prinzipien der Gesamtdarstellung

21

phie weniger auf das achten, was man gewohnt ist, das System des Philosophen zu nennen, als auf die Art, wie er dialektisch zu diesem System gelangt. Insbesondere werden wir uns hüten müssen vor der verbreiteten Art, einen Philosophen zu beurteilen nach der Konsequenz seines Systems. Diese Konsequenz ist, wie ich schon gesagt habe, ein sehr irreführender, ein sehr trügerischer Maßstab. Diese Konsequenz hat oft nur die Folge, daß sie einen Fehler, der sich in den Grundlagen eingeschlichen hat, durch das ganze System verbreitet und so dieses vollends entwertet, während man oft von Glück sagen kann, wenn eine Inkonsequenz unterläuft und die Schranken eines falschen philosophischen Systems durchbricht. Die Darstellung der Geschichte der Philosophie soll uns den wissenschaftlichen Fortschritt in der Bearbeitung der philosophischen Probleme aufzeigen. Das Bekenntnis zu dieser Ansicht der geschichtlichen Aufgabe erfordert einen folgenschweren Entschluß. Man kann von Fortschritt oder Rückschritt in der Geschichte nur dann sprechen, wenn man sich erkühnt, ein Urteil zu fällen über Wert oder Unwert der Leistungen, die in dieser Geschichte einen Rang beanspruchen. Im allgemeinen ist man heute der Meinung, daß eine solche Auffassung und ein von ihr ausgehender Versuch, Geschichte zu behandeln, die Grenzen der für die Wissenschaft gebotenen Objektivität überschreitet. Offenbar kann sich nur der ein Urteil über Fortschritt und Rückschritt in der Philosophie erlauben, der bereits über einen Maßstab verfügt, an dem er die Leistungen anderer mißt und den er nur der eigenen Ansicht vom Wesen der Philosophie und ihrer Aufgabe entnehmen kann. Und da scheint es denn, als ob das Unternehmen, andere an diesem Maßstab zu messen, mit der Objektivität unvereinbar sei, die man von einem wissenschaftlichen Forscher und von einer wissenschaftlichen Darstellung zu verlangen hat. Aber wir müssen fragen, wie denn überhaupt eine objektive Darstellung der Geschichte der Philosophie gegeben werden kann. Das wird sicher nicht dadurch möglich, daß man auf den eigenen philosophischen Standpunkt verzichtet; denn das kann man gar nicht. Man kann ihn verleugnen und verschleiern bis zur Unkenntlichkeit und dadurch sich und andere über die Tragweite der Urteile, die man abgibt, täuschen. Aber man kann den eigenen Standpunkt niemals wirklich

22

Vorbetrachtungen

ausschalten, auch dann nicht, wenn man auf eine ausdrückliche Beurteilung von Fortschritt und Rückschritt in der Geschichte verzichtet. Aus zwei Gründen geht das nicht. Erstens muß jeder Historiker, sei er nun Historiker der Philosophie oder irgendeines anderen Gebietes, in dem unübersehbaren Stoff der Tatsachen eine Auswahl treffen hinsichtlich dessen, was er für wert hält, in die Darstellung auf genommen zu werden. Kein Geschichtsschreiber der Philosophie kann alle jemals erhobenen Ansprüche, daß etwas Philosophie sei, als gleichberechtigt in seiner Darstellung berücksichtigen. Wer sich aber eine Auswahl und damit eine Bevorzugung der einen Leistung vor der anderen erlaubt, der kann sie nur vornehmen an Hand des eigenen Urteils über das, was Wert hat und unser Interesse verdient. Und der Maßstab für dieses Urteil wird ihm gegeben - ob er es will oder nicht, ob er es zugesteht oder leugnet - durch den eigenen philosophischen Standpunkt. Indem er eine Begrenzung und Auswahl des Stoffes vornimmt, hat er alles das philosophisch verurteilt, was er in seiner Darstellung beiseite läßt. Der zweite Grund liegt darin, daß man die Lehren, die man wiedergeben will, verstehen muß, um sie auch nur richtig darzustellen, und daß man sie nur verstehen kann nach Maßgabe des eigenen Verständnisses für das Wesen der Philosophie. Wer selbst keinen vernünftigen Standpunkt hat, der kann einem anderen, der ihn hat, nicht gerecht werden; denn er wird dessen Lehre gar nicht richtig aufzufassen und sinngemäß wiederzugeben vermögen. Wer also auch nur eine richtige Darstellung der philosophischen Lehren anderer geben will, der muß sich im voraus selbst um philosophische Einsicht bemühen, und wer nicht die Kühnheit besitzt, sich diese Einsicht selber zuzutrauen, der täte dann besser, auch darin bescheiden zu sein, daß er sich des Urteils über andere philosophische Lehren enthält und also auf jeden Versuch verzichtet, von ihnen eine geschichtliche Darstellung zu liefern. Man kann die philosophische Lehre irgendeines anderen nur verstehen und ihr also nur gerecht werden, wenn man dem Autor dieser Lehre zum mindesten gewachsen ist an Klarheit der Begriffe. Ofl: kann man ihn nur dann verstehen, gerade geschichtlich verstehen, wenn man ihm an Einsicht und Klarheit der Begriffe sogar überlegen ist. Man wird dann mitunter bemerken, daß das, was der andere nur gleichsam ertastet,

Prinzipien der Gesamtdarstellung

23

nur gefühlsmäßig aufgefaßt hat, eine wertvolle Entdeckung barg, der er auf der Spur war, eine Entdeckung, die sich als solche beim weiteren Fortschritt der Wissenschaft bewahrheitet hat. Und nur, wer derartiges bei einem anderen aufzuzeigen vermag, nur der kann ihm, geschichtlich betrachtet, gerecht werden. Jede Darstellung der Geschichte der Philosophie ist daher einseitig und parteiisch in dem Sinn, daß ihr Urheber nicht umhin kann, den eigenen Standpunkt faktisch voranzustellen und an ihm alle anderen zu messen. Gegen die Härte dieser Konsequenz richtet sich das Bedenken, eine solche Darstellung müsse tendenziös ausfallen, das heißt dazu führen, daß der, der sie gibt, die Tatsachen verfälscht. Eine Darstellung, die die Tatsachen verfälscht, verwirkt in der Tat den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität. An Hand der eigenen Einsicht über die Leistungen eines Philosophen zu urteilen, ist aber etwas anderes, als die Lehren des anderen tendenziös darzustellen. Die eigene Einsicht in die philosophische Wahrheit braucht keinen störenden Einfluß zu haben auf das Bild, das man sich von dem tatsächlichen Inhalt fremder Meinungen macht. Sie darf einen solchen Einfluß auch nicht haben. Es ist möglich, wenn auch in der Tat schwierig, ohne das eigene Urteil aufzugeben, eine fremde Lehre so, wie sie tatsächlich von ihrem Urheber entwickelt worden ist, wiederzugeben. Jeder muß hier vor Entstellungen, die sich leicht einschleichen können, auf der Hut sein. Je weniger man sich darüber klar ist, welche Rolle die eigene philosophische Lehre bei der Darstellung fremder Ansichten spielt, desto leichter wird man der Versuchung verfallen, in die andere Ansicht hineinzudeuten, was man gern in ihr finden möchte. Gerade wenn wir Wert darauf legen, die Geschichte der Philosophie tendenzlos darzustellen, sind wir um so mehr darauf angewiesen, von der eigenen Ansicht über Philosophie Rechenschaft zu geben, ehe wir die Ansichten anderer darstellen, und achtzuhaben auf die Klarheit der eigenen philosophischen Begriffe, um diejenigen anderer zu verstehen und ihnen gerecht werden zu können. Die wahre Objektivität der geschichtlichen Darstellung verträgt sich sehr wohl damit, daß wir eine Auswahl treffen unter den Lehren, die wir geschichtlich beurteilen wollen, die wir auch nur darstellen wollen zu dem Zweck, die Linie des wissenschaftlichen Fortschritts in der Geschichte aufzuzeichnen. Ja, dies und dies allein ist die wahre Anforde-

24

Vorbetrachtungen

rung der Objektivität an eine geschichtliche Darstellung der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie muß aber, wenn man ihre Aufgabe so stellt, größtenteils ganz neu bearbeitet und erst geschrieben werden; denn durchweg herrscht die entgegengesetzte Ansicht von ihrer Aufgabe. Das wird jedem ohne weiteres bewußt sein, der jemals ein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie auch nur auf geschlagen hat. Er wird dann einen ähnlichen Eindruck bekommen haben, wie man ihn etwa von einer Schmetterlingssammlung bekommt, wo es nur auf die Reichhaltigkeit und Buntheit der Sammlung ankommt und wo man daher jedem neuartigen Exemplar gern seinen Platz gönnt neben den anderen. Das ist eine unwissenschaftliche Art, die Geschichte der Philosophie zu betreiben. Sie wird noch besonders begünstigt durch ein in der Wissenschaft durchaus zu verwerfendes Interesse am Originellen. Das wissenschaftlich Wertvolle ist etwas anderes als das Neue und Eigenartige. Das Ideal der Wissenschaft besteht nicht darin, daß alle einzelnen Denker möglichst Verschiedenes und Entgegengesetztes für wahr halten, sondern es verlangt im Gegenteil, daß sie ein und dasselbe für wahr halten, nämlich die Wahrheit. Die Wahrheit ist nur eine; sie ist kein Mosaik, das man aus allerlei einander widerstreitenden Teilmeinungen zusammensetzen könnte. Eine wirkliche Ausbildung der Philosophie kann daher auch nur gelingen, wenn die Bearbeitung der philosophischen Probleme schulmäßige Form annimmt, wie auch die anderen Wissenschaften ihre Fortschritte einer schulmäßigen Ausbildung verdanken, nämlich der Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode, mit deiren Hilfe jeweils die jüngere Generation auf den Ergebnissen der älteren weiterbauen kann. Wo eine solche schulmäßige Ausbildung noch fehlt, haben wir es bestenfalls mit der Vorgeschichte der Wissenschaft zu tun. Das nötigt allerdings zu dem Schluß, daß die bisherige Entwicklung der Philosophie, soweit sie jedenfalls allgemein bekannt geworden ist, wenig Hoffnung läßt, darin mehr zu finden als bloße Vorgeschichte. Um so wichtiger wird es für uns sein, in dieser bisherigen Entwicklung der Philosophie nach Ansätzen für die eigentliche Geschichte der Philosophie zu suchen. Dafür gibt es sogar noch einen besonderen Gtund: Diese Geschichte der Philosophie wird einem bestimmten Ende zustreben. Da nämlich die Philosophie nicht aus der Anschauung schöpft,

Prinzipien der Gesamtdarstellung

25

sondern die Quelle ihrer Wahrheit in der menschlichen Vernunft selber findet, so läßt sich der Bereich der philosophischen Wahrheit durch die fortschreitende Erfahrung nicht erweitern, so wie dies in anderen Wissenschaften möglich ist und geschieht, sondern seine Grenzen sind ein für allemal bestimmt durch die menschliche Vernunft. Wenn es einmal gelungen ist, diese Wahrheiten der Philosophie so, wie ihr Umkreis durch die Vernunft umschrieben ist, auf wissenschafl:liche Form zu bringen, dann hat die Geschichte der Philosophie ihren Abschluß erreicht, wenn sich natürlich auch das Feld ihrer Anwendungen ins Unendliche erweitern läßt. Das bedeutet, wie mir scheint, gerade einen besonderen Reiz, den die Philosophie vor jeder anderen Wissenschaft voraushat, einen Reiz, der - wie man meinen sollte - dazu anspornen müßte, diesen Abschluß auch wirklich herbeizuführen. Es ist auch ein allerdings bisher gänzlich unbekannter Reiz für das Studium der Geschichte der Philosophie, zu untersuchen, wie weit wir uns diesem Abschluß vielleicht schon angenähert haben und welche Hoffnung uns erwächst, ihn in absehbarer Zeit wirklich zu erreichen. Hier drängt sich allerdings die Frage auf: Warum ist dieser Abschluß, wenn er möglich ist, bis jetzt nicht erreicht, da man doch schon seit Jahrtausenden an den philosophischen Problemen gearbeitet hat? Ja, warum bietet uns der Zustand der gegenwärtigen Philosophie ein so trostloses Bild, daß wir den Eindruck bekommen, von diesem Abschluß weiter entfernt zu sein als je in früheren Zeiten? Diese Frage wird uns in den folgenden Untersuchungen beschäfl:igen. Die Überlegungen, die zeigen sollen, wie die Ansicht, die man sich von der Geschichte der Philosophie bildet, bedingt ist durch die eigene Einsicht in das Wesen der Philosophie selber, haben noch eine andere Konsequenz. Da das Bild, das wir uns von der Geschichte der Philosophie machen, bedingt ist durch den eigenen philosophischen Standpunkt dessen, der das Bild entwirf!:, so wird dies Bild seinerseits einer Entwicklung unterwarfen sein, selbst eine Geschichte haben. Die Ansicht von der Geschichte der Philosophie wird sich selbst entwickeln mit der Entwicklung der Philosophie. Denn mit jeder Anderung des philosophischen Standpunktes verschiebt sich das Bild von der Entwicklung der Philosophie, und jede philosophische Schule wird sich infolgedessen ihre eigene Geschichte der Philosophie schreiben müssen.

26

Vorbetrachtungen

Der Widerstreit der Bilder, die hier die eine und andere philosophische Schule von der Geschichte der Philosophie entwirft, dieser Widerstreit kann einzig und allein dadurch überwunden werden, daß der Widerstreit der philosophischen Schulen selbst verschwindet. Solange wir mit diesem Widerstreit der Schulen selbst zu rechnen haben, so lange können wir erst recht nicht hoffen, in unseren Ansichten über die Geschichte der Philosophie Übereinstimmung zu erzielen. Zuerst muß der Streit der Philosophen selbst geschlichtet sein, und dann wird es Zeit sein, den Streit der Historiker der Philosophie beizulegen. Und je mehr uns an der Erreichung des zweiten Zieles gelegen ist, desto mehr sollten wir Fleiß und Mühe auf die Erreichung des ersten verwenden. Bis dahin bleibt nichts anderes übrig, als daß jede philosophische Schule sich ihre eigene Geschichte der Philosophie schreibt. Und die Anforderung der Objektivität dieser Geschichtsschreibung kann in nichts anderem bestehen, als daß wir von dein Historiker der Philosophie verlangen, daß er uns klare Rechenschaft gibt von der eigenen philosophischen Schulmeinung, mit der er an seine Aufgabe herantritt. Einer der am meisten gerühmten und gefeierten Historiker der Philosophie, Windelband, hat einmal gesagt: » Je ausgesprochener und schärfer die maßgebende Meinung ist, um so parteiischer, ungerechter und unbrauchbarer wird die geschichtliche Darstellung als solche.« Ich behaupte nunmehr getrost das Gegenteil und sage: Je ausgesprochener und schärfer die maßgebende Meinung ist, um so unparteiischer, gerechter und brauchbarer wird die geschichtliche Darstellung als solche. Alle diese Gründe werden freilich den nicht überzeugen, der, wie auch gerade Windelband, von der Vorstellung ausgeht, die Geschichte der Philosophie sei ihrerseits die wahre Quelle der Philosophie. Diese historische Ansicht von der Philosophie geht hauptsächlich auf den Einfluß Hegels zurück. Diese Ansicht ist aber, bei Licht betrachtet, geradezu der Tod aller Philosophie. Wer auf diesem Wege ernstlich versucht, zur Philosophie zu gelangen, der wird sich am Ende enttäuscht sehen und vielmehr an aller philosophischen Wahrheit verzweifeln, wie das ja auch das Schicksal der Geistesrichtung geworden ist, die sich dem Einfluß dieser historischen Philosophie verschrieben hat. Denn man mag die Geschichte der Philosophie studieren so gründlich man will: die Geschichte bietet uns an und für sich nur Tatsachen -

Prinzipien der Gesamtdarstellung

27

die Geschichte der Philosophie wie jede Geschichte. Die Tatsache aber, daß dieser oder jener Philosoph dieses oder jenes gelehrt hat, und der Anspruch, den er tatsächlich erhebt, das, was er lehrt, sei wahr, erlaubt uns nicht den Schluß, daß es auch wahr ist. Wir können daraus, daß Heraklit den Fluß aller Dinge gelehrt hat, ebensowenig schließen, daß seine Lehre richtig ist, wie wir es daraus schließen können, daß Heraklit in Ephesus geboren ist. Wollten wir aber selbst so schließen, so müßten wir jedem anderen Philosophen, der je in der Geschichte auf getreten ist, den gleichen Gefallen tun, und wir würden auf eine unabsehbare Fülle einander widerstreitender Wahrheiten kommen. Man müßte also schon annehmen, die Wahrheit selbst sei buntscheckig. Man muß dies wirklich annehmen, wenn man sich auf den Hegelschen Standpunkt stellt, wie er ja auch in dem berüchtigten Wort Ausdruck gefunden hat, das von Hegel selbst stammt: »Alles, was wirklich ist, ist vernünftig.« Ich betrachte es jetzt aus den dargelegten Gründen als meine Aufgabe, unzweideutig zu formulieren, auf welchen Standpunkt der Philosophie gegenüber ich mich meinerseits stelle, ehe ich mit der geschichtlichen Darstellung beginne. Die Anforderungen, die ich an eine Leistung stelle, die mit Recht den Anspruch erheben soll, in der Darstellung der Geschichte der Philosophie von mir berücksichtigt zu werden, bestimmen sich mir durch die Aufgabe, die ich der Philosophie als Wissenschaft stelle. Ich will diese Anforderungen in einige Leitsätze zusammenfassen: 1. Den Gegenstand der Geschichte der Philosophie, wie ich sie verstehe, diesen Gegenstand bilden die philosophischen Probleme und nicht die Philosophen oder das Schicksal der Philosophen oder das Schicksal ihrer Schriften. Es wird also hier nicht die Rede sein von dem Charakter, von der Persönlichkeit, dem Urheber einer Lehre und von der Lebensgeschichte dieser Persönlichkeit, sondern es wird hier nur die Rede sein von dem, was sie zur Lösung der philosophischen Probleme geleistet hat. 2. Die Lösung dieser Probleme soll Wahrheit sein. Die erste Vorbedingung dafür, daß jemand beanspruchen darf, in der Geschichte der Philosophie berücksichtigt zu werden, ist also, daß er wenigstens selbst nach der Wahrheit gestrebt hat, ist seine eigene Ehrfurcht vor der Wahr-

28

Vorbetrachtungen

heit. Er muß bei dem Aufbau seiner philosophischen Lehre den einen Zweck der Wahrheit im Auge gehabt haben. Ich spreche jetzt nicht vom Gelingen seiner Lösung, sondern von der Absicht, die ihn bei der Arbeit beseelte. Diese Absicht wenigstens muß Wahrheit gewesen sein und kein außer ihr liegender Zweck, nicht der Zweck, eine geltende Tradition zu stützen oder irgendeiner Autorität zu Diensten zu sein oder was es sonst an außer der Wahrheit liegenden Zwecken geben könnte. 3. Das Interesse der Wahrheit scheidet sich aber auch von allen Interessen der Mythologie und der Dichtung. Was wir von der Philosophie als Wissenschaft fordern, das ist Wahrheit und nicht Schönheit. »Wahre Worte sind nicht schön, und schöne Worte sind nicht wahr!« sagt Lao-Tse, einer von denen, die am meisten von denen angerufen werden, die die Schönheit über die Wahrheit setzen. 4. Es ist jedoch nicht genug, daß die Philosophie uns Wahrheit bietet, sondern wir verlangen von ihr, daß sie ihre Wahrheiten auf wissenschafl:liche Form bringt. Wo diese wissenschafl:liche Form fehlt, da mag sich zufällig Wahrheit finden, aber eben darum lohnt es nicht, da nach der Wahrheit zu suchen. Auch jemand, der sich in krankhafl:em Geisteszustande befindet, ein ekstatischer Visionär, mag Wahrheiten verkünden. Nur, wie sollen wir von ihm erfahren, daß es Wahrheiten sind? Es könnten zufällig Wahrheiten sein, was aus seinem Munde kommt; das wäre aber kein Grund, ihm in der Geschichte der Philosophie einen Platz einzuräumen. Alle Versuche also, die philosophische Wahrheit auf mystische Weise, durch höhere Inspiration ohne Wissenschafl:, zu erkennen, alle diese Versuche scheiden für uns aus. 5. Wir müssen ferner bedenken, daß die Mitteilung philosophischer Lehren an den Gebrauch der Sprache gebunden ist. Es ist für uns nicht gleichgültig, wie ein Philosoph sich mit dieser Notwendigkeit abfindet. Von einer wissenschafl:lichen Darstellung werden wir verlangen, daß sie sich einer verständlichen Sprache bedient. Sie ist aber nur verständlich, wenn sie sich dem Gebot der Eindeutigkeit der Sprachzeichen unterwirf!:, das heißt, wenn sie gleiche Ausdrücke nur zur Bezeichnung der gleichen Gedanken benutzt. Denn wie sollen wir sonst wissen, woran wir im einzelnen Fall sind, welchen Gedanken der Sprechende meint? Dies ist eine allgemeine Anforderung an jede wissenschaflliche Darstellung. Sie gilt also auch für die Philosophie. Für die Philosophie

Prinzipien der Gesamtdarstellung

29

kommt aber noch ein besonderer Umstand hinzu. Andere Wissenschaften schöpfen aus der Quelle der Anschauung. Man ist daher dort immer in der Lage, im Zweifelsfalle die Eindeutigkeit der Bezeichnung dadurch herzustellen, daß man auf den fragiichen Gegenstand in der Anschauung verweist. Dadurch läßt sich jeder Zweifel darüber zerstreuen, welchen Gegenstand man meint. In dieser glücklichen Lage ist der Philosoph nicht. Er kann die Begriffe, die er mit den \'Vorten bezeichnet, einem anderen nicht anders übermitteln als durch den Gebrauch der Sprache. Denn dem Begriff entspricht hier nichts in der Anschauung. Eben das macht das Wesen der philosophischen Gedanken aus. Zu ihrer Mitteilung sind wir also ausschließlich auf den Gebrauch der Sprache angewiesen, und alle Hoffnung, sich gegenseitig zu verständigen, ist verloren, wenn dieses einzige Verständigungsmittd preisgegeben wird. Wir können also im voraus sagen, daß sich nur diejenigen Philosophen mit Aussicht auf Erfolg um den Fortschritt der Philosophie bemühen können, die bei der Darstellung ihrer Philosophie den allgemeinen Sprachgebrauch achten. Wer dies nicht tut, scheidet aus der Geschichte der Philosophie, wie sie hier verstanden werden soll, aus. 6. Denken wir uns alle diese Anforderungen erfüllt, so sind wir doch noch nicht am Ende. Unter all den Philosophen, die diesen Forderungen genügen, verdienen für uns nur diejenigen Beachtung, deren Lehren eine kontinuierliche Reihe bilden, wo der eine auf den Ergebnissen des anderen weiterbaut und nicht unter Mißachtung der Leistung seiner Vorgänger wieder von vorn anfängt. Denn nur wo wir Kontinuität haben, haben wir Geschichte, nur da findet die schulmäßige Entwicklung der Wissenschafl: statt, von der ich gesprochen habe. Ich werde also auf die vielfachen Wiederholungen längst überwundener Irrtümer, an denen die Geschichte der Philosophie so reich ist, nicht eingehen, auch wenn sie von dem größten geschichtlichen Erfolg gekrönt waren. Der geschichtliche Erfolg ist kein Maßstab für die wissenschafl:liche Bedeutung einer philosophischen Lehre. Wissenschafl:liches Interesse haben für uns nur diejenigen, die sich die Ergebnisse ihrer Vorgänger zu eigen gemacht oder sie widerlegt haben. 7. Ich werde auf solche Lehren, die sich schon in den Grundlagen als verfehlt erweisen, nicht weiter eingehen, als nötig ist, um uns von dieser Verfehltheit ihrer Grundlagen zu überzeugen. Es lohnt nicht, da um

30

Vorbetrachtungen

Konsequenzen zu rechten, wo die Verfehltheit der Grundlage schon feststeht; denn wir wissen im voraus, daß dort nur durch einen glücklichen Zufall noch etwas Richtiges unterlaufen könnte. 8. Ich habe schon auseinandergesetzt, inwiefern das wissenschaftliche Interesse an einer philosophischen Lehre nicht sowohl der Weltansicht des Philosophen zu gelten hat als vielmehr der Art, wie er diese Weltansicht begründet, und daß der eigentliche Fortschritt in der Geschichte der Philosophie in der allmählich besseren Ausbildung der Begründungsmethoden besteht. Demgemäß werden wir den Gesichtspunkt für die Gruppierung der einzelnen Schultypen von Philosophen nicht suchen in dem Charakter ihrer Weltansicht, wie das gewöhnlich geschieht, sondern in dem, was ihre Dialektik kennzeichnet. Wir werden also weniger darauf sehen, ob ein Philosoph Theist war oder Atheist oder Pantheist, ob er Determinist oder Indeterminist war, Dualist oder Monist und wie diese Ismen sonst heißen, sondern wir werden vielmehr darauf sehen, wie der einzelne Philosoph gemeint hat, seinen Ismus wissenschaftlich zu begründen. Der Faden, dem wir hier folgen, ist also die Fortbildung der Dialektik, und ich werde auf die Weltansicht eines Philosophen nur insoweit eingehen, als eine Veränderung der Dialektik einen Fortschritt in der Begründung der Weltansicht möglich gemacht hat. 9. Was nun diese Anforderungen an die Dialektik betriffi, so wird es hier im voraus genügen, eine Mindestforderung festzulegen. Ich meine die, daß der Philosoph diejenigen Wissenschaften, die sich bereits einer besseren wissenschaftlichen Ausbildung erfreuen als die Philosophie, als solche respektiert, daß er aus ihnen zu lernen sucht und sich nicht über ihre Leistungen hinwegsetzt. Alle Wissenschaften stehen miteinander in Zusammenhang, und es ist offenbar das allein Vernünftige, eine Wissenschaft, die sich das Recht auf diesen Namen erst verdienen will, nach dem Vorbild der Wissenschaften zu bearbeiten, die sich dies Recht längst erworben haben, statt sogleich nach einem vermeintlich höheren Ziel zu greifen, wie es selbst für jene unerreichbar ist. Von einem Philosophen, der sich gar mit Bewußtsein zu den exakten Wissenschaften in Widerspruch setzt, von einem solchen Philosophen werden wir keine wissenschaftliche Belehrung erwarten, er mag 1m übrigen noch so geistreiche Gedanken vortragen.

Prinzipien der Gesamtdarstellung

31

10. Ich sagte, daß wir unser Interesse weniger der Weltansicht als der Dialektik der Philosophen zuwenden wollen und daß wir auf die Konsequenzen einer in den Grundlagen verfehlten Dialektik nicht erst eingehen wollen. Ich füge hinzu, daß wir unser Augenmerk um so mehr richten werden auf die Voraussetzungen, aus denen sich der Besitzstand an dialektischen Hilfsmitteln bei den einzelnen Philosophen rekrutiert. Diese allerersten und allertiefsten Voraussetzungen, die dem einzelnen Philosophen selbst oft nur darum unwesentlich erscheinen, weil sie ihm selbstverständlich sind, diese sind für den wissenschafl:lichen Erfolg aller seiner Bemühungen meist schon das Entscheidende. Sie werden im Vordergrund unseres Interesses stehen. Wenn wir unser Interesse diesen ersten Voraussetzungen eines dialektischen Lehrgebäudes zuwenden, dann findet sich oft etwas sehr Merkwürdiges. Es findet sich, daß die wichtigsten von diesen Voraussetzungen dem einzelnen Denker selbst gar nicht bewußt geworden sind. Das ist die Folge davon, daß er sie wie eine Selbstverständlichkeit aus dem Gedankenkreis übernimmt, der das geistige Gemeingut seiner Zeit bildet, ohne daß er sich davon Rechenschaft gibt. Es ist dann unsere Aufgabe, diese Voraussetzungen auf zudecken und die Rolle zu prüfen, die sie, ihm unbewußt, für den Gang seiner Untersuchungen gespielt haben. Es ist nun notwendig, einen bestimmten Einschnitt vorzunehmen in dem Gang der Entwicklung, die uns zur wissenschaftlichen Ausbildung der Philosophie hinführt. Ich habe diesen Einschnitt deutlich, und zwar durch den Namen Hume bezeichnet. Eine kritische Untersuchung der Geschichte der Metaphysik gerade seit Hume hat für uns eine besondere wissenschaftliche Wichtigkeit, auch unabhängig von ihrem geschichtlichen Interesse. Wir müssen uns nämlich an diese Untersuchung machen, wenn wir uns in der Gegenwart philosophisch orientieren wollen. Die Gegenwart bietet uns ein trostloses Bild von der Philosophie. Wir befinden uns hier vor einem Chaos einander widerstreitender Lehrmeinungen, in dem unmittelbar überhaupt keine Orientierung möglich ist. Um zu einer solchen zu gelangen, müssen wir in der Geschichte zurückgehen bis an die Stelle, wo sich für unseren Blick das Chaos lichtet. Wir müssen wenigstens versuchen, eine solche Stelle zu finden. Wir wissen ja nicht im voraus, ob sie

32

Vorbetrachtungen

sich finden wird. Aber wenn es sie gibt, dann wird es die Stelle sein, wo wir so etwas wie den Ansatz zur Bildung einer wissenschaftlichen Schule finden. Eine solche schulmäßige Ausbildung und Forterbung der Philosophie hat es wirklich in früherer Zeit gegeben, es hat sie gegeben jedenfalls bis auf Kant. Die schulmäßige Weiterbildung der Philosophie scheint aber bei Kant abzubrechen, und der nach Kant einsetzende Widerstreit der Schulen ist in der Tat bis heute ungeschlichtet geblieben, ja er ist in völlige Anarchie ausgeartet. Wir müssen also, um uns in dem Chaos der gegenwärtigen Philosophie zu orientieren, zurückgehen bis auf Kant und dann prüfen, welcher von den Versuchen nach Kant, an dem Fortschritt der Philosophie weiterzuarbeiten, uns auf den richtigen Weg weist. Um aber diese Prüfung mit Aussicht auf Erfolg anstellen zu können, dazu ist es nötig, noch einen Schritt weiter zurückzugehen, nämlich zu Hume. Der Grund dafür liegt darin, daß das dialektische Problem, das im Mittelpunkt der Kantischen Philosophie steht, seinen Urheber in Hume hat. Kant hat dies Problem nicht zuerst gestellt, sondern konnte es von seinem großen Vorgänger Hume übernehmen. Dieser war s,einerseits der erste, der das Problem deir Metaphysik als Wissenschaft auf eine für die wissenschaftliche Bearbeitung hinreichend bestimmte Form gebracht hat. Wir können nun aber auch nicht ohne weiteres mit Hume unsere Darstellung beginnen. Denn auch Hume ist abhängig von seiner Zeit. Er ist zu dem großen Fortschritt, den wir ihm verdanken, nur dadurch gelangt, daß er auf den Schultern seiner Vorgänger fortgearbeitet hat. Und wir können den verschlungenen Weg, der ihn zu diesem Fortschritt geführt hat, geschichtlich nur verstehen, wenn wir wenigstens ein ungefähres Bild haben von dem Geistesgut, das er von seinen Vorgängern übernommen hat. Aus diesen Gründen will ich zu Beginn einen allgemeinen überblick über den Zustand der Philosophie vor Hume geben. Wir wollen uns orientieren über den allgemeinen Charakter der Zeit, von der unsere Betrachtung ausgehen soll, und wenigstens die Hauptzüge herausheben, die der nachfolgenden Entwicklung so tiefe Spuren auf gedrückt haben, daß wir sie kennen müssen, um diese nachfolgende Entwicklung geschichtlich zu verstehen. Darum will ich zuerst die Aufgabe der Philosophie dieser Zeit vom kulturgeschichtlichen und dann vom dialektischen Standpunkt aus erläutern.

2.

KAPITEL

Die Aufgaben der neueren Philosophie kulturgeschichtlich betrachtet Allgemein kulturgeschichtlich betrachtet, ist die Zeit, die wir hier im Auge haben, das Zeitalter der Aufklärung. Was aber heißt Aufklärung? Aufklärung ist das Bestreben, die Leitung des Lebens dem eigenen Verstande anzuvertrauen, sich frei zu machen von der Herrschaft aller äußeren Mächte, die darauf Anspruch erheben, uns Richtlinien für unser Denken und Handeln vorzuschreiben. Damit ist an und für sich nur die Richtung eines individuellen Strebens bezeichnet; aber dieses erweitert sich zu einer gesellschaftlichen Aufgabe der Aufklärung, nämlich zu der Aufgabe, die Menschheit überhaupt zu befreien von den Fesseln der Tradition und Autorität. Diese Aufgabe wurde den Völkern der neueren Zeit zuerst im Zeitalter der Aufklärung klar, das davon seinen Namen erhalten hat. Man kann sagen, daß das Ideal der Aufklärung immer einmal im Laufe der Geschichte eines Volkes diesem klar wird. Und daher gibt es auch nicht nur in neuerer Zeit so etwas wie ein Zeitalter der Aufklärung, sondern wir finden ein solches schon in der alten Geschichte. Ein solches ist zum Beispiel das Zeitalter der Sophisten bei den Griechen. Nun aber hat die Aufklärung der neueren Zeit ihr besonderes Gepräge, und dies müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen. Fragen wir uns: Was ist der Unterschied der modernen Aufklärung gegenüber der antiken? Mir scheint da entscheidend das Zusammentreffen von zwei miteinander in einem eigentümlichen Widerstreit befindlichen Mächten, der Naturwissenschaft einerseits und des Christentums andererseits. Beide, sowohl das Christentum wie auch das, was wir Naturwissenschaft nennen, waren der antiken Kultur fremd. Die Griechen kannten keine Kirche, keine öffentlichen Anstalten zur Pflege

34

Vorbetrachtungen

des Glaubens, die wir irgendwie mit der christlichen Kirche vergleichen könnten. Und sie kannten ebensowenig eine Naturwissenschaft in unserem Sinne des Wortes, sondern allenfalls gelegentliche Ansätze zu einer solchen, Ansätze, die für den Gang ihrer Geschichte jedenfalls nicht bestimmend geworden sind und überhaupt keinen Einfluß auf sie ausgeübt haben. Diese beiden Mächte finden wir in einem eigentümlichen Konflikt miteinander. Das ist allgemein bekannt. Was aber weniger bekannt oder, besser gesagt, weniger bedacht wird, das ist, daß die Tendenz des Christentums, was seine ursprüngliche geschichtliche Mission betriffi, nicht im Widerspruch mit der Naturforschung steht. Man kann im Gegenteil sagen, daß nichts die Entstehung der Naturwissenschaft so gefördert hat wie das Aufkommen des Christentums in Europa. Diese Behauptung erscheint zunächst paradox. Aber es verhält sich tatsächlich so. Die Tendenz des Christentums ging bekanntlich dahin, die Naturanschauung von aller Mythologie zu befreien. Das Christentum verlangt von seinen Anhängern, daß sie die Gegenstände ihrer religiösen Verehrung jenseits der Natur suchen und nicht in diese hinein verlegen. Das ist ein ausgesprochener Gegensatz zur religiösen Auffassung der Griechen. Die Griechen hatten eine mythologische Naturbetrachtung. Und diese mythologische Art der Naturbetrachtung war für ihre ganze Stellung zur Natur entscheidend. Sie stand dem Unternehmen einer wissenschaftlichen Erforschung der Natur und noch mehr dem Einfluß einer solchen auf die allgemeine Denkart und die Entwicklung ihrer Kultur hemmend im Wege. Von dieser mythologischen Naturauffassung hat uns das Christentum befreit. Und dadurch erst ist überhaupt Raum geschaffen worden für so etwas wie eine unbefangene und nüchterne Erforschung der Natur und damit für die Naturwissenschaft. Allerdings, sobald die Naturwissenschaften dann eine gewisse Stufe der Ausbildung erreicht hatten, wurde in der Tat der Konflikt mit dem Christentum unvermeidlich, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Naturwissenschaft mußte der kirchlichen Lehre zunächst dadurch gefährlich werden, daß sie das anthropozentrische Weltbild zerstörte, auf das die kirchliche Lehre sich gründete. Indem der Fortschritt der Naturwissenschaft dazu führte, in der Ansicht von der Natur die Erde aus dem Mittelpunkt zu rücken, fiel auch die beherrschende Stellung des.

Neuere Philosophie kulturgeschichtlich betrachtet

35

Menschen in der Natur dahin und mit ihr die jenseitige Bestimmung, die dem irdischen Menschenleben nach der christlichen Auffassung zukommen sollte. Die Konsequenz des naturwissenschafl:lichen Denkens nötigte überdies dazu, die Vorstellung von der Begrenztheit der Körperwelt zu verlassen und also die Frage nach einem Mittelpunkt der Welt überhaupt aufzugeben. Mit dieser Einsicht in die Grenzenlosigkeit der Körperwelt schwand die Möglichkeit, überhaupt ein Jenseits außerhalb der Grenzen der irdischen Welt anzunehmen und so den Gegenständen der Glaubenslehre ihre Realität im Ganzen des Weltbildes zu wahren. Schließlich mußte die Entwicklung der neueren Naturwissenschaft der kirchlichen Lehre dadurch verderblich werden, daß sie sich nicht mehr vereinbaren ließ mit der Hauptstütze, die diese Lehre an dem Wunderglauben hatte. Die Naturgesetze, deren Entdeckung der Stolz der neuen Wissenschaft war, konnten keine Ausnahme zulassen, und so war durch sie jener Stütze der Glaubenslehre der Boden entzogen. Durch alles dies war aber nicht etwa nur die überlieferte Kirchenlehre erschüttert, sondern weit mehr. Religion und Moral selber waren in ihren Grundlagen wankend geworden, in ihrem Ansehen und ihrer Existenz bedroht. Denn ihr Fundament, die geoffenbarte Kirchenlehre, war ihnen genommen, und die Naturwissenschaft vermochte nicht, ein neues Fundament an deren Stelle zu setzen. Im Gegenteil, diese Naturwissenschaft mußte sich mehr und mehr als irreligiös erweisen. Sie konnte keine neuen Wege aufzeigen, die verlorenen Güter zu ersetzen. Ihr Weltbild ließ keinen Raum für die Hoffnungen des Glaubens, und ihre Lehren widersprachen der Ansicht von einer höherea Bestimmung der Menschheit. Indessen kamen noch andere Einflüsse hinzu, die die kirchliche Lehre in Schwierigkeiten verwickelten und ihrer Machtstellung Abbruch taten. Da ist zunächst der Humanismus, die Wiederanknüpfung an die antike Kultur, insbesondere das Studium der griechischen Literatur. Da ist ferner zu nennen die Reformation und in Verbindung mit beiden die allmähliche Aufnahme der geschichtlichen Studien und der Quellenkritik, die naturgemäß auch zu einer Kritik der religiösen Tradition und ihrer Quellen führen und die Erschütterung des Vertrauens zu dieser Lehre nach sich ziehen mußte. Aber die Rolle, die alle diese Einflüsse in bezug auf die li.nderung der religiösen Denkart gespielt haben, kann

36

Vorbetrachtungen

an Bedeutung doch nicht verglichen werden mit dem Einfluß der emporblühenden Naturwissenschaften. Die im Kampf mit der kirchlichen Lehre entscheidende Macht war die moderne Naturforschung. Sie verdankt die beherrschende Stellung, zu der sie auf stieg, besonders zwei Umständen. Der eine von diesen war die Möglichkeit, die sie jedermann bot, ohne alle gelehrten Hilfsmittel ihre Ergebnisse nachzuprüfen, den Gang ihrer Forschung als zwingend zu erkennen, allein mit Hilfe des eigenen Verstandes. Der andere Umstand war die Überzeugungskraft, die von ihren Ergebnissen ausging und die sich darin zeigte, daß sich die Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Theorien durch Beobachtungen und Experimente bestätigen ließen und daß sich so die Voraussagungen, die auf theoretischem Wege gemacht werden konnten, an den Tatsachen bewahrheiteten. Dies gab den Lehren der Naturforschung eine Evidenz, der auf die Dauer keine gegnerische Macht standhalten konnte. Eine bezwingende Kraft, wie sie von dieser Evidenz ausging, kam keiner der anderen Bestrebungen zustatten, durch die der Kirchenlehre Gefahr drohte, und darum konnte keine von ihnen die gleiche durchschlagende Wirkung haben. Die Philosophie sah sich dadurch vor die große Aufgabe gestellt, den Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion zu lösen, sei es, daß sie ihn schlichtete durch die Aufzeigung der Möglichkeit einer friedlichen Nebenordnung beider, sei es, daß sie die eine als irrig verwarf und die andere allein in ihre Rechte einsetzte. Es handelte sich auf alle Fälle darum, die Rechte beider gegeneinander abzugrenzen. Dies ist das große Problem der neueren Philosophie, kulturgeschichtlich betrachtet. Allerdings, die Formulierung dieses Problems erlaubt noch eine bedeutende Verallgemeinerung. Die einmal wachgewordene Kritik konnte sich nämlich unmöglich auf ein bestimmtes Gebiet beschränken. Sie mußte weitergreifen und ihre Ansprüche ausdehnen auf alle überkommenen Institutionen. Sie mußte nicht allein die kirchliche Lehre in ihren Bereich ziehen, sondern auch die weltlichen Mächte und mußte die Frage aufwerfen, worauf diese ihren Anspruch auf Herrschaft und Verbindlichkeit gründeten. So kamen, wie die Ansprüche der Religion, auch die der Moral und des Rechts in Frage. Es wird die Aufgabe der Philosophie, nach einem damals üblich gewordenen Ausdruck, die Möglichkeit

Neuere Philosophie kulturgeschichtlich betrachtet

37

einer natürlichen Religion, einer natürlichen Moral und eines natürlichen Rechts zu prüfen. Das »Natürliche« wird hierbei dem »Positiven« entgegengesetzt, das heißt dem, was auf bloßem Herkommen oder willkürlicher Satzung beruht, und bezeichnet eine Geltungsweise, die sich aus der menschlichen Vernunft allein begründen läßt. Man kann das allgemeine Problem der Aufklärung nicht besser ausdrücken als durch die Anführung eines Wortes von Lessing. Dieser hat den berühmten Satz ausgesprochen: »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten niemals werden.« Lessing hat dies Wort ausgesprochen zwar nur in unmittelbarem Hinblick auf die Wahrheiten der Religion, aber dieser Satz hat eine allgemeine Bedeutung, eine Bedeutung nicht allein für die Begründung der religiösen, sondern auch für die der sittlichen und rechtlichen Wahrheiten. Die Quelle der notwendigen Wahrheiten auf allen diesen Gebieten in der menschlichen Vernunft auf zuweisen, das ist die Aufgabe der Philosophie. Darum ist es zuerst und vor allem anderen ihre Aufgabe, das Denken zu befreien aus den Fesseln der Tradition. Die Wissenschaft mußte aufhören, die Magd der Theologie zu sein. Es mußten aber darüber hinaus neue Normen an die Stelle der alten gesetzt werden. Man mußte suchen nach einer rationalen Grundlage für die Wahrheiten der Religion, der Moral und des Rechts. Einer solchen philosophischen Begründung bedurfte es aber nicht allein im Kampf gegen die noch übermächtige Tradition, sondern auch im Kampf gegen den Skeptizismus, der naturgemäß mit der allgemeinen Tendenz zur Kritik erwachen mußte und in dessen Konsequenz es lag, sich gegen alle notwendigen Wahrheiten und alle festen Normen überhaupt zu wenden, mit der schwankenden positiven Moral und mit dem positiven Recht alle Moral und alles Recht in ihrer Verbindlichkeit anzuzweifeln. Und endlich mußte auch die Frage auftauchen: Worauf beruht denn die Autorität dieser neuen Naturforschung selber? Welches sind denn die Quellen ihrer Gewißheit und ihrer Ansprüche? Wir können also zusammenfassend sagen: Es handelt sich in der neueren Philosophie um die Aufgabe, die Möglichkeit zu prüfen, kraft der menschlichen Vernunft allein zu festen Normen für das menschliche Denken und Handeln zu gelangen.

3.

KAPITEL

Die Aufgabe der neueren Philosophie dialektisch betrachtet und der Streit der Rationalisten und Empiristen I.

DER UNIVERSALIENSTREIT

UND DAS AUFTRETEN DER NATURWISSENSCHAFT

Seit dem Altertum herrscht in der Philosophie die Vorstellung von der Möglichkeit einer Wissenschaft des übersinnlichen. Das Ideal dieser Wissenschaft sah man an als das Ideal der Philosophie. Die Wissenschaft vom übersinnlichen war das eigentliche Rätsel und die Aufgabe der Metaphysik. Zur Lösung dieses Rätsels boten sich zwei Wege. Der eine war der der sogenannten Neoplatoniker oder Mystiker. Der andere war der der Scholastiker. Die Mystiker dachten sich die Lösung dieser Aufgabe so, daß sie sich auf eine höhere Anschauung stützten, eine Anschauung des göttlichen Wesens, während die Scholastiker auf dem Wege begrifflichen Denkens das gesteckte Ziel zu erreichen hoffien. Diese beiden Bestrebungen standen in einem verschiedenen Verhältnis zur Kirchenlehre, und das wurde auch für ihre geschichtliche Entwicklung von Bedeutung. Der Mystizismus mußte in ein gespanntes Verhältnis zur Kirchenlehre treten. Und umgekehrt: Die Kirche mußte ihn mit Mißtrauen betrachten. Denn der Mystizismus bringt eine Gefahr für die Kirchenlehre mit sich dadurch, daß er das Individuum von der Tradition emanzipiert, indem er ihm einen eigenen, von der Kirche unabhängigen Standpunkt gegenüber dem übersinnlichen erschließt. Wenn ich ein eigenes Anschauungsvermögen habe, durch das ich unmittelbar mit Gott und der Geisterwelt in Verbindung treten kann, so bin ich nicht angewiesen auf die Vermittlung der göttlichen Wahrheit

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

39

durch die Kirche. Der bloße Anspruch auf ein solches Vermögen gibt daher schon zum Verdacht der Ketzerei Anlaß. Aus diesem Grunde durfte die Kirche die Schule der Neoplatoniker oder Mystiker nicht aufkommen lassen. Aber die Versuche der Mystiker mußten andererseits auch wissenschaftlich unbedeutend bleiben; denn die Intuitionen des Mystikers müssen von ihm persönlich erlebt werden und lassen sich nicht mitteilen. Was sich mitteilen lassen soll, das muß sich in allgemeine Begriffe fassen lassen, und dem entziehen sich die mystischen Intuitionen. Daraus erklärt es sich, daß das Unternehmen der Mystiker wissenschaftlich wenig vorwärtsführte, wenn es auch dazu beitrug, die Macht der Kirche über die Geister zu erschüttern. Anders verhält es sich mit dem Unternehmen der Scholastiker. Die Lehren der Scholastik konnten als ein willkommenes Instrument dienen, dem Unglauben und de~ Zweifel an der kirchlichen Lehre entgegenzuwirken. Zu diesem sogenannten »apologetischen« Zweck hatte man sie herangezogen, und in seinem Dienst sah die scholastische Philosophie ihren Beruf. Sie war recht eigentlich die »ancilla theologiae«: die Magd der Theologie. Ihr Zweck war also der Schutz des Kirchenglaubens und nicht die Verdrängung des Kirchenglaubens durch eine freie wissenschaftliche Erkenntnis der religiösen Wahrheiten. Der logizistische Charakter der Scholastik, das heißt ihre Eigentümlichkeit, daß sie aus bloß logischen Quellen ihre Erkenntnis zu schöpfen sucht, mußte auf die Frage nach der Bedeutung der allgemeinen Begriffe führen. So erklärt es sich, daß die scholastische Philosophie in dialektischer Hinsicht gekennzeichnet ist durch den Streit um die Bedeutung der sogenannten Universalien, das heißt durch den Streit um die Realität des Allgememen. In der Tat: Die scholastische Philosophie ist gegenüber der Philosophie der Mystiker gekennzeichnet dadurch, daß sie nicht aus der Anschauung schöpft, sondern aus dem bloßen Denken. Das Denken bezieht sich aber unmittelbar nur auf Begriffe. Wenn also durch bloßes Denken eine Erkenntnis des übersinnlichen möglich sein soll, so muß man die Realität der allgemeinen Begriffe behaupten. Man muß behaupten, daß wir in den Begriffen übersinnliche Wesenheiten erkennen, und diesen eine Existenz zuschreiben, die von der der sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände unabhängig ist. Und man kam wirklich dazu, in

40

Vorbetrad1tungen

den allgemeinen Begriffen den Erklärungsgrund und den Seinsgrund für das einzelne Wirkliche zu suchen. Gegen diese Lehre von der Realität des Allgemeinen, kurz Realismus genannt, erhob sich auf der anderen Seite der sogenannte Nominalismus. Dieser leugnet die Existenz des Allgemeinen und lehrt, daß die Annahme einer solchen auf bloßer Selbsttäuschung beruht. Es gibt nach ihm nicht allgemeine Gegenstände, sondern es ist nur die Einheit des Wortes (Nomen), wodurch wir eine Vielheit von Einzelgegenständen zusammenfassen. Der Nominalismus leugnet also die Möglichkeit allgemeiner Begriffe überhaupt und behauptet, daß wir außer der sinnlichen Erkenntnis der einzelnen Gegenstände nur noch Worte übrigbehalten, aber keine diesen entsprechenden Vorstellungen oder gar Erkenntnisse von Gegenständen. Dieser Streit des Realismus und Nominalismus, der sogenannte Universalienstreit, wurde mit viel Spitzfindigkeit und Weitschweifigkeit geführt. Er dehnte sich sehr lange aus. Aber er blieb äußerst unfruchtbar, und zwar darum, weil die dialektischen Hilfsmittel der Philosophie damals noch nicht genügend entwickelt waren, um eine klare Lösung zu erlauben, und es auch noch nicht sein konnten. Wir müssen heute sagen, daß im Grunde beide Teile bei diesem Streit unrecht hatten. Der Realismus hatte unrecht, wenn er behauptete, daß die Begriffe selbst als wirkliche Gegenstände anzusehen seien. Es gibt keine allgemeinen Gegenstände, sondern es gibt nur einzelne Gegenstände. Was wir darüber hinaus besitzen, sind nur Begriffe von diesen Gegenständen, allgemeine Merkmale, wonach wir die einzelnen Gegenstände in Klassen einteilen, Prädikate möglicher Urteile über diese Gegenstände. Auf der anderen Seite irrte der Nominalismus, wenn er behauptete, daß wir neben der Erkenntnis der einzelnen Gegenstände nur noch Worte besitzen und keine Begriffe. In der Tat besitzen wir Begriffe, und jedermann bedient sich ihrer als Prädikate seiner Urteile. Man kann nicht sagen, daß in diesem Streit eine Entscheidung herbeigeführt wurde. Er verlor sich in unfruchtbaren Spitzfindigkeiten. Was wirklich weiterführte, das war ein neues Element, das dazwischentrat, nämlich die Naturwissenschaft. Der Zwiespalt, der dem Universalienstreit zugrunde lag, zwischen der sinnlichen Erkenntnis des Einzelnen und der gedachten Erkenntnis des Allgemeinen, dieser Zwie-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

41

spalt wurde überwunden nicht durch die Fortführung philosophischer Disputationen, sondern durch die Tat. Diese Tat war die Schöpfung der Naturwissenschaft, insbesondere der Physik. Die Naturwissenschaft lehrt uns wirklich ein Allgemeines kennen, das zwar nicht als eine Wesenheit eigener Art von den Gegenständen der sinnlichen Erkenntnis unabhängig ist und Gegenstand einer höheren, übersinnlichen Erkenntnis sein könnte, das aber dennoch nicht ein bloßer Begriff ist, sondern ein Gesetz. Im Gesetz liegt die Realität des Allgemeinen. Aber dieses Gesetz ist nicht der Gegenstand einer übersinnlichen Erkenntnis. So hatte die Entstehung der Naturforschung die Folge, daß die alte Fragestellung, die sich um die Universalien drehte, vergessen wurde und eine andere an deren Stelle trat. Damit kommen wir auf das eigentlich Neue, das die neuere Philosophie von der alten dialektisch trennt. Dieses Neue ist, um es mit einem Worte zu bezeichnen, der Naturbegriff. Er ist in der Tat etwas durchaus Modemes, der alten Philosophie Fremdes. Wenn man gelegentlich die Behauptung hört, daß im Grunde alle Probleme der neueren Philosophie schon in der alten zu finden seien, so beruht das auf einer Verkennung der Tatsache, daß den Griechen unser Naturbegriff fremd gewesen ist. Die Entwicklung dieses Begriffes brachte den ganzen Reichtum der neueren Philosophie mit sich. Wie das immer klarere Hervortreten dieses Begriffes zur Emanzipation von der Kirchenlehre führen mußte, habe ich schon erörtert. Jetzt fragen wir uns, was die Einführung dieses Begriffes dialektisch an Fortschritten mit sich brachte. Ein solcher Fortschritt liegt zunächst in der Abkehr von der Scholastik. Positiv aber führte die Entwicklung des Naturbegriffs zu einer Kritik der Quellen der Gewißheit. Es entstand nämlich zunächst die Frage: Worauf beruht es, daß wir den Lehren der Naturwissenschaft unser Vertrauen schenken und den ihr widersprechenden Lehren unser Vertrauen entziehen? Welches sind die Kriterien der Wahrheit, deren wir uns dabei bedienen? In der Verfolgung dieser Fragestellung mußte man sich von der Scholastik immer mehr entfernen. Wir können zwar nicht sagen, daß man sich sogleich der Scholastik entledigte, vielmehr bildete man sie langsam, fast unmerklich, um und gelangte allmählich dazu, sie von ihrer apologetischen Tendenz loszulösen und die Philosophie nach dem Ideal der so erfolgreich fortschreitenden neuen Wissenschaften umzugestalten.

42

Vorbetrachtungen

Das Imponierendste, was die neue Wissenschaft in dialektischer Hinsicht darbot, fand man in der Mathematik. Die Mathematik war das mächtige Rüstzeug, das die Naturwissenschaft von Triumph zu Triumph führte. Nach ihrem Muster strebte man daher danach, auch die Philosophie auszubilden. Man meinte, der Weg zur Metaphysik als strenger Wissenschaft sei zu finden in der Nachahmung der mathematischen Methode. Man hoffie also, durch die Aufstellung möglichst einfacher und allgemeiner Definitionen und Axiome einen festen Boden zu schaffen, auf dem sich dann rein syllogistisch, das heißt durch bloßes Schließen, ein Gebäude der Metaphysik errichten ließe, das an Festigkeit und Exaktheit der Resultate denen der Mathematik nichts nachzugeben brauchte. Die glänzendsten Namen dieser philosophischen Schule, die man die rationalistische nennt, sind Descartes und Leibniz, auch Spinoza und Wolff gehören dazu. Dieser rationalistischen Schule trat nun eine andere gegenüber: die empiristische. Wahrend sich die rationalistische Schule orientiert an dem Vorbild der neuen Mathematik, orientiert sich die empiristische Schule an der neuen Erfahrungswissenschaft und ihrer Methode, der Induktion. Die bedeutendsten unter ihren Vertretern sind Bacon und Locke, auch Hobbes und Berkeley. Die empiristische Schule vertraut nicht, wie die rationalistische, auf die Kraft des reinen Verstandes. Sie geht im Gegenteil davon aus, daß der menschliche Verstand unvermögend sei, metaphysische Wahrheiten von sich aus zu entdecken; denn wenn er auch wohl aus anderweit gegebenen Erkenntnissen weiterzuschließen vermag, so vermag er doch nicht selbstschöpferisch neue Erkenntnisse zu erzeugen. Wahrend daher die Rationalisten unter Berufung auf das Vorbild der Mathematik die Möglichkeit einer rationalen Erkenntnis der Wahrheit auch in der Metaphysik behaupten, bestreiten die Empiristen diese Möglichkeit unter Berufung auf die Leerheit des bloßen Verstandes und die Fruchtbarkeit der Erfahrungswissenschaften. Der Fortschritt der Wissenschaft bewegt sich im Streit dieser beiden Schulen. Dieser Streit wird vorwiegend mit psychologischen Mitteln geführt - ganz natürlich; denn er bezieht sich ja auf die Quellen unserer Erkenntnis. Er spitzte sich zu auf die Frage nach der Existenz der sogenannten angeborenen Ideen. In der Tat mußten die Rationalisten, um ihre Position folgerichtig behaupten zu können, ihre Zuflucht neh-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

43

men zu der psychologischen Hypothese angeborener Begriffe. Denn wenn wirklich der Verstand für sich allein die Quelle neuer Erkenntnis sein soll, so muß er einen ursprünglichen Schatz eigenen Wissens in sich enthalten. Dieses eigene, von aller Erfahrung unabhängige Wissen kann er offenbar nur schöpfen aus Begriffen. Es müßte also in der Tat der Verstand von sich aus schon, vor aller Erfahrung, im Besitz gewisser Begriffe sein. Die Existenz angeborener Begriffe bestreitet nun auf der anderen Seite der Empirismus unter Berufung auf die psychologischen Tatsachen. Auf Grund dieser Tatsachen stellt er dem Rationalismus den Satz entgegen: Nihil est in intellectu, quod non antea foerit in sensu (Nichts ist im Verstande, das nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre). Der Verstand ist, nach der empiristischen Lehre, von Haus aus eine »tabula rasa«, ein leeres Blatt, ein unbeschriebenes Blatt, wie man deutsch sagt. Er kann nicht von sich aus neue Erkenntnisse erzeugen, sondern er ist zu deren Erlangung angewiesen auf die Sinne. Wir können aus der Erkenntnis, die uns die Sinne liefern, mit Hilfe des Verstandes zwar Schlüsse ziehen, aber nicht einen eigenen, von der Sinnlichkeit unabhängigen Gehalt von Erkenntnissen aus dem Verstande schöpfen. Die Existenz eines solchen eigenen Gehaltes behaupten aber die Rationalisten, und so stellte Leibniz dem empiristischen Satz die Einschränkung gegenüber: nisi intellectus ipse (es sei denn der Intellekt selber). Er zog sich hierbei gegenüber der mit Recht von der Gegenseite geltend gemachten psychologischen Tatsache der Leerheit des Verstandes zurück auf die Behauptung, daß uns die fraglichen Begriffe, die offenbar nicht der Erfahrung entlehnt sind, sondern ein Eigentum des reinen Verstandes bilden, zwar nicht aktuell, aber doch virtuell angeboren seien, das heißt, daß sie nicht der Wirklichkeit, aber der Möglichkeit nach vor aller Erfahrung uns innewohnen. Hierdurch kam man in der Tat der psychologischen Wahrheit wesentlich näher. Aber die Sache blieb doch unklar und der Streit verworren. Denn wie sollen wir es verstehen, daß dem Verstande gewisse Begriffe der Möglichkeit nach innewohnen? Wir gelangen zu den Begriffen nur durch Abstraktion von irgendeinem Stoff der Erkenntnis wirklicher Gegenstände. Ohne die Erkenntnis w~rklicher Gegenstände, wie sie uns durch die Sinne zuteil wird, müßte der Verstand leer bleiben, wenn er

44

Vorbetrachtungen

es ursprünglich ist. Ohne einen eigenen ursprünglichen Gehalt würde ihm alle Kunst der Abstraktion doch nur zur Bildung empirischer Begriffe verhelfen. Nur solche könnten es sein, die virtuell angeboren wären, das heißt, die zu bilden der Verstand von sich aus die Möglichkeit mit sich bringt. Das heißt ja nichts anderes, als dem Verstand das Vermögen der Abstraktion zuschreiben, der Begriffsbildung durch Abstraktion. Bei der damaligen Lage der Psychologie konnte man in dieser Streitfrage nicht weiter vorwä,rtsdringen. Man gab schließlich auf beiden Seiten zu, daß wir nur durch Abstraktion zum Bewußtsein der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten gelangen. Aber man dachte sich diese Abstraktion auf beiden Seiten verschieden. Die Rationalisten suchten darin eine eigene Erkenntnisquelle und hätten ohne diese Auffassung auch nicht an der Behauptung festhalten können, daß der Verstand unser Wissen wirklich erweitern kann. Ebenso wurde das Wesen der Abstraktion aber auch mißverstanden von den Empiristen. Siebemerkten ganz richtig, daß die hinsichtlich ihres Ursprungs umstrittenen notwendigen Wahrheiten nur im Laufe der Erfahrung klarwerden, daß das Bewußtsein um das Allgemeine und Notwendige das Letzte ist, zu dem wir nur stufenweise durch Abstraktion vom Bewußtsein um das Einzelne und Zufällige aufsteigen. Aber sie schlossen daraus fälschlicherweise, daß die Erfahrung den Erkenntnisgrund dieser Wahrheiten bildet. Sie verwechselten den an sich zufälligen Anlaß für das Eintreten einer Erkenntnis ins Bewußtsein mit der Quelle dieser Erkenntnis selbst. Hierbei konnten sie sich freilich dem Anschein nach auf den Tatbestand berufen, wie er ihnen im Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis vor Augen trat. Wir können das Bestehen eines Naturgesetzes nur aus den beobachteten Tatsachen oder dem Experiment erschließen. Hier ist also die Beobachtung oder das Experiment wirklich der Erkenntnisgrund der erschlossenen Wahrheit. Vergleichen wir aber damit die Art der Abstraktion, die uns etwa auf ein mathematisches Gesetz führt! Man kann auch hier mit Recht sagen, daß wir nur durch Abstraktion von der Erfahrung zu der Einsicht in das Gesetz gelangen, in das Gesetz zum Beispiel, daß der Betrag einer Summe unabhängig ist von der Reihenfolge der Glieder, oder daß die gerade Linie die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist. Zum Bewußtsein um ein solches Gesetz kommen wir nur durch Abstraktion von einzelnen Beispielen aus der

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

45

Erfahrung. Aber dieses Gesetz läßt sich hinsichtlich seines Erkenntnisgrundes doch auf keine Erfahrungstatsache stützen. Es gilt, wenn es überhaupt gilt, unabhängig von den Erfahrungstatsachen. Von den Gesetzen der Physik können wir das gleiche nicht sagen. Nur die Beobachtung gewährleistet uns ihre Gültigkeit. Um daher ein Gesetz, wie die genannten mathematischen, als gültig zu behaupten, unabhängig von allen Erfahrungen, von denen es abstrahiert worden ist, dazu müssen wir einen anderen Erkenntnisgrund als die Erfahrung haben. Die Abstraktion, die uns auf dieses Gesetz führt, kann hier nur die Bedeutung haben, daß sie die verschiedenen Erkenntnisarten, die sonst vermengt in unserem Geiste liegen, sondert und uns die eiine getrennt von der anderen zum Bewußtsein bringt. Jedermann hat die Erkenntnis, daß eine Summe unabhängig ist von der Reihenfolge der Glieder, und jedermann hat die Erkenntnis, daß die gerade Linie die kürzeste Verbindung zweier Punkte ist; jedermann wendet solche Erkenntnisse täglich an. Aber nicht jeder ist sich dieser Erkenntnisse in abstracto bewußt. Er hat das Bewußtsein der Wahrheit dieser Gesetze nicht abgesondert von ihren einzelnen Anwendungen. Erst eine Abstraktion von den besonderen Fällen der Anwendung bringt sie ihm in ihrer Allgemeinheit zum Bewußtsein. Diese Abstraktion ist etwas anderes als die Induktion, die uns zur Erkenntnis der Naturgesetze führt. Diese erschließt in der Tat das Gesetz aus den Beobachtungen. Die Beobachtung spielt also hinsichtlich der Gültigkeit beider Arten von Gesetzen eine verschiedene Rolle. Die E,rkenntnis des Naturgesetzes steht nicht unabhängig von der Beobachtung fest. Es hat in ihr wirklich seinen Erkenntnisgrund. Dieser Unterschied der beiden Arten der Abstraktion konnte damals noch nicht klarwerden, weil man auf beiden Seiten in der Annahme befangen war, daß jede Erkenntnis entweder aus den Sinnen oder aus dem bloßen Verstande entspringen müßte. Unter dieser Voraussetzung, die unausgesprochen auf beiden Seiten anerkannt wurde und gar nicht in die Diskussion gezogen wurde, offenbar, weil man sich ihrer gar nicht bewußt war als einer besonderen Voraussetzung, unter dieser Voraussetzung war man genötigt, entweder, um nicht die Leerheit des bloßen Verstandes verleugnen zu müssen, die Sinne allein als Erkenntnisquelle anzuerkennen, wie dies die Empiristen taten, oder aber die Existenz einer von den Sinnen unabhängigen Erkenntnis zu

46

Vorbetrachtungen

behaupten und diese dann auf den bloßen Verstand zurückzuführen, wie dies die Rationalisten taten. Dies ist der Grund, weshalb man in dem Streit des Rationalismus und des Empirismus zu keiner Einigung gelangen konnte. Wir wollen jetzt auf die dialektische Form dieses Streites selbst noch etwas tiefer eingehen, und wir wollen das darum tun, weil wir hier zum ersten Male auf ein bestimmt durchgeführtes und klar greifbares Beispiel eines Typus von dialektischen Streitfragen stoßen, wie wir ihn häufig wieder antreffen werden in unseren weiteren Betrachtungen. Es sind im Grunde einfache und genau zu überschauende Schlüsse, mit denen man in diesem Streit einander entgegentritt. Wir haben auf der einen Seite die Behauptung der Existenz von Erkenntnissen a priori, das heißt von Erkenntnissen, die nicht aus der Erfahrung geschöpft sind. Wir haben auf der anderen Seite die Behauptung von der ursprünglichen Leerheit des Verstandes, wie wir sie kurz nennen können, die Behauptung nämlich, daß der Verstand, das heißt das bloße Denkvermögen, von Haus aus keinen Gehalt an Erkenntnissen mitbringt. Nun schließt man auf der einen Seite aus der Existenz von Erkenntnissen a priori auf die Existenz von Erkenntnissen aus bloßem Verstande und auf der anderen Seite aus der Unmöglichkeit von Erkenntnissen aus bloßem Verstande auf die Unmöglichkeit von Erkenntnissen a priori. Da »a priori« soviel bedeutet wie »nicht aus der Erfahrung entspringend«, so könnte man daher den letzten Satz auch positiv formulieren: Alle Erkenntnis entspringt aus der Erfahrung. Die Prämisse jeder Seite ist gerade das Gegenteil des Schlußsatzes der anderen Seite. Man begründet die eigene These dadurch, daß man sich einer indirekten Beweisführung bedient, das heißt man greift die These des Gegners an und schließt von der Falschheit der gegnerischen These auf die Richtigkeit der eigenen. Man geht aus von einer Widerlegung der gegnerischen Position, um daraus die Wahrheit der eigenen zu erschließen. Dieser Übergang scheint rein logisch zu erfolgen, und darin liegt das anscheinend Zwingende der Argumentation auf beiden Seiten. Darum erscheint es hoffnungslos, diesen Streit zu entscheiden; denn auf beiden Seiten ist der gleiche Zwang. Welches ist aber in Wahrheit der Grund dieses Zwanges? Es ist schon auffällig, daß hier ein Schluß anscheinend aus einer einzigen Prämisse

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

47

gezogen wird. Es läßt sich also vermuten, daß noch eine zweite Prämisse ins Spiel kommt, die versteckt dem Schluß zugrunde liegt. Und in der Tat behauptet die einzige ausgesprochene Prämisse im ersten Schluß die Existenz von Erkenntnissen a priori, der Schlußsatz dagegen die Existenz von Erkenntnissen aus bloßem Verstand. Dieser Schluß ist zulässig nur, wenn jede Erkenntnis a priori eine Erkenntnis aus bloßem Verstand ist, wenn also - da umgekehrt gewiß jede Erkenntnis aus bloßem Verstand eine Erkenntnis a priori ist - der Begriff »Erkenntnis a priori« gleichgesetzt werden darf mit dem Begriff »Erkenntnis aus bloßem Verstand«. Damit ist die vermutete versteckte Prämisse aufgewiesen; sie lautet: Erkenntnis a priori ist identisch mit Erkenntnis aus bloßem Verstand. Diese Gleichsetzung ist aber auch die fehlende Prämisse für den zweiten Schluß, der aus der einen Voraussetzung, daß Erkenntnisse aus bloßem Verstand unmöglich sind, den Schlußsatz ableitet, daß es keine Erkenntnisse a priori gibt, daß vielmehr alle Erkenntnis aus der Erfahrung entspringt. Die Folgerung ist also auf beiden Seiten im Grunde die gleiche: Einmal wird aus der Bejahung einer Behauptung a auf die Bejahung einer anderen Behauptung b geschlossen, das ande·re Mal aus der Verneinung von b auf die Verneinung von a, in beiden Fällen unter der stillschweigend gemachten zusätzlichen Voraussetzung, daß die Behauptungen a und b inhaltlich dasselbe besagen. Die unausgesprochene gemeinsame Prämisse beider Schlüsse, wonach Erkenntnis a priori identisch ist mit Erkenntnis aus bloßem Verstand, behauptet nun die Vollständigkeit der Disjunktion von Erkenntnis aus Erfahrung einerseits und Erkenntnis aus bloßem Verstand andererseits. Denn Erkenntnis a priori war ja definiert als Erkenntnis, die nicht aus der Erfahrung stammt. Wenn die Begriffe »Erkenntnis nicht aus Erfahrung« und »Erkenntnis aus bloßem Verstand« identisch sind, dann besteht in der Tat eine vollständige Disjunktion zwischen Erkenntnis aus Erfahrung und Erkenntnis aus bloßem Verstand und damit eine vollständige Disjunktion zwischen Erfahrung und Denken, zwischen Sinn und Verstand. Es gilt dann das »Tertium non datur«. Diese Disjunktion wäre logisch gesichert, wenn von den Begriffen »Erkenntnis aus Erfahrung« und »Erkenntnis aus bloßem Verstand« der eine als die Negation des anderen definiert wäre. Wenn wir unter» Verstand«

48

Vorbetrachtungen

die Quelle der Erkenntnisse verstünden, die nicht sinnlichen Ursprungs sind und also nicht aus der Erfahrung entspringen, dann wäre »Verstand« nur ein anderer Name für das Vermögen von Erkenntnissen a priori. Oder umgekehrt, wenn wir unter ·»Erfahrung« oder unter »Sinn« die Quelle der Erkenntnisse verstünden, die nicht aus bloßem Verstand entspringen, nun, dann hätten wir wieder eine logische vollständige Disjunktion zwischen Sinn und Verstand, und die Schlüsse bedürften keiner weiteren Voraussetzung. Damit sagen wir ja wieder nichts anderes, als daß man die beiden Begriffe »Erkenntnis a priori« und »Erkenntnis aus bloßem Verstand« vertauschen dürfte. Wir hätten dann dementsprechend dieselben Aussagen, wir hätten gar keine Schlüsse, sondern logische Identitäten, Sätze, die sich nur dem Wortlaut nach unterscheiden. Wir können auch sagen, wir hätten nur den trivialen Satz, wonach es sich widerspricht, das, was von dem Gegenstand eines Begriffes behauptet wird, von dem Gegenstand dieses Begriffes zu verneinen. Aber so ist es offenbar nicht gemeint, sonst wäre dieser ganze Streit unverständlich. Der Verstand ist positiv verstanden als das Vermögen der Begriffe und also des Denkens. Daher ist das »Tertium non datur« nicht anwendbar. Wir schreiben logisch vollständige Disjunktionen nebeneinander: Erkenntnis aus bloßem Verstand

Erkenntnis nicht aus bloßem Verstand

Erkenntnis nicht aus Erfahrung

Erkenntnis aus Erfahrung

Wir haben zwei derartige Disjunktionen. Aber daß die untereinanderstehenden Begriffe sich decken, daß also Erkenntnis aus Erfahrung und Erkenntnis aus Verstand, oder, was dasselbe besagt, Erkenntnis nicht aus Verstand und Erkenntnis nicht aus Erfahrung vollständige Disjunktionen sind, das ist zunächst eine willkürliche Behauptung, die zumindest erst anderweitig begründet werden müßte. In dieser Behauptung liegt die versteckte Prämisse von der Vertauschbarkeit der Begriffe »Erkenntnis a priori« und »Erkenntnis aus bloßem Verstand«. Wir haben hier also eine Erschleichung vor uns. Die unzweifelhafte Gewißheit des trivialen Satzes, der behauptet, daß die Bejahung von a und die Verneinung von a einander widersprechen, wird übertragen

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

49

auf den ihm untergeschobenen ganz anderen Satz, der den Widerstreit zwischen der Bejahung von a und der Verneinung von b behauptet. Die erörterten logischen Zusammenhänge finden ihre Veranschaulichung in dem folgenden Schema: Erkenntnis nicht aus Erfahrung (a)

Erkenntnis aus bloßem Verstand (b)

Nicht alle Erkenntnis entspringt aus der Erfahrung

Es gibt keine Erkenntnisse aus ~loßem Verstand

(Bejahung von a)

(Verneinung von b)

Es gibt Erkenntnis aus bloßem Verstand

Alle Erkenntnis entspringt aus der Erfahrung

(Bejahung von b)

(Verneinung von a)

In diesem Schema tritt uns zum ersten Mal eine Methode der Argumentation entgegen, die wir in der Geschichte der Philosophie häufig antreffen. Es wird sich als typisch erweisen, daß im Streit philosophischer Lehren die Vertreter beider Seiten die eigene Lehre nicht durch eine direkte Beweisführung, sondern durch die Widerlegung der entgegenstehenden Auffassung sicherzustellen suchen. Bei dieser indirekten Argumentation gelingt nun in vielen Fällen auf beiden Seiten der Übergang von der Bestreitung der Ansicht des Gegners zur Aufstellung der eigenen Behauptungen nur durch einen Schluß aus derselben stillschweigend vorausgesetzten unvollständigen Disjunktion, die der einen wie der anderen Parrei auf Grund einer gemeinsamen Begriffsverschiebung verborgen bleibt. Hinter solchen Begriffsverschiebungen stehen in der Regel bestimmte Nominaldefinitionen, die einem Wort eine philosophische Bedeutung beilegen, ohne daß man dabei prüft, ob diese Worterklärung den Sinn trifft, in dem das Wort im gewöhnlichen Sprachgebrauch verwandt wird. Auf das Schema einer solchen Antinomie lassen sich denn auch die meisten dialektischen Streitfragen zurückführen, die uns in der Geschichte der Philosophie begegnen und uns dort zu schaffen machen,

50

Vorbetrachtungen

Streitfragen, über die nur darum von den Schulen so erfolglos gestritten wird, weil man gar nicht daran denkt, an der Richtigkeit der den beiden Parteien gemeinsamen Voraussetzung zu zweifeln, so daß die Strenge der Schlüsse, auf die man allein pocht, auf beiden Seiten gleich unanfechtbar bleibt. Die fragliche gemeinsame Voraussetzung einmal zu prüfen, darauf kommt man nicht, weil sie in den fraglichen Schlüssen explizite gar nicht auftritt. Nur der kann sie aufsuchen und prüfen, der schon damit rechnet, daß überhaupt noch eine stillschweigende und unbegründete Voraussetzung ins Spiel kommen könnte, und der bedenkt, daß sich hinter der durch bloße Worterklärungen eingeführten Begriffsbildung eine eigene Behauptung verbirgt. Hinter einer solchen willkürlichen Umdeutung des Wortsinnes verbirgt sich nämlich die Vertauschung zweier Begriffe. Diese Willkür rächt sich dadurch, daß man alsbald unvermerkt doch wieder den alten Begriff mit dem Wort bezeichnet, zu dessen Bezeichnung es früher diente, und dadurch die Eigenschaften, die den Gegenständen des einen Begriffs wirklich zukommen, überträgt auf die Gegenstände des anderen, scheinbar ohne daß es dazu eines Beweisgrundes bedürfte, weil dieser Übergang durch die vermeintliche Identität der Begriffe gesichert erscheint. Sich dieser versteckten Voraussetzung bewußt zu werden, das gelingt so schwer, eben weil sie nur entspringt aus der Nichtbeachtung der Verschiedenheit zweier Begriffe und daher auf die Selbstverständlichkeit der Identität eines Begriffes mit sich selber zurückzugehen scheint. Die Identität eines Begriffes mit sich selber bedarf in der Tat niemals einer weiteren Begründung. Solange man also eine Identität der Begriffe vor sich zu haben glaubt, wird man nicht einsehen, warum hier noch eine weitere Begründung erforderlich sein sollte. Man kann darauf erst aufmerksam werden, wenn man einmal alle Sorge um richtiges Schließen beiseite läßt, alle Untersuchung der Konsequenzen zunächst einmal auf gibt und erst eine Erörterung der ins Spiel kommenden Begriffe anstellt, eine Erörterung, das heißt nicht eine willkürliche Nominaldefinition, die ja gerade die Gefahr in sich birgt, daß man durch Verwechslung des definierten Begriffs mit einem anderen, der durch dasselbe Wort bezeichnet wird, zu falschen Behauptungen kommt eine Erörterung der wirklichen Bedeutung, in der man sich der Worte bedient bei solchen Schlüssen.

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

51

Die Notwendigkeit einer solchen Erörterung kann aber erst dem klar werden, der sich nicht von vornherein unter dem scheinbaren logischen Zwang einer einseitigen Schlußweise der Einsicht verschließt, daß sich derselbe logische Zwang für den gerade entgegengesetzten Schluß in Anspruch nehmen läßt. Erst diese Einsicht gibt den Anstoß dazu, die notwendige Erörterung durchzuführen. Daß in unserem Beispiel eine solche versteckte Voraussetzung im Spiele ist und welche es ist, hat unsere Untersuchung ergeben. Ich will nur hinzufügen, daß wir wirklich bei beiden Schulen diese Voraussetzung gleichmäßig vertreten finden. Es läßt sich sehr leicht nachweisen, daß beide sie wirklich anerkennen, daß es nicht nur eine Konstruktion war, durch die wir dieses geschichtliche Phänomen vergewaltigen, indem wir ihm etwas unterschieben, was dabei nicht ins Spiel kam. Nur der Bedeutung, die diese Voraussetzung für die fraglichen Schlüsse hatte, der Rolle, die sie dabei spielte, war man sich nicht bewußt. Man war sich in beiden Schulen einig und blieb sich einig über das, was ich ihren versteckten gemeinsamen Ausgangspunkt nannte: daß nämlich jede Erkenntnis entweder aus dem Verstand oder aus den Sinnen entspringen müßte. Und die Meinungen gingen nur auseinander hinsichtlich der Zuteilung bestimmter gegebener Erkenntnisse an die eine oder andere dieser beiden Erkenntnisquellen. Auf diesen Unterschied reduziert sich der ganze Gegensatz beider Schulen. Die Einteilung aller möglichen Erkenntnisse in diese beiden Grundklassen, Erkenntnisse aus dem Sinn und Erkenntnisse aus dem Verstand, kommt mit besonderer Klarheit zum Ausdruck bei Leibniz in seiner Einteilung der Wahrheiten in »verites de fait« und »verites de raison«, (Tatsachenwahrheiten und Vernunftwahrheiten) oder, wie er sie auch nannte, »verites eternelles« und »verites contingentes«, (ewige Wahrheiten und zufällige Wahrheiten). Und dieselbe Einteilung finden wir auf der Seite der empiristischen Schule wieder, hier zwar meist in psychologischer Einkleidung formuliert, nämlich in der Einteilung der Erkenntnisquellen selber. Da stehen sich nach Lock.es Ausdruck gegenüber: »sensation« und »reflection«. Im Grunde ist dies übrigens gar nichts Neues in der Geschichte der Philosophie, sondern es erbt sich darin nur eine uralte Lehre weiter fort, die schon von Aristoteles, man kann sagen, axiomatisch festgestellt

52

Vorbetrachtungen

worden ist: die Alternative zwischen Erfahrung und Logik. Die allgemeinen Prinzipien, so etwa sagt Aristoteles, aus denen wir auf das Besondere schließen, diese allgemeinen Prinzipien sind letzten Endes die logischen Grundsätze der Identität und des Widerspruchs. Und er unterscheidet demgemäß zwei Methoden der Wissenschaft: Die eine nennt er den Syllogismus und die andere die Induktion. Der Syllogismus, wie er ihn versteht, ist der Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere; das ist die Leistung der Logik. Die Induktion ist umgekehrt für ihn der Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen; das ist die Sache der Erfahrung. Von Interesse ist hier noch, daß wir auf seiten der rationalistischen Schule noch zwei Richtungen unterscheiden können, gleichsam eine gemäßigte und eine extreme rationalistische Richtung. Es handelt sich um die Auffassung von dem Unterschied, den Leibniz bezeichnet als den Unterschied zwischen den verites de fait und den verites de raison. Nach der einen Auffassung, die ich die gemäßigte nenne, sind die beiden Klassen von Wahrheiten grundsätzlich verschieden, und ihr Auseinandertreten ist unvermeidlich für jede wie immer geartete Erkenntnis. Nach der anderen Auffassung, die ich die extreme nenne, handelt es sich bei diesem Auseinandertreten der beiden Klassen von Wahrheiten im Grunde nur um eine subjektive Eigentümlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, eine Eigentümlichkeit, die für eine vollkommene Intelligenz verschwinden müßte, für die nämlich nur die verites de raison übrigblieben. Man dachte sich also die Sache hiernach so, daß zwar der Mensch infolge seiner natürlichen Beschränktheit an diese Trennung gebunden bleibt, so daß sie für ihn allerdings unüberwindlich ist, daß aber der göttliche Intellekt wirklich in der Lage sein müßte, diese Trennung aufzuheben und aus reinem Verstande auch die Wahrheiten zu entwickeln, die für uns zufällige Wahrheiten sind, Tatsachenwahrheiten, für deren Erkenntnis wir an den Sinn gebunden bleiben, daß es also in der Tat für Gott keine verites contingentes gibt, sondern er jede Wahrheit als notwendige Wahrheit aus dem bloßen Begriff des Gegenstandes einzusehen vermag. So behauptet zum Beispiel Pascal, ein typischer Vertreter des extremen Rationalismus, daß es möglich sein müßte, jede Wahrheit zu beweisen, und daß der Grund, warum uns Menschen dies nicht gelingt, nur in der Unvollkommenheit des mensch-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

53

liehen Verstandes liege. Ebenso lehrt Leibniz, daß es für den göttlichen Verstand möglich sei, rein logisch alle Wahrheiten einzusehen, also aus dem bloßen Begriff einer Sache deren sämtliche Eigenschaften zu entwickeln. Wenn uns Menschen dies nicht vergönnt sei, so liege das nur daran, daß unsere sinnliche Erkenntnis zu verworren sei, als daß wir die Zusammensetzung der Begriffe aus ihren Elementen deutlich genug auffassen könnten, um alle Merkmale der unter einen Begriff fallenden Gegenstände aus diesem Begriff zu entwickeln. Leibniz sieht also in der Verworrenheit der sinnlichen Erkenntnis gegenüber der Verstandeserkenntnis den Grund dafür, daß uns die Trennung zwischen verites de fait und verites de raison unüberwindlich bleibt.

II.

DESCARTES ALS BEGRÜNDER DER ERKENNTNISTHEORIE

Wir haben den Streit zwischen den Rationalisten und Empiristen bisher nur von seiner psychologischen Seite betrachtet. Er hat aber eine weitergehende, nämlich erkenntnistheoretische Bedeutung. Worauf es den Streitenden ankam, das war noch etwas anderes als nur die Feststellung des psychologischen Tatbestandes hinsichtlich der angeborenen Ideen. Das war nämlich das Problem der Wahrheitskriterien. Und in diesem Sinne hat denn der Streit eine auch geschichtlich noch weiterreichende Bedeutung, über das Problem der angeborenen Ideen hinaus. Diese erkenntnistheoretische Bedeutung muß uns jetzt beschäftigen. Wir tun da am besten, uns ein wenig vertraut zu machen mit der Auffassung des eigentlichen Begründers dieser ganzen erkenntnistheoretischen Schule, die, man kann sagen, die Rationalisten und Empiristen gemeinsam umfaßt. Sie sind alle Schüler des Descartes in dieser Hinsicht geblieben. Man findet die Entwicklung dieser Gedanken am schönsten dargestellt in Descartes' »Meditationen«. Der Gedankengang, den er hier einschlägt, läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Der Ausgangspunkt ist der Zweifel. Das Ziel ist die Gewißheit. Um zur Gewißheit zu gelangen, zweifeln wir zunächst an allem; wir zweifeln, bis wir an einen Punkt kommen, wo der Zweifel unmöglich wird, weil er sich selbst aufhebt. Dies ist der einzige Weg zur Gewißheit. Eine solche Schranke für die Möglichkeit des Zweifels entdeckt nun

54

Vorbetrachtungen

Descartes wirklich. Er findet sie in der Tatsache des Zweifels selber, in dem »cogito«, »Ich denke«. Ich mag nämlich zweifeln, woran ich will, daran, daß ich zweifle, kann ich nicht wieder zweifeln. Hier ist die Evidenz vollkommen. Hier würde ein Widerspruch entstehen, wenn wir sie leugnen würden; denn um sie zu leugnen, müßten wir doch wieder zweifeln und also denken. Hier haben wir also eine vollkommen klare und deutliche Einsicht in die Wahrheit. Diese Klarheit und Deutlichkeit ist es, was das Kriterium der Gewißheit ausmacht. Jede »Perception«, wie er sagt, die an Klarheit und Deutlichkeit dieser gleichkommt, muß auch die gleiche Wahrheit für sich in Anspruch nehmen. Und eine solche Evidenz besteht in der Tat für alle Ideen, soweit wir uns darauf beschränken, ihre Anwesenheit in unserem Geiste festzustellen, und solange wir uns des Urteils über die Existenz von etwas außerhalb unserer Gedanken enthalten. Wir bleiben indessen nicht auf diese Gewißheit des bloßen Selbstbewußtseins beschränkt. Unter den Ideen, die wi:r in uns finden, ist nämlich auch die des vollkommenen Wesens, die Idee Gottes. Diese Idee hat ihre Ursache weder in uns selbst noch in kgendwelchen äußeren, endlichen Dingen. Die Ursache kann andererseits nicht weniger vollkommen sein als die Wirkung. Infolgedessen schließt Descartes auf die Existenz Gottes als der Ursache der Idee des göttlichen Wesens in uns. Nun würde es aber der Vollkommenheit Gottes widersprechen, wenn der Klarheit und Deutlichkeit der Ideen, die uns durch ihn zuteil geworden sind, nicht auch Wahrheit entspräche. Also verbürgt die Wahrhaftigkeit Gottes die Wahrheit der klaren und deutlichen Ideen in uns. Sie schließt die Möglichkeit einer Täuschung hier aus. Auf diese Weise wird also zwar nicht die Möglichkeit des Irrtums überhaupt bestritten. Vielmehr führt Descartes den Irrtum zurück auf die eigene Willkür des Urteilenden, vermöge deren er abweicht von den klaren und deutlichen Ideen, die nicht auf Tauschung beruhen können. Descartes hat hier sehr richtig die Willkürlichkeit in ihrer Bedeutung für die Urteilsbildung erkannt. Und diese psychologische Erkenntnis bleibt ein wissenschaftliches Verdienst, auch wenn wir von der theologischen Deutung vermittels der Freiheit des Willens hier absehen. So kommt also Descartes zur Idee Gottes als dem höchsten Punkt,

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

55

von dem aus, wie er sagt, eine vollkommene Philosophie alles erklären und ableiten müßte. Hier tritt bei ihm schon deutlich jenes eigentümliche Ideal der Philosophie auf, das uns noch weiterhin in schärferer Ausprägung begegnen wird, das Ideal der Einheit des Systems alles Wissens, nach mathematischer Methode aus einem höchsten Prinzip abgeleitet. Dieses eine höchste Prinzip wäre die Idee der Gottheit, und die logische Ordnung des Systems, das darauf errichtet wird, würde der realen Ordnung hinsichtlich der Abhängigkeit der Dinge selber entsprechen, der logische Grund im System dem Seinsgrund in der Welt, so wie Spinoza diesen Gedanken später sehr deutlich ausgeführt hat. Wir kommen hier also auf den logischen Rationalismus in der Metaphysik in seiner bestimmtesten Form. Wir wollen die metaphysische Bedeutung dieses logischen Rationalismus noch etwas weiter verfolgen, wenigstens in bezug auf die beiden metaphysischen Hauptbegriffe, um die sich der Streit dialektisch weiter dreht. Das sind die Begriffe der Substanz und der Kausalität. Die Idee der Substanz ist nach Descartes die Idee eines Dinges, das so existiert, daß es keines anderen bedarf, um zu existieren - wovon dann die letzte Konsequenz ist, daß es nur eine einzige Substanz geben kann, die Substanz Gottes, während alle anderen Wesen nur unter Gottes Mitwirkung existieren können. Der logische Rationalismus zeigt sich ähnlich auch in der Anwendung des Begriffes der Kausalität. »Es kann keine Bewirkung geben«, sagt Descartes, »die nicht für den Verstand einsehbar wäre.« Noch schärfer hat diesen Gedanken Geulincx verfolgt, einer von den Schülern Descartes', wenn er sagt, daß es unmöglich sei, daß jemand etwas bewirkt, von dem er nicht weiß, wie es geschieht. Nach dieser Auffassung, wonach also keine Bewirkung möglich ist, die nicht vom Verstand eingesehen werden kann, kann es keine unmittelbare Einwirkung einzelner Dinge aufeinander geben; denn die Möglichkeit einer solchen läßt sich nicht durch den bloßen Verstand einsehen. Alle Einwirkung kann also nur durch Vermittlung der Allwirksamkeit Gottes möglich werden. Hiervon wird dann das Postulat der grundsätzlichen Trennung von Körperlichem und Geistigem eine einfache Folge. Körperliches kann nicht auf Geistiges einwirken und Geistiges nicht auf Körperliches. Im übrigen sind die Konsequenzen dieser Gedanken in interessanter

56

Vorbetraditungen

Weise weiterentwickelt worden von Descartes' Schülern Geulincx und Malebranche. Sie wurden dadurch zu ihrem System des Occasionalismus geführt, wonach nur die Vermittlung Gottes die Einwirkung der Dinge selbst möglich macht, die also im Grunde gar keine Einwirkung der Dinge selbst ist, sondern eine prästabilierte Harmonie, die ihrerseits auf die Wirksamkeit Gottes zurückgeht. Bei Descartes selbst macht sich die Konsequenz dieser Gedanken besonders deutlich bemerkbar in seiner Ansicht von der Körperwelt. Die Substantialität der Körper muß nämlich danach für ihn überhaupt entfallen. Der Körper fällt für ihn zusammen mit einem begrenzten Raumteil. Er ist nichts anderes als eine Determination des allgemeinen Raumes, wobei dieser allgemeine Raum eine eigentümlich schwebende Bedeutung hat. Er erscheint bei Descartes wie ein allgemeiner Begriff, wo also der Raum das Allgemeine ist und die einzelnen Körper das Besondere, wo aber doch zugleich das Verhältnis des Teiles zum Ganzen gilt. Der einzelne Körper ist ein Teil, eine Eingrenzung des allgemeinen, des ganzen Raumes. Der Körper ist also durch ausschließlich geometrische Bestimmungen charakterisiert. Diese sind in jeder Hinsicht klar und deutlich erfaßbar, im Gegensatz zu den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, die dunkel und verworren sind und nur erkennbar aus der Einwirkung auf unseren Geist, der sich bei ihrer Aufnahme passiv verhält, im Gegensatz zur willkürlichen Tätigkeit des Urteilens. Wir stehen damit im Grunde schon bei der Unterscheidung der primä~ ren und sekundären Qualitäten, wie sie später von Locke formuliert worden ist. Erkenntnistheoretisch hängt damit ohne weiteres zusammen die Lehre von der verschiedenen Bedeutung der inneren und der äußeren Wahrnehmung. Die äußere Wahrnehmung ist im Gegensatz zur Aktivität der Willkür ein passiver Zustand, also unmittelbar nur eine Affektion in uns. Als solche ist zwar sie selbst mit Evidenz erkennbar, aber nicht das sie Bewirkende außer uns. Auch hier ist der Gedanke in konsequenter Form erst von Malebranche ausgesprochen worden. Nach ihm erkennen wir die Körperwelt eigentlich überhaupt nicht. Es gibt von ihr keine unmittelbare Erkenntnis, sondern nur eine solche vermittels der Idee in uns. Wir erkennen nur die Idee von dem Körper und auch dies nur durch die göttliche Ver-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

57

mittlung, vermöge der Harmonie zwischen den Ideen in uns und den Ideen Gottes, die die Körperwelt ausmachen. Diese Erkenntnis beruht auf der Fähigkeit unseres Geistes, in ähnlicher \Veise teilzuhaben an dem allgemeinen göttlichen Geist, wie nach Descartes der einzelne Körper teilhat an dem allgemeinen Raum, der nichts anderes ist als ein allgemeiner Körper. Wir sehen, wie hier der Realismus des Allgemeinen dauernd weiterwirkt. Worauf es mir ankommt im weiteren Verlauf, ist, zu zeigen, daß sogar auch die empiristische Schule, was die dialektischen Hilfsquellen und Grundvoraussetzungen betrifft, ihr Gedankengut ebensosehr den Lehren des Descartes entlehnt wie die rationalistische Schule. Man hat Descartes mit Recht den Vater der neueren Philosophie genannt. Das trifft wirklich zu, wenn man wenigstens das Urteil am Erfolg orientiert. Das wird uns aber gleich ein lehrreiches Beispiel dafür sein, was dieser Maßstab des Erfolges bedeutet, wenn es sich um die Feststellung des wissenschaftlichen Fortschritts handelt. Unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen Fortschritts betrachtet, ist die ganze neuere Philosophie, die Philosophie, wie sie zeitlich auf das Auftreten des Decartes folgt, im Grunde nichts anderes als ein ständiges und ein immer von neuem einsetzendes Ringen des Gedankens einer vorurteilsfreien und eben darum kritischen Philosophie mit den von Descartes gleichsam axiomatisch festgestellten Dogmen, Dogmen, die eben darum, weil sie als selbstverständlich gelten, als unverdächtig übernommen und fortgeerbt werden und lange Zeit auch die größten und selbständigsten Denker in ihren Bann geschlagen haben. Man kann sagen, daß das ganze Unternehmen der KantischenReformation der Metaphysik durch die Kritik der Vernunft bei Kant selbst noch an diesem Umstand gescheitert ist, dem Umstand, daß Kant sich nicht loszureißen vermocht hat von den Dogmen der Philosophie des Descartes. Womit es denn durchaus in Übereinstimmung steht, daß derjenige Nachfolger Kants, der diesen großen Fortschritt getan hat und die wissenschaftliche Philosophie befreit hat von der Dogmatik des Descartes, daß er, Jakob Friedrich Fries, in der Überlieferung bis heute sozusagen unbekannt geblieben ist. Aus diesem Grunde wird für uns die Kritik der Descartessehen Dialektik so besonders wichtig. Die Kritik dieser erkenntnistheoretischen Lehre ist nach dem bisher Ausgeführten nicht schwierig.

58

Vorbetrachtungen

Eine unbefangene Würdigung dieser Lehre nämlich läßt nicht verkennen, daß das ganze Gebäude, das wir vor uns haben, auf einem logischen Zirkel errichtet ist. Denn der Schluß auf das höchste Wahrheitskriterium, der Schluß auf Gottes Wahrhaftigkeit als Grund der Zuverlässigkeit der klaren und deutlichen Ideen in uns, dieser Schluß ruhte ja erst auf der vorausgesetzten Richtigkeit einer klaren und deutlichen Idee. Nur vermöge des Zutrauens zu einer solchen sind wir ja zu dem Schluß auf die Existenz Gottes gekommen. Wir dürfen also nicht umgekehrt auf das Ergebnis dieses Schlusses unser Zutrauen zu dem Ausgangspunkt des Schlusses gründen, zur »perceptio clara et distincta« selber. übrigens ist dieser Begriff der »perceptio clara et distincta« mit einer verhängnisvollen Zweideutigkeit belastet, einer Zweideutigkeit, die den Lehren der Nachfolger des Descartes allen ihr Gepräge gegeben hat, die ungeklärt geölieben ist bis auf die eigentlichen Begründer der kritischen Philosophie, ja, die selbst die tiefste Ursache dafür ist, daß die Begründung der kri,tischen Philosophie sich ges,chichtlich so weit hinausgeschoben hat. Hier liegt das Haupthindernis, das allen Bestrebungen im Wege stand, einen gemeinsamen Weg zur wissenschaftlichen Begründung der Metaphysik zu finden. Man sieht nämlich nicht, handelt es sich hier wirklich um innere Wahrnehmung, der doch recht eigentlich Descartes die Klarheit und Deutlichkeit zuschreibt, die den Ausgangspunkt aller Gewißheit kennzeichnen soll, oder handelt es sich um Reflexion? Es sind zwei Gegensätze, die damals noch nicht in ihrer Verschiedenheit den Denkern zum Bewußtsein kamen und die deshalb ständig miteinander vermengt wurden und deren Vermengung die Ursache der fraglichen Doppeldeutigkeit ist: Es handelt sich einmal um den Gegensatz zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung und andererseits um den Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Denken. Die Verwechslung dieser beiden Unterscheidungen verführt dazu, daß man die äußere Wahrnehmung dem Denken gegenübersetzt und dabei die innere Wahrnehmung mit dem Denken verwechselt, indem man einseitig und zunächst allein den Unterschied beachtet, der ja in der Tat leichter ins Auge fällt, den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Denken. Man übersieht dabei den Unterschied zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung und kommt so leicht dazu, die innere Wahr-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

59

nehmung dem Denken zuzuschreiben, um sie von der äußeren Wahrnehmung zu unterscheiden. Diese Zweideutigkeit spielt nun eine große Rolle für die Begründung der ewigen Wahrheiten. Diese Aufgabe sollte gelöst werden, indem man an die Evidenz und Klarheit der »perceptio clara et distincta« anknüpfte. Bei Descartes selbst leitet sich die Sicherheit dieser klaren und deutlichen Ideen von der Evidenz her, nämlich von ihrem intuitiven Charakter, den er wirklich für sie in Anspruch nimmt, weil ihm hier die innere Wahrnehmung vorschwebt. Aber mit dem intuitiven Charakter soll doch der rationale verbunden sein, und den kann sie wieder nur davon haben, daß ihm die Reflexion vorschwebt, im Gegensatz zur inneren Wahrnehmung. Die innere Wahrnehmung würde ja als Wahrnehmung nur auf einzelne und zufällige Wahrheiten gehen, uns also keine ewigen Wahrheiten lehren können. Dieser Sachverhalt ist erst Jahrhunderte später aufgeklärt worden; aber hier liegt doch die Stelle, an der sich über kurz oder lang daher die Schulen trennen mußten. Man mußte sich entscheiden, ob man die Unbestimmtheit dadurch beseitigen wollte, daß man sich an die innere Wahrnehmung, oder dadurch, daß man sich an die Reflexion hielt. Aber die Unbestimmtheit wurde nicht so bald bemerkt und wirkte lange hindernd und verwirrend nach. Es bleibt überhaupt rätselhafl:, wie man zu einer metaphysischen Gewißheit von dieser Stelle aus gelangen sollte. Denn im ersten Fall, wenn man sich für die innere Wahrnehmung als Ausgangspunkt entscheiden wollte, so war man im Grunde an den Empirismus verloren.Es bleibt nämlich ein Widerspruch, auf innere Wahrnehmung ewige Wahrheiten gründen zu wollen. Das hieße nichts anderes, als rationale Erkenntnis auf empirische zurückführen zu wollen. Um so interessanter ist es, daß dennoch dieser Versuch gemacht worden ist. Er ist in besonders bestimmter Form später unternommen worden von Tschirnhaus. Er hat den Versuch durchgeführt, an die innere Wahrnehmung die rationalen Wissenschafl:en der Metaphysik anzuknüpfen, die rationale Psychologie, die rationale Kosmologie und die rationale Theologie, ein Versuch also, auf eine psychologische Tatsache die rationale Wissenschaft der Metaphysik zu gründen. Ähnliche Versuche finden wir auch weiter vor. Noch zu Kants Zeiten hat Tetens eine psychologische Theorie entwickelt, die im Grunde, wenn auch in feinerer Form, auf demselben

60

Vorbetrachtungen

Gedanken beruht. Bei ihm sind nämlich die ewigen Wahrheiten nichts anderes als der Ausdruck einer subjektiven Denknotwendigkeit und lassen sich insofern zurückführen auf die Naturgesetze des Denkens, die ihrerseits durch innere Erfahrung erkannt werden. Im anderen Fall, wenn man sich für die Reflexion als Ausgangspunkt entscheidet, im Gegensatz zur inneren Wahrnehmung, dann sind wir angewiesen auf die reine Logik, und es wird wiederum unerfindlich, woher der Gehalt kommen soll für die gesuchte Metaphysik. Denn über die Unfruchtbarkeit des bloßen Syllogismus war man sich mittlerweile einig geworden durch die Kritik an der Scholastik. In der Richtung dieser logizistischen Versuche liegt der Gedanke des Descartes, so lange zu zweifeln, bis er auf eine Schranke für die Möglichkeit des Zweifels stoßen werde. Er findet sie in der Behauptung, daß ein weitergehender Zweifel sich selbst aufheben würde. Das heißt also, streng genommen, daß ein weitergehender Zweifel scheitern würde an der bloßen Logik, nämlich an einem Widerspruch. Wir wollen zusehen, wie es sich mit dieser Behauptung verhält. Es liegt hier ein Gedanke vor, der in verwandter Form in der Geschichte der Philosophie häufig wiederzufinden ist, übrigens auch schon vor Descartes, nämlich überall da, wo man mit rationalistischen Mitteln den Skeptizismus zu widerlegen unternimmt, so schon bei Platon in seiner Widerlegung der Sophistik. Wir können Descartes ohne weiteres so viel zugeben, daß die Tat~ sache des Denkens bereits genügt, um in ihrer Feststellung volle Gewißheit zu finden, nämlich eben die Gewißheit der Tatsache des Denkens. Aber diese Gewißheit ist darum durchaus nicht logisch oder überhaupt rational gesichert, sondern ausschließlich durch innere Wahrnehmung. Die Verneinung der fraglichen Feststellung, des Satzes also: »Ich denke«, kurz der Satz: »Ich denke nicht«, schließt keinen inneren Widerspruch ein, sondern er widerspricht nur der anderweitig feststehenden Gewißheit, daß ich denke, einer Gewißheit, die also unabhängig von allen logischen Erwägung~n in der Tat feststeht auf Grund innerer Wahrnehmung, nämlich der Wahrnehmung der Tatsache des Denkens. Rational, das heißt unabhängig von der Wahrnehmung, können wir nur die Aussage machen: »Wenn ich denke, dann denke ich«, womit wir aber hier nicht von der Stelle kommen. Erst wenn der Vordersatz: »Wenn

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

61

ich denke«, auf Grund innerer Wahrnehmung Assertion erlangt, dann können wir auch auf den Nachsatz schließen, der ja aber nur eine Wiederholung des Vordersatzes darstellt und uns also nichts anderes erkennen läßt als das, was wir doch erst durch innere Wahrnehmung erkennen mußten, um seiner überhaupt gewiß zu werden. Um nämlich diesen hypothetischen Satz anwenden und auf den Nachsatz schließen zu können, dazu müssen wir das, was im Nachsatz steht, anderweitig durch innere Wahrnehmung sichergestellt haben. Ich habe gezeigt, daß in der Verneinung des Satzes: »Ich denke«, kurz in dem Satz: »Ich denke nicht« kein logischer Widerspruch liegt. Wie erklärt sich nun der Anschein, daß dem doch so sei, dieser in der Geschichte der Philosophie immer wieder irreführende Anschein? Um darüber Klarheit zu erlangen, will ich eine Stelle wörtlich anführen, an der Descartes seine Argumentation entwickelt. (Diese Stelle befindet sich in den »Regeln zur Leitung des Geistes« in der zwölften Regel.) Da heißt es: »Wenn zum Beispiel Sokrates sagt, er zweifle an allem, so folgt daraus mit Notwendigkeit, daß er also zum mindesten dies einsieht, daß er zweifelt.« Nun ist es klar, wenn Sokrates sagt, er zweifle an allem, so hebt sich diese Aussage selbst auf. Denn wenn es wahr ist, daß er an allem zweifelt, so heißt das ja so viel, daß es für ihn keine Gewißheit gibt. Wie könnte er also diese Gewißheit haben, daß er an allem zweifelt. Entweder hat er eine Gewißheit, dann zweifelt er nicht an allem, oder er zweifelt an allem, dann hat er keine Gewißheit und also auch nicht die, daß er an allem zweifelt. Die Frage war aber nicht: Wohin kommen wir, wenn wir sagen, daß wir an allem zweifeln, sondern: Wohin kommen wir, wenn wir an allem zweifeln? Dann kommen wir gewiß niemals zu der Erkenntnis, daß wir an allem zweifeln. Wir müssen also zwei Sätze unterscheiden, den Satz A: »Sokrates zweifelt an allem« (mit anderen Worten: »Sokrates weiß nichts«) und den Satz B: »Sokrates weiß, er zweifelt an allem« (mit anderen Worten: »Sokrates weiß, daß er nichts weiß«). Der Satz B hebt sich selbst auf. Es ist ein Widerspruch, daß jemand weiß, daß er nichts weiß. Anders steht es mit dem Satz A. Es ist kein Widerspruch, wenn man nichts weiß. Und aus dem Widerspruch des Satzes B folgt das und nur das,

62

Vorbetrachtungen

daß Sokrates dasjenige, was er nach diesem Satz zu wissen meint, in der Tat nicht weiß, nämlich nichts zu wissen. Es widerspricht sich und ist daher unmöglich, daß jemand weiß, daß er nichts weiß. Aber daraus folgt nicht, daß es ein Widerspruch und unmöglich ist, daß jemand nichts weiß. Der Schein des Widerspruchs und damit der Schein der Fruchtbarkeit dieses indirekten Beweises entsteht nur durch die Verwechslung der beiden Sätze, dadurch, daß man dem widerspruchsfreien Satz A den anderen B unterschiebt, wonach das Subjekt von A um das weiß, was in A ausgesagt wird. Man erhält dadurch einen Widerspruch, aber einen Widerspruch, aus dem niemals auf die Falschheit des Satzes A geschlossen werden kann, sondern immer nur auf die Falschheit des Satzes B. Was hier aber bewiesen werden sollte, war die Falschheit des Satzes A, war die Behauptung, daß wir doch eine Gewißheit haben. Die Widerlegung des Satzes A ist nicht mit rein logischen Mitteln möglich. Das ist das Ergebnis unserer Kritik. Es verhält sich mit der vermeintlichen metaphysischen Fruchtbarkeit des Satzes: »Ich denke« daher nicht anders als mit der irgendeiner beliebigen anderen empirischen Behauptung, weshalb denn dem Descartes schon mit vollem Recht von Zeitgenossen entgegnet worden ist, er hätte ebenso gut wie von dem Satz: »Ich zweifle« von dem Satz ausgehen können: »Ich atme« oder: »Ich gehe spazieren«. Bei dieser Kritik habe ich ganz außer Betracht gelassen, daß aus der Tatsache des Denkens natürl,i,ch nicht, wie Descartes meinte, die Tatsache des denkenden Wesens folgt, worauf es ihm für seine metaphysischen Zwecke wesentlich ankam. Wir wollten uns ja bei unseren Untersuchungen an die dialektischen Grundlagen eines philosophischen Systems halten und nicht an seine metaphysischen Konsequenzen. Welche Bedeutung hat es aber für uns, daß wir uns so eingehend mit diesen Gedankengängen beschäftigen, die noch nicht einmal die Geschichte unserer Wissenschaft, sondern nur deren Vorgeschichte betreffen? Was wir gewonnen haben, ist die Einsicht, wieviel abhängen kann von einer solchen anscheinend unverfänglichen und deshalb unverdächtigen und gar nicht diskutierten Voraussetzung, wie hier bei Descartes von der Vorzugsstellung der inneren Wahrnehmung. Die innere Wahrnehmung erscheint hier als die einzige unmittelbare Erkenntnis. Die

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

63

Erkenntnis durch äußere Wahrnehmung dagegen erscheint als eine nur vermittelte Erkenntnis. Die äußere Wahrnehmung war nach dieser Lehre ein bloß passiver Zustand, eine Einwirkung auf unseren Geist, die durch innere Wahrnehmung recht wohl erkennbar ist, aber selbst keine unmittelbare Erkenntnis enthält, sondern nur einen Rückschluß erlaubt, einen an und für sich nicht gesicherten Rüd::schluß auf die Ursache dieser Einwirkung auf unseren Geist. Diese Ansicht von der Mittelbarkeit der Erkenntnis durch äußere Wahrnehmung ist viel älter als die Lehre des Descartes. Sie geht im Grunde zurück auf den griechischen Philosophen Demokrit. Schon Demokrit lehrte, daß die Sinneswahrnehmung dadurch entsteht, daß die äußeren Gegenstände in unserem Geist Abbilder hervorrufen. Diese Ansicht ist die Folge einer naiven Anwendung des Kausalitätsgesetzes, nämlich seiner Anwendung auf das Verhältnis von Gegenstand und Erkenntnis. Denn der Gegenstand erscheint hier als die Ursache, die Erkenntnis als die Wirkung, wo denn die Frage unvermeidlich wird, mit welchem Recht wir von der Wahrnehmung, die zunächst allein gegeben ist, auf deren Ursache zurückschließen. Aus dieser Verlegenheit entsteht dann das große Bedürfnis nach einer erkenntnistheoretischen Begründung für unsere Erkenntnis der Außenwelt überhaupt. Dies sind jedoch alles Künsteleien, hervorgerufen zutiefst durch das Bedürfnis, einen Weg zur objektiven Gewißheit zu finden auf Grund der Voraussetzung, daß uns ursprünglich nur subjektive Vorstellungen gegeben sind, hinsichtlich deren das Problem entsteht, wie weit ihnen objektive Wahrheit zugeschrieben werden darf und wie es möglich sei, die objektive Wahrheit zu den subjektiven Vorstellungen hinzuzuschaffen. Dafür wird ein Kriterium erforderlich, ein allgemeines Kriterium der Wahrheit überhaupt. Dieses Kriterium zu suchen, ist das Problem der Erkenntnistheorie. Dieses Problem hat sich fortgeerbt seit der Zeit, wo es Descartes in aller Schärfe als erster stellte, bis auf die Gegenwart. Es beherrscht bis heute die Köpfe der Philosophen. Nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung des Descartes ist bis heute, wenigstens in weitem Umfange, vorherrschend. Ein angesehener Philosoph unserer Zeit, und zwar einer von denen, die durch die Klarheit und Nüchternheit ihrer Philosophie dieses Ansehen verdienen, Franz Brentano, der getreulich in den Fuß-

64

Vorbetrachtungen

tapfen des Descartes gewandelt ist, beginnt eine seiner reifsten Schriften (»Versuch über die Erkenntnis«) mit den Worten: »Als Descartes zur modernen Philosophie die Anregung gab, machte er es ihr zur Pflicht, keinen Satz, der nicht unmittelbar evident ist, ohne Beweis zuzulassen. Die Forderung erscheint voll berechtigt.« Mit welcher despotischen Macht ein solches Dogma die Köpfe beherrscht und allem freien Denken den Weg abschneidet, dafür kann man gar kein schlagenderes Beispiel finden als diese beiden Sätze. »Die Forderung erscheint voll berechtigt.« Was läge näher, als di1ese voll berechtigt erscheinende Forderung wenigstens auf den ersten ausgesprochenen Satz selber anzuwenden und zu fragen: Wo ist der Beweis für den eben ausgesprochenen Satz? Oder - in Ermangelung eines solchen Beweises -: Wo ist seine Evidenz? Eine Frage, die man nur zu stellen braucht, um sie zu verneinen; denn bei dieser Forderung kann sehr wenig von Evidenz die Rede sein.

III.

DIE EMPIRISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE BEI LOCKE UND BERKELEY

Wir haben Erkenntnistheorie der rationalistischen Schule, und zwar bei dem Begründer dieser Schule kennengelernt. Wir wollen noch das empiristische Spiegelbild betrachten, indem wir einen Blick werfen auf die erkenntnistheoretische Lehre von Locke. Wir werden dann in der Tat gar nicht so sehr Verschiedenes finden von dem, was wir bei Descartes gefunden haben. Locke ist sich ganz einig mit den Rationalisten darin, daß das Kriterium der ewigen Wahrheiten nur bestehen kann in der Übereinstimmung oder dem Widerstreit von Ideen. Die ewigen Wahrheiten werden erkannt durch Vergleichung klarer und deutlicher Ideen. Und alles allgemeine Wissen beruht in der Tat allein in der Betrachtung unserer eigenen abstrakten Ideen. Diese Grundauffassung hat zwei Folgen, die denn auch beide von Locke mit großer Klarheit entwickelt werden.

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

65

Erstens nämlich: Die Erkenntnis ewiger Wahrheiten, soweit wir solcher überhaupt fähig sind, ist nicht hinreichend zur Erkenntnis irgendeines realen Daseins. Die sinnliche Wahrnehmung, die schon an der erörterten Stelle, wo die verhängnisvolle Zweideutigkeit in der Lehre des Descartes liegt, das Übergewicht über die Reflexion zu gewinnen beginnt, die sinnliche Wahrnehmung geht ja nur auf Ideen in uns, und von da aus ist kein zwingender Schluß möglich auf die Existenz irgendwelcher äußeren Dinge, die solche Ideen in uns bewirken. »Denn«, so sagt Locke wörtlich, »es gibt keine notwendige Verbindung zwischen dem realen Dasein und irgendeiner Idee in unserem Bewußtsein.« Es sei zwar eine für praktische Zwecke hinreichende Wahrscheinlichkeit möglich im Urteilen über die äußeren Dinge, aber unter keinen Umständen eine wirkliche Wissenschaft, eine Wissenschaft von der Körperwelt. Er lehrt also, konsequent, die Unmöglichkeit der Physik. Die zweite Folge jener allgemeinen Auffassung ist diese: Es gibt ewige Wahrheiten. Solche sind für uns erkennbar, nämlich als Sätze über Verhältnisse von Vorstellungen. Auf solchen Sätzen beruht die Wissenschaft der Mathematik. Die Mathematik bleibt somit als Wissenschaft unangefochten in Geltung. Ja, nach ihrem Muster wird es einmal möglich sein, auch die Moral als strenge Wissenschaft aufzubauen. Auch diese enthält sich ja aller Urteile über reales Dasein. Die unmittelbare Erkenntnis vom Verhältnis zweier Vorstellungen hinsichtlich Übereinstimmung oder Widerstreit nennt Locke die Intuition und die mittelbare, mit Hilfe von Zwischengliedern erschlossene, die Demonstration. Die Möglichkeit der Erkenntnis ewiger Wahrheiten steht darum unwandelbar fest, weil, wie wir auch nach unserer Willkür uns unsere Ideen bilden mögen, »dieselben Ideen unwandelbar dieselben Verhältnisse zueinander haben«. Wenden wir uns hier gleich der Kritik zu, so finden wir in dieser Lehre eine merkwürdige Unklarheit, ähnlich wie im Grunde schon bei Descartes. Entweder nämlich - wenn wir die mathematischen Sätze als Beispiele ewiger Wahrheiten nehmen - beziehen sich solche Sätze wirklich nur auf unsere Vorstellungen, dann bleibt es unbegreiflich, wie sie auf äußere Gegenstände anwendbar sind, auf körperliche Gebilde, die doch ihrerseits offenbar nicht Vorstellungen in uns sind, oder die fraglichen Sätze beziehen sich nicht im eigentlichen, nämlich psycho-

66

Vorbetrachtungen

logischen Sinn auf Vorstellungen in uns, sondern drücken nur begriffliche Beziehungen aus. Sie müßten daher aus Begriffen geschöpft sein und also aus Definitionen abgeleitet, wie das Locke in der Tat von den Sätzen der Mathematik behauptet. Dann bleibt aber ihre Ableitung selber schon unbegreiflich. Denn es ist unerfindlich, wie es hier möglich sein soll, durch bloßes Schließen die Erkenntnis über Begriffe hinaus zu erweitern, wo dies doch sonst als unmöglich zugestanden ist. Wir können uns hier auf einen sehr klaren und verdienstvollen Nachweis Lockes selber berufen. Wie der große Rationalist Descartes in der Lehre von der Willkürlichkeit des Urteils eine psychologische Entdeckung von großem Wert gemacht hat, so finden wir bei dem Empiristen Locke eine logische Entdeckung von bleibendem Wert. Durch diesen Nachweis wi:rd die übliche scholastische Vorstellung davon, wie eine Erweiterung der Erkenntnis durch Begriffe vor sich gehen soll, gänzlich vernichtet. Locke zeigt, daß derartige Versuche zurückgehen auf Erschleichungen, die zustande kommen durch einen Mißbrauch bloßer Nominaldefinitionen. Locke erläutert das am Beispiel des Goldes: Es sei die Nominalessenz des Goldes die Vereinigung der Begriffe der gelben Farbe, der Hämmerbarkeit, der Schmelzbarkeit und eines bestimmten Gewichtsgrades. Dann ist es unmöglich, aus dieser wohldefinierten Nominalessenz durch einen Schluß zu entscheiden, ob das Gold fest ist. Die Erkenntnis der Festigkeit des Goldes muß durch Erfahrung zu diesem Begriff hinzukommen. Wir können dies neue Merkmal mit aufnehmen in die Nominalessenz des Goldes; wir haben dadurch nichts gewonnen. Denn es bleibt eine Erfahrungstatsache, daß der Gegenstand, der durch die erste Definition bestimmt wird, identisch ist mit dem, der durch die zweite bestimmt wird. Diese Identität läßt sich nicht aus der Identität des Wortes, mit dem wir das eine Mal den einen und dann den anderen Begriff bezeichnen, herausklügeln. Wo der Schein entsteht, daß man auf Grund solcher Nominaldefinitionen die Erkenntnis erweitert, da liegt also allemal ein bloßer Mißbrauch der Sprache vor. Man schiebt der Identität der Bezeichnung des einen und anderen Begriffes eine vermeintlich logische Identität der Gegenstände der beiden Begriffe unter, die jedoch nur aus der Erfahrung genommen werden kann. Wie verhält es sich nun aber mit jener Erklärung, die Locke für die

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

67

Möglichkeit der Erkenntnis ewiger Wahrheiten, insbesondere der mathematischen Erkenntnis gibt, daß nämlich dieselben Ideen unwandelbar dieselben Verhältnisse zueinander haben? Läßt sich auf diesen Satz die Behauptung ewiger Wahrheiten gründen? Offenbar geht das nicht. Entweder nämlich, wir fassen den Satz so auf, daß wir Ideen dann und nur dann dieselben nennen, wenn sie nicht nur an und für sich gleich sind, sondern auch die Gleichheit ihrer Verhältnisse wahren. Dann ist der Satz trivial, daß dieselben Ideen unwandelbar dieselben Verhältnisse haben. Denn wir nennen Ideen ja nur dieselben, wenn dieser Satz für sie zutrifft. Der Satz wird damit aber unanwendbar. Wir müßten erst prüfen, ob im gegebenen Fall die vorliegenden Ideen auch die uns sonst vertrauten Verhältnisse aufweisen, um die allgemeine Wahrheit auch für diesen Fall als gültig zu erkennen. Dann aber bedürfte es dieses Umweges über die allgemeine Wahrheit nicht mehr. Es gäbe keine allgemeingültigen Erkenntnisse. Oder aber wir fassen den Satz anders auf, nämlich so, daß im übrigen gleiche Ideen auch hinsichtlich ihrer Verhältnisse gleich sind. Dann bedeutet die Behauptung aber eine petitio principii. Sie erklärt nichts, sondern ist gleichwertig der Behauptung, daß ewige Wahrheiten erkennbar sind. Und der Widerspruch zu dem klaren Nachweis der Unfruchtbarkeit bloßer Nominaldefinitionen bleibt unaufgeklärt. Blicken wir zurück auf das Ganze der Lockeschen Lehre, so finden wir sie beherrscht von einigen Voraussetzungen, die mehr oder weniger unausgesprochen am Anfang des Ganzen stehen und aus denen dann alles Weitere ganz natürlich folgt. Es ist hier erstens grundlegend die erkenntnistheoretische Behauptung von der Mittelbarkeit der äußeren Wahrnehmung. Dieser Satz stammt von Descartes. Locke verbindet mit diesem Gedanken einen anderen, den er ebenfalls von Descartes übernimmt, den Gedanken der Unmöglichkeit unvermittelter Einwirkung eines Dinges auf das andere. Alle Einwirkung kann nur durch Stoß oder Berührung vermittelt sein. Und so denkt sich Locke geradezu die äußere Wahrnehmung durch einen Stoß aus der Außenwelt auf den Geist hervorgerufen. Hieraus folgt dann von selbst, daß als unmittelbar gewisse Erkenntnis nur die innere Wahrnehmung unserer eigenen Vorstellungen möglich bleibt- wenigstens in Verbindung mit der zweiten Voraussetzung: der Unmöglichkeit angeborener Ideen und der dar-

68

Vorbetrachtungen

aus folgenden Unmöglichkeit einer Erkenntnis unabhängig von der Erfahrung. Sollte es nämlich eine solche Erkenntnis geben, so müßte sie, nach der stillschweigenden Voraussetzung Lockes, mit ursprünglicher Klarheit in unserem Geiste liegen. Alle Erkenntnis wird aber nur im Laufe der Erfahrung klar. Locke setzt hier also das zeitliche Verhältnis mit dem des Ursprungs der Erkenntnis gleich. Er verwechselt die gelegentlichen Anlässe, die die Erfahrung bietet, um gleichsam die Abstraktion in Gang zu setzen, mit der Erkenntnis, die durch solche Abstraktion ins Bewußtsein tritt, ihren Ursprung aber darum nicht erst in der Erfahrung zu haben braucht. Er läßt also nur solche Erkenntnis als unmittelbar gegeben zu, die auch mit unmittelbarer Klarheit im Bewußtsein liegt. Und das gilt dann in der Tat nur für die Wahrnehmung. Da es nun keine unmittelbare Erkenntnis durch äußere Wahrnehmung gibt, so bleibt wirklich als einzige Erkenntnisquelle die innere Wahrnehmung übrig. Daher denn auch der Versuch, die Erkenntnis der ewigen Wahrheiten, soweit eine solche möglich sein soll, zurückzuführen auf die Erkenntnis, die entsteht durch bloße Vergleichung unserer Vorstellungen. Wie wenig Locke radikal die Konsequenzen aus diesen Voraussetzungen zu Ende zu ziehen bereit ist, hat dieser Rückblick nochmals gezeigt. Der Empirismus gewinnt in der Form, in der er bei Locke auftritt, durchaus nicht seine konsequente Gestalt. Die Konsequenzen aus diesen Voraussetzungen sind vielmehr erst von einem anderen Philosophen der empiristischen Schule gezogen worden, der sich nicht vor dem äußersten Radikalismus scheute und der den Übergang bildet von Locke zu Hume. Das ist Berkeley. Berkeley eröffnet die Polemik gegen den Rationalismus mit einer Polemik gegen die abstrakten Ideen. Er verspottet die Lehre von allgemeinen Begriffen, indem er ihre Konsequenzen darlegt. Kein Mensch, so argumentiert Berkeley, kann sich in Wahrheit eine abstrakte Idee eines Dreiecks etwa - bilden, denn dies müßte ja die Vorstellung eines Dreiecks sein, das individuell unbestimmt ist, das also zum Beispiel weder gleichseitig noch ungleichseitig, das weder rechtwinklig noch stumpfwinklig noch spitzwinklig ist. Und ebensowenig kann sich jemand den allgemeinen Raum vorstellen, im Unterschiede von einzelnen individuell gestalteten Körpern, oder eine allgemeine Idee der Bewe-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

69

gung bilden. Wer das Gegenteil behauptet, der begeht einen logischen Widerspruch. Denn es wäre ein Widerspruch, sich ein Dreieck zu denken, das weder spitzwinklig noch stumpfwinklig noch rechtwinklig ist, das weder gleichseitig noch ungleichseitig ist. Es handelt sich hier um den springenden Punkt in dem Streit der beiden Schulen, um die Theorie der Apstraktion. Nach Berkeley ist die Bildung allgemeiner Begriffe überhaupt unmöglich. Es gibt nur Einzelvorstellungen. Trotzdem, sagt er, kann die Mathematik ihre Beweise führen; denn sie ist dafür nicht angewiesen auf die Voraussetzung, daß es so etwas wie allgemeine Begriffe gibt. Wenn sie zum Beispiel den Satz beweist, daß die Summe der Winkel im geradlinigen Dreieck zwei Rechte beträgt, so gilt dieser Beweis wirklich unabhängig von der gerade vorliegenden Figur. Aber nicht darum, sagt Berkeley, weil er sich auf eine allgemeine Dreiecksidee bezieht, sondern darum, weil wir beim Beweise von den zufälligen Eigentümlichkeiten dieses bestimmten Dreiecks keinen Gebrauch machen, weil die Überlegung des Beweises auf diese Individualität gar nicht reflektiert. Die besondere Dreiecksfigur, die wir beim Beweise im Auge haben, vertritt, wie er sagt, die unzähligen anderen einzelnen Dreiecksfiguren. Und was an ihr bewiesen ist, gilt darum, weil der Beweis unabhängig von den individuellen Eigenschaften der Figur geführt wird, auch für die unzähligen anderen einzelnen Dreiecksfiguren. Diese Argumentation triffi zwar wirklich die scholastische Vorstellung der allgemeinen Ideen als allgemeiner Gegenstände im Gegensatz zu den Einzelgegenständen, die unter den Begriff fallen. Denn diese allgemeinen Gegenstände würden in derTat dem von Berkeley aufgedeckten Widerspruch verfallen. Und doch beweist sie nicht das, was sie beweisen soll. Sie triffi überhaupt nicht die Behauptung der Möglichkeit allgemeiner Begriffe. Deren Unentbehrlichkeit wird vielmehr im Grunde auch von Berkeley zugegeben und nur durch seine Ausdrucksweise verschleiert, wenn er darauf hinweist, daß die einzelne Figur die unzähligen ähnlichen vertritt und daß sich deshalb die Beweisführung auch auf alle diese anderen Figuren mit beziehen soll. Denn diese Beziehung auf die unzähligen einzelnen ähnlichen Figuren ist nur ein anderer Ausdruck für die Möglichkeit der allgemeinen Begriffe.Der Ausdruck »allgemeiner Begriff« ist in der Tat nur eine Um-

70

Vorbetrachtungen

schreibung dieser Beziehung des Gedankens auf die unzähligen möglichen einzelnen Gegenstände einer Art. Wenn sich unsere Gedanken auf etwas Derartiges beziehen, auf unzählig viele Einzelgegenstände, so ist es gleichgültig, ob wir diese Gedanken ausführen können, ohne dabei ein bestimmtes individuelles Gebilde der Art vor Augen zu haben oder nicht, ob wir darauf angewiesen sind, eine individuelle Vorstellung eines Gebildes dieser Art vor Augen zu haben oder nicht. Das ist eine psychologische Nebenfrage, die die Hauptfrage, um die der Streit geht, nämlich die Frage nach der Möglichkeit allgemeiner Begriffe, nicht berührt. Der nächste Schritt, den Berkeley unternimmt in seinem Kampf gegen den Rationalismus, ist die Polemik gegen die Lehre von den primären und sekundären Qualitäten. Es gibt ein eigenes Buch von ihm, die » Theorie des Sehens«, in dem er vor allem nachweist, daß die Vorstellung der Entfernung, der Tiefendimension, nur im Laufe der Erfahrung sich entwickelt, und zwar durch die Verbindung der Erfahrungen des Tastsinns und der Bewegungsempfindungen mit denen des Gesichtsinns. Er sagt: »Strenggenommen ist demnach von den Gesichtswahrnehmungen, wenn wir durch sie Entfernung und entfernte Dinge auffassen, zu sagen, daß sie uns nicht Dinge, die gegenwärtig in einer Entfernung existieren, bekunden oder zum Bewußtsein bringen, sondern uns nur darauf aufmerksam machen, welche Tastideen in unserem Geiste entstehen werden nach bestimmten Zeitabschnitten und infolge bestimmter Handlungen.« Wenn wir also die Vorstellung haben, daß ein Gegenstand sich in einer bestimmten Entfernung von uns befindet, so beruht dies auf der assoziativen Verknüpfung der Gesichtswahrnehmung mit gewissen Vorstellungen aus dem Gebiete des Tastsinns oder der Bewegungsempfindungen und der dadurch entstehenden Erwartung, daß, wenn wir zum Beispiel auf den Gegenstand zugehen, dazu eine gewisse Muskelarbeit erforderlich ist. Dadurch verliert die Vorstellung der Tiefendimension ihre objektive Bedeutung. Sie ist nicht etwas, was wir anschaulich erkennen können, was die Erkenntnis des gesehenen Gegenstandes objektiv erweitert, sondern sie ist nur eine subjektive Verbindung der Gesichtsvorstellung mit Vorstellungen aus dem Gebiete anderer Sinnesempfindungen. Aber auch abgesehen von dieser Frage zeigt sich für Berkeley, daß

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

71

die Vorstellung des Raumes und der räumlichen Ausdehnung überhaupt gar nicht für sich möglich ist. Wir können, sagt er, keine ausgedehnte Fläche uns vorstellen ohne eine bestimmte Farbe. Wir können von der Farbe gar nicht abstrahieren. Wir können uns also nur eine bestimmt gefärbte Fläche vorstellen. Und wie verhält es sich mit dem absoluten Raum, wie Newton ihn in seinen kinematischen Betrachtungen verwendet, und wie mit der absoluten Bewegung? Alles dies, sagt Berkeley, sind Fiktionen, die uns im Grunde auf die absurde Vorstellung eines allgemeinen Raumes und einer allgemeinen Bewegung zurückführen würden, die ja schon als widerspruchsvoll erwiesen sind. Wir wollen auch diese Gedanken einer Kritik unterziehen. Es verhält sich hier ganz ähnlich wie bei der Polemik gegen die allgemeinen Begriffe. Berkeley bleibt auch hier an einer psychologischen Nebenfrage hängen. \Vir werden zugeben, daß wir keine eigene Vorstellung einer Fläche, unabhängig von einer bestimmten Färbung, haben. Wir können das Bewußtsein der räumlichen Ausdehnung nicht isolieren von dem Bewußtsein der Farbe. In diesem Punkt wird also Berkeley recht behalten. Aber was er gar nicht näher untersucht hat, das ist die Frage, ob denn wirklich hier eine Gleichartigkeit besteht für das Bewußtsein in der Vorstellung der Farbe und in der Vorstellung der Ausdehnung. Wir können uns weder die Farbe vorstellen ohne Ausdehnung noch die Ausdehnung ohne Farbe. Und doch besteht hier ein Unterschied, den Berkeley unberücksichtigt gelassen hat. Wir können in Gedanken recht wohl abstrahieren von der Farbe, sowohl nach Qualität als nach Intensität, und allein die räumliche Ausdehnung, die sie einnimmt, als solche untersuchen. Wir mögen die Farbe nach Intensität und Qualität wechseln lassen, wie wir wollen, die räumliche Ausdehnung bleibt dabei unwandelba.r bestehen. Diese Abstraktion ist nun aber nicht umgekehrt möglich, so etwa, daß wir von der räumlichen Ausdehnung abstrahieren könnten und dann noch die Farbe übrigbehielten und für sich untersuchen könnten. Sondern es besteht hier ein durchaus einseitiges Verhältnis. Die Raumvorstellung ist ausgezeichnet vor den Sinnesempfindungen. Und so geht auch Richtiges und Falsches durcheinander in Berkeleys Kritik der Vorstellung der Tiefendimension. Es ist richtig, daß sich diese Vorstellung nur an Hand der Erfahrung entwickelt, und zwar,

72

Vorbetrachtungen

wie dies Berkeley nachweist, an Hand der Erfahrungen, die sich aus dem Gebiete der Muskelempfindungen und des Tastsinns zu denen des Gesichtssinns hinzugesellen. Und doch würde uns die dadurch entstehende Assoziation für sich allein niemals die Vorstellung der Tiefe geben. Wir haben hier in der Tat einen eigenen Gehalt einer Vorstellung räumlicher Art, wenn auch die fraglichen Empfindungen den Anlaß bilden, diesen Vorstellungsgehalt für sich ins Bewußtsein zu heben. Wir wissen doch, was das Wort »Tiefe« bedeutet. Dies Wort hat eine eigene Bedeutung, unabhängig von den assoziativ mit anklingenden Bewegungs- oder Tastempfindungen. Die Vorstellung der Tiefe läßt sich nicht auf solche Empfindungen zurückführen. Berkeley zieht indessen unerschrocken die Konsequenz aus dieser empiristischen Umdeutung des Tatbestandes. Diese Konsequenz richtet sich gegen Vorstellungen, wie sie in der Mathematik üblich und unentbehrlich sind. Die Polemik gegen die primären Qualitäten führt so zu einer empiristischen Revision der Geometrie. Sie richtet sich insbesondere gegen den Begriff der Stetigkeit. In der Tat: Für die bloße Empfindung gibt es eine Grenze der Unterschiedsempfindlichkeit, einen sogenannten Schwellenwert. Hierauf fußt Berkeley, wenn er von der Vorstellung der Stetigkeit sagt: »Da diese Vorstellung die Quelle aller jener ergötzlichen geometrischen Paradoxien ist, die in so schroffem Widerstreit zu dem schlichten Menschenverstande stehen und die ein noch nicht durch Gelehrsamkeit von dem geraden Wege abgelenkter Geist nur mit so viel Widerstreben in sich aufnimmt, so ist sie der Hauptanlaß zu aller jener mißlichen äußersten Subtilität, welche das mathematische Studium so schwierig und abstoßend macht. Können wir also zeigen, daß keine endliche Ausdehnung unendlich viele Teile enthält oder ins Unendliche teilbar ist, so folgt, daß hierdurch sofort die geometrische Wissenschaft von einer Menge von Schwierigkeiten und Widersprüchen befreit werden wird, welche stets der menschlichen Vernunft zum Vorwurf gereicht haben, und daß zugleich die Aneignung dieser Wissenschaft weniger Zeit und Mühe kosten wird als bisher.« Er fährt fort: »Jede einzelne begrenzte Ausdehnung, welche ein Objekt unseres Denkens werden kann, ist eine Idee, die nur in dem Geiste existieren kann, und demgemäß muß jeder Teil derselben per-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

73

zipiert werden. Wenn ich also nicht unzählig viele Teile in irgendeiner begrenzten Ausdehnung, die ich betrachte, perzipieren kann, so ist gewiß, daß sie nicht darin enthalten sind; es ist aber offenbar, daß ich nicht unzählig viele Teile in irgendeiner einzelnen Linie, Fläche oder einem Körper unterscheiden kann, mag ich diese Gebilde sinnlich wahrnehmen oder sie mir in meinem Geiste vorstellen; hieraus schließe ich, daß dieselben darin nicht enthalten sind.« Berkeley begnügt sich nicht mit dieser allgemeinen Feststellung, sondern er geht sehr tief in diese Materie hinein. Es gibt von ihm ein eigenes Buch, » The Analyst«, in dem er sich auf die Einzelheiten der Begründung der Analysis des Unendlichen einläßt und mit den Mathematikern seiner Zeit in eine Polemik über diesen Gegenstand eintritt. Sein Zweck ist dabei der durchaus gelungene und verdienstvolle Nachweis, daß dieser Zweig der Mathematik - in seinem damaligen Zustand - an unlösbaren Paradoxien und unverständlichen Mysterien den Dogmen der Theologie nichts nachgibt. Das Wesentliche dieser Polemik ist die empiristische Kritik des Stetigkeitsbegriffs. Alles bisher Betrachtete ist aber gleichsam nur Vorbereitung zu dem eigentlichen Lehrstück der Berkeleyschen Philosophie. Dieses ist die Kritik der äußeren Wahrnehmung. Von allen Seiten sucht Berkeley die Gültigkeit und Gewißheit der äußeren Wahrnehmung zu erschüttern. Im Grunde ist sie ja schon erschüttert durch die empiristische Kritik der Raumvorstellung; aber auch unabhängig davon wird eine Fülle von Argumenten von Berkeley beigebracht zur Kritik der äußeren Wahrnehmung. So fragt er: Könnte nicht die äußere Wahrnehmung, wenn sie uns auch nicht unmittelbar äußere Gegenstände erkennen läßt, wenigstens auf solche hindeuten als ihr Abbild oder Zeichen? Seine Antwort ergibt sich konsequent aus seinen empiristischen Voraussetzungen. Berkeley argumentiert so: Vorstellungen-und die äußere Wahrnehmung ist eine Vorstellung - können nur Vorstellungen ähnlich sein und nicht äußeren Dingen, ausgedehnten Dingen. Die Annahme, daß es außer den Abbildern oder Eindrücken der Gegenstände in unserem Geiste noch außerhalb unseres Geistes in der Außenwelt diese Gegenstände gäbe, ist eine unnütze Verdoppelung. Die übliche und allgemein verbreitete Lehre von der repräsentativen Bedeutung der äußeren Wahrnehmung - »repraesentatio« heißt ja Vorstellung - enthält diese Ver-

74

Vorbetrachtungen

doppelung, wonach wir einmal die Gegenstände außer uns haben und zweitens ein Abbild von ihnen in unserem Geiste. Durch diese Verdoppelung wird für Erklärung, Auffassung oder Verdeutlichung der Tatsachen nichts gewonnen. Diese Kritik Berkeleys ist an und für sich wieder durchaus einwandfrei und überzeugend, wenn man ihre Voraussetzung zugibt, daß nämlich die äußere Wahrnehmung uns ein Abbild oder Zeichen von irgend etwas anderem gibt, so daß denn die Frage entstünde, ob wir auf Grund dieses Abbildes oder Zeichens auf die Existenz des Abgebildeten oder Bezeichneten schließen dürfen. Aber stimmt denn die Voraussetzung? Haben wir in uns solche Bilder oder Zeichen von Gegenständen? Diese Frage hat Berkeley nicht näher untersucht. Es gilt ihm von vornherein als ausgemacht, daß es sich so verhält und daß unmittelbar keine äußeren Gegenstände wahrgenommen werden können, sondern nur ihre Vorstellung in uns. Das gilt ihm nicht nur als zugegeben, sondern sogar als selbstverständlich. Das war auch so allgemein zugegeben, daß es gar nicht in Frage gezogen wurde und daß niemand auf den Gedanken kam, es in Frage zu ziehen. Es galt als Axiom, das er unbesehen voraussetzen konnte. Und wie verhält es sich, fragt Berkeley weiter, mit der Vorstellung der Materie, der ausgedehnten Substanz? Läßt sich nicht etwas Derartiges annehmen? Hier geht er in der schon von Locke eingeschlagenen Richtung weiter. Schon Locke hatte gezeigt, daß wir nichts weiter in der Erfahrung finden als eine gewisse, mehr oder weniger häufige Verbindung wahrnehmbarer Eigenschaften; nicht aber außerdem noch eine Substanz als sogenannten » Träger« dieser Eigenschaften. Berkeley geht - konsequent empiristisch - weiter als Locke darin, daß er die Vorstellung eines solchen Trägers der Eigenschaften nicht nur als die Vorstellung von etwas Unerkennbarem aus der Wissenschaft beseitigt, sondern als eine müßige und an sich sogar sinnlose Fiktion enthüllt - sinnlos in der eigentlichen Bedeutung, daß es sich hier um ein Wort ohne Sinn handelt. Wir können den Sinn dieses Wortes überhaupt nicht auffassen. Was wir in Gedanken auffassen, in unser Bewußtsein aufnehmen können, das sind immer nur einzelne wahrnehmbare Qualitäten in mehr oder weniger regelmäßiger Verbindung miteinander, so wie die Erfahrung uns diese Verbindung kennen lehrt.

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

75

Wie verhält es sich nun wirklich mit der Vorstellung der räumlichen Substanz? Haben wir sie nicht nötig? Mit großer Klarheit weist Berkeley hier nach, daß keine Wahrnehmung einer solchen Substanz möglich ist. Was wir wahrnehmen, sind die bestimmten einzelnen Qualitäten, die uns unsere Sinne zeigen und die wir in gewisser Verbindung miteinander vorfinden, aber das ist nicht außer diesen einzelnen Qualitäten noch ein von ihnen verschiedener vermeintlicher »Träger«, - »so, wie Säulen ein Gebälk tragen«, sagt Berkeley. So etwas finden wir nicht, sondern wir finden nur die einzelnen Sinnesqualitäten selber in bestimmter Verbindung miteinander. Es sind nur die Verbindungen sinnlicher Qualitäten, die wir Dinge nennen. Berkeley führt hier nur einen Gedanken weiter, den wir schon bei Descartes finden. Schon Descartes weist nach, daß wir kein materielles Ding als solches durch unsere Sinne wahrzunehmen vermögen. Die materielle Substanz ist vielmehr ein bloßer Gegenstand des Denkens. So weit hatte Descartes die Überlegung geführt. Berkeley nimmt diesen Gedanken seinerseits auf und zieht nur den Schluß daraus, auf Grund seines empiristischen Obersatzes. Danach verfällt diese nur denkbare materielle Substanz der nominalistischen Kritik. Wenn wir alle okkulten Qualitäten, gegen die sich von jeher die Polemik des Empirismus gerichtet hatte, beseitigen, dann müssen wir auch den Begriff der Materie beseitigen. Okkulte Qualitäten sind für diese Polemik solche, die sich der Wahrnehmung entziehen. Dieser Gedankengang ist so weit wieder völlig konsequent, und wir können zur Kritik nur das eine sagen, daß Berkeley es ganz unterlassen hat, sich die Frage zu stellen, wie wir denn die Verbindung der einzelnen Sinnesqualitäten, die in Verbindung miteinander auftreten, ihrerseits erkennen. Wie verhält es sich mit dieser Erkenntnis? Wenn Berkeley sich diese Frage vorgelegt und sie untersucht hätte, so hätte er gefunden, daß die Erkenntnis dieser Verbindung etwas ganz anderes ist als eine bloße Assoziation zwischen unseren Vorstellungen der einen und anderen Qualität. Wir werden darauf ausführlich zurückkommen bei der Erörterung der Humeschen Theorie. Bei Berkeley gehen die Frage nach der Existenz der materiellen Substanz und die Frage nach der Objektivität unserer Sinneswahrnehmungen noch sehr durcheinander, die Fragen, ob Materie als solche für uns

76

Vorbetrachtungen

wahrnehmbar ist und ob die äußere Wahrnehmung als solche objektive Gültigkeit hat. Auf diese letztere Frage findet ein weiteres Argument Berkeleys Anwendung, mit dem wir denn auch in den Mittelpunkt seiner Kritik der äußeren Wahrnehmung kommen. Es ist der Satz, in dem seine ganze erkenntnistheoretische Lehre gipfelt: »esse = percipi« (Sein ist gleich Wahrgenommenwerden). Berkeley hat für diesen Satz eine überaus einfache Begründung. Wie er nämlich behauptet, schließt die gegenteilige Annahme - also die Annahme eines absoluten Daseinseinen Widerspruch ein. Er sagt: Man versuche es, einen Gegenstand als etwas für sich Bestehendes vorzustellen. Man wird alsbald bemerken, daß dies nur durch die Vorstellung des Gegenstandes geschieht. »Ihr müßtet«, sagt er, » vorstellen, daß sie - die Gegenstände - existieren, ohne daß sie vorgestellt werden, was ein offenbarer Widerspruch ist.« Wir können diesen Widerspruch sehr leicht auflösen. Er ist nur durch eine Unbestimmtheit der Beziehung, in der der Ausdruck »ohne daß« in diesem Satz gebraucht wird, vorgetäuscht. Es kommt darauf an, worauf wir das »ohne daß« beziehen, ob auf »Ihr müßtet vorstellen« oder auf »daß sie existieren«. Natürlich können wir nichts vorstellen ohne vorzustellen. Damit ist die Frage jedoch nicht entschieden. Denn dem Sinn der Frage nach bezieht sich das »ohne daß« auf »existieren«. Und dann liegt in dem Satz kein Widerspruch. Was hier immer irreführt, das ist die Zweideutigkeit des Wortes» Vorstellung«. Wir können in einem doppelten Sinn von der Vorstellung sprechen - sagen wir von der Vorstellung der Tafel. Einmal bedeutet das Wort das Vorstellen und ein andermal bedeutet es das Vorgestellte. Berkeley aber vertauscht diese Begriffe. Er behandelt das Vorgestellte wie das Vorstellen und nennt darum die Tafel eine bloße Vorstellung in uns. Gehen wir dem Gedanken etwas genauer nach, so finden wir, daß er schon an sich unhaltbar ist. Es fehlte da nämlich schließlich für das Vorstellen ein Gegenstand. Ich meine damit nicht, daß der Vorstellung nichts außer ihr Existierendes entspräche; diese Frage wollen wir hier einmal ganz beiseite lassen. Sondern es würde der Vorstellung schon das fehlen, was in ihr vorgestellt werden soll, und etwas muß doch in ihr vorgestellt werden, mag dieses Etwas außerhalb der Vorstellung existieren oder nicht. Also ich sage: Jede Vorstellung ist die Vorstellung von etwas. Wenn

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

77

daher die Tafel nur unsere Vorstellung ist, so entsteht die Frage: Was soll denn eigentlich hier vorgestellt werden? Vielleicht sagt man: »Die Tafel«. Wir wollen diese Antwort prüfen. Die Tafel ist danach die Vorstellung der Tafel. Aber die Tafel ist ja, nach eben diesem Satz, nichts anderes als die Vorstellung der Tafel. Wir müssen also genauer sagen: »Die Tafel ist die Vorstellung der Vorstellung der Tafel.« Die Vorstellung wessen? Der Tafel. Also müssen wir statt» Tafel« wieder schreiben » Vorstellung der Tafel«, und so geht es ins Unendliche weiter: »die Vorstellung der Vorstellung der Vorstellung der Vorstellung ... « und so weiter. Es bleibt nichts, was wir eigentlich vorstellen. Es wäre also auch die Vorstellung selber als solche nicht möglich. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist daher, daß nicht sowohl, wie Berkeley meint, die Verneinung seines Grundsatzes »esse = percipi« einen Widerspruch einschließt, sondern dieser Grundsatz selber. Auf ihm erhebt sich bei Berkeley eine ausschweifende spiritualistische Metaphysik unmittelbar verbunden mit einem Salto mortale in die Theologie. »Sein ist gleich Bewußtsein«, sagt er. Es bleibt ihm so, nachdem er den Erkenntniswert der äußeren Wahrnehmung zerstört hat, um so mehr und um so fester die Evidenz der inneren Wahrnehmung stehen. Und diese bürgt ihm für die Existenz der Seele als einer einfachen, also unteilbaren und darum auch unzerstörbaren und folglich unsterblichen Wesenheit. Wir haben unsere »sinnlichen Ideen« nicht selbst erzeugt - sie sind die ursprünglichen Vorstellungen, die wir zur Bildung neuer, zusammengesetzter Vorstellungen verwenden können. Wir verhalten uns bei ihnen passiv - eine Ansicht, die sich schon bei Descartes und Locke findet. Die Ursache der »sinnlichen Ideen« liegt also nicht in uns selber. Da sie aber auch nicht in äußeren Gegenständen liegt, so kann sie nur in einem geistigen Wesen liegen, von dem wir abhängen. So schließt Berkeley auf die Existenz Gottes als des Urhebers unserer sinnlichen Ideen. Die Ordnung und der Zusammenhang, in denen wir von Gott diese Vorstellungen empfangen, das sind die Naturgesetze, wie die Erfahrung sie uns erkennen läßt und wie sie die Voraussicht der Zukunft ermöglichen, eine Voraussicht, die uns befähigt, unsere Handlungen zum Nutzen des Lebens zu ordnen. Dieser Sprung in die spiritualistische Metaphysik geschieht auf Grund einer naiven Voraussetzung der objektiven Gültigkeit sowohl der Sub-

78

Vorbetrachtungen

stanzvorstellung wie der Kausalvorstellung, gerade der Vorstellungen, auf die sich vorher - allerdings nur in ihrer Anwendung auf die äußere Welt - Berkeleys schonungslose Kritik gerichtet hatte. Es kommt hier aber noch eine besondere Täuschung hinzu, die nicht so an der Oberfläche liegt. Diese Täuschung, die noch lange nach Berkeley fortwirkte und noch in der Gegenwart eine Rolle spielt, betriff!: das, worauf seine Behauptung beruht, die Ordnung und der Zusammenhang unserer sinnlichen Ideen seien gleichbedeutend der Ordnung und dem Zusammenhang nach Naturgesetzen. Es gibt gewiß eine solche Ordnung und einen solchen Zusammenhang zwischen unseren Vorstellungen, der den Charakter der Naturgesetzlichkeit besitzt. Das ist nämlich die Naturgesetzlichkeit in der Assoziation unserer Vorstellungen. Kann man aber die Naturgesetze, so wie sie für die Naturwissenschaft, insbesondere für die Physik ihre Bedeutung haben, auf einen solchen assoziativen Zusammenhang unserer Vorstellungen zurückführen? Das ist die Frage, auf die hier alles ankommt. Und da bemerkt man denn leicht: erstens, daß der Verlauf der Vorstellungen, wie er durch die Gesetze der Assoziation beherrscht wird, ja allemal erst eingeleitet und oft genug unterbrochen wird durch die Sinneswahrnehmungen, wo dann das Eintreten einer solchen Sinneswahrnehmung nicht wieder die Folge einer Assoziation der Vorstellungen ist, sondern diesen Zusammenhang gerade unterbricht. Hier setzt jedesmal eine neue Reihe von assoziativ verknüpften Vorstellungen ein, eine Reihe, deren erstes Glied für den Spiritualismus allemal ein neues Wunder darstellt, wie ja denn auch Berkeley für die Möglichkeit dieses ersten Gliedes Gott als Erklärungsgrund zu Hilfe nimmt. Aber noch von einer anderen Seite zeigt sich hier der Fehler sehr deutlich. Es entsteht nämlich die Frage: Wodurch unterscheiden sich die von Gott gegebenen sinnlichen Ideen - wie Berkeley sie nennt - und unsere bloßen Einbildungen, die wir uns selber machen? Wir finden nach Berkeleys grundlegender Annahme nur Vorstellungen in uns. Aber wenn wir auch nur in jener spiritualistischen Umdeutung unsere Vorstellungen zu so etwas wie Wissenschaft verwenden wollen, so müssen wir wissen, an welche Vorstellungen wir uns halten sollen, um nicht auf bloße Einbildung zu bauen. Berkeley gibt ein Kriterium für diesen Unterschied wirklich an. Er sagt: Die sinnlichen Ideen sind dadurch

Neuere Philosophie dialektisch be~rachtet

79

ausgezeichnet vor den bloßen Einbildungen, daß sie »mehr Realität in sich« haben als jene. Er meint damit, sie sind »kräftiger, geordneter, zusammenhängender«. Das ist eine Ansicht, die uns bei Hume wieder begegnen wird und mit der wir uns dort ausführlich zu beschäftigen haben, eine Ansicht, die auch ihre Verwandts•chaft mit der Lehre des Descartes von der »perceptio clara et distincta« deutlich verrät und deren noch sehr versteckte Zweideutigkeit offen zutage treten läßt. In Berkeleys Kriterium sind zwei sehr verschiedene Merkmale nebeneinandergestellt. Zunächst, was das Merkmal »kräftiger« betriffi, so haben wir hier einen bloßen Gradunterschied, so daß die bloße Steigerung der Lebhaftigkeit eine Einbildung in eine sinnliche Idee verwandeln würde. Eine Halluzination zum Beispiel würde dann den Charakter einer sinnlichen Idee annehmen. Dieser Unterschied ist unmittelbar nur psychologischer Natur. Wir haben aber noch die anderen Merkmale: Ordnung und Zusammenhang sollen es sein, was die sinnlichen Ideen auszeichnet vor den Einbildungen. Und diese Ordnung und dieser Zusammenhang sollen das ausmachen, was wir die Naturgesetze nennen. Danach ist es die Naturgesetzlichkeit im Auftreten der sinnlichen Ideen, was diese überhaupt als solche kennzei,chnet zum Unterschied von den Einbildungen. Dann aber ist die Behauptung der Naturgesetzlichkeit trivial, darum nämlich, weil die sinnlichen Ideen, für die allein diese Naturgesetzlichkeit behauptet wird, erst durch das Merkmal einer solchen Ordnung und eines solchen Zusammenhanges definiert sind. Die Naturgesetzlichkeit wäre durch bloße Nominaldefinition gesichert. Dieser Teil der Berkeleyschen Theorie ist bisher wenig beachtet worden. Indessen ist er noch immer von Gegenwartsinteresse, und zwar angesichts der modernen spiritualistischen Umdeutung der Physik, speziell bei Mach. Die empiristische Schule endet bei Berkeley, wie wir sagen können, mit der Bankrotterklärung der Physik, mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Erkenntnis der äußeren Natur. Die rationalistische Schule hält an der Möglichkeit der äußeren Naturerkenntnis fest, aber sie müht sich mit einer metaphysischen Hyperphysik ab, mit einer Erklärung der Naturerscheinungen aus der Allwirksamkeit Gottes. In diesem Gegensatz erbt sich der alte Streit zwischen Nominalisten und

Vorbetrachtungen

80

Realisten fort. Dialektisch finden wir dabei einen fortschreitenden Ausgleich der Gegensätze. Was trennend bleibt, ist im Grunde nur die Stellung zur Frage der angeborenen Ideen und, in Verbindung damit, zur Bedeutung der Abstraktion.

IV.

EXKURS:

DIE

PHILOSOPHISCHE BEDEUTUNG

DER GALILEI-NEWTONSCHEN PHYSIK

Während die Philosophen ihren Streit über die allgemeinen Begriffe fortführten und über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der wissenschafl:lichen Naturerkenntnis grübelten, war diese wissenschafl:liche Naturerkenntnis längst Wirklichkeit geworden. Die fruchtbare Entwicklung, die sie genommen hatte, brauchte nur aufgefaßt zu werden, um den Rahmen jedes der beiden miteinander ringenden Schulsysteme zu sprengen. Um hiervon einen Begriff zu geben, will ich die klassische Entdeckung betrachten, durch die Galilei den Grundstein der mathematischen Physik gelegt hat: seine Entdeckung des Fallgesetzes. Zuvor aber werde ich einige Jahreszahlen nennen, die ein überraschendes Licht auf das Zurückbleiben der Philosophie hinter der Physik werfen. Wir haben vor allem drei Philosophen behandelt: Descartes lebte von 1596 bis 1650, Locke von 1632 bis 1704, Berkeley von 1685 bis 1753. Galilei ist 1564 geboren; seine für uns wichtigste Schrift, die »Discorsi e dimonstrazioni matematiche« erschien 1638 - er starb 1642 im Geburtsjahr Newtons. Die Frage, die im Mittelpunkt seiner auch sonst überaus gedankenreichen Schrift steht, geht dahin: Nach welchem Gesetz bewegt sich ein frei fallender Körper? über diese Frage hatte schon vor Galilei mancher Forscher spekuliert. Man hatte zum Beispiel durch Spekulation feststellen zu können geglaubt, daß Körper von größerem Gewicht schneller fallen als solche von geringerem. Galilei stellte zunächst die folgende Überlegung an: Da die Geschwindigkeit des frei fallenden Körpers fortwährend wächst, soll eine mathematische Beziehung zwischen dieser wachsenden Geschwindigkeit und einer der beiden Größen Fallweg oder Fallzeit aufgesucht werden. Die einfachste denkbare Beziehung dieser Art ist ein Anwachsen der Geschwindigkeit im gleichen Verhält-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

81

nis entweder mit dem länger werdenden Fallweg oder mit der größer werdenden Falldauer. Galilei prüfte zunächst die erste Annahme, wonach die in einer bestimmten Zeit vom fallenden Körper erlangte Geschwindigkeit proportional ist dem in dieser Zeit durchlaufenen Weg. Mathematische Überlegungen, die wir heute allerdings als fehlerhaft erkennen, brachten ihn zu dem richtigen Ergebnis, daß sich mit diesem Ansatz die Fallbewegung nicht deuten läßt. So versuchte er es mit der zweiten Annahme, wonach die Geschwindigkeit proportional mit der F allzeit wächst. Nun galt es, diese Vermutung an der Beobachtung zu prüfen. Dieser Aufgabe aber standen verschiedene Schwierigkeiten entgegen. Zunächst ist mit der Vorstellung einer ständig wachsenden Geschwindigkeit der hergebrachte Begriff der Geschwindigkeit gesprengt und die diesem Begriff gemäße Methode der Geschwindigkeitsmessung unanwendbar geworden. Wir messen die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers durch das Verhältnis des zurückgelegten Weges zu der für ihn benötigten Zeit. Wir müssen den bewegten Körper also über einen endlichen Weg hin und während einer endlichen Zeitdauer verfolgen, die Länge dieses Weges und die Dauer dieser Zeit messen und das Verhältnis beider Werte bestimmen. Die so errechnete Geschwindigkeit gilt daher unmittelbar nur für den berücksichtigten Bewegungsabschnitt im Ganzen und kann nur dann auch einem bestimmten Weg- oder Zeitpunkt dieses Abschnitts zugeschrieben werden, wenn für alle einen solchen Punkt einschließenden kürzeren Bewegungsabschnitte der gleiche Geschwindigkeitswert angenommen werden darf. Diese Bedingung aber charakterisiert die gleichförmige Bewegung, bei der der Körper jeweils in gleichen Zeiten gleiche Wegstrecken durchläuft. Für die Fallbewegung ist diese Deutung und Messung der Geschwindigkeit also nicht brauchbar. Wir sind auf eine Verschärfung und Erweiterung des Geschwindigkeitsbegriffs angewiesen, wenn wir einer ungleichförmigen Bewegung für einen bestimmten Zeitpunkt überhaupt eine errechenbare Geschwindigkeit zuschreiben wollen. Die mathematische Aufgabe, die sich damit stellt, wird erst in der Infinitesimalrechnung gelöst, und zwar durch die Bestimmung des Grenzwerts, dem das Weg-Zeit-Verhältnis bei immer kleiner werdenden, den untersuchten Zeitpunkt einschließenden Zeitintervallen zustrebt.

82

Vorbetrachtungen

Galilei fand diese mathematische Disziplin noch nicht vor. Aber er half sich in genialer Weise durch eine anschauliche Überlegung, die später durch die Grenzwertbestimmung der Geschwindigkeit voll gerechtfertigt wurde. Er fragte sich: Welche Geschwindigkeit müßte ein gleichförmig bewegter Körper haben, der in der gleichen Zeit, in der ein fallender Körper einen bestimmten Weg durchfällt, einen Weg gleicher Länge zurücklegt? Wenn die Vermutung zutrifft, wonach die Fallgeschwindigkeit proportional mit der Fallzeit zunimmt, dann muß, so schloß er, die konstante Geschwindigkeit eines solchen gleichförmig bewegten Körpers gleich der halben Endgeschwindigkeit des fallenden Körpers sein oder - was auf dasselbe herauskommt - gleich der Geschwindigkeit, die der fallende Körper genau in der Mitte der untersuchten Falldauer gewonnen hat. Denn unter dieser Bedingung wird die Geschwindigkeit des gleichförmig bewegten Körpers in der ersten Halbzeit die des fallenden Körpers im Ganzen gesehen um ebenso viel übertreffen, wie sie in der zweiten Halbzeit hinter ihr zurückbleibt. Diese Überlegung ermöglichte es Galilei nun, eine Beziehung zwischen Fallweg und Fallzeit zu gewinnen, deren experimentelle Kontrolle nicht mehr an die Messung der Geschwindigkeit eines ungleichförmig bewegten Körpers gebunden ist;. Hat nämlich der fallende Körper nach der Fallzeit t die dieser Zeit proportionale Geschwindigkeit V=

gt

erlangt - wobei die Konstante g die in der Zeiteinheit erlangte Geschwindigkeit, die sogenannte Beschleunigung, bedeutet-, so muß sich der gleichförmig bewegte Körper während der ganzen Zeit t mit der Geschwindigkeit

bewegen. Er legt dabei den Weg s=_!.!__t=_g_t2 2 2

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

83

zurück, der nach dem anschaulich abgeleiteten Hilfssatz mit dem Fallweg übereinstimmt. Die für s gewonnene Formel nennt uns also die Beziehung zwischen Fallweg und Fallzeit: Der Fallweg wächst proportional mit dem Quadrat der Fallzeit. Aber auch diese Beziehung konnte Galilei noch nicht unmittelbar durch Messung kontrollieren. Ein frei fallender Körper bewegt sich viel zu rasch, als daß die für einen bestimmten Weg benötigte Fallzeit mit den bescheidenen Meßinstrumenten, über die jene Zeit verfügte, hinreichend genau hätte bestimmt werden können. Galilei fand einen Ausweg in der einfachen Vermutung, daß der verlangsamte Fall auf der schiefen Ebene zwar mit geringerer Beschleunigung, also mit einem kleineren Wert für g, aber sonst nach dem gleichen Gesetz verläuft wie der freie Fall. Und nun gelang es ihm in der Tat, mit Hilfe einer sinnvoll konstruierten Wasseruhr durch Experiment und Messung die Vermutung zu bestätigen, daß die Fallstrecken proportional dem Quadrat der Fallzeiten wachsen. Daraus folgt, daß die Fallgeschwindigkeit der Fallzeit proportional ist. Damit war zum ersten Mal ein Naturgesetz, das den Ablauf einer Bewegung bestimmt, mathematisch formuliert und experimentell bestätigt worden. Auf dieser Entdeckung des Fallgesetzes und Keplers mathematischer Darstellung der Planetenbewegung baut Newtons großes Werk auf. In seinen 1687 erschienenen »Principia philosophiae naturalis mathematica« leitet Newton aus den Ergebnissen seiner Vorgänger das allgemeine Gravitationsgesetz ab und führt damitdasFallen irdischer Körper und die Bewegung der Himmelskörper auf eine und dieselbe Kraft zurück, auf die wechselseitiger Anziehung, die Massen aufeinander ausüben. In diesem Buch legt er auch den Grund zur Infinitesimalrechnung, durch die nun erst die Begriffe der Geschwindigkeit und Beschleunigung für beliebige Bewegungen mathematisch scharf gefaßt werden können. Zugleich findet hier das Fallgesetz Galileis eine Deutung, die dieser selber nur geahnt hat, aber noch nicht klar herausarbeiten konnte: Die mit der Zeit gleichmäßig sich ändernde Geschwindigkeit einer Bewegung, ihre gleichförmige Beschleunigung also, ist das Kennzeichen einer während der Bewegung auf den Körper wirkenden konstanten Kraft. Beim fallenden Körper ist es die Anziehungskraft der Erde.

84

Vorbetrachtungen

Diese Entwicklung der exakten Naturwissenschaft entscheidet nun in der Tat faktisch den mittelalterlichen Streit über die Realität des Allgemeinen: Diese Realität liegt nämlich im Gesetz. Die noch von Locke für unmöglich gehaltene Aufstellung eines solchen Gesetzes ist etwas ganz anderes und weit mehr als eine bloße Begriffsbildung. Was damit gewonnen ist, das ist nicht etwa eine bloße Klassifikation, das ist andererseits auch nicht eine bloße Beschreibung, das heißt Wiedergabe von Beobachtungen, sondern es ist die Einsicht in einen Zusammenhang, dessen mathematischen Ausdruck die Formel bildet. Dieser Zusammenhang ist auch nicht eine bloß logische Beziehung. Wenn wir das Ge~etz haben, dann können wir daraus schließen, den Einzelfall unterordnen und nach dem Gesetz berechnen. Aber daß das möglich ist, setzt das Bestehen einer in der Vielheit und dem Wechsel der Erscheinungen konstanten Beziehung voraus, die sich nicht logisch einsehen oder erschließen läßt. Die Entdeckung des Gesetzes geschieht durch Induktion und widerlegt damit - worauf ich früher schon hingewiesen habe - die alte These, wonach dem Unterschied der rationalen und der empirischen Erkenntnisweise ein Unterschied der Gegenstände entspricht, wie das von allen Philosophen vertreten wurde, die mit Hilfe der rationalen Erkenntnis in eine übersinnliche Welt einzudringen hoffien. Induktion ist die Methode der Entdeckung von Naturg,esetzen auf Grund der Beobachtung. Sie besteht in einer Vereinigung der rationalen und der empirischen Erkenntnisweise zur Erkenntnis eines und desselben Gegenstandes. Das allgemeine Gesetz bezieht sich in der Tat auf den einzelnen Fall, wie ihn uns di.e Beobachtung zeigt; es gilt nur für beobachtbare Einzelfälle, allerdings für alle. Durch seine Auffindung wird also kein neuer Gegenstand entdeckt neben denen, die wir durch Beobachtung zu erkennen vermögen. Auch die Kraft ist kein solcher zu den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung hinzukommender neuer Gegenstand, kein nur durch Denken erkennbares mystisches Etwas. Durch die Anwendung des Kraftbegriffs wird vielmehr nur die Abhängigkeit der Erscheinungen voneinander aufgefaßt, wie sie dem entdeckten Gesetz entspricht. Mit diesem Begriff wird eine gedankliche Beziehung ausgedrückt, was aber nicht heißt: eine Beziehung zwischen bloßen Gedanken, sondern: eine nur denkbare Beziehung zwischen beobachteten Gegenstän-

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

85

den. Diese Beziehung entzieht sich in der Tat der Wahrnehmung und kann nur denkend erfaßt werden. Sie ist trotzdem im strengen Sinn keine »qualitas occulta«; denn ihre Aufweisung unterliegt der Kontrolle von Beobachtung und Experiment. So erfolgt denn auch die durch Induktion geleistete Entdeckung des Gesetzes nicht etwa unabhängig von der Beobachtung, so daß es nur nachträglich auf diese Anwendung fände. Sie geht von der Beobachtung aus, und sie stützt sich wirklich auf die Beobachtung als ihren Erkenntnisgrund. Das Naturgesetz wird daher auch nicht entdeckt durch bloße Abstraktion im Sinne der Absonderung einer Erkenntnis des Gesetzes von der Erkenntnis der einzelnen Fälle. Wir müßten das Gesetz schon a priori erkennen können, wenn es bloß der Absonderung von der Erfahrung bedürfte, um es zum Bewußtsein zu bringen. So verhält es sich nicht. Sondern das Gesetz wird wirklich erschlossen aus den Beobachtungen, so daß die Beobachtungen als Erkenntnisgrund des Gesetzes beteiligt sind und beteiligt bleiben, nicht nur als ein Anlaß, eine Gelegenheitsursache, um die Abstraktion in Gang zu setzen. Die Entdeckung eines solchen Gesetzes ist also rein a priori nicht möglich. Es bedarf dazu eben der Methode der Induktion. Andererseits können wir hier die Rolle studieren, die die Mathematik spielt bei der Naturforschung, ihre Bedeutung für die Erkenntnis der Natur. Wollten wir uns darauf beschränken, nur die Beobachtungen zusammenzustellen, wie sie etwa durch die Zahlen einer Tabelle zum Ausdruck gelangen, so würde das nie hinreichen für unsere Entdeckung. Sondern es kommt hier etwas die einzelnen Beobachtungen Verbindendes hinzu, nämlich in der Formel. Und das liefert uns die Mathematik. Es ist ja eine rein mathematische Beziehung, die durch diese Formel hergestellt wird. Was ist nun der hier fruchtbare mathematische Begriff, der uns dazu in den Stand setzt? Es ist der Funktionsbegriff. Die Formel erlaubt uns, zu einem beliebigen t das zugehörige s zu errechnen. Und das ist darum möglich, weil hier s als eine Funktion von t entdeckt wird. Jedem Wert von t ist ein bestimmter, nach dem Gesetz berechenbarer Wert von s zugeordnet. Nunmehr sind wir in der Lage, unsere Hauptfrage zu stellen und den Anteil der Metaphysik an dieser Entdeckung zu studieren. Wir brauchen uns nämlich nur die Frage vorzulegen: Wie ist es möglich, daß

86

Vorbetrachtungen

hier die Mathematik so große Dinge tut? So viel wissen wir schon: Diese Möglichkeit beruht auf der Anwendung des Funktionsbegriffs auf die beobachteten Erscheinungen. Aber diese Feststellung weist uns doch nur um so dringlicher auf die Frage hin: Wie ist die Anwendung des Funktionsbegriffes auf die Tatsachen der Beobachtung möglich? Was gibt uns das Recht zur Anwendung dieses an und für sich rein mathematischen Begriffs auf die Erscheinungen der äußeren Natur? Die Beobachtung allein tut es nicht. Wir können in unserer Tabelle so viele Beobachtungen notieren, wie wir wollen - es bleibt immer eine endliche Zahl von Fällen, die wir so erfassen, und wir schreiten dabei unstetig vor. Die Formel dagegen erlaubt uns, auch die nicht beobachteten Fälle, die sich einschalten lassen oder auch außerhalb der Beobachtungsreihe liegen, zu berechnen. Das gelingt erst durch die Einführung des Funktionsbegriffs. Ein anderer mathematischer Begriff von ähnlicher Bedeutung schließt ein entsprechendes Problem ein: der Begriff der Stetigkeit. Die Bestimmung jenes Grenzwerts, der für ungleichförmige Bewegungen die Geschwindigkeit mißt, ist nur möglich, wenn für Zeitintervalle, die gegen Null streben, auch die zugehörigen Wegdifferenzen beliebig klein werden. Das aber heißt: Die Weg-Zeit-Funktion muß stetig sein. Was gibt uns das Recht, die Stetigkeit einer solchen Funktion vorauszusetzen? Die Beobachtung kann darüber nicht entscheiden; ihrer Genauigkeit sind Grenzen gesetzt. Wenn demnach auch die mathematische Formulierung eines Naturgesetzes der Kontrolle von Be~bachtung und Experiment unterliegt, so reicht die empirische Prüfung doch nie so weit, die strenge Anwendung der mathematischen Begriffe zu rechtfertigen. Beobachtung und Mathematik, so fruchtbar sie sind, reichen für sich nicht aus, uns der Anwendbarkeit der Mathematik auf die Beobachtung zu versichern. Hier liegt ein tiefes Problem, dessen Lösung wir an dieser Stelle nicht vorwegnehmen können, auf dessen Bedeutung wir aber aufmerksam werden. Wie seine Lösung aber im übrigen ausfallen mag, das eine geht aus den bisherigen Betrachtungen hervor: Das Vertrauen auf diese Anwendbarkeit, das die Entwicklung der strengen Naturwissenschaft erst ermöglicht hat, ruht auf einer metaphysischen Erkenntnis, der Beobachtung und Mathematik erst ihre Fruchtbarkeit verdanken. Ja, wir

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

87

können mehr sagen: Nur diese metaphysische Erkenntnis verbietet es dem Forscher, über experimentell kontrollierbare Aussagen hinauszugehen, also zum Beispiel okkulte Qualitäten als Erklärungsgründe heranzuziehen, und das heißt hier: Qualitäten, die einer Kontrolle durch die Beobachtungen nicht zugänglich sind. Die Ausschließung der okkulten Qualitäten, dieses Grundpostulat aller gesunden empirischen Naturforschung, hat also selbst seinen Grund nirgends anders als in der Metaphysik. Die Metaphysik steht im Hintergrund aller empirischen Naturforschung und regelt den Gang ihrer Induktionen. Aber sie steht nicht im Vordergrund des Bewußtseins des Forschers. Und so kommt es, daß er sich selbst täuschen kann über dasjenige Element der Erkenntnis, das den ganzen Bau seiner Forschung trägt. Erinnern wir uns an die stillschweigend anerkannte gemeinsame Grundvoraussetzung der beiden philosophischen Schulen, deren Streit wir verfolgt haben, an ihre Klassifikation der möglichen Wahrheiten und der diesen entsprechenden Erkenntnisarten oder auch Erkenntnisquellen, jene Klassifikation, die uns unter mannigfachen Namen und Einkleidungen begegnet ist, dem Wesen nach aber überall sich gleich blieb: die Einteilung in Tatsachenwahrheiten und ewige Wahrheiten, matters of fact und relations of ideas, verites de fait und verites eternelles. Wohin sollen wir das von Galilei entdeckte Naturgesetz rechnen? Gehört es zur ersten oder gehört es zur zweiten Klasse? Ist es eine Tatsache der Beobachtung oder ist es ein Verhältnis von Begriffen? Offenbar ist es keins von beiden, weder das eine noch das andere. Es ist keine Tatsache der Beobachtung, sondern ein allgemeines Verhältnis - aber kein Verhältnis von Begriffen oder Ideen, sondern von Tatsachen, Tatsachen der äußeren Erfahrung. Es fügt sich also nicht dem überlieferten, allseitig anerkannten, dogmatischen Schema der philosophischen Schulen ein. Es durchbricht dieses Schema; es ist mit ihm unvereinbar. Das Naturgesetz ist keine Tatsache der Wahrnehmung und insofern vielmehr eine ewige Wahrheit - aber doch nicht eine solche, die sich, wie man sich bis dahin die Entdeckung der ewigen Wahrheiten gedacht hatte, entdecken ließe durch bloße Vergleichung unserer Vorstellungen, durch die Untersuchung der Übereinstimmung oder des Widerstreits von Begriffen, sondern einzig und allein durch Schlüsse aus Tatsachen der Beobachtung oder des Experiments. Im Lichte dieses Tatbestandes zeigt

88

Vorbetrachtungen

sich, daß faktisch nicht nur das von Locke gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Physik geltend gemachte Hindernis überwindbar ist, wonach die Umgebung der Körper wechselt und damit auch der Einfluß ihrer Umgebung - was nach Locke die Möglichkeit ewiger Wahrheiten auf diesem Gebiete ausschließt -, sondern daß auch das nach Platon Unmögliche möglich wird: die Welt der dem steten Wechsel unterworfenen Erscheinungen der Sinne durch bestimmte Begriffe zu erkennen, sie der wissenschaftlichen Erkenntnis zu unterwerfen. Warum erschien das früher unmöglich? Warum erscheint es noch heute denen, die über diese Frage spekulieren und sich nicht am Gang der Forschung selber zu orientieren vermögen, unmöglich? Es schien ein Verhältnis gegenseitiger Ausschließung zu bestehen zwischen dem Charakter des Wandelbaren und Fließenden der Erscheinungen einerseits und der Eindeutigkeit und Starrheit der allgemeinen Begriffe andererseits. Die Unterordnung des Ersten unter das Zweite erschien als ein Widerspruch, als eine Aufgabe, die daran scheitern mußte, daß entweder der Charakter des Veränderlichen vergewaltigt und das Veränderliche der Erstarrung unterworfen werden müßte oder, umgekehrt, daß der Charakter der Begriffe vergewaltigt und die Begriffe verflüssigt werden müßten. Und in der einen oder anderen dieser beiden Richtungen hat man sich denn auch immer bewegt, wenn man versuchte, diesen Zwiespalt philosophisch zu überwinden, eine Brücke zwischen der Welt des Veränderlichen und Wandelbaren einerseits und der Welt der Begriffe andererseits zu schlagen. überall scheint die Aufgabe darauf hinauszulaufen, entweder die Mannigfaltigkeit und den Wechsel der Erscheinungen zu erklären durch Zurückführung des Mannigfachen und Wechselnden auf diskrete Elemente, die ihrerseits keiner Teilung und keiner Veränderung zugänglich sind, um dann aus solchen unteilbaren und unveränderlichen Elementen die Welt des Zusammengesetzten und Veränderlichen aufzubauen - das Unternehmen der Atomistik im metaphysischen Sinne des °\X'ortes -, oder aber, umgekehrt, der Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dadurch Rechnung zu tragen, daß man auf die Starrheit und Allgemeinheit der Begriffe verzichtet, indem man sie der Wandelbarkeit und Individualität der Erscheinungen anpaßt durch Bildung

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

89

stetig ineinander übergehender, dem Wechsel der Erscheinungen sich anschmiegender, kurz: fließender Begriffe. Ich will zwei neuere Beispiele anführen. Kein Geringerer als der um die theoretische Physik hochverdiente Boltzmann hat den ersten Weg beschritten und zeitlebens mit Zähigkeit verteidigt. Er ist der letzte große Vertreter der atomistischen Physik, das Wort »atomistisch« im strengen Sinne genommen. Er ist in dieser Hinsicht so konsequent gewesen, daß er nicht vor der Paradoxie zurückschreckte, selbst die Zeit in Atome aufzulösen. So hat denn Boltzmann auch die Differentialrechnung auf ein Rechnen mit Differentialen zurückzuführen versucht, auf ein Rechnen mit Atomen als kleinsten Differenzen. Als Gegenbeispiel will ich Bergson nennen. Er schlägt den umgekehrten Weg ein. Um nicht der Individualität, Wandelbarkeit und Stetigkeit der Erscheinungen Gewalt anzutun dadurch, daß man sie allgemeinen und starren Begriffen unterwirft, verlangt er die Bildung fließender Begriffe, solcher Begriffe also, die sich der Individualität und dem Fluß der Erscheinungen anpassen. Im Sinne Bergsons, ja nach seinen ausdrücklichen Erklärungen, liefert gerade die richtig verstandene Differentialrechnung das beste Beispiel für die Richtigkeit und Notwendigkeit dieses Weges. Ein solches Beispiel ist der stetige Übergang der Sekante in die Tangente, jener Übergang, der geometrisch den Grenzübergang darstellt von der Reihe der Differenzen-Quotienten zu dem Differentialquotienten. Nun ist klar, daß hier zwar für die Anschauung in der Tat ein stetiger Übergang erfolgt von der Sekante, wenn wir sie um den gewählten Punkt der Kurve rotieren lassen, in die Tangente durch diesen Punkt. Das heißt aber nicht, daß hier der Begriff der Sekante stetig in den der Tangente überginge, wie es sich Bergson vorstellt. Begrifflich bleibt hier eine unüberbrückbare Kluft: Die Sekante verbindet zwei verschiedene Punkte der Kurve; die Tangente berührt die Kurve in einem Punkt. In Wahrheit also findet bei allen diesen Versuchen, mögen sie sich in der einen Richtung vollziehen oder in der anderen, eine Vergewaltigung entweder der Rechte der Anschauung oder der Rechte des Denkens statt. Das Wesentliche dagegen, das wir uns an dem Beispiel der Galileischen Entdeckung klarzumachen haben, ist, daß bei der hier eingeschlagenen physikalischen Methode keine solche Vergewaltigung stattfindet, weder

90

Vorbetrachtungen

eine solche der Rechte der Anschauung noch eine solche der Rechte des Denkens. Wie ist diese Lösung des Rätsels zu verstehen? Sie ist dadurch zu verstehen, daß das Unveränderliche, auf das hier aller Wechsel zurückgeführt wird, nicht in unveränderlichen Elementen des einzelnen Geschehens selber, um dessen Erklärung es sich handelt, sondern daß es nur in einer Beziehung zwischen dem einen und anderen Geschehen liegt. Es handelt sich hier nicht um die Unterordnung der Erscheinung unter einen Begriff, sondern es handelt sich um ihre Unterordnung unter ein Gesetz. Im Gesetz kommt zum Ausdruck eine Zuordnung zwischen Begri.ff en, genauer: zwischen den Gegenständen eines Begriffs und den Gegenständen eines anderen Begriffs, und nur di,ese Zuordnung wird hier als konstant vorgestellt. Weder das s noch das t i.st eine Konstante, sondern beide sind veränderliche Größen. Aber die Abhängigkeit der einen von der anderen läßt sich als eine konstante Beziehung feststellen und demnach die eine aus der anderen errechnen. Das zeigt sich an der hypothetischen Form des Urteils, in dem sich ein solches Gesetz ausspricht. Die Abhängigkeit des einen Gliedes von dem anderen ist der Sinn der Funktionsbeziehung, die hier festgestellt wird. Es gibt unter philosophierenden Physikern eine extreme Ansicht von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wonach man, um allen metaphysischen Gehalt, der als Vorurteil und Fiktion gilt, aus der Naturforschung zu beseitigen, die Naturgesetze zurückführt auf bloße Konventionen, oder doch wenigstens die metaphysischen Prinzipien, die für die Aufstellung der Naturgesetze leitend sind, ersetzen will durch bloße Konventionen, das heißt durch willkürliche Festsetzungen, die lediglich nach Zweckmäßigkeitsrücksichten erfolgen können. Diese Ansicht liegt durchaus in der Richtung der nominalistischen Konsequenz des Empirismus, wie wir sie von Berkeley her kennen. Es sind aber nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. An die Stelle der verbannten Vorurteile und Fiktionen treten andere Vorurteile und Fiktionen. Die Beseitigung der Metaphysik, wie sie hier beabsichtigt wird, ist nur durch eine neue Metaphysik möglich, die dadurch, daß sie versteckt ihr Spiel treibt und also unkritische Metaphysik sein muß, keinen Vorzug gewinnt vor der beseitigten, sondern durch ihre Verstecktheit und durch die Unmöglichkeit ihrer Kritik nur um so mehr der Schwärmerei und

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

91

dem Vorurteil Tor und Tür öffnet. Wer sich im Ernst die Aufgabe stellen wollte, alle Metaphysik aus der Naturforschung zu beseitigen, der müßte aus ihr alles beseitigen, was die unmittelbare Kompetenz der Beobachtung überschreitet. Philosophisch tiefer denkende Physiker haben längst erkannt, daß bei Verfolgung jener konventionalistischen Umdeutung die physikalische Wissenschaft selbst zerstört werden müßte. Auf diese Besorgnis gründet sich der Einspruch, den ein Forscher wie Planck feierlich erhoben hat gegen die konventionalistische Tendenz, wie sie durch Mach unter den Physikern verbreitet worden ist. In der Tat ist ja klar, daß die konventionalistische Auffassung, wonach die physikalische Theorie nicht nach ihrer Wahrheit, sondern nur nach ihrer Zweckmäßigkeit beurteilt werden dürfte, die physikalische Theorie aller objektiven Bedeutung berauben, ihr jeden Erkenntniswert nehmen muß. Denn was an Wahrheitsgehalt übrigbleibt bei der konventionalistischen Umdeutung der physikalischen Theorie, sind Aussagen nicht über die Natur, sondern über uns selbst, nämlich darüber, welche Annahmen zu machen für uns zweckmäßig ist. Es sind also keine physikalischen Aussagen, die hier stehenbleiben, sondern lediglich psychologische Aussagen, womit die spiritualistische Wendung vollzogen ist, wie wir sie bei Berkeley im einzelnen kennengelernt haben. Es ist nichts als Inkonsequenz und Selbsttäuschung, wenn man sich der Einsicht verschließt, daß von hier aus zur Anwendung der Theorie auf die Naturerscheinungen kein Weg mehr führt.Und es ist nichts als Inkonsequenz und Selbsttäuschung, was verkennen läßt, daß die konventionalistische Umdeutung bei der allgemeinen empiristischen Grundvoraussetzung unabweisbar ist, daß man also nicht bei der empiristischen Grundvoraussetzung stehenbleiben und die konventionalistischen Konsequenzen abstreiten kann. So nämlich verhält sich Planck. Er erhebt seinen Einspruch gegen die alle Physik zerstörenden konventionalistischen Konsequenzen, wagt aber nicht, die empiristische Grundvoraussetzung anzutasten, die diese Konsequenzen unabwendbar nach sich zieht. Darin, so versichert er ausdrücklich, werde Mach recht behalten, daß die Sinnesempfindungen den einzig legitimen Ausgangspunkt aller Naturforschung bilden. Wie soll man aus bloßen Sinnesempfindungen eine physikalische Wissenschaft aufbauen? Es ist dies für uns keine neue Frage. Wir haben

92

Vorbetrachtungen

sie an Hand der Entwicklung der empiristischen Schule von Locke bis Berkeley verfolgt. Bei der subjektiven Bedingtheit der Sinnesempfindung, bei ihrer Abhängigkeit von den wechselnden Zuständen des Organs des Empfindenden und bei dessen wechselnder Lage in räumlicher und zeitlicher Hinsicht wird das Ergebnis der Sinnesempfindung ein fortwährend Verschiedenes sein. Welche Sinnesempfindung soll hier gelten? Was soll, um mit Berkeley zu sprechen, als sinnliche Idee und was als Einbildung gelten? Was ist das Kriterium dafür, welche Sinnesempfindung einen legitimen Ausgangspunkt physikalischer Schlüsse bildet? Dieses Kriterium kann seinerseits nicht wieder in der Sinnesempfindung liegen. Jedes Urteil darüber setzt den Raum und die Zeit voraus, innerhalb deren sich die physikalischen Vorgänge abspielen sollen, innerhalb deren ein identischer Gegenstand der einen und anderen Sinnesempfindung bestehen und sich gesetzmäßig verändern soll. Geometrie also und Kinematik sind notwendige Kriterien der fraglichen Legitimität .::mer Sinnesempfindung - Geometrie und Kinematik als ein System von Erkenntnissen, die ihrerseits nicht auf Sinnesempfindungen beruhen, von Erkenntnissen a priori also - und darüber hinaus Metaphysik - ebenfalls als ein System von Erkenntnissen a priori -, die uns ernt erlaubt, einen identischen Gegenstand der einen und anderen Sinnesempfindung in Raum und Zeit anzunehmen, einen Gegenstand, der seinerseits nur denkbar ist und nicht empfunden wird, und die uns erlaubt, auf die Veränderungen solcher Gegenstände den Funktionsbegriff anzuwenden und so zur Entdeckung von Naturgesetzen fortzuschreiten. Diesem Bedürfnis kann sich auch die konventionalistische Physik nicht verschließen. Sie versucht, ihm Rechnung zu tragen nach der nominalistischen Methode durch willkürliche Festsetzungen, die die Vieldeutigkeit der Sinnesempfindungen beseitigen. Aber hierbei findet allemal eine Erschleichung statt; sonst ließen sich nämlich die Nominaldefinitionen, auf denen hier alles ruht, nicht anwenden zu Schlüssen auf Tatsachen, wie es doch geschieht, wenn man der physikalischen Theorie irgendeine Bedeutung zuschreibt, wenn man sie zum Beispiel benutzt für den Bau von Maschinen oder für die Vorhersage von Beobachtungstatsachen. Es findet dabei eine eigentümliche Verschiebung statt. Die Erfahrung wird hier nicht korrigiert nach den Erkenntnissen a priori der Geometrie, Kinematik und Metaphysik, sondern

Neuere Philosophie dialektisch betrachtet

93

umgekehrt: Geometrie, Kinematik und Metaphysik werden hier korrigiert an Hand der Erfahrung. Aber was für einer Erfahrung? Einer »Erfahrung«, die nur dadurch möglich wird, daß man Tatsachen der Erfahrung, die sonst der Kontrolle durch Beobachtung und Experiment unterworfen bleiben, vermittels willkürlicher Festsetzung solcher Kontrolle entzieht. Es gibt übrigens eine Parallele für den vorhin genannten Streit zwischen Mach und Planck, die zeigt, daß es sich hier nicht um eine zufällige und vereinzelte Erscheinung handelt. Ein ähnlicher Streit wie der zwischen den beiden deutschen Forschern hat sich nämlich abgespielt zwischen dem französischen Mathematiker Poincare und seinem Schüler Le Roy, der es unternommen hat, die Konsequenzen aus der konventionalistischen Naturphilosophie seines Lehrers weiterzuentwickeln. Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß das, wofür Galilei gelitten hat, nicht die Wahrheit ist, sondern eine für die Ausführung gewisser Rechnungen bequeme Annahme, etwas, wofür - wie Poincare nicht verkannte - sich zum Märtyrer zu machen, eine Narrheit ist. Und wie Planck gegen Mach, so hat Poincare gegen Le Roy Einspruch erhoben. Er hat versucht, den Standpunkt Galileis zu verteidigen, indem er erklärte, das, wofür Galilei gelitten hat, sei dennoch die Wahrheit. Der Satz, die Erde drehe sich um die Sonne, habe allerdings die eigentliche Bedeutung: es sei bequem, anzunehmen, die Erde drehe sich um die Sonne. Und diese Behauptung über die Bequemlichkeit der fraglichen Annahme sei ihrerseits wahr und bleibe wahr. Durch Nominaldefinition also wird auch hier die von Galilei vertretene Wahrheit dem Scheine nach gerettet. Für die Sache selber ist jedoch durch dieses Manöver nichts ausgerichtet. Es ist ein Wortspiel, mit dem wir hier getäuscht werden. Und es ist in der Tat wieder nur Inkonsequenz, was den auf den Wert seiner Wissenschaft haltenden Poincare von den Konsequenzen seines Schülers Le Roy trennt. Welches sind diese Konsequenzen? Le Roy hat in der Auskunft darüber nicht zurückgehalten. Die Wissens.chaft ist in ihrer Theorienbildung frei. Sie kann hier willkürlich schalten. Es gibt für die Willkür des menschlichen Geistes keine andere Einschränkung als das moralische Gesetz. Und diese Einschränkung der Willkür durch das moralische Gesetz ist ihrerseits natürlich nur möglich, wenn die Erkenntnis des moralischen Ge-

94

Vorbetrachtungen

setzes nicht derselben Willkür preisgegeben ist wie die Erkenntnis der Naturgesetze. Die Erkenntnis des moralischen Gesetzes ist deshalb der freien Forschung entzogen. Sie gründet sich auf die Autorität des göttlichen Gesetzgebers, der seinerseits ebensowenig wie das moralische Gesetz durch die menschliche Vernunft erkennbar ist und für dessen Erkenntnis wir Menschen daher angewiesen sind auf eine Offenbarung. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher an dieser naturphilosophischen Lehre Kritik zu üben. Aber um so interessanter ist es für uns, hier festzustellen, daß diese konventionalistische Auffassung viel älter ist, als man gemeinhin glaubt. Schon Zeitgenossen Galileis haben es mit ihr versucht. Wir können sie geschichtlich sogar noch weiter zurück verfolgen. Das Werk des Kopernikus ist nach seinem Tode von seinem Freunde Osiander herausgegeben und von diesem mit einer Vorrede versehen worden, durch die er versuchte, es der theologisch und kirchlich gebundenen Zeit annehmbar zu machen. Und so findet sich in dieser Vorrede denn auch der Ausspruch, daß es nicht darauf ankomme, ob die aufgestellten Theorien in der Natur wirklich oder wenigstens wahrscheinlich gelten, sondern es genüge, daß die Resultate, zu denen die Rechnung führt, mit der Beobachtung übereinstimmen. Und der Jesuit Riccioli, der von Rom aus mit der Abfassung eines Gutachtens über die neue astronomische Lehre betraut worden war, kam nach Abwägung aller Gründe und Gegengründe zu dem Ergebnis, daß diese Lehre zwar unrichtig sei, da sie der Bibel widerspreche, daß sie aber nichtsdestoweniger den Vorzug besitze, zur Ausführung der Berechnungen nützlich zu sein - ein Vorzug, dessen sich noch. heute der jesuitische Leiter der vatikanischen Sternwarte bedient. Noch bei einem Dritten finden wir in jener Zeit die konventionalistische Auffassung ausgesprochen. Es ist der Kardinal Bellarmin, der, als dem Galilei der Inquisitionsprozeß drohte, diesem den wohlwollenden Rat gab, er möge erklären, daß er nicht die Richtigkeit, sondern nur die rechnerische Zweckmäßigkeit seiner Theorie behaupte. Denn für diesen Fall würde er der Verurteilung entgehen. Galilei verschmähte die Befolgung dieses Rates und setzte sich dem Inquisitionsprozeß aus. Ebenso wie er dachte sein Zeitgenosse und Freund Kepler, der die opportunistische Erklärung des Osiander mit Entrüstung zurückwies und für unvereinbar mit der Würde des Kopernikus erklärte.

Erster Teil DAVID HUME UND IMMANUEL KANT

1.

KAPITEL

Humes psychologische Kritik der metaphysischen Erkenntnis I. DIE

HUMESCHE THEORIE

Wir kommen nunmehr zu der Wendung, die dem bisher betrachteten philosophischen Schulstreit gegeben wurde durch das Auftreten David Humes, und damit zu dem folgenreichsten dialektischen Fortschritt, der überhaupt in der Geschichte der neueren Philosophie zu verzeichnen ist. Die gesamte Entwicklung, die die Metaphysik seither genommen hat, läßt sich, soweit diese Entwicklung überhaupt von wissenschaftlichem Interesse ist, auf den einen Anstoß zurückführen, der gegeben wurde durch die Stellung des Humeschen Problems. Die Bedeutung dieses Fortschrittes, den wir Hume verdanken, ist bis heute bei weitem nicht allgemein in ihrer Tragweite begriffen und anerkannt worden. Si,e zur Geltung zu bringen, ist einer der Hauptzwecke, die ich verfolge. Ich halte mich für die Wiedergabe der Humeschen Lehre vorwiegend an die spätere und knappere Darstellung, die Hume in der » Untersuchung über den menschlichen Verstand« von seiner Theorie gegeben hat. Wer aber tiefer in diesen Gegenstand eindringen will, für den bleibt eine gründliche Beschäftigung mit der ausführlicheren ersten Darstellung, dem » Traktat über die menschliche Natur«, unerläßlich. Wenn wir das eigentlich Bedeutsame, was Hume geleistet hat, im Anschluß an unsere bisherigen Betrachtungen verständlich und einfach ausdrücken wollen, so können wir kurz sagen: Es ist die Kritik der Erfahrungsphilosophie, wie er sie in der empiristischen Schule, aus der er selbst hervorging, vorfand. Hierin ist schon ausgesprochen, daß diese Kritik von ihm nicht unternommen wurde vom Standpunkt des Ratio-

98

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

nalismus aus. Sein ganzes Unternehmen war vielmehr beherrscht von der Einsicht, daß der menschliche Verstand von sich aus keine Erweiterung der Erkenntnis hervorbringen kann und daß also der Rationalismus auf falschem Wege war. Seine Untersuchung ist selbst ganz empirisch, sie ist psychologischer Natur. Und sie hat auf dem Gebiete der Psychologie, soweit es wenigstens von philosophischem Interesse ist, eine ähnliche bahnbrechende Bedeutung wie die Entdeckung Galileis auf dem Gebiete der Physik. Sie bezieht sich auf den Ursprung der metaphysischen Erkenntnis im menschlichen Geist. Während die Rationalisten an die Möglichkeit einer rein rationalen und die Empiristen an die Möglichkeit einer rein empirischen Grundlegung der Metaphysik geglaubt hatten, kam Hume, indem er beide Möglichkeiten verwarf, zu der Konsequenz eines metaphysischen Skeptizismus, das heißt der Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt. Den Weg, der ihn dahin führte, wollen wir jetzt ins Auge fassen. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung liegt in der Erkenntnis der Leerheit der Reflexion, das heißt in der Einsicht, daß durch bloßes Denken keine neue Erkenntnis gewonnen werden kann. Die Reflexion kann zwar, wie Hume durch seine psychologischen Untersuchungen feststellte, Vorstellungen zergliedern, das heißt in ihre Elemente auflösen und diese wiederum miteinander kombinieren, zu neuen Vorstellungen zusammensetzen. Aber sie kann nie neue Elementarvorstellungen aus sich heraus erzeugen. So erfährt hier der bereits bekannte und anerkannte Satz der Empiristen von der Nichtexistenz der angeborenen Ideen eine wesentliche psychologische Verschärfung. Hume untersuchte nun, nach welchen Gesetzen die ursprünglich nicht aus der Reflexion stammenden Vorstellungen sich im menschlichen Geiste verbinden. Er kam dadurch auf die sogenannten Gesetze der Assoziation. Alles Neue, was si,ch im Geiste findet über die Elementarvorstellungen hinaus, die uns die Sinne liefern, muß sich erklären lassen durch die Wirksamkeit der Assoziation. Den Mechanismus dieser Assoziation hat Hume mit Gründlichkeit erforscht. Aus diesen Untersuchungen zog Hume den folgenreichen Schluß, daß, wenn wir alle Vorstellungen in ihre Elementarbestandteile zerlegen und also auf die einfachsten Vorstellungen zurückgehen, diese sich irgendwie als Kopien von unmittelbaren Sinneseindrücken erweisen

Humcs Kritik der metaphysischen Erkenntnis

99

müssen. Und er schloß daraus weiter, daß es keinen anderen Weg zur Rechtfertigung irgendeiner Vorstellung gibt als das Zurückgehen auf die Elementarvorstellungen und den Nachweis, daß diese Kopien sinnlicher Eindrücke sind. Eine Vorstellung, die sich nicht als Kopie eines sinnlichen Eindrucks erweisen ließe, kann nicht auf Wahrheit Anspruch erheben, sondern ist eine Fiktion. Hume bleibt demgemäß, was seine Ansicht von den Arten der Erkenntnis betriffi, ganz bei der Lehre seiner Vorgänger. Alle unsere Erkenntnis, sagt er, geht zurück auf zwei Arten: Erkenntnis von Tatsachen (matters of fact) und Erkenntnis von Beziehungen zwischen Begriffen (relations of ideas). Der Verstand für sich vermag nur Beziehungen zwischen Begriffen zu ermitteln. Aber er vermag uns nichts erkennen zu lassen über die Tatsachen. Die Wahrheiten, die wir durch ihn erkennen, sind charakterisiert dadurch, daß ihr Gegenteil einen Widerspruch einschließt. Ob das Gegenteil einer Annahme einen Widerspruch einschließt, das allerdings können wir durch reines Denken wissen. Zur Klasse solcher Verstandeserkenntnisse rechnet Hume auch die mathematischen Wahrheiten. Wir beweisen sie durch reines Denken und wissen, daß sie wahr sind, unabhängig davon, ob wir in der Erfahrung Gegenstände antreffen, auf die sie anwendbar sind. Die Gesetze zum Beispiel, die die Geometrie über das Dreieck lehrt, bleiben wahr, unabhängig davon, ob wir jemals in der Natur einen dreieckigen Gegenstand antreffen, ob es also Tatsachen gibt, auf die diese Sätze Anwendung finden. Alle Wahrheiten über Tatsachen dagegen sind von der Art, daß ihr Gegenteil widerspruchslos denkbar ist. Auf Grund dieser Feststellungen sieht sich Hume vor die Frage gestellt: Wie ist es möglich, auf Tatsachen zu schließen? Daß dies nur auf Grund der Erfahrung möglich ist, ist klar. Aber wie sind solche Schlüsse aus der Erfahrung ihrerseits möglich? Das Schließen ist eine Sache des Verstandes. Wenn wir aber durch ihn immer nur Beziehungen zwischen unseren eigenen Begriffen feststellen können, wie ist es damit vereinbar, daß wir durch Schlüsse aus Tatsachen unsere Erkenntnis über den Bereich der bekannten Tatsachen hinaus erweitern, daß wir auf die Beschaffenheit und sogar auf die Existenz von Gegenständen schließen, die wir ihrerseits noch nicht wahrgenommen haben und die wir viel-

100

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

leicht niemals wahrzunehmen Gelegenheit haben werden? Wir bedienen uns solcher Schlüsse nicht nur in der Wissenschaft, sondern auf Schritt und Tritt schon im einfachsten alltäglichen Leben. Und sie sind uns hier wie dort unentbehrlich. Wenn wir vom Blitz, den wir wahrnehmen, auf den Donner schließen, den wir nicht wahrgenommen haben, so liegt hier ein solcher Schluß vor. Wenn wir von dem Brot, das wir essen, erwarten, daß es uns ernähren wird, so liegt auch hier ein solcher Schluß vor. Wenn wir von einer Billardkugel, die von einer anderen gestoßen wird, erwarten, daß sie sich in der Richtung des Stoßes bewegen wird, so liegt hier wieder ein solcher Schluß vor. Wenn wir uns daranmachen, solche Schlüsse zu untersuchen, so finden wir, daß sie immer zurückgehen auf die Anwendung bestimmter Begriffe, wie zum Beispiel des Begriffs der Verknüpfung gewisser Eigenschaften in einer Substanz oder der Ursache mit der Wirkung, allgemein: auf eine Anwendung gewisser Begriffe von notwendiger Verknüpfung. Nur indem wir die Tatsachen als verknüpft denken, wird es uns möglich, von der einen Tatsache auf die andere zu schließen. Woher stammt nun diese Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung zwischen den Tatsachen? Man darf auf diese Frage nicht antworten: Die Vorstellung der Verknüpfung stamme aus der Erfahrung. Das hieße, wir würden durch Schlüsse aus dem, was wir mit den Sinnen beobachten, zu der Annahme kommen, daß eine notwendige Verknüpfung zwischen den beobachteten Tatsachen besteht. Diese Antwort ist darum verfehlt, weil jedem Schluß aus der Erfahrung die Vorstellung der Verknüpfung bereits zugrunde liegt. Diese Vorstellung kann also nicht selbst auf dem Wege von Schlüssen aus der Erfahrung gewonnen sein. Die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung kann aber auch nicht aus dem bloßen Verstande entspringen. Wir mögen den Begriff eines Dinges zergliedern, so weit wir wollen, wir werden darin niemals den Begriff eines anderen Dinges finden, mit dem das erste in Verknüpfung steht. Darin besteht gerade das Eigentümliche dieser Vorstellung der Verknüpfung, daß sie uns erlaubt, von dem Begriff des einen Dinges überzugehen zu dem eines anderen, der in dem ersten an und für sich noch nicht enthalten ist, und so von der Existenz des einen Dinges auf die des anderen zu schließen. Die Urteile, die wir über die Verknüpfung

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

101

der Tatsachen fällen, lassen sich niemals als logisch notwendig einsehen. Ihr Gegenteil ist immer widerspruchslos denkbar. Es bliebe hiernach nur noch eine Annahme übrig, daß nämlich die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung, wenn sie sich überhaupt rechtfertigen läßt, unmittelbar auf die Sinneswahrnehmung zurückgeht, die einfache Kopie eines Sinneseindrucks ist. Es müßte dann möglich sein, eine Sinneswahrnehmung aufzuweisen, deren Kopie die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung ist. Hume geht sorgsam alle möglichen Versuche durch, um für den Begriff der notwendigen Verknüpfung eine entsprechende sinnliche Wahrnehmung ausfindig zu machen. Er hat diese Frage mit einer auch für moderne Psychologen vorbildlichen Gründlichkeit geprüft. Dabei wurde es ihm leicht, zu zeigen, daß keinerlei äußere Sinneswahrnehmung als Quelle der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung in Betracht kommt. Was die Sinneswahrnehmung äußerer Begebenheiten zeigen kann, das ist immer nur eiine Zusammensetzung der Dinge in Raum und Zeit, also wohl eine Verbindung (conjunction), aber nicht eine Verbindung von der Art, die wir Verknüpfung nennen (connection), nämlich keine notwendige, sondern eine zufällige Verbindung des Neben- oder Nacheinander. Lassen wir zum Beispiel eine Billardkugel auf eine andere stoßen, so können wir beobachten, daß diese andere Billardkugel in Bewegung gerät. Aber wir können bei aller Schärfe der Beobachtung niemals mehr finden als die zeitliche Folge der Bewegung der zweiten Kugel auf die der ersten. Wir können kein Band der Verknüpfung zwischen beiden Bewegungen entdecken, derart, daß wir hier von Ursache und Wirkung zu sprechen ein Recht erhielten und von dem Anstoß der ersten Kugel auf die Notwendigkeit der Bewegung der zweiten schließen dürften, wie wir es doch tatsächlich tun. Und so verhält es sich in allen anderen Fällen äußerer Beobachtung. Man könnte also nur noch hoffen, den Ursprung dieses Begriffs der notwendigen Verknüpfung in der inneren Wahrnehmung anzutreffen. Es scheint in der Tat einen Fall zu geben, wo wir in uns eine solche Verknüpfung wahrnehmen. Dies ist der Fall des Erlebnisses der willkürlichen Bewegung unserer Glieder, der Verknüpfung zwischen dem Entschluß, ein Glied zu bewegen, und der Bewegung dieses Gliedes. Diese Verknüpfung scheinen wir unmittelbar in uns wahrzunehmen.

102

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Indessen zeigt Hume durch eine scharfsinnige Analyse des Tatbestandes, daß dem nicht so ist, daß vielmehr dieser Fall nicht anders zu beurteilen ist als der der äußeren Verknüpfung. Was wir wirklich beobachten können, ist auch hier nur die zeitliche Folge der Bewegung der Glieder auf den Willensentschluß. Allerdings ist uns diese Beobachtung viel geläufiger als die irgendeiner anderen Verknüpfung. Aber das entscheidet hier nichts. Wir mögen noch so oft erlebt haben, daß die Bewegung auf den Entschluß folgt; dadurch, daß wir diese Beobachtungen häufen, erhalten wir nicht die Erkenntnis der notwendigen Verknüpfung zwischen dem Entschluß und der Bewegung. Also ist auch die innere Wahrnehmung nicht die Quelle der fraglichen Erkenntnis. Der Schluß, zu dem Hume durch diese Untersuchung gedrängt wird, ist daher der folgende: Wenn es unmöglich ist, durch unmittelbare Sinneswahrnehmung eine Verknüpfung zu erkennen, wenn es ferner unmöglich ist, durch bloßes Denken die Erkenntnis einer Verknüpfung zu gewinnen, und wenn es endlich auch unmöglich ist, zu einer solchen Erkenntnis durch Schlüsse aus der Erfahrung zu gelangen, so ist es überhaupt unmöglich, unsere Vorstellung von einer notwendigen Verknüpfung zu rechtfertigen. Diese Vorstellung muß folglich eine Fiktion sein. Wenn sich hiernach nun aber auch keine Erkenntnisgründe für die Annahme einer notwendigen Verknüpfung auf weisen lassen, so bleibt doch andererseits die Tatsache bestehen, daß wir von der Annahme einer notwendigen Verknüpfung Gebrauch machen, diese Annahme mag nun wahr oder falsch sein. Und wenn wir dafür auch keinen Erkenntnisgrund anzugeben vermögen, so muß sich doch das Vorkommen dieser Annahme einer notwendigen Verknüpfung als Tatsache psychologisch erklären lassen. Daher stellt sich Hume die Aufgabe, diese Erklärung zu suchen. Diese Erklärung ist auf keine andere Weise möglich als vermittels der Gesetze der Assoziation. Denn da unsere Verknüpfungsvorstellungen nicht Kopien von Sinneswahrnehmungen sind, so können sie nur entstanden sein durch den Mechanismus der Verbindung der Vorstellungen auf Grund der Gesetze der Assoziation. Es muß sich also zeigen lassen, wie jene Vorstellungen mittelbar durch die Wirksamkeit der Assoziation aus Sinneseindrücken entstanden sind.

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

103

Das glaubt nun Hume in der Tat bewerkstelligen zu können, nämlich dadurch, daß er die Annahme der notwendigen Verknüpfung psychologisch zurückführt auf das Phänomen der Erwartung ähnlicher Fälle. Wir wollen uns diesen Erklärungsversuch an einem Beispiel deutlich machen. Schon ein Kind weiß, daß die Berührung einer Flamme Schmerz hervorrufen wird. Es verrät dies dadurch, daß es sich vor der Berührung der Flamme scheut. Dieses Verhalten beruht darauf, daß das Kind erwartet, im Falle der Berührung einen Schmerz zu empfinden. Und diese Erwartung ihrerseits erklärt sich dadurch, daß es sich daran erinnert, in früheren Fällen bei der Berührung einer Flamme wirklich Schmerz empfunden zu haben. Durch das Eintreten der Schmerzempfindung bei der Berührung der Flamme hat sich in seinem Geiste eine Assoziation gebildet zwischen der Vorstellung der Berührung der Flamme und der des Schmerzes. Die Folge davon ist, daß es sich bei dem erneuten Anblick der Flamme an den bei der Berührung früher empfundenen Schmerz erinnert. Diese Erklärung hinterläßt nun eine gewisse Schwierigkeit. Allerdings liegt in der Tatsache der Erwartung des Wiedereintretens des Schmerzes die Annahme einer Verknüpfung. Aber wie verhält es sich mit der versuchten Zurückführung der Erwartung ähnlicher Fälle auf das Gesetz der Assoziation? Der Schwierigkeit, die hierin liegt, hat sich Hume nicht verschlossen. Die Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit, die den großen Forscher auszeichnet, bekundet Hume gerade dadurch, daß er diese Schwierigkeit nicht auf sich beruhen läßt, sondern mit aller Offenheit und Bestimmtheit ans Licht zieht. In der Erwartung liegt, wie er sich ausdrückt, ein Glaube (belief), und dieser Glaube ist mehr als die bloße Erinnerung. Wenn ich glaube, daß ich bei der Berührung einer Flamme Schmerz empfinden werde, so ist das etwas anderes und mehr, als wenn ich mich nur des früher bei der Berührung der Flamme empfundenen Schmerzes erinnere. Im einen Fall stelle ich mir den früher erlebten Zusammenhang nur wieder vor. Im anderen Fall erwarte ich sein wirkliches Wiedereintreffen. Daher entsteht die Frage, ob sich die Möglichkeit dieses Glaubens aus der Assoziation erklären läßt. Zur Auflösung dieser Frage bedurfte Hume einer genaueren Theorie des Glaubens. Bei seinen Bemühungen um eine solche fand er, daß der Glaube (belief), das heißt die über-

104

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

zeugung von der Existenz eines Gegenstandes, sich dem Inhalt nach nicht unterscheidet von einer solchen Vorstellung des Gegenstandes, die nicht mit dem Glauben an seine Existenz verbunden ist. Wenn ich mir einen Gegenstand bloß vorstelle, ohne an seine Existenz zu glauben, so ist diese Vorstellung genau die gleiche wie die des existierenden Gegenstandes. Ob ich mir zum Beispiel einen Freund bloß in der Erinnerung vorstelle, oder ob ich ihn mir vorstelle mit dem Bewußtsein seiner Wirklichkeit, so sind diese beiden Vorstellungen des Freundes dem Inhalte nach nicht zu unterscheiden. Ich stelle mir den Freund beide Male mit genau denselben Beschaffenheiten vor. Der Unterschied zwischen den assertorischen und den bloß problematischen Vorstellungen kann also nicht den Inhalt beider Arten von Vorstellungen betreffen; denn der Glaube fügt zu diesen Vorstellungen keine neuen Eigenschaften des Gegenstandes hinzu. Wenn es sich nicht so verhielte, so müßte es möglich sein, einem nur vorgestellten Gegenstand die Existenz wie irgendeines seiner Merkmale willkürlich beizulegen. Das aber widerspricht den Tatsachen. Es steht nicht im Bereich unseres Willens, zu glauben, daß ein Gegenstand existiert. Folglich kann die Existenz auch keine Beschaffenheit des Gegenstandes sein, sondern der Unterschied zwischen den problematischen und den assertorischen Vorstellungen kann nur in de:r Art liegen, wie wir den Gegenstand vorstellen. Nun gibt es aber, wenn wir von dem Inhalt der Vorstellungen absehen, keinen anderen Unterschied von Vorstellungen als den des Grades der Deutlichkeit oder der Lebhaftigkeit, mit der wir uns einen Gegenstand vorstellen. Auf diesen graduellen Unterschied muß demnach der Unterschied der Vorstellungen, die eine Assertion enthalten, von den bloß problematischen Vorstellungen zurückgehen. Das heißt: Die Vorstellungen, die mit der Behauptung der Existenz ihres Gegenstandes verbunden sind, zeichnen sich nur durch die größere Intensität der Deutlichkeit oder Lebhaftigkeit aus. Dies ist Humes Theorie des Glaubens. Die Frage, auf die sich danach Humes eigentliches Problem zuspitzt, ist diese: Ist es möglich, daß eine Vorstellung, die noch nicht den Charakter des Glaubens hat, durch bloße Assoziation so deutlich wird, daß sie den Charakter des Glaubens annimmt?

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

105

Diese Frage ist nunmehr nicht schwer zu beantworten. Wir beobachten in der Tat, daß durch öftere Reproduktion der Vorstellungen diese deutlicher werden. Die Assoziation braucht nur hinreichend fest zu sein und die Reproduktion hinreichend häufig, um die Vorstellung beliebig lebhaft werden und ihre Deutlichkeit so anwachsen zu lassen, daß sie den Charakter des Glaubens annehmen muß. Hierdurch ist das Problem für Hume gelöst. Denn es ist nun erklärt, wie es durch die bloße Wirksamkeit der Assoziation dahin kommt, daß aus der Erinnerungsvorstellung eine Erwartung wird. Wir hatten ja gesehen, daß diese Erwartung sich von jener Erinnerung in der Tat nur durch den Charakter des Glaubens unterscheidet. Die Konsequenz, die Hume aus dieser psychologischen Theorie zieht, ist ein metaphysischer Skeptizismus. Denn die Lösung des Problems besteht nicht darin, daß ein Erkenntnisgrund aufgedeckt wird für die fragliche metaphysische Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung, sondern im Gegenteil darin, daß diese Vorstellung erklärt wird als ein Produkt der Gewohnheit in der Verbindung der Vorstellungen. Was aber ein bloßes Produkt des blinden Mechanismus der Gewohnheit ist, das kann nicht auf den Charakter einer Erkenntnis Anspruch machen, sondern erweist sich als eine bloß erschlichene Vorstellung, das heißt als eine Fiktion, die nur durch Verkennung ihres wirklichen Ursprungs als eine echte Erkenntnis in Anspruch genommen werden kann. Dies ist die Humesche Theorie, wie sie sich uns in ihren Hauptzügen darstellt - wenn wir absehen von gelegentlichen Seitenwegen, auf denen Hume sich von der Höhe der schon gewonnenen Einsicht wieder entfernt. Es ist ein Gebot der geschichtlichen Gerechtigkeit, wie ich es in der Einleitung betont habe, die Darstellung unter einem solchen Gesichtspunkt zu geben.

ll.

BERICHTIGUNG EINIGER MISSVERSTÄNDNISSE DER HUMESCHEN THEORIE

Ehe ich zu einer kritischen Würdigung der Humeschen Theorie übergehe, will ich sie noch einmal in ihren Hauptpunkten beleuchten, soweit dies nötig ist, um einige Mißverständnisse auszuschließen, denen sie bisher ausgesetzt gewesen ist.

106

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

1. Die in der Geschichte der Philosophie vorherrschende Auffassung

drückt sich dadurch aus, daß man die Humesche Lehre als Skeptizismus charakterisiert. Hume erscheint in diesen Darstellungen im Lichte eines Philosophen, der, von einer allgemeinen Zweifelsucht besessen, die Möglichkeit der Erkenntnis für den menschlichen Geist überhaupt abstreitet. Diese Auffassung ist grundfalsch. Der Skeptizismus Humes liegt nicht im Ausgangspunkt seiner Reflexionen, sondern bildet erst deren Endergebnis. Dazu kommt, daß dieses Endergebnis keineswegs ein allgemeiner Skeptizismus ist, sondern daß die Skepsis, bei der er in der Tat endet, sich nur bezieht auf die metaphysische Erkenntnis. Logik und Mathematik einerseits und die Erkenntnis der Tatsachen andererseits bleiben durch sie unbetroffen. Hume ist, was die Grundlagen seiner Lehre betriffi:, keineswegs Skeptiker. Er teilt die Voraussetzungen der Philosophie seiner Zeit. Genau wie Locke und Leibniz erkennt er es an, daß es Erkenntnis der Wahrheit für den menschlichen Geist gibt und daß diese Wahrheit von zweierlei Art ist: Beziehungen von Begriffen und Tatsachen. In alledem unterscheidet er sich nicht von seinen Vorgängern. Er trennt sich von ihnen erst durch die Konsequenzen, die er aus den übernommenen Voraussetzungen zieht. 2. Man charakterisiert Hume im allgemeinen als Empiristen. Diese Charakteristik kann richtig und kann falsch sein, je nachdem, was man sich dabei denkt. Wenn man meint, er hätte behauptet, daß unsere metaphysischen Voraussetzungen sich auf die Erfahrung zurückführen ließen, daß insbesondere unsere Verknüpfungsurteile Erfahrungsurteile seien, so ist diese Meinung falsch. Das Verdienst Humes besteht im Gegenteil gerade darin, daß er diesen Empirismus widerlegt hat. Nichtsdestoweniger ist Hume Empirist, aber in einem anderen Sinne des Wortes. Er ist es in dem und nur in dem Sinne, daß er als einzige Quelle der Erkenntnis von Tatsachen nichts anderes als die Sinneswahrnehmung gelten läßt. Was ihn von seinen empiristischen Vorgängern trennt, liegt darin, daß er die unvermeidliche Konsequenz dieser Voraussetzungen aufdeckt, nämlich die Konsequenz, daß den metaphysischen Urteilen gar keine Erkenntnisquelle zugrunde liegt und daß solche Urteile daher nur erschlichene Behauptungen sein können. Auch seine englischen Vorgänger haben als Quelle der Erkenntnis

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

107

von Tatsachen nur die Sinneswahrnehmung anerkannt, aber sie unterscheiden sich dadurch von Hume, daß sie glaubten, auf diese Quelle unsere Verknüpfungsurteile und also auch Schlüsse auf Tatsachen zurückführen zu können. Dieses Unternehmen hat Hume als unmöglich erwiesen. Wir müssen zur Klarheit einen positiven und einen negativen Empirismus in der Metaphysik unterscheiden. Der positive Empirismus behauptet, die Metaphysik auf Erfahrung gründen zu können. Der negative erklärt dies für unmöglich und schließt daher aus der Voraussetzung, daß die Erfahrung die einzige Erkenntnisquelle für Tatsachenwahrheiten ist, auf die Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis. Wir können den positiven Empirismus demgemäß als einen inkonsequenten oder naiven Empirismus bezeichnen, den negativen dagegen als den allein konsequenten. Inkonsequent ist der Empirismus Lockes, wie noch solcher modernen Empiristen, die die Erfahrung als einzige Erkenntnisquelle für alle nichtlogischen Urteile anerkennen und dann doch behaupten, es gäbe eine Metaphysik auf der Grundlage der Erfahrung. Inkonsequent ist - selbst von seiner spiritualistischen Metaphysik abgesehen - auch der Empirismus Berkeleys, der trotz der Abweisung aller metaphysischen Behauptungen doch naiv an der Möglichkeit festhält, von beobachteten Tatsachen auf andere Tatsachen zu schließen. Die allein bündige Konsequenz des allgemeinen Empirismus ist Humes Lehre, daß, da die metaphysischen Urteile sich nicht auf Erfahrung zurückführen lassen, es keine metaphysische Erkenntnis und infolgedessen auch keine Schlüsse auf Tatsachen geben kann. Wir können also sagen, daß Hume diese Konsequenz des Empirismus zuerst gezogen hat, aber nicht, daß er in demselben Sinne ein Empirist war wie seine Vorgänger. 3. Ein weiteres Mißverständnis liegt darin, daß man behauptet, Hume habe die Verknüpfungsvorstellungen durch Assoziation erklärt. Wenigstens ist diese Behauptung so, wie sie sich in recht vielen Geschichtsdarstellungen findet, deshalb irreführend, weil Humes Erklärung auf einer bestimmten Voraussetzung beruht, ohne die seine Theorie zusammenfällt, und gerade diese Voraussetzung wird in jenen Darstellungen außer acht gelassen. Ich meine damit Humes Theorie des Glaubens. Erst durch diese Theorie begründet er seine These, daß aus

108

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

der bloßen Erinnerung an früher erlebte Fälle die Erwartung ähnlicher Folgen, wie man sie damals erfahren hat, entstehen kann und daß sich damit die fiktive Vorstellung der ursächlichen Verknüpfung einstellt. Das Mißverständnis, um das es mir hier geht, ma-cht sich überall da geltend, wo heute noch Psychologen Humes assoziationstheoretische Erklärung übernehmen zu können meinen, ohne sich seine Theorie des Glaubens zu eigen zu machen, die heute von niemandem mehr vertreten wird. Es ist ein Irrtum, wenn diese Psychologen annehmen, hierbei auf dem Boden Humes zu stehen. Sie beweisen damit nur, daß sie das Humesche Problem und die Humesche Theorie nicht kennen. Gerade Hume hatte gezeigt, daß die Gesetze der Assoziation für sich nur die Erinnerung an eine frühere, der jetzigen ähnliche Situation erklären, nicht aber die Erwartung, daß in beiden Situationen Ahnliches geschieht. Sein Verdienst ist es, daß er uns von allen nur assoziationspsychologischen Scheinlösungen befreit hat. Mit diesen Mißverständnissen hängt es zusammen, daß man sich auf der anderen Seite die Kritik an Humes Theorie viel zu leicht macht. Ich nenne auch dafür einige Beispiele. 1. Eine Kritik, die auf bloßem Mißverständnis beruht, ist zum Bei-

spiel diejenige, die von dem Vorwurf ausgeht, Hume habe in seinen Untersuchungen nicht die speziellen Kausalurteile von deren allgemeinem Prinzip unterschieden. Bei diesem Unterschied hat sich Hume allerdings wenig auf gehalten. Deshalb mag man ihn tadeln. Dieser Tadel berührt aber keineswegs das Wesentliche seiner Theorie. Allerdings, wenn man das schon erörterte Mißverständnis teilt, Hume habe unsere Kausalurteile auf die Erfahrung gründen wollen, dann hat man recht, einzuwenden, daß wohl das spezielle Kausalurteil auf der Erfahrung beruhe, nicht aber der allgemeine Grundsatz der Kausalität selbst. Ohne diese allgemeine Voraussetzung hinzuzunehmen, kann ich kein bestimmtes Kausalurteil aus der Beobachtung ableiten. Nur ist hinzuzufügen, daß dies niemand besser gewußt hat als Hume. Es ist gerade sein Verdienst, uns als erster darauf geführt zu haben. 2. Ein anderer verfehlter Widerlegungsversuch besteht darin, daß man Humes psychologische Zurückführung unserer Kausalurteile auf

Humcs Kritik der metaphysischen Erkenntnis

109

die Gewohnheit der Erwartung ähnlicher Fälle beanstandet. Man weist darauf hin, daß ein wissenschaftliches Kausalurteil, zum Beispiel die wissenschafl:liche Aufstellung eines Naturgesetzes, etwas ganz anderes ist als die bloß gewohnheitsmäßige Erwartung ähnlicher Fälle. Darum ist es richtig, daß eine logische Zurückführung wissenschafl:licher Kausalurteile auf die objektiv unbegründete Erwartung ähnlicher Fälle unmöglich ist. Aber diese Feststellung ist wiederum für Humes psychologische Frage nicht entscheidend. Denn wenn sich die wissenschafl:lichen Kausalurteile nicht logisch auf gewohnheitsmäßige Erwartungen zurückführen lassen, so folgt daraus nur, daß in diesen Erwartungen nicht ihr Erkenntnisgrund liegen kann. Aber dies ist von Hume auch nicht bestritten worden. Er behauptet ja gerade, daß wir einen Erkenntnisgrund für wissenschafl:liche Kausalurteile überhaupt nicht besitzen. Die Erwartung ähnlicher Fälle ist ihm nur der psychologische Erklärungsgrund dafür, wie wir zur Vorstellung von Kausalzusammenhängen kommen. 3. Man greift die Humesche Theorie noch an einer anderen Stelle an. Während man zugibt, daß die äußere Wahrnehmung uns kein Kausalverhältnis erkennen läßt, bestreitet man die gleiche Behauptung Humes für die innere Wahrnehmung. Man behauptet, daß die innere Wahrnehmung uns wirklich unmittelbar Kausalverhältnisse erkennen lasse. Ein solches Kausalverhältnis, das wir durch innere Wahrnehmung erkennen, sei zum Beispiel jeder Fall, wo wir aus der Prämisse eines Schlußsatzes den Schlußsatz ableiten - die Verknüpfung also des Gedankens, der in den Prämissen liegt, mit dem Gedanken, der im Schlußsatz liegt-, oder jeder Fall, wo irgendein Motiv uns zu einem Entschluß bestimmt, wo wir zum Beispiel darum, weil wir einen Zweck begehren, auch das an und für sich gleichgültige Mittel begehren. Wer wollte bestreiten, daß in diesen und ähnlichen Fällen wirklich eine Verknüpfung in der inneren Erfahrung erkennbar wird? Die Frage ist nur: Welcher Art ist diese Erkenntnis? Ist sie innere Wahrnehmung? Das behauptet zum Beispiel Franz Brentano, der von hier aus gegen die Humeschen Folgerungen zu Felde zieht und in der durch Hume eingeleiteten Neuorientierung der Philosophie nichts anderes sieht als einen großen Irrtum. Nun hat Hume zwar die von Brentano angeführten Fälle nicht

110

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

besonders untersucht, aber er hat andere Beispiele untersucht und hat für sie gezeigt, daß von einer inneren Wahrnehmung eines Kausalverhältnisses ebensowenig die Rede sein kann wie von einer äußeren Wahrnehmung eines Kausalverhältnisses. 4. Vollends verfehlt ist endlich der auch von Brentano unternommene Versuch, sich unter Berufung auf Wahrscheinlichkeitsgründe Humes Konsequenzen zu entziehen. Dieser Versuch findet sich schon bei Moses Mendelssohn, der in seiner Abhandlung über die Wahrscheinlichkeit (1755) Hume zu widerlegen versucht hat. Dieser Versuch ist insofern klassisch geworden, als er die erste Darstellung des seitdem endlos wiederholten Arguments enthält. übrigens kennen wir ja etwas Ahnliches schon von Humes empiristischen Vorgängern, von Locke und Berkeley, her, die sich darin mit Hume einig sind, daß eine Gewißheit für Verknüpfungsurteile in der Erfahrung nicht gegeben werden kann, die sich aber der skeptischen Konsequenz aus diesem Zugeständnis dadurch entziehen, daß sie meinen, doch die Möglichkeit für Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf Tatsachen festhalten zu können. Eben das charakterisiert sie, wie auch Laplace, Lacroix, Poisson und ihre Nachfolger, ja als naive Empiristen. Mendelssohn erwidert auf Humes Kritik folgendes: Zwei Erscheinungen, die in zeitlicher Folge auftreten, A und B, sind entweder dadurch verbunden, daß die eine die Ursache der anderen ist, oder dadurch, daß sie eine gemeinsame Ursache haben, oder aber jede von ihnen hat eine eigene Ursache, die der der anderen selbständig und unabhängig gegenübersteht. Wenn wir nun hinreichend häufig beobachten, daß beide Erscheinungen, A und B, miteinander verbunden auftreten, so wird der letzte Fall, daß sie nur zufällig in Verbindung auftreten, immer unwahrscheinlicher. Auf diese Weise, meint Mendelssohn, läßt sich die fragliche kausale Verknüpfung der Erscheinungen immer wahrscheinlicher machen. Diese Argumentation leidet an dem offenbaren Fehler, daß sie das zu Begründende stillschweigend voraussetzt, nämlich die Annahme, daß es überhaupt eine kausale Verknüpfung zwischen den Erscheinungen gibt. Die Alternative der drei von Mendelssohn auf gezählten Fälle ist nicht vollständig. Logisch besteht auch die vierte Möglichkeit, daß

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

111

die Erscheinungen überhaupt ursachlos auftreten, daß weder eine die Ursache der anderen ist noch beide eine gemeinsame Ursache haben, noch jede von ihnen eine eigene, die der der anderen unabhängig gegenübersteht. Daher kann man nicht ohne weiteres aus der wachsenden Regelmäßigkeit der Verbindung zweier Erscheinungen auf die Notwendigkeit einer Verknüpfung schließen. Man kann nur dann schließen oder auch nur wahrscheinlich machen, daß die beobachtete Regelmäßigkeit der Verbindung keine zufällige ist, wenn man schon davon ausgeht, daß es eine kausale Verknüpfung der Erscheinungen gibt. Ein logischer Widerspruch ist es nicht, daß eine beliebig weitgehende Regelmäßigkeit in der Verbindung zweier Erscheinungen doch nur zufällig stattfindet. Das ist es gerade, was Hume durch seine Untersuchungen zeigen wollte. Alle Wahrscheinlichkeitsschlüsse setzen die Annahme einer kausalen Verknüpfung schon voraus und verlieren ohne diese Voraussetzung jede Bedeutung. Auch der vagste Wahrscheinlichkeitsschluß geht in dem, was er als wahrscheinlich behauptet, über den Bereich der beobachteten Fälle hinaus; er erfordert daher einen Erkenntnisgrund, der uns erlaubt, diesen Schritt über die Beobachtung hinaus zu tun. Dieser Erkenntnisgrund ist der Gegenstand des Humeschen Problems. Es handelt sich hier um ein sehr aktuelles Problem, ein Problem, das zum Beispiel für die Begründer der modernen Physik von neuem an Aktualität gewonnen hat. Speziell seit den Triumphen der statistischen Methode in der Thermodynamik hat man sich mehr und mehr vor die Frage gestellt gesehen, ob nicht die Naturgesetze überhaupt auf statistische Gesetze zurückgeführt werden können, ob also nicht das, was für die Thermodynamik in großem oder geringem Umfange gelungen ist, für die gesamte Physik durchführbar sein könnte. An diese Frage knüpf!: sich eine interessante Kontroverse zwischen Nernst und Planck. Der eben ausgesprochene Gedanke wurde nämlich von Nernst geäußert und hat vielfach Beifall bei den Physikern gefunden. Und da ist es bemerkenswert, daß Planck darauf hinweist, daß jede statistische Gesetzmäßigkeit in der Natur zu ihrer Entdeckung bereits der Voraussetzung einer dynamischen Gesetzmäßigkeit bedarf. Ich führe das hier nur an als ein Beispiel für die Bedeutung und Tragweite, die auch von

112

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

dieser Seite her die Humeschen Untersuchungen und das Humesche Problem überhaupt haben. Das mag genug sein zur Bereinigung der Mißverständnisse, denen die Humesche Theorie bisher ausgesetzt gewesen ist. Erst wenn man sich von diesen Mißverständnissen befreit hat, kann man hoffen, daß die Kritik, die man versucht, dem Gegenstand gerecht wird.

III. Drn MÄNGEL

DER HuMESCHEN THEORIE

1.

Ich will zuerst nur kurz als Tatsache erwähnen, daß Hume in den allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Lehre faktisch ein Schüler Berkeleys ist und infolgedessen auch dessen wesentliche Fehler teilt. Diese betreffen einmal die Theorie der Abstraktion. Bei aller Bereicherung an feinen Beobachtungen im einzelnen bleibt Hume hier ganz stecken in dem Streit sowohl gegen die Möglichkeit der allgemeinen Begriffe als auch gegen die Möglichkeit der abstrakten Auffassung des Raumes und der Zeit, unabhängig von sinnlichen Eindrücken. Und so ergeht er sich ähnlich wie sein Vorgänger in einer Polemik gegen den mathematischen Begriff der Stetigkeit. Das kennen wir von Berkeley; deshalb will ich mich dabei nicht aufhalten.

2. Folgenreicher für das Besondere der Humeschen Theorie ist der Umstand, daß er in der Kritik der äußeren Wahrnehmung ganz in den Bahnen Berkeleys wandelt. So kommt er zu einer idealistischen Erkenntnistheorie - ganz natürlich bei der allgemeinen Voraussetzung von der Mittelbarkeit der äußeren Wahrnehmung, wie sie ihm mit axiomatischer Sicherheit feststeht. Diese Voraussetzung bereitet ihm dann viel Schwierigkeiten bei der Frage, wie es überhaupt zugeht, daß wir an eine von unserer Wahrnehmung verschiedene Existenz der

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

113

wahrgenommenen Gegenstände glauben. Hier noch einmal zeigen sich die Nachwirkungen des Descartesschen Vorurteils gegen die Möglichkeit der unvermittelten Bewirkung. Alle Bewirkung soll durch Berührung vermittelt sein, und da man sich kritiklos das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande als ein Kausalverhältnis denkt, so ergibt sich die Folgerung, daß uns unmittelbar nur Vorstellungen in uns und nicht die Gegenstände außer uns erkennbar sind. Hume sagt: »Es pflegt von den Philosophen zugegeben zu werden, ist aber auch an sich ziemlich einleuchtend, daß nichts dem Geist je wirklich gegenwärtig ist als seine Perzeptionen, das heißt seine Eindrücke und Vorstellungen, und daß äußere Gegenstände uns nur durch die Perzeptionen, die sie veranlassen, bekannt sind ... Wenn nun dem Geist nichts gegenwärtig ist als Perzeptionen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon dem Geiste gegenwärtig gewesen ist, so folgt, daß es uns unmöglich ist, eine Vorstellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrücken spezifisch verschieden wäre.« (» Traktat über die menschliche Natur«, Buch I, Teil II, 6. Deutsche Übersetzung von Theodor Lipps.) Sehen wir uns diese entscheidenden Sätze genauer an! Die Behauptung im ersten Satz, äußere Gegenstände könnten uns nur bekannt werden durch Perzeptionen, die sie veranlassen, bringt unverhohlen die Voraussetzung des Kausalverhältnisses zum Ausdruck, durch das allein, nach Humes Auffassung, die Wahrnehmung äußerer Gegenstände möglich wäre. Nach seinem zweiten Satz aber können Vorstellungen nur aus etwas entstehen, das selber schon »dem Geist gegenwärtig« und darum eine Perzeption ist. Hume schließt daraus folgerichtig, daß eine Wahrnehmung äußerer Gegenstände überhaupt unmöglich ist, ja daß wir uns einen solchen, von unseren Vorstellungen wirklich verschiedenen Gegenstand strenggenommen nicht einmal vorstellen können. So steht er denn vor der Frage, wie der Schein entstehen kann, wir verfügten über derartige Vorstellungen, und was uns veranlaßt, an die Existenz äußerer Gegenstände zu glauben. Es kommt mir jetzt nicht auf seine Untersuchung dieser Frage an. Was hier für uns wichtig wird, ist die Voraussetzung, die in diese Schwierigkeit hineinführt und die von Hume überhaupt nicht in Zwei-

114

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

fel gezogen wird. Ihm gilt es als »ziemlich einleuchtend« (»pretty obvious«), daß äußere Gegenstände nur durch die Perzeptionen, die sie veranlassen, bekannt sind. Was macht diesen Satz einleuchtend? Ich behaupte: nur eine Zweideutigkeit im Gebrauch des Wortes »durch«! Was wirklich einleuchtet, ist die Trivialität, daß uns Gegenstände nur bekannt sind dadurch, daß wir eine Vorstellung von ihnen haben. Wie sollten wir sie sonst kennen? Wir kennen sie nur dadurch, daß wir Kenntnis von ihnen haben, und diese Kenntnis besteht natürlich in Vorstellungen. Aus dieser trivialen Aussage aber wird in Humes Argument die keineswegs selbstverständliche und einleuchtende Behauptung von der Mittelbarkeit unserer Kenntnis äußerer Gegenstände. Wenn etwa jemand sagt, er kenne den Eiffelturm nur durch Abbildungen, so hat das den Sinn, daß er ihn nicht unmittelbar aus eigener Anschauung, sondern nur mittelbar auf Grund eines Bildes kennt. Und in diesem Sinn verwendet Hume in seinen Folgerungen das Wort »durch« (»by«). Man kennt äußere Gegenstände überhaupt nicht, so meint er, sondern nur Vorstellungen im eigenen Geist.

3. Betrachten wir unbefangen die Humesche Theorie im ganzen, so fällt uns ein sehr merkwürdiges Verhältnis auf. Es drängt sich uns die Frage auf: Wenn diese Theorie richtig sein sollte, wenn es also wahr ist, daß wir nicht berechtigt sind, die Existenz notwendiger Verknüpfungen in der Natur anzunehmen, wie verhält es sich dann mit Humes eigener Theorie? Es ist dies eine Theorie über die innere Natur, die Natur des menschlichen Geistes. Der Titel seines ,grundlegenden Buches heißt »Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen.« Und mit diesem Titel ist es ihm durchaus ernst. Nun ist es für diese Theorie, wie für jede Theorie der inneren Natur, wesentlich, daß sie ihrerseits eine Behauptung über die kausale Verknüpfung gewisser Erscheinungen einschließt. Sie ist speziell ja der Versuch, einen Erklärungsgrund für die Vorstellung der Verknüpfung im menschlichen Geiste zu finden. Die Entstehung dieser Vorstellung im menschlichen Geist wird von Hume dadurch erklärt, das heißt auf ihre Ursache zurückgeführt, daß er ge-

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

115

wisse Assoziationen ausfindig macht, durch deren Wirksamkeit die fragliche Vorstellung entsteht. In der Assoziation, genauer: der Gewohnheit, will er also die Ursache der zu erklärenden Vorstellung aufdecken. Wenn wir also nichts über die Ursachen irgendwelcher Erscheinungen behaupten dürfen, wie steht es dann mit dieser Humeschen Theorie, die sich selbst auf eine solche Behauptung gründet? Wir haben hier offenbar einen Widerspruch vor uns: Das Ergebnis der Humeschen Theorie, der metaphysische Skeptizismus, der uns die Aufstellung von Kausalurteilen verbietet, steht mit der Möglichkeit der Aufstellung dieser Theorie in Widerspruch. Es bleibt eine denkwürdige Tatsache, daß einem so vorurteilsfreien, einem so tiefen und scharfsinnigen Denker wie Hume dieser Widerspruch, in den er sich verstrickte, entgangen ist. Es ist nun aber wichtig, diesen Widerspruch nicht falsch zu deuten, damit wir keine falschen Schlüsse aus der Aufdeckung dieses Widerspruches ziehen. Ein solcher falscher Schluß wäre es zum Beispiel, wenn wir auf Grund der Feststellung dieses Widerspruchs glaubten, einen indirekten Beweis für die Gültigkeit des Kausalprinzips führen zu können. Es verhält sich nicht so, daß zwischen einem Satz der Humeschen Theorie und dem Ergebnis dieser Theorie ein logischer Widerspruch bestünde. So einfach steht es nicht. Sondern was hier vorliegt, ist das, was ich gelegentlich, in Ermangelung eines passenderen Ausdrucks, einen »introjizierten Widerspruch« genannt habe, eine besondere Art von Widersprüchen, über die man sich klar sein muß, um aus ihrer Feststellung keine falschen Schlüsse zu ziehen. Das Besondere dieser Widersprüche ist bisher von den Logikern übersehen worden, und daher kommt es auch, daß sie eine unerschöpfliche Quelle von Trugschlüssen in der Geschichte der Philosophie bilden. Ein Satz enthält einen introjizierten Widerspruch, wenn zwar nicht dieser Satz an und für sich, wohl aber die Möglichkeit, seine Wahrheit zu erkennen, einen logischen Widerspruch einschließt. Von der Art solcher introjizierten Widersprüche ist nun auch der Widerspruch, mit dem die Humesche Theorie behaftet ist. Daß wir keine Verknüpfung zwischen den Erscheinungen erkennen können, daß vielmehr der Anschein, wir besäßen eine solche Erkenntnis, eine bloße Wirkung der Gewohnheit ist, diese Annahme schließt keinen logischen

116

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Widerspruch ein. Indessen, die Möglichkeit, ihre Wahrheit zu erkennen, schließt einen Widerspruch ein. Denn wenn wir keine Erkenntnis von Verknüpfungen haben, so können wir den Schein, daß wir sie besäßen, auch nicht aus der Wirksamkeit der Gewohnheit erklären.Ja wir könnten nicht einmal die Erkenntnis der assoziativen Verknüpfung unserer Vorstellungen haben, die den Erklärungsgrund für jenen Schein bilden soll. Denn die Assoziation der Vorstellungen ist ja selbst nur ein besonderer Fall der Verknüpfung von Erscheinungen, nämlich die Verknüpfung von Vorstellungen im menschlichen Geist. Wir können aus diesem eigentümlichen Widerspruch nicht auf die Falschheit des Humeschen Ergebnisses schließen, wohl aber auf die Unstatthaftigkeit der von Hume versuchten Begründung dieses Ergebmsses.

4. Das nötigt uns nun zu der Frage, wo der Grund des Fehlers der Humeschen Theorie zu suchen ist. Nach dem, was wir von dieser Theorie schon wissen, kann der Grund des Fehlers nur in der Humeschen Theorie des Glaubens liegen. Man kann sich in der Tat leicht durch Selbstbeobachtung überzeugen - und es ist wiederum merkwürdig, daß dies Hume entgangen ist -, daß assertorische Vorstellungen, das heißt solche, die die Behauptung der Existenz ihres Gegenstandes einschließen, sich von problematischen Vorstellungen nicht nur durch den Grad der Deutlichkeit oder Lebhaftigkeit unterscheiden, sondern daß zwischen ihnen ein qualitativer Unterschied besteht. Ich kann eine Erinnerungsvorstellung, mit der ich keine Existenz des Gegenstandes behaupte - etwa die Erinnerung an einen toten Freund -, beliebig deutlich werden lassen, ohne daß sie dadurch den Charakter einer Existenzbehauptung anzunehmen brauchte. Und umgekehrt: Die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit einer Vorstellung, die den Charakter einer Existenzbehauptung hat - durch die ich zum Beispiel eines lebenden Freundes gedenke -, kann beliebig abnehmen, ohne daß darum die Vorstellung den Charakter der Existenzbehauptung zu verlieren braucht. Wir müßten uns sonst ja auch einen stetigen Obergang und einen nur graduellen Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichtsein vorstellen. Deutlich-

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

117

keit und Lebhaftigkeit der Vorstellung einerseits und ihr assertorischer Charakter andererseits stehen also nicht in dem von Hume angenommenen Verhältnis. Zwar bleibt das eine richtig, ja, es ist eine äußerst wichtige und folgenreiche Entdeckung, wenn Hume feststellt, daß sich assertorische und problematische Vorstellungen nicht unterscheiden durch die Merkmale, mit denen wir im einen und anderen Fall den Gegenstand vorstellen. Dennoch besteht zwischen beiden Vorstellungsarten ein qualitativer Unterschied. Daß Hume diesen Umstand übersehen konnte, liegt in dem schon besprochenen, auch sonst folgenreichen Fehler seiner Theorie, daß er, wie bereits Berkeley, die Vorstellung nicht hinreichend deutlich von ihrem Gegenstand unterscheidet. Zwischen den Gegenständen der einen und anderen Vorstellung, der problematischen und der assertorischen, besteht kein qualitativer Unterschied. Beide gleichen sich in ihren Beschaffenheiten: Es ist ja vielmehr derselbe Gegenstand, den wir das eine Mal bloß vorstellen, das andere Mal als existierend anerkennen. Wohl aber besteht ein qualitativer Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen des Gegenstandes, der problematischen und der assertorischen, ein Unterschied, den wir freilich nicht näher auf Begriffe bringen können, weil der Unterschied, der hier vorliegt, ein elementarer qualitativer Unterschied ist, der sich als solcher nur beobachten, nicht aber auf Einfacheres zurückführen läßt. Es ist also eine Tatsache der Selbstbeobachtung, daß sich assertorische und problematische Vorstellungen nicht nur graduell, sondern qualitativ unterscheiden. Mit dieser Feststellung entfällt die Möglichkeit, Humes assoziationspsychologischen Erklärungsversuch durchzuführen, die Möglichkeit, die sich ihm zu eröffnen schien, in der psychologischen Erklärung einen Übergang zu bewerkstelligen von der nur problematischen Vorstellung der Erinnerung zu der assertorischen der Erwartung. Dieser Übergang erschien ihm möglich durch die graduelle Verstärkung der Vorstellungen.

5. Es wird nun wichtig, die Kritik der Humeschen Theorie auf eine allgemeine Form zu bringen, um sie unabhängig zu machen von der

118

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Widerlegung der besonderen und, wie es scheint, zufälligen Form, in der Hume seinen Erklärungsversuch durchgeführt hat, nämlich seiner Lehre vom Glauben. Es wäre ja denkbar, daß eine assoziationspsychologische Erklärung der Verknüpfungsvorstellung auf einem anderen Wege gelingt als dem, den Hume auf Grund seiner Theorie des Glaubens eingeschlagen hat und den wir als falsch erkannt haben. Allerdings, wenn wir diese Möglichkeit prüfen, so zeigt eine einfache Überlegung, daß dieser von Hume eingeschlagene Weg nicht zufällig gewählt worden ist, daß Hume vielmehr für die Durchführung seines Erklärungsversuches auf ihn angewiesen war, da ohne ihn die Klufl unüberbrückbar bleibt, die das qualitativ Eigentümliche der Vorstellung der Verknüpfung von einer bloßen Reproduktion der Vorstellungen trennt. Die Assoziation dient dazu, die Verknüpfung der Vorstellungen zu erklären. Wir haben in der Tat keinen Grund, anzunehmen, daß es irgendeine Verknüpfung von Vorstellungen geben sollte, die sich nicht durch die Gesetze der Assoziation erklären ließe. Diese Prämisse der Humeschen Theorie bleibt also unangefochten stehen. Aber etwas ganz anderes als die Verknüpfung von Vorstellungen ist die Vorstellung der Verknüpfung. Wir erhalten diese Vorstellung nicht dadurch, daß andere Vorstellungen miteinander in Verknüpfung treten. Es liegt ja hier in dem, was erklärt werden soll, gar keine Verknüpfung von Vorstellungen vor, so daß wir auch nur fragen könnten, wie sie sich durch die Gesetze der Assoziation erklären ließe. Sondern es liegt hier eine eigentümliche elementare Vorstellung selbst vor, von der wir wohl fragen können, wie sie ihrerseits mit anderen Vorstellungen in Verknüpfung treten kann, niemals aber, wie sie selbst durch eine Verknüpfung von Vorstellungen entstehen kann. An dieser Tatsache muß jeder Versuch scheitern, auf Grund der Gesetze der Assoziation die Vorstellung der Verknüpfung zu erklären.

6. Wir wissen also jetzt, daß die Aufgabe, die Hume sich stellte, nämlich die Aufgabe einer assoziationspsychologischen Erklärung der Vorstellung der Verknüpfung, überhaupt unlösbar ist. Aber die Schwierigkeit, die dem Humeschen Problem zugrunde liegt, bleibt nach dieser Fest-

Humcs Kritik der metaphysischen Erkenntnis

119

stellung doch insofern noch bestehen, als, solange wir Hume den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen zugestehen, die Aufgabe einer solchen Erklärung unvermeidlich bleibt. Wenn wir nämlich im übrigen bei Humes Voraussetzungen bleiben, so können wir uns auch der Konsequenz nicht entziehen, daß es keine Quelle metaphysischer Erkenntnis für den menschlichen Geist gibt, und damit auch nicht der Aufgabe, das, was sich als metaphysische Erkenntnis ausgibt, wie zum Beispiel die Vorstellung der kausalen Verknüpfung, zu erklären als ein bloß erschlichenes Produkt des blinden Mechanismus der Assoziation. Diese Einsicht weist uns aber bereits den Weg zur Auflösung jener Schwierigkeit. Denn wenn wir eine Zurückführung der Vorstellung der Verknüpfung auf den Mechanismus der Assoziation als unmöglich erkannt haben, so werden wir auf Grund dieser Erkenntnis den umgekehrten Schluß ziehen, daß in den Humeschen Voraussetzungen ein Fehler liegen muß. In welcher Voraussetzung liegt nun bei Hume dieser Fehler? Die Prüfung dieser Frage wird uns um so leichter, als Hume selbst auf das gewissenhafteste Rechenschaft abgelegt hat über die Voraussetzungen, von denen er Gebrauch macht. Die für seine ganze Theorie entscheidende Voraussetzung ist, wie er selbst immer wieder hervorhebt, die, daß alle Vorstellungen auf Kopien von Sinneswahrnehmungen zurückgeführt werden können; nicht unmittelbar jede Vorstellung, die wir in uns finden, wohl aber die Elementarvorstellungen, aus denen sie sich zusammensetzen, müssen Kopien von Sinneswahrnehmungen sein. Nur wenn wir diese Voraussetzung annehmen, entsteht für uns die Aufgabe, jede Vorstellung aus empirischen Quellen zu erklären und also diejenigen Vorstellungen, die nicht selbst Kopien von Sinneswahrnehmungen sind, vermittels der Assoziation auf Sinneseindrücke zurückzuführen. Wie kommt nun Hume zu seiner Voraussetzung, daß die Vorstellungen ursprünglich Kopien von Sinneswahrnehmungen sein müssen oder, mit anderen Worten, daß aller Gehalt unserer Erkenntnis aus der Sinneswahrnehmung stammt? Er kommt dazu, wie wir wissen, auf Grund der von ihm sehr richtig erkannten Tatsache der ursprünglichen Leerheit des Verstandes oder, wie wir auch sagen können, der nur wiederholenden Natur der Reflexion, auf Grund der Beobachtung näm-

120

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

lieh, daß durch bloßes Denken nie ein eigener, ein ursprünglich neuer Gehalt von Vorstellungen erzeugt wird, daß vielmehr der Verstand von sich aus nicht mehr vermag, als anderweit gegebene Vorstellungen in elementarere Vorstellungen aufzulösen und diese nach Belieben wieder zusammenzusetzen. Es entsteht daher für uns die Frage, ob durch diese Feststellung die Behauptung gesichert ist, daß alle Vorstellungen zuletzt auf Sinneswahrnehmungen zurückgehen, daß also dem Verstand aller Gehalt von Vorstellungen, den wir in ihm finden, aus der Sinneswahrnehmung zufließt. Rein logisch folgt dies jedenfalls nicht. Aus dem nur wiederholenden Charakter der Reflexion folgt ohne weiteres nicht, daß das, was die Reflexion wiederholt, in der Sinneswahrnehmung liegen müsse. Es könnte ja in einer dritten Art von Erkenntnissen liegen. Aus dem negativen Satze allein, daß dieser Gehalt ursprünglich nicht aus der Reflexion stammt, läßt sich nicht auf den positiven Satz schließen, daß er aus der Sinneswahrnehmung stammen müsse. Wer dennoch auf diesen positiven Satz schließen will, der muß dafür einen anderen Grund suchen. Er kann diesen Grund nicht finden in rein logischen Erwägungen, sondern nur in Tatsachen der Selbstbeobachtung. Es ist eine Frage des psychologischen Tatbestandes, ob wir Vorstellungen in uns finden, die ihre Quelle nicht in der Sinneswahrnehmung haben, so daß wir also für sie eine andere Quelle - außer Reflexion und Sinneswahrnehmungannehmen müssen, oder ob, wie Hume behauptet, aller Gehalt unserer Vorstellungen aus der Sinneswahrnehmung stammt. Vor der empirischen Untersuchung läßt sich hierüber nichts aussagen. Diese empirische Untersuchung brauchen wir nun aber an dieser Stelle nicht erst anzustellen. Wir haben sie bereits ausgeführt. Wir haben an dem Beispiel der Vorstellung der Verknüpfung festgestellt, daß es Vorstellungen gibt, deren Reduktion auf bloße Sinneswahrnehmungen unmöglich ist. Durch diese Feststellung ist die Humesche Voraussetzung hinreichend widerlegt, daß alle Vorstellungen ursprünglich Kopien von Sinneswahrnehmungen sein müßten. Gerade durch die Unanwendbarkeit der durch diese Voraussetzung vorgeschriebenen Erklärungsweise auf den Fall jenes Beispiels wird die Voraussetzung widerlegt, die uns zu dieser Erklärungsweise nötigte.

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

IV. Drn

121

BLEIBENDEN ERGEBNISSE DER HuMESCHEN UNTERSUCHUNGEN

Die Klarstellung dieser Mängel setzt uns nun andererseits erst recht in den Stand, den bleibenden Ertrag aus Humes Untersuchungen herauszuschälen und uns den großen Fortschritt zu vergegenwärtigen, den sie für die Geschichte der Philosophie bedeuten. Da will ich zunächst, wenn auch nur nebenbei, den formalen Wert des Humeschen Werkes hervorheben, der in einer bis dahin unerreichten Klarheit sowohl der Gedankenentwicklung selbst als auch ihrer Darstellung besteht. Wir müssen hier rühmen, daß Hume von jeder Voraussetzung, die er gebraucht, Rechenschaft ablegt, daß er für jedes Problem zuerst eine bestimmte und präzise Formulierung sucht, daß er jeden einzelnen Schritt in der Reihe seiner Schlüsse offen bloßlegt und der Kritik darbietet, und besonders, daß er keiner Schwierigkeit aus dem Wege geht, keine verschleiert, sondern vielmehr alle erdenklichen Schwierigkeiten bewußt aufsucht und ans Licht zieht. In alledem bleibt Humes Vorgehen ein unübertroffenes Muster und Vorbild für philosophische Untersuchungen überhaupt. Ich erwähne diesen Umstand besonders deshalb, weil in ihm der Grund liegt dafür, daß er sich so hoch über die Stufe der Ausbildung seiner Zeit erhebt, und damit zugleich der Grund dafür, daß wir bei ihm zum ersten Male die Bedingungen eines philosophischen Aufbaus erfüllt finden, an den wir, ohne ihm dadurch Gewalt anzutun, mit festen kritischen Begriffen herantreten können und den wir zum Gegenstand einer fruchtbaren wissenschaftlichen Prüfung machen können. Aber uns kommt es jetzt mehr auf eine andere Frage an, nämlich darauf: Welches sind im einzelnen die bestimmten dialektischen Fortschritte, die durch Humes Untersuchungen erzielt worden sind? 1. Der erste von ihnen liegt in der Einsicht, daß die Existenz eines Gegenstandes nicht zu dessen Beschaffenheiten gehört, das heißt, daß sich der als existierend erkannte Gegenstand von dem nur problematisch gedachten nicht hinsichtlich seiner Eigenschaften unterscheidet. Welche Bedeutung diese Einsicht für die Geschichte der Philosophie hat, wird sich später zeigen.

122

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

2. Ein zweiter Fortschritt liegt in dem höchst fruchtbaren Gesichtspunkt, den Hume gewonnen hat durch sein Postulat der Reduktion aller reflektierten Vorstellungen auf nichtreflektierte oder, genauer, durch die Forderung, alle Gebilde der Reflexion, die auf Wahrheit Anspruch machen, sofern sie sich nicht auf logische Beziehungen zwischen Begriffen beschränken, auf solche Elemente zurückzuführen, die sich als Kopien originaler, von der Reflexion unabhängiger Vorstellungen erweisen lassen. Nur auf diesem Wege ist es möglich, eine Behauptung vollständig zu begründen. Dieser an sich so einfache Gedanke ist durch Hume zum ersten Male klargeworden. Wir müssen ihn festhalten, auch wenn wir Humes Beschränkung der ursprünglichen Erkenntnisgründe auf bloße Sinneswahrnehmungen als unbegründet erkennen. Der richtige Gedanke, der ihn hier leitet, bleibt für uns stehen, der Gedanke, daß alle Vorstellungen der Reflexion hinsichtlich ihres Gehaltes nur durch Zurückführung auf unmittelbare Erkenntnis begründet werden können. In diesem Gedanken liegt ein Hinweis, der, einmal klar und fest aufgefaßt, alsbald dazu hätte führen müssen, den unfruchtbaren Streit um den Skeptizismus und die verworrenen Spekulationen über die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt zu verlassen und die Bemühungen der Philosophen in die fruchtbare Bahn bestimmt angreifbarer und methodisch lösbarer Probleme hinüberzuleiten. Dieser Erfolg blieb Hume versagt, weil die Zeit dazu noch bei weitem nicht reif war, und er mußte erst viel später auf mühevollen Umwegen von neuem erarbeitet werden. 3. Der dritte positive Ertrag der Humeschen Untersuchungen liegt in dem endgültigen Beweise des weder logischen noch empirischen Ursprungs der metaphysischen Prinzipien und damit in der Überwindung der Irrtümer seiner logizistischen und empiristischen Vorgänger, von denen die einen die Metaphysik auf die Logik, die anderen auf die Erfahrung hatten gründen wollen. Während aber jene bei ihren Versuchen die Metaphysik immer nur als eine Wissenschaft vom übersinnlichen im Auge gehabt hatten, an die Probleme der Existenz Gottes, der Freiheit des Willens und die verwandten gedacht hatten, ist es Humes Verdienst, erkannt zu haben, daß schon die bloße Erfahrungskenntnis, sofern sie durch Schlüsse auf Tatsachen über den Bereich un-

Humes Kritik der metaphysisd1en Erkenntnis

123

mittelbarer Beobachtung hinausgeht, metaphysische Voraussetzungen einschließt, nämlich die der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen. Damit war denn endlich gewonnen, daß die philosophische Forschung einen Anknüpfungspunkt fand in einem anderweit gesicherten, feststehenden Gehalt von Erkenntnissen und hier festen Boden fassen konnte. 4. Dabei wollen wir als besonderes Verdienst verzeichnen, daß Humes Nachweisung des nicht-intuitiven Ursprungs dieser metaphysischen Vorstellungen auch die Widerlegung des Versuchs umfaßt, die metaphysischen Prinzipien auf die innere Selbstbeobachtung zurückzuführen. Die innere Wahrnehmung ist in dieser Hinsicht, wie Hume zeigt, vor der äußeren nicht ausgezeichnet. 5. In diesem Zusammenhang ist auch hervorzuheben Humes klare Abweisung aller Wahrscheinlichkeitsargumentationen zur Begründung der metaphysischen Prinzipien. Alle Wahrscheinlichkeitsurteile sind nach seinen Nachweisungen selbst nur vermöge metaphysischer Voraussetzungen möglich. 6. Hier will ich zugleich hinweisen auf die klare Einsicht Humes in den psychologischen Charakter seines Problems. Es handelt sich für ihn nicht um das metaphysische Problem der Möglichkeit einer notwendigen Verknüpfung, sondern um das ganz andere Problem der Möglichkeit unserer Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung. Dieses Problem, das Hume seinen Nachfolgern hinterlassen hat, ist ein psychologisches. Es betrifft den Ursprung der fraglichen Vorstellung im menschlichen Geiste und nicht ihre objektive Gültigkeit. Es bezieht sich auf ein Existenzproblem, nämlich das Problem der Existenz einer ursprünglichen nicht~reflektierten Vorstellung, als deren Kopie sich der Begriff der notwendigen Verknüpfung erweisen läßt. 7. Wir müssen, wo dieses Problem zur Diskussion steht, den von Hume selbst gegebenen Hinweis auf die besondere Schwierigkeit beachten, die jeder assoziationspsychologischen Erklärung der fraglichen Vorstellung im Wege steht. Diese Schwierigkeit liegt im Obergang von der Erinnerungsvorstellung zur Erwartung. Ob die Überwindung dieser Schwierigkeit gelingt, das wird nun die Probe für jeden assoziations-

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

124

psychologischen Lösungsversuch. Dieser Probe müssen wir auch die heutigen Versuche dieser Art unterwerfen, und alle Versuche, die gar nicht erst diese Schwierigkeit beachten, können wir ohne weitere Prüfung von der Hand weisen. 8. Endlich verdanken wir Hume die klare Einsicht in die Konsequenz aus seinen Prämissen, die Einsicht, daß der metaphysische Skeptizismus unvermeidlich wird, wenn wir an der Ausschließlichkeit von bloßer Reflexion und Sinneswahrnehmung als Erkenntnisquellen festhalten. Denn da, gemäß dem von Hume Bewiesenen, weder die Reflexion noch die Sinnesanschauung die Quelle der metaphysischen Urteile sein kann, so folgt notwendig, daß, wenn es keine dritte Erkenntnisquelle gibt, die metaphysischen Behauptungen unbegründbare Vorurteile sein müssen. Und dieser hypothetische Satz, daß auf Grund der einmal angenommenen Vollständigkeit der Einteilung der Erkenntnisquellen eine metaphysische Erkenntnis unmöglich ist, dieser Satz behält seine volle Bedeutung, auch wenn wir die vorausgesetzte Einteilung der Erkenntnisse und den aus ihr folgenden metaphysischen Skeptizismus nicht annehmen können. Mit diesen Entdeckungen war die Notwendigkeit dargetan, die bisherige Spekulationsweise gänzlich zu verlassen und einen von Grund aus neuen Weg zu suchen. Denn die bisherigen 'Wege, die Metaphysik zu begründen, der logizistische und der empiristische, hatten sich als unmöglich erwiesen. Diesen neuen Weg hat nun zwar Hume selbst nicht mehr beschritten. Aber er hat doch den Boden dafür bereitet, so daß seine Nachfolger später in unmittelbarer Anknüpfung an ihn diesen Weg gehen konnten, wenn sich auch nicht so bald jemand fand, der diesem großen Mann an Schärfe und Klarheit des Denkens so weit gewachsen war, daß er seine Ergebnisse unmittelbar hätte übernehmen können.

V.

Ax10MAT1K DES HuMESCHEN PROBLEMS

Wenn man die allgemeine Form, auf die wir das Humesche Problem zurückgeführt haben, vergleicht mit dem Schema, an dem wir uns den logischen Kern des Streites der Rationalisten und Empiristen über das

Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis

125

Problem der angeborenen Ideen veranschaulicht hatten, so bemerkt man eine tiefliegende Übereinstimmung. Geschichtlich betrachtet bedeutet die Humesche Problemstellung, daß hier die logischen Verhältnisse, die dem Streit jener beiden Schulen zugrunde liegen, herausgearbeitet und ins Bewußtsein gehoben worden sind. Wir können daher mit einer geringen Vervollständigung und Präzisierung jenes früheren Schemas das Humesche Problem in seiner größtmöglichen Allgemeinheit unmittelbar zum Ausdruck bringen und gewinnen damit zugleich einen Leitfaden für unsere Erforschung des Fortschritts in der Weiterentwicklung des Problems nach Hume. Wir brauchen nur die Voraussetzungen der Humeschen Theorie, wie wir sie herausgeschält haben, nebeneinanderzustellen und dazu dann die entsprechenden Konsequenzen, um die verschiedenen Theorien, die durch die möglichen Verbindungen der einen und die gegenseitige Ausschließung der anderen Sätze entstehen, unmittelbar vor Augen zu haben und in einem Blick zu vereinigen. Wir erhalten so gleichsam eine Axiomatik des Humeschen Problems. Ausschließlichkeit von Sinnesanschauung und Verstand als Erkenntnisquellen Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis aus der Sinnesanschauung

Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis aus bloßem Verstande

Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis (Metaphysischer Skeptizismus)

Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis aus bloßem Verstande (Metaphysischer Logizismus)

Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis aus der Sinnesanschauung (Metaphysischer Empirismus)

126

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Wir haben auf der einen Seite die Voraussetzung, daß die Sinnesanschauung nicht der Erkenntnisgrund der fraglichen metaphysischen Prinzipien sein kann. Dies ist die Annahme, aus der die rationalistischen Philosophen auf den logischen Ursprung der metaphysischen Prinzipien geschlossen haben und die sie auf das Unternehmen ihrer logizistischen Metaphysik geführt hat, auf das Unternehmen, die Reflexion zur Quelle der metaphysischen Erkenntnisse zu machen. Dem steht gegenüber der Satz von der ursprünglichen Leerheit der Reflexion, mit Berufung auf den die Empiristen den Rationalisten entgege111treten und auf den sie ihren Versuch einer empiristischen Metaphysik gründen, nämlich den Versuch, die Sinnesanschauung zur Quelle der metaphysischen Erkenntnis zu machen. Jede von diesen beiden Lehren, die logizistische wie die empiristische Metaphysik, ist im Recht mit der negativen Behauptung, durch die sie der anderen gegenübertritt, die eine mit der Verwerfung der Sinnesanschauung, die andere mit der Verwerfung der Reflexion als Quelle metaphysischer Erkenntnis; aber jede ist zugleich im Unrecht mit ihrer positiven Konsequenz. Der Widerspruch zwischen den beiderseitigen Konsequenzen entsteht jedoch erst auf Grund der Voraussetzung, die stillschweigend beide Teile gemeinsam machen, daß nämlich Reflexion und Sinnesanschauung die einzigen Erkenntnisquellen sind. Denn erst unter Hinzunahme dieser weiteren Voraussetzung wird es unmöglich, die beiden an sich richtigen negativen Behauptungen zu vereinigen, solange wir überhaupt an der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis festhalten. Es würde dann in der Tat auf der einen Seite folgen, daß die Metaphysik ihre Erkenntnisgründe in der Logik, und auf der anderen, daß sie sie in der Erfahrung hat. So weit haben wi·r nichts Neues. Das Neue besteht erst darin, daß Hume als erster die Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit dieser Streitfrage gegenüber aufgebracht hat, um zunächst einmal anzuerkennen, daß die eine Voraussetzung ebenso wohlbegründet ist wie die andere, und daraufhin den Versuch einer Theorie zu machen, die der Wahrheit beider Voraussetzungen Rechnung trägt. Da ihm aber ebensowenig wie seinen Vorgängern in den Sinn kam, die von ihnen gemeinsam stillschweigend gemachte Voraussetzung anzuzweifeln oder auch

Humcs Kritik der metaphysischen Erkenntnis

127

nur als solche zu erkennen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Voraussetzung der Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis aufzuheben, das heißt auf den metaphysischen Skeptizismus zu schließen. Daher der Schluß Humes, daß die Metaphysik weder auf Erfahrung noch auf Logik gegründet werden kann, daß also, wenn wir an der beiderseitig vorausgesetzten Disjunktion festhalten, es überhaupt keine Metaphysik geben kann. Wir erkennen so, daß es sich bei diesem dialektischen Widerstreit und bei dem Übergang von diesem langwierigen und verworrenen Streit zur Aufrollung des Humeschen Problems nicht etwa um eine historische Zufälligkeit handelt, sondern daß darin im Gegenteil die innere Notwendigkeit der Gedankenentwicklung zum Ausdruck kommt. Nur in dem durch dieses Schema vorgezeichneten Gang der Gedankenentwicklung kann sich daher auch der weitere Fortschritt der metaphysischen Dialektik vollziehen. Wir sehen schon, in welcher Richtung wir ihn zu erwarten haben. Ein Blick auf die Figur genügt, um an ihrer Unsymmetrie zu erkennen, daß eine vierte Möglichkeit noch unversucht geblieben ist. Ich meine den Versuch, den Fehler der logizistischen und der empiristischen Metaphysik zu vermeiden, ohne mit dem Skeptizismus an der Möglichkeit der Metaphysik überhaupt zu verzweifeln. Aber wenn wir bedenken, welche Mühe es gekostet hat und wie lange Zeit es gedauert hat, bis auch nur diese dritte Möglichkeit dem vorurteilslosesten Mann seiner Zeit ins Bewußtsein trat, so dürfen wir uns nicht wundern, daß es noch weit größere Bemühungen gekostet hat, ehe man es sich gar einfallen ließ, eine vierte Möglichkeit in Erwägung zu ziehen und es mit ihr zu versuchen. Dieser Versuch konnte nur in Angriff genommen werden von einem Denker, der die Kühnheit besaß, seinen Zweifel gegen dasjenige Lehrstück zu richten, das bis dahin gerade das einzige von allen Seiten zugestandene und allem Streit entrückte geblieben war: gegen die Lehre von der Ausschließlichkeit von Logik und Erfahrung als Erkenntnisquellen.

2.

KAPITEL

Die Gefühlsmetaphysik der schottischen Schule, Rousseaus und Jacobis Wie wenig der große Fortschritt, den die Metaphysik Hume verdankt und der überhaupt erst die Bahn frei machte für eine wissenschaftliche Inangriffnahme ihrer Probleme, Verständnis gefunden hat zu seiner Zeit und darüber hinaus, das war schon ersichtlich an dem Beispiel von Moses Mendelssohn. Wir sehen es aber auch, wenn wir den weiteren Kreis der Zeitgenossen und Nachfolger ins Auge fassen, die sich mit Humes metaphysischem Skeptizismus auseinandergesetzt haben. Wie daher von der Höhe des Humeschen Problems aus der ganze vorhergehende Schulstreit wie ein Vorspiel anmutet, so erscheint die nunmehr folgende Episode wie ein Zwischenspiel im Fortgang der wissenschafl:lichen Geschichte der Philosophie. Diese Episode kennzeichnet sich als eine Reaktion. Eine Reaktion zwar nicht gegen die bestimmte Lehre des Humeschen Skeptizismus - denn dazu hätte das Humesche Problem überhaupt erst einmal Eingang in das Verständnis finden müssen -, wohl aber gegen die gesamte Tendenz des Philosophierens, das sich in der Richtung auf diesen Skeptizismus zu bewegte. Diese intellektuelle Tendenz löste eine gefühlsmäßige Reaktion aus bei denen, die, von der vorherrschend gewordenen Denkart unbefriedigt, sich doch der drohenden skeptischen Konsequenzen rein verstandesmäßig nicht erwehren konnten. Diese an und für sich nur kulturgeschichtlich wichtige Tatsache spiegelt sich aber auch in der philosophischen Dialektik der Zeit, nämlich in der Tendenz, die dahin ging, nun auch objektiv dem Gefühl, im Gegensatz zu dem kritischen Verstand, seine Rechte zu sichern und es

Die Gefühlsmetaphysik der schottischen Schule

129

als eine selbständige Erkenntnisquelle zur Geltung zu bringen. Ich will von drei besonders hervorstechenden Vertretern dieser philosophischen Tendenz sprechen. 1.

Da haben wir es zunächst zu tun mit Humes Gegnern aus der schottischen Schule, als deren bedeutendster Vertreter Reid zu nennen ist: mit den Anhängern der Philosophie des »common sense«, des Gemeinsinnes oder des gesunden Menschenverstandes, wie sie in der Geschichte der Philosophie meist genannt werden. Was ist dieser Gemeinsinn? Er soll nach den Lehren dieser Schule die unmittelbare Quelle der metaphysischen Gewißheit sein. Es drückt sich dadurch die Meinung aus, daß die metaphysische Erkenntnis intuitiven Ursprungs sei. Das lehren in der Tat diese Philosophen, indem sie behaupten, daß es eine unmittelbare Evidenz für die metaphysischen Wahrheiten gibt, wie zum Beispiel für die Behauptung des Bestehens einer kausalen Verknüpfung zwischen den Erscheinungen. Wir sind uns durch den Gemeinsinn unmittelbar der Wahrheit dieser Behauptung bewußt, und der Hinweis auf diese intuitive Gewißheit genügt, um jede weitere Begründung der fraglichen Behauptung entbehrlich zu machen. Die Philosophie des common sense läuft also - bei aller Verfeinerung und Bereicherung der psychologischen Beobachtung, die ihr im übrigen zu danken ist - auf eine Erneuerung der empiristischen Metaphysik hinaus, deren Unhaltbarkeit Hume soeben nachgewiesen hatte. Wir wollen uns aber nicht mit dieser Feststellung begnügen, sondern uns die Frage stellen: Wie kamen die Schotten darauf, gerade die Behauptung zu wiederholen, die Hume widerlegt hatte? Sie kamen darauf durch die Mißdeutung einer an sich richtigen Beobachtung. Es war eine richtig beobachtete Tatsache, die sie dadurch zu beschreiben suchten, daß sie von einem Instinkt oder Gefühl sprachen, das uns bei der Anwendung unserer metaphysischen Überzeugungen leitet - eine Beschreibung, mit der sie sich übrigens eine schon bei Hume vorkommende Charakteristik seines »belief« zu eigen machten. Indem sie aber in diesem Instinkt oder Gefühl eine Außerung des

130

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Gemeinsinnes zu entdecken meinten, verfielen sie einer naheliegenden Täuschung. Diese Tauschung lag nahe infolge einer Unbestimmtheit des Sprachgebrauchs hinsichtlich der Begriffe, die hier in Frage kommen. Wenn man gemeinhin eine Erkenntnis als »evident« bezeichnet, so ist damit noch keine eindeutige Charakteristik für sie gegeben. Ausdrücke dieser Art werden oft gebraucht, nur um die tatsächliche Gewißheit zu bezeichnen, die wir in bezug auf unser Urteil haben: die Sicherheit der Überzeugung von seiner Wahrheit. Wenn wir von der Evidenz eines Urteils sprechen, so kann dies aber auch anders und bestimmter gemeint sein. Der Ausdruck bedeutet dann, daß der Sachverhalt, den wir im Urteil wiedergeben, uns unmittelbar klar ist, die Wahrheit des Urre,ils also ohne weiteres einleuchtet, das heißt, daß wir keines Nachdenkens bedürfen, um uns dieser Wahrheit bewußt zu werden. Er bedeutet, daß wir die Gewißheit nicht nur haben, das heißt von der Wahrheit des Urteils überzeugt sind, sondern daß wir sie in einer bestimmten Art und Weise haben, nämlich so, daß uns jene Wahrheit an sich, das heißt unabhängig von der Reflexion, klar ist. Eine ähnliche Zweideutigkeit liegt in den Ausdrücken »intuitiv« und »Intuition«. Man spricht vom »intuitiven« Erfassen einer Wahrheit. Damit kann zweierlei gemeint sein. Es kann einmal der Ausdruck sein für den Gegensatz zur logischen Vermittlung, das heißt zur Gewinnung der Wahrheit durch Schlußfolgerungen aus einer anderen Wahrheit. So spricht man davon, daß große Entdeckungen in der Wissenschaft oder bedeutende künstlerische Schöpfungen »intuitiv« erfolgen. Man meint dann diesen Gegensatz zum begrifflichen Denken. Man meint, daß das Bewußtsein der Wahrheit sich unvermittelt einstellt, nämlich ohne durch das Mittel der Begriffe und Schlüsse erarbeitet zu sein. Die Erscheinung, die man hierbei im Auge hat, ist uns übrigens schon aus dem alltäglichen Leben vertraut. Wenn wir uns im Gespräch befinden, so kommt es vor, daß wir nach dem Anhören einer Entgegnung unserer Behauptung ebenso sicher sind wie vorher, wenn wir auch keine Gründe mehr für sie anführen können. Wir sagen dann: Wir fühlen, daß unsere Behauptung wahr ist, ohne daß wir sie begründen können. Wir vertrauen darauf, daß sich die Gründe, über die wir uns noch nicht hinreichend klar sind, bei genügendem Nachdenken aufhellen werden. Dieses Wahr-

Die Gefühlsmetaphysik der schottischen Schule

131

heitsgefühl ist also selbst ein Akt der Urteilskraft und kann nicht als letzter Grund der Gültigkeit für unser Urteil gelten. Von diesem Wahrheitsgefühl müssen wir die Intuition nach einem anderen und zweckmäßigeren Gebrauch dieses Wortes unterscheiden. Wenn jemand sagt, daß er eine Wahrheit durch Intuition erkennt, so kann dies nämlich gerade auch heißen, daß er über den Grund seiner Behauptung sehr wohl Rechenschaft abzulegen imstande ist: indem er auf die Anschauung verweist, also auf eine bestimmte unmittelbare Erkenntnis des Gegenstandes, nämlich auf eine solche, die ihm unabhängig von aller Reflexion klar ist. Das ist gerade das Gegenteil der vorher erklärten Bedeutung des Wortes, wo dieses einen Anspruch auf Wahrheit bezeichnen soll, für den man einen Grund nicht anzugeben weiß. Wir müssen hier also zweierlei unterscheiden, was nicht nur im gewöhnlichen Sprachgebrauch durcheinandergeht, sondern auch in der psychologischen Analyse meist nicht auseinandergehalten wird: das Gefühl, das nichts anderes ist als das Vertrauen, daß sich Gründe für ein Urteil finden werden, diese selbst also nur vermöge eines dunklen Bewußtseins der Wahrheit voraussetzt, und die Anschauung, die ihrerseits ein klarer, bestimmter und hinreichender Grund für das Urteil ist. Beide stimmen freilich in dem einen überein, daß es sich hier wie dort um einen Gegensatz zum begrifflichen Denken handelt. Und hierin liegt für den nicht hinreichend scharf beobachtenden Psychologen eine stete Gefahr der Verwechslung. Auf dieser Verwechslung beruhen viele Fehler in der Geschichte der Philosophie. So auch hier der Fehler der Philosophie des common sense. Wenn man von den metaphysischen Urteilen, wie zum Beispiel dem Grundsatz der Kausalität, sagt, daß sie evident oder intuitiv gewiß seien, so hat man damit nur recht, falls man sagen will, daß wir von dem Behaupteten eine Gewißheit haben, die wir nicht durch irgendwelche Schlüsse auf höhere Gründe zurückführen können. Aber man hat unrecht, wenn man damit sagen will, daß die Wahrheit solcher Urteile anschaulich klar sei. Jeder Versuch, diese Wahrheiten unmittelbar in ihrer Abstraktheit mit Schärfe aufzufassen, lehrt das Gegenteil. Und schon die bloße Tatsache, daß die angebliche Evidenz des Kausalgesetzes einem Manne von der Geistesklarheit Humes entgangen ist, der doch

132

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

obendrein mit unermüdlichem Ernst gerade nach ihr gesucht hat, hätte den Verteidigern des metaphysischen Intuitionismus eine Warnung sein und sie in bezug auf die von ihnen proklamierte Evidenz stutzig machen sollen. Die Beachtung dieser Tatsache allein hätte sie davor bewahren können, der alten Täuschung abermals zum Opfer zu fallen, wenn schon die Selbsterkenntnis sie hierin im Stiche ließ. Eine gründliche psychologische Beobachtung lehrt in der Tat, daß metaphysische Wahrheiten wie das allgemeine Kausalgesetz nicht an sich klar sind, sondern uns nur durch Nachdenken zum Bewußtsein kommen. Wir werden uns über sie nur klar, indem wir von dem anschaulichen Gehalt bestimmter einzelner Kausalurteile abstrahieren. Hier wie auch sonst ist das allgemeine Prinzip zwar das logisch Erste und Einfachste, genetisch aber, das heißt hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung des Bewußtseins, gerade das Letzte und Künstlichste. Wer nicht philosophisch reflektiert, das heißt seine Aufmerksamkeit von dem anschaulich Gegebenen künstlich abwendet, dem kommt das allgemeine Kausalgesetz überhaupt nicht zum Bewußtsein. Er wendet es zwar an, indem er einzelne Kausalurteile fällt, aber bei solcher Anwendung des allgemeinen Prinzips kommt dieses nicht als solches zum Bewußtsein, sondern es leitet unser Urteil nur durch ein dunkles Gefühl. Dieses Gefühl ist also nicht eine unmittelbare Erkenntnis und am wenigsten eine unmittelbar klare, das heißt eine Anschauung, sondern bedarf selbst erst der Zurückführung auf eine unmittelbare Erkenntnis. Hätten wir eine anschauliche Erkenntnis der metaphysischen Wahrheiten, so könnte sie jedenfalls keine sinnliche Erkenntnis sein. Denn diese geht nur auf Zufälliges und Einzelnes, nicht auf Notwendiges und Allgemeines; sie geht auf Tatsachen und nicht auf Gesetze. Eine metaphysische Anschauung, wenn es sie gäbe, dürfte also nicht sinnlich, sondern müßte intellektuell sein. Eine intellektuelle Anschauung besitzen wir aber nicht. Es müßte ja sonst möglich sein, ohne den künstlichen Umweg der Forschung über Experiment und Induktion, wie die Tatsachen selbst, so auch die unter ihnen obwaltenden Kausalzusammenhänge aufzufassen und also die notwendige Verknüpfung von dem nur zufälligen Zusammentreffen zu unterscheiden. Daß die metaphysische Wahrheit sich der Sinnesanschauung und da-

Die Gefühlsmetaphysik der schottisdien Sdiule

133

mit aller Intuition und Evidenz entzieht, das war durch Hume bereits klargeworden. Wir müssen daher unser Urteil dahin abgeben, daß die Philosophen des common sense zu dem inkonsequenten Empirismus der Vorgänger Humes zurückgekehrt sind.

2. Eine ähnliche Auffassung wie die der Schotten finden wir bei verschiedenen der bedeutendsten Geister dieser Zeit. So in Frankreich bei einem Manne, der zwar, seiner ganzen Bedeutung nach, mehr der allgemeinen Kulturgeschichte angehört als der Geschichte der philosophischen Wissenschaft in dem begrenzten Sinne, in dem sie uns hier allein beschäftigt, den ich aber doch erwähnen möchte wegen seines ebenso tief eindringenden wie umfassenden Geistes, durch den er auch auf die philosophische Wissenschaft, wenn auch nur mittelbar, eingewirkt hat. Ich meine Rousseau, der übrigens nicht nur ein Zeitgenosse, sondern ein persönlicher Bekannter Humes war. Gegenüber der Einseitigkeit der gleichsam atomisierenden Psychologie der Zeit, die das seelische Leben aus den Sinneseindrücken entstehen lassen wollte, wie sie von außen die »tabula rasa« füllen, die an sich nur passiv dabei beteiligt ist, gegenüber dieser Einseitigkeit, gegen die sich sein ganzes leidenschaftliches Gefühl empörte, stellte er die Einheit und Aktivität des lebendigen Geistes in den Vordergrund. Und er fand die Grundäußerung dieser Einheit und Aktivität des Geistes. im Gefühl. (»Sentiment« ist das einzige Wort, über das die französische Sprache verfügt, um annähernd das auszudrücken, wofür die englische doch immerhin noch das Wort »feeling« bietet - ein Mangel der französischen Sprache, der die in ihr Philosophierenden fast gewaltsam zum Empirismus hindrängt, ein ähnlicher Mangel übrigens, wie ihn die Unbestimmtheit des Wortes »Evidenz« in dem englischen und französischen Sprachgebrauch mit sich bringt.) Das Gute und Richtige, meinte Rousseau, kündigt sich dem natürlichen, das heißt nicht künstlich verbildeten und verdorbenen Gefühl mit Evidenz an, so daß es im Grunde nur der Hinwegräumung aller Verwirrung einer künstlichen Reflexion bedarf, um die einfachen Grundwahrheiten auf allen Gebieten des

134

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

menschlichen Lebens in ihrer ursprünglichen Klarheit und Helligkeit aufleuchten zu lassen. Wie mit dieser psychologischen Grundansicht des großen Menschenkenners die religiösen, pädagogischen und politischen Ideen des großen Reformators zusammenhängen, das ist leicht ersichtlich. Auch das ist leicht ersichtlich, wie mit ihr jener tiefgehende Mangel an Realismus zusammenhängt, an dem die große revolutionäre Bewegung, die doch im wesentlichen auf den machtvollen Einfluß Rousseaus zurückgeht, gescheitert ist. Doch das gehört nicht zu unserem Thema. Für die philosophische Wissenschaft bleibt uns nur der psychologische Grundfehler dieser Ansicht interessant: jener gleichsam idealisierende Empirismus, der dem Gefühl, wie es sich in der Beurteilung des Einzelfalles als psychologisches Faktum zeigt, die vermeintliche Intuition des Prinzips unterschiebt und damit eine aktuelle Evidenz für dasjenige fingiert, was sich in Wahrheit doch erst in der nachträglichen Abstraktion als das logisch Primäre herausstellt.

3. Eine analoge Reaktionserscheinung gegen den intellektualistischen und skeptischen Geist der Zeit beobachten wir endlich auch in Deutschland. Der markanteste Vertreter, in dem sie sich hier verkörpert, ist Friedrich Heinrich Jacobi. In ähnlicher Weise wie die Schotten, aber durchaus selbständig, wandte sich dieser deutsche Philosoph gegen die skeptische Konsequenz von Humes Kritik der metaphysischen Erkenntnis. Jacobi gebührt dialektisch das Verdienst, als einer der ersten die logizistische Metaphysik, die zu seiner Zeit in Deutschland unumschränkt herrschte, einer scharfsinnigen Kritik unterworfen zu haben, ähnlich wie Hume die empiristische Metaphysik seiner Landsleute einer Kritik unterworfen hatte. Der einfache und klare Gedanke, den Jacobi hierbei in den Vordergrund stellte, war folgender: Um einen Beweis zu führen, das heißt um durch logische Schlüsse eine Wahrheit abzuleiten, bedürfen wir schon gewisser erster Voraussetzungen, aus denen wir unsere Schlüsse ziehen. Wenn wir also nicht

Die Gefühlsmetaphysik der schottischen Schule

135

schon unbewiesene und unbeweisbare Wahrheiten voraussetzen, so können wir auch zu keinen abgeleiteten und beweisbaren Wahrheiten gelangen. Wenn daher durch Beweise auch nur irgendeine Gewißheit gewonnen werden kann, so setzt das voraus, daß wir eine Gewißheit haben, die ohne allen Beweis gilt. Auf solche unbeweisbaren Wahrheiten muß alle Wissenschaft zuletzt ihre Lehrsätze stützen. Jacobi drückte dies so aus, daß alles Wissen zu seiner Möglichkeit einen Glauben voraussetzt, das heißt unbeweisbare Oberzeugungen, und zwar solche, die nicht nur keines Beweises fähig sind, sondern auch keines Beweises bedürfen. Bei dieser Feststellung blieb er stehen. Er berief sich auf die Notwendigkeit solcher unbeweisbaren und das heißt für ihn: überhaupt unableitbaren und unbegründbaren Überzeugungen, um auf sie die metaphysischen Wahrheiten zu gründen. Gerade weil er diese Überzeugungen keiner weiteren Begründung für fähig hielt, stellte er sie den Überzeugungen des Wissens als solche des Glaubens gegenüber. Ohne diese metaphysischen Überzeugungen ihrerseits einer Kritik zu unterwerfen, begnügte er sich mit der allgemeinen Nachweisung, daß ohne unbeweisbare Überzeugungen auch keine beweisbaren möglich wären, und meint, diese Nachweisung sei schon hinreichend, um die unbeweisbaren Wahrheiten gegen den Zweifel zu sichern. Aber wenn auch zuzugeben ist, daß diese Überzeugungen, die J acobi Glauben oder Gefühl oder auch Offenbarung nannte, nicht beweisbar sind, ja· auch keines Beweises bedürfen, so bleibt noch die Frage: Wie gelangen wir zu ihnen? Und was zeichnet sie vor nur erschlichenen, irrigen Überzeugungen aus, mit denen sie doch den Charakter der Unbeweisbarkeit teilen? Auch die ersten Prämissen unserer Schlußsätze sind Urteile wie diese und als solche der Gefahr des Irrtums ausgesetzt. Wie sollen wir also unter den obersten unserer Prämissen die wahren von den falschen unterscheiden? Es genügt nicht, sich für die Behauptung ihrer Wahrheit mit Jacobi und den Philosophen des common sense auf das Gefühl der Wahrheit zu berufen. Nicht allein fehlte ihm, gerade wie den ihm hierin verwandten schottischen Denkern auch, in Ermangelung jedes tieferen Deutungsprinzips die Möglichkeit und der Anlaß, sich auch nur die Aufgabe einer systematischen Aufsuchung jener unbeweisbaren Überzeugungen zu stellen, geschweige denn ihren Umfang und ihre Grenzen

136

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

zu bestimmen, sondern, indem er statt aller Begründung nur auf das Gefühl pochte, beging er den Fehler, daß er das Wahrheitsgefühl schon für eine unmittelbare Erkenntnis nahm, während es doch für sich nichts weiter ist als eine Art des Bewußtseins um eine Erkenntnis, die uns anderweit gegeben sein muß. Wir können also diese Jacobische Lehre nicht als eine Lösung der Schwierigkeit anerkennen. Wenn wir es dennoch täten, so verfielen wir in Mystizismus, indem wir einem bloßen dunklen Gefühl, das wie jedes Urteil irren kann, eine Anschauung als vermeintlich unmittelbare Erkenntnis der Wahrheit unterschieben und so nur wieder jedem schwärmerischen Wahn eines metaphysischen Hellsehers Tür und Tor öffnen.

3.

KAPITEL

Kants Begründung der kritischen Metaphysik I. DIE

KANTS AUSGANGSPUNKT:

LEIBNIZ-W OLFFSCHE SCHULMET APHYSIK

Wenn wir in Hume den ersten Bahnbrecher und Wegbereiter der kritischen Metaphysik kennengelernt haben, so haben wir in Kant ihren eigentlichen Begründer zu sehen. Es verhält sich aber nicht etwa so einfach, daß Kant bei seinen Bemühungen um die Fortbildung der Metaphysik sogleich an die Ergebnisse Humes angeknüpft hätte, sondern er ist mit diesen Ergebnissen erst verhältnismäßig spät vertraut geworden. Er hat seine philosophische Ausbildung in der rationalistischen Schule der logizistischen Metaphysik erhalten, wie er sie in Deutschland vorfand. Und wie für Hume die Kritik der empiristischen Metaphysik, aus deren Schule er hervorging, so hat für Kant die Kritik der logizistischen Metaphysik, aus deren Schule er hervorging, den Ausgangspunkt seiner Entdeckungen gebildet, und erst sehr spät ist er dazu gekommen, die eigenen Entdeckungen, zu denen er dabei vordrang, mit denen Humes zu vereinigen. Der Weg war für ihn ein weit mühevollerer und langwierigerer als für Hume. Und das ist kein Zufall. Während dort die Erfahrung, insbesondere die psychologische Beobachtung, auf der der Empirismus aufbaut, selbst ein Korrektiv darbot, um etwa begangene Irrtümer als solche zu erkennen und zu berichtigen, so handelt es sich hier, bei dem logischen Dogmatismus, um ein in sich geschlossenes Lehrsystem, das der Kritik keine außerhalb des Systems selbst liegende Handhabe läßt, so daß jeder, der einmal in diesem Schulsystem befangen ist, sich gleichsam in dem selbstgesponnenen Netz stets von neuem verfangen muß. Und so ist es begreiflich,

138

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

daß es Kant weit schwerer geworden ist, sich von der Autorität des Schulsystems loszuringen, als dies für Hume der Fall war. Es ist für unseren Zweck im höchsten Grade lehrreich, diese allmähliche Emanzipation von dem überkommenen Schulsystem bei Kant zu verfolgen. Um diesen inneren Befreiungsprozeß zu verstehen, ist es notwendig, sich gleichsam in das wissenschaftliche Milieu zu versetzen, aus dem Kant hervorgegangen ist. Dieses Milieu ist die Leibniz-Wolff sche Schule. Wir müssen uns daher etwas mit den Gedanken und Problemen vertraut machen, die zu jener Zeit im Mittelpunkt des Interesses dieser Schule standen. In seiner Habilitationsschrift, die im Jahre 1755 erschienen ist (in demselben Jah11e, in dem die erste Übersetzung Humes in deutscher Sprache herauskam), finden wir Kant noch ganz im Geiste der Leibniz-Wolff schen Schulmetaphysik befangen. Deshalb müssen wir etwas zurückgreifen und uns zunächst diese Leibniz-Wolffsche Schulmetaphysik in ihren Grundzügen vor Augen führen - eine Aufgabe, die uns ohnehin noch zurückgeblieben ist. Ich habe ja die Darstellung der rationalistischen Metaphysik nur so weit gegeben, wie sie von ihrem ersten Begründer, Descartes, geführt worden ist, und mich dann weiter nur mit der empiristischen Schule beschäftigt. Hier haben wir Gelegenheit, die Lücke auszufüllen und auch die Durchbildung des Rationalismus - das Gegenstück zu dem, was wir beim Empirismus kennengelernt haben - wenigstens in den Grundzügen noch zu betrachten.

1.

Um hier anzuknüpfen an das, was wir von der Descartesschen Begründung des Rationalismus bereits kennengelernt haben, wollen wir uns zunächst der Streitfragen erinnern, die verknüpft sind mit den Begriffen der Substanz und der Kausalität. Dies sind die Grundprobleme, auf die - dialektisch betrachtet - die cartesianische Metaphysik zurückgeht. Wir wissen, daß der Begründer dieser Schule in methodischer Hinsicht darauf ausgeht, nach dem Muster der Mathematik ein einheitliches System der Metaphysik zu errichten auf Grund von vorangestellten Definitionen. Der Anschein der Fruchtbarkeit aller dieser Bemühungen geht zurück auf die überall stillschweigend zu-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

139

grunde liegende Voraussetzung der Möglichkeit einer Erkenntnis der Wirklichkeit aus bloßen Begriffen. Es ist gleichsam das Geheimnis der Fruchtbarkeit dieser ganzen Metaphysik, das Spinoza ausspricht, wenn er selbst für den Begriff der Wahrheit oder in seiner Formulierung der Falschheit nur Definitionen an die Spitze stellt, nämlich die Definition: falsch sei nichts anderes, als daß von einer Sache etwas behauptet wird, was in ihrem Begriff nicht enthalten ist. Diese Erklärung des Spinoza ist selbst nur eine Nominaldefinition und hätte durchaus keine Bedeutung, wenn man nicht stillschweigend den hier definierten Begriff der Falschheit dem Begriff unterstellt, den man sonst nach dem Sprachgebrauch mit diesem Wort verbindet. Auf Grund einer solchen Verwechslung tritt an die Stelle der bloßen Nominaldefinition das durch nichts begründete Axiom, daß eine Sache keine anderen Merkmale haben kann als solche, die in ihrem Begriff liegen, oder daß - mit andern Worten - der Begriff die Sache vollständig bestimmt. Dies ist in der Tat die überall stillschweigend zugrunde liegende, niemals in dieser Schule diskutierte Voraussetzung aller ihrer Bemühungen einer Erkenntnis aus bloßen Begriffen. Wir erinnern uns der Definition, die Descartes für den Begriff der Substanz gegeben hat. Substanz hatte Descartes erklärt als ein Ding, das so existiert, daß es keines anderen bedarf, um zu existieren. Spinoza, der die cartesianische Metaphysik gleichsam systematisch und axiomatisch ausgebildet hat, geht einen Schritt weiter mit einer Definition der Substanz, wonach Substanz das ist, was an sich ist und durch sich begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff nicht des Begriffs von etwas anderem bedarf. Und daraus folgt dann, unter der versteckten logizistischen Voraussetzung dieser ganzen Metaphysik, die Descartessehe Erklärung von selber: der Satz nämlich, daß die Substanz causa sui ist, das heißt keines anderen Dinges bedarf, um zu existieren. Und es ergibt sich weiter, daß es nur eine Substanz geben kann. Denn nur die Substanz kann existieren, die keiner anderen bedarf, um zu existieren. Wir brauchen, um ein vollständiges Bild von dieser Metaphysik zu erhalten, nur noch die Definition Gottes hinzuzunehmen. Gott wird nämlich erklärt als die absolute Substanz und damit als diejenige, die nur durch Bejahung bestimmt ist und durch keine Verneinung. Es ist

140

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

klar, daß die einzige Substanz die göttliche Substanz ist, alles andere dagegen auf bloße Attribute dieser einen universellen Substanz zurückführbar sein muß. Die Einheit der Welt geht also zurück auf die numerische Einheit der Substanz. Als die zugrunde liegende Substanz, aus deren Attributen alles übrige erklärt werden muß, heißt sie bei Spinoza die »natura naturans«, und als die Welt, die der Ausfluß des göttlichen Urwesens ist, »natura naturata«, wobei aber zwischen beiden Identität besteht. Die Vielheit der Wesen ist bloßer Schein. Neben dem Begriff der Substanz steht, in dem Aufbau der rationalistischen Metaphysik, der Begriff der Kausalität oder der Bewirkung. Nur eine solche Bewirkung ist nach den Lehren des Descartes möglich, die für den Verstand einsehbar ist. Und dies versteht sich nach dem Grundprinzip der rationalistischen Metaphysik wieder von selbst. Wenn aber nur eine solche Bewirkung möglich ist, die für den Verstand einsehbar ist, so bedeutet dieses: es kann nur etwas als Wirkung einer Ursache eintreten, dessen Nichteintreten bei gegebener Ursache undenkbar ist, das heißt dessen Nichteintreten dem Gegebensein der Ursache widerspricht. A gilt als Ursache von B, wenn das Nichtsein von B dem Sein von A widerspricht. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung fällt daher zusammen mit dem logischen Verhältnis von Grund und Folge. Was ist nun metaphysisch die Konsequenz dieser Definitionsweise? Ihre Fruchtbarkeit kann natürlich wieder nur darauf beruhen, daß man dem sonst mit dem Worte »Wirkung« verbundenen Begriff den hier durch Nominaldefinition eingeführten unterschiebt. So kann man auf zwei entgegengesetzte Aufgaben für die Metaphysik kommen. Man steht vor der Aufgabe, entweder alle Bewirkung zurückzuführen auf Kausalverhältnisse im hier definierten, logizistisch definierten Sinne, also zurückzuführen auf die logizistische Notwendigkeit, auf den Satz des Widerspruchs - eine Aufgabe, wie sie in besonders großartiger und interessanter Weise für die Naturphilosophie von einem Denker in Angriff genommen worden ist, der im übrigen dem Empirismus in der Metaphysik, ja dem Materialismus zuneigt, nämlich von Hobbes. Er hat den interessanten Versuch gemacht, die Prinzipien der Mechanik auf den Satz des Widerspruchs zurückzuführen auf Grund der angeführten

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

141

Nominaldefinition der Bewirkung, ein Unternehmen, das ihn ähnlich wie Descartes veranlaßt, alle mechanische Bewirkung auf den Stoß zurückzuführen. - Oder aber man sieht die Unbegreiflichkeit der kausalen Verhältnisse durch den bloßen Verstand ein und kommt so zu dem metaphysischen Axiom, wie wir es schon bei Descartes selbst finden, von der Unmöglichkeit der Einwirkung einzelner Dinge auf einander. Dieser Konsequenz entspricht das System des Occasionalismus, das von Geulincx und Malebranche ausgebildet worden ist. »Es ist«, so sagt Malebranche wörtlich, »unmittelbar einleuchtend, daß kein Körper die Krafl: hat, einen anderen zu bewegen.« In anderer Form entspricht dieser Konsequenz die Leibnizsche Monadenlehre, worin sich die Welt aufbaut aus einzelnen, einfachen, gegeneinander vollständig abgeschlossenen Wesen, den sogenannten Monaden, von denen keine auf die andere wirken kann und zwischen denen nur ein Verhältnis der Harmonie besteht; die Einheit der Welt wird nur dadurch gerettet, daß alle Monaden Gedanken einer U rmonade, Gedanken Gottes, sind. Dieser Konsequenz entspricht aber auch bereits der spiritualistische Pantheismus, die Lehre von der Einzigkeit der Substanz, oder der Identität aller Substanz. Wo keine Mehrheit von Substanzen ist, da entfällt auch jede mögliche Wechselwirkung, und es bleibt doch die Einheit der Welt gewahrt, nämlich durch die numerische Einheit der Substanz. Die nähere Ausführung dieser Lehre, wie sie schon bei Descartes vorgezeichnet ist und bei Spinoza im einzelnen sich entfaltet, ergibt sich eigentlich von selbst, wenn wir an den Begriffsrealismus denken, von dem sich diese Philosophen durchaus noch nicht befreit hatten. Die allgemeinen Begriffe werden hier zu eigenen Gegenständen, Wesenheiten. Die einzelnen Körper sind dem Wesen nach alle gleich, nämlich als ausgedehnte Dinge. Und so werden sie zu bloßen modi der Ausdehnung, »modi extensionis«. Und die einzelnen Geister sind gleich dem Wesen nach als Denkende; sie werden zu »modi cogitationis«. »Cogitatio« ist das allgemeine Wesen der Geister. So wird die Gleichheit dem Attribut nach zur Identität des Wesens oder der Substanz. Die Individualität der einzelnen Körper und der einzelnen Geister entsteht nur durch Determination, durch eine Begriffsbestimmung des allgemeinen Wesens der Ausdehnung oder des Denkens. So weit finden wir den Gedanken schon bei Descartes. Spinoza geht

142

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

aber einen Schritt weiter. Beide nämlich, sowohl die »modi extensionis« als auch die »modi cogitationis«, sind sich gleich als Seiendes, sind also selbst wiederum nur Attribute des einen identischen Seins, das nichts anderes ist als die absolute Substanz. Diese absolute Substanz ist ihrerseits weder Körper noch Geist; von ihr läßt sich weiter nichts sagen, als daß sie ist; denn sie schließt jede nähere Bestimmung ihrem Wesen nach aus. »L'&tre sans restriction« nennt Malebranche sie, ein Ausdruck, der sich in der deutschen Sprache gar nicht wiedergeben läßt, eben weil dieser Ausdruck sowohl den Begriff »Sein« wie den Begriff »Wesen« deckt. Und diese Zweideutigkeit ist es gerade, die das Geheimnis dieser Metaphysik ausmacht. Der allgemeinste und darum leerste Begriff des Seins wird hier gleichgesetzt dem des allerrealsten, des absoluten Wesens.

2. Wir werden die dialektischen Grundlagen dieser ganzen rationalistischen Metaphysik noch besser verstehen, wenn wir uns erinnern an die Lehre von den beiden Klassen von Wahrheiten, die in der damaligen Metaphysik unterschieden wurden, den notwendigen oder ewigen Wahrheiten und den zufälligen oder Tatsachenwahrheiten. über das Verhältnis dieser beiden Klassen von Wahrheiten und über dasjenige ihrer Erkenntnisweise herrschte keine volle Klarheit und Übereinstimmung. Am schärfsten ausgebildet finden wir diese Lehre bei Leibniz und seinen Schülern. Nach ihnen ist der Satz des Widerspruchs oder auch der Identität - diese beiden Sätze erscheinen hier als gleichwertig - das Prinzip der Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten. Aber nicht so einfach liegt das Verhältnis des Satzes vom Widerspruch zur Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten. Leibniz sagt, daß das Prinzip der Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten in dem Satz des zureichenden Grundes gelegen sei. Aber er kommt zu keiner Klarheit über das Verhältnis dieses Satzes vom zureichenden Grunde zu dem des Widerspruchs. Man sollte meinen, daß, wenn das Prinzip aller notwendigen Wahrheiten im Satz des Widerspruchs liegt und der Satz des Grundes, als allgemeines Prinzip, eine notwendige Wahrheit darstellt, daß dann auch der Satz des Grundes seinerseits auf den Satz des Widerspruchs zurück-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

143

geführt werden müßte. Manchmal gewinnt es denn auch wirklich den Anschein, daß dieser Satz erst aus dem des Widerspruchs abzuleiten sei. Im ganzen neigt sich jedoch bei Leibniz das Übergewicht der Auffassung zu, wonach der Satz des zureichenden Grundes ein selbständiges Prinzip sein soll. Dem entspricht denn auch, daß die Naturgesetze im Gegensatz zu den mathematischen Gesetzen als zufällige Wahrheiten anerkannt werden, die ihren Grund nicht in einer logischen Notwendigkeit haben. Sie sind vielmehr der Ausdruck einer nur bedingten oder hypothetischen Notwendigkeit. Ihre Wahl ist dem Schöpfer durch keine logische Notwendigkeit vorgezeichnet, sondern sie ist bedingt durch den Zweck der Schöpfung. Dieser Gedanke wird für Leibniz das dialektische Hilfsmittel, den Mechanismus der Natur mit der Teleologie zu versöhnen. Die Körper verhalten sich zwar wie Maschinen, die ihren durch die Naturgesetze streng geregelten Gang gehen. Aber diese Gesetze selbst sind, als »lois de convenance«, durch die göttliche Weisheit so gewählt, daß sie die beste mögliche Erfüllung des Weltzwecks sichern und daß also die durch sie gelenkte Welt ihrerseits die beste mögliche wird. Sehen wir von dieser metaphysischen Seite des Problems ab und bedenken wir, daß die Konsequenz der logizistischen Grundansicht mehr zu der extremeren Ansicht drängt, wonach der Satz des Grundes auf den des Widerspruchs zurückgeführt werden müßte, so bleibt es doch geschichtlich dabei, daß Leibniz diesen Schritt nicht ausführt. Er will die Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten nicht in der einfachen Weise auf den Satz des W"iderspruchs zurückgeführt wissen wie die der notwendigen Wahrheiten. Dieses Verhältnis findet seinen Ausdruck und seine Erklärung darin, daß unsere Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten als verworrene Erkenntnis bezeichnet wird. Auch in der Erkenntnis der Tatsachenwahrheiten muß zwar, sofern sie Erkenntnis von Wahrheiten sein will, das Prädikat des Urteils schon im Subjekt liegen. Denn eben das ist, nach Leibniz - er gibt damit im Grunde nur das positive Gegenstück zu der Spinozaschen Definition der Falschheit-, das Kriterium der Wahrheit jedes Satzes: »praedicatum inest subiecto« (das Prädikat ist im Subjekt enthalten). Aber die Erkenntnis derTatsachenwahrheiten ist darin von der Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten verschieden, daß sich das Prädikat nicht ohne weiteres im Subjekt auf-

144

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

finden läßt. Die Vorstellung des Subjekts ist zu verworren, als daß wir in der Lage wären, sie so weit in ihre Elemente zu zerlegen, daß wir das Prädikat wirklich in ihr antreffen könnten. Wenn die Vorstellung des Subjekts hinreichend verdeutlicht werden könnte, wie es für eine vollkommene Erkenntnis zu verlangen wäre und bei dem göttlichen Intellekt in der Tat vorausgesetzt werden muß, dann würde es ohne Zweifel möglich sein, das Prädikat im Subjekt zu finden. Schon die Ausdrucksweise, »praedicatum inest subiecto«, läßt den Fehler bemerken, der dieser ganzen Betrachtungsweise zugrunde liegt. Er besteht in der Vermengung des Begriffs des Subjekts mit dem Subjekt selber. Es kommt für das Kriterium der Wahrheit nicht darauf an, daß bei einem Urteil das Prädikat zum Subjekt gehört. Das ist allerdings bei jedem wahren Urteil der Fall und wäre daher trivial. Denn eben darin besteht die Wahrheit eines Urteils, daß das, was es von seinem Gegenstand aussagt, dem Gegenstand wirklich zukommt. Hiermit ist aber nur der Begriff der Wahrheit erklärt, ohne daß wir dadurch ein Kriterium der Wahrheit erhielten, wie doch Leibniz will. Denn woher sollen wir wissen, ob ein vorgelegtes Prädikat dem Gegenstand zukommt? Wir können es freilich dann wissen, wenn das Prädikat schon im Begriff des Subjekts enthalten ist, das heißt, wenn es zu den Merkmalen gehört, aus denen sich der Begriff des beurteilten Gegenstandes zusammensetzt. Aber dieses Verhältnis läßt sich nicht umkehren; nicht jedes Prädikat, das einem Subjekt zukommt, muß schon im Begriff des Subjekts enthalten sein. Denn der Begriff umfaßt nicht alle Merkmale, die dem Gegenstand, der unter ihn fällt, zukommen. Er enthält nämlich nur alle diejenigen Merkmale, die notwendig und hinreichend für die Zugehörigkeit des Gegenstandes zu einer bestimmten Klasse von Gegenständen sind. Diesen Unterschied hat Leibniz infolge seiner logizistischen Metaphysik außer acht gelassen. Etwas anders als Leibniz stellt sein Nachfolger Wolff die Sache dar. Bei Wolff gewinnt die Auffassung die Oberhand, daß der Satz des Grundes kein selbständiges, sondern ein aus dem Satz des Widerspruchs abgeleitetes Prinzip sei. Wolff hat den Mut der Konsequenz und unternimmt es kühnlich, den Satz des Grundes aus dem Satz des Widerspruchs zu beweisen. Er argumentiert folgendermaßen: Wenn der Satz

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

145

des Grundes nicht gälte, dann müßte das Entstehen eines Dinges ohne Grund und also aus nichts angenommen werden, im Widerspruch dazu, daß aus nichts nichts entstehen kann - eine offenbare petitio principii, die dadurch zustande kommt, daß man den zu beweisenden Satz in einer anderen Form als Voraussetzung hinzunimmt. Der Logizismus tritt also erst bei Wolff in seiner radikalen Konsequenz hervor. Bei ihm wird der Satz des Widerspruchs unumwunden als einziges Prinzip aller Wahrheit proklamiert. Die entgegengesetzte Auffassung tritt erst in der Schule Wolffs wieder hervor. Sie bricht sich Bahn namentlich bei Crusius, der zwischen Wolff und Kant eine geschichtlich interessante Mittelstellung einnimmt. Crusius vertritt ausdrücklich di,e für einen Wolffianer ketzerische Lehre, daß es Erkenntnisse gibt, die sich nicht auf den Satz des Widerspruchs zurückführen lassen, Erkenntnisse, die auf sogenannte materiale Grundsätze zurückgehen und nicht auf die bloß logischen der Identität und des Widerspruchs. Zu diesen materialen Grundsätzen gehört auch der Satz des Grundes. Das Prinzip der materialen Erkenntnis überhaupt ist nach Crusius der Satz, daß, wenn wir genötigt sind, etwas für wahr zu halten, es auch wahr sein muß. Und der Grund der Wahrheit derjenigen Urteile, zu denen wir genötigt sind, liegt in Gott: Gott ist der Urheber der Übereinstimmung des Seins der Dinge mit unserem Denken. Kant steht in seinen Jugendschriften ganz auf dem orthodoxen Standpunkt der Wolffschen Schule. Er sagt: »nihil est in rationato, quod non fuerit in ratione« (nichts ist in der Folge, was nicht schon im Grunde enthalten war). Wir erkennen daraus, daß er den Satz des Grundes in logizistischer Weise auffaßt, indem er den Kausalgrund noch nicht vom logischen Grund unterscheidet, indem er noch, wie Wolff, den metaphysischen Grundsatz der Kausalität mit dem logischen Satz vom Grunde verwechselt.

3. Das Problem, das im Mittelpunkt der Leibnizschen Schulmetaphysik stand, können wir aus dem Gesagten leicht verstehen. Es gilt als ein allgemein angenommener Satz, daß Realitäten einander nicht widersprechen können. Natürlich; denn jeder Widerspruch muß sich auf die

146

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Form bringen lassen, daß einem Gegenstand ein Prädikat sowohl zukommt als auch nicht zukommt. Ein Widerspruch kann also nur stattfinden zwischen einer Realität und deren Negation, niemals zwischen positiven Realitäten. Wenn daher der Satz des Widerspruchs das hinreichende Kriterium der Wahrheit ist, so folgt daraus, daß Realitäten einander überhaupt nicht widerstreiten können. Denn, um sich zu widerstreiten, müßten sie im Verhältnis des logischen Widerspruchs stehen, was, wie gezeigt, unmöglich ist. Die Aufgabe, die sich die logizistische Metaphysik stellen mußte, liegt nunmehr klar zutage. Es gilt, das Prinzip der Einschränkung zu entdecken, das es bewirkt, daß von allen den unendlich vielen möglichen Kombinationen von Realitäten, die ohne Widerspruch denkbar sind, dennoch nur bestimmte wirklich sind. Hierin liegt ein Problem. Denn auch das Kriterium der Wirklichkeit muß, nach der höchsten Voraussetzung der logizistischen Metaphysik, im Satz des Widerspruchs gefunden werden. In den wirklichen Dingen sind aber nicht alle denkbaren Realitäten vereinigt, sondern gewisse Realitäten eines Dinges bringen es mit sich, daß an ihm gewisse andere Realitäten nicht vorkommen. Es schließen sich also gewisse Realitäten in der Wirklichkeit aus. Und die unabweisliche Aufgabe der logizistischen Metaphysik ist es, den Grund ausfindig zu machen für die Auszeichnung derjenigen Realitäten, die sich in der Wirklichkeit finden, oder vielmehr, den Grund der Einschränkung zu entdecken, die das All der Realitäten tatsächlich erfährt. Nach dem Satz Spinozas: »omnis determinatio est negatio«; das wirkliche Einzelwesen erhält seine Bestimmung durch die Einschränkung des Alls der Realitäten, das heißt dadurch, daß gewisse von diesen für dasselbe negiert sind. Dies Verhältnis drückt sich in der Leibniz-Wolff schen Schule aus durch den Gegensatz von Essenz und Existenz. Der Essenz nach sind sämtliche Dinge in Gott als dem Urgrund aller Wirklichkeit vereinigt. Der Existenz nach sind sie nicht vereinigt. Die Wirklichkeit ist immer ärmer als die Möglichkeit. Gott, als dem allervollkommensten Wesen, kann in der Tat keine Realität fehlen. Aber nicht alle possiblen Realitäten, welche in Gott vereinigt sind, sind darum kompossibel, das heißt nicht alle vertragen sich in der Wirklichkeit. Beim Übergang von der Essenz zur Existenz verarmt das Reich der Realitäten: es bleiben nur die kompossiblen übrig.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

147

4. Wenn wir nun die Frage stellen: Welches soll das Kriterium sein, nach dem die Einschränkung zu begreifen ist, die die Dinge bei ihrem Übergang von der Essenz zur Existenz erfahren?, so ist es schwierig, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten. Zwar, vom theologischen Standpunkt aus, der hier noch überall im Hintergrund steht, könnte man antworten: Das Kriterium für die Kompossibilität der Realitäten besteht darin, daß die wirkliche Welt ja die beste sein, die Summe des Guten in ihr also ein Maximum betragen muß. Nur unter dieser Voraussetzung können wir die wirkliche Welt als die Schöpfung des göttlichen Willens begreifen. Wenn wir aber die Frage dialektisch stellen: Wie bringt es die Metaphysik zuwege, die kompossiblen Realitäten aus dem All der Realitäten, die in Gott vereinigt sind, ausfindig zu machen?, dann fehlt uns das erforderliche Kriterium. Nehmen wir an, das gesuchte Kriterium liege in dem Prinzip, über das die logizistische Metaphysik ja allein verfügt, im Satz des Widerspruchs. Die hinreichende Bedingung der Kompossibilität sei also die Widerspruchslosigkeit. Das aber ist unmöglich, weil dieses Kriterium nicht erst für die kompossiblen Realitäten gilt, sondern schon für die »prima possibilia«, für die ursprünglich in Gott vereinigten Realitäten. Auch diese können nicht im Verhältnis des Widerspruchs zueinander stehen. Die Attribute Gottes müssen selbst schon der Bedingung der Widerspruchslosigkeit genügen. Wenn wir also kein weiteres Einschränkungsprinzip als die Widerspruchslosigkeit haben, so kommen wir überhaupt zu keiner Einschränkung der prima possibilia, und es ist kein Übergang möglich von dem All der Realitäten zu dem beschränkten Bereich der Realitäten, die die Wirklichkeit ausmachen. Wenn aber das fragliche Kriterium nicht die bloße Widerspruchslosigkeit ist, wenn wir also aus dem Satz des Widerspruchs kein Einschränkungsprinzip für das All der Realitäten herleiten können, dann gibt es auch keine logische Ableitung des Wirklichen. Die Aufgabe ist also von vornherein widersprechend gestellt.

148

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

5. Man könnte hier wohl eine gewisse Zuflucht zu finden hoffen bei jener Leibnizsdien Lehre von der bedingten oder hypothetisdien Notwendigkeit, die über die Tatsachen herrscht und deren Prinzip der Satz des Grundes formuliert. Aber man sieht leidit, daß die Berufung auf diese hypothetisdie Notwendigkeit auch nicht das gesuchte Einsdiränkungsprinzip bieten kann. Denn, wenn wir selbst annehmen, daß es zur Anwendung dieses Begriffs keiner Erfahrung bedürfte, so bliebe das Kriterium, das wir dadurdi erhalten, doch nur ein relatives Kriterium. Wir könnten dann nur sagen, daß, wenn uns eine bestimmte Realität gegeben ist, gewisse andere Realitäten notwendig oder unmöglidi sind. Damit sidi diese anderen Realitäten nadi dem Kriterium der hypothetisdien Notwendigkeit bestimmen ließen, müßten also sdion im voraus gewisse Realitäten ausgezeidinet sein. Diese ausgezeidineten Realitäten, die vorausgesetzt werden müssen, können ihrerseits gewiß nur aus der Erfahrung genommen werden, da sie nicht selbst rein logisdi als notwendig bestimmt sind. Audi bei dieser Auffassung ist daher die gestellte Aufgabe unlösbar. Dieser Sadiverhalt ist besonders von einem anderen Sdiüler Wolff s, von Lambert, mit ausgezeidineter Klarheit durdisdiaut worden. Lambert, der bekannte Mathematiker, erkannte, daß ein logisdier Übergang von dem Bereidi der notwendigen Wahrheiten zu dem Bereidi der Tatsadienwahrheiten einen Widersprudi einsdiließt, und er steht in dieser Hinsidit neben Crusius als einer der unmittelbaren Vorläufer Kants in der Wolffsdien Sdiule. Diese Aufgabe der Ableitung der kompossiblen Realitäten aus dem All der Realitäten in Gott war es, die Kant, als er in die Wolffsche Sdiule eintrat, vorfand und seinerseits zum Gegenstand des Nachdenkens madite.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

II. DIE

149

GESCHICHTE DER KANTISCHEN ENTDECKUNGEN BIS ZUR KRITIK DER REINEN VERNUNFT

1.

Wir wollen jetzt die Geschichte von Kants Entdeckungen verfolgen, wie sie ihn von dem überkommenen Leibniz-Wolffschen Schulstandpunkt, den er ursprünglich teilte, hinführen bis zur Kritik der reinen Vernunft. Dafür will ich einige Bemerkungen vorausschicken. Die Entwicklung des Kantischen Denkens ist eine höchst charakteristische. Sie ist nicht sprunghaft. Es verhält sich nicht so, daß Kant plötzlich durch eine große Entdeckung erleuchtet worden wäre, die ihn zum Reformator der Metaphysik gemacht hätte. Sondern der Fortschritt seiner Einsicht vollzieht sich in stetiger Weise. Er erfolgt langsam, Schritt für Schritt, fast unmerklich, und es ist schwer, einen bestimmten Zeitpunkt anzugeben, von dem an Kant die kritische Philosophie entwickelt. Wir können nicht, wie es gewöhnlich geschieht, die Kantischen Schriften so in zwei Gruppen einteilen, daß wir die einen von der »Kritik der reinen Vernunft« ab als die kritischen den früheren als den vorkritischen gegenüberstellen. Einen solchen Einschnitt stellt in seiner Entwicklung auch die Kritik der reinen Vernunft nicht dar. Diese Entwicklung ist aber ferner von ihm auch zu keinem festen Abschluß gebracht worden. Das hängt mit der Kontinuität dieser Entwicklung zusammen. Kant hat nicht plötzlich den Boden der Schulmetaphysik verlassen, um eine völlig neue zu errichten. Sondern er hat seine neuen Entdeckungen, die eine nach der anderen, gleichsam in das Gerüst der Schulmetaphysik eingebaut, wobei es dann geschehen ist, daß der Rahmen dieses Gerüstes, ihm selbst unmerklich, allmählich gesprengt worden ist. Aber diese Entwicklung hat Kant nicht so weit vollendet, daß sein Werk, wie er es uns schließlich hinterlassen hat, nicht Bruchstücke dieses Gerüstes hätte stehen lassen und daß es von diesen losgelöst werden könnte, ohne in seinem Grundgefüge erschüttert zu werden. Wir können daher Kants Lehre nicht geschichtlich verstehen, wenn wir sie nur so betrachten, wie sie in seiner klassischen

150

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Kritik vorliegt. Um sie recht zu verstehen, müssen wir ihren Entwicklungsgang verfolgen. Dieser Entwicklungsgang verdient aber auch sonst unser Interesse. Es ist immer interessant, zu sehen, wie ein großer Reformator der Wissenschaft zu seinen Entdeckungen gelangt ist. Und hier kommt uns das nicht häufige Glück entgegen, daß wir in der Lage sind, das Heranreifen eines solchen Werkes in seinen einzelnen Stadien vom unscheinbarsten Anfang an mit großer Genauigkeit geschichtlich zu verfolgen. Aber noch aus einem anderen, einem mehr technischen Grunde will ich ausführlich bei diesem Gegenstande verweilen. Um nämlich bei der Erzählung die Kantischen Entdeckungen hinsichtlich ihrer zeitlichen Reihenfolge nicht dogmatisch aufzuführen, muß ich mich auf eine Begründung meiner Ansicht von dieser Entwicklung einlassen. Denn es herrscht hier über den Tatbestand noch keine Einigkeit. Ich muß daher genauer, als es sonst nötig wäre, auf die bloße Darstellung der Tatsachen eingehen, ehe wir die Linie des Fortschrittes ermitteln können. Dafür will ich noch einige erläuternde Vorbemerkungen geben. Das Interesse an der Entwicklungsgeschkhte der Kantischen Entdeckungen ist in den letzten Jahrzehnten besonders lebhaft geworden. Es ist über diesen Gegenstand bereits eine umfangreiche Literatur entstanden. Das Merkwürdige dabei ist, daß je mehr diese Literatur anwächst, desto verwickelter die Frage sich darstellt, die durch diese Forschungen gelöst werden soll. Es zeigen sich immer neue Rätsel. Aber der Grund, der den Erfolg aller dieser Arbeit vereitelt, liegt nicht etwa in der Lückenhaftigkeit oder Unzuverlässigkeit der Quellen, die uns zur Verfügung stehen. In der Unklarheit und Uneinigkeit, die über diesen Gegenstand noch herrscht, verrät sich vielmehr ein Umstand, dessen allgemeine Bedeutung ich in der »Einleitung« erörtert habe. Sie ist nämlich die Folge des Einflusses, den der eigene philosophische Standpunkt des Historikers schon allein darauf ausübt, wie sich ihm das Bild der Tatsachen gestaltet. Hier kommt indessen eine besondere Schwierigkeit hinzu, die allerdings in der Natur der Quellen liegt. In den elf Jahren, die dem Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft« vorangehen, hat Kant keine einzige philosophische Schrift veröffentlicht. Seine Publikationen lassen uns daher für die Kenntnis der Entwicklung seines Denkens in dieser

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

151

wichtigen Periode im Stich. Es kommt ferner hinzu, daß der Zeitpunkt der Abfassung der früheren Schriften zum Teil strittig ist, so daß wir erst eine chronologische Anordnung vornehmen müssen, um die Fortführung der Gedanken richtig beurteilen zu können. Bei diesen Schwierigkeiten kommen uns aber der reid11e Nachlaß und zum Teil auch der Briefwechsel Kants zu Hilfe. Wir besitzen diesen Nachlaß freilich nur in der Form von einzelnen zerstreuten Blättern, so daß wir diese wiederum erst chronologisch anordnen müssen. Dabei entsteht die Schwierigkeit, daß wir, um eine solche Anordnung mit einiger Sicherheit vorzunehmen, in gewissem Umfang schon ein Bild von der Kantischen Gedankenentwicklung haben müssen. Aber alles dies sind Schwierigkeiten, die keineswegs unüberwindlich sind. Und je mehr wir sehen, wie die Vielgestaltigkeit und der Widerstreit der bisherigen Darstellungen dieses Gegenstandes ihre Wurzeln in einer Unklarheit der Verfasser in bezug auf die philosophischen Fragen selbst haben, desto mehr können wir hoffen, durch größere Klarheit in dieser Hinsicht auch das geschichtliche Problem wirklich befriedigend aufzulösen. Neben der Frage nach der chronologischen Ordnung der Kantischen Schriften und der anderen schon genannten Frage, wie sich Kants Denken in den elf Jahren vor der Herausgabe der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelt hat, gibt es zwei weitere Streitfragen, die im gleichen Zusammenhang das Interesse der Historiker in Anspruch nehmen. Die eine ist folgende: Die »Kritik der reinen Vernunft« ist 1781 erschienen. Die letzte philosophische Schrift, die Kant vorher verfaßt hat, seine Inauguraldissertation »De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis« ist 1770 erschienen. Während nun Kant in seiner 1766 erschienenen Schrift, den» Träumen eines Geistersehers«, sich von der rationalistischen Metaphysik schon gänzlich losgesagt hat und hier einen empiristischen Standpunkt vertritt, der jede Möglichkeit einer Erkenntnis des übersinnlichen ausschließt, finden wir ihn in der Schrift von 1770 eine Lehre entwickeln, die wieder ganz rationalistisch ist und insbesondere die Möglichkeit einer rationalen Metaphysik des übersinnlichen verteidigt. Das ist ein äußerst merkwürdiger psychologischer Sachverhalt. Wie ist er möglich und begreiflich? Wie sollen wir diese Rückwendung zum Rationalismus verstehen? Die andere Frage ist die am lebhaftesten umstrittene. Sie betriffi

152

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Kants Verhältnis zu Hume. Wir vernehmen aus Kants eigenen Erklärungen, daß ein entscheidender Einfluß auf ihn von der Humeschen Theorie ausgegangen ist. Hume hat ihn, wie er in der Einleitung der »Prolegomena« (1783) berichtet, »vor vielen Jahren« zuerst aus dem dogmatischen Schlummer geweckt. Kant spricht nie anders als mit der größten Verehrung von Hume, mit größerer als von irgendeinem anderen Philosophen. Wenn wir nun nachforschen in Kants früheren Schriften, wo sich dieser Einfluß Humes wohl bemerkbar machen könnte, so geraten wir in Verlegenheit. Man hat früher angenommen, daß dieser Einfluß schon in den Schriften vom Jahre 1763 zutage tritt. Man hat dann, als diese Annahme sich nicht halten ließ, angenommen, daß er sich in den »Träumen eines Geistersehers« vom Jahre 1766 findet. Man hat auch diese Auffassung allmählich verlassen müssen. Eine andere Ansicht geht dahin, daß sich die Dissertation vom Jahre 1770 auf die Einwirkung Humes zurückführen lasse, daß sie nämlich entstanden sei infolge einer Reaktion gegen Humes Empirismus, eine Deutung, die zugleich einen Versuch darstellt, das vorhin genannte Rätsel der Zurückwendung zum Rationalismus zu lösen. Es läßt sich leicht zeigen, daß auch diese Auffassung irrig ist. In keiner der Schriften vor der »Kritik der reinen Vernunft« läßt sich der fragliche Einfluß Humes nachweisen oder auch nur einigermaßen wahrscheinlich machen. Und wenn wir schließlich die Aufzeichnungen aus Kants Nachlaß zu Hilfe nehmen, so finden wir auch in ihnen keinen einzigen Hinweis, der auf eine Vertrautheit mit der Humeschen Theorie schließen ließe. Wir haben also hier die merkwürdige Tatsache vor uns, daß nach Kants eigenem Zeugnis seine Reform der Metaphysik unter dem entscheidenden Einfluß Humes entstanden ist und daß es doch unmöglich ist, Zeit, Umstände und Art dieses Einflusses an Hand seiner Schriften und Aufzeichnungen zu bestimmen, ja auch nur die Existenz eines solchen Einflusses an Hand dieser Dokumente zu bestätigen. Ich habe alle diese Fragen hier genannt, weil sie uns einen wertvollen Prüfstein bieten für jede Darstellung der Entwicklung des Kantischen Denkens. Eine solche muß sich daran erproben, wie weit es durch sie gelingt, das über diesen Fragen schwebende Dunkel aufzuhellen.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

153

2. Ich habe schon erwähnt, daß der Wendepunkt, den die »Kritik der reinen Vernunft« in Kants Entwicklung bedeutet, nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, zwei Perioden seiner Entwicklung derart trennt, daß sich die durch dieses Buch eröffnete Schriftenreihe als die kritische der vorangehenden als der vorkritischen gegenüberstellen ließe. Wenn man irgendwo einen solchen Einschnitt machen will, so liegt er viel weiter zurück. Wir müssen dann bis auf das Jahr 1762 zurückgehen. Wenn man nämlich eine kritische und eine vor kritische Periode bei Kant unterscheiden will - und das müssen wir in der Tat-, so kann der leitende Gesichtspunkt dabei nur in dem Gegensatz des methodischen Standpunktes gesucht werden, den Kant in der einen und anderen Periode einnimmt. Das Wort »kritisch« bezeichnet nach Kants eigenem Sprachgebrauch die neue Methode, die er in die Philosophie eingeführt hat und die ihn erst in den Stand gesetzt hat, seine Reform der Metaphysik auszuführen. Diese kritische Methode Kants können wir aber bis auf das Jahr 1762 zurückführen. Von dieser Zeit an haben wir also die kritische Periode Kants zu datieren. Alle seine anderen Entdeckungen folgen dieser grundlegenden Entdeckung der kritischen Methode. Daher will ich mit dem Jahre 1762 meine Schilderung beginnen. Die erste Schrift, die ich hier zu besprechen habe, ist zwar erst im Jahre 1764 erschienen. Ihre Ausarbeitung fällt aber in der Tat schon in das Jahr 1762. Diese Schrift behandelt eine Preisaufgabe, die von der Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahre 1761 gestellt worden war. Es ist kulturgeschichtlich nicht uninteressant, daß die damals weltberühmte Akademie einen Preis aussetzte für die Lösung eines metaphysischen Problems. Man hatte sich, wie wir gesehen haben, vergeblich bemüht, durch Anwendung der mathematischen Methode auf die Metaphysik diese zu einer ebenso evidenten Wissenschaft zu erheben, wie es die Mathematik längst war. Das Fehlschlagen aller dieser Bemühungen hatte die Akademie der Wissenschaften veranlaßt, ihre Preisaufgabe zu stellen. Diese Preisaufgabe lautete folgendermaßen: »Man will wissen, ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt und besonders die ersten Grundsätze der theologiae naturalis und der Moral ebenso der deutlichen Beweise fähig sind als die geometrischen Wahr-

154

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

heiten, und welches, wenn sie besagter Beweise nicht fähig sind, die eigentliche Natur ihrer Gewißheit ist, zu was vor einem Grad man gemeldete Gewißheit bringen kann und ob dieser Grad zur völligen Überzeugung zureichend ist.« Die von Kant eingereichte Lösung führt den Titel: »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral«. Man kann diese Kantische Abhandlung nach einer treffenden Bemerkung von Fries die wichtigste von Kants sämtlichen Schriften nennen. Denn sie ist diejenige, die den Grund zu seiner gesamten Reform der Metaphysik gelegt hat. Alle weiteren großen Entdeckungen Kants sind bloße Erfolge der Anwendung dieser einen. Trotzdem hat die Akademie Kant nicht den für die Lösung ausgesetzten Preis zuerkannt. Den Preis erhielt vielmehr Mendelssohn für seine »Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften«, eine Abhandlung, die, wenn sie auch eine gedankenreiche, elegant geschriebene und noch heute lesenswerte Arbeit ist, an Bedeutung nicht entfernt mit derjenigen Kants verglichen werden kann. Mendelssohn bleibt, bei aller Eigenart, ein Schüler Wolffs und vertritt hier wie sonst getreulich den Standpunkt seiner Schule. Kants Preisschrift »über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral« untersucht, der gestellten Aufgabe gemäß, die Frage, ob und wie es für die Metaphysik eine der mathematischen gleiche Gewißheit geben könne. Der Gedankengang, in dem Kant seine Antwort entwickelt, ist folgender. Er findet, daß es kein Zufall war, daß die bisherigen Bemühungen, die mathematische Methode in der Metaphysik nachzuahmen, nicht zum Ziel geführt hatten. Sie konnten nicht zum Ziel führen, weil die Aufgabe, durch Anwendung der mathematischen Methode die Metaphysik als Wissenschaft zu begründen, unlösbar ist. Sie ist unlösbar aus dem überraschenden Grunde, daß die Mathematik ihre Gewißheit und Evidenz gar nicht der nach ihr so genannten mathematischen Methode verdankt. Der Grund ihrer Gewißheit liegt in etwas ganz anderem. Die mathematische Methode ist dadurch charakterisiert, daß das System der Mathematik unmittelbar auf dogmatischem Wege oder, wie wir auch sagen können, progressiv entwickelt wird. Unter der progressiven Entwicklung einer Wissenschaft versteht man eine solche, die ausgeht von Definitionen und Axiomen und daraus in syllogistischer Form, das heißt durch bloße

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

155

Operationen des Schließens, die Lehrsätze der Wissenschaft ableitet. Die Gewißheit und Evidenz der Lehrsätze stammt aber so wenig aus dem Gebrauch dieser Methode, daß diese vielmehr nur dort anwendbar ist, wo die Prinzipien der Wissenschaft schon an und für sich den Charakter der Gewißheit und Evidenz haben. Man sollte deshalb diese Methode, um dem soeben auf geklärten Irrtum vorzubeugen, nicht mehr mathematische Methode, sondern dogmatische nennen. Die Fruchtbarkeit der dogmatischen Methode in der Mathematik beruht auf der Eigentümlichkeit der mathematischen Erkenntnis; diese Methode kann daher nicht ohne weiteres auf eine andere Erkenntnisart übertragen werden. Die mathematische Erkenntnisweise ist dadurch charakterisiert, daß ihre Prinzipien unmittelbar evident sind. Das heißt, die Wahrheit dieser Prinzipien leuchtet ohne weiteres ein. Wer nur den Sinn eines solchen Satzes versteht, bedarf, um seine Wahrheit einzusehen, keines weiteren Nachdenkens. Sie werden unmittelbar der Anschauung entnommen. Und nur darum, weil dies möglich ist, weil die Prinzipien der Mathematik an sich klar sind, kann man ohne weitere Voruntersuchung von ihnen ausgehen, kann man sie an die Spitze stellen und aus ihnen das System der Mathematik nach dogmatischer Methode ableiten in der Gewißheit, auf diese Weise zu immer neuen zuverlässigen Ergebnissen zu gelangen. Diese Bedingung der Anwendbarkeit der dogmatischen Methode, die anschauliche Klarheit der Prinzipien, ist für die Metaphysik nicht erfüllt. Die Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis sind an und für sich dunkel: Nur durch Nachdenken kommen wir zur Klarheit.über sie. Wir können daher diese Prinzipien auch nicht ohne weiteres an die Spitze stellen, um aus ihnen nach dogmatischer Methode die Lehrsätze der Metaphysik abzuleiten, sondern wir müssen die Prinzipien selbst hier erst suchen. Die Hauptschwierigkeit der Aufgabe einer wissenschaftlichen Begründung der Metaphysik betriffi gerade diese Aufsuchung der Prinzipien und nicht die Ableitung des Systems aus ihnen. Dabei kann uns die Methode der Mathematik in keiner Weise vorbildlich oder behilflich sein; denn sie setzt die Prinzipien schon als klar und deutlich gegeben voraus. Wir wollen nun diese Aufgabe der Auffindung der Prinzipien näher

156

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

ins Auge fassen. Sie betriffi einmal die Grundbegriffe und dann die Grundsätze der Wissenschaft. Der Mathematiker gelangt zu seinen Begriffen durch Definition, das heißt durch willkürliche Zusammensetzung von Merkmalen. Er bildet sich neue Begriffe dadurch, daß er einfache Begriffe wählt und sie miteinander kombiniert. Dieses Verfahren ist in der Mathematik ohne Gefahr. Solche Definitionen können in ihr nicht täuschen. Denn die Begriffe, um deren Definition es sich handelt, sind in der Mathematik gar nicht unabhängig von der Definition gegeben, so daß man sich über das Zutreffende der Definition im unklaren befinden könnte, daß man zweifeln könnte, ob die Definition wirklich alle diejenigen und nur diejenigen Merkmale umfaßt, die in dem zu definierenden Begriff enthalten sind. Wenn wir einen mathematischen Begriff willkürlich definieren, so ist auch allemal leicht zu entscheiden, ob diesem Begriff wirklich ein Gegenstand entspricht oder ob wir es mit einer Fiktion zu tun haben. Das ist darum leicht, weil wir diesen Gegenstand, wenn er existiert, in der Anschauung erzeugen und so den Begriff konstruieren können. Die Anschauung zeigt uns so, ob es Gegenstände gibt, die unter den Begriff fallen oder nicht. Wenn ich zum Beispiel einen Kegel definiere als die Figur, die durch Drehung eines rechtwinkligen Dreiecks um eine Kathete entsteht, so können wir dadurch, daß wir den Begriff konstruieren, das heißt die in der Definition liegende Aufgabe in der Anschauung ausführen, uns überzeugen, daß es einen Gegenstand gibt, der der Definition entspricht. Ganz anders in der Metaphysik. Ihre Begriffe werden nicht durch willkürliche Definitionen gebildet, sondern sind uns schon unabhängig von der Definition gegeben. Die metaphysischen Begriffe sind, wie Kant sich ausdrückt, nicht gemachte, sondern gegebene. Wir wenden sie tatsächlich an schon vor aller Definition, nur in unklarer, verworrener Weise. Wir besitzen sie nicht isoliert für sich, sondern vermengt mit anderen Vorstellungen. Um sie rein aufzufassen, müssen wir sie von diesen anderen Vorstellungen, mit denen sie im gewöhnlichen Bewußtsein vermengt vorkommen, absondern. Daher können wir nur durch Abstraktion zu den Grundbegriffen der Metaphysik vordringen und nicht durch Definition zu ihnen gelangen.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

157

Wenn wir in der Metaphysik von Definitionen ausgehen, so droht uns die stete Gefahr des Irrtums. Denn da die metaphysischen Begriffe schon unabhängig von der Definition vorhanden sind, so besteht allemal die Frage, ob die Begriffe, die wir definieren, identisch sind mit denen, die wir definieren wollen. Eine Verwechslung zwischen beiden ist nicht so leicht zu bemerken. Die metaphysischen Begriffe werden nur durch die Worte der Sprache bezeichnet und nicht durch anschauliche Hinweisung auf ihren Gegenstand. Wenn wir daher in der Metaphysik willkürlich einen Begriff definiert haben, so kann es leicht geschehen, daß wir ein Merkmal von dem Begriff, der vor der Definition gegeben ist, auf den Gegenstand übertragen, der unter den von uns erst definierten Begriff fällt, weil beide Begriffe durch dasselbe Wort bezeichnet werden. Die unbemerkte Verschiebung der Wortbedeutung zieht dann unmerklich die Vertauschung der beiden Begriffe nach sich. Wir können ferner in der Metaphysik, wenn wir einen Begriff willkürlich definiert haben, nicht entscheiden, ob dem definierten Begriff ein Gegenstand entspricht. Es fehlt hierfür die Anschauung, in der wir uns umsehen könnten, ob es einen solchen Gegenstand gibt. Wir können daher nie sicher sein, ob wir es nicht mit bloßen Fiktionen zu tun haben. So bildete sich Leibniz durch willkürliche Definition den Begriff einer einfachen Substanz mit dunklen Vorstellungen und nannte sie eine »schlummernde Monade«. Er konnte aber kein Kriterium dafür angeben, daß er damit etwas Wirkliches definiert hätte und ni-cht eine bloße Fiktion. Hieraus folgt denn die wichtige methodische Regel, daß in der Metaphysik die Definitionen nie an den Anfang, sondern erst an das Ende der Untersuchung gehören. Trotzdem können wir mit den metaphysischen Begriffen operieren. Denn es genügt, daß wir bei der bestimmten Frage, mit der wir es gerade zu tun haben, den Begriff so weit zergliedern, bis wir diejenigen Merkmale in ihm antreffen, auf die es zur Auflösung des vorliegenden Problems ankommt, ohne daß es notwendig wäre, alle in ihm enthaltenen Merkmale aufzuzählen. Die hiermit beschriebene Methode ist die, die Kant später in der »Kritik der reinen Vernunft« in der transzendentalen Methodenlehre die Methode der Erörterung oder Exposition genannt hat, im Gegensatz zur Definition. Die Erörterung des Begriffs ist von der Definition

158

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

zu unterscheiden. Es kommt bei ihr nur darauf an, daß man schrittweise diejenigen Merkmale des Gegenstandes angibt, von denen man sicher ist, daß sie in dem Begriff enthalten sind, ohne darum den Anspruch zu machen, damit bereits eine erschöpfende Definition zu geben. Analog wie mit den Begriffen verhält es sich mit den Grundsätzen. Wir müssen die Grundsätze der Metaphysik, um zu dem System dieser Wissenschaft zu gelangen, erst auf suchen. Wir können nicht von ihnen ausgehen wie der Mathematiker von seinen Axiomen. Denn wir haben sie noch nicht. Wir können sie nicht, wie jener seine Axiome, aus der Anschauung entnehmen. Wir dürfen deshalb nicht anders verfahren als so, daß wir von irgendwelchen Urteilen, die uns gewiß sind, ausgehen, auch wenn sie keine Grundurteile sind, und von ihnen erst allmählich durch Zergliederung ihrer Voraussetzungen zu den wahren Grundsätzen aufsteigen. Wir müssen also ein regressives Verfahren einschlagen, müssen von sicheren Erfahrungen, wie Kant sagt, ausgehen, um von ihnen als dem Zusammengesetzten zum Einfachen zurückzuschreiten, vom Besonderen zum Allgemeinen, von den Folgen zu den Gründen - wenn wir wirklich von dem ausgehen wollen, was klar ist, und das, was dunkel ist, nicht an die Spitze stellen wollen. Diese an die Erfahrung anknüpfende, den gewöhnlichen Gang gerade umkehrende regressive oder kritische Methode ist es, die wir für die Metaphysik fordern und der dogmatischen Methode der Mathematik entgegensetzen müssen. Durch die erste Auseinandersetzung dieser kritischen Methode ist die Kantische Preisschrift klassisch geworden. Was ihren übrigen Inhalt betriffi, da·s heißt dasjenige, worin sie über das rein Methodische hinausgeht, so bewegt sie sich noch in den Bahnen der Wolffschen Schulmetaphysik. Kant steht hier noch auf einem durchaus logizistischen Standpunkt. Seine Unterscheidung der metaphysischen von der mathematischen Erkenntnisweise hat noch nicht die prinzipielle Bedeutung, die sie später gewinnt. Sie ist hier noch keine spezifische, sondern nur eine graduelle. Die Mathematik ist, wie er sagt, größerer Anschaulichkeit fähig. Beide Wissenschaften haben ihre Prinzipien in den logischen Grundsätzen der Identität und des Widerspruchs. Daran darf uns nicht irre machen, daß Kant in dieser Abhandlung einen Unterschied macht zwischen »formalen« und »materialen« Grundsätzen. Unter diesen materialen Grundsätzen, wie er sie nennt, stehen ge-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

159

wisse Urteile, die er »unerweisliche Urteile« nennt. Er versteht darunter solche Sätze, deren Prädikat nur unmittelbar aus dem Subjektsbegriff gezogen werden kann ohne Vermittlung eines Zwischenbegriffs. Diesen unerweislichen oder materialen Grundsätzen stellt Kant die »erweislichen Urteile« gegenüber, das heißt diejenigen, deren Prädikat nur durch die Vermittlung eines Zwischenbegriffs aus dem Begriff des Subjekts gezogen wird. So ist zum Beispiel der Satz: » Jeder Körper ist zusammengesetzt«, nach Kant ein unerweisliches Urteil, ein materialer Grundsatz, weil das Merkmal der Zusammengesetztheit unmittelbar im Begriff des Körpers liegt und nicht erst durch Zwischenbegriffe vermittels eines Schlusses dem Körper beigelegt wird. Wenn wir dagegen das Urteil betrachten: »Jeder Körper ist teilbar«, so ist dies ein erweisliches Urteil, da es vermittels des Begriffs der Zusammengesetztheit aus dem Begriff des Körpers gezogen werden kann. Man sieht, auch die hier von Kant material genannten Grundsätze sind Sätze, die, nach seiner späteren Ausdrucksweise, analytische Urteile darstellen, das heißt solche, deren Prädikat schon im Begriff des Subjektes enthalten ist. Es bleibt also nach dem Standpunkt von Kants Preisschrift dabei, daß alle Urteile, sowohl die erweislichen wie die unerweislichen, sowohl die mathematischen wie die metaphysischen, analytische Urteile sind, da das gemeinsame Prinzip beider Wissenschaften in den Sätzen der Identität und des Widerspruchs liegen soll. Der Grund, der Kant zu dieser Meinung veranlaßte, war die Verwechslung des Subjekts eines Urteils mit dem Subjektsbegriff dieses Urteils. Kant formuliert den Satz des Widerspruchs in einer Weise, die deutlich zeigt, wie sie zu seinem Fehler führen mußte. Er formuliert ihn nämlich so: »Keinem Subjekt kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht.« So dürfen wir den Satz des Widerspruchs als Grundsatz der Logik aber nicht aussprechen. Sondern wir müssen ihn vielmehr formulieren: Keinem Subjekt kommt ein Prädikat zu, das seinem Begriff widerspricht. So, wie Kant den Satz formuliert, besagt er weiter nichts, als daß ein Urteil nur dann wahr ist, wenn sein Prädikat dem Subjekt wirklich zukommt: Dies gilt freilich für alle wahren Urteile überhaupt. Dieser Satz sagt im Grunde nichts weiter, als daß ein Urteil dann wahr ist, wenn es wahr ist. So finden wir Kant in diesem Punkt noch im Bann derselben, für uns

160

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

so durchsichtigen Täuschung, in der wir den Grundfehler der Leibnizsehen logizistischen Metaphysik erkannt haben. Der logizistische Standpunkt, den Kant hier einnimmt, kommt auch deutlich zum Ausdruck in seiner Polemik gegen Crusius. Crusius hatte, hierin schon klarer sehend, behauptet, es gäbe materiale Grundsätze neben den formalen, und er verstand darunter Urteile, die sich nicht auf den Satz des Widerspruchs zurückführen lassen. Gegen diese Ketzerei richtet sich die Polemik Kants. Diese Polemik triffi aber nur das unbeholfene Prinzip, das Crusius für seine materialen Grundsätze auf gestellt hatte. Er hatte es, wie schon erwähnt, so formuliert: Was ich als wahr zu denken genötigt bin, ist wahr. Mit Recht macht Kant geltend, daß dieses Prinzip kein Kriterium der Wahrheit ist. Denn auch wenn wir ein irriges Urteil für wahr halten, finden wir uns zu seinem Fürwahrhalten genötigt. Der Irrtum läßt sich nach diesem Prinzip von der Wahrheit nicht unterscheiden. Wir vermögen, wie Kant später gegen Crusius' Zuflucht zu Gott als dem Grunde der Wahrheit sagt, so nicht zu entscheiden, was der Geist der Wahrheit und was der Vater der Lügen uns eingeflößt hat.

3. Einen Fortschritt demgegenüber bildet die im Jahre 1763 erschienene Schrift » Ober den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«. Hier finden wir die erste wirkliche Anwendung der neuen Methode. Kant wendet seine neue Methode an auf das Problem, das wir als das Grundproblem der Leibniz-Wolffschen Metaphysik kennengelernt haben. Und er dringt dabei so tief, daß er sich bereits geradezu gegen den dialektischen Fundamentalsatz der Leibnizsehen Ontologie wendet, gegen den Satz: Realitäten widerstreiten einander nicht. Er zeigt, daß dieser Satz falsch ist, daß er nur entstanden ist durch die Verwechslung des logischen Widerspruchs mit dem realen Widerstreit. Zwei positive Realitäten, etwa die Bewegung eines Körpers in einer bestimmten Richtung und seine Bewegung in einer anderen Richtung, stehen nicht im Verhältnis des logischen Widerspruchs. Ein logischer Widerspruch findet nur statt zwischen einer Realität und ihrer Negation, also zum Beispiel der Bewegung eines Körpers in einer

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

161

bestimmten Richtung und der Negation seiner Bewegung in dieser bestimmten Richtung. Trotzdem können positive Realitäten einander in Wirklichkeit ausschließen. Ein Gegenstand, der sich in einer bestimmten Richtung bewegt, kann sich nicht zugleich in einer anderen Richtung bewegen. Die »Realrepugnanz«, wie Kant diese Art der Ausschließung nennt, ist verschieden von dem Verhältnis des logischen Widerspruchs. Wenn sich also auch Realitäten niemals widersprechen, so können sie sich doch sehr wohl widerstreiten, nämlich als wirkliche Beschaffenheiten eines Dinges einander ausschließen. Daraus folgt der für die Schulmetaphysik revolutionäre Satz, daß die Widerspruchslosigkeit niemals ein hinreichendes Kriterium der Existenz sein kann, und damit, daß die Exiscenz eines Gegenstandes, welcher es auch sein mag, niemals aus bloßen Begriffen eingesehen werden kann. Mit dieser Nachweisung ist grundsätzlich die ganze Bemühung um den ontologischen Gottesbeweis vernichtet. Es ist damit gezeigt, daß ein Beweis der Existenz Gottes auf dem Wege der logizistischen Metaphysik unmöglich ist. Und es wird daran nichts geändert, wenn wir feststellen müssen, daß Kant in derselben Schrift den ontologischen Gottesbeweis in neuer Form wiederholt hat. Man sieht hieraus nur, wie auch ein großer Mann nicht so leicht die Tragweite seiner eigenen Entdeckungen ermißt, wie er nur langsam dazu durchdringt, sich über die volle Bedeutung seiner neuen Einsicht klarzuwerden. Wir können aber in der Tat noch mehr sagen. Nicht nur das Problem des ontologischen Gottesbeweises, sondern das allgemeine Problem der Ontologie und damit der logizistischen Metaphysik überhaupt ist durch diese Entdeckung als unlösbar erwiesen, durch die einfache Feststellung, daß die Widerspruchslosigkeit kein hinreichendes Kriterium der Existenz ist. Es ist damit bewiesen, daß die Ableitung der Wirklichkeit aus dem Begriff des Alls der Realitäten eine unlösbare Aufgabe ist. Man begreift, daß die Zeitgenossen, als ihnen über die Tragweite dieses Ergebnisses die Augen auf gingen, ein heiliger Schrecken befallen mußte, ja daß sie, die, wie auch Kant von sich gesteht, »in die Metaphysik verliebt« waren, als das gewaltige Erdbeben über das ganze Land der Metaphysik hereinbrach und vor ihren Augen der stolze Bau der Ontologie in Trümmer sank, den Untergang der Metaphysik überhaupt gekommen wähnten und in dieser Tat des »Alleszermalmers«,

162

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

wie Mendelssohn ihn nannte, den ungeheuersten Umsturz erblicken mußten, der jemals in der Geschichte der Metaphysik, ja des menschlichen Denkens überhaupt zu verzeichnen war. Aber noch war Kant selbst nicht zum Bewußtsein der wirklichen Tragweite seiner Entdeckung vorgedrungen. Einen Schritt weiter finden wir ihn in einer anderen, ebenfalls im Jahre 1763 erschienenen Schrift, dem »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen«. Diese Schrift enthält eine genaue Erörterung des Unterschieds logischer und realer Verhältnisse. Kant wendet diese Unterscheidung sogleich an auf das Verhältnis von Grund und Folge und findet den Unterschied zwischen logischem Grund und Realgrund. Der logische Grund ist ein solcher, dessen Begriff schon die Notwendigkeit der Folge einschließt. Der Realgrund ist ein solcher, bei dem das nicht der Fall ist. Der Realgrund eines Geschehens ist das, was wir die Ursache des Geschehens nennen. Das Kausalurteil, in dem wir die Erkenntnis der Ursache oder Wirkung eines Geschehens aussprechen, muß immer ein solches sein, das nicht aus bloßen Begriffen entspringt, das also nicht rein logisch bewiesen werden kann. Durch diese Entdeckung wurde Kant auf ein neues Problem geführt. Dieses Problem liegt in der Möglichkeit von Realverhältnissen. Wie sind solche Realverhältnisse möglich, zum Beispiel das Kausalverhältnis? »Wie soll ich es verstehen«, sagt er, »daß, weil etwas ist, etwas anderes sei?« Es scheint, daß dies nur zu verstehen ist, wenn das Zweite, die Folge, schon im Begriff des Ersten, des Grundes, enthalten ist. Dies ist aber bei Realverhältnissen nicht der Fall. Wie ist hier also die Verknüpfung des einen mit dem anderen möglich? Das metaphysische Problem, das Kant hiermit stellt und seinen Zeitgenossen zur Lösung vorlegt, ohne eine solche selbst mitzuteilen, dieses Problem darf man nicht, wie es oft geschieht, mit dem Problem der Kritik der reinen Vernunft verwechseln, mit dem Problem der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, insbesondere solcher Urteile, in denen wir eine notwendige Verknüpfung erkennen. Kant fragt hier nicht, wie Urteile über notwendige Verknüpfung möglich sind, sondern er fragt, wie die notwendige Verknüpfung selbst möglich ist. Diese Fragestellung führt nicht auf das kritische Problem Humes, sondern

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

163

auf ein rein metaphysisches Problem. Sie betriffi die Möglichkeit der notwendigen Verknüpfung selbst und nicht die Möglichkeit unserer Vorstellung von der notwendigen Verknüpfung. Von diesem metaphysischen Problem geht Kant indessen bald schon zu dem kritischen über. Wir erkennen diesen Fortschritt in der Schrift, die gleichsam seinen Abschied von der Metaphysik darstellt, in den »Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik« vom Jahre 1766. Nur das Wort »Metaphysik« ist hier noch beibehalten. Aber es hat einen völlig neuen Sinn angenommen. Die Metaphysik, sagt er, habe die Aufgabe, die Grenzen der menschlichen Vernunft zu bestimmen. Sie soll die Fragen abgrenzen, zu deren Lösung die Data in der menschlichen Vernunft enthalten sind, gegenüber solchen, zu deren Auflösung die Data nicht in der menschlichen Vernunft liegen und die daher für uns unlösbar sind. Diese Fragestellung ist in der Tat schon ganz die kritische. Die Antwort, die er auf sie in dieser Schrift gibt, ist eine sehr einfache. Er sagt nämlich: Jene Data zur Lösung irgendwelcher die Wirklichkeit betreffenden Probleme können wir nur aus der Erfahrung nehmen. Was die Erfahrung übersteigt, übersteigt die Grenzen der uns möglichen Erkenntnis überhaupt. Denn unabhängig von der Erfahrung haben wir nur die Regeln der Identität und des Widerspruchs. ,Wollen wir Realverhältnisse erkennen, wollen wir das Verhältnis, nicht unserer Begriffe, sondern der Dinge erkennen, so müssen wir uns an die Erfahrung wenden, an die Beobachtung, an unsere Sinne. Es gibt demnach keine Metaphysik als eine Wissenschaft, die über den Bereich möglicher Erfahrung hinausgeht, keine Erkenntnis des übersinnlichen. Die Religion muß sich gefallen lassen, auf den Glauben und das Gefühl beschränkt zu bleiben. Ihre Würde erleidet dadurch keinen Abbruch, aber ihre Wahrheiten können nicht wissenschaftlich bewiesen werden. Hiermit ist zugleich die Antwort gegeben auf die Frage, mit der die Schrift über die negativen Größen schloß, auf die Frage: Wie ist die Möglichkeit von Realverhältnissen, von notwendiger Verknüpfung begreiflich? Kant antwortet: Wir können Realverhältnisse zwar erkennen, nämlich durch die Erfahrung. Aber begreifen können wir sie überhaupt nicht. Die Möglichkeit der Realverhältnisse ist ein für die menschliche Vernunft unlösbares Problem. Ein Realverhältnis könnte nur da-

164

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

durch begreiflich werden, daß es auf ein logisches Verhältnis zurückgeführt wird. Wir könnten den Zusammenhang des Realgrundes mit seiner Folge nur verstehen, wenn wir ihn auf das einzige Prinzip zurückführten, über das unsere Vernunft verfügt, auf das der Identität oder des Widerspruchs. Eine solche Zurückführung ist aber unmöglich. Wir können also zwar das tatsächliche Bestehen von Realverhältnissen in der Erfahrung erkennen, aber ihre Möglichkeit niemals einsehen. Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist um nichts begreiflicher, als daß ich etwa durch meinen Willen den Mond in seiner Bahn zurückhalte. Aber durch Erfahrung wissen wir, daß das erste möglich ist, das zweite dagegen nicht. Man darf den Gegensatz, in dem wir Kant hier zu seiner früheren Auffassung finden, nicht mißverstehen. Man sagt: Kant sei jetzt zum Empiristen geworden. Das ist richtig in dem Sinne, daß er alle Erkenntnis in die Grenzen der Erfahrung einschließen will und also die Möglichkeit einer von der Erfahrung unabhängigen Metaphysik bestreitet. Aber hinsichtlich der Kriterien des Ursprungs unserer Urteile steht er noch ganz auf seinem früheren Standpunkt: Was nicht logisch begründbar ist, das, meint er, kann nur aus der Erfahrung genommen werden. Er steht demgemäß noch ganz auf dem Boden der dogmatischen Disjunktion der Erkenntnisquellen, auf dem auch seine rationalistischen Vorgänger standen: Der Disjunktion zwischen Logik und Empirie als allein möglichen Erkenntnisquellen. Das Neue liegt bei ihm nur in der Anwendung, die er jetzt von dieser Voraussetzung macht, in der Einsicht, daß sich die Urteile über Realverhältnisse nicht auf die Prinzipien der Identität und des Widerspruchs zurückführen lassen. Daraus folgt für ihn, gerade gemäß jener Voraussetzung, daß ihr Ursprung nicht im Verstande gesucht werden kann, sondern nur in der Erfahrung. Der Empirismus, den Kant jetzt vertritt, ist für ihn also nur die Konsequenz seiner Einsicht in die nicht-logische Natur der Urteile über Realverhältnisse. Dieser Empirismus ist nicht der Humesche. Es kann keine Rede davon sein, daß Kant zu dieser Zeit schon unter dem Einfluß der Humeschen Theorie gestanden hätte. Denn Hume hatte gezeigt, daß Urteile über reale Verknüpfungen nicht auf Erfahrung gegründet werden können. Er hat also die Annahme gerade widerlegt, die Kant in dieser Zeit vertritt. Kants Empirismus ist nur der naive Empirismus

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

165

Lock.es und nicht der konsequente Empirismus Humes. Er hat noch entfernt nicht, wie es Hume getan hatte, die Möglichkeit der Erfahrungsurteile als Problem erkannt.

4. Mit der nächsten Schrift, die im Jahre 1768 erschienen ist, kommen wir in eine ganz neue Periode seines Denkens. Diese Periode ist charakterisiert durch eine analoge Gedankenentwicklung hinsichtlich der Mathematik, wie sie die bisher betrachtete hinsichtlich der Metaphysik aufwies. Sie wird eingeleitet durch die Schrift »über den ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raume«. Diese kleine Schrift bietet das erste rein durchgeführte Beispiel einer Anwendung der kritischen Methode. Kant tritt hier der Leibnizschen Auffassung von der begrifflichen Natur der Raumvorstellung entgegen. Und zwar knüpft er seine Kritik an eine Erörterung der Begriffe der Lage und der Gegend. Sein Gedankengang ist kurz folgender: Nach der Leibnizschen Lehre besteht der Raum nur vermöge des gegenseitigen Verhältnisses der Dinge in ihm. Wenn dem so wäre, so müßte man annehmen, daß, wenn zwei räumliche Gebilde in allem, was das gegenseitige Verhältnis ihrer Stücke betrifft, übereinstimmen, sie auch in ihrem Verhältnis zum Raume selbst übereinstimmen und also in geometrischer Hinsicht ununterscheidbar sein müßten. Nun lehrt aber eine einfache Betrachtung, daß die Körper in räumlicher Beziehung nicht eindeutig bestimmt sind durch das gegenseitige Verhältnis ihrer Stücke, sondern daß zu dieser Bestimmung ein Verhältnis zum Raume selbst hinzukommen muß, ein Verhältnis, das wir durch keine logische Zergliederung und Vergleichung des gegenseitigen Verhältnisses der Stücke beim einen und anderen Körper entdecken können. Zwei ebene Figuren, die einander gleich und ähnlich sind, sind allerdings auch allemal kongruent, das heißt, sie können in allen ihren Teilen zur Deckung gebracht werden, so daß die Begrenzung der einen mit der der anderen identisch ist. Gehen wir nun aber zu räumlichen Gebilden über, so zeigt sich die Möglichkeit von solchen, die einander völlig gleich und ähnlich sind, in allem also, was das gegenseitige Verhältnis ihrer Teile betrifft, übereinstimmen, und dennoch nicht zur Deckung gebracht werden kön-

166

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

nen. Es sind dies die symmetrischen, aber nichtkongruenten Körper, wie etwa die rechte und die linke Hand oder zwei Schrauben, die sich durch nichts unterscheiden als durch den Drehungssinn des Gewindes, oder zwei ungleichschenklige sphärische Dreiecke, die in bezug auf einen größten Kreis symmetrisch liegen. Wenn, wie diese Betrachtung lehrt, die völlige Übereinstimmung räumlicher Gebilde in bezug auf das innere Verhältnis ihrer Teile nicht genügt, um sie zur Deckung zu bringen, so muß hier noch ein eigentümliches Verhältnis der Körper zum Raume selbst vorliegen, das von dem inneren Verhältnis der Teile der Körper zueinander unabhängig ist, ein Verhältnis, das durch keinerlei Nachdenken entdeckt werden kann, sondern einzig durch die Anschauung bestimmbar ist. Die Überlegung, die Kant hier anstellt, berührt sich übrigens mit einem Gedanken, den wir schon in seiner Erstlingsschrift finden, in der Schrift »Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« vom Jahre 17 47. Schon damals, als Dreiundzwanzigjähriger, hatte Kant den Gedanken einer von den Axiomen des Euklid abweichenden Geometrie erwogen und, darüber hinaus, den Gedanken einer allgemeinen Geometrie, die alle möglichen Raumesarten, wie sie durch diese und jene Geometrie charakterisiert sind, unter sich befaßt. Und er bildet sich so den Begriff einer Geometrie von unbestimmt vielen Dimensionen des Raumes - freilich noch in der Hoffnung, für die Dreidimensionalität unseres Raumes eine metaphysische Ableitung finden und den Leibnizsehen Scheinbeweis für dieses Axiom durch einen besseren ersetzen zu können. Angesichts dieses kühnen Schrittes verdient es um so mehr der Hervorhebung, daß die moderne axiomatische Einsicht in die Widerspruchslosigkeit der nichteuklidischen Geometrie eine vollkommen klare und zwingende Bestätigung der von Kant behaupteten Schranke der Logik im Bereich der mathematischen Erkenntnis darstellt. Denn wenn bewiesen ist, daß die Negation des Parallelenaxiomes auf keinen Widerspruch führen kann selbst unter Hinzunahme der übrigen Axiome, so ist damit erst recht bewiesen, daß sie ohne Hinzunahme der anderen Axiome auf keinen Widerspruch führt. Und das ist gerade das Kriterium des synthetischen Charakters eines Urteils, die Widerspruchslosigkeit seiner Verneinung.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

167

Bei einer weiteren Verfolgung des Gedankenganges über die symmetrischen Figuren hätte Kant bemerken müssen, daß die Eigentümlichkeit des Raumes, auf die er hier aufmerksam wurde, in der Tat unmittelbar mit dem Axiom von der Dreidimensionalität des Raumes zusammenhängt. So wie die Möglichkeit, gleiche und ähnliche Figuren in der Ebene allemal zur Deckung zu bringen, darauf beruht, daß sie sich durch Umklappen, das heißt vermittels einer Drehung durch die dritte Dimension, ineinander überführen lassen, so ist es nur eine Folge des Fehlens der vierten Dimension, daß analoge körperliche, das heißt dreidimensionale Gebilde, nicht durch eine entsprechende Operation zur Deckung gebracht werden können. Die Auszeichnung dieser bestimmten Anzahl von Dimensionen ist in der Tat etwas logisch Zufälliges, etwas, was sich nicht durch bloßes Nachdenken herausklügeln läßt, sondern das als eine anschauliche Wahrheit hingenommen werden muß. Sie läßt sich aus dem bloßen Begriff des Raumes nimmermehr entwickeln. Kant macht hier also die große Entdeckung, daß die geometrische Erkenntnis von aller rein begrifflichen Erkenntnis grundsätzlich verschieden ist, daß die Geometrie ihre Erkenntnis aus der Anschauung schöpf!: und nicht aus bloßem Verstande. Den Unterschied zwischen der mathematischen und der philosophischen Erkenntnis, den Kant schon früher bemerkt, aber noch nicht richtig gedeutet hatte, erkennt er hier als einen spezifischen. Mit dieser Entdeckung des nicht-logischen Ursprungs der geometrischen Erkenntnis ist eine völlig neue Bahn gebrochen. Mit ihr tut Kant einen neuen entscheidenden Schritt über alle seine Vorgänger hinaus. In der Entdeckung des nicht-logischen Ursprungs der geometrischen Erkenntnis liegt, was die Tragweite für die Umgestaltung der Philosophie betrifft, unter allen seinen Entdeckungen, außer derjenigen der kritischen Methode, das für Kant Eigentümlichste seiner ganzen Leistung. Aber die Tragweite dieser Entdeckung kommt ihm wiederum nicht sogleich zum Bewußtsein. Sie kündigt sich in der Schrift von 1768 nur erst tastend und zögernd an. Kant stellt dort noch nicht die bestimmte Frage nach dem Ursprung der geometrischen Urteile, das heißt nach der Art der ihnen zugrunde liegenden Anschauung. Aber es leuchtet ein,

168

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

daß sich ihm diese Frage bald aufdrängen und daß er sich durch sie vor ein schwieriges Dilemma gestellt sehen mußte. Dieses Dilemma entsteht durch den Widerspruch, in den ihn die neue Entdeckung mit der dialektischen Grundvoraussetzung gebracht hatte, auf der sein gesamtes bisheriges Denken ebenso wie das seiner Vorgänger aufgebaut war - mit der Voraussetzung der Vollständigkeit der Disjunktion von Logik und Erfahrung als möglichen Erkenntnisquellen. In der Tat: Wenn die geometrischen Urteile, wie Kant sich überzeugt hatte, nicht logischen Ursprungs sind, so folgt nach dieser Disjunktion der Erkenntnisquellen, daß sie empirischen Ursprungs sein müssen. Angenommen aber, sie wären empirischen Ursprungs, so würde dies die Konsequenz nach sich ziehen, daß sie nicht notwendig und allgemeingültig sein können. An ihrer Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit konnte indessen kein Zweifel bestehen. Kant mußte also zu der Einsicht kommen, daß er in der Geometrie eine Erkenntnisart entdeckt hatte, die weder logischen noch empirischen Ursprungs ist und sich daher jener Disjunktion entzieht. Er stand damit vor der Wahl, entweder die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Geometrie oder die traditionelle Disjunktion der Erkenntnisquellen preiszugeben. Diese Konsequenz konnte Kant nicht lange verborgen bleiben. Er mußte sich daher, angesichts der unabweislichen Ansprüche der einleuchtendsten aller Erkenntnisse der Vernunft, genötigt sehen, zugunsten der geometrischen Erkenntnis die traditionelle Disjunktion der Erkenntnisquellen aufzugeben und damit den entscheidenden Schritt in der Geschichte der Philosophie zu tun - einen Schritt, vor dem es, auf dem einmal erreichten Standpunkt, kein Ausweichen mehr gab und der doch eine unerhörte Kühnheit erforderte, weil er die Preisgabe des Bodens bedeutete, auf dem in der Philosophie alles ruhte, was überhaupt als ausgemacht gelten konnte, einen Schritt, der, bei der Unabsehbarkeit seiner Folgen, den denkenden Geist jeden anerkannten Halts überhaupt beraubte - außer allein der Erkenntnis, die ihn unabweisbar forderte. Durch diesen Schritt mußte zunächst die Grenzbestimmung, die Kant in den »Träumen eines Geistersehers« 1766 vorgenommen hatte, wieder hinfällig werden. Denn diese Grenzbestimmung, die alle mögliche materiale Erkenntnis auf das Gebiet der Erfahrung eingeschränkt und

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

169

eine von der Erfahrung unabhängige Metaphysik für unmöglich erklärt hatte, beruht auf dem Schluß, daß, da aus bloßen Begriffen keine Erweiterung der Erkenntnis möglich ist, aller Gehalt unserer Erkenntnis aus der Erfahrung entspringen müsse - einem Schlusse, der in der Tat nur unter Voraussetzung der dogmatischen Disjunktion zwischen Logik und Erfahrung als einzigen Erkenntnisquellen zwingend ist. Wenn diese Disjunktion, wie das Faktum der Geometrie lehrt, unvollständig ist, so wird damit auch jener Schluß umgestoßen. Mit dieser Feststellung haben wir eine höchst einfache Auflösung des bisher ungelösten Rätsels vor uns, warum Kant, nachdem er sich vom Rationalismus abgewandt hatte, wie wir es in den » Träumen eines Geistersehers« gesehen haben, vier Jahre später, 1770, wieder auf einem rationalistischen Standpunkt steht und die Transzendenz der metaphysischen· Erkenntnis behauptet, das heißt die Möglichkeit, in der Metaphysik über die Grenzen der Erfahrung hinauszugehen. Diese Zurückwendung zum Rationalismus erscheint ohne weiteres verständlich als die natürliche Konsequenz aus dem Standpunkt, den Kant durch die Entdeckung vom Jahre 1768 gewonnen hat. Denn durch diese Entdeckung war der einzige Grund, den er vorher gehabt hatte, die Möglichkeit einer rationalistischen Metaphysik preiszugeben, auf gehoben. Man braucht daher, um diesen Schritt zu erklären, nicht nach besonderen äußeren Einflüssen zu fahnden und Hypothesen darüber zu ersinnen, was Kant bewogen haben mag, sich zur transzendenten Metaphysik zurückzuwenden. Was Kant am Beispiel der Geometrie eingesehen hatte: daß sie die Möglichkeit einer Erweiterung der Erkenntnis unabhängig von der Erfahrung zeigt, das mußte naturgemäß auch der Metaphysik zugute kommen. Damit war die Möglichkeit einer die Erkenntnis a priori erweiternden Metaphysik wieder hergestellt. Es ist wichtig, diesen inneren Zusammenhang des Standpunktes, den Kant 1770 einnimmt, mit dem Standpunkt seiner früheren Schriften ins Auge zu fassen. Das Gemeinsame, das beide verbindet, wenn es auch nicht auf den ersten Blick hervortritt, besteht in der während der ganzen Periode festgehaltenen Annahme, daß, wenn es metaphysische Erkenntnis gibt, sie auch eine transzendente Erkenntnis sein müsse, das heißt eine solche, it keine Rede sein. Ebensowenig aber in der Dissertation. Wir haben in dieser Schrift wieder einen ebenso naiven Rationalismus vor uns wie vorher einen naiven Empirismus. Kant hätte Humes Widerlegung des metaphysischen Rationalismus, wenn er sie kannte, nicht mit Stillschweigen übergangen. Der behauptete Einfluß Humes kann schließlich auch nicht in dem Brief an Herz vom Jahre 1772 zutage treten. Die Fragestellung in diesem Brief: Wie ist es möglich, daß sich Vorstellungen a priori auf Gegenstände beziehen? diese Frag.estellung scheint zwar, auf den ersten Blick, der Humeschen ähnlich zu sein. Sie ist aber in der Tat eine andere. Diese Fragestellung ist eine erkenntnistheoretische: Sie betrifft das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand, und nicht, wie Humes psychologische Frage, den Ursprung der Erkenntnis im erkennenden Geist. Für die mathematische Erkenntnis hatte Kant die Frage nach dem Ursprung allerdings schon in der Dissertation erörtert. Für die metaphysische Erkenntnis wird diese Frage jedoch auch in dem Brief an Herz noch nicht einmal auf geworfen. Daraus folgt, daß der Einfluß der Humeschen Theorie erst nach 1772 stattgefunden haben kann. Wir werden ihn nur suchen dürfen in dem, was in dieser Zeit an grundsätzlich neuen Gedanken hervortritt, also frühestens in Kants Einsicht in die Abhängigkeit der Erfahrung von metaphysischen Voraussetzungen. Es läßt sich in der Tat denken, daß Kant bei der Erlangung dieser Einsicht unter Humes Einfluß gestanden hat. Es läßt sich aber mindestens ebensogut denken, daß er diese Einsicht selbständig erarbeitet hat. Denn sie liegt unmittelbar

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

191

in der Konsequenz seiner Lehre von den Prinzipien der Konvenienz. Es ist wohl möglich, daß Kant nur in dem weiteren Ausbau dieser Konsequenz von Hume bestärkt worden ist und dann später in der Bewunderung für seinen großen Vorgänger dessen Einfluß auf sich überschätzt hat.

III. Drn

DIALEKTISCHEN ENTDECKUNGEN

DER KRITIK DER REINEN VERNUNFT UND IHRE ERGEBNISSE FÜR DIE METAPHYSIK DER NATUR UND DER SITTEN

Ich komme nun z.u dem Werk, das in der Geschichte der Philosophie den entscheidenden Wendepunkt bedeutet, zu dem Werk, in dem es Kant gelang, das zu erreichen, wonach alle seine Vorgänger vergeblich gestrebt hatten, die Philosophie wirklich zu einer Wissenschaft auszubilden. Im Rahmen dieser Darstellung ist es mir nicht möglich, den Inhalt der »Kritik der reinen Vernunft« in seinem ganzen Reichtum zu entwickeln. Ich stelle mir daher die begrenzte Aufgabe, Gesichtspunkte zu geben einerseits für die Wtirdigung der Entdeckungen, die in diesem Werk niedergelegt sind, und andererseits für .das Verständnis der Mängel, die in ihm stehengeblieben sind. Bei dem Umfang dessen, was ich trotz dieser Beschränkung zu entwickeln habe, muß ich eine mög-, liehst deutliche und klare Disposition für die Darstellung wählen. Ich will diese Disposition so treffen, daß ich zuerst einen überblick über die dialektischen Entdeckungen gebe, die Kant gelungen sind, und dabei alles das beiseite lasse, was mangelhaft geblieben ist und was wir daher zurückzuweisen haben, daß ich danach den Gewinn, den diese Entdeckungen für die Begründung der Weltansicht mit sich bringen, bespreche und dann erst, drittens und zuletzt, die Mängel auseinandersetze, die im Ganzen der Kantischen Lehre stehengeblieben sind. Man kann sagen, daß in dialektischer Hinsicht die »Kritik der reinen Vernunft« nur die Ausführung des methodischen Programms ist, das Kant schon in der Dissertation entwickelt. Das heißt, sie ist nichts anderes als das, was er dort die Propädeutik der Erkenntnis aus reinem Verstande nennt. Sie bestimmt den Umfang und die Grenzen dieser

192

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Erkenntnis. Da müssen wir denn diese kritische Grenzbestimmung, die die Propädeutik zur Metaphysik ist, wohl unterscheiden von dem systematischen Aufbau der Metaphysik selbst. Die Kritik der reinen Vernunft will in der Tat, nach Kants Meinung und Absicht, nicht selbst ein System der Metaphysik sein, sondern nur die Propädeutik zu jedem möglichen zukünftigen System der Metaphysik. Sie soll, nach dem bescheidenen Wort aus der Vorrede, nur ein »Traktat von der Methode« sein. Darum ist es nötig, daß wir zuerst von der Kritik der Vernunft selbst sprechen und nachher von den Folgen, die sich aus dieser Kritik für jenes System ergeben. Dabei kommt es für meinen Zweck im wesentlichen nur auf die spekulative Metaphysik an, wenn ich auch die Rücksichtnahme auf die praktische Metaphysik nicht ganz ausschalten will. Ich werde diese so weit in Betracht ziehen, wie ihr Aufbau in einem nachweislichen Zusammenhang mit dem der spekulativen Metaphysik steht und soweit die dialektischen Fortschritte oder auch Mängel der Kritik für das Gelingen oder Mißlingen ihres Aufbaus entscheidend sind.

Die kritische Verallgemeinerung des Humeschen Problems

Wenn ein System der Metaphysik als Wissenschaft möglich sein soll, so muß es möglich sein, die Prinzipien dieses Systems nach einer bestimmten Methode vollständig aufzuzählen. Und diese Aufgabe muß gelöst sein, ehe Metaphysik als Wissenschaft zustande kommen kann. Diese große Aufgabe, die niemals vorher in der Geschichte der Philosophie auch nur in Angriff genommen worden ist, wird hier von Kant gelöst: Die Kritik der reinen Vernunft löst die Aufgabe, die Prinzipien der Metaphysik nach ihren Quellen, ihrem Umfang und den Grenzen ihres Gebrauchs vollständig zu ermessen. Wir wollen nun die Lösung dieser Aufgabe, wie wir sie bei Kant vorfinden, kennenlernen. 1.

Kant entwickelt seinen Gedankengang nach der kritischen Methode. Diese Methode selbst stellt er erst im Schlußteil der »Kritik der reinen Vernunft« dar, in der »transzendentalen Methodenlehre«. Das hat lei-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

193

der zur Folge, daß dieser für das Verständnis des ganzen Buches wichtigste Gegenstand vielen Lesern unbekannt geblieben ist. Wir finden dort die reife Ausführung der Gedanken, die Kant in der Preisschrift » Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral« niedergelegt hatte. Wir haben die kritische Methode bei der Besprechung dieser Schrift bereits kennengelernt. Ich gehe darum nicht nochmals darauf ein.

2. An der Spitze der Kritik der reinen Vernunft tritt uns zum ersten Mal in bestimmter und klarer Formulierung der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile entgegen. Analytische Urteile sind solche, deren Prädikat sich aus dem bloßen Begriff des Subjekts herleitet. Synthetische Urteile sind solche, bei denen dies nicht der Fall ist und die also, positiv ausgedrückt, die Erkenntnis über den Begriff des Subjekts hinaus erweitern. Aus bloßen Begriffen sind nur analytische und keine synthetischen Urteile möglich. Durch diese Unterscheidung gelingt es zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie, eine strenge Grenze zu ziehen zwischen Logik und Metaphysik. Die Logik ist, da sie nur aus Begriffen schöpft, das System der analytischen Urteile. Die Metaphysik bezweckt eine Erweiterung unserer Erkenntnis über die bloßen Begriffe, die wir von den Gegenständen haben, hinaus. Sie muß daher aus synthetischen Urteilen bestehen. So steht denn also fest, daß sie ihren Prinzipien nach von der Logik gänzlich verschieden ist. In diesem Nachweis liegt bereits eine hinreichende Widerlegung der gesamten scholastischen Philosophie, wie sie, nur in neuer Gestalt, von der Leibniz-Wolff schen Schule wiederholt worden war.

3. Von diesem Unterschied, der den Inhalt der Urteile betriff\:, trennt Kant die Unterscheidung der Urteile nach ihren Erkenntnisquellen. Nach den Erkenntnisquellen unterscheidet er Erkenntnisse a priori und a posteriori. Erkenntnis a posteriori ist eine solche, die aus der Erfahrung entspringt, die sich also auf die Wahrnehmung des Gegenstandes

194

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

gründet, Erkenntnis a priori eine solche, die von der Erfahrung unabhängig ist, ihren Grund also nicht in der Wahrnehmung des Gegenstandes hat. Für das Verständnis dieses Unterschiedes kommt es besonders darauf an, den Ursprung einer Erkenntnis von ihrer zeitlichen Entwicklung zu unterscheiden. Alle Erkenntnis fängt mit der Erfahrung an, aber es entspringt doch darum nicht alle Erkenntnis aus der Erfahrung. Wir müssen aber ferner noch unterscheiden, ob eine Erkenntnis nur der Beobachtung des bestimmten Gegenstandes vorhergeht, auf den sie sich bezieht, oder ob sie hinsichtlich der Quellen, aus denen sie schöpft, gänzlich frei von aller Erfahrung ist. Kant nennt »rein a priori« eine solche Erkenntnis, die von aller und jeder Erfahrung unabhängig ist. Der Naturforscher kann manche Erscheinungen voraussagen und insofern a priori bestimmen. Aber er tut dies doch nur auf Grund von Schlüssen aus früher angestellten Beobachtungen, und rein a priori können wir über den Verlauf der Naturerscheinungen nichts Bestimmtes aussagen. Im bestimmteren Sinne können also nur diejenigen Erkenntnisse a priori heißen, die ihrem Grund nach von aller und jeder Erfahrung unabhängig sind. Von dieser Art müssen die metaphysischen Prinzipien sein. Welches sind nun aber die Kriterien der Apriorität einer Erkenntnis? Das heißt: Woran erkennen wir, daß wir es mit einer Erkenntnis rein a priori zu tun haben? Diese Kriterien sind nach Kant strenge Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Erkenntnis. Wenn wir ein Urteil mit strenger Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit behaupten, so können wir das niemals tun auf Grund der Erfahrung. A posteriori wissen wir nur, was wir bisher schon beobachtet haben. Dieses Wissen erstreckt sich nur auf eine begrenzte Anzahl von Fällen und geht nur auf an und für sich zufällige Tatsachen. Erfahrung führt uns allenfalls zu komparativ allgemeingültigen Urteilen, indem wir nach Wahrscheinlichkeitsschlüssen unsere bisherigen Beobachtungen verallgemeinern. Wir gelangen dadurch aber nie zu streng allgemeingültigen und notwendigen Urteilen. Wenn wir mit Sicherheit ein Gesetz erkennen, das heißt, wenn wir der strengen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit eines Urteils sicher sind, dann dürfen wir auf die Apriorität der Erkenntnis schließen.

195

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

4. Indem Kant diese Unterscheidung der Urteile nach dem Ursprung mit der vorigen nach dem Inhalt kombiniert, gelingt es ihm, das Problem, das dem Streit zwischen Empirismus und Rationalismus zugrunde lag, auf eine scharf bestimmte Form zu bringen und dadurch diese Streitfrage selbst in ein neues und fruchtbareres Stadium hinüberzuleiten. Durch die Trennung nämlich, die Kant zwischen diesen beiden Einteilungen der Erkenntnisse vollzogen hatte und an die niemand vor ihm jemals gedacht hatte, glückte es sogleich, die Verwechslung aufzuheben, die in dem Streit bisher eine unvermeidliche Rolle gespielt hatte und in die sich beide Teile gleichermaßen verwickelt hatten. Wir können uns diese Verwechslung und ihre Aufhebung durch Kant am besten klar machen, wenn wir die Kombination der beiden Einteilungen in einem Schema darstellen, das uns ohne weiteres einsehen läßt, welche möglichen Urteilsarten aus der Verbindung dieser beiden Klassifikationen hervorgehen. a pnon

a posteriori

analytisch

Logik

X

synthetisch

?

Empirie

Wir erhalten dann vier Fächer möglicher Urteilsarten. Auf der einen Seite haben wir den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile, auf der anderen den der Urteile a priori und a posteriori. Diese beiden Einteilungen fallen nicht zusammen, wie man bis auf Kant angenommen hatte. Zunächst gibt es sicher analytische Urteile a priori. Es sind dies die Sätze der Logik. Ferner gibt es sicher synthetische Urteile a posteriori. Es sind dies die empirischen Urteile der Erfahrungswissenschaften. Mit dieser Einteilung der Urteile in solche, die der Logik, und solche, die der Erfahrung angehören, hatte man bis auf Kant geglaubt, alle möglichen Klassen von Urteilen zu erschöpfen. Und man mußte diesen Fehler machen, weil man den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile nicht trennte von dem der Urteile a priori und a posteriori. So konnte man nicht umhin, anzunehmen, daß, wie alle analytischen Urteile Urteile a priori sein müssen, so auch umgekehrt

196

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

alle synthetischen Urteile Urteile a posteriori sein müßten. Dieser Schluß verbietet sich uns jetzt. Wir dürfen vor näherer Untersuchung die Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori nicht ausschließen, sondern nur diejenigen von analytischen Urteilen a posteriori. In der Tat: Der Grund analytischer Urteile liegt allemal im bloßen Begriff ihres Subjekts. Dieser Begriff mag entspringen, woher er will, so bedürfen wir doch, um mit ihm das Prädikat zu verknüpfen, keiner Erfahrung. Analytische Urteile sind folglich immer Urteile a priori, das heißt, es kann keine analytischen Urteile a posteriori geben. Dieser Satz ist seinerseits ein analyüsches Urteil, das heißt, er folgt aus dem bloßen Begriff eines solchen. Aber wenn sonach alle analytischen Urteile Urteile a priori sind, so entsteht die Frage: Sind auch umgekehrt alle Urteile a priori analytische? Oder gibt es auch synthetische Urteile a priori? Da ist denn so viel zunächst leicht einzusehen: Wenn es eine Metaphysik gibt, dann muß sie aus synthetischen Urteilen a priori bestehen. Aus analytischen Urteilen kann sie nicht bestehen. Dann wäre sie vielmehr bloße Logik. Aus synthetischen Urteilen a posteriori kann sie ebensowenig bestehen. Dann wäre sie eine Erfahrungswissenschaft. Sie muß also, wenn sie überhaupt möglich ist, in der Tat aus synthetischen Urteilen a priori bestehen. Das war im Grunde schon durch Hume klar geworden, wenn er auch die Begriffe noch nicht so scharf gefaßt hatte. Wir gewinnen daher zugleich eine Rechtfertigung der Humeschen Lehre, daß metaphysische Urteile weder aus bloßer Logik, noch aus der Erfahrung möglich sind. Aber wenn wir auch hierin Hume recht geben müssen, so brauchen wir ihm darum doch nicht in der Konsequenz zu folgen, die er aus diesem Ergebnis ziehen zu müssen glaubte, in der Konsequenz, daß metaphysische Erkenntnis überhaupt unmöglich sei. Eben hierin besteht der erste Gewinn der Trennung der Einteilungen der Urteile nach dem Inhalt und dem Ursprung, daß für uns das Zwingende dieser Humeschen Konsequenz entfällt. Wir können nämlich Humes Schluß geradezu so formulieren: Wenn Metaphysik möglich wäre, so müßte sie aus synthetischen Urteilen a priori bestehen. Synthetische Urteile a priori kann es aber nicht geben. Denn alle Urteile a priori müssen analytisch sein.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

197

Folglich kann es auch keine Metaphysik geben. Den Untersatz dieses Schlusses, der von Hume überall stillschweigend vorausgesetzt wird, die Behauptung, daß synthetische Urteile a priori unmöglich sind, erkennen wir als unbegründet. Damit entfällt zugleich die skeptische Konsequenz, die sich für Hume aus diesem Satze ergab. Daß Hume synthetische Urteile a priori ohne alle weitere Untersuchung für unmöglich hielt, das erklärt sich uns nun aus der Verwechslung der beiden Einteilungen der Urteile nach Inhalt und Ursprung. Mit der Aufdeckung dieser Verwechslung ist Humes Folgerung und damit zugleich sein Skeptizismus aufgehoben. Diese Kantische Entdeckung läßt s,i,ch durch eine einfache Überlegung in ein noch helleres Licht setzen. Der Untersatz des fraglichen Humeschcn Schlusses ist im Grunde nichts anderes als jenes schon von Aristoteles zum Axiom erhobene Dogma von der Ausschließlichkeit von Logik und Erfahrung als Erkenntnisquellen, ein Dogma, dessen scheinbare axiomatische Evidenz, wie sich nun zeigt, nur die Folge der Verwechslung der beiden von Kant getrennten Einteilungen der Urteile ist. Die Möglichkeit ihrer begrifflichen Trennung läßt dieses Dogma aufs deutlichste als eine synthetische Behauptung erkennen, wodurch ihr Anschein von logischer Selbstverständlichkeit verschwindet. Und zwar müßte diese synthetische Behauptung, da sie nicht auf eine besondere Untersuchung und Durchmusterung der einzelnen Urteile gestützt wird, sondern vor aller solchen Untersuchung mit Allgemeinheit und Notwendigkeit aufgestellt wird, ihrerseits a priori feststehen. Sie müßte also selbst ein synthetisches Urteil a priori sein, das heißt selbst ein Beispiel derjenigen Urteilsklasse bilden, deren Existenz durch sie gerade geleugnet wird. Sie führt uns also auf einen analogen Widerspruch, wie wir ihn für die Humesche Theorie überhaupt als charakteristisch erkannt hatten: Wenn sie wahr wäre, so wäre es unmöglich, jemals ihre Wahrheit zu erkennen. Das heißt nun aber nicht etwa, daß damit das Hume~che Problem schon aufgelöst wäre. Denn wenn wir auch wissen, daß, vom rein logischen Standpunkt betrachtet, Humes Konsequenz nicht zwingend ist, so ist doch damit die Frage selbst noch nicht entschieden. Es könnte ja immerhin sein, daß unabhängig von dem falschen Humeschen Schluß sein Ergebnis richtig ist. Und wir dürfen ohne weitere Untersuchung

198

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

ebensowenig behaupten, daß es synthetische Urteile a priori gibt, wie Hume behaupten durfte, daß es sie nicht gibt. Die Frage, ob es sie gibt, muß untersucht werden. Es ist der Zweck der Kritik der reinen Vernunft, diese Untersuchung auszuführen. Worauf wir hier Wert legen müssen, ist nur, daß das Problem nicht von vornherein durch einen voreiligen Schluß beiseite geschoben wird. Wir wollen uns daher dieses Problem noch einmal deutlich vor Augen stellen. Die Möglichkeit analytischer Urteile bietet keine Schwierigkeit. Alle analytischen Urteile sind Urteile a priori, und sie können es sein, weil sie keinen weiteren Erkenntnisgrund erfordern als den Begriff des Gegenstandes. Es kann daher über ihren Erkenntnisgrund keinerlei Zweifel herrschen. Ebensowenig bietet die Möglichkeit synthetischer Urteile a posteriori ein Problem. Der Grund der Verbindung von Subjektsbegriff und Prädikat im Urteil ist hier die Beobachtung des Gegenstandes. In ihr liegt der Erkenntnisgrund synthetischer Urteile a posteriori offen zu Tage. Wohl aber bedeutet die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ein Problem. Denn hier kann uns als Erkenntnisgrund weder der Begriff noch die Beobachtung dienen-der Begriff nicht, weil es sonst analytische Urteile wären und nicht synthetische, die Beobachtung nicht, weil es sonst Urteile a posteriori wären und nicht solche a priori. Es entsteht also die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Ihren Erkenntnisgrund gilt es zu entdecken. Wenn er überhaupt existiert, so liegt er jedenfalls tiefer verborgen, und wir müssen eine eigene Untersuchung anstellen, um ihn ans Licht zu ziehen. So sehen wir, wie durch die einfache Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile und die Trennung dieser Unterscheidung von der anderen nach dem Ursprung der Urteile das Humesche Problem mit einem Schlage in ein neues Licht rückt. Der Auflösung dieses verallgemeinerten - Humeschen Problems ist im Grunde die ganze Kritik der reinen Vernunft gewidmet.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

199

5. Bei dieser Untersuchung kommt uns nun die Aufdeckung eines weiteren Fehlers zu Hilfe, der in der Humeschen Untersuchung stehengeblieben war. Hume hatte, in Übereinstimmung mit allen seinen Vorgängern, angenommen, daß die mathematischen Urteile insgesamt analytische seien. Und er mußte dies annehmen auf Grund der allgemeinen Voraussetzung, die seinen Untersuchungen zugrunde lag. Denn er sah wohl ein, daß mathematische Urteile streng allgemeingültig und notwendig sind. Er mußte also aus ihrer Apriorität auf ihren analytischen Charakter schließen. Denn die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die Hume an den mathematischen Urteilen bemerkte, war mit einem empirischen Ursprung dieser Urteile unvereinbar. Es blieb also nur übrig, sie der Logik zuzuweisen. Dieser Schluß erweist sich für Kant als fals.ch. Allerdings hat Hume darin recht, daß die mathematischen Lehrsätze nach dem Satz des Widerspruchs erschlossen und also rein logisch aus ihren Prämissen abgeleitet werden. Aber daraus, daß ein Urteil nach dem Satz des Widerspruchs abgeleitet wird, folgt nicht, daß es aus dem Satz des Widerpruchs entspringt. Die Logik dient hier nur zur Vermittlung, aber nicht als Erkenntnisgrund des abzuleitenden Urteils. Die Verneinung eines geometrischen Urteils schließt in der Tat nicht, wie Hume angenommen hatte, einen Widerspruch ein. Sie widerstreitet nur der Anschauung. Um die Richtigkeit irgendeines geometrischen Axioms einzusehen, genügt es nicht, im Begriff des Gegenstandes nachzuforschen; durch bloße Zergliederung des Subjektsbegriffs erhalten wir niemals das Prädikat des Urteils. Sandern dazu müssen wir aus dem Begriff herausgehen und uns eine Anschauung des Gegenstandes verschaffen. Wir müssen also, wie es auch jederzeit in der Geometrie geschieht, den Begriff konstruieren, um die Richtigkeit des Urteils einzusehen. Nehmen wir irgendeinen Satz der Geometrie, etwa den, daß die Winkelsumme im gradlinigen Dreieck zwei Rechte beträgt, und fragen uns: Worauf beruht die Wahrheit dieser Behauptung? Es wird uns nicht helfen, im Begriff der Winkelsumme zu forschen und ihn in alle seine Elemente zu zerlegen, um das Prädikat, den Betrag der Größ..: dieser Summe, zu entdecken, sondern wir müssen uns eine Anschauung dieser

200

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Summe verschaffen. Wir müssen sie durch Konstruktion selbst erzeugen, um dadurch einzusehen, daß sie in der Tat den im Urteil behaupteten Betrag hat. Das Prädikat kommt hier dem Gegenstand also nicht zu vermöge des bloßen Begriffs des Gegenstandes, sondern es tritt zu diesem erst vermittels der Anschauung hinzu. Diese Anschauung muß aber eine reine Anschauung sein. Das heißt, sie muß selbst a priori möglich sein. Denn sonst wäre das Urteil empirisch und könnte nicht streng apodiktisch gelten. Diese Berichtigung des Humeschen Irrtums führt uns daher auf den Satz, daß die mathematischen Urteile nicht Urteile aus bloßen Begriffen sind, sondern solche aus der Konstruktion der Begriffe und insofern synthetische Urteile aus reiner Anschauung. In diesem Satz liegt die folgenreichste von allen Entdeckungen, auf die Kant durch Anwendung der kritischen Methode geführt worden ist. Durch diese Feststellung ist zunächst eine feste Grenze bestimmt zwischen Metaphysik und Mathematik. Vorher hatten wir die Metaphysik nur gegen die Logik und gegen die Erfahrungswissenschaften abgrenzen können. Das erste leistete uns die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile, das andere die Unterscheidung der Erkenntnis a priori und a posteriori. Jetzt können wir die Metaphysik auch von der Mathematik unterscheiden, obwohl die eine wie die andere synthetische Urteile a priori enthält. Denn die mathematischen Urteile sind synthetische Urteile aus der Konstruktion der Begriffe in reiner Anschauung, während die metaphysischen Urteile synthetische Urteile aus bloßen Begriffen sind, das heißt solche, die unabhängig von aller Anschauung entspringen. Der Nachweis, daß die mathematischen Urteile synthetischen Charakter haben, stellt ferner außer Zweifel, daß überhaupt synthetische Urteile a priori möglich sind, was Hume bestritten hatte. Wir wissen aber bereits darüber hinaus, durch Aufweisung der reinen Anschauung als Quelle der mathematischen Erkenntnis, wie synthetische Urteile a priori möglich sein können. Es bleibt noch die Frage: Gibt es auch synthetische Urteile a priori aus bloßen Begriffen, also echte metaphysische Urteile? Und, wenn es sie gibt, wie sind sie ihrerseits möglich? Die Möglichkeit solcher synthetischen Urteile a priori erscheint nach wie vor paradox. Sie scheint in der Tat einen Widerspruch einzuschließen. Wenn nämlich die meta-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

201

physischen Urteile, wie das zu ihrem Begriff gehört, synthetisch sein müssen, wie können sie dann aus bloßen Begriffen entspringen? Urteile, die ihren Grund in bloßen Begriffen haben, sind analytische und nicht synthetische Urteile. Wie sind also synthetische Urteile a priori aus bloßen Begriffen möglich? Diese Frage verlangt eine Auflösung, wenn die Möglichkeit solcher Urteile behauptet werden soll. Und mit der Auflösung dieser Frage steht und fällt die Metaphysik. Nun zeigt Kant, daß ungeachtet des Paradoxen, das im Begriff solcher Urteile liegt, solche Urteile faktisch vorkommen. Daß wir tatsächlich die Gültigkeit solcher Urteile behaupten, davon können wir uns schon überzeugen, wenn wir nur die bloße Erfahrung in Betracht ziehen. Jedes Erfahrungsurteil schließt eine metaphysische Behauptung ein. Und das einfachste Beispiel eines Erfahrungsurteils genügt daher als Beweis für die Existenz metaphysischer Urteile. Wenn wir behaupten, daß die Ursache des Donners im Blitz liegt, so behaupten wir etwas über die kausale Verknüpfung der Erscheinungen. Wir können ein derartiges Urteil nicht fällen, wenn wir damit nicht stillschweigend den Grundsatz der Kausalität behaupten, wonach jede Veränderung in den Erscheinungen eine Ursache hat. Dieser Grundsatz ist in der Tat metaphysisch. Denn im Begriff der Veränderung liegt nur die Aufeinanderfolge verschiedener Zustände eines und desselben Dinges, nicht aber das Bewirktsein dieser Aufein:.. anderfolge durch andere Dinge. Der Satz ist also unzweifelhaft synthetisch. Er entspringt aber auch nicht aus der Anschauung. Denn wir haben von der Verknüpfung von Ursache und Wirkung durchaus keine Anschauung. Wir haben also hier ganz gewiß ein echtes metaphysisches Urteil vor uns. Das Faktum der Erfahrung selbst beweist die faktische Existenz metaphysischer Urteile. Dieses Ergebnis stellt uns vor zwei neue Auf gaben. Einmal entsteht die Aufgabe, die Prinzipien dieser Art von Urteilen aufzusuchen, sie methodisch zu ordnen und uns in den Besitz ihres vollständigen Systems zu setzen. Sodann aber müssen wir uns fragen, welchen Grund für die Rechtmäßigkeit dieser Art von Urteilen wir haben und welches die Grenzen ihres Gebrauchs sind. Können wir von ihnen auch unabhängig von der Erfahrung Gebrauch machen, wie doch die Metaphysik will? So viel steht fest: Daraus, daß diese Urteile weder analytischen noch

202

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

empirischen Charakter haben, können wir nicht mit Hume den Schluß ziehen, daß sie ungültig sein müßten und keine Erkenntnis enthalten könnten. Denn ein solcher skeptischer Schluß würde zu viel beweisen. Er würde sich zugleich gegen die Mathematik richten, deren Gültigkeit in Zweifel zu ziehen, Hume, wie Kant sich ausdrückt, viel zu einsehend war.

6. Dies ist etwa der Gedankengang der Einleitung von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Aus ihm verstehen wir leicht die Disposition dieses Werkes. Die »Kritik der reinen Vernunft« (die genauer »Kritik der reinen spekulativen Vernunft« - im Gegensatz zur praktischen heißen sollte) zerfällt, wenn wir von der transzendentalen Methodenlehre absehen, zunächst, gemäß dem Unterschied der beiden Grundklassen synthetischer Urteile a priori, in zwei Hauptteile, die »transzendentale Asthetik« und die »transzendentale Logik«. Der Ausdruck »transzendental« charakterisiert eine Untersuchung dahin, daß sie sich auf Erkenntnisse a priori bezieht, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt, daß es Erkenntnisse a priori sind. Dadurch unterscheidet sie sich von aller nur psychologischen Untersuchung, nach Kants Gebrauch dieses Wortes. Das heißt, sie hat es nicht zu tun mit der Frage der Entstehung der fraglichen Erkenntnisse, also der ihrer zeitlichen Entwicklung und der Bedingtheit dieser Entwicklung durch die Erfahrung. Sondern sie fragt gerade nach dem, worin die untersuchte Erkenntnisart von aller Erfahrung unabhängig ist, inwiefern nämlich der Grund ihrer Gültigkeit nicht in der Erfahrung liegt - denn nur insofern heißt sie eine Erkenntnis a priori - und welches die Grenzen ihres Gebrauches sind. Für die Beantwortung dieser Fragen kommt es auf die Geschichte der zeitlichen Entstehung der fraglichen Erkenntnisart gar nicht an. Und von dieser zeitlichen Entstehungsgeschichte darf daher in einer kritischen Untersuchung überhaupt nicht die Rede sein. Die transzendentale Asthetik ist die Lehre von den reinen Formen der sinnlichen Anschauung. »Asthetik« heißt nämlich der Etymologie nach Sinnenlehre. Transzendentale Asthetik ist also die Lehre von den Prinzipien a priori der sinnlichen Erkenntnis. Sie besteht in der Auf-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

203

weisung der reinen Anschauung als Bedingung der Möglichkeit der Sinnesanschauung und als Erkenntnisgrund mathematischer Urteile. Die transzendentale ·Logik, die ihrerseits das Geschäft der transzendentalen Asthetik als abgeschlossen voraussetzt, ist die Lehre von den synthetischen Formen des reinen Denkens. Sie besteht in der Untersuchung des Erkenntnisgrundes der metaphysischen Urteile. Als solche zerfällt sie in zwei Unterteile: »transzendentale Analytik« und »transzendentale Dialektik«. Die transzendentale Analytik handelt von den metaphysischen Prinzipien, die dem Erfahrungsgebrauch zugrunde liegen, die transzendentale Dialektik von den metaphysischen Prinzipien, die über alle Erfahrung hinausgehen. »Dialektik« nennt Kant diesen Teil seiner Untersuchung, weil er eine transzendentale Logik des Scheins enthält und nicht, wie die Analytik, eine transzendentale Logik der Wahrheit. Die metaphysischen Behauptungen, die über alle mögliche Erfahrung hinausgehen, erweisen sich nämlich als trügerisch, und insofern ist ihre Untersuchung in der Tat eine Lehre vom dialektischen Schein. Für die Disposition der einzelnen Teile müssen wir ferner eine weitere Einteilung berücksichtigen, die Kant vornimmt. Diese Einteilung geht hervor aus dem Unterschied der Tatsachenfrage und der Rechtsfrage der zu erörternden Prinzipien. Kant unterscheidet, nach dem Sprachgebrauch der Juristen, die quaestio facti von der quaestio iuris. Die erste betriff!: den Tatbestand der Prinzipien a priori unserer Erkenntnis, die zweite den Grund ihrer Möglichkeit. Der Unterschied zeigt sich in der Terminologie gelegentlich auch durch die Gegenüberstellung einer »metaphysischen« und einer »transzendentalen Erörterung«. Das Wort »transzendental« ist hier in einem engeren Sinne gebraucht. Die metaphysische Erörterung betriff!: die Frage: quid facti, die Frage des Tatbestandes, die transzendentale Erörterung die Frage: quid iuris, die Frage des Erkenntnisgrundes. »Transzendental« heißt eine solche Erörterung also nicht schon darum, weil sie sich überhaupt auf Prinzipien a priori bezieht, sondern im engeren Sinn als eine solche, die den Grund der Möglichkeit synthetischer Prinzipien a priori betriff!:. Um den Erkenntnisgrund solcher Prinzipien zu prüfen, müssen wir über den Tatbestand schon im klaren sein, und es muß daher aller transzendentalen Untersuchung eine metaphysische Erörterung vorausgehen.

204

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Die transzendentale Erörterung im erklärten engeren Sinn, das heißt die Untersuchung des Erkenntnisgrundes synthetischer Prinzipien a priori hat aber nach Kant ihrerseits wiederum zwei verschiedene Seiten, eine »objektive« und eine »subjektive«. Einmal entsteht die Frage: Wie ist es möglich, daß sich synthetische Prinzipien a priori auf Gegenstände beziehen? Wie können sie objektive Gültigkeit haben? Auf diese Frage bezieht sich die objektive Deduktion. Andererseits entsteht die Frage: Wie sind sie subjektiv möglich? Das heißt, welches ist ihr Ursprung in unserem Erkenntnisvermögen? Diese Frage bildet das Problem der subjektiven Deduktion. So viel über die Disposition der »Kritik der reinen Vernunfl:«, eine Disposition, die, wie man sieht, nicht willkürlich gewählt ist, sondern streng aus der Natur der Sache hervorgeht.

Die Kritik der spekulativen Vernunft 1.

Die transzendentale Ästhetik ist, ihrem Inhalt nach, von Kant ohne alle wesentliche Veränderung aus der Dissertation vom Jahre 1770 übernommen. Ich brauche daher an dieser Stelle nicht näher darauf zurückzukommen. Sie führt den Nachweis, daß der sinnlichen Erkenntnis in der Tat schon eine Erkenntnis a priori zugrunde liegt, daß nämlich zu aller Anschauung außer der Materie, die durch die Empfindung gegeben wird, eine reine Form gehört, vermöge deren das Mannigfaltige der Empfindung in gewissen Verhältnissen geordnet erscheint, und daß Raum und Zeit, als diese Formen, Gegenstände der reinen Anschauung sind. Inwiefern die Aufweisung dieser reinen Anschauung das Problem der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori für die Mathematik auflöst, habe ich schon gezeigt.

2. Wir wenden uns daher jetzt der transzendentalen Logik zu. Transzendentale Logik nennt Kant diese Disziplin zur Unterscheidung von dem, was wir heute formale Logik nennen und was er die »reine allge-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

205

meine Logik» nennt. Diese reine allgemeine Logik abstrahiert von allem Gehalt der Erkenntnis und betrachtet die bloße Form des Urteils überhaupt. Ihre Prinzipien bestehen in den logischen Grundsätzen und machen für sich nur analytische Urteile möglich. Die transzendentale Logik dagegen abstrahiert nicht von allem Gehalt der Erkenntnis überhaupt, sondern nur von allem anschaulichen Gehalt unserer Erkenntnis, dem empirischen sowohl wie dem rein anschaulichen. Sie untersucht, welcher Gehalt an Erkenntnissen bei dieser Abstraktion übrigbleibt, das heißt, welche synthetischen Erkenntnisse aus reiner Vernunft wir besitzen. Diese transzendentale Logik muß also von der allgemeinen Logik, die nur analytische Urteile enthält, wohl unterschieden werden. Beide Disziplinen tragen Kriterien der Wahrheit vor, und zwar nur notwendige und nicht hinreichende Kriterien der Wahrheit. Die Gr~ndsätze der Logik sind allgemeine negative Kriterien der Wahrheit, das heißt Bedingungen, denen kein Urteil widersprechen darf, das wahr sein soll, die aber doch nicht hinreichen, die Wahrheit des Urteils positiv zu bestimmen, es sei denn, daß wir es mit einem nur analytischen Urteil zu tun haben. In der transzendentalen Logik suchen wir aber Kriterien der Wahrheit synthetischer Urteile. Und wir fragen uns, inwieweit die von allem Gehalt der Anschauung abgesonderte reine Vernunft uns solche Kriterien liefert. Kant leitet diese Untersuchung ein durch den wichtigen Beweis, daß es unmöglich ist, ein allgemeines Kriterium materialer Wahrheit aufzufinden. Ein solches Kriterium müßte nämlich in der Tat ein rein logisches sein, das heißt, es müßte, eben um s,einer Allgemeinheit willen, von allem besonderen Inhalt der Erkenntnis abstrahieren. Nun besteht aber das Eigentümliche der einzelnen besonderen Erkenntnis gerade in dem Unterscheidenden, was sie von dem Gegenstande aussagt und was sie gegenüber anderen besonderen Erkenntnissen auszeichnet. Da aber von diesem Unterscheidenden in dem gesuchten Kriterium abstrahiert werden muß, so wäre es ungereimt, in ihm ein Kennzeichen der Wahrheit einzelner besonderer Erkenntnisse zu suchen. Der Begriff eines solchen Kriteriums schließt also einen Widerspruch ein. Dieser Beweis der Unmöglichkeit eines allgemeinen Kriteriums materialer Wahrheit widerlegt ein für allemal das Unternehmen der logizistischen Metaphysik. Es hat seine gute Bedeutung, daß diese Wider-

206

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

legung noch einmal am Eingang der transzendentalen Logik steht. Denn gäbe es so etwas wie das als unmöglich erwiesene Kriterium, dann erübrigten sich ja alle Bemühungen um eine transzendentale Logik. Dann brauchten wir nur dem Leitfaden der allgemeinen Logik zu folgen, um Kriterien materialer Wahrheit zu gewinnen.

3. Wir kommen nun zu der Aufgabe, den Tatbestand der metaphysischen Prinzipien zu untersuchen. Hier haben wir zuerst nach den metaphysischen Grundbegriffen und dann nach den metaphysischen Grundsätzen zu fragen. Wenn wir also vor der Frage stehen, welches die metaphysischen Grundbegriffe unserer Erkenntnis sind, so werden wir bei der Aufsuchung dieser Begriffe - Kant nennt sie in Anlehnung an die Terminologie des Aristoteles »Kategorien« - nicht rhapsodisch verfahren; denn wenn wir sie nur hie und da aufraffen, wo wir sie gerade antreffen, so würden wir weder eine Gewähr haben, daß das von uns auf gestellte System erschöpfend ist, noch eine solche, daß es wirklich nur metaphysische Grundbegriffe vereinigt und nicht etwa auch abgeleitete oder aus der Anschauung untergeschobene Begriffe. Alles dies soll ausgeschlossen sein. Das System soll metaphysische Begriffe enthalten. Es soll von diesen nur die Grundbegriffe enthalten, und es soll drittens alle metaphysischen Grundbegriffe enthalten, also vollständig sein. Wir brauchen daher ein methodisches Prinzip, das uns bei der Aufsuchung der Kategorien diese Gewähr bietet. Es gehört zu den glänzendsten Entdeckungen Kants, daß er dieses Prinzip wirklich gefunden hat. Er nennt es den »transzendentalen Leitfaden«; denn dieses Prinzip leitet ihn bei der Aufstellung des vollständigen Systems der metaphysischen Grundbegriffe oder Kategorien. Diese Entdeckung ist es eigentlich, wodurch es Kant geglückt ist, die Metaphysik zu einer Wissenschaft zu erheben. Denn der transzendentale Leitfaden ist nichts anderes als ein Leitfaden, vermöge dessen wir uns in dem metaphysischen Dunkel mit Sicherheit orientieren können. Die Darstellung, die Kant selbst von dieser und den darauf fußenden weiteren Entdeckungen gibt, ist äußerst kurz gehalten und mutet den

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

207

modernen Leser in vieler Hinsicht fremdartig und zum Teil auch unzulänglich an. Aber wir müssen bedenken, einmal, daß Kant als der erste Bahnbrecher auf diesem Gebiet nicht sogleich in der Lage war, eine vollkommen strenge Darstellung zu geben, wie wir sie in dem Reifestadium einer Wissenschaft verlangen müssen. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, daß er für seine Zeitgenossen geschrieben hat und nicht für uns, die wir mit ganz anderen Begriffen und einer ganz anderen Denkart als jene an diese Probleme herantreten. Er brauchte manches, worin wir Schwierigkeiten finden, nur kurz zu berühren oder konnte es ganz übergehen, weil er es bei seinen Zeitgenossen als geistiges Gemeingut voraussetzen durfte. Und er mußte andererseits manches mit großer Breite darlegen und verteidigen, worin wir heute eine Selbstverständlichkeit sehen. Wer diesen Teil der Kantischen Lehre aus Kants eigener Darstellung kennenlernt, wird in der Tat nicht leicht zum Verständnis der vollen Tiefe dieser Entdeckung durchdringen. Es sind erst Fries und Apelt gewesen, die dieses Lehrstück in seiner Bedeutung erkannt und ins rechte Licht gerückt haben. Wie wenig aber trotz der klaren Begründung, wie wir sie Fries' »Logik« und Apelts »Metaphy• sik« verdanken, Philosophen und gerade auch Historiker der Philoso• phie, die sich mit der Darstellung der Kantischen Lehre beschäftigen, Verständnis für die Bedeutung dieses Lehrstückes zeigen, dafür will ich zwei typische Beispiele anführen. Windelband, der angesehene Geschichtsschreiber der Philosophie, hat für die Kantische Entdeckung des transzendentalen Leitfadens nur ein mitleidiges Lächeln. Er bedauert, daß dieser sonst so tiefe Denker sich von der Liebhaberei für die Dreizahl so weit hat einnehmen lassen, sie zur Grundlage seines ganzen Systems zu wählen. Und ein so geistreicher und für die Ansichten anderer verständnisvoller Philosoph wie Simmel sagt in seinen Vorlesungen über Kant von dem Teil der Lehre, der sich mit den Urteilsformen und Kategorien beschäftigt, er könne als abstrus übergangen werden. Für uns ist nun dieser Teil der Kantischen Lehre gerade die Hauptsache und sozusagen das Herz des Ganzen. Deshalb will ich mich bemühen, die Schwierigkeiten, die die Kantische Darstellung dem modernen Leser bietet, auszugleichen und ausführlicher, als Kant selbst es getan hat, die Hauptpunkte begründen, auf die es für unseren Zweck ankommt.

208

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Es handelt sich um die Aufsuchung des Systems der Kategorien, das heißt der metaphysischen Grundbegriffe unserer Erkenntnis. Als Grundbegriffe sind sie nicht definierbar im üblichen Sinne dieses Wortes, das heißt, wir können uns über sie nicht dadurch verständigen, daß wir sie aus elementaren Begriffen zusammensetzen, die ihrerseits als anderweit gegeben gelten dürften. Sie sind auch nicht, wie die mathematischen Grundbegriffe, konstruierbar; denn hier fehlt uns die reine Anschauung, vermöge deren eine solche Konstruktion möglich wäre. Sie sind auch nicht wie die Grundbegriffe, die wir aus der Erfahrung schöpfen, einfache anschauliche Begriffe von der Art, daß wir uns über sie durch Vorweisung eines unter den Begriff fallenden Individuums verständigen könnten, wie dies mit Hilfe der Sinnesanschauung für empirische Grundbegriffe möglich ist. Sondern wir haben, wenn nicht ein künstliches Mittel gefunden wird, das uns hier aus der Verlegenheit hilft, nichts als die Worte der Sprache, um diese Begriffe festzuhalten und mitzuteilen. Diese Form der Verständigung ist aber all der Unsicherheit ausgesetzt, zu der die Zufälligkeit der Bildung der Sprache Anlaß gibt, all der Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit, wie sie nun einmal mit der Unvollkommenheit der Sprache verbunden ist. Es bedarf also eines künstlichen Hilfsmittels, um Sicherheit, Bestimmtheit und Eindeutigkeit über die fraglichen Begriffe zu erzielen. Nun wissen wir schon, daß Erfahrungsurteile ihrers,eits bereits metaphysische Prinzipien voraussetzen und nur auf Grund solcher möglich sind. Wir könnten uns also daranmachen, mit Hilfe der regressiven Methode die vorliegenden Erfahrungsurteile zu durchmustern, um zu sehen, auf welche metaphysischen Begriffe wir bei ihrer Zergliederung stoßen, und um diese Begriffe dann ihrerseits zu zerlegen, bis wir zu den nicht weiter zerlegbaren Grundbegriffen vordringen. Allein, dabei würden wir nicht nur auf die schon erwähnte Schwierigkeit stoßen, daß wir auf diese Weise weder eine Gewähr für die Vollständigkeit des gefundenen Systems erhielten, noch dafür, daß wir wirklich bis zu den Grundbegriffen vorgedrungen wären, sondern auch auf die andere Schwierigkeit, daß in den Erfahrungsurteilen die metaphysischen Begriffe, die wir suchen, als solche gar nicht vorkommen. Jedes beliebige Erfahrungsurteil kann uns hier als Beispiel dienen. Nehmen wir das Urteil: »Die Sonne erwärmt den Stein« und fragen wir nach den

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

209

metaphysischen Begriffen, die darin zur Anwendung kommen. Wir sehen sofort: es wäre schwierig, auf diese Wei,se zum Ziel zu gelangen. Weder der Begriff des Steins noch der der Sonne, noch der der Erwärmung sind metaphysische Begriffe. Offenbar treten also in diesem Urteil gar keine metaphysischen Begriffe explizit auf. Und doch wissen wir, daß dieses Urteil metaphysische Begriffe voraussetzt. Wir denken nämlich durch dieses Urteil ein Verhältnis zwischen der Sonne und der Erwärmung des Steines, derart, daß die Erwärmung des Steines die Wirkung des Sonnenscheins ist, und dieser Begriff der Bewirkung der Erwärmung des Steines durch den Sonnenschein ist ein metaphysischer Begriff: der Begriff der Kausalität. Dieser Begriff, der das Urteil erst möglich macht, tritt aber in der Tat im Urteil selbst gar nicht explizit auf. Wir würden daher, wenn wir auf ein solches Vorgehen angewiesen blieben, schwerlich jemals das gesuchte System entdecken, wie man es ja in der Tat bis zur Auffindung des transzendentalen Leitfadens durch Kant nicht entdeckt hat. Es kommt also in der Tat alles darauf an, eine eigene Methode ausfindig zu machen, die uns von all den Zufälligkeiten befreit, denen unser Vorgehen bei der Zergliederung einzelner gegebener Erfahrungsurteile ausgesetzt bliebe, eine Methode also, die uns, unabhängig von der Zergliederung einzelner gegebener Urteile, zu dem System der Kategorien führt. Angesichts der Schwierigkeiten dieser Aufgabe zeigt sich nun der Vorteil der kritischen Methode in ihrem hellsten Licht. Erinnern wir uns noch einmal: Weshalb bedürfen wir eigentlich überhaupt dieser kritischen Methode? Mit anderen Worten: Woran scheitert zuletzt der Dogmatismus in der Metaphysik? Er scheitert an der Evidenzlosigkeit der metaphysischen Prinzipien. Kein noch so großer Scharfsinn kann als solcher die in dieser Tatsache begründete Schwierigkeit überwinden. Denn sobald wir den Boden der gewöhnlichen Erfahrung, auf dem wir uns vermöge der Anschauung mit Sicherheit orientieren, verlassen und zu den metaphysischen Problemen aufsteigen, geht uns mit der Anschauung die Klarheit verloren, und auch der größte Denker vermag nicht, bei Abstraktion von dem anschaulichen Gehalt der Erfahrung die metaphysischen Probleme ohne weiteres auch nur deutlich aufzufassen und zu formulieren. Es fehlt jede feste Orientierung, wie sie nur das Gedankengerüst des Systems bieten kann, das wir erst suchen.

210

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Es kommt also alles auf die Erfindung einer Kunst an, zu den höchsten Abstraktionen der Metaphysik, zu ihren allgemeinsten Grundbegriffen und Grundsätzen, nach einem sicheren Leitfaden zu gelangen, ohne daß wir uns zu diesem Zweck des abstrakten Verstandesgebrauchs bedienen und uns also auf bloßes Spekulieren einlassen müßten. Wie sollen wir aber, wenn wir die metaphysischen Probleme umgehen, doch zu ihrer Lösung gelangen? Das erscheint als eine widerspruchsvolle und darum unlösbare Aufgabe. Und doch ist es gerade diese Aufgabe, die durch die Entdeckung des transzendentalen Leitfadens wirklich gelöst wird. Die besondere Schwierigkeit unserer Aufgabe ging darauf zurück, daß die gesuchten metaphysischen Begriffe, die in den Erfahrungsurteilen angewendet werden, in diesen Urteilen gar nicht explizit auftreten. Gerade die Einsicht in diesen Grund der Schwierigkeit ist es, die uns den Weg zur Lösung weist. Nehmen wir wieder unser Beispiel: Die Sonne erwärmt den Stein. Die Rolle, die der Begriff der Kausalität hier spielt, obgleich er in diesem Urteil nicht explizit vorkommt, tritt unverkennbar hervor, sobald wir dem Urteil eine deutlichere Formulierung geben und es so aussprechen: Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird der Stein warm. Auch hier kommt zwar der Begriff der Kausalität nicht explizit vor; wir erkennen aber doch an der Form des Urteils - Wenn-So - die Rolle dieses Begriffs. Durch das Verhältnis des Vordersatzes zum Nachsatz drückt sich die Anwendung des Begriffs der Kausalität aus, nämlich die Notwendigkeit der Folge, wie diese im Nachsatz genannt wird, im Verhältnis zum Grund, wie dieser im Vordersatz genannt wird. Es ist also die hypothetische Form des Urteils, durch deren Gebrauch hier die Behauptung des Kausalverhältnisses zwischen dem Sonnenschein und der Erwärmung eingeführt wird. Vermittels der hypothetischen Form des Urteils kommt zu der Materie des Urteils, die aus der Anschauung stammt, der metaphysische Gedanke der kausalen Verknüpfung hinzu. Der transzendentale Leitfaden beruht nun auf dem Gedanken, daß wir die metaphysischen Grundbegriffe oder Kategorien vollständig auffinden können, wenn wir eine vollständige übersieht über die möglichen Urteilsformen haben. Die Urteilsform ist dasjenige, was durch das Urteil zu der anschaulichen Erkenntnis hinzukommt, die die Materie des

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

211

Urteils bildet. Da aller Gehalt unserer Urteile ursprünglich aus der Anschauung stammt, so kann, was in unserer Erkenntnis metaphysisch ist, in der Tat nur in dem gefunden werden, was übrigbleibt, wenn wir von allem Gehalt unserer Urteile abstrahieren. Die Kategorien sind daher nichts anderes als die Begriffe von der Bestimmung des Mannigfaltigen der Anschauung durch die bloße Form des Urteils. Daraus folgt, daß es gerade so viele und nur so viele Kategorien geben wird, wie es Urteilsformen gibt. Und der Leitfaden zur Entdeckung des vollständigen Systems der Kategorien besteht in diesem Parallelismus zwischen der Tafel der Urteilsformen und der Tafel der Kategorien. Kant unterzieht daher zunächst die in der Logik vor ihm schon erreichte übersieht über die Urteilsformen einer Nachprüfung. Er findet dabei, daß jedes vollständige Urteil hinsichtlich seiner Form nach vier Momenten bestimmt sein muß und daß innerhalb jedes dieser vier Momente drei mögliche Grundformen bestehen. Jedes vollständige Urteil muß nach den folgenden Momenten bestimmt sein, bloß darum, weil es ein Urteil ist, das heißt ohne alle Rücksicht auf seinen Gehalt, der aus der Anschauung stammt. Erstens: Das Urteil ist die Erkenntnis der Gegenstände durch Begriffe, im Gegensatz zur Erkenntnis der Gegenstände durch die Anschauung. Da uns aber ursprünglich Gegenstände überhaupt nur durch Anschauung gegeben sind, so muß sich jedes Urteil auf die Anschauung beziehen und wird nur dadurch Erkenntnis eines Gegenstandes. Diese Beziehung auf den Gegenstand, der das Subjekt des Urteils bildet, ist aber nur insofern bestimmt, als das Urteil eine quantitative Bestimmung enthält hinsichtlich des Umfangs, für den es gilt. Zweitens: Jedes Urteil muß eine Prädikatsbestimmung enthalten, das heißt einen Begriff, durch den es das Subjekt des Urteils bestimmt. Drittens: Es muß bestimmt sein hinsichtlich des Verhältnisses, in das es Subjekt und Prädikat zueinander setzt. Viertens: Das Urteil muß, da es nicht an und für sich schon eine gültige Erkenntnis darstellt, mittelbar, durch den Grund seiner Gültigkeit, hinsichtlich seines Erkenntniswertes bestimmt sein. Daher die vier Momente der Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Welches sind nun innerhalb jedes dieser vier Momente die möglichen Grundformen?

212

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

Der Quantität nach bezieht sich das Urteil entweder unmittelbar auf einen bestimmten Gegenstand oder, sofern es sich auf den Gegenstand nur durch einen Begriff bezieht und ihn also nur als Glied einer Klasse bestimmt, entweder auf einen Teil dieser Klasse oder auf die ganze Klasse. Demgemäß ist jedes Urteil entweder ein einzelnes oder ein besonderes oder ein allgemeines. Der Qualität nach bestimmt das Urteil seinen Gegenstand durch einen Begriff entweder positiv oder, wenn dies nicht der Fall ist, so verneint es entweder nur die positive Bestimmung, oder es setzt den Gegenstand positiv in die durch die Negation jenes Begriffs definierte Klasse. Jedes Urteil ist demgemäß entweder bejahend oder verneinend oder beschränkend. Hinsichtlich des Moments der Relation ist zunächst zu unterscheiden, ob die Kopula Subjekt und Prädikat überhaupt erst zu einem einfachen Urteil verbindet, oder ob die durch sie zu einem Urteil verbundenen Glieder selbst bereits Urteile sind. Die Relation zwischen diesen Urteilen ist dann ihrerseits entweder eine einseitige oder eine wechselseitige, eine Subordination oder eine Koordination. Demgemäß ist jedes Urteil entweder kategorisch oder hypothetisch oder divisiv (Kant sagt irrtümlich »disjunktiv«). Was die Modalität betrifft, so ist das Urteil hinsichtlich seiner Gültigkeit entweder überhaupt nicht bestimmt, oder aber, wenn es hinsichtlich seiner Gültigkeit bestimmt ist, so ist der Grund der Gültigkeit entweder empirisch oder rational. Hiernach ist jedes Urteil entweder problematisch oder assertorisch oder apodiktisch. So ergibt sich folgende

Tafel der Urteilsformen: Quantität: Einzelne Besondere Allgemeine

Qualität: Bejahende Verneinende Beschränkende

Relation: Kategorische Hypothetische Divisive

Modalität: Problematische Assertorische Apodiktische

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

213

Haben wir einmal diese Tafel der Urteilsformen, so können wir ohne weiteres auch die Tafel der Kategorien aufstellen. Denn wir erhalten diese, wenn wir der Reihe nach jede einzelne Urteilsform ersetzen durch den Begriff von der Bestimmung eines Gegenstandes durch diese Urteilsform. Wir erhalten dann die folgende

Tafel der Kategorien: Quantität: Einheit Vielheit Allheit

Qualität: Realität Negation Limitation

Relation: Substantialität Kausalität Wechselwirkung

Modalität: Möglichkeit Wirklichkeit Notwendigkeit

So gelingt es Kant durch seinen transzendentalen Leitfaden, zum ersten Mal eine systematische Übersicht über alle metaphysischen Grundbegriffe zu gewinnen. Und insofern liegt in der Entdeckung des transzendentalen Leitfadens die größte Entdeckung, die unmittelbar für die Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft gemacht werden konnte. Sie befreit uns wirklich von all der Unsicherheit, der wir sonst ausgesetzt blieben hinsichtlich der Lösung dieser Aufgabe. Wir sind jetzt zum Beispiel unabhängig von aller Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit der sprachlichen Bezeichnung. So können wir die metaphysischen Grundbegriffe mit vollständiger Sicherheit von einer Sprache in die andere übersetzen, einfach indem wir dem Leitfaden der Urteilsformen folgen. Wir bestimmen die fraglichen Begriffe unabhängig von der Wahl der sie bezeichnenden Worte nach der Stelle, die sie in dieser Topik haben, das heißt nach dem Ort ihres Ursprungs in unserer Erkenntnis, durch den sie der einen oder der anderen Urteilsform zugeordnet sind. Wir können uns also über die allgemeinen metaphysischen Begriffe verständigen, ohne uns auf die metaphysische Spekulation selbst einzulassen.

214

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Die Kategorien sind hiernach durchaus keine angeborenen Begriffe, wie es sich die Rationalisten früher vorgestellt hatten. Wenn dem so wäre, dann müßten sie ja doch als Begriffe von vornherein im Besitz des Verstandes sein und explizit im Gehalt des Urteils auftreten. Das ist nicht der Fall. Sie können nur gebildet werden durch Reflexion auf die Form des Urteils. Dieses Verhältnis müssen wir im Auge behalten, um nicht naheliegenden Täuschungen zum Opfer zu fallen. Es ist allemal eine solche Täuschung, wenn man meint, in den Kategorien Begriffe wie die gewöhnlichen, aus der Anschauung stammenden Artbegriffe vor sich zu haben. Das System der Kategorien ist nicht, wie man es sich gewöhnlich vorstellt, ein Fachwerk von Klassenbegriffen. Hierfür noch ein Beispiel. Wir können sagen: »Der Stein ist eine Substanz.« Wir können also allerdings den Substanzbegriff der Form nach an der Stelle des Prädikats in das Urteil einführen. Aber was bedeutet diese Aussage in Wahrheit? Recht verstanden nichts anderes, als daß der Stein etwas ist, das nur im Subjekt eines kategorischen Urteils gedacht werden kann. Der Substanzbegriff gewinnt hier also nur den Anschein eines Prädikats von der gewöhnlichen Art der aus der Anschauung stammenden Klassenbegriffe, von der Art der Prädikate in Urteilen wie die: der Stein ist hart, der Stein ist warm, der Stein hat Gewicht, und so weiter. Wenn es nicht mög.lich wäre, die metaphysischen Grundbegriffe auch explizit in das Urteil einzuführen, dann wäre ja übrigens unser ganzes jetziges Unternehmen gegenstandslos. Denn dieses geht doch darauf aus, die metaphysischen Grundbegriffe systematisch aufzustellen. Und zwar suchen wir dieses System nur, um das andere, das der metaphysischen Grundurteile, aufzustellen. In diesen Urteilen müssen die fraglichen Begriffe vorkommen. Metaphysische Urteile entstehen als solche nur auf Grund jener Abstraktion, die zur Bildung der metaphysischen Begriffe führt. Die Verbindung dieser Begriffe mit den Kriterien ihrer Anwendbarkeit liefert uns das System der metaphysischen Grundurteile. Auf der anderen Seite muß man sich vor der Täuschung hüten, als ob die Kategorien nichts anderes wären als die Urteilsformen. Wenn sie dasselbe wären, so wäre die Auffindung des transzendentalen Leitfadens nicht die große Entdeckung, die sie wirklich ist. Die Kategorien

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

215

sind nicht die Urteilsformen, sondern entsprechen ihnen nur nach einem Verhältnis umkehrbar eindeutiger Zuordnung. Die Urteilsformen sind an und für sich leere logische Formen. Den einfachsten Beweis dafür bietet ein beliebiges analytisches Urteil. Die Kategorien kommen durch die Urteilsform zum Gehalt des Urteils hinzu, aber nur bei deren synthetischem Gebrauch. Die hypothetische Form des Urteils zum Beispiel, durch die wir den Begriff der Kausalität einführten, zeigt sich als eine an und für sich leere logische Form, die diesen Begriff noch nicht enthält, in jedem Beispiel eines analytischen hypothetischen Urteils. So bei jedem Schluß. Sage ich zum Beispiel: »Wenn Sokrates ein Mensch ist und alle Menschen sterblich sind, so ist Sokrates sterblich«, so wird hier durch das Verhältnis des Vordersatzes zum Nachsatz kein Kausalverhältnis eingeführt, sondern nur ein logisches Verhältnis der Schlußfolgerung behauptet. Oder noch deutlicher im Falle des identischen Urteils: »Wenn alle Menschen sterblich sind, so sind alle Menschen sterblich.« Hier wird vollends klar, daß nur die hypothetische Form des Urteils vorliegt, aber durchaus nicht der Gedanke einer kausalen Verknüpfung behauptet wird. Die Kategorien sind auch nicht aus den Urteilsformen ableitbar ihrer inhaltlichen Bedeutung nach. Es wird hier daher auch keineswegs eine logische Zurückführung der Kategorien auf die Urteilsformen beabsichtigt, sondern wir haben es nur zu tun mit der Entdeckung des Systems der Kategorien auf Grund des Parallelismus dieses Systems mit dem der Urteilsformen, das heißt auf Grund eines Verhältnisses umkehrbar eindeutiger Zuordnung zwischen je einer Urteilsform und einer Kategorie. In der Auffindung dieses Verhältnisses besteht die große Kantische Entdeckung des transzendentalen Leitfadens. Wir können also sagen, daß hier ein Verhältnis logischer Abbildung vorliegt, um einen in der neueren Mathematik üblich gewordenen Ausdruck zu benutzen, einer Abbildung des Systems der metaphysischen Grundabstraktionen auf das der logischen. Eine einfache Analogie aus der Mathematik wäre das bekannte Beispiel, das uns die analytische Geometrie bietet: das Verhältnis umkehrbar eindeutiger Zuordnung zwischen je einem geometrischen Gebilde und einem entsprechenden arithmetischen Ausdruck, wo dieser zur rechnerischen Bestimmung von jenem dient. Er ist das Hilfsmittel der rechnerischen Bestimmung des geometrischen Gebildes gerade

216

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

so, wie die Urteilsform das Hilfsmittel des Verstandes ist, sich das entsprechende metaphysische Grundverhältnis zum Bewußtsein zu bringen. Hier wie dort kann man daher die Verhältnisse zwischen den Gebilden der einen Art erforschen durch das Studium der Verhältnisse der Gebilde der anderen Art. Der Mathematiker bedient sich dieses Umstands, wenn er die Widerspruchslosigkeit des Axiomensystems der gewöhnlichen Geometrie beweist, indem er dieses Axiomensystem logisch auf ein entsprechendes System arithmetischer Lehrsätze abbildet. Wenn dieses arithmetische System widerspruchslos ist, so muß es auch jenes geometrische Axiomensystem sein, für das sich der Beweis der Widerspruchslosigkeit auf direktem Wege nicht erbringen ließe. Ahnlich liegt es auch hier. Wir können unmittelbar nicht mit Sicherheit des Gelingens das gesuchte System der Kategorien aufstellen. Wir schlagen deshalb einen Umweg ein, indem wir das System der Urteilsformen aufstellen und uns dann an ihm über die gegenseitigen Verhältnisse der darin vorkommenden Abstraktionen orientieren. Wir brauchen dann schließlich nur gleichsam eine Übersetzung vorzunehmen, indem wir für die gefundenen Urteilsformen den Namen der entsprechenden Kategorien einsetzen, wobei sich die für diese gesuchten Verhältnisse von selber ergeben - von selber, das heißt, ohne daß wir uns auf die inhaltliche Bildung der metaphysischen Abstraktionen einlassen. Wir können mit den bloßen Worten operieren, ohne auf deren Bedeutung zu reflektieren.

4. Nun erhebt sich aber die Frage: Wie gelangen wir zur Anwendung der metaphysischen Grundbegriffe oder Kategorien, in deren Besitz wir jetzt sind? Wenn wir durch die Kategorien erkennen wollen, müssen wir sie auf die Sinnesanschauung beziehen. Denn sie sind für sich bloße Formen der Verknüpfung, ohne uns selbst schon Gegenstände zu geben, die wir durch sie verknüpft denken könnten. Diese Gegenstände können wir nur aus der Sinnesanschauung nehmen. Daher entsteht die Frage: Welches sind die Kriterien für die Anwendung der Kategorien auf die Sinnesanschauung? Die Kategorien sind metaphysische Begriffe: Sie gehören dem reinen Verstande an. Die Sinnesanschauung, auf die sie angewendet werden sollen, ist mit ihnen völlig ungleichartig und weist an und für sich keine

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

217

Beziehung zu ihnen auf, so daß wir ohne weitere Anweisung wissen könnten, welche Kategorie wir auf eine bestimmte Sinnesanschauung anwenden sollen und, umgekehrt, auf welche Sinnesanschauung wir eine bestimmte Kategorie anwenden sollen. Wir bedürfen daher eines Mittelbegriffs, um diese Anwendung möglich zu machen. Dieser Mittelbegriff, der die Bedingung der Anwendung der Kategorie auf die Sinnesanschauung bildet, muß einerseits gleichartig sein mit der Sinnesanschauung, andererseits mit der Kategorie. Das gesuchte Kriterium muß sich, um uns als solches dienen zu können, an der Sinnesanschauung vorfinden. Es muß also selbst einer anschaulichen Erkenntnisart angehören. Es darf aber keine empirische Vorstellung sein; denn sonst würde sich die Frage wiederholen, welche Kategorie darauf anzuwenden sei. Das gesuchte Kriterium muß der Kategorie vielmehr a priori zugeordnet sein und also selbst eine Vorstellung a priori sein. Es muß daher auf der einen Seite einer anschaulichen Vorstellungsart angehören, auf der anderen Seite aber zugleich einer Erkenntnisweise a priori. Beiden Bedingungen genügen nur die rein anschaulichen Vorstellungen des Raumes und der Zeit. Sie allein verbinden Anschaulichkeit mit Apriorität der Erkenntnis. Unter den rein anschaulichen Vorstellungen kann aber nur die der Zeit jener allgemeinen Anforderung genügen. Denn die Zeit ist die Form der Sinnesanschauung überhaupt, während der Raum nur die Form der äußeren Sinnesanschauung ist. Wir suchen aber hier die allgemeinen Kriterien der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erscheinungen überhaupt. Diese allgemeinen Kriterien der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erscheinungen können nur in gewissen reinen Zeitbestimmungen liegen. Zu jeder Kategorie muß eine Zeitbestimmung a priori gehören als das Kriterium der Anwendbarkeit der Kategorie auf die Erscheinungen. Wir wollen daher jetzt die Tafel der reinen Zeitbestimmungen aufsuchen, die die Kriterien der Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erscheinungen darstellen. Kant nennt sie die transzendentalen oder mathematischen Schemata der Kategorien. Erstens: Im Moment der Quantität haben wir es mit den metaphysischen Größenbegriffen zu tun. Der allgemeinste Größenbegriff ist der Begriff eines gleichartigen Mannigfaltigen, das ein Mehr oder Weniger

218

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

zuläßt. Ich sage: eines gleichartigen Mannigfaltigen, weil wir nur unter dieser Bedingung fragen können, ob es mehr oder weniger von einer bestimmten Art enthält. Von dem, was sich hinsichtlich der Vielheit des in ihm enthaltenen gleichartigen Mannigfaltigen bestimmen läßt, sagen wir, daß es Quantität hat, und wir nennen es insofern ein Quantum. Welches ist nun die anschauliche Bedingung der Anwendbarkeit der metaphysischen Quantitätsbegriffe? Jede Bestimmung der Quantität setzt eine anschauliche Form der Anordnung des zu bestimmenden Mannigfaltigen voraus. Denn die Bestimmung der Quantität geschieht nur dadurch, daß wir die Vielheit der Teile der Reihe nach in der Anschauung durchlaufen bis zur Erschöpfung des Ganzen. Es sind daher nur extensive Größen quantitativ bestimmbar, das heißt solche, deren Teile sich außer einander befinden, so daß das Quantum durch die anschauliche Aneinanderreihung der Teile aus diesen zusammengesetzt werden kann. Solche anschaulichen Formen der Zusammensetzung eines gleichartigen Mannigfaltigen haben wir in Raum und Zeit. Man bestimmt die in einem anschaulichen Quantum enthaltene Vielheit durch die Stelle in der Reihe, bis zu welcher wir fortschreiten müssen, um das Ganze zu durchlaufen. Der Begriff von der Bestimmung der Stelle eines Gegenstandes in einer Reihe ist der Begriff der Zahl. Die notwendige Bedingung der Anwendbarkeit der metaphysischen Quantitätsbegriffe ist daher die Zählbarkeit und also die Extensität. Alle anschaulichen Quanta sind infolge der Stetigkeit des Raumes und der Zeit selber stetig ausgedehnte Größen. Darauf beruht ihre Meßbarkeit, das heißt, die Bestimmbarkeit der Zahl der in einem stetigen Quantum enthaltenen Einheiten. Man kann die extensiven Größen daher auch erklären als solche, deren Unterschiede mit ihnen selbst gleichartig sind. So zum Beispiel ist der Unterschied zweier Strecken selbst wieder eine Strecke. Eine extensive Größe läßt sich also durch hinreichend vielfache Hinzufügung eines ihrer Teile zu sich selbst erschöpfen. Diese Bedingung der Meßbarkeit ist, der Stetigkeit der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung zufolge, für alle anschaulichen Quanta erfüllt. Die Extensität ist daher das notwendige und hinreichende Kriterium der Anwendbarkeit der metaphysischen Größenbegriffe auf die Sinnesanschauung.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

219

Zweitens: Die Qualität ist die Bestimmung eines Gegenstandes durch die Sinnesanschauung. Wenn wir in dem, was wir anschaulich erkennen, von der Extension abstrahieren, so bleibt doch noch etwas übrig, was der Empfindung entspricht, eben die Qualität. An ihr muß sich noch eine rein anschauliche Bestimmung finden, wenn es möglich sein soll, den metaphysischen Begriff der Realität darauf anzuwenden. Abstrahieren wir von dem Spezifischen der Qualität, so bleibt in der Tat noch eine formale Bestimmung übrig: Es ist die eines gleichartigen Mannigfaltigen, das ein Mehr oder Weniger zuläßt. Es kann nämlich von jeder bestimmten Sinnesqualität immer ein Mehr oder Weniger vorgestellt werden. Für jede Qualität gibt es einen stetigen Übergang von der Erfüllung eines Zeitmomentes durch diese Qualität bis zu seiner völligen Leerheit. Die Qualität hat also eine stetig veränderliche Größe. Diese ist jedoch nicht extensiv und daher auch nicht durch Messung bestimmbar, sondern nur nach Graden vergleichbar. Wir können eine Helligkeit nicht in Teilhelligkeiten zerlegen oder einen Ton in Teiltöne. Der Untersdiied zweier Helligkeitsgrade ist nicht selbst wieder eine Helligkeit, und der Unterschied zweier Tonintensitäten ist nicht selbst ein Ton. Es läßt sich also nicht zahlenmäßig bestimmen, wieviel in einer Realität vorhanden ist, sondern Realitäten lassen sich der Größe nach nur gradweise vergleichen. Solche Größen heißen intensive Größen. Das mathematische Schema der Qualität ist daher die Intensität. Drittens: Unter dem Moment der Relation stehen die metaphysischen Verhältnisbegriffe. Das Zeitverhältnis von Erscheinungen ist entweder das der Zeitfolge, das heißt das des Nacheinanders, oder der Gleichzeitigkeit, das heißt des Zugleichseins. Das Nacheinander ist entweder ein Verhältnis der Beharrlichkeit oder ein solches des Wechsels, je nachdem, ob Gleichartiges oder Ungleichartiges aufeinander folgt. Daher die drei möglichen Zeitverhältnisse: Beharrlichkeit, Wechsel, Gleichzeitigkeit. Wie entsprechen nun diese Schemata den Kategorien der Relation? a) Unter dem Begriff der Substanz denken wir die Identität eines Gegenstandes mit sich selbst, wohlgemerkt: eines Gegenstandes und nicht nur des Begriffs des Gegenstandes. Das Schema der Substantialität ist daher die Beharrlichkeit. Aller Wechsel kann nur ein solcher der Zu-

220

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

stände einer Substanz sein. Denn wenn die Substanz selbst wechselte, so würde sie aufhören zu existieren. Die Substanz verändert sich nur, das heißt, sie nimmt im Laufe der Zeit verschiedene Zustände an. Veränderung setzt aber allemal etwas Beharrliches voraus, dem nacheinander verschiedene Zustände zukommen. b) Unter dem Begriff der Kausalität denken wir die Abhängigkeit dessen, was ist, von einem anderen, so daß das Sein des einen die notwendige Folge des Seins des anderen, dieses also die hinreichende Bedingung von jenem ist. Dieses nennen wir die Ursache, jenes die Wirkung. Die Substanz ist nun, was das Zeitverhältnis betrifft, nicht selbst bedingt - denn sie ist beharrlich -, sondern bedingt sind nur ihre Zustände, wiefern in ihnen ein Wechsel stattfindet. Das Schema der Wirkung ist daher die Veränderung. Die zeitliche Form der Abhängigkeit ist die des zeitlich folgenden von dem zeitlich Vorhergehenden. Diese Abhängigkeit, das heißt die Notwendigkeit der Folge, kann sich aber anschaulich nur durch die Regelmäßigkeit dokumentieren, das heißt dadurch, daß immer auf das eine das andere folgt. Das Schema der Kausalität ist daher die Regelmäßigkeit der Zeitfolge der Erscheinungen. c) Während wir im Begriff der Kausalität die einseitige Abhängigkeit einer Erscheinung von einer anderen denken, denken wir im Begriff der Wechselwirkung ihre gegenseitige Abhängigkeit voneinander. Wechselseitigkeit des Zeitverhältnisses ist aber Gleichzeitigkeit. Das Schema der Wechselwirkung ist daher die Gleichzeitigkeit. Viertens: Die Kategorien der Modalität betreffen nicht das Verhältnis der Dinge zueinander, sondern das Sein der Dinge selbst. Ihre Schemata sind demgemäß nicht Begriffe von Zeitverhältnissen, sondern vom Verhältnis der Dinge zur Zeit selbst. Dieses Verhältnis ist nun entweder ein bestimmtes oder ein unbestimmtes. In diesem Falle ist die Existenz des Gegenstandes überhaupt nicht zeitlich bestimmt, sondern er genügt nur den allgemeinen Bedingungen des Seins zu einer Zeit überhaupt. In jenem Falle ist das Verhältnis des Gegenstandes zur Zeit entweder ein solches zu einer bestimmten einzelnen Zeit oder ein solches zu jeder Zeit. Die Schemata der Modalität sind daher: unbestimmte Zeit, bestimmte Zeit, jede Zeit.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

221

Wie sind nun diese den Kategorien der Modalität zuzuordnen? a) Möglich im metaphysischen Sinne ist ein Gegenstand, der den formalen Bedingungen der Erfahrung nicht widerspricht, das heißt, der mit den allgemeinen Gesetzen, von denen das Dasein der Dinge in der Zeit abhängt, übereinstimmt. Das Schema der Möglichkeit ist daher das Sein zu einer unbestimmten Zeit. b) Wirklich ist das, was den materialen Bedingungen der Erfahrung genügt, das heißt, was zu behaupten wir einen positiven Grund in der Sinnesanschauung haben. Diese bezieht sich aber stets auf eine einzelne bestimmte Zeit. Das Schema der Wirklichkeit ist daher das Sein zu einer bestimmten Zeit. c) Notwendig im metaphysischen Sinne ist dasjenige, dessen Gegenteil den formalen Bedingungen der Erfahrung widerspricht und das daher selbst durch diese Bedingungen bestimmt ist. Diese Bedingungen gelten aber allgemein, ohne Unterschied der Zeit. Das Schema der Notwendigkeit ist daher das Sein zu jeder Zeit. So erhalten wir die folgende

Tafel der mathematischen Schemata: Quantität: Extensität

Qualität: Intensität

Relation: Beharrlichkeit Wechsel G leichzei tigkei t

Modalität: Unbestimmte Zeit Bestimmte Zeit Jede Zeit

Es ist auffallend, daß wir zu den ersten beiden Momenten nur je ein Schema gefunden haben und nicht wie in den beiden anderen drei, entsprechend den drei Kategorien. Das ist nicht zufällig, sondern hat einen tiefen Grund in der Natur der Sache. Dieser Grund liegt nämlich in der Relativität der anschaulichen Größen, die ihrerseits auf der Stetigkeit und Unendlichkeit des Raumes und der Zeit beruht. Dies zeigt sich im Moment derQuantität daran, daß sich Einheit und Vielheit anschau-

222

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

lieh gar nicht unterscheiden lassen. Der Unterschied besteht hier nur in der denkenden Auffassung. Eine Einheit des Maßes läßt sich insbesondere nur willkürlich festsetzen. Ebensowenig unterscheiden sich im Moment der Qualität Realität und Negation durch irgendwelche anschaulichen Bestimmungen. Anschaulich sind uns vielmehr nur positive Realitäten gegeben. Der Unterschied liegt auch hier nur in der denkenden ~uffassung. Wenn wir nun diese Schemata mit den zugehörigen Kategorien verbinden, so erhalten wir die gesuchten Regeln der Anwendung der Kategorien auf die Sinnesanschauung. Diese Regeln sind nichts anderes als die metaphysischen Grundsätze, die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes. Wir sind daher jetzt in der Lage, das System dieser Grundsätze vollständig aufzustellen. 1. Das Prinzip der Anwendung der Größenbegriffe auf die Erfahrung: Alle Gegenstände der Anschauung sind stetig ausgedehnte Größen, die nach Zahlen meßbar sind.

2. Das »Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung«, wie Kant es nennt: Alle anschaulichen Beschaffenheiten der Gegenstände sind stetig veränderliche Größen, die nach Graden vergleichbar sind. 3. Die »Analogien der Erfahrung« oder die Prinzipien der zeitlichen Verknüpfung der Erscheinungen: a) Allem Wechsel der Erscheinungen liegen Substanzen zugrunde, die schlechthin beharrlich sind. b) Jede Veränderung ist die Wirkung einer Ursache. c) Alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, stehen m Wechselwirkung. 4. a) b) Zeit. c)

Die »Postulate des empirischen Denkens überhaupt«: Das Kriterium der Möglichkeit ist das Sein zu irgendeiner Zeit. Das Kriterium der Wirklichkeit ist das Sein zu einer bestimmten Das Kriterium der Notwendigkeit ist das Sein zu jeder Zeit.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

223

5.

Hier haben wir nun die vollständige Tafel der metaphysischen Grundsätze. Kant nennt sie Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung. In der Tat: Ohne sie ist keine Erfahrung möglich, wenn wir diese von bloßer Sinnesanschauung unterscheiden. Damit aus einzelnen Sinnesanschauungen Erfahrung wird, das heißt, damit wir den Gegenstand der Sinnesanschauung denkend im Urteil bestimmen können, müssen wir die Kategorien auf die Sinnesanschauung anwenden. Und dies kann nur geschehen vermittels des mathematischen Schematismus der Kategorien und somit durch Anwendung dieser metaphysischen Grundsätze. Es gibt also, was alle Philosophen vor Kant, höchstens Hume ausgenommen, übersehen haben, metaphysische Prinzipien für die Möglichkeit der Erfahrung. Erfahrung beruht nicht auf einer bloß logischen Vergleichung der beobachteten Erscheinungen, sondern erst auf der synthetischen Verknüpfung dieser Erscheinungen vermittels der Kategorien. Diese Einsicht bildet für Kant die Grundlage, nun auch die objektive Gültigkeit der auf gewiesenen Prinzipien sicherzustellen, freilich nur ihre objektive Gültigkeit für die Gegenstände möglicher Erfahrung. Wenn wir nämlich den Begriff eines Gegenstandes der Erfahrung analysieren, so finden wir, daß in diesem Begriff eine synthetische Einheit des Mannigfaltigen der sinnlichen Erscheinungen gedacht wird, eine Verknüpfung, die wir ihrerseits nicht wieder anschaulich, sondern nur im Urteil erkennen können. Die obersten Prinzipien dieser Verknüpfung sind aber die aufgewiesenen Grundsätze. Daß daher diese Grundsätze für alle Gegenstände möglicher Erfahrung gelten, beruht gerade darauf, daß sie selbst Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und eben dadurch zugleich aller Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Denn wir können von einem Gegenstande nur dadurch Erfahrung haben, daß wir ihn den metaphysischen Grundsätzen unterwerfen. Auf diesen metaphysischen Grundsätzen beruht denn auch ganz und gar die Möglichkeit der Naturwissenschaft. Und es gibt unter den Naturwissenschaften eine eigene Disziplin, die sich aus diesen Grundsätzen ohne Zuhilfenahme wirklicher Erfahrung aufbauen läßt, die

224

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

»reine Naturwissenschafl:«, wie Kant sie nennt. Die Sätze dieserWissenschafl: sind selbst nichts anderes als die allgemeinsten Naturgesetze überhaupt. Und nur durch ihre Anwendung auf bestimmte Beobachtungen gelangen wir zu den besonderen Naturgesetzen. Diese reine Naturwissenschafl: ist daher nichts anderes als ein System der Metaphysik der Natur. Die Prinzipien dieses Systems haben wir an Hand des mathematischen Schematismus der Kategorien vollständig auf gewiesen. Blicken wir zurück, so übersehen wir, wie Kant die große Aufgabe löst, die er zwei Jahrzehnte zuvor der kritischen Methode gestellt hatte, als er in seiner Preisschrifl: über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral ausführte, die eigentliche Aufgabe für die wissenschafl:liche Ausbildung der Metaphysik gehe nicht so sehr dahin, aus angenommenen Prinzipien ein System zu errichten, als vielmehr dahin, die tragfähigen Prinzipien zu einem solchen systematischen Aufbau überhaupt erst zu suchen. Diese Aufgabe löst die transzendentale Analytik, nachdem durch die transzendentale Asthetik diejenigen Vorstellungen a priori bereits ausgesondert sind, die nicht in die Reihe der metaphysischen Prinzipien gehören, nämlich die rein anschaulichen Vorstellungen des Raumes und der Zeit. Und so, wie die transzendentale Asthetik die Beantwortung der Frage enthält: Wie ist reine Mathematik möglich? stellt die transzendentale Analytik die Auflösung der Frage dar: Wie ist reine Naturwissenschafl: möglich? Denn sie weist die metaphysischen Prinzipien systematisch auf, die die höchsten Grundsätze .aller Na turwissenschafl: enthalten, deren Gebrauch aber andererseits auch auf das Gebiet möglicher Naturerkenntnis und also Erfahrung beschränkt bleibt. Damit ist auch die zweite Teilfrage des allgemeinen Problems der Kritik gelöst: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Es ist dadurch sowohl die Frage des Tatbestandes der metaphysischen Prinzipien unserer Naturerkenntnis wie auch die Frage ihrer Gültigkeit für das Gebiet möglicher Erfahrung entschieden.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

225

6.

Es bleibt freilich noch ein Problem, nämlich das der subjektiven Deduktion dieser Prinzipien, das heißt die Frage nach dem Ursprung oder, mit anderen Worten, nach dem subjektiven Grund der Möglichkeit der fraglichen Prinzipien in unserer Erkenntnis. Wir kommen damit auf jene Frage zurück, die bisher unter der Form des Streits um die angeborenen Begriffe behandelt worden war. Stellen wir die Frage so, ob es angeborene Begriffe für unsere Erkenntnis gibt, so ist das Problem µunmehr im Sinne des Empirismus entschieden. Aber dennoch ist die Konsequenz des Empirismus abgewiesen, nämlich die Behauptung des empirischen Ursprungs unserer gesamten Erkenntnis. Die eigentliche Frage, die nunmehr erst ans Licht tritt, liegt also tiefer als die bisher umstrittene nach den angeborenen Ideen. Die fraglichen Begriffe sind weder angeborene Begriffe, noch stammen sie aus der Erfahrung. Welches ist also sonst ihr Ursprung? Dies ist das Problem der subjektiven Deduktion der Kategorien. Daß hierin ein Problem liegt, ist nach allem Bisherigen nicht mehr zu verkennen; denn die Kategorien sind, wie wir wissen, die Begriffe von der Bestimmung eines Gegenstandes durch eine Urteilsform. Aber andererseits ist die Urteilsform für sich eine leere logische Form und enthält als solche noch nicht die Kategorie. Ihr Gebrauch würde für sich nie zur Bestimmung eines Gegenstandes und somit zur Erweiterung der Erkenntnis dienen können, sondern er leistet dies nur, weil durch ihn die Kategorien zur Anwendung auf die Urteilsmaterie gelangen. Wenn aber somit die Kategorien schon unabhängig von der Urteilsform dem Urteil zugrunde liegen, wie verträgt sich damit, daß die Kategorien nicht angeborene Begriffe sind, sondern erst auf Grund des Urteils, durch Reflexion auf dessen Form, gebildet werden? Es bleibt ein Rätsel, wie der Verstand in den Besitz dieser Begriffe kommt, da diese weder aus der bloßen Form des Urteils noch aus der Erfahrung stammen. Die Untersuchung, die Kant zur Auflösung dieses Problems anstellt, bildet die tiefsinnigste und auch am meisten mißverstandene Partie der »Kritik der reinen Vernunft«. Bei den Mängeln, die in dieser Untersuchung naturgemäß geblieben

226

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

sind, werde ich später bei der Kritik der Kantischen Lehre ausführlicher auf diesen Gegenstand eingehen. Aber hier einige Bemerkungen über das, was durch Kants Untersuchung wirklich klar wird: Das Entscheidende dieser schwierigen und schwer verständlichen Untersuchung liegt in der Fortführung und Vertiefung der Theorie des Urteils. Das Urteil ist, nach Kants Erklärung, derjenige Akt, durch den wir gegebene Vorstellungen zur objektiven Einheit der Apperzeption bringen, das heißt, auf das beziehen, was wir im ausgezeichneten Sinne den Gegenstand unserer Erkenntnis nennen. Dieser Gegenstand ist nichts anderes als eine solche Einheit des sinnesanschaulich gegebenen Mannigfaltigen, die, im Gegensatz zu den nur individuell bestimmbaren und stets wechselnden Erscheinungen der Sinne, auf gewissen feststehenden Formen der Verknüpfung beruht, denen das Urteil die Erscheinungen der Sinne unterwirft. Die einzelnen Formen dieser Verknüpfung sind die Kategorien. Jedes Urteil beruht daher auf der Anwendung einer Kategorie auf die Sinnesanschauung. Durch die Anwendung dieser Kategorie auf die Sinnesanschauung erheben wir uns von dem empirischen Bewußtsein, das an den Moment der Empfindung gebunden ist, zu einem Bewußtsein überhaupt, das heißt zum Bewußtsein einer Erkenntnis, die auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit Anspruch macht und uns so über das Individuelle und Zufällige der Sinnesanschauung zur zeitlos geltenden Erkenntnis erhebt. Wie ist nun dieses »Bewußtsein überhaupt« möglich? Die in ihm enthaltene Beziehung des Mannigfaltigen der bloßen Sinnesanschauung zur objektiven Einheit des Gegenstandes erfordert zunächst eine Synthesis, das heißt einen eigenen Akt des Bewußtseins, durch den wir das Mannigfaltige der einzelnen Vorstellungen zu einer Einheit verbinden. Es genügt dazu nicht die bloße Verbindung der einzelnen Vorstellungen, so wie diese sich tatsächlich und ohne weiteres Zutun des Verstandes in unserem Bewußtsein zusammenfinden. Denn diese Verbindung ist nur die subjektive der Assoziation der Vorstellungen und entscheidet nichts für die objektive Verbindung im Gegenstande. Aber es genügt dazu andererseits auch nicht die nur »figürliche Synthesis«, wodurch wir das einzelne Mannigfaltige durch die Beziehungen des Nebeneinander und Nacheinander verbinden, das heißt als in Raum

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

227

und Zeit zusammengesetzt vorstellen. Dies ist eine Leistung der produktiven Einbildungskraft, die für die Beziehung der Vorstellungen auf die objektive Einheit des Gegenstandes allerdings nötig ist - weshalb Kant sie auch die transzendentale Einbildungskraft nennt, zum Unterschied von der empirischen oder reproduktiven Einbildungskraft, die unter den Gesetzen der Assoziation steht. Aber diese Leistung ist nicht hinreichend für die gesuchte Synthesis; denn sie ergibt noch nicht die Notwendigkeit der objektiven Verknüpfung, die wir im Begriff des Gegenstandes denken. Diese erfordert vielmehr eine intellektuelle Synthesis, wie sie unsere Vernunft nicht anschaulich vollziehen kann und die daher erst das Eigentümliche der Leistung des Urteils ausmacht. Das Bewußtsein überhaupt, wie es im Urteil hervortritt, kann aber endlich auch nicht auf der bloßen Anwendung von Begriffen beruhen. Denn diese sind an und für sich nur Vorstellungen einer analytischen Einheit. Wenn wir eine Erscheinung einem Begriff unterordnen, so bedeutet dies, daß wir ihr ein Merkmal beilegen, das ihr mit anderen Erscheinungen gemeinsam zukommt und sie also mit diesen in einer Klasse vereinigt. Jedes Urteil setzt freilich die Anwendung von Klassenbegriffen, das heißt von Vorstellungen allgemeiner Merkmale, voraus. Damit wir aber überhaupt Merkmale aus der Erfahrung abstrahieren und unter ihnen Gegenstände zur logischen Einheit einer Klasse vereinigen können, müssen uns diese Merkmale zuvor in Verbindung mit anderen Merkmalen in unserer Erkenntnis gegeben sein. Denn die Abstraktion besteht in nichts anderem als in der Absonderung eines Merkmals von den anderen, mit denen es verbunden ist, und also in der Aufhebung dieser ursprünglichen Verbindung. Die analytische Einheit des Begriffs ist also nur möglich auf Grund einer schon vorhergehenden ursprünglichen synthetischen Einheit. Um so mehr erfordert die Synthesis der Begriffe, wie sie im Urteil vollzogen wird, als Bedingung ihrer Möglichkeit eine ursprüngliche synthetische Einheit. Diese ursprüngliche intellektuelle synthetische Einheit in unserer Erkenntnis nennt Kant die »transzendentale Einheit der Apperzeption«, um sie von der bloß psychologischen Verbundenheit mehrerer Vorstellungen in einem Bewußtsein zu unterscheiden. Auf dieser transzendentalen Einheit der

228

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Apperzeption beruht subjektiv die Möglichkeit der Kategorien und überhaupt des Verstandes als des Vermögens der Urteile. Wir werden auf diese Lehre Kants noch zurückkommen.

7. Folgen wir weiter dem Gedankengang der »Kritik der reinen Vernunft«. Kant gibt im weiteren Verlaufe seiner Untersuchungen eine methodische Erörterung der in der Metaphysik möglichen Irrtümer. Diese Erörterung hat einen polemischen Charakter, wobei es aber nicht so sehr darauf ankommt, daß sie sich gegen bestimmte historisch aufgetretene Irrtümer richtet, als vielmehr darauf, daß sie die allgemeinen Quellen der typischen möglichen Irrtümer untersucht und diese Quellen durch Aufdeckung des ihnen zugrunde liegenden Scheins ein für allemal unschädlich macht. In diesem Zusammenhang will ich zuerst auf Kants Widerlegung des Idealismus eingehen. Der Idealismus ist die Lehre, wonach wir von der Existenz von Gegenständen außer uns kein sicheres Wissen haben. Diese Lehre war, wie früher gezeigt (2. Kapitel), die Konsequenz besonders der englischen Erfahrungsphilosophie gewesen. Seit Descartes und besonders seit Locke unterschied man zwischen den sekundären und den primären Qualitäten der Dinge außer uns. Die sekundären Qualitäten sind diejenigen, die wir unmittelbar durch unsere Sinne wahrnehmen, wie zum Beispiel Farbe, Ton, Duft, Wärme. Die primären Qualitäten sind diejenigen, die nicht unmittelbar durch Empfindung bestimmt werden, wie zum Beispiel die Eigenschaften der Ausdehnung, Gestalt, Größe, Lage, Zeit, Dauer, Undurchdringlichkeit, Gewicht, kurz die mathematischen und mechanischen. Die sekundären Qualitäten heißen so, weil sie dem Gegenstand nicht an und für sich zukommen sollen, sondern nur im Verhältnis zu unseren Sinnesorganen, die durch den Gegenstand affiziert werden und durch deren Natur sich die verschiedenen Arten der Empfindungsqualitäten bestimmen. Aus dieser Affektion unserer Sinne schließen wir erst, wie man meinte, auf die Existenz und wirkliche Beschaffenheit der äußeren Gegenstände. Gegen diese Lehre war mit Recht, besonders von Berkeley, einge-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

229

wandt worden, daß, wenn wir keine sichere Kenntnis von den Sinnesqualitätcn als wirklichen Eigenschafl:en der Gegenstände außer uns haben, wir auch nicht behaupten dürfen, daß wir diese Gegenstände hinsichtlich ihrer primären Qualitäten objektiv erkennen können. Denn die Kenntnis dieser primären Qualitäten leitet sich nach Lockes eigenen Voraussetzungen doch nur mittelbar aus unserer Kenntnis der sekundären Qualitäten ab. Daher dürfen wir unserer Vorstellung der primären Qualitäten grundsätzlich keine höhere Dignität beimessen als der der sekundären, womit denn das Dasein von Gegenständen außer uns überhaupt zweifelhafl: wird. Der Schluß, auf dem die Behauptung des Daseins solcher Gegenstände beruht, der Schluß von der Affektion unserer Sinne auf eine Ursache außer uns, kann keine Verbindlichkeit beanspruchen. Er setzt schon voraus, was zu beweisen wäre, nämlich, daß der Grund der Affektion, wenn wir überhaupt einen solchen Grund annehmen wollen, außer uns und nicht vielleicht in einer rein spirituellen Ursache liegt. Dies letzte lehrte in der Tat Berkeley, der das Dasein der Vorstellungen in uns unmittelbar auf Gott als ihre alleinige Ursache zurückführt. So kam man zu dem idealistischen Satze: Esse = percipi. Nur Vorstellungen sind wirklich, und das Dasein von Gegenständen außer uns ist daher nichts als Schein. Wir können die Anschauung von Gegenständen außer uns nicht von bloßen Einbildungen unterscheiden. Diesen Idealismus mußte Kant widerlegen, um, wie er selbst sagt, nicht einen mächtigen Einwurf gegen seine Lehre von der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis stehenzulassen. Kant widerlegt den Idealismus dadurch, daß er die Voraussetzung, auf der der idealistische Schluß beruht, als irrig nachweist. Er zeigt, daß unsere Erkenntnis äußerer Gegenstände nicht durch einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache vermittelt ist, daß vielmehr unser Wissen von äußeren Gegenständen um nichts mittelbarer ist als das Wissen um unser eigenes Innere und daß somit die innere Wahrnehmung vor der äußeren durchaus keinen Vorzug höherer Gewißheit hat. Es bedarf daher eines Schlusses auf die Existenz der Gegenstände außer uns gar nicht, um ihre Existenz zu behaupten. Sie steht für uns mit derselben Sicherheit fest wie die der Vorstellungen in uns. Ja Kant geht noch einen Schritt weiter, indem er, wie er geistreich

230

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

bemerkt, das Spiel, das der Idealismus treibt, diesem mit mehrerem Rechte umgekehrt vergilt durch den Nachweis, daß die Möglichkeit der inneren Erfahrung vielmehr von der der äußeren abhängt. Die psychologische Erkenntnis läßt gar keine selbständige Ausbildung zu, da wir zu aller objektiven Zeitbestimmung, wie sie zur Möglichkeit jeder Erfahrung gehört, überhaupt nur durch die Methoden der äußeren Erfahrung gelangen können. Denn der innere Sinn zeigt uns nichts Beharrliches, das wir der Zeitmessung zugrunde legen könnten, sondern nur einen fortwährenden Fluß der Erscheinungen. Eine objektive Zeitbestimmung durch die innere Erfahrung ist unmöglich. Sie ist nur möglich, und zwar sowohl für physisches wie für psychisches Geschehen, mit Hilfe physikalischer Systeme, in denen ein Vorgang gleichförmig abläuft und die wir darum als Uhren verwenden können. Uhren sind immer äußere, räumlich ausgedehnte Gegenstände. Und so gibt es denn auch allerdings einen Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit in bezug auf die Erkenntnis der äußeren Dinge. Das Kriterium dafür, ob ein Gegenstand nur scheinbar oder wirklich außer uns im Raume ist, liegt in den metaphysischen Grundsätzen, vor allem in den Analogien der Erfahrung. Sie sind die Prinzipien der zeitlichen Verknüpfung der Erscheinungen und insofern der Einheit der Erfahrung überhaupt. Was sich dieser Einheit der Erfahrung nicht einfügt, erweist sich eben dadurch als Schein. Der Idealismus ist daher allerdings eine unvermeidliche Konsequenz des Empirismus, der die Möglichkeit und Notwendigkeit metaphysischer Grundsätze der Erfahrung ableugnet. Denn mit diesen Grundsätzen gibt der Empirist zugleich die Kriterien preis, vermöge deren allein sich Schein und Wirklichkeit in unserer Erkenntnis unterscheiden lassen. Mit der Aufweisung und Sicherstellung dieser metaphysischen Kriterien, die der Möglichkeit aller Erfahrung zugrunde liegen, ist daher zugleich der Grund des Idealismus behoben.

8. Während die Widerlegung des Idealismus den metaphysischen Konsequenzen des empiristischen Grundirrtums gilt, dient ein anderes Lehrstück zur Kritik der trügerischen Konsequenzen der rationalistischen

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

231

Metaphysik. Ich meine den Anhang, den Kant der transzendentalen Analytik beigibt und der den Titel führt: »Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe«. Es ist dies ein noch wenig beachtetes und noch sel~ tener verstandenes, aber um so wichtigeres Lehrstück der »Kritik der reinen Vernunft«. Seine entscheidende Bedeutung für die Geschichte der Philosophie besteht darin, daß es den Grund aller metaphysischen Irrtümer der scholastischen Philosophie und des Leibniz-Wolffschen logischen Dogmatismus enthüllt. Die Reflexionsbegriffe sind Begriffe, die, wie der Name anzeigt, aus der bloßen Reflexion entspringen, nämlich aus der bloß logischen Vergleichung unserer Vorstellungen. Sie sind Vorstellungen einer analytischen Einheit und nicht, wie die Kategorien, solche einer synthetischen Einheit. Wir bedürfen ihrer, um gegebene Vorstellungen der logischen Form des Urteils zu unterwerfen, nicht aber, um sie zur objektiven Einheit eines Gegenstandes zu verknüpfen. Durch die Verwechslung dieser Reflexionsbegriffe mit den Kategorien entsteht das, was Kant die Amphibolie der Reflexionsbegriffe nennt. Diese Verwechslung erweckt nämlich den täuschenden Schein der Möglichkeit einer Erkenntnis der Gegenstände durch bloßes Denken. Kant gibt uns eine vollständige übersieht über das System der Reflexionsbegriffe nach dem Leitfaden der Tafel der Urteilsformen. Er gelangt dadurch zur folgenden

Tafel der Refiexionsbegriffe: 1. Quantität: Einerleiheit und Verschiedenheit.

2. Qualität: Einstimmung und Widerstreit. 3. Relation: Inneres und Außeres. 4. Modalität: Form und Materie. Wir vergleichen Merkmale, indem wir sie als einstimmig oder widerstreitend denken, das heißt als verträglich oder sich ausschließend. Aber wir können nicht schon dadurch zu einer Erkenntnis von Gegenständen gelangen, daß wir irgendwelche Prädikate als einstimmig oder widerstreitend denken, wenn wir diese Prädikate nicht zuvor auf einen bestimmten Gegenstand beziehen, der uns in der Anschauung gegeben ist,

232

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

so daß wir an der Anschauung ein Kriterium dafür haben, ob in bezug auf diesen Gegenstand die betreffenden Prädikate verträglich sind oder einander ausschließen. Wir vergleichen Gegenstände, indem wir sie als einerlei oder verschieden denken. Aber wir gelangen dadurch nie zu einer Erkenntnis der Gegenstände, wenn wir nicht schon bestimmte Prädikate haben, hinsichtlich deren wir die Gegenstände als einerlei oder verschieden bestimmen, Prädikate, die wir ihrerseits wiederum nur der Anschauung entnehmen können. Wer dies übersieht, muß zu dem Glauben kommen, daß mit Hilfe der Reflexionsbegriffe eine von der Anschauung unabhängige Erkenntnis der Gegenstände möglich sei. In der Tat kam nur durch diese Täuschung Leibniz zu seiner logizistischen Metaphysik. Daher gelingt es Kant, durch die vollständige übersieht, die ihm der transzendentale Leitfaden gewährt, den Grund sämtlicher Irrtümer der Leibnizschen Metaphysik in der Amphibolie der Reflexionsbegriffe aufzudecken und so diese Irrtümer ohne Rücksicht auf ihre geschichtliche Ausführung aus ihren Quellen abzuleiten. Wir wollen nun die Tafel der Reflexionsbegriffe nach den vier Momenten, die uns der transzendentale Leitfaden an die Hand gibt, durchgehen und jedesmal sehen, zu welchen Konsequenzen die Amphibolie führt, die Täuschung also, als hätten wir es hier nicht mit leeren logischen Vergleichungsbegriffen zu tun, sondern mit echten metaphysischen Begriffen, das heißt solchen, durch die sich ein Gegenstand bestimmen läßt und die uns also eine Erkenntnis von Gegenständen unabhängig von der Anschauung eröffnen. 1. Quantität. Der bloße Verstand besitzt kein anderes Mittel zur

Unterscheidung von Gegenständen als die allgemeinen Merkmale, die er dem einen Gegenstand beilegt und dem anderen abspricht. Unter der Voraussetzung einer Bestimmbarkeit der Gegenstände durch bloßes Denken müssen wir also annehmen, daß Gegenstände, die hinsichtlich ihrer allgemeinen Merkmale übereinstimmen, auch numerisch einerlei, das heißt identisch sind. Damit kommen wir auf Leibniz' »Principium identitatis indiscernibilium«, wonach das Principium individuationis in der prädikativen Bestimmtheit liegt: Wenn ein Gegenstand hinsieht-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

233

lieh aller möglichen Prädikate bestimmt ist, sei es bejahend oder verneinend, so glaubt Leibniz, in dieser vollständigen Bestimmtheit schon ein Kriterium der Einzelheit des Gegenstandes zu haben; das heißt, er meint, damit den Gegenstand schon hinsichtlich seiner Individualität bestimmt und von allen anderen Gegenständen hinreichend unterschieden zu haben. Er übersieht, daß durch die vollständige begriffliche Determination noch keine Individualität des Gegenstandes gegeben ist. Gegenstände, die hinsichtlich ihrer begrifflichen Beschaffenheiten einerlei sind, brauchen noch nicht numerisch einerlei zu sein; denn sie können sich immer noch an verschiedenen Stellen des Raumes und der Zeit befinden. Das Principium individuationis ist in Wahrheit die Anschauung, indem diese uns die einzelnen Gegenstände an bestimmten Stellen des Raumes und der Zeit zeigt. Abstrahieren wir von der Anschauung, dann fällt daher allerdings die Individualisierung des einzelnen durch die Stellengebung in Raum und Zeit weg, und es bleiben nur Artunterschiede übrig. Durch noch so weit gehende Determination der Begriffe gelangen wir aber nie zu einem Übergang von den Begriffen zu den Einzelwesen, sondern nur zu immer vollständiger bestimmten Artbegriffen. Und wenn wir selbst die Bestimmung hinsichtlich aller möglichen Realitäten erschöpfend ausgeführt denken, so kommen wir doch nur zu einem letzten Gattungsbegriff, einem döo~ foxarov, von dem noch unbestimmt bleibt, wie viele und ob überhaupt Gegenstände darunter fallen. So wenig uns vorher durch bloße logische Bestimmung des Subjekts neue Prädikate gegeben werden konnten, so wenig kann uns ein Subjekt gegeben werden durch die bloße logische Bestimmung seiner Prädikate. Prädikat und Subjekt möglicher Urteile müssen immer erst aus der Anschauung genommen werden. 2. Qualität. Indem Leibniz eine Erkenntnis aus reinem Denken sucht und sich gänzlich von der Anschauung als einer angeblich verworrenen Erkenntnis lossagt, fällt für ihn der nur anschaulich zu bestimmende reale Widerstreit von Qualitäten weg, und es bleibt für ihn kein anderer Widerstreit übrig als der logisch zu bestimmende, das heißt der Widerspruch zwischen einer Realität und ihrer Negation. Er stellt daher, irregeführt durch die Amphibolie dieses Reflexionsbegriffes, den berühmten Satz auf: Realitäten widerstreiten einander nicht. Unter

234

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Voraussetzung einer Erkenntnis aus bloßem Denken wäre dieser Satz in der Tat völlig richtig. Was aber für den Verstand keinen Widerspruch enthält, das kann sich doch recht wohl in der Anschauung widerstreiten. Dadurch, daß Leibniz diesen Unterschied übersah, kam er folgerichtig auf seine Hypostasierung des Alls der Realitäten. Der Inbegriff aller möglichen positiven Realitäten kann in der Tat keinen logischen Widerspruch enthalten; der Begriff eines solchen Alls der Realitäten ist logisch fehlerfrei gebildet. Also ist nach Leibniz auch kein Widerstreit zwischen ihnen möglich. Und da ihm die logische Widerspruchslosigkeit das hinreichende Kriterium der Existenz ist, so verbürgt sie ihm zugleich die Existenz des Alls der Realitäten. So kam Leibniz auf seine Vorstellung der Gottheit als des Alls der Realitäten, als des Wesens, dem, weil es das vollkommenste Wesen ist, in der Tat keine Realität fehlen darf. Er konnte sich demgemäß die endlichen Einzelwesen nur dadurch bestimmt denken, daß für sie einige Realitäten aus dem All der Realitäten negiert sind. 3. Relation. Unter der Voraussetzung, daß auch hinsichtlich der Relation eine Erkenntnis der Gegenstände durch bloßes Denken möglich ist, muß man mit Leibniz zu der Vorstellung kommen, das Kriterium der Wesenheit eines Dinges könne nur in seiner Innerlichkeit liegen. Die Möglichkeit aller äußeren Beziehungen von Dingen setzt schon Dinge voraus, die in solcher äußeren Beziehung zueinander stehen und für deren Begriff ihre äußere Beziehung nur zufällig ist. Die Möglichkeit dieser Beziehung beruht in der Tat nur auf der Zusammensetzung der Dinge im Raum und in der Zeit und also auf einem nur anschaulich erkennbaren Verhältnis, das für eine Erkenntnis der Dinge aus bloßen Begriffen nichtig ist. Die Dinge selbst lassen sich also durch reines Denken nur als das schlechthin Innere bestimmen. Denn wir müssen annehmen, daß alle äußeren Verhältnisse von Dingen etwas für diese selbst Zufälliges sind und daß ihnen etwas schlechthin Inneres zugrunde liegt, das heißt etwas, was selbst kein äußeres Verhältnis mehr in sich enthält. Das Kriterium der Wesenheit wird somit die innerliche Bestimmtheit des Gegenstandes. Leibniz mußte daher, indem er sich über die Anschauung hinwegsetzte, alle Zusammengesetztheit der Substanzen aufgehoben denken. Denn alles Zusammengesetzte besteht

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

235

nur vermöge der äußeren Verhältnisse seiner Teile. Das Innere der Substanzen, das von allen äußeren Verhältnissen und folglich auch von aller Zusammensetzung frei ist, ist das Einfache. Nun finden sich aber im ganzen Bereich unserer Erkenntnis keine anderen inneren Bestimmungen als diejenigen, die unsere innere Erfahrung uns zeigt, nämlich die Vorstellungen. Folgerichtig denkt sich Leibniz die \Velt aus Monaden bestehend, das heißt aus einfachen vorstellenden Wesen. So führt ihn die Amphibolie der Reflexionsbegriffe zu seiner Monadenlehre. 4. Modalität. In unserer Erkenntnis sind die Formen, auf denen die

Verhältnisse der Dinge beruhen, nämlich Raum und Zeit, selbst Bedingungen des Daseins der Dinge in ihnen und liegen insofern der Möglichkeit aller Gegenstände schon zugrunde. Indem Leibniz die Anschauung aufhebt, muß sich ihm dieses Verhältnis gerade umkehren: Alle Formen dürfen nur auf den Verhältnissen zwischen den ursprünglich für sich bestehenden Dingen beruhen. Da aber für die Erkenntnis aus bloßem Denken das anschauliche Verhältnis der Zusammensetzung wegfällt, so bleibt nur die Möglichkeit des metaphysischen Verhältnisses der Verknüpfung übrig. Dieses Verhältnis ist aber nach dem schon Abgeleiteten überhaupt nur möglich durch eine prästabilierte Harmonie. Denn da alle ·wesen nur innerlich mit ihren Vorstellungen beschäftigt sind, kann keins auf das andere hinüberwirken. Sondern alle Gemeinschaft der Dinge besteht nur vermöge der Vorstellungen der höchsten Monade, der Gottheit. So sehen wir, wie die Leibnizsche Monadenlehre, als die vollkommenste Ausgestaltung der logizistischen Metaphysik, mit tiefer innerer Folgerichtigkeit aus der Amphibolie der Reflexionsbegriffe hervorgeht. In diesem Nachweis besteht eins der bewunderungswürdigsten Meisterstücke der Kantischen Dialektik. Durch sie hat Kant, nach einem treffenden Wort von Apelt, gleichsam die Batterie des logischen Dogmatismus demaskiert. Ich bemerkte eingangs, daß, so wenig diese Lehre von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe bisher verstanden worden 1st, sie doch eine um

236

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

so höhere Bedeutung für die Geschichte der Philosophie hat. Sie triffi: in der Tat nicht nur die Leibnizsche Monadenlehre, die Kant als das ihm nächstliegende Beispiel eines konsequenten logischen Dogmatismus ins Auge faßte, sondern, nach Maßgabe seiner Folgerichtigkeit, jeden Versuch einer logizistischen Metaphysik überhaupt. Sie wird daher auch so lange aktuell bleiben, bis dieses Erbübel aus der Geschichte der Philosophie verschwindet. - Blicken wir nun zurück auf das Ganze der transzendentalen Analytik, so können wir sagen, daß durch das hier niedergelegte Werk der alte Streit zwischen Rationalismus und Empirismus wirklich geschlichtet worden ist, dadurch nämlich, daß die Ansprüche beider Teile gegeneinander beschränkt werden. Diese Beschränkung triffi: einmal den Empirismus. Er wird abgewiesen durch die Feststellung, daß die Erfahrung, als die von ihm allein zugelassene Erkenntnisweise, ihrerseits an Bedingungen a priori gebunden ist und ohne solche unmöglich ist. Sie triffi: andererseits den Rationalismus. Dieser wird widerlegt durch den Nachweis, daß wir unabhängig von der Erfahrung nichts als formale Bedingungen der Erkenntnis haben, zu denen der Gehalt aus der Sinnlichkeit hinzukommen muß und die daher für sich gänzlich leer bleiben. Erfahrung ist ihrerseits, nach Kants Ausdruck, ein Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit. Es ergibt sich somit die Unselbständigkeit sowohl der reinen wie auch der sinnlichen Erkenntnis. Verstand und Sinnlichkeit können bei uns nur in Verbindung miteinander Gegenstände bestimmen. Ein Verstand, der für sich selbst schon zur Erkenntnis von Gegenständen hinreichen sollte, müßte ein anschauender Verstand sein; denn sonst enthielte er nichts als die Form möglicher Erkenntnisse von Gegenständen. Seine Erkenntnis müßte also intellektuelle Anschauung sein. Eine solche haben wir aber nicht. Und so ist das Ergebnis dieser Kritik der wichtige Satz von der Immanenz der menschlichen Erkenntnis. Immanent heißt eine Erkenntnis, die an die Erfahrung gebunden ist, transzendent eine solche, die über alle mögliche Erfahrung hinausgeht.

9. Trotz des Ergebnisses der Analytik, wie es in dem Satz von der Im• manenz der menschlichen Erkenntnis niedergelegt ist, wird es nötig,

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

237

den Versuch einer transzendenten, diesen beschränkenden Satz nicht achtenden Erkenntnis noch einer eigenen Kritik zu unterwerfen. Es gibt nämlich, wie sich zeigt, in unserer Vernunft metaphysische Prinzipien, die dazu bestimmt zu sein scheinen, einen Gebrauch unserer Vernunft unabhängig von der Erfahrung dennoch zu ermöglichen oder doch ihren in der Erfahrung möglichen Gebrauch auf Gegenstände überhaupt auszudehnen. Der Kritik eines solchen möglichen transzendenten Vernunftgebrauchs ist die transzendentale Dialektik gewidmet. Die Prinzipien dieses transzendenten Vernunfl:gebrauchs nennt Kant »Ideen«. Die Ideen sind notwendige Vernunftbegriffe von Gegenständen, die in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden können. Sie stehen insofern den Kategorien gegenüber, die, wie die Analytik zeigt, Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung sind. Die Kategorien leiten uns in der Erfahrung, indem sie uns anweisen, zu allem möglichen Bedingten die Bedingungen aufzusuchen und in dieser Reihe der Bedingungen immer weiter aufzusteigen. Die Ideen fordern dagegen den Abschluß aller solchen Reihen von Bedingungen in unserer Erkenntnis und verlangen also die Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung. Sie fordern eine absolute Bestimmung der Gegenstände, insofern sie auf eine Vollständigkeit der synthetischen Einheit gehen, die innerhalb der Schranken der Erfahrung niemals erreicht werden kann. Der Grundsatz der Ideenlehre liegt daher in dem Prinzip der Totalität, nämlich in dem Grundsatz von der Unmöglichkeit eines unendlichen Regresses, das heißt in dem Satz: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe seiner Bedingungen und mithin das schlechthin Unbedingte gegeben. 10.

Die möglichen Reihen von Bedingungen in unserer Erkenntnis können wir nach ihren Grundformen übersehen an Hand der drei Begriffe im Moment der Relation, der Begriffe der kategorischen, der hypothetischen und der divisiven Synthesis. Wir erhalten die Ideen, wenn wir die Synthesis der einen und anderen Form als vollständig denken. Wir kommen dann auf die Begriffe des Subjekts, das in keiner Hinsicht Prädikat sein kann, des Grundes, der nicht wieder die Folge eines anderen sein kann, und des Ganzen, das nicht wieder ein Glied eines höheren

238

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Ganzen sein kann, und also auf die Begriffe der absoluten Substanz, der absoluten Kausalität und der absoluten Gemeinschaft. Gemäß dieser übersieht teilt Kant bei der Ausführung der Ideenlehre seine Aufgabe in drei Hauptteile, in die Kritik der rationalen Psychologie, der rationalen Kosmologie und der rationalen Theologie. Denn dieses sind die drei vermeintlichen Wissenschaften, die aus dem Unternehmen entspringen, unsere Erkenntnis vermittels der Ideen a priori zu erweitern. Kant zeigt, inwiefern alle diese angeblichen Wissenschaften auf dialektischen Schlüssen beruhen, das heißt auf gewissen Fehlschlüssen, die jedoch durch einen Schein veranlaßt werden, dessen Grund sich a priori in der menschlichen Vernunft nachweisen läßt und dessen Aufdeckung eben darum das Geschäft der transzendentalen Dialektik ausmacht. Die rationale Psychologie besteht in der Anwendung der Idee der absoluten Substdnz auf den Gegenstand der inneren Erfahrung und wird so zu der Wissenschaft von der Seele als einem einfachen, das heißt unteilbaren, und beharrlichen, das heißt unzerstörbaren und also unsterblichen persönlichen Wesen. Die Widerlegung der rationalen Psychologie beruht auf folgendem Gedanken. Wir haben a priori zur Erkenntnis unseres seelischen Lebens nichts weiter als die Vorstellung des identischen Subjekts, auf das wir alle Erscheinungen des inneren Sinnes beziehen müssen, um zur Einheit der inneren Erfahrung zu gelangen. Wenn wir daher von den Erscheinungen des inneren Sinnes abstrahieren, so bleibt nichts als diese Form möglicher innerer Erfahrung übrig, der Gedanke der Identität des Subjekts der Erscheinungen des inneren Sinnes. Wir können aber nicht wissen, ob, wenn wir von der Beziehung auf die innere Erfahrung abstrahieren, dann noch ein für sich bestehendes, unteilbares, beharrliches, persönliches Wesen übrigbleibt, wie dies die rationale Psychologie lehrt. Für alle innere Erfahrung gilt die Identität des Ich als Bedingung ihrer Möglichkeit; das heißt, das Ich beharrt den wechselnden Erscheinungen des inneren Sinnes gegenüber, so daß in der Tat keine innere Erfahrung möglich ist, die jener Idee widerspricht. Ob das Ich aber nicht nur relativ zu diesen Erscheinungen des inneren Sinnes, sondern auch darüber hinaus, das heißt schlechthin beharrlich ist, das können wir nicht wissen. Für die Behauptung einer solchen absoluten Identität, Un-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

239

teilbarkeit und Beharrlichkeit des Ich lassen sich keine Gründe, weder aus der inneren Erfahrung noch aus dem bloßen Begriff des Ich, ableiten. Das Ich ist zwar kein zusammengesetztes Wesen wie die Materie im Raum; denn es ist überhaupt nicht ausgedehnt und also insofern gewiß unteilbar. Dies genügt, um den Materialismus abzuweisen. Aber es genügt nicht zum Beweis dafür, daß das Ich beharrlich und als Substanz unzerstörbar sein müßte. Denn wenn es auch nicht durch Aufhebung der in ihm enthaltenen Zusammensetzung zerstört werden kann, so könnte es doch recht wohl durch eine stetige Abnahme der Intensität des inneren Lebens zerstört werden. Betrachten wir hiernach zunächst die Kritik, die Kant an der rationalen Theologie übt. Es gibt überhaupt drei mögliche Versuche, zu einem Beweis für das Dasein Gottes zu gelangen. Entweder der Beweis wird rein a priori geführt, aus dem bloßen Begriff Gottes. Oder er wird a posteriori geführt und dann wiederum auf zwei mögliche Weisen, entweder, indem man ins Unbestimmte nur davon ausgeht, daß uns Gegenstände als existierend in der Erfahrung gegeben sind, um dann zu ihrer Existenz eine höhere Ursache hinzuzudenken, oder, indem wir von bestimmten, erfahrungsgemäß gegebenen Beschaffenheiten der existierenden Dinge ausgehen und von ihnen aus auf Gott als deren Ursache zurückschließen. Die erste Beweisart ist die ontologische, die zweite die kosmologische, die dritte heißt die physikotheologische oder auch teleologische. Kant zeigt durch eine gründliche Zergliederung dieser verschiedenen Beweisarten, daß sowohl die kosmologische als auch die physikotheologische ihre Schlußkraft im letzten Grunde nur dem ontologischen Beweis entlehnen kann. Die Kritik spitzt sich daher zu auf die Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises. Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises zeigt von neuem den Nutzen des transzendentalen Leitfadens. Sie geht zurück auf den bereits erörterten Gedanken aus seiner Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, nämlich auf den Nachweis, daß Existentialsätze notwendig synthetisch sind und daß infolgedessen das Dasein eines Gegenstandes niemals durch die Analyse seines Begriffs entdeckt werden kann. Volle Klarheit erlangt dieser Gedanke aber in der Tat erst durch die Entdeckung des transzendentalen Leitfadens.

240

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Das Dasein gehört nämlich niemals zu den qualitativen Bestimmungen, wie solche im Begriff eines Gegenstandes enthalten sein können, sondern es betrifft das Verhältnis des Begriffs zu dem, was unter ihn fällt, also eine Frage, deren Auflösung immer nur von Daten hergenommen werden kann, die außerhalb des Begriffes liegen. Wenn wir von einem Gegenstand sagen, daß er existiert, so liegt in einer solchen Aussage keine Bestimmung des Gegenstandes hinsichtlich der Qualität, sondern die Bestimmung betrifft allein die Modalität anderweitig vorausgesetzter Urteile. Die Aussage behauptet, recht verstanden, die Bestimmbarkeit des Gegenstandes durch assertorische Urteile. Wenn wir auf der anderen Seite der bloßen logischen Form nach schon in den Begriff eines Gegenstandes die Voraussetzung der Existenz aufnehmen, dann können wir zwar schließen, daß ein Gegenstand, der unter diesen Begriff fällt, auch existiert. Aber das läuft auf die leere hypothetische Behauptung hinaus, daß, wenn etwas existiert, es existieren muß. Auf die kategorische Behauptung des Daseins kommen wir so nicht. Wenn ich einen Gegenstand einmal nur denke und dann sein Dasein behaupte, so ist es beide Male derselbe Gegenstand. Es ändert sich dadurch nichts hinsichtlich seiner qualitativen Bestimmtheit; nur daß er das eine Mal bloß gedacht, das andere Mal als wirklich vorhanden erkannt wird. Der Unterschied betrifft also in der Tat nur die Modalität. Wie Kant einmal sagt: Hundert wirkliche Thaler enthalten nicht mehr als hundert mögliche Thaler. Zur Erkenntnis des Daseins bedürfen wir also allemal eines Erkenntnisgrundes außerhalb des Begriff es des Gegenstandes, bedürfen wir der Belehrung durch die Erfahrung. Damit fällt das Unternehmen des ontologischen Gottesbeweises in sich zusammen.

11. Das für die Geschichte der Metaphysik wichtigste Lehrstück der transzendentalen Dialektik ist die Kritik der rationalen Kosmologie. Kant deckt hier die eigentümliche Tatsache auf, daß sich die Vernunft beim Versuch, a priori über das Weltganze zu urteilen, in Widersprüche mit

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

241

sich selbst verwickelt. Diese Widersprüche sind die von ihm so genannten Antinomien der menschlichen Vernunft. Diese Antinomien ergeben sich systematisch, wenn wir nach den verschiedenen Momenten der Kategorientafel das Weltganze zu bestimmen suchen, einmal der Größe nach, dann den Teilen nach, drittens hinsichtlich der Reihe der Ursachen und viertens endlich hinsichtlich der Abhängigkeit des Zufälligen vom Notwendigen. Kant stellt demgemäß die Tafel der Antinomien auf, indem er in jedem der vier Momente für Thesis und Antithesis einen Beweis führt. Diese Thesen und Antithesen lauten folgendermaßen:

I. These: Die Welt ist der Größe nach, sowohl in der Zeit wie im Raume, in Grenzen eingeschlossen. Antithese: Die Welt ist der Größe nach, sowohl in der Zeit wie im Raume, unendlich.

II. These: Alles Zusammengesetzte besteht aus einfachen Teilen, und es existiert in der Welt nichts als das Einfache oder was aus ihm zusammengesetzt ist. Antithese: Es existiert in der Welt nur das Zusammengesetzte, und es gibt in ihr nichts schlechthin Einfaches.

III. These: Nicht alle Kausalität in der Welt beruht auf Naturgesetzen, und es gibt in ihr eine Kausalität aus Freiheit. Antithese: Alle Kausalität in der Welt beruht auf Naturgesetzen, und es gibt in ihr keine Freiheit.

IV. These: Zur Welt gehört ein schlechthin notwendiges Wesen, sei es als ihr Teil, sei es als ihre Ursache. Antithese: Es gibt kein schlechthin notwendiges Wesen, weder als Teil noch als Ursache der Welt.

242

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Jedem Beweis eines dieser Sätze läßt sich ein gleich bündiger Beweis auf der Gegenseite gegenüberstellen. Kant zeigt demgemäß, daß jede Entscheidung dieses Streites, die auf Grund eines solchen Beweises gefällt werden könnte, voreilig ist und als dogmatisch zurückgewiesen werden muß, weil sich jeder solche Beweis durch einen gleich zwingenden Gegenbeweis entkräften läßt, und daß daher bei unparteiischer Abwägung der Gründe und Gegengründe die Vernunft zwischen beiden Seiten in unentschiedenem Gleichgewicht verharren muß. Zur Auflösung dieser merkwürdigen Widersprüche gelangt Kant durch seine Lehre vom »transzendentalen Idealismus«. Er zeigt, daß wir zu den Antinomien nur gelangen durch eine versteckte Anwendung der Idee der Welt auf die Natur. Natur ist der Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung und also der Gegenstände in Raum und Zeit. Die Welt dagegen ist das absolute Ganze aller existierenden Dinge. Die Antinomie entsteht nun allemal dadurch und nur dadurch, daß wir stillschweigend voraussetzen, daß in Raum und Zeit ein Ganzes aller existierenden Dinge möglich sei, daß die Natur die Welt sei. Diese Voraussetzung ist es jedesmal, aus der die widerstreitenden Beweise ihre Schlußkraft ziehen und mit deren Aufhebung der Widerstreit verschwindet. Sobald wir nämlich das angebliche Ganze der Welt in Raum und Zeit zu bestimmen suchen, kommen wir auf die dargestellten Widersprüche. Es muß dann in der Tat dieses Ganze seiner Größe nach bestimmt sein, entweder als endlich oder als unendlich ausgedehnt in Raum und Zeit. Es muß dann entweder aus einfachen Teilen bestehen, die bei der Aufhebung aller Zusammensetzung übrigbleiben, oder es muß in ihr jeder Teil wieder zusammengesetzt sein, so daß bei der Aufhebung aller Zusammensetzung in ihr nichts übrigbleibt. Und so fort nach den vier Momenten. Wir kommen allemal auf das Schlußergebnis der Thesis, wenn wir unser Argument stützen auf die Voraussetzung der Totalität, die wir in der Idee der Welt denken. Und wir kommen jedesmal auf das Schlußergebnis der Antithesis, wenn wir unser Argument stützen auf den Naturbegriff, wie er sich durch die rein anschaulichen Formen unserer Erfahrungserkenntnis bestimmt. Wir denken im Begriff der Welt ein absolutes Ganzes, das also seiner Größe nach abgeschlossen sein muß und sich weder ins Unendliche in Raum und Zeit ausdehnen

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

243

noch ins Unendliche in ihnen teilbar sein kann. Kraft der reinen Anschauung des Raumes und der Zeit aber wissen wir, daß es in der Natur kein solches abgeschlossenes Ganzes geben kann, weder der Ausdehnung noch der Teilung nach. Die Antinomie verschwindet daher in dem Augenblick, wo wir die Gleichsetzung der Begriffe der Welt und der Natur zurückziehen. Wir können dann nicht mehr von der Frage ausgehen, ob die Welt ihrer Größe nach endlich oder unendlich ausgedehnt sei, ob sie aus einfachen Teilen bestehe oder ob alle Teile in ihr wieder zusammengesetzt seien. Denn von der Welt kann dann nicht mehr vorausgesetzt werden, daß sie räumlich und zeitlich bestimmt sei, und es kann daher gar nicht mehr die Frage nach ihrer Ausdehnung und Zusammensetzung entstehen. Die Natur aber, das heißt der Inbegriff der Erscheinungen in Raum und Zeit, kann dann überhaupt nicht mehr als etwas hinsichtlich seiner Größe Bestimmtes gelten. Denn sie ist nicht an sich, das heißt unabhängig von unserer Erkenntnis, gegeben, weder als endlich noch als unendlich. Die Auflösung der Antinomien liegt daher in der Lehre des transzendentalen Idealismus. Kant versteht nämlich hierunter den Satz, daß unsere Erkenntnis nicht eine Erkenntnis von Dingen an sich ist, sondern nur eine solche von Erscheinungen. Es ist uns durch die Anschauung unserer Sinne ein Mannigfaltiges in Raum und Zeit gegeben. Und wir denken durch die Kategorien dieses Mannigfaltige der Erscheinungen verknüpft. Dadurch kommen wir auf eine Reihe von Bedingungen, die wir im Fortschritt der Erfahrung beliebig fortsetzen können. Wir kommen aber niemals auf ein vollständiges Ganzes aller Dinge in Raum und Zeit. Die Bestimmung der Erscheinungen, die wir erkennen, geht allemal so weit, wie unsere Erfahrung reicht, und dem Fortgang dieser Erfahrung sind keine Grenzen gesetzt. In Raum und Zeit gibt es zwar eine Natur, das heißt einen Zusammenhang der Erscheinungen nach notwendigen Gesetzen. Aber es gibt in ihr keine Welt, das heißt kein absolutes Ganzes aller existierenden Dinge. Die Naturerkenntnis ist eine bloße Erkenntnis von Erscheinungen. Diese Lehre ist nicht etwa eine Hypothese, die Kant zu Hilfe nimmt, um die von ihm festgestellte Antinomie aufzuheben, sondern er wird eindeutig durch die Antinomie auf diese Lösung geführt. Denn die An-

244

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

nahme, in deren Aufhebung der Gedanke des transzendentalen Idealismus besteht, ist die notwendige und hinreichende Voraussetzung, unter der die Antinomie überhaupt entsteht.

Die Kritik der praktischen Vernunft Der transzendentale Idealismus bildet den Abschluß der für die spekulative Metaphysik entscheidenden Entdeckungen von Kants Kritik der reinen Vernunft. Nachdem wir die Reihe dieser Entdeckungen durchmessen haben, wenden wir uns jetzt zur Betrachtung der Fortschritte, die Kant für die Grundlegung der praktischen Metaphysik und also der Ethik gemacht hat. 1.

Diesen Fortschritten liegt, methodisch betrachtet, derselbe Gedanke zugrunde, der zu den Errungenschaften Kants für die Begründung der spekulativen Metaphysik führte. Sie beruhen nämlich auf einer einfachen Verallgemeinerung dieses Gedankens, auf der Ausdehnung seines Anwendungsbereiches. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Grundlegung der Ethik stellt sich für Kant als ein neuer Fall des von ihm verallgemeinerten Humeschen Problems dar. Philosophie ist, in materialer Bedeutung des Wortes, das heißt im Unterschied von der bloßen Logik, kurz, als Metaphysik verstanden, das System der synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen. Als philosophische Wissenschaft muß daher auch die Ethik aus synthetischen Urteilen a priori aus bloßen Begriffen bestehen. Gibt es aber in diesem Sinne eine philosophische Ethik? Und wenn es sie gibt, wie sollen wir uns in ihren Besitz setzen? Da ihre Urteile nicht aus der Anschauung geschöpft werden können, so fehlt ihren Prinzipien die Evidenz. Das System der Ethik läßt sich daher nicht dogmatisch aufbauen, sowenig wie Metaphysik überhaupt. Die Methode ihrer Begründung kann vielmehr nur die kritische sein, das heißt, es bedarf für den Aufbau der Ethik als Wissenschaft einer Voruntersuchung, in der die Prinzipien ihres Systems und die Bedingungen der Gültigkeit dieser Prinzipien

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

245

festgestellt werden. Diese Voruntersuchung, von deren Gelingen das Schicksal der Ethik als Wissenschafl: abhängt, ist die Angelegenheit der Kritik der praktischen Vernunfl:. So wurde die bloße Entdeckung der Aufgabe der wissenschafl:lichen Ethik durch Kant der entscheidende Schritt, durch den die Ethik wirklich in das Stadium einer Wissenschafl: trat. Denn Kant fand sich durch diese einfache methodische Wendung des Gedankens unmittelbar auf den Begriff einer anderen, ganz neuen Wissenschafl: gewiesen, die sich nach bestimmten Regeln in Angriff nehmen ließ und von deren Bearbeitung eine sichere Entscheidung der uralten, bis dahin ungelöst stehengebliebenen ethischen Probleme zu erwarten war. Wir wollen den Weg, den Kant auf der hiermit vorgezeichneten Bahn eingeschlagen hat, so weit verfolgen, wie es nötig ist, um die grundlegenden Entdeckungen kennenzulernen, zu denen er dabei vorgedrungen ist.

2. Durch Zergliederung unserer faktischen sittlichen Urteile gelangt Kant zu seiner Lehre vom guten Willen als dem einzigen uneingeschränkt Guten. Alles andere Gute ist nur bedingungsweise gut, nämlich unter der Bedingung eines Zweckes, zu dem es gut ist. Der gute Wille aber ist an sich, das heißt ohne Rücksicht auf seine Tauglichkeit zu einem anderweitigen Zwecke, gut. Er wird nämlich als gut beurteilt nicht danach, was durch ihn bewirkt wird, sondern danach, wodurch er selbst zum Handeln bestimmt wird. Sittlich gut kann allein ein Wille heißen, der sich unter Hintansetzung aller subjektiven Zwecke durch das Bewußtsein der Pflicht bestimmen läßt. So wird klar, daß man auf den Begriff der Pflicht zurückgehen muß, wenn man den Begriff des guten Willens erklären will.

3. Bei der Erörterung dieses Begriffs der Pflicht findet Kant den grundlegenden Unterschied zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen. Ein »Imperativ« ist ein Satz, der ein Gebot ausdrückt. Es gibt aber zwei grundverschiedene Arten von Imperativen. Ein hypotheti-

246

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

scher Imperativ ist ein solcher, der eine Handlung nur unter der Bedingung eines durch sie zu erreichenden Zweckes gebietet; ein kategorischer Imperativ ist dagegen ein solcher, der eine Handlung schlechthin gebietet, das heißt ohne Rücksicht auf einen durch sie zu erreichenden Zweck. Im Begriff der Pflicht denken wir allemal einen kategorischen Imperativ. Was das Wort »Sollen« bedeutet, ist nichts anderes als ein schlechthin, das heißt ohne Rücksicht auf einen zu erreichenden Zweck, verbindliches Gebot. Alle weiteren Entdeckungen, die Kant auf dem Felde der Ethik gemacht hat, lassen sich auf diesen einen Satz vom kategorischen Charakter des Pflichtgebotes zurückführen.

4. Dieser Satz führt zunächst auf eine strenge Scheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, wie sie bis dahin noch niemals g.elungen war. Alle hypothetischen Imperative erweisen sich nämlich als Umschreibungen von Naturgesetzen, das heißt von Gesetzen, die an und für sich nur das Sein der Dinge betreffen und kein Sollen. Ein hypothetischer Imperativ sagt aus, welches die Mittel sind, die zur Verwirklichung eines Zweckes dienen, und also, was wir tun müssen, um den vorausgesetzten Zweck zu erreichen. Das Mittel zu einem Zweck ist aber nichts anderes als die Ursache einer von uns begehrten Wirkung. Hypothetische Imperative drücken daher nur eine kausale Notwendigkeit aus. Sie sind infolgedessen an und für sich nur theoretische und nicht praktische Gesetze, das heißt keine solchen, die Vorschriften für den Willen enthalten. Und da aus dem, was ist, niemals geschlossen werden kann, was sein soll, so gibt es auch keinen logischen Übergang von den einen zu den anderen. Der alten Gegenüberstellung von Physik und Ethik ist hiermit eine feste wissenschaftliche Unterlage gegeben.

5. Die nächste Folge dieser Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen ist die Befreiung der Ethik von aller Nützlichkeitslehre. Eine Ethik, die sich auf hypothetische Imperative grün-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

247

dete, wäre in der Tat eine bloße Nützlichkeitslehre. Denn »nützlich« nennen wir eine Handlung insofern, als sie dient, einen vorausgesetzten Zweck zu verwirklichen. Dieser Zweck selbst bliebe dabei aber allemal unserem bloßen Belieben überlassen. Denn der hypothetische Imperativ sagt uns nur, woran wir gut tun, wenn wir uns den fraglichen Zweck zu eigen machen. Die Gebote einer solchen Ethik könnten also niemals Verbindlichkeit erlangen, sondern blieben an und für sich ein bloßer Rat der Klugheit für den Fall, daß jemand sich die vorausgesetzten Zwecke zu eigen macht.

6. Aus dem kategorischen Charakter des Pflichtgebots folgt ferner die Unmöglichkeit aller heteronomen Moral oder das Prinzip der Autonomie, das heißt die Unmöglichkeit, durch das Gebot eines fremden Willens ursprünglich verpflichtet zu werden. Das Gebot der Pflicht kann, als ein praktisches Gesetz, nur durch eigene Einsicht als verbindlich erkannt werden. Das Gebot eines fremden Willens könnte uns nur dadurch zur Unterwerfung nötigen, daß mit seiner Befolgung oder Übertretung gewisse Wirkungen verbunden werden, an deren Eintreten oder Ausbleiben wir ein Interesse haben. Eine solche Nötigung aber, die nur von dem Interesse an den Folgen ausgeht, wäre ein hypothetischer Imperativ und kein kategorischer. Sie ließe sich daher niemals als verbindlich erkennen.

7. Eine weitere Konsequenz aus demselben Prinzip ist die Unmöglichkeit jeder Güterethik. Man war bis dahin in der Ethik allgemein von der Frage nach dem »höchsten Gute« ausgegangen, in der Hoffnung, aus seiner Festsetzung die Lehre von den Pflichten ableiten zu können. Die Entdeckung des kategorischen Charakters des Pflichtgebotes mußte diese Hoffnung für immer vernichten. Das durch eine Handlung hervorzubringende Gut, mag es sein, welches es wolle, kann doch niemals den Grund einer Verbindlichkeit für uns enthalten, das heißt den Grund der sittlichen Notwendigkeit einer Handlung. Damit nämlich, daß eine Handlung ein Mittel, und sei es auch das einzige Mittel, zur

248

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Hervorbringung eines Gutes ist, ist lediglich gesagt, daß die Handlung eine Bedingung der Existenz des Gutes ist, und hieraus folgt nur die hypothetische Notwendigkeit, die Handlung zu tun, wenn uns an der Existenz des fraglichen Gutes gelegen ist. Andernfalls müßte man schon ein Gesetz voraussetzen, wodurch uns die Hervorbringung des Gutes zur Pflicht gemacht würde. Dann aber wäre es vielmehr dieses Gesetz und nicht das fragliche Gut, woraus sich die sittliche Notwendigkeit der Handlung ableitete. Es wäre für das Gesetz und also für die sittliche Notwendigkeit der Handlung an und für sich nur zufällig, wenn durch diese Handlung ein Gut hervorgebracht wird. Die sittliche Handlung ist also nur darum als gut zu schätzen, weil sie geboten ist; nicht aber ist sie darum geboten, weil sie sdiätzenswert ist oder ein Gut hervorbringt. Hieraus folgt eine vollkommene Umkehrung der Methode, die bis dahin in der Ethik geherrsdit hatte. Die Pflichtenlehre kann nicht aus einer Güterlehre entwickelt werden, sondern es muß umgekehrt die Lehre von den Pflichten an die Spitze gestellt und für sich aufgebaut werden, unabhängig von aller Güterlehre.

8. Hieraus folgt nun zugleich der Satz von dem alleinigen sittlichen Wert des guten Willens. Denn, wenn aller sittliche Wert sich erst aus dem Gesetz herleitet, dieses aber, als ein kategorischer Imperativ, sich unmittelbar nur auf den Willen bezieht, so kann eine Handlung auch nur nach dem, was sie als Gegenstand des Willens ist, nicht aber nach ihren rücksichtlich des Wollens zufälligen Wirkungen sittlich geschätzt werden. Durch diese Nachweisung rechtfertigt sidi das Prinzip der Gesinnungsethik im Gegensatz zu aller Erfolgsethik.

9. Durch die Aufweisung des kategorischen Charakters des Sittengesetzes findet endlich auch der recht verstandene moralische Rigorismus seine Begründung. Die früheren Ethiker hatten sich meist entweder in einen falschen Rigorismus verwickelt, indem sie die Anforderungen

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

249

der Sittlichkeit in einen grundsätzlichen Gegensatz gegen die Ansprüche der Neigung brachten, oder sie hatten, um auch den Neigungen ihr Recht einzuräumen, alle Strenge der sittlichen Anforderungen preisgeben müssen. Stellt sich nun heraus, daß das Sittengesetz nur ein kategorischer Imperativ sein kann, so folgt ohne weiteres, daß die Notwendigkeit seiner Befolgung auf keinerlei Zweck eingeschränkt ist und daß vielmehr umgekehrt jeder Zweck nur insofern erlaubt sein kann, als er seinerseits auf die Bedingung der Übereinstimmung mit der Pflicht eingeschränkt ist. Wenn aber hiernach bei der Bestimmung der Pflicht die Neigungen von aller Kompetenz ausgeschlossen sind, so folgt daraus doch nicht die Pflichtwidrigkeit der Ansprüche der Neigung. Denn eine Handlung, die nicht Pflicht ist, ist darum noch nicht eine Verletzung der Pflicht. Keine noch so starke Neigung kann eine Übertretung der Pflicht rechtfertigen; aber eine Befriedigung der Neigung ist darum an und für sich keineswegs pflichtwidrig. 10.

Es bleibt noch die Frage, welches denn nun der Inhalt des kategorischen Imperativs ist, der das Sittengesetz darstellt. Dieser Inhalt findet sich in dem Grundsatz von der Würde der Person: Jede Person soll als Selbstzweck geachtet und keine darf als bloßes Mittel für die Zwecke anderer mißbraucht werden. Der kategorische Imperativ gebietet daher eine Einschränkung der Zwecke des einzelnen auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit den Zwecken aller übrigen Personen. Wir dürfen nämlich nur nach solchen Maximen handeln, denen wir zustimmen könnten, auch wenn sie durch unsere Handlung zum allgemeinen Gesetz würden, von denen wir also wollen können, daß sie als Naturgesetz gelten. Denn in dieser Annahme liegt, daß eine Maxime, wenn sie von uns erwählt wird, gegebenenfalls auch gegen uns Anwendung fände; und darin, ob wir in diese Umkehrung einwilligen können, besteht das Kriterium der Sittlichkeit. Dieser kategorische Imperativ ist der Grundsatz der praktischen Metaphysik oder Ethik. Er führt Kant auf sein Ideal eines Reiches der Zwecke. Das Reich der Zwecke ist eine Verbindung vernünftiger Wesen derart, daß die Zwecke eines jeden mit den Zwecken aller an-

250

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

deren zusammenstimmen, wobei keiner der Untertan eines fremden Willens ist, sondern jeder nur der allgemein gesetzgebenden Vernunft in ihm selbst gehorcht. 11. Indem Kant das Prinzip seiner Ethik mit seiner Lehre vom transzendentalen Idealismus verbindet, gelangt er schließlich zur Begründung der Religionsphilosophie. Er zeigt nämlich, daß die Möglichkeit des kategorischen Imperativs gewisse an und für sich spekulative Sätze voraussetzt (das heißt solche, die ihrerseits das Sein der Dinge betreffen), die aber doch, da sie transzendent sind, innerhalb des Bereiches der theoretischen Vernunft unerweislich sind. Er nennt sie darum »Postulate der praktischen Vernunft«. Diese sind also an und für sich spekulative Sätze, deren Annahme aber in praktischer Hinsicht notwendig ist und deren Gültigkeit nur durch diesen Zusammenhang bewiesen werden kann. Diese Postulate der praktischen Vernunft sind die Grundsätze der Religionsphilosophie. Denn sie gehen auf das Dasein der Dinge, sofern es von Naturgesetzen unabhängig ist. Sie sind insofern kein Gegenstand des Wissens, sondern nur ein solcher des Glaubens, aber eines reinen Vernunftglaubens, das heißt eines solchen, der von aller Offenbarung unabhängig ist und der also keines Geschichtsglaubens zu seiner Stütze bedarf. Ihre Wahrheit kann durch die bloße menschliche Vernunft eingesehen werden. Sie wird nämlich daraus eingesehen, daß sie die Bedingungen enthält, auf denen die Möglichkeit des Sittengesetzes beruht, das seinerseits als Grundsatz der reinen praktischen Vernunft für sich feststeht. Diese Postulate sind: die Freiheit des menschlichen Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Die Befugnis, diese Sätze als gültig anzunehmen, obgleich wir ihre Gültigkeit theoretisch nicht beweisen können, gibt uns der transzendentale Idealismus, die Lehre, daß die Natur, das heißt die Abhängigkeit des Daseins der Dinge von allgemeinen Gesetzen, bloße Erscheinung ist. Denn die hiermit ausgesprochene Beschränkung des Wissens macht das Feld frei für die Ideen des übersinnlichen: Sie eröffnet uns die Möglichkeit, ein Dasein der Dinge unabhängig von Raum und Zeit und Naturgesetzen anzunehmen. Der Gegenstand dieses

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

251

Glaubens ist im Grunde nichts anderes als die Realität jenes Reiches der Zwecke, als dessen freie Mitglieder wir uns selbst kraft des kategorischen Imperativs ansehen müssen, eines Reiches der Zwecke, das in der bloßen Natur unmöglich wäre.

Die Kritik des Geschmacks Das gleiche methodische Prinzip dehnt Kant aus auf das Gebiet der Ästhetik. Auch hier führt es ihn zu neuen, fruchtbaren Entdeckungen. Ja nirgends erscheint die Freiheit und Selbständigkeit seines Geistes in hellerem Lichte als hier, wo alles, der Form und der Sache nach, seine Schöpfung ist. 1.

Die ästhetischen Urteile sind allerdings, wie Kant zeigt, keine Erkenntnisurteile, das heißt sie stellen ihren Gegenstand nicht als Objekt der Erkenntnis vor, sondern als ein solches des Wohlgefallens. Sie sind andererseits nur singuläre Urteile insofern, als sie sich auf einen individuellen anschaulich bestimmten Gegenstand beziehen und es keinen Mittelbegriff gibt, vermöge dessen sie sich auf eine allgemeine Regel zurückführen ließen. Und dennoch ist das ästhetische Urteil apodiktisch in dem Sinne, daß der Grund unseres Wohlgefallens an dem beurteilten Gegenstande als notwendig vorgestellt wird, so daß wir dasselbe Wohlgefallen jedermann zumuten, unabhängig von einer empirischen Vergleichung des Geschmacks der einzelnen Individuen. Dies läßt erkennen, daß dem ästhetischen Urteil synthetische Prinzipien a priori zugrunde liegen müssen, wenn sich diese Prinzipien auch nicht wie diejenigen der theoretischen Urteile auf bestimmte Begriffe bringen lassen. Die Untersuchung dieser Prinzipien ist die Aufgabe der Kritik des Geschmacks als des Vermögens der ästhetischen Urteile.

2. Es ist also das Eigentümliche der ästhetischen Urteile, daß sie nicht theoretisch erweislich sind und doch apodiktische Geltung beanspruchen,

252

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Kant drückt dieses paradoxe Verhältnis, das wir im ästhetischen Urteil realisiert finden, dadurch aus, daß er sagt: Wir können über Fragen des Geschmacks zwar nicht disputieren, aber doch streiten. Denn wir verlangen von jedem anderen Menschen, daß er über Fragen des Geschmacks ebenso urteilen solle wie wir, so, als ob unser Urteil wie im Falle des theoretischen Urteils den Gegenstand beträfe. Aber unser Urteil scheint doch nur auf subjektiven Prinzipien zu beruhen, da wir keine Gründe anführen können, um dadurch andere von der Richtigkeit unseres Urteils zu überzeugen. In dieser Paradoxie besteht das, was Kant die Antinomie der ästhetischen Urteilskraft nennt. Die Auflösung dieser Antinomie, die Kant in einer tief sinnigen Betrachtung mehr andeutet als ausführt, besteht darin, daß dem ästhetischen Urteil allerdings kein bestimmter Begriff, nämlich kein Naturbegriff zugrunde gelegt werden kann, daß ihm aber dennoch ein eigenes transzendentales Verhältnis zugrunde liegt, nämlich die Beziehung des Gegenstandes der Anschauung auf die unbestimmten Begriffe vom übersinnlichen, das heißt auf die Ideen, eine Beziehung, die ihrerseits in der Tat nicht durch einen Schluß vermittelt werden kann und also das ästhetische Urteil unerweislich läßt, die vielmehr, wie Kant sich ausdrückt, gleichsam durch einen unaussprechlichen Mittelbegriff, nämlich durch ein bloßes, theoretisch unauflösliches Gefühl vermittelt wird und vermöge deren das Geschmacksurteil gleichsam die Brücke darstellt zwischen unserem theoretischen Urteil, das auf Naturbegriffen, und dem praktischen Urteil, das auf Freiheitsbegriffen ruht, und wodurch das Schöne, das wir in der Natur antreffen und bewundern, uns zum Symbol des theoretisch unerkennbaren übersinnlichen wird.

3. Wenn also auch - gemäß der Kantischen Lehre vom »ästhetischen Rationalismus« -dem Geschmacksurteil synthetische Prinzipien a priori zugrunde liegen, so sind diese doch nicht begriffliche Prinzipien, auf denen sich eine Metaphysik des Schönen als Wissenschaft errichten ließe - in Analogie zur Metaphysik der Natur und der Sitten -, sondern sie sind nur der Gegenstand der Kritik des Geschmacks, das heißt der

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

253

ästhetischen Urteilskraft. Diese Wissenschaft hat es daher nur mit der Untersuchung des transzendentalen Grundes der Möglichkeit ästhetischer Urteile zu tun und darf sich nicht etwa vermessen, ihrerseits Regeln auf zustellen, nach denen sich das Schöne erfinden oder beurteilen ließe. In Ermangelung solcher Regeln muß es vielmehr dem Genie überlassen bleiben, das Schöne zu erfinden, und dem gebildeten Geschmack, über das Schöne zu urteilen.

4. So wenig positive Bedeutung demnach die Philosophie für die Asthetik beanspruchen darf, so zeigt sich doch gerade hier der negative Nutzen der kritischen Grenzbestimmung, ja ihre Unentbehrlichkeit, um übergriffe einer dogmatischen Scheinwissenschaft abzuwehren und zu verhüten. Wie groß diese Bedeutung ist, erkennt man schon, wenn man nur die Ansichten in Betracht zieht, die zur Zeit von Kants Auftreten über das Schöne und die Kunst herrschten. Zwar, eine eigentliche Asthetik gab es bis auf Kant überhaupt nicht. Der erste Versuch zu einer solchen war unmittelbar vor ihm in der Wolffschen Schule unternommen worden, insbesondere von Baumgarten. Im Mittelpunkt dieses Versuchs stand die Meinung, daß die Schönheit eine nur verworren vorgestellte Vollkommenheit sei - eine Meinung, derzufolge es grundsätzlich möglich sein müßte, die Schönheit auf Begriffe zu bringen, was dann nicht anders geschehen könnte als durch die Aufweisung des Zweckes, zu dem das Schöne das taugliche Mittel darstellt. Aus Kants Nachweisungen ergibt sich, daß das Schöne an sich selbst gefällt, ohne Rücksicht auf weitere Zwecke, daß es Zweck an sich ist und daß diese Art von Zweckmäßigkeit, die »ästhetische Zweckmäßigkeit« oder »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, wie Kant sie beschreibt, nicht in verworrenen Vorstellungen erkannt wird, die sich durch Begriffe deutlich machen ließen, sondern daß sie durch bloße, begrifflich inexponible Gefühle beurteilt wird. Durch diese Nachweisung ist der Asthetik erst das eigene Lebensgebiet und ihre Selbständigkeit erobert worden. Das Gefallen am Schönen ist damit als unabhängig erkannt von allen Begriffen und von

254

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

jeder Beziehung auf Zwecke, mögen diese vom objektiven Interesse am Guten entlehnt sein oder vom subjektiven Interesse am Angenehmen. Erst auf Grund dieser Feststellung konnte die Aufgabe der Kunst richtig gewürdigt werden. Soweit man vorher über die Kunst philosophiert und sie zu rechtfertigen versucht hatte, hatte man sie unter einen ganz verkehrten Gesichtspunkt gebracht, indem man die Frage darauf richtete, welche Belehrung die Kunst uns biete, oder wiefern sie geeignet sei, uns moralisch zu bessern. Aus Kants Nachweisungen geht klar hervor, daß der Wert der Kunst von jeglicher Belehrung und moralischen Besserung unabhängig ist und für sich besteht. Damit war der Kunst der größte Dienst geleistet, den die Philosophie ihr leisten konnte. Die Kunst ist damit befreit von den Ansprüchen der Wissenschaft und von der Vormundschaft der Moral und endlich auf eigene Füße gestellt.

Die Metaphysik der Natur Ich wende mich nun zur Betrachtung der Ergebnisse, die sich aus den dargestellten vernunftkritischen Entdeckungen für das System der Metaphysik herausstellen. Dieses System zerfällt, aus den dargelegten Gründen, in zwei voneinander unabhängige Teile, einen spekulativen und einen praktischen, und dieser Unterschied fällt zusammen mit dem einer Metaphysik der Natur und einer solchen der Freiheit. Für die Metaphysik der Natur hat Kant die Grundlegung geliefert in seinen "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft". In diesem groß angelegten Werke ist zum ersten Male der Naturwissenschaft ihre philosophische Begründung gegeben worden. Ich kann hier nur die wichtigsten Grundgedanken dieses Werkes hervorheben.

1.

Die Metaphysik der Natur oder, wie Kant sie auch nennt, die reine Naturwissenschaft fällt der Aufgabe nach zusammen mit einer reinen Physik, nämlich mit der reinen Bewegungslehre. Denn Bewegung ist

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

255

die einzige Natur.erscheinung, die sich a priori konstruieren läßt und daher zum Gegenstand einer von aller Erfahrung freien wissenschaftlichen Untersuchung werden kann. Und zwar zerfällt diese Untersuchung in zwei Teile. Der erste ist dadurch ausgezeichnet, daß er sich rein mathematisch entwickeln läßt. Er handelt von der Bewegung als bloßem Gegenstand der reinen Anschauung. Der andere Teil ist dadurch ausgezeichnet, daß er zu den rein mathematischen Lehren metaphysische Prinzipien hinzubringt, nämlich die Kategorien und die aus ihnen entspringenden metaphysischen Grundsätze. Er beruht also auf einer Verbindung mathematischer und metaphysischer Erkenntnis. Der erste Teil ist die Phoronomie oder, wie wir heute sagen, die Kinematik. Sie beruht auf dem Grundsatz der Relativität aller Bewegung, einem Satz, der aus reiner Anschauung eingesehen werden kann. Aus ihm ergibt sich die Konstruktion der zusammengesetzten Bewegung gemäß dem Satz vom Parallelogramm der Bewegungen. Zu diesen kinematischen Prinzipien kommen dann in der Dynamik und Mechanik die Kategorien hinzu. Die Verbindung der einen mit den anderen beruht auf dem mathematischen Schematismus der Kategorien. Dieser mathematische Schematismus gibt uns die Kriterien der Anwendung der einzelnen Kategorien auf die Naturerscheinungen. Daher verstehen wir leicht den einen Hauptsatz dieser Kantischen Lehren: daß in jeder Naturlehre nur so viel wirkliche Wissenschaft zu finden ist, wie in ihr Mathematik anzutreffen ist. Der andere Hauptsatz, der hiermit unmittelbar zusammenhängt, ist die Feststellung, daß aller Naturwissenschaft nicht nur überhaupt Prinzipien a priori zugrunde liegen wie jene mathematischen, sondern, darüber hinaus, solche metaphysischen Ursprungs. Kant behauptet, daß diese metaphysischen Prinzipien identisch sind mit dem Grundbestand der berühmten Gesetze, die Newton seiner mathematischen Naturphilosophie zugrunde gelegt hatte, ohne sich über ihre Herkunft zu erklären. Kant erörtert, wie wir durch den mathematischen Schematismus der Kategorien zu den Grundsätzen der Beharrlichkeit der Masse, der Trägheit und der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung gelangen. Die allgemeinen Prinzipien der Mechanik sind also in der Tat metaphysischen Ursprungs.

256

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

2. Auf dieser Grundlage gelingt es Kant, die Naturwissenschaft von zwei entgegengesetzten Klassen von Vorurteilen zu befreien, die bis dahin in ihr geherrscht hatten. Die Vorurteile der ersten Art entstehen dadurch, daß man als angebliche Erklärungsgründe solche Hypothesen einführt, die sich der Kontrolle der Erfahrung entziehen und die man daher, in Ermangelung einer Kritik der Vernunft, nur aus einer dogmatischen Metaphysik entlehnen konnte. Hierher gehören die berüchtigten „qualitates occultae", gegen die sich mehr und mehr der Protest der besonnenen Naturforscher erhoben hatte. Es sind dies Vorstellungen, wie Newton sie meint, wenn er sagt: ,,hypotheses non fingo". Es handelt sich hierbei nicht um heuristische Annahmen, sondern um Fiktionen, denen nichts in der Erfahrung entspricht und die doch als Erklärungsgründe für die beobachteten Erscheinungen dienen sollen. Alle solchen Hypothesen werden durch Kant grundsätzlich aus der Naturwissenschaft beseitigt, indem als Erklärungsgründe nur noch Gegenstände möglicher Erfahrung zugelassen sind. Denn die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung hatte er als die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung nachgewiesen und damit als die notwendigen Kriterien der Existenz eines Gegenstandes in der Natur. Ein Beispiel dieser Art von Vorurteilen, gegen das denn auch Kant seine Polemik richtet, bietet das Dogma der Atomistik. Man hatte das Postulat der mechanischen Erklärung aller Naturerscheinungen so gedeutet, daß es notwendig sei, alle Erscheinungen der Natur auf Bewegungen von Atomen zurückzuführen, das heißt von Körpern, die absolut hart und einfach, das heißt unteilbar sind. Kant zeigt, daß diese Stellung der Aufgabe auf einer Mißdeutung beruht, indem sie nur entsteht durch Vermengung von Naturbegriffen mit Ideen. Der Satz, den man dabei im Auge hatte, daß alles Zusammengesetzte aus schlechthin einfachen Teilen bestehen muß, dieser Satz ist ein ideales Prinzip, das für die Natur keine Geltung hat. Denn hier haben wir es nicht mit Dingen an sich, sondern nur mit Erscheinungen zu tun. In der Natur gilt, vermöge der reinen Anschauung, das Gesetz der Stetigkeit, wonach die Teilbarkeit der Materie ins Unendliche fortgeht. Der Begriff des

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

257

Atoms erweist sich so als eine Idee, als der Begriff von einem Gegenstand, der in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann und der daher auch nicht als Erklärungsgrund in die Naturwissenschaft eingeführt werden darf. Es lag hier aber noch ein besonderer Fehler zugrunde, der das Vorurteil der Atomistik begünstigt hatte und den Kant in scharfsinniger Weise auf deckt. Man hatte nämlich bis dahin angenommen, daß die Undurchdringlichkeit als eine unmittelbare Eigenschaft der Materie anzusehen sei, das heißt, daß sie der Materie unmittelbar auf Grund ihres Begriffs zukäme. Kant zeigt, daß diese Auffassung irrig ist. Aus der Eigenschaft der Materie, daß sie einen Raum einnimmt - einer Eigenschaft, die allerdings analytisch zum Begriff der Materie gehört-, folgt nämlich noch keineswegs, daß die Materie den Raum, den sie einnimmt, auch erfüllt. Die Möglichkeit der Raumerfüllung, das heißt die Eigenschaft der Materie, dem Eindringen anderer Materie in den durch sie eingenommenen Raum zu widerstehen, setzt eine Repulsivkraft voraus. Dieser Widerstand besteht nämlich in der Verminderung der Geschwindigkeit der eindringenden Materie. Und die Verminderung der Geschwindigkeit setzt eine Kraft voraus. Die Materie muß also eine Repulsivkraft haben, um einen Raum erfüllen zu können. Diese Repulsivkraft muß aber, nach dem Gesetz der Stetigkeit aller intensiven Größen, einen bestimmten Grad haben, der größer oder kleiner gedacht werden kann. Daraus folgt, daß es keine absolut unteilbaren Körper geben kann; denn es bleibt immer möglich, daß die Repulsivkraft des Körpers durch stärkere entgegengesetzte Kräfte überwunden und dadurch der Körper zerteilt wird. Eine unendliche Repulsivkraft ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung und darf daher in der Natur nicht angenommen werden. So bewährt sich hier die Fruchtbarkeit der kritischen Methode, indem sie Kant in den Stand setzt, die N aturwissens-chaft von der atomistischen Fiktion zu befreien, die den Aufgaben der Erfahrung durch ein metaphysisches Dogma vorgreift, um das Feld für eine dynamische Theorie der Materie frei zu machen. Ein weiterer großer Fortschritt für die Naturwissenschaft, dem Kant hier den Weg ebnet, beruht auf der Durchführung des Gedankens der Relativität der Bewegung. Kant zeigt, daß die Begriffe des absoluten

258

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Raumes und der absoluten Zeit und damit auch der absoluten Bewegung und alle die im Gefolge dieser Begriffe entstandenen Unklarheiten und Widersprüche durch die Einmischung von Ideen in die Naturwissenschaft entstanden waren und daß somit diese Begriffe aus der Naturwissenschaft verbannt werden müssen. Ein absoluter Raum und eine absolute Zeit sind kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Gegenstand möglicher Erfahrung ist allemal nur ein bestimmter endlicher Raum und eine bestimmte endliche Zeit. Alle Bewegungen können daher nur relativ bestimmt werden. Das schließt nicht aus, daß man wirkliche Bewegungen von nur scheinbaren unterscheiden kann. Nur darf man die empirisch zu bestimmende wirkliche Bewegung nicht mit einer absoluten Bewegung verwechseln. Auch die wirkliche Bewegung ist nur eine relative. Sie besteht nur im Verhältnis verschiedener Körper zueinander. Sie ist daher auch nicht phoronomisch ausgezeichnet, sondern nur mechanisch. Die Kriterien zur Unterscheidung wirklicher von scheinbarer Bewegung liegen nämlich ihrerseits in den metaphysischen Grundsätzen der Mechanik.

3. Hierneben steht aber eine Klasse ganz anderer Vorurteile, die sich gerade in der Polemik gegen die fiktiven Hypothesen entwickelt hatten. Sie entspringen aus einer mißverstandenen Scheu vor der Metaphysik. Indem man sah, wie die dogmatische Metaphysik mit ihren Fiktionen störend in den Gang der Naturforschung eingriff, glaubte man, sich solcher Fiktionen nur dadurch entledigen zu können, daß man die Naturwissenschaft von allen metaphysischen Begriffen überhaupt zu befreien strebte, in der Hoffnung, sie ausschließlich aus der Erkenntnisquelle der Erfahrung entwickeln zu können. Diese Illusion hatte Kant zerstört durch den Nachweis, daß Erfahrung selbst nur möglich ist auf Grund metaphysischer Kriterien und daß daher die Ausschließung aller metaphysischen Begriffe die Möglichkeit der Erfahrung selbst aufheben würde. Gerade der Satz zum Beispiel, wonach nichts in der Natur als wirklich angenommen werden darf, dessen Annahme sich der Möglichkeit empirischer Kontrolle entzieht, dieser Satz kann seinerseits

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

259

nicht auf Erfahrung gegründet werden, obgleich, oder vielmehr gerade weil er eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist. Ein Naturforscher, der diesen Satz, seines metaphysischen Ursprungs wegen, aufgeben wollte, in der Meinung, sich dadurch von einer Fiktion zu befreien, würde daher in Wahrheit vielmehr das einzige Mittel aus der Hand geben, um noch so willkürlichen Fiktionen den Eingang in seine Wissenschaft zu verwehren. Der naturwissenschaftliche Empirismus erweist sich daher selbst nur als eine besondere, und zwar, weil sie nicht als solche erkannt wird, um so gefährlichere Form der dogmatischen Metaphysik. Die metaphysischen Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung mußte Kant daher in ihrer Bedeutung für die Naturwissenschaft geltend machen, um sie nicht dem gleichen Schicksal zu überliefern wie jene hypothetischen Fiktionen, die in der Tat den Gang der empirischen Forschung nur störten. Zu dieser Klasse von Vorurteilen gehört insbesondere die Scheu vor der Anwendung des Kraftbegriffs. Selbst Newton hatte Bedenken getragen, die von ihm entdeckte Gravitation als eine wirkliche Kraft der Materie anzusehen. Er hatte gefürchtet, durch ein solches Zugeständnis ein mystisches Element in die Naturforschung einzuführen und die qualitates occultae der Scholastiker wieder zu beleben. Kant zeigt nun, daß der Kraftbegriff allerdings ein metaphysischer, aber dennoch wohlbegründeter und der Naturforschung unentbehrlicher Begriff ist. Und er zeigt, darüber hinaus, daß auch die Annahme von Fernkräften keinerlei grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt ist, wie viele nach Newtons Vorgang angenommen hatten. Eine Fernkraft ist, wie der Name sagt, eine Kraft, die unmittelbar in die Ferne wirkt, ohne Vermittlung eines übertragenden Agens. Der Annahme einer solchen Fernwirkung steht a priori nichts im Wege als nur ein verstecktes metaphysisches Dogma. Denn ein solches ist der beliebte Satz, daß ein Körper nicht da wirken könne, wo er nicht ist. Dieser Satz besticht nur durch seine Zweideutigkeit, vermöge deren man dem allerdings richtigen, aber nichtssagenden analytischen Satz, daß ein Körper nicht von da wirken könne, wo er nicht ist, den grundlosen synthetischen Satz unterschiebt, daß ein Körper nicht dorthin wirken könne, wo er nicht ist. Die Möglichkeit einer solchen Kraft ist zwar, wie man häufig bemerkt

260

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

hat, nicht weiter erklärlich, das heißt, sie läßt sich nicht aus höheren Erklärungsgründen ableiten. Das besagt aber, recht verstanden, nichts anderes, als daß wir es mit einer Grundkraft zu tun haben, das heißt mit einem letzten Erklärungsgrunde. Auf Grundkräfte müssen wir alle Veränderungen in der Natur zurückführen, wenn wir sie überhaupt erklären, das heißt in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang begreifen wollen. Kräfte müssen also als ursprüngliche Eigenschaften der Materie angenommen werden. Sie sind es, durch die die Materie auf die Zustände anderer Materie wirkt. Wenn wir überhaupt eine Wechselwirkung der Körper annehmen - ohne welche Annahme wir der Naturwissenschaft ihre Aufgabe nehmen würden -, so schreiben wir damit der Materie schon ohne weiteres die Eigenschaft zu, auf andere Materie zu wirken, das heißt, wir legen ihr Kräfte bei. Diese Kräfte sind die höchsten Erklärungsgründe für alle Naturerscheinungen. Und daher versteht es sich von selbst, daß sie ihrerseits nicht wieder auf höhere Erklärungsgründe zurückgeführt werden können. Das gilt aber für Nahkräfte so gut wie für Fernkräfte. Ein höheres Geheimnis liegt in diesen Grundkräften der Materie nicht verborgen. Die Natur ist nichts anderes als der Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Annahme eines unerkennbaren »inneren Wesens" der Naturdinge ist, wie Kant treffend bemerkt, eine „bloße Grille" und entsteht nur durch ein unberechtigtes Hineinziehen von Ideen in die Naturforschung.

Die Metaphysik der Freiheit 1.

Als Übergang zur praktischen Metaphysik wollen wir zuerst den Gewinn betrachten, der aus den naturphilosophischen Lehren für die Weltansicht hervorgeht. Durch Kants wissenschaftliche Begründung der metaphysischen Prinzipien der Naturwissenschaft ist der Naturalismus der Newtonschen Physik endgültig sichergestellt worden. Die Newtonsche Physik war das Muster der Wissenschaft, das Kant vorfand und bei allen seinen kritischen Untersuchungen als solches vor Augen hatte und

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

261

das hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden Prinzipien philosophisch zu rechtfertigen er sich zur Aufgabe gemacht hatte. Durch diese Rechtfertigung ist der Naturalismus aller Wissenschaft unumstößlich festgestellt worden. Ich verstehe unter Naturalismus die Gebundenheit unserer Erkenntnisse an die Form der Naturgesetzlichkeit. Er steht im Gegensatz zur Annahme der Möglichkeit einer wissens.chafl:lichen Erkenntnis vom übersinnlichen, einer Erkenntnis, die sich aus Ideen entwickelt und nicht den Charakter der Naturform an sich trägt. Eine solche erweist sich für die menschliche Vernunft als unmöglich. Auf der anderen Seite steht dem gegenüber eine notwendige Beschränkung dieses Naturalismus. Der Naturalismus muß sich nach den Entdeckungen der Kritik der Vernunft beschränken auf den Bereich der Erscheinungen. Die Wissenschaft darf daher nicht die Alleinherrschaft in bezug auf die Weltansicht beanspruchen. Die Kritik der Vernunft rechtfertigt vielmehr durch die Lehre vom transzendentalen Idealismus die Möglichkeit einer eigenen, von der Naturform unabhängigen Weltansicht, einer religiösen \"X7eltansicht, die sich auf einen reinen Vernunftglauben gründet. Ihre Gegenstände entziehen sich aller möglichen Erfahrung und damit der wissenschaftlichen Erkenntnis. So ist hier zum ersten Mal ein befriedigender Ausgleich des Konflikts zwischen religiöser und wis,senschafl:licher Weltansicht gegeben, jede von ihnen auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt und dabei doch jeder von ihnen innerhalb ihres Bereichs die Alleinherrschaft gesichert. Die Auflösung dieses Widerstreits beruht auf dem Nachweis, daß unsere Naturerkenntnis nur eine Erkenntnis von Erscheinungen ist und nicht von Dingen an sich. Es ist also hier zugleich jeder Dualismus überwunden, wie er in der Annahme zweier nebeneinander bestehender Welten liegt, einer übersinnlichen Welt der Freiheit und einer Sinnenwelt der Natur. Die Vereinbarkeit der naturwissenschafl:lichen Ansicht der Welt mit der religiösen beruht auf dem Nachweis, daß es sich hier um zwei gleich ursprüngliche und selbständige Vorstellungsarten einer und derselben Welt handelt, nämlich einmal um die Vorstellung der Welt, wie sie uns erscheint, und dann um die Vorstellung der Welt, wie sie an sich ist. Damit ist denn auch die Religion emanzipiert von jedem kirchlichen Dogma und allem Geschichts- und Wunderglauben. Sie ist gegründet auf die reine Vernunft.

262

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

2. Mit dieser Lehre von der Möglichkeit der Freiheit verbindet sich dann der Gewinn, den Kants aufschlußreiche Entdeckungen für die Ethik bringen. Hier, das heißt in praktischer Hinsicht, läßt die Metaphysik der Freiheit die positive Ausführung zu, die ihr in spekulativer Hinsicht versagt ist. Hier steht an erster Stelle der klare Nachweis der Selbständigkeit der Ethik. Kant hat die Ethik in ihren Prinzipien unabhängig gemacht sowohl von der Naturlehre als auch von der Religionslehre durch die Aufweisung des kategorischen Imperativs und die Feststellung des Prinzips der ethischen Autonomie. Es ist damit das Prinzip einer Wertung menschlichen Handelns entdeckt, die ihren Maßstab in der menschlichen Vernunft selbst hat, unabhängig also von aller Betrachtung der Natur der Dinge und von aller religiösen Sanktion. Damit hat Kant zugleich die alte christliche Lehre von dem alleinigen sittlichen Wert des guten Willens und also der Reinheit der Gesinnung wiederhergestellt und die Ethik befreit sowohl von dem Intellektualismus der griechischen Schulen, die das vermeintliche Ideal einer höheren, nur dem Philosophen zugänglichen Tugend über die niedere des gemeinen Mannes erhoben hatten, als auch von der die neuere Ethik beherrschenden eudämonistischen und utilitaristischen Betrachtungsweise, wonach der Wert der menschlichen Handlungen gerechtfertigt werden sollte durch ihre Nützlichkeit, sei es mit Rücksicht auf die Wohlfahrt des Individuums selbst oder auf die der Gesellschaft, sei es mit Rücksicht auf den Nutzen im gegenwärtigen oder in einem zukünftigen Leben. Zugleich aber mit dieser Abweisung des Eudämonismus hat Kant das entgegengesetzte Extrem abgewiesen, die Sinnenfeindlichkeit der asketischen Ethik. Die Pflicht ist zwar der sinnlichen Neigung entgegengesetzt, aber nicht in dem Sinne, als ob es für die Sittlichkeit darauf ankäme, die Neigungen überhaupt abzutöten und den Trieb nach Glückseligkeit auszurotten, sondern nur in dem Sinne, daß da, wo von Pflicht die Rede ist, auf die Neigung keine Rücksicht genommen werden darf. Dieses allein ist der richtig verstandene Rigorismus der Kantischen Ethik. Denn er läßt Raum für ein weites Gebiet von Handlungen, die ebensowenig sittlich geboten wie sittlich verboten, Handlungen, die also

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

263

in sittlicher Hinsicht indifferent sind, und in diesem Gebiet sind die Neigungen nicht beschränkt.

3. Der kategorische Imperativ, der das Prinzip von Kants Tugendlehre ist, gibt ihm zugleich das Prinzip seiner Rechts- und Staatsphilosophie. Die Rechtslehre abstrahiert, im Gegensatz zur Tugendlehre, vom inneren Wert der Gesinnung und zieht nur die Legalität der Taten in Betracht. Das Ideal des Rechts und damit des Staates ist eine Form der Gesellschaft, durch die, gemäß dem Grundsatz der praktischen Vernunft, die Freiheit jedes einzelnen beschränkt wird auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit aller übrigen. Damit ist ein ganz neuer und höchst fruchtbarer Gesichtspunkt für die Rechts- und Staatslehre gefunden. Kant proklamiert hier zum ersten Mal einen notwendigen Zweck des Staates. Bis dahin hatte man versucht, die Staatslehre eudämonistisch zu begründen, nämlich in Hinblick auf den Zweck der Wohlfahrt der Staatsbürger. Die Wohlfahrt ist nur ein zufälliger, empirisch zu bestimmender Zweck und kann keine Verbindlichkeit begründen, kein Gesetz, das ohne Rücksicht auf einen vorausgehenden Zweck zur Unterwerfung nötigt. Alle diese Versuche hatten daher ihr Ziel nicht erreichen können: den Grund der Verbindlichkeit der Staatsgesetze nachzuweisen. Ganz anders bei Kant: Der Staat hat nach ihm einen Zweck, der unmittelbar durch den kategorischen Imperativ geboten ist. Der Staat ist, seiner Idee nach, gar nichts anderes als diejenige Institution, die die Durchführung des Rechts zur Aufgabe hat, das heißt des Ideals der Zusammenstimmung der Freiheit jedes einzelnen mit der Freiheit aller anderen nach dem höchsten praktischen Gesetz der Vernunft. Der Staat soll ein Rechtsstaat sein: In dieser Form können wir den kategorischen Imperativ als Prinzip der Staatslehre aussprechen. Kant nennt die Form eines solchen Rechtsstaates die einer »Republik«. Jeder Staat soll sich demgemäß eine republikanische Verfassung geben. Und jeder Staat soll mit den übrigen zu einer Staatenrepublik zusammentreten, die zwischen ihnen ein analoges Rechtsverhältnis begründet wie der Staat selbst als Rechtsstaat zwischen seinen Bürgern. Das ist das Gebot der Philosophie an den Staat. Dieses Gebot ist im

264

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Grunde kein anderes, als daß der Staat die Menschenwürde anerkennen und geltend machen soll.

4. Hiermit hängt unmittelbar die neue Auffassung zusammen, die Kant für die Geschichtsphilosophie gewinnt. Hier hatte Rousseau einen bedeutsamen Streit eröffnet durch seine These, daß alle Kultur im Grunde nur den Erfolg hat, die Menschen von dem natürlichen Zustand des Glücks zu entfernen, und daß die Menschheit, um ihr Glück wiederzufinden, zu dem ursprünglichem Naturzustand zurückkehren müßte. Dieser These konnte man nach den herkömmlichen Begriffen nicht anders entgegentreten als durch den Versuch eines Nachweises dafür, daß die Kultur in Wirklichkeit doch zur Erhöhung des Glückes der Menschheit beitrage, ein Versuch, dessen zweifelhaften Wert Kant wohl durchschaute, ohne jedoch darum der Konsequenz Rousseaus recht zu geben. Er erhebt sich über diese Streitfrage, indem er feststellt, daß die Bedeutung der Kultur gar nicht in der Förderung der menschlichen Glückseligkeit zu suchen sei, sondern daß es sich hier um einen von allen subjektiven Interessen unabhängigen Zweck der menschlichen Vernunft handle. Der höchste Zweck in der Geschichte der Menschheit, dem sich alle anderen Zwecke der Kultur unterordnen müssen, bestimmt sich, gemäß der Idee des Reiches der Zwecke, durch die Aufgabe der Herbeiführung einer republikanischen Verfassung der menschlichen Gemeinschaft im einzelnen Staat und einer friedlichen Regelung der gegenseitigen Beziehungen der Staaten durch einen Staatenbund. Damit hat Kant die großen Ideen seines Zeitalters, die Ideen der Humanität, der Menschenrechte und des Weltbürgertums wissenschaftlich gerechtfertigt und vertieft.

IV. DIE

MÄNGEL DER KANTISCHEN LEHRE

Nachdem wir die kritischen Entdeckungen Kants nach ihrem inneren Zusammenhang und nach ihren Ergebnissen für das System der Metaphysik kennengelernt haben, müssen wir die Mängel in Betracht ziehen,

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

265

die in seiner Lehre stehengeblieben sind und die wir auszuscheiden haben, wenn wir die Linie des Fortschrittes in der wissenschaftlichen Ausbildung der Metaphysik feststellen wollen. Dabei muß ich auf manches Lehrstück eingehen, das ich bisher nicht erwähnt habe. Denn da es mir im Bisherigen nur darauf ankam, die großen kritischen Entdeckungen Kants und deren Ertrag für die Metaphysik aus dem Ganzen seiner Lehre herauszuheben, so habe ich in meiner Darstellung alles übergangen, was mir in seinen Lehren als mangelhaft erscheint. Deshalb muß ich bei den jetzt folgenden kritischen Erörterungen vielfach erst die gegebene Darstellung des Inhalts der Kantischen Lehren ergänzen oder doch die Einseitigkeit des unter der bisherigen Perspektive gewonnenen Bildes durch Vorführung eines unter anderer Perspektive zu gewinnenden, für sich ebenso einseitigen Bildes ausgleichen.

Das transzendentale Vorurteil Ich will hier zunächst Kants Methode erörtern. Von der Bedeutung dieser Methode, die er die kritische nennt, habe ich früher gehandelt. Kant läßt sich nun aber bei der Anwendung, die er von dieser Methode macht, durch einen Fehler irreführen, der sehr weittragende Konsequenzen hat. Die Klarlegung dieses Fehlers läßt sich am besten anknüpfen an Kants Begriff des Transzendentalen. »Transzendental« nennt Kant, wie wir wissen, eine Erkenntis, die sich nicht so sehr auf Gegenstände, als vielmehr auf unsere Erkenntnis von Gegenständen bezieht, nämlich inwiefern diese Erkenntnis a priori möglich sein soll. Da erhebt sich die Frage: Welcher Erkenntnisart gehört die transzendentale Erkenntnis ihrerseits an? Ist sie vielleicht auch, wie diejenige Erkenntnis, auf die sie sich bezieht, eine Erkenntnis a priori? Diese Frage hat sich Kant niemals bestimmt vorgelegt. Das ist der Grund geworden, weshalb er selbst in Unklarheit über den Charakter seiner Methode geblieben und in ihrer Anwendung zu Fehlern verleitet worden ist. Einige Äußerungen von ihm lassen ohne weiteres erkennen, daß er seine transzendentale Erkenntnis nicht hinreichend von der Erkenntnis, auf die sie sich richtet, unterschieden hat und so unwillkürlich zu der Ansicht gedrängt worden

266

I. Teil: David Hume und Immanud Kant

ist, sie gehöre selbst einer Art der Erkenntnis a priori an. So sagt er einmal bei der Erklärung des Begriffs der transzendentalen Erkenntnis geradezu, nicht jede Erkenntnis a priori dürfe »transzendental« genannt werden, sondern nur diejenige, wodurch wir erkennen, daß und wie eine Erkenntnis a priori möglich sei. Hiermit ist behauptet, daß zwar nicht jede Erkenntnis a priori eine transzendentale, aber doch, umgekehrt, jede transzendentale Erkenntnis eine Erkenntnis a priori sei. Das Irrige dieser Annahme können wir leicht nachweisen. Die transzendentale Erkenntnis hat Erkenntnisse zum Gegenstand, und zwar sowohl hinsichtlich des Tatbestandes wie auch hinsichtlich der Gründe ihrer Möglichkeit. Lassen wir nun hierbei zunächst die schwierige Frage nach dem Grunde der objektiven Möglichkeit oder Gültigkeit beiseite, so ist jedenfalls klar, daß sowohl die Frage nach dem Tatbestand von Erkenntnissen a priori als auch die Frage nach ihrer subjektiven Möglichkeit eine psychologische ist. Diese Frage hat es zu tun mit Erkenntnissen als solchen. Und Erkenntnisse sind, welches auch ihr Gegenstand sein mag, selbst doch nur Gegenstand der inneren Erfahrung. Also muß auch die transzendentale Erkenntnis eine solche aus innerer Erfahrung sein und kann nicht selbst zu den Erkenntnissen a priori gehören. Eine Erkenntnis aus innerer Erfahrung aber ist eine psychologische Erkenntnis. Um für das Folgende die Ausdrucksweise zu vereinfachen, will ich Kants Meinung von der Apriorität der transzendentalen Erkenntnis nach einem von Fries geprägten Ausdruck das transzendentale Vorurteil nennen. Wenn man von diesem transzendentalen Vorurteil ausgeht, das heißt also, wenn man als selbstverständlich voraussetzt, die transzendentale Erkenntnis sei nicht nur eine solche, die Erkenntnisse a priori zum Gegenstand hat, sondern auch selbst eine Erkenntnis a priori, wenn man also den empirischen und psychologischen Charakter der vernunfl:kritischen Untersuchungen verkennt, so wird man zu einer merkwürdigen Konsequenz genötigt. Wir wollen uns aber zuerst fragen: Wie kommt Kant auf das transzendentale Vorurteil? Liegt hier vielleicht ein tieferer Grund vor, der ihn zu diesem Vorurteil drängt? Das ist in der Tat der Fall. Kant stellt sich die Aufgabe, durch die Kritik der reinen Vernunft eine Begründung der synthetischen Urteile a priori zu liefern. Wie könnte aber eine

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

267

Erkenntnis a priori gelten, das heißt unabhängig von aller und jeder Erfahrung, wenn ihre Begründung nur durch Erfahrung möglich wäre? Wenn man dieses Verhältnis erwägt, so scheint es in der Tat, als ob die Begründung der synthetischen Urteile a priori nur durch Erkenntnisse a priori möglich wäre und also nicht durch solche psychologischer Art. Dieser Gedanke hat Kant offenbar vorgeschwebt und war es, was ihn veranlaßt hat, die synthetischen Urteile a priori in seiner Kritik der Vernunft wieder durch Erkenntnisse a priori begründen zu wollen. Daß dies der Grund des Kantischen Irrtums ist, bestätigt sich dadurch, daß er sich die Aufgabe der kritischen Begründung in der Form eines Beweises vorlegt. Er begründet die Grundsätze des reinen Verstandes als die Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung in der Form von »transzendentalen Beweisen«. Dieser Ausdruck zeigt deutlich, daß Kant in dem eben geschilderten Gedankengang befangen war. Es ist vollständig richtig, daß ein Beweis für Urteile a priori nur wieder aus Urteilen a priori geführt werden kann. Anderenfalls läge der Grund der zu beweisenden Urteile ja in der Erfahrung. Dies war der Gedanke, der Kant hier irregeführt hat. Das Vorurteil des Transzendentalen kommt auch schon im Titel des Hauptteiles der »Kritik der reinen Vernunft« zum Ausdruck. Kant nennt ihn »transzendentale Logik«. Was bedeutet dieser Titel? Die transzendentale Logik ist der formalen Logik entgegengesetzt dadurch nämlich, daß sie nicht wie diese analytische, sondern synthetische Urteile a priori enthalten soll. Andererseits aber soll die transzendentale Logik den Ursprung dieser Urteile ermitteln. Das sind zwei Bestimmungen, die miteinander unverträglich sind. Entweder die transzendentale Logik enthält selbst die metaphysischen Urteile, oder sie untersucht deren Ursprung. Im ersten Falle bilden die metaphysischen Urteile den Inhalt, im zweiten den Gegenstand der transzendental-logischen Untersuchung. Diese beiden miteinander unvereinbaren Bestimmungen hat Kant in den Begriff der transzendentalen Logik aufgenommen. Er hat also den Inhalt dieser Wissenschaft mit ihrem Gegenstand verwechselt. Diese Verwechslung ist es, die das Wesen des transzendentalen Vorurteils ausmacht. Wenn die transzendentale Erkenntnis, wie Kant will, einen Beweis für die metaphysischen Grundsätze geben soll, so müßte sie in der Tat die höheren logischen Gründe der metaphysischen Erkenntnis ent-

268

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

halten und insofern selbst eine rationale Erkenntnis sein. Aber diese Voraussetzung ist irrig. Die Kritik soll allerdings die metaphysischen Grundsätze begründen; das heißt aber noch nicht sie beweisen, sondern nur ihren Erkenntnisgrund aufweisen. Dieser Erkenntnisgrund liegt nicht selbst in der Kritik, sondern bildet nur deren Gegenstand. Die Kritik enthält, mit anderen Worten, zwar die Begründung, aber nicht den Grund der metaphysischen Grundurteile. Dieses Verhältnis ist Kant nicht klar geworden. Die Folge davon ist, daß überhaupt das methodische Verhältnis seiner Kritik der Vernunft zu dem gesuchten System der Metaphysik unklar blieb. Die Kritik der Vernunft sollte nur die Propädeutik zu einem solchen System sein und dieses noch nicht selbst enthalten. Sie sollte ja vielmehr erst die Frage untersuchen, ob überhaupt und wie ein solches System möglich ist. Die Prinzipien dieses Systems sollen die höchsten und allgemeinsten metaphysischen Wahrheiten selbst sein, also Wahrheiten, die als solche auch aller Erfahrung übergeordnet sind. Die Kritik der Vernunft dagegen hat es nur mit einer besonderen und untergeordneten Klasse von Wahrheiten zu tun, nämlich denen, die das Vermögen der menschlichen Vernunft zu metaphysischer Erkenntnis betreffen. Dies ist in der Tat nur ein Teilgebiet von Wahrheiten und zwar ein solches, das den Wahrheiten, die die Prinzipien der Metaphysik bilden, logisch durchaus untergeordnet ist. Es ist sogar nur ein Teilgebiet der Psychologie, das heißt der Wissenschaft aus innerer Erfahrung. Nach dem Kantischen Vorurteil des Transzendentalen dagegen gewinnt es den Anschein, als ob die Sätze der Kritik, da sie den Beweisgrund der Prinzipien jenes Systems enthalten sollen, den metaphysischen Prinzipien noch logisch übergeordnet wären. Dann müßten die Sätze der Kritik selbst an die Spitze des Systems der Metaphysik treten und ein noch höheres und allgemeineres System von Wahrheiten darstellen, als es das erst daraus abgeleitete System der Metaphysik wäre. Wenn Kant seine transzendentale Untersuchung aller nur psychologischen Erkenntnisart entgegensetzt, so schwebt ihm dabei freilich noch ein anderer, an sich durchaus richtiger Gedanke vor, den er nur mißdeutet. Die Aufgabe seiner Kritik ist gegenüber alledem, was man bis dahin als Psychologie gekannt hatte, etwas vollständig Neues. Und es mußte ihm darauf ankommen, diese Eigenart seines Problems scharf

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

269

dem, was in die bisher bekannte Psychologie gehörte, gegenüberzustellen. Die kritische Untersuchung hat es in der Tat nicht mit der von den Psychologen bis dahin allein behandelten genetischen Frage zu tun, wie Erfahrung entsteht und wie überhaupt eine Erkenntnis sich entwickelt. Wenn man der Frage der zeitlichen Entstehung irgendwelcher Urteile nachgeht, so kommt man stets auf empirische Gründe als Anlässe der Entwicklung unserer Erkenntnis zurück. Und wenn man also der transzendentalen Fragestellung die genetische unterschiebt, so muß das Ergebnis allemal ein Empirismus sein, indem man nämlich die zufälligen Anlässe für das Bewußtwerden einer Erkenntnis mit deren Erkenntnisgrund verwechselt. Indem Kant sich gegen jede solche empiristische Mißdeutung wendet, begeht er aber zugleich den Fehler, daß er meint, er müßte jede Art empirischer Untersuchung der Erkenntnisgründe für seinen Zweck ablehnen. Die Deduktion der metaphysischen Prinzipien, die er in der Kritik der Vernunft beabsichtigt, darf, so erklärt er, keine empirische Deduktion sein, denn das würde, wie er meint, heißen, die metaphysischen Prinzipien aus der Erfahrung ableiten, wodurch die transzendentale Fragestellung gerade verschüttet wird. Aber hierin liegt nur wieder sein Fehler der Verwechslung des Gegenstandes der kritischen Untersuchung mit ihrem Inhalt. De.n Grund eines Urteils in einer Erkenntnis a priori aufweisen, das heißt noch nicht, daß diese Aufweisung selbst eine Erkenntnis a priori sein müßte. Und wenn wir nur im Auge behalten, daß die transzendentale Untersuchung eine ganz andere Aufgabe hat als die genetische Erklärung der fraglichen Prinzipien, so können wir unbedenklich, ja müssen wir, um dem Vorurteil vorzubeugen, sagen, daß die kritische Untersuchung einer psychologischen Erkenntnisart angehört, nämlich einer solchen aus innerer Erfahrung. Wir mögen dann die kritische Untersuchung als eine »transzendental-psychologische« von aller nur genetisch-psychologischen unterscheiden.

Der formale Idealismus

Welche Folgen hatte nun das transzendentale Vorurteil für die Ausführung von Kants Werk?

270

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Solange wir nur seine Beantwortung der quaestio facti, also die von ihm so genannte metaphysische Erörterung der Kategorien in Betracht ziehen, ist gegen seine Darstellung nichts einzuwenden, wenn sie auch nur unvollständig gegeben ist und zu kurz angedeutet bleibt, um allgemeinverständlich und überzeugend zu sein. Diese Mängel betreffen nur das Formale der Darstellung. Aber sachlich ungenügend ist seine Beantwortung der quaestio iuris, die im engeren Sinne von ihm so genannte transzendentale Deduktion. Kant versucht die Begründung der Rechtmäßigkeit des Gebrauchs der Kategorien in seiner objektiven Deduktion der Kategorien. Wir wollen, um deren Prüfung vorzubereiten, ausgehen von Kants Behandlung des Problems in der transzendentalen Asthetik. Kant stellt hier die Frage: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der Mathematik möglich? Seine Antwort liegt in der Aufweisung der reinen Anschauung. Durch die Aufweisung dieser reinen Anschauung werden die synthetischen Urteile a priori der Mathematik auf eine unmittelbare Erkenntnis zurückgeführt. Kant geht aber weiter und stellt sich die Frage: Wie ist reine Anschauung selbst möglich? Das heißt, wie kann sich Anschauung a priori auf Gegenstände beziehen? Eine Anschauung a priori ist nämlich eine solche, die sich auf Gegenstände bezieht, ehe diese uns gegeben sind. Wie kann sich aber überhaupt eine Erkenntnis auf einen Gegenstand beziehen, ehe dieser uns gegeben ist? Wie ist es zu begreifen, daß die Erkenntnis mit dem Gegenstand übereinstimmt, wenn dieser Gegenstand nicht selbst als Grund der Möglichkeit der Erkenntnis vorhergeht? Mit anderen Worten: Wie ist es möglich, den Gegenständen, die wir noch nicht kennen, ihre Gesetze vorzuschreiben? Dieses ist eigentlich die Frage der objektiven Deduktion. Ihre Lösung liegt für Kant in seiner Lehre vom formalen Idealismus. Sie liegt, was insbesondere die Möglichkeit der reinen Anschauung betriffi, in der Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit. Die reine Anschauung kann sich nur insofern auf Gegenstände beziehen, als sie die bloße Form unserer Sinnesanschauung enthält, und das bedeutet für Kant: nur insofern, als die Gegenstände, auf die sie sich bezieht, nur Erscheinungen unserer Sinne sind und nicht Dinge an sich. Diesen formalen Idealismus, die Lehre, daß den Formen unserer Erkenntnis keine Bedeutung für die Dinge an sich zukommt, dehnt Kant dann aus auf das

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

271

ganze Gebiet von synthetischen Erkenntnissen a priori und also auch auf den Gebrauch der Kategorien. Es entsteht ihm nämlich, analog wie vorher für die reine Anschauung, die Frage: Wie können sich die Kategorien auf Gegenstände beziehen? Er antwortet: Dadurch, daß die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, nur Erscheinungen sind und keine Dinge an sich. So führt er hier schon, unabhängig von der Auflösung der Antinomien, seinen transzendentalen Idealismus ein, das heißt die Lehre, daß die Gegenstände unserer Erkenntnis nur Erscheinungen sind. Ich habe eine Kritik dieses formalen Idealismus schon bei der Beurteilung der Kantischen Dissertation vom Jahre 1770 gegeben. Ich habe dort bereits die allgemeine Voraussetzung erörtert, die dieser Lehre zugrunde liegt. Wir finden diese Voraussetzung in der »Kritik der reinen Vernunft" ausdrücklich formuliert. Es ist, sagt Kant hier, nur auf zwei Weisen möglich, daß sich unsere Erkenntnis auf Gegenstände bezieht, entweder, wenn der Gegenstand die Vorstellung oder wenn diese den Gegenstand erst möglich macht. Das erste, daß der Gegenstand der Grund der Möglichkeit der Vorstellung ist, ist der Fall bei aller empirischen Erkenntnis. Das andere, daß die Vorstellung selbst erst den Grund der Möglichkeit des Gegenstandes enthält, triff\: für die Erkenntnis a priori zu. Deshalb können sich die Kategorien ebenso wie die reine Anschauung nur insofern auf Gegenstände beziehen, als sie selbst den Grund der Möglichkeit der Gegenstände enthalten, also nur insofern, als diese Gegenstände nicht an sich bestehen, sondern bloße Erscheinungen sind. Diese Lehre ruht, wie es der angeführte Satz zum Ausdruck bringt, auf der Voraussetzung, daß die Gültigkeit unserer Erkenntnis, das heißt ihre Übereinstimmung mit dem Gegenstand, nur auf ein Kausalverhältnis zum Gegenstand gegründet werden kann. Diese Voraussetzung haben wir als irrig erkannt. Damit entfällt für uns der Grund, der Kant zu seinem formalen Idealismus geführt hat. Wir müssen aber noch weiter gehen. Die Frage: Wie ist es möglich, daß sich Erkenntnisse auf Gegenstände beziehen? - diese Frage ist nämlich von vornherein falsch gestellt. Das fragliche Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand kann überhaupt nicht das Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung sein. Denn eine Vergleichung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ist unmöglich. Um die objektive Gültig-

272

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

keit unserer Erkenntnis, das heißt ihre Übereinstimmung mit dem Gegenstand, prüfen zu können, müßten wir den Gegenstand schon unabhängig von unserer Erkenntnis kennen. Wir kennen ihn aber nur durch die Erkenntnis, die wir von ihm haben. Wir müßten also diese Erkenntnis schon als gültig voraussetzen, um sie mit dem Gegenstand vergleichen zu können, und würden uns also in einem Kreise bewegen. Diese Unmöglichkeit, die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand zu beweisen, hat Kant in anderem Zusammenhang wohl bemerkt. Er verwickelt sich aber in seinem Versuch der objektiven Deduktion trotzdem selbst in diesen Fehler. Was in seiner Ausführung dieser Deduktion richtig ist - und sie enthält einen großen Reichtum an richtigen Nachweisen-, bezieht sich denn auch im Grunde auf eine ganz andere Frage, nicht auf die objektive Gültigkeit, sondern nur subjektiv auf das Verhältnis der Erkenntnisse untereinander, nämlich auf die Übereinstimmung der Erkenntnis a priori mit der durch sie bedingten Erfahrung. Wenn wir die Frage nur so ins Auge fassen, wie sie richtig zu stellen ist und also das Verhältnis der Erkenntnisse untereinander betrifft, so ist Kants Antwort vollkommen richtig. Es bleibt richtig, daß die Erkenntnis a priori für alle Gegenstände möglicher Erfahrung darum gilt, weil etwas nur unter der Bedingung Gegenstand der Erfahrung werden kann, daß es unter den durch die Erkenntnis a priori erkannten Gesetzen steht. Aber dies sagt nur aus, was schon im Begriff der Erkenntnis a priori liegt. Erfahrung ist nicht der Grund der Erkenntnis a priori, sondern die Erkenntnis a priori enthält umgekehrt die formalen Gründe der Möglichkeit der Erfahrung und gilt insofern notwendig für alle Gegenstände der Erfahrung als solche. Dieses Urteil über die Erkenntnis a priori ist in der Tat selbst ein Urteil a priori. Denn das, was dadurch gesagt wird, macht gerade einen spezifischen Begriff der Erkenntnis a priori aus. Aber wir dürfen mit diesem analytischen Satz über das subjektive Verhältnis der Erkenntnis a priori zu der durch sie bedingten Erfahrungserkenntnis nicht die objektive erkenntnistheoretische Behauptung verwechseln, daß die Erkenntnis a priori der Grund der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sei und daß diese also nur Erscheinungen seien. Um den Schein aufzuklären, der Kant zu diesem Trugschluß ver-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

273

anlaßt hat, wollen wir den Gedanken, der ihn dabei leitete, auf die Form eines Schlusses bringen. Dieser würde dann folgendermaßen lauten: Als Ding an sich muß der Gegenstand unabhängig von seiner Erkenntnis gegeben sein. Erkenntnis a priori ist eine solche, die wir haben, ehe der Gegenstand uns gegeben ist, oder die, wie Kant sagt, dem Gegenstand vorhergeht. Also kann sich Erkenntnis a pnon nicht auf Dinge an sich beziehen.

In dieser Form erkennen wir die Täuschung, die der Kantischen Argumentation zugrunde liegt. Wir sehen aber auch das Bestechende dieser Argumentation. Kant drückt seine Auflösung der Frage so aus, daß er sagt: Erkenntnis a priori enthält nichts als die Form möglicher Erfahrung und muß darum mit allen Gegenständen der Erfahrung übereinstimmen. Denn diese Gegenstände hängen ihrer Form nach von gewissen Bedingungen ab, und diese Bedingungen sind es gerade, was wir a priori von den Gegenständen erkennen. So weit ist die Überlegung richtig. Aber hier liegt eine verhängnisvolle Zweideutigkeit im Gebrauch des Ausdrucks »Form«. Die Erkenntnis a priori ist zwar die Form der Erfahrungserkenntnis, aber sie ist darum nicht die Form der Gegenstände der Erfahrung. Dieses Schwanken zwischen dem subjektiven und dem objektiven Gebrauch des Wortes »Form« bringt es mit sich, daß Kant das Verhältnis der Erkenntnis a priori zur Erfahrung mit ihrem Verhältnis zum Gegenstand verwechselt, daß er, mit anderen Worten, die Abhängigkeit der Erfahrung von Erkenntnissen a priori schon für eine Abhängigkeit des Gegenstandes der Erfahrung von Erkenntnissen a priori nimmt. Es ist aber, wenn wir die Sache schärfer ins Auge fassen, das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand bei der Erkenntnis a priori gar kein anderes als bei der empirischen Erkenntnis. Denn wenn, wie Kant richtig sage, die Erkenntnis a priori

274

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

nur auf die Form der Gegenstände der Erfahrung geht, so ist doch diese Form der Gegenstände der Erfahrung ihrerseits der Gegenstand der Erkenntnis a priori. Und von diesem Gegenstand können wir nicht sagen, daß die Erkenntnis a priori sich auf ihn bezieht, ehe er uns gegeben ist. Sondern die Erkenntnis a priori hat in diesem Sinne ihren Gegenstand ebenso unmittelbar bei sich wie die Erkenntnis a posteriori (die Sinnesanschauung) den ihren. Was hierbei irreführt, ist eine Zweideutigkeit, die schon im Gebrauch des Wortes »Gegenstand« liegt. Man versteht unter diesem Wort einmal das bestimmte Einzelding und also dasjenige, was in der Tat nur Gegenstand der Erfahrung sein kann. Man versteht darunter aber auch, allgemeiner, das in irgendeiner Vorstellung Vorgestellte als solches. Und dieses in einer Vorstellung Vorgestellte braucht seinerseits nicht notwendig ein bestimmtes Einzelding zu sein. Es kann auch die bloße Form eines solchen sein. So verhält es sich in der Tat bei den Erkenntnissen a priori. Das, was wir, durch diese erkennen und was also in diesem Sinne der Gegenstand der Erkenntnis a priori ist, das ist im anderen Sinne des Wortes »Gegenstand« die bloße Form möglicher Gegenstände, nämlich die Form der bestimmten einzelnen Dinge, die ihrerseits Gegenstand der Erfahrung sind. Auf dieser Verwechslung beruht die quaternio terminorum, die Vertauschung der Begriffe, die der Kantischen Schlußweise zugrunde liegt. Das Wort »Gegenstand« wird im Untersatz dieses Schlusses in einem ganz anderen Sinne gebraucht als im Obersatz. Im Obersatz handelt es sich um den Gegenstand in der allgemeinen Bedeutung des Wortes, das heißt um dasjenige, was in einer Erkenntnis erkannt wird. Es macht in der Tat den Begriff einer Erkenntnis von Dingen an sich aus, daß das in ihr Erkannte unabhängig von der Erkenntnis existieren muß. Im Untersatz aber bedeutet das Wort »Gegenstand« den empirisch bestimmten einzelnen Gegenstand, der als solcher nur Gegenstand der Erfahrung sein kann. Und die Verschiedenheit dieser beiden Begriffe macht es unmöglich, aus den beiden Sätzen einen Schluß zu bilden, wie es bei Kant fälschlicherweise geschieht. Wir können, wenn wir das Wort »Gegenstand« in dem Sinne festhalten, in dem es im Obersatz gebraucht wird, den Untersatz nicht aufrechterhalten. Wir können dann nicht sagen, daß Erkenntnis a priori eine solche ist, die dem Gegenstand vorhergeht. Sie geht zwar

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

275

dem Gegebensein des empirisch bestimmten einzelnen Gegenstandes der Erfahrung vorher. Das heißt nichts anderes als: Sie ist eine Erkenntnis a priori. Aber sie hat ihren Gegenstand, das heißt das, was durch sie erkannt wird, unmittelbar bei sich, gerade so wie die Erkenntnis a posteriori. Durch die Zweideutigkeit des Wortes »Gegenstand« wird Kant auch veranlaßt, den Gegenstand der Erkenntnis a priori mit ihrem Inhalt zu verwechseln. Er hat als Gegenstand, auf den sich Erkenntnisse a priori beziehen, gleich die bestimmten Einzeldinge der Erfahrung im Auge. Und dadurch verwechselt er wieder den unmittelbaren Gegenstand der Erkenntnis a priori mit ihrem Inhalt, das heißt die Form der Gegenstände der Erfahrung mit der Erkenntnis a priori selbst. Wenn er zum Beispiel sagt, der Raum sei nur die subjektive Form der Erscheinungen in uns und nichts außer uns Bestehendes, so drückt sich dadurch diese Verwechslung aus. Das Wort »Form« ist hier irreführend. Der Raum ist nicht eine Vorstellung in mir, sondern er ist der Gegenstand meiner Vorstellung und als solcher außer mir. Nur die Vorstellung des Raumes ist, als reine Anschauung, in mir. Diese reine Anschauung ist also nicht selbst, wie Kant es darstellt, die Form der Gegenstände der Erfahrung. Sondern Raum und Zeit sind die objektiven Formen dieser Gegenstände und als solche selbst Gegenstände unserer reinen Anschauung. Durch diese Verwechslung des Inhalts der Erkenntnis a priori mit ihrem Gegenstand entsteht für Kant das erkenntnistheoretische Problem des Verhältnisses der formalen Vorstellungen zu den einzelnen Gegenständen. Die Frage ist für ihn die: Was bürgt dafür, daß Erkenntnisse a priori mit den einzelnen Gegenständen, denen sie doch vorausgehen, übereinstimmen? Wie läßt sich diese Übereinstimmung begreiflich machen? Wie läßt sich ihre Notwendigkeit einsehen? Dieses Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand ist ein reales Verhältnis und nicht ein bloß logisches Verhältnis von Erkenntnissen untereinander. Als ein solches reales Verhältnis betrachtet es auch Kant, indem er es als ein Kausalverhältnis deutet. Daß nun bei Erkenntnissen a priori nicht der Gegenstand Ursache der Erkenntnis ist, sondern die Erkenntnis der Grund der Möglichkeit des Gegenstandes sein muß, das erscheint bei Kant als eine einfache Folge aus dem Begriff der Apriorität der

276

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Erkenntnis. Und er mußte diese Folgerung ziehen auf Grund der eben aufgedeckten Verwechslung. Denn Erkenntnis a priori ist in der Tat eine solche, die wir haben, ehe der Gegenstand, auf dessen Form sie sich bezieht, gegeben ist. Eine Erkenntnis, die unabhängig ist vom Gegebensein des Gegenstandes, kann aber offenbar nicht den Gegenstand selbst schon zum Grund ihrer Möglichkeit haben. Denn um Grund der Möglichkeit der Erkenntnis zu sein, müßte der Gegenstand gegeben sein, müßte er der Erkenntnis vorausgehen, und nicht umgekehrt. Also, schließt Kant folgerichtig, ist bei Erkenntnissen a priori die Erkenntnis selbst der Grund der Möglichkeit des Gegenstandes. So schließt er auf die Idealität des Raumes und der Zeit aus der Apriorität ihrer Erkenntnis. Es wäre hiernach, wenn es damit seine Richtigkeit hätte - schon das muß auffallen -, durchaus nicht etwa eine besondere Eigentümlichkeit unserer Erkenntnis a priori, daß sie dieser Beschränkung unterworfen wäre, nur für Erscheinungen und nicht für Dinge an sich gelten zu können. Die Konsequenz der Idealität würde vielmehr haften am bloßen Begriff einer Erkenntnis a priori. Kants Schlußweise hat nun freilich noch eine weitere Voraussetzung. Wir wissen aus jenem Briefe an Marcus Herz, von dem ich berichtet habe, daß Kant in der Tat noch eine dritte Möglichkeit in Betracht gezogen hat, nämlich die Möglichkeit einer prästabilierten Harmonie zwischen Erkenntnis und Gegenstand. Diese prästabilierte Harmonie hat er verworfen, und zwar darum, weil sie als Erklärungsgrund für die Gültigkeit unserer Erkenntnis einen Zirkel einschließt. In der Tat: Die Erkenntnis, daß eine prästabilierte Harmonie besteht, kann nicht ihrerseits wiederum durch Berufung auf die prästabilierte Harmonie begründet werden. Kant hat aber nicht bemerkt, daß dieser Zirkel gar nicht für das System der prästabilierten Harmonie eigentümlich ist, daß er nicht an diesem besonderen Versuch einer Lösung des Problems haftet, sondern sich vielmehr in jeder Lösung des Problems wiederfinden muß und also auch in Kants eigener Lösung. Aber wie wollen wir uns unsererseits mit diesem Problem abfinden? Es scheint, daß wir es nicht umgehen können. Worauf beruht die Gewißheit von der Gültigkeit unserer Erkenntnis? Was verbürgt uns diese Gültigkeit? Darauf sage ich: So dürfen wir gar nicht fragen. Was allein für die Gültigkeit unserer Erkenntnis bürgt, das ist diese Erkenntnis

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

277

selbst, das ist der Umstand, daß wir sie faktisch besitzen. Wir bedürfen, um ihre Gültigkeit zu behaupten, nicht erst eines Kriteriums außer ihr. Ich sage also: Ein solches Kriterium ist nicht nur, wie wir vorhin bereits fanden, unmöglich, sondern auch unnötig. Man muß sich nur das Faktische der Erkenntnis als solches klarmachen, das, was schon ohne unser Zutun in ihr liegt und weshalb wir sie ja nur Erkenntnis nennen, um sich zu überzeugen, daß alle weitere Begründung der Objektivität der Erkenntnis ebenso unnötig wie unmöglich ist. Die Gewißheit, die wir hier angeblich suchen, ist es ja gerade, was im Faktum der Erkenntnis selbst liegt. Es ist das Eigentümliche, weshalb wir etwas »Erkenntnis« nennen, daß es uns diese Gewißheit gibt. Und wenn sie nicht darin läge, so gäbe es auch nichts anderes, woher wir sie nehmen könnten. Dieses andere könnte doch nur wieder eine Erkenntnis sein. Denn wir müßten das fragliche Kriterium, um es anzuwenden, erkennen. Und die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit der Erkenntnis würde sich für diese Erkenntnis nur von neuem einstellen. Die Frage kann also nicht sowohl sein, ob unsere Erkenntnis objektive Gültigkeit hat, als vielmehr nur, welche Erkenntnis wir faktisch besitzen. Diese Auffassung des Tatbestandes ist es eigentlich, die Kants Widerlegung des empirischen Idealismus zugrunde liegt. Und so sehen wir wiederum, wie schwer es selbst dem größten Forscher werden kann, seine eigenen Entdeckungen in ihrer Tragweite zu begreifen und fest im Auge zu behalten. In seiner Widerlegung des Idealismus zeigt Kant, daß die Gewißheit von der Erkennbarkeit der Außenwelt nicht auf einem Beweis beruhen kann, sondern daß die äußere Wahrnehmung sich unmittelbar auf Gegenstände außer uns bezieht und jede weitere Rechtfertigung ihrer Gültigkeit durch ihre eigene Wirklichkeit entbehrlich macht. Dieser Gedanke hat eine allgemeinere Bedeutung. Er findet Anwendung nicht nur auf die äußere Wahrnehmung, sondern kann dazu dienen, uns von den Irrtümern auch der Kantischen Erkenntnistheorie zu befreien. Er widerlegt nicht nur den empirischen, sondern auch den formalen Idealismus. Was Kant für die äußere Wahrnehmung nachweist, gilt in entsprechender Anwendung für die Erkenntnis a priori. Wenn also gefragt wird: Worauf sollen wir die Behauptung gründen, daß unsere Erkenntnis a priori für die Gegenstände gültig ist, denen sie doch vorhergeht,

278

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

und daß also die einzelnen Gegenstände, die wir a posteriori erkennen, der Erkenntnis, die wir a priori haben, gemäß sind?, so ist die Antwort: darauf, daß wir diese Erkenntnis a priori haben. Das ist es ja, was wir, dank dem Besitz dieser Erkenntnis a priori, a priori erkennen: daß die einzelnen Gegenstände unter den Gesetzen stehen, deren Gültigkeit wir a priori erkennen. Die Schwierigkeit liegt nur in der Einfachheit des Sachverhalts. Nun meint Kant zwar - und er gibt diesem Gedanken auch wiederholt Ausdruck -, daß, in Ermangelung weiterer Gründe, aus denen wir die Notwendigkeit dieser Übereinstimmung einsehen könnten, sie bloß zufällig bliebe und daß also zum Beispiel den Kategorien die Notwendigkeit fehlen würde, die doch ihrem Begriffe wesentlich ist. Die fragliche Übereinstimmung könnte, meint er also, dann nur zufällig stattfinden. Das heißt, wir könnten dieser Übereinstimmung niemals sicher sein, sondern sie doch nur von Fall zu Fall a posteriori feststellen. Diese Kantische Überlegung hat offenbar den Fehler, daß sie die Voraussetzung aufhebt, von der die Stellung des Problems erst ausgeht, nämlich daß wir die fragliche Erkenntnis a priori besitzen. Denn mit dieser Erkenntnis a priori ist die Erkenntnis ihrer objektiven Gültigkeit schon gegeben, so wie mit jeder Erkenntnis die Erkenntnis ihrer objektiven Gültigkeit von selbst gegeben ist. Es wäre ein Widerspruch, daß wir etwas als wahr erkennen - zum Beispiel das Bestehen eines Naturge1setzes - und nicht wüßten, ob die Erkenntnis, durch die wir es erkennen, wahr ist. Es bedarf also keines weiteren Kriteriums außer der gegebenen Erkenntnis, um uns der objektiven Gültigkeit dieser Erkenntnis zu versichern. Aber freilich: Der Widerspruch in dieser Annahme ist nur ein solcher gegenüber der vorausgesetzten Erkenntnis selbst, und nicht ein Widerspruch in sich selbst. Es ist kein logischer Widerspruch, und also liegt in der Tat keine logische Notwendigkeit für die objektive Gültigkeit irgendeiner Erkenntnis vor. Man kann also auch nicht aus der Feststellung der Tatsache, daß wir eine bestimmte Erkenntnis besitzen, einen logischen Schluß ziehen auf deren objektive Gültigkeit. Jeder

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

279

Versuch einer solchen Schlußfolgerung würde uns ja in jenen erkenntnistheoretischen Zirkel wieder verstricken. Es ist offenbar Kants Fehler, daß er hier, wo nur das Faktum der Erkenntnis für ihre eigene Gültigkeit entscheiden kann, eine logische Sicherstellung sucht. Er fällt also in den alten Fehler zurück, dessen Überwindung wir gerade seinen großen Entdeckungen verdanken, in den Fehler, ein Realverhältnis logisch umdeuten zu wollen, das heißt, es auf eine logische Notwendigkeit zurückführen zu wollen. Denn die Aufgabe, ein solches Realverhältnis begreiflich zu machen und also auf höhere Gründe zurückzuführen, aus denen wir seine Notwendigkeit einsehen können, läuft ja darauf hinaus, es auf den Satz des Widerspruchs zurückzuführen. So findet hier das alte scholastische Vorurteil, das von Descartes axiomatisch festgestellt worden war, wonach kein Realverhältnis möglich sei, dessen Möglichkeit nicht für den Verstand einsehbar wäre, jenes Vorurteil, das Kant aus dem System der Metaphysik endlich verbannt hatte, hier in der Erkenntnistheorie einen neuen Schlupfwinkel. Die Kantische Lehre vom formalen Idealismus bedeutet demnach im Grunde nichts anderes als den Versuch, die Gültigkeit der synthetischen Erkenntnis a priori durch deren Zurückführung auf eine logische Erkenntnis zu rechtfertigen und also im Grunde ihren synthetischen Charakter wieder zu verleugnen. Die aufgedeckte Verwechslung erklärt uns mannigfache Dunkelheiten, Zweideutigkeiten und Widersprüche, die wir in der Kantischen Darstellung antreffen und die sonst unverständlich bleiben. So kann man mit einem paradoxen Ausdruck sagen, daß Kant die objektive Gültigkeit unserer Erkenntnis a priori durch deren Subjektivität erklärt. Wie ist dieser Doppelsinn der Ausdrücke »objektiv« und »subjektiv« hier zu verstehen? Unter dem Gegenstand oder Objekt versteht Kant einmal das unsere Sinne affizierende Ding an sich. Und die Gültigkeit oder Objektivität unserer Erkenntnis besteht nach diesem Begriff in ihrer Beziehung auf solche affizierenden Dinge an sich. Andererseits versteht Kant, indem er die Objektivität unserer Erkenntnis, der Lehre vom formalen Idealismus zufolge, von der Beziehung auf Dinge an sich loslöst, unter dem Gegenstand oder Objekt die synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erfahrung, die ihm das empirische Kriterium für den Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit

280

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

liefert. Objektivität hat eine Vorstellung demgemäß durch ihre Beziehung auf die Einheit der Erfahrung. Und die Begründung der Objektivität einer Vorstellung a priori liegt daher in dem Nachweis, daß sie sich auf die Möglichkeit der Erfahrung bezieht, daß sie eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist. Aus diesem Gesichtspunkt führt Kant seine objektive Deduktion für die einzelnen Grundsätze des reinen Verstandes als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung. Er zeigt, wie die Grundsätze des reinen Verstandes, gerade wie die aus reiner Anschauung, dadurch Gültigkeit erhalten, daß sie sich auf die synthetische Einheit der Erfahrung beziehen und also Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Sie können aber, nach Kants Deutung des Sachverhalts, eine solche Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung nur insofern haben, als sie diese Gegenstände als Erscheinungen überhaupt erst möglich machen und also zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Die Objektivität im zweiten Sinn ist also bedingt durch die Subjektivität im ersten Sinn.

Der transzendentale Beweis Betrachten wir hiernach genauer den logischen Charakter der Kantischen transzendentalen Beweise. Ihr Grundgedanke ist dieser: Die fraglichen Grundsätze sind Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung; also haben sie Gültigkeit für alle Gegenstände möglicher Erfahrung. So formuliert, hat der Schluß nur eine Prämisse. Wir müssen uns fragen: Welches ist die zweite Prämisse, auf der der Übergang zu dem Schlußsatz beruhen soll? Die ausgesprochene Prämisse sagt uns, daß die fraglichen Grundsätze Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Und dies zeigt der transzendentale Beweis wirklich. Wie soll aber von hier aus auf die Gültigkeit jener Grundsätze geschlossen werden? Man versucht wohl, als zweite Prämisse die Berufung auf die Wirklichkeit der Erfahrung einzuführen. Unzweifelhafl: haben wir wirklich Erfahrung. Das ist ein Faktum, das wir, wie es scheint, nur als solches zu konstatieren brauchen, um auch auf die Gültigkeit der Bedingungen der Möglichkeit dieses Faktums zu schließen. Was wirklich ist, muß

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

281

erst recht möglich sein. Erfahrung ist wirklich, also ist sie auch möglich: also gelten auch die Bedingungen, von denen ihre Möglichkeit abhängt. Diese Art, zu schließen, beruht auf der Zweideutigkeit des Ausdrucks » Wirklichkeit der Erfahrung«. Wenn wir von der Wirklichkeit der Erfahrung als von einem zu konstatierenden Faktum sprechen, so kann nur das Vorkommen von Erfahrungsurteilen gemeint sein. Solche Erfahrungsurteile haben wir ohne Zweifel. Aber was wir an ihnen als Tatsache konstatieren können, ist doch nur ihr Anspruch auf Gültigkeit. Und aus der Tatsache des Anspruchs dieser Urteile auf Gültigkeit läßt sich nicht auf die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs schließen. Wir müssen aber die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs schon voraussetzen, um rückwärts auf die Gültigkeit der Bedingungen zu schließen, unter denen die fraglichen Urteile allein gültig sein können. Um aber die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs zu behaupten, müßten wir sie begründen. Wir könnten sie aber nur begründen auf Grund der Voraussetzungen, von denen ihre Gültigkeit abhängt. Das sind aber gerade die Sätze, die durch den transzendentalen Beweis erst begründet werden sollen. Wir müßten diese Sätze also schon begründet haben, um von der angeblichen zweiten Prämisse, von der Wirklichkeit der Erfahrung, Gebrauch machen zu können. Wenn also auch als bewiesen gelten kann, daß die fraglichen Grundsätze Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, so fehlt doch von hier aus noch die Brücke zu dem Schlußsatz, wonach sie zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sein sollen. Es bleibt die Frage, ob und wie sich wohl diese Brücke schlagen ließe. Die Unstatthaftigkeit des Vorschlags, sich hierfür auf die Wirklichkeit der Erfahrung zu stützen, kann man schon daran erkennen, daß, wenn ein solches Verfahren gangbar wäre, die zu beweisenden Sätze ja empirisch sein müßten. Wir können das Faktum der Erfahrung seinerseits nur als eine empirisch zu konstatierende Tatsache feststellen. Und also müßten auch die aus diesem Faktum erschlossenen Sätze Erfahrungssätze sein, was ihrem Charakter als metaphysischen Sätzen widerspricht. Nun sagt man vielleicht, es komme nicht auf die Wirklichkeit der Erfahrung an, sondern es genüge hier der bloße Begriff der Erfahrung.

282

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Der Erfahrungsbegriff sei der hinreichende Beweisgrund für den transzendentalen Beweis. In der Tat: Diejenigen Bedingungen, die schon im bloßen Begriff eines Erfahrungsgegenstandes liegen und ohne die also kein Gegenstand der Erfahrung als solcher gedacht werden kann, sind eben damit als objektiv gültig für alle Gegenstände der Erfahrung erwiesen. Und so scheint sich hier die Möglichkeit zu eröffnen, a priori die fraglichen Grundsätze zu beweisen. Hier muß uns aber von vornherein der Umstand bedenklich machen, daß, wenn der Begriff der Erfahrung wirklich ein hinreichender Beweisgrund für den transzendentalen Beweis sein sollte, die durch diesen Beweis zu erschließenden Sätze aus dem Begriff der Erfahrung als ihrem Erkenntnisgrund geschöpfl: würden und also analytische Sätze wären und nicht synthetische, was sie als metaphysische Sätze doch sein sollen. Oder sollte hier ein Punkt sein, wo die von Kant selbst mit so viel Klarheit und Schärfe vollzogene Grenzbestimmung zwischen Logik und Metaphysik uns im Stiche läßt und wo die, wie es schien, für immer als nichtig erwiesene Ontologie unter dem neuen Titel einer »transzendentalen Logik« die Paradoxie eines logischen Kriteriums materialer Wahrheit zur Tatsache macht? Wir wollen uns, um sicherzugehen, für die Ablehnung dieses Unternehmens nicht mit der Berufung auf jenes allgemeine kritische Verdikt begnügen, sondern die vorgeschlagene Beweisart für sich prüfen. Da erscheint es denn zunächst recht wohl möglich, sich einen Begriff der Erfahrung zu bilden, in dem bereits gewisse synthetische Bedingungen mitgedacht sind, so daß analytisch aus ihm folgen würde, daß für jeden möglichen Gegenstand der Erfahrung diese synthetischen Bedingungen Geltung haben. Sehen wir aber genauer zu, was hiermit eigentlich gesagt ist. Offenbar nichts anderes, als daß Bedingungen, die, als solche von Gegenständen überhaupt gedacht, synthetisch wären (weil sie im Begriff eines Gegenstandes überhaupt nicht liegen), von einem Gegenstand, in dessen Begriff sie bereits aufgenommen sind, analytisch ausgesagt werden können. So zum Beispiel ließe sich auf diese Weise der analytische Satz beweisen, daß jede Veränderung, als Gegenstand der Erfahrung beurteilt, eine Ursache erfordert, obgleich das Erfordernis einer Ursache für jede Veränderung synthetisch ist. Aber eben darum läßt uns der

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

283

Beweis im Stich, wenn wir von diesem analytischen Satz zu dem metaphysischen Grundsatz der Kausalität übergehen wollen. Denn dieser behauptet ohne jene Einschränkung, daß jede Veränderung eine Ursache hat. Es verhält sich hiermit, bei Licht besehen, wirklich nicht anders als mit dem ontologischen Gottesbeweis. Denn der Satz, daß jede Veränderung, als Gegenstand der Erfahrung beurteilt, eine Ursache erfordert, ist nur eine weniger durchsichtige Umschreibung für die tautologis,che Aussage, daß jede Veränderung, von der wir voraussetzen, daß sie eine Ursache hat, eine Ursache hat. Aber selbst wenn wir unsere Absicht nur auf jene analytischen Sätze richten, so wäre doch erst zu fragen, nach welchem Kriterium wir denn bestimmen sollen, welche Bedingungen der Begriff der Erfahrung umschließt. Denn wenn wir aus dem bloßen Begriff der Erfahrung schließen wollen, so hängt das, was wir durch einen solchen Schluß finden, ganz davon ab, wie sich dieser Begriff zusammensetzt und wie er also definiert wird. Es kommt nur darauf an, was man durch die Definition in den Begriff hineinlegt, um nachher dieses oder jenes aus dem Begriff herausziehen zu können. Wenn es aber nur darauf ankommt, wie ich den Begriff definiere, so kann ich mir die Mühe sparen, das, was ich doch erst durch die Definition hineinlegen muß, nachträglich aus dem Begriff herauszuziehen. Also auch von dieser Seite zeigt sich die Unvermeidlichkeit des Zirkels im Beweise. Durch diese Kritik tritt nun erst recht der wirkliche Gehalt der von Kant beabsichtigten Lehre hervor. Denn man kann diesen Gehalt nur richtig würdigen und festhalten, wenn man den f ehlerhaA:en Formalismus der Kantischen Darstellung von ihr abstreiA:. Wenn wir die logizistische Einkleidung fallen lassen, so zeigt sich, daß der eigentliche Gehalt der Kantischen Gedanken gar nicht in einer Begründung der Sätze besteht, für die er, der Form nach, einen Beweis beabsichtigt, sondern vielmehr in einer regressiven Aufweisung der metaphysischen Grundsätze. Diese Sätze werden hier aufgewiesen durch eine Zergliederung der Erfahrung; wohlgemerkt: nicht des Begriffs der Erfahrung, sondern des wirklichen Verfahrens, durch das wir Erfahrung erlangen. Wenn wir dieses Verfahren zerglied~rn und die Voraussetzungen aufsuchen, die ihm zugrunde liegen, dann kommen wir auf die metaphysischen Grundsätze. Aber hierdurch gewinnen wir keinen Beweis und

284

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

überhaupt keine Begründung dieser Sätze. Wir weisen dadurch nur nach, daß wir die fraglichen Sätze schon voraussetzen, wenn wir Erfahrungsurteile fällen. Wir zeigen dadurch nur ihren Anspruch auf Gültigkeit, wie er in jedem Erfahrungsurteil faktisch liegt, nicht aber ihre Gültigkeit selbst. Diese ganze Untersuchung gehört also, richtig verstanden, nur zur quaestio facti und nicht zur quaestio iuris, wie Kant es fälschlich darstellt. Wenn wir versuchen, diese regressive Aufweisung in einen Beweis für metaphysische Grundsätze zu verwandeln, so erhalten wir allemal einen Zirkelbeweis. Ein solcher Beweis könnte nämlich nur dadurch gelingen, daß man diese Sätze logisch auf irgendwelche Sätze einer anderen Wissenschaft zurückführt, in welchem Falle sie dann in Lehrsätze dieser anderen Wissenschaft verwandelt würden. Ihre Beweisgründe müßten also einer nicht-metaphysischen Wissenschaft entlehnt werden. Diese müßte ihrerseits entweder einer rationalen oder einer empirischen Erkenntnisart angehören. Im ersten Falle würden die fraglichen Beweisgründe entweder logischer Natur sein -das ist unmöglich, weil die zu beweisenden Sätze synthetisch sind -, oder aber, wenn jene Beweisgründe selbst schon synthetische Voraussetzungen enthalten, so müßten diese entweder einer anschaulichen Erkenntnisart angehören -das ist unmöglich, weil es sich um synthetische Sätze aus bloßen Begriffen handelt-, oder jene Beweisgründe müßten selbst metaphysischer Art sein, was wiederum unmöglich ist, weil im metaphysischen Gebiet die zu beweisenden Sätze ihrerseits die obersten und allgemeinsten Grundsätze sind. Es bliebe also nur übrig, daß die fraglichen Beweisgründe einer empirischen Erkenntnis angehören. Aus empirischen Prämissen ist aber kein Schluß auf metaphysische Sätze möglich. Denn diese sind Sätze, die a priori gelten und deren Gründe also nicht in der Erfahrung liegen können. Es ist folglich überhaupt kein Beweis metaphysischer Grundsätze möglich. Nichtsdestoweniger bedürfen die metaphysischen Grundsätze einer Begründung, wie jedes Urteil einer Begründung bedarf. Wenn wir also nicht bei der tatsächlichen Konstatierung ihres bloßen Anspruchs auf Gültigkeit stehenbleiben wollen, so können wir die Beantwortung der quaestio iuris nicht umgehen. Mit dem vermeintlichen Problem der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis, das heißt ihrer Übereinstimmung

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

285

mit dem Gegenstand, haben wir es dabei nicht zu tun, sondern es handelt sich hier nur um die subjektive Vergleichung des Urteils mit seinem Erkenntnisgrund. Jedes Urteil muß, als eine mittelbare Erkenntnis, auf eine unmittelbare Erkenntnis als seinen Grund rzurückgeführt werden. Denn ein Urteil ist als solches nicht ohne weiteres schon Erkenntnis. Verhielte es sich so, dann bedürften wir in der Tat keiner weiteren Begründung. Aber die Assertion kommt im Urteil nur mittelbar zu unseren Begriffen hinzu und bedarf eben darum der Zurückführung auf eine unmittelbare Erkenntnis. Für die Lösung dieser Aufgabe würde uns ein Beweis gar nichts nützen. Denn durch einen solchen würden wir das Urteil wiederum nur auf andere Urteile zurückführen, das heißt auf andere, ebenso mittelbare Assertionen wie die zu begründende, und würden also in bezug auf das, was wir suchen, nichts gewinnen. Wie sollen wir denn nun aber sonst zur Lösung dieser Aufgabe gelangen? Da die Entscheidung der Frage durch eine objektive Deduktion unmöglich ist, so kann sie nur in der richtig verstandenen subjektiven Deduktion gesucht werden, nämlich in der faktischen Aufweisung einer dem Urteil zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis. Da aber diese unmittelbare Erkenntnis der Grund metaphysischer Urteile sein soll, so kann sie nicht eine Anschauung sein. Sie muß also eine unmittelbare und doch nicht-anschauliche Erkenntnis sein. Die Aufweisung einer solchen Erkenntnis ist das Geschäft der subjektiven oder psychologischen Deduktion. Für den Zweck dieser Deduktion genügt es nämlich nicht etwa, die Existenz der unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis als Postulat aufzuweisen, gemäß dem eben geführten Beweise, wonach ohne sie metaphysische Urteile grundlos sein würden. Denn wir dürfen hier nicht aus der Gültigkeit der zu begründenden Urteile schließen, wenn wir uns nicht wieder in einen Zirkel verwickeln wollen. Wir müssen vielmehr die unmittelbare metaphysische Erkenntnis durch ein rein psychologisches Verfahren, nicht als ein bloßes Postulat, sondern als ein Faktum der inneren Erfahrung aufweisen. Wir können dabei, statt von der Gültigkeit der metaphysischen Urteile, in der Tat nur von ihrem faktischen Anspruch auf Gültigkeit ausgehen. Denn dieser allein ist uns als eine psychologisch zu konstatierende Tatsache gegeben.

286

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Die Behauptung seiner Rechtmäßigkeit dagegen wäre selbst schon ein metaphysisches Urteil. Gegenüber einem solchen Verfahren könnte zwar der Verdacht entstehen, daß dadurch die Grenze zwischen der quaestio facti und der quaestio iuris wieder verwischt wird. Denn es geht augenscheinlich darauf aus, die quaestio iuris wiederum auf eine quaestio facti zurückzuführen. Aber diese Besorgnis ist nur die Folge einer Zweideutigkeit. Mit der quaestio facti, die wir der quaestio iuris gegenüberstellen, meinen wir die Frage des Tatbestandes der metaphysischen Urteile. Und es ist freilich klar, daß die quaestio iuris dieser Urteile nicht durch eine Feststellung ihres Tatbestandes gelöst werden kann. Denn wir fragen bei ihr ja nicht nach den metaphysischen Urteilen, sondern vielmehr nach dem Grunde dieser Urteile. Die Frage nach dem Grunde dieser Urteile ist aber ihrerseits allerdings eine Frage des Tatbestandes, zwar nicht der zu begründenden Urteile, aber doch eben ihres Erkenntnisgrundes. Und sie wird daher in der Tat aufgelöst durch den Nachweis des Faktums, daß wir einen solchen Erkenntnisgrund für die zu begründenden Urteile wirklich besitzen. Diesen Ausweg hat Kant nicht gefunden. Er mußte diesen, den allein möglichen Weg zur Begründung metaphysischer Prinzipien verfehlen, weil er die verlangte Begründung in einer objektiven Deduktion suchte, in der sie doch keineswegs liegen kann. Warum aber konnte er die doch auch von ihm versuchte subjektive Deduktion nicht in der eben angegebenen Weise ausführen? Der Grund ist folgender: Kant war, wie seine Vorgänger, befangen in der dogmatischen Disjunktion der Wahrheitskriterien. Er teilte noch ihre Meinung, daß alle Kriterien der Wahrheit entweder empirischer oder logischer Natur sein müßten und daß demgemäß alle Erkenntnisgründe zuletzt in der Sinnesanschauung oder der Reflexion liegen müßten. Diese Voraussetzung galt ihm als so selbstverständlich, daß er sie keiner näheren Prüfung würdigte. Eine Folge dieser Voraussetzung war seine Meinung, daß die Begründung für irgendwelche Urteile a priori nur im Beweis liegen könne. Ein Urteil a priori läßt sich ja nicht auf Sinnesanschauung gründen. Sein Grund muß demnach in der Reflexion liegen und kann daher nur in einem anderen Urteil gefunden werden. Die Begründung eines Urteils durch Zurückführung auf andere Urteile ist aber der Beweis. Und so mußte Kant zu

Kants Begründung der kritisdien Metaphysik

287

seinen transzendentalen Beweisen kommen und bei der Begründung der metaphysischen Grundsätze aus der subjektiven Deduktion heraus und in die vermeintliche objektive der Vergleichung mit dem Gegenstand hinein geraten. Bei einer solchen Auffassung wären aber, strenggenommen, nur zwei Arten von Urteilen möglich, nämlich diejenigen, die schon in der Philosophie vor Kant anerkannt worden waren. Es wären dann Urteile, die synthetisch sein sollen, nur a posteriori möglich, und alle Urteile a priori müßten analytisch sein. Denn alle Urteile aus der Sinnesanschauung sind Urteile a posteriori, und alle Urteile aus der bloßen Reflexion sind analytische. Wir stehen also mit dieser Konsequenz wieder bei der vorkantischen Disjunktion der Urteilsarten. Diese Konsequenz hebt die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori auf. Wir müssen uns fragen, wie sich der Entdecker der synthetischen Urteile a priori mit dieser Konsequenz a priori abgefunden hat, die in seinen Prämissen unvermeidlich lag. Wenn wir dieser Frage nachgehen, so erinnern wir uns, daß sich ihm die metaphysischen Urteile durch die logizistische Begründung, die er ihnen zu geben versuchte, unter der Hand wieder in bloß analytische Urteile verwandelten. Nun hat Kant allerdings die dogmatische Disjunktion der Erkenntnisquellen insofern durchbrochen, als er gezeigt hat, daß es eine Erkenntnisquelle für synthetische Urteile a priori gibt: in der reinen Anschauung. Diese Tatsache scheint im Widerspruch zu stehen mit dem, was wir soeben über seine Ansicht von den Kriterien der Wahrheit festgestellt haben. Dieser Widerspruch ist aber bei Kant nur scheinbar vorhanden. Man muß, um hier Kants Darstellung nicht zu mißdeuten, die Begriffe des Wahrheitskriteriums und der Erkenntnisquelle noch unterscheiden. Wir sind gewöhnt, die Erkenntnisquellen selbst als Wahrheitskriterien zu gebrauchen. Die Berechtigung eines solchen Verfahrens ist aber nach Kants erkenntnistheoretischer Auffassung keineswegs selbstverständlich. Darum, weil die reine Anschauung die Quelle für synthetische Urteile a priori ist, braucht sie nach Kants Auffassung keineswegs schon ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit zu sein. Im Gegenteil: Sein formaler Idealismus lehrt, daß die synthetischen Urteile a priori mitsamt der reinen Anschauung sich nicht auf Objekte beziehen, die unabhängig von unserer Erkenntnis existieren, daß also die Apriorität der synthetischen Erkenntnis die Idealität ihres Gegenstandes zur Folge

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

288

hat. Das heißt nichts anderes, als daß die reine Anschauung kein hinreichendes Wahrheitskriterium für die aus ihr entspringenden Urteile sein kann. Der formale Idealismus beruht gerade auf der Leugnung der objektiven Gültigkeit synthetischer Urteile a priori, wenn wir das Wort »objektive Gültigkeit« im gewöhnlichen Sinn verstehen. Die reine Anschauung gilt also in der Tat nur als Quelle und nicht als Wahrheitskriterium der mathematischen Urteile: Sie wird nur als der subjektive Erklärungsgrund der Möglichkeit solcher Urteile gewürdigt. Um dieses Verhältnis der Erkenntnisquellen zu den Wahrheitskriterien bei Kant deutlicher zu machen, können wir es in dem folgenden Schema darstellen. Wir müssen dafür zunächst die von Kant entdeckte Einteilung der möglichen Urteilsarten ins Auge fassen. Wir haben zuerst die Einteilung aller Urteile in analytische und synthetische. Die synthetischen ihrerseits zerfallen in solche a posteriori und solche a priori. Die Urteile a priori zerfallen wiederum in solche aus der Konstruktion der Begriffe und solche aus bloßen Begriffen. Urteile

~

mly,;,a,,

~

,posmio,i

~

aus der Konstruktion der Begriffe

aus bloßen Begriffen

Welche Erkenntnisquellen finden wir nach Kant für diese verschiedenen Klassen möglicher Urteile? Analytische Urteile haben ihre Quelle im Begriff des Gegenstandes. Das Vermögen der Begriffe ist der Verstand. Synthetische Urteile a posteriori haben ihre Quelle in der Sinnesanschauung. Das Vermögen der Sinnesanschauung ist die Sinnlichkeit. Synthetische Urteile a priori aus der Konstruktion der Begriffe sind solche aus reiner Anschauung. Das Vermögen der reinen Anschauung ist die produktive Einbildungskraft.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

289

Für die synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen bleibt keine Erkenntnisquelle übrig. Wie verhalten sich nun hierzu die möglichen Wahrheitskriterien? Die Kriterien der Wahrheit für analytische Urteile liegen in der Logik, die der Wahrheit synthetischer Urteile a posteriori in der Empirie. Für synthetische Urteile a priori, sei es aus der Konstruktion der Begriffe, sei es aus bloßen Begriffen, bleibt kein Wahrheitskriterium übrig, gemäß der Ausschließlichkeit von Logik und Empirie als möglichen Wahrheitskriterien. Synthetische Urteile a priori sind als synthetische solche, deren Wahrheitskriterium nicht in der Logik liegt, und zugleich als Urteile a priori solche, deren Wahrheitskriterium nicht in der Empirie liegen kann. Folglich können synthetische.Urteile a priori überhaupt nicht als gültig behauptet werden. So kommen wir hier unmittelbar auf die Lehre vom formalen Idealismus. Und wir erkennen, wie tief diese Lehre mit den ersten Voraussetzungen der Kantischen Spekulation überhaupt zusammenhängt. synthetische a priori aus der Konstruktion der Begriffe

analytische

synthetische a posteriori

Erkenntnisquellen

Begriff (Verstand)

Sinnesreine Anschauung anschauung (produktive (Sinnlichkeit) Einbildungskrafl:)

Wahrheitskriterien

Logik

Empirie

Urteile

synthetische a priori aus bloßen Begriffen

Diese Betrachtungen können dazu dienen, ein eigentümliches Licht auf Kants Verhältnis zu Hume zu werfen. Wie sollen wir Kants Stellung zu dem Humeschen Problem bezeichnen, wenn wir die Summe aus diesen kritischen Betrachtungen ziehen? Humes eigene Lösung seines Problems nötigte zu einem allgemeinen metaphysischen Skeptizismus, zu der Behauptung, daß es für den Menschen überhaupt keine metaphysische Erkenntnis geben kann. Hat Kant den Grund dieses metaphysischen Skeptizismus behoben? Ich behaupte: nein. Wenn wir streng nur nach der Ausführung und nicht nach der Absicht urteilen wollen, so

290

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

müssen wir sagen, daß Kant vielmehr selbst auf dem Standpunkt dieses metaphysischen Skeptizismus steht. Das liegt unmittelbar in dem zuletzt Gesagten. Denn es gibt auch nach Kant keine synthetischen Urteile a priori, wenn wir dieses »es gibt« im Sinne der Gültigkeit verstehen. Wohl gibt es synthetische Urteile a priori in dem Sinne, daß wir faktisch synthetische Urteile fällen mit dem Anspruch, daß sie a priori gültig seien. Es ist aber die Frage, ob dieser Anspruch zu Recht besteht. Dies leugnet Kant geradeso wie Hume. Hieran müssen wir festhalten, sosehr wir den Reichtum an fruchtbaren Entdeckungen bewundern müssen, durch den Kant eine endgültige Lösung des Problems vorbereitet hat. Diese Lösung selbst auszuführen, ist ihm nicht gelungen.

Die subjektive Deduktion Die Vorbereitungen, die wir bei Kant für eine wirkliche Deduktion der Kategorien finden, liegen in seinem Versuch der subjektiven Deduktion der Kategorien. Es ist die Aufgabe dieser subjektiven Deduktion, den transzendentalen Grund der Möglichkeit der Kategorien aufzuweisen und also die Möglichkeit des reinen Verstandes selbst in subjektiver Hinsicht zu erklären als eines Vermögens synthetischer Grundsätze, die dennoch nicht aus der Anschauung entspringen. Diese Aufgabe findet in Kants Darstellung ihre Lösung dadurch, daß er die Kategorien zurückführt auf die reine Apperzeption, die er denn auch, als den Grund der Möglichkeit der Kategorien, die transzendentale Apperzeption nennt. Was ist nun diese reine Apperzeption bei Kant? Es ist schwer, hier volle Klarheit in Kants Auffassung zu bringen und sie ohne Vergewaltigung nach der einen oder anderen Richtung eindeutig in einer Formel auszusprechen. Mir kommt es an dieser Stelle darauf an, den psychologischen Grundfehler zu beleuchten, der das Gelingen dieser tiefsinnigen Untersuchung vereitelt. Kant versteht unter der reinen Apperzeption, im Gegensatz zu dem empirischen Bewußtsein des inneren Sinnes, die Identität des Ich als des Subjekts aller unserer Vorstellungen. Diese Identität des Subjekts unserer Vorstellungen soll der Grund der Möglichkeit der Kategorien sein und heißt insofern die transzendentale

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

291

Apperzeption. Dadurch nämlich, daß alle Vorstellungen, die durch die Sinne in uns kommen, wie verschieden sie auch sonst sein mögen, doch, um nur unsere Vorstellungen sein zu können, auf ein identi5ches Subjekt, das reine Selbstbewußtsein, bezogen werden müssen, unterliegen sie unmittelbar einer Regel der Verknüpfung. Und die Begriffe von dieser Verknüpfung sind die Kategorien. Der Fehler, auf den ich hier aufmerksam machen will, liegt in der Gleichsetzung der reinen Apperzeption mit der transzendentalen. Die bloße Identität des Subjekts meiner Vorstellungen kann nicht die Möglichkeit der Vorstellung der Verknüpfung erklären. So viel war schon durch unsere Kritik der Humeschen Theorie klargeworden, daß dadurch, daß verschiedene Vorstellungen Vorstellungen eines und desselben Subjekts sind und als solche in diesem verknüpft werden, noch nicht die Vorstellung der Verknüpfung entsteht. Die bloße tatsächliche Verknüpfung der Vorstellungen in einem Subjekt erklärt noch nicht das Wissen von dieser Verknüpfung. Die synthetische Einheit der Vorstellungen von Gegenständen ist noch nicht die Vorstellung der synthetischen Einheit von Gegenständen. Wenn wir aber auch das Wissen um die Verknüpfung der Vorstellungen durch die Einheit des Subjekts hinzunehmen, so gewinnen wir dadurch doch nur die Erkenntnis einer bestimmten Art von Verknüpfung, nämlich nur der Verknüpfung unserer eigenen Vorstellungen. Wir würden dadurch höchstens die innere Erfahrung ihrer Möglichkeit nach erklären. Denn diese beruht in der Tat auf der Beziehung der einzelnen Vorstellungen auf ein und dasselbe Subjekt. Aber wir würden dadurch nicht die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, nicht die Möglichkeit der Verknüpfung der Gegenstände der Vorstellungen erklären. Die Zurückführung auf das reine Selbstbewußtsein als identisches Subjekt der Vorstellungen kann also nicht eine hinreichende subjektive Deduktion der Kategorien er„ geben. Tatsächlich schwebt Kant auch noch ein anderer Gedanke vor. Er bemerkt sehr richtig, daß aller analytischen Einheit des Begriffs schon ursprünglich eine synthetische Einheit zugrunde liegt. Wir kommen zu Begriffen durch Abstraktion von dem Mannigfaltigen der Anschauung. Dieses Mannigfaltige muß daher von uns ursprünglich als verbunden vorgestellt sein. Und diese ursprüngliche Synthesis ist es, auf die die

292

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Kategorien ihrer Möglichkeit nach zurückgeführt werden müssen. Die Kategorien sind nämlich nichts anderes als die Begriffe des Verstandes von den möglichen Formen der Einheit dieser ursprünglichen Synthesis. Aber die Möglichkeit dieser ursprünglichen Synthesis als des transzendentalen Grundes der Kategorien bleibt bei Kant unverständlich. Es entsteht nämlich die Frage: Welcher Vorstellungsart gehört diese ursprüngliche Synthesis an? Ist sie, wie Kant sich ausdrückt, selbst ein Akt des Verstandes als des Vermögens der Urteile? Unter dieser Voraussetzung bleibt es unbegreiflich, warum der Verstand durch die Bildung der Begriffe sein eigenes Werk wieder zerstört, nur um es nachträglich wieder zusammenzufügen. Die Schwierigkeit liegt darin: Der Verstand muß zur Bildung von Urteilen allemal schon im Besitz von Begriffen sein; denn das Urteil erfordert eine Verbindung von Begriffen. Begriffe setzen aber, als Vorstellungen einer analytischen Einheit, nach Kants Nachweisung stets schon die Vorstellung einer synthetischen Einheit voraus. Wenn diese also nur durch das Urteil gebildet werden kann, so würde sie ihrerseits wieder schon Begriffe voraussetzen. Und so drehen wir uns mit dieser Erklärung im Kreise. Wir kämen auf diese Weise zu gar keiner ursprünglichen synthetischen Einheit. Und es bliebe infolgedessen auch die Möglichkeit der abgeleiteten synthetischen Einheit des Urteils unbegreiflich. Die ursprüngliche Synthesis kann also nicht selbst dem Verstande angehören. Sie kann aber andererseits ebensowenig, wie man nach Kants Darstellung noch annehmen könnte, der produktiven Einbildungskraft angehören. Die produktive Einbildungskraft ist in der Tat ein Vermögen einer ursprünglichen Synthesis. Aber ihr Vermögen beschränkt sich auf die figürliche Synthesis, das heißt auf die Verbindung durch Zusammensetzung, im Unterschied zu der Verbindung durch Verknüpfung oder der intellektuellen Synthesis. Die produktive Einbildungskraft ist das Vermögen der reinen Anschauung. Aber die synthetische Einheit, die wir durch die Kategorien denken, ist keine figürliche, sondern eine intellektuelle, sie ist keine intuitive, sondern eine diskursive. Denn wir können sie nicht anschaulich vollziehen, sondern sie kommt uns nur in der Form des Urteils zum Bewußtsein. Wir besitzen, wie Kant selbst wiederholt einschärft, keinen intuitiven Verstand oder, was dasselbe besagt, keine intellektuelle Anschauung.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

293

Es bleibt also in Kants Darstellung der subjektiven Deduktion eine Unklarheit, ein ungelöstes Rätsel, was für eine Bewandtnis es mit der ursprünglichen Synthesis hat, auf die er die Kategorien zurückführen will. Einerseits ist er genötigt, sie im Verstand zu suchen, weil sie ja intellektuell und nicht intuitiv ist; andererseits ist er genötigt, sie der produktiven Einbildungskraft zuzuweisen, weil sie ja ursprünglich Synthesis ist, unabhängig von Begriffen. Aber diese beiden Bestimmungen sind miteinander unverträglich. Ihre Vereinigung, wie Kant sie will, bildet eine unauflösliche Paradoxie. Aber wie soll diese Paradoxie aufgelöst werden? In der Tat, die ursprüngliche Synthesis kann nach dem Bewiesenen nicht selbst im Urteil gesucht werden, da sie ja ihrerseits den Grund der Möglichkeit des Urteils überhaupt enthalten soll. Ebensowenig kann sie aber eine intuitive Synthesis sein. Denn sie ist an und für sich dunkel und kommt uns nur durch Reflexion vermittels der Begriffe im Urteil zum Bewußtsein. Hier liegt also eine tiefe Schwierigkeit verborgen: Die fragliche Erkenntnis soll nicht aus der Reflexion entspringen und soll uns doch nur durch Reflexion zum Bewußtsein kommen können. Diese Paradoxie ist durch Kant nicht aufgelöst worden. Sie tritt bei ihm zutage in der widersprechenden Beurteilung, die er von der ursprünglichen synthetischen Einheit gibt, indem er sie bald dem Verstande, bald der produktiven Einbildungskraft zuschreibt, bald wieder, um diesem Dilemma auszuweichen, mit der reinen Apperzeption, der Identität des Ich gleichsetzt. In der Tat: Diese ursprüngliche synthetische Einheit, die Einheit der transzendentalen Apperzeption, dürfen wir, wie ich schon gezeigt habe, auch nicht mit der reinen Apperzeption verwechseln. Sie erfordert, als der Grund der Möglichkeit der Kategorien, vielmehr eine eigene identische Grundvorstellung der objektiven synthetischen Einheit und ist nicht schon durch die bloße Identität des Subjekts der Vorstellungen möglich. In der Zurückführung der Kategorien auf diese Grundvorstellung der objektiven synthetischen Einheit besteht die subjektive Deduktion der Kategorien, wenn wir sie uns folgerichtig ausgeführt denken. Diese Deduktion hätte daher zu zeigen, wie es möglich ist, das heißt, wie sich der Widerspruch löst, daß eine Erkenntnis, die nicht aus der Reflexion entspringen kann, uns doch nur durch Reflexion zum

294

1. Teil: David Humc und Immanuel Kant

Bewußtsein kommen kann. Sie hätte die bei Kant unaufgelöst stehengebliebene Paradoxie im Begriff einer weder intuitiven noch reflektierten, einer nichtanschaulichen und doch unmittelbaren Erkenntnis aufzulösen. Und sie hätte, was mehr erfordert, die Realität dieses paradoxen Begriffes nachzuweisen.

Die spekulative Ideenlehre Wir kommen jetzt zur Kritik der transzendentalen Dialektik, das heißt zur Kritik der Kantischen Ideenlehre. Hier müssen wir schon Einwendungen erheben gegen Kants Lösung der quaestio facti. Kant hat geglaubt, die Tafel der Ideen systematisch aufweisen zu können an Hand des logischen Leitfadens der Schlußformen, nad1 Analogie des Leitfadens der Urteilsformen, dessen er sich zur Aufweisung der Tafel der Kategorien bedient. Aber der Gedanke dieser Analogie ist irrig. Kant deutet gelegentlich selbst an, daß der Schluß nur auf eine besondere Form des Urteils zurückgeht. In der Tat: Ein Schluß ist allemal ein hypothetisches Urteil, nämlich das Urteil, das die Abfolge des Schlußsatzes aus den Prämissen behauptet. Das aber hat zur Folge, daß durch den Leitfaden der Schlußformen keine metaphysischen Begriffe aufgefunden werden können, die nicht schon vermittels des Leitfadens der Urteilsformen aufgefunden sind. Es kommt hinzu, daß der Schluß ein analytisches Urteil ist. Ein wirklicher Schluß liegt nur dann vor, wenn die durch ihn erschlossenen Sätze nach dem Satz des Widerspruchs aus den Prämissen folgen. Durch ein solches bloß analytisches Urteil kann also keine neue metaphysische Bestimmung des Gegenstandes hinzukommen. Wir müssen daher den Leitfaden der Schlußformen zur Auffindung der Tafel der Ideen verwerfen. Dieser Fehler ist an sich nicht so schwerwiegend wie die Folgen, in die er leider von Kant verfolgt worden ist und die die ganze Ausführung der Kantischen Ideenlehre verdorben haben. Das Vermögen der Ideen ist nach Kants Darstellung die Vernunft. Aber was versteht er unter dieser Vernunft? Er charakterisiert sie, der Konsequenz jener falschen Analogie folgend, als das Vermögen, zu schließen. Es soll sich also hier die bloße Schlußkraft selbst einen eigenen

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

295

Gehalt für ihre Schlußsätze geben. Nun ist klar, daß ein solcher Gehalt durch die bloße Schlußkraft niemals rechtmäßig erzeugt werden kann und also, wo er sich doch anbietet, erschlichen sein muß. Der auf solche Weise entstehende Gebrauch der Vernunft muß daher allemal dialektisch sein. Dieser Gehalt, den die Vernunft in unsere Erkenntnis bringen will, ist eine Idee: er übersteigt die Schranken möglicher Erfahrung. Wenn jedoch hiernach das Bestreben der Vernunft, sich durch die Ideen in den Besitz eines eigenen Gehalts von Erkenntnissen zu setzen, notwendig dialektisch sein muß, so sind dennoch die Ideen keine willkürlich erzeugten Begriffe, sondern notwendige Produkte der Vernunft. Und wenn die aus ihnen hervorgehende vermeintliche Erkenntnis auf einem bloßen dialektischen Schein beruht, so muß doch dieser Schein in unserer Vernunft selbst entspringen, das heißt ein transzendentaler Schein sein, und kein bloß logischer Schein, wie er sonst durch Fehler im Schließen entsteht. Der Grund des Fehlers im Schließen muß hier vielmehr in der Vernunft selbst liegen und also einen für uns unvermeidlichen Schein erzeugen, den man wohl als solchen aufdecken, dessen Grund man aber nicht beseitigen kann. Wenn es möglich sein sollte, die Ideen zu begründen, so könnte das nach dem allgemeinen methodischen Grundsatz der Kantischen Kritik der Vernunft nur dadurch geschehen, daß sie als Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung erwiesen werden. Denn alle Gültigkeit von synthetischen Prinzipien a priori beruht nach jenem Grundsatz darauf, daß sie sich auf mögliche Erfahrung als deren Bedingungen beziehen. Ein solcher transzendentaler Beweis ist für die Ideen unmöglich. Denn die in den Ideen liegenden Gedanken sind gerade solche von der Überschreitung aller Grenzen des Erfahrungsgebrauchs unserer Vernunft. Die Ideen haben daher keine konstitutive Bedeutung für die Erfahrung wie die Kategorien. Wenn sie also dennoch in der Vernunft liegen, so müssen sie eine andere Bedeutung für unsere Erkenntnis haben. Diese kann nur darin gefunden werden, daß sie zu einem regulativen Gebrauch in der Erfahrung bestimmt sind. Sie sind Regeln, die uns anweisen, nach Einheit und Vollständigkeit der Prinzipien zu streben. Sie sind also Regeln der Systematisierung unserer Erkenntnis. Denn die Systematisierung besteht darin, daß eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen logisch auf Prinzipien zurückgeführt wird. Und das System

296

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

ist um so vollkommener, je weiter diese Reduktion auf allgemeine Prinzipien fortgeschritten ist. Die Ideen leiten uns also an, nach möglichst weitgehender systematischer Vervollkommnung unserer Erkenntnis zu streben. Wir dürfen demgemäß nicht behaupten, daß den Ideen etwas Objektives außer uns entspricht, sondern wir sollen nur um der systematischen Einheit unserer Erkenntnis willen so verfahren, als ob ihnen etwas Objektives außer uns entspräche. Wir dürfen nicht behaupten, daß die Reihe der Bedingungen in der Natur abgeschlossen ist; wohl aber sollen wir so in der Natur forschen, als ob in der Reihe der Bedingungen in ihr ein Abschluß erreichbar wäre. Das heißt, wir sollen im Regressus vom Bedingten zu seinen Bedingungen immer weiter aufsteigen, als ob wir dadurch schließlich zu einem Unbedingten gelangen könnten. Die Ideen der Seele und der Gottheit zum Beispiel haben keine konstitutive Bedeutung für die Naturwissenschaft, aber doch eine regulative. Wir sollen nach der Anleitung der ersten in der Psychologie die Erscheinungen so erforschen, als ob ihnen eine einfache und beharrliche Substanz zugrunde läge. Und wir sollen nach der Anleitung der anderen die Erscheinungen der Natur so erforschen, als ob sie alle von einer höchsten gemeinsamen Ursache, der Gottheit, abhingen. Diese ganze Darstellung nun von der Vernunft als einer Schlußkraft, die sich selbst einen trügerischen Gehalt ihrer Schlußsätze gibt, diese ganze Darstellung ist fehlerhaft. Wäre die Vernunft wirklich eine bloße Schlußkraft, wie Kant voraussetzt, so könnte sie als solche überhaupt nicht, auch nicht durch einen dialektischen Schein, zu einem eigenen Gehalt von Prinzipien gelangen. Eine solche Vernunft ist ein widersinniges Phantom. Durch das bloße Schließen kann der Schein eines Gehaltes von neuen Erkenntnissen nur vermöge logischer Fehlschlüsse entstehen. Und wo ein solcher Fehlschluß vorkommt, da muß er sich durch seine Aufdeckung auch beseitigen lassen. Es handelt sich hier gar nicht, wie Kant meint, um Mystifikationen der reinen Vernunft, sondern nur um solche des Leibniz-Wolffschen Schuldogmatismus. Ein bloßer Fehler im Schließen kann niemals auf einem transzendentalen, in der Vernunft selbst liegenden Schein beruhen. Läge aber unabhängig von solchen Fehlschlüssen in der Vernunft ein transzendentaler Schein, so würde uns auch jedes Kriterium fehlen, diesen Schein als solchen zu erkennen und ihn also auch nur aufzudecken. Wir müssen, um eine

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

297

Vorstellung als transzendentalen Schein zu erkennen, schon ein Kriterium der transzendentalen Wahrheit haben, mit dem wir sie vergleichen können. Nun ist aber eine Idee, wenn sie wirklich ursprünglich in der Vernunft liegt, selbst das höchste Kriterium aller unserer Beurteilung transzendentaler Wahrheit. Und so faßt sie auch Kant auf, ohne sich der Inkonsequenz bewußt zu werden, in die er dadurch verfällt. Er bezieht in der Tat die Idee unmittelbar auf die höchste Realität. Er setzt die Idee des Absoluten mit dem Begriff vom Ding an sich gleich. Nur auf Grund dieser Gleichsetzung ist seine Antinomienlehre verständlich, gewinnt diese eine feste Gestalt. Die Auflösung der Antinomien und überhaupt die Ausführung der Antinomienlehre ist bei Kant äußerst künstlich. Wir wollen den Grundgedanken seiner Auflösung an Hand der ersten Antinomie ins Auge fassen. Wenn die Welt in Raum und Zeit ein an sich existierendes Ganzes wäre, so müßte sie entweder endlich oder unendlich sein. Nun beweist die Antinomie, daß weder das eine noch das andere stattfinden kann. Die Antithese beweist, daß die Welt in Raum und Zeit nicht endlich sein kann. Die These beweist, daß sie nicht unendlich sein kann. Also folgt, daß die Welt in Raum und Zeit kein an sich existierendes Ganzes sein kann. Dies ist Kants transzendentaler Idealismus, so wie er bei ihm aus der Auflösung der Antinomien hervorgeht. Das Kriterium für diese Auflösung scheint hiernach unmittelbar im Satz des Widerspruchs zu liegen. Aber in Wirklichkeit verhält es sich nicht so. Denn wenn die Idee nicht schon von vornherein für diese ganze Betrachtung als gültig vorausgesetzt wäre, so würde der Beweis auf seiten der These nicht zwingend sein. Die These entsteht nämlich nur durch die Anwendung der Idee der Totalität auf die Reihen der Bedingungen in der Natur. Und wenn diese Idee keine objektive Realität beanspruchen darf, so fällt damit auch die These in der Antinomie, und es bleibt nur die Antithese übrig. Wir kommen dann überhaupt nur zu den Antithesen und nicht zu den Thesen. Es bedürfte folglich auch nicht des transzendentalen Idealismus zur Auflösung der Antinomie. Die Lösung der Antinomie würde dann einfach in der Verwerfung der These bestehen: in der Verwerfung der Behauptung der Endlichkeit der Reihen von Bedingungen in der Natur, in der Anerkennung ihrer Unendlichkeit.

298

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Wir könnten bei der Betrachtung der Natur als eines an sich existierenden Ganzen stehenbleiben, wenn wir dieses Ganze gemäß der Antithese als unendlich denken. Es handelt sich dabei zwar nicht um ein metaphysisches Ganzes im Sinne der Idee der Totalität, aber doch um ein widerspruchsfreies logisches Ganzes als einen Inbegriff, nämlich um den Inbegriff aller Gegenstände in. Raum und Zeit. Es liegt kein logischer Widerspruch in dieser Vorstellung der Natur als des an sich existierenden Ganzen aller Dinge in Raum und Zeit. Nach dieser Art müßten wir in der Tat schließen, wenn wir nicht die Ideen von vornherein als gültig für die Welt der Dinge an sich voraussetzten. Der transzendentale Idealismus hat daher als Auflösung der Antinomien nur dann Bedeutung, wenn wir die Ideen schon als Kriterien des an sich Existierenden voraussetzen. Wenn wir von dem bloßen Begriff des an sich Existierenden als Beweisgrund ausgehen, so kommen wir nicht erst auf den Widerspruch der These gegenüber der Antithese; wir können aus dem bloßen Begriff des an sich Existierenden nicht auf die Endlichkeit der Reihen von Bedingungen schließen. Wir kommen auf diesen Schluß nur, weil wir synthetisch die in der Idee liegende Forderung der Totalität auf das an sich Existierende anwenden. Und indem wir voraussetzen, die Gegenstände unserer Erfahrung existierten an sich, übertragen wir die Forderung der Totalität auf die Natur. Indem wir unbefangen die Gegenstände der Erfahrung wie Dinge an sich ansehen, beurteilen wir die Natur nach Ideen. Dadurch allein entstehen jene Widersprüche. Die reine Anschauung führt auf die Unvoll-, endbarkeit des Regressus in der Reihe der Bedingungen in Raum und Zeit. Die Idee dagegen fordert Totalität aller Reihen von Bedingungen des an sich Wirklichen. Aus der Anwendung der reinen Anschauung einerseits und der Idee andererseits auf die Gegenstände der Erfahrung entspringt die Antinomie, entspringt der Widerspruch der Thesen, die die Totalität behaupten, gegenüber den Antithesen, die die Unvollendbarkeit aller Reihen von Bedingungen behaupten. Dieser Widerspruch ist, wenn wir die richtigen Voraussetzungen auf beiden Seiten vereinigen wollen, nur dadurch zu beheben, daß wir die Annahme aufheben, die Natur sei die Welt, das heißt der Inbegriff der an sich existierenden Dinge. Die Aufhebung dieser Annahme ist der transzendentale Idealismus, die Lehre, daß die Natur kein Bestehen an sich

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

299

hat, nicht die Welt ist. Es sind uns in der Anschauung Erscheinungen der Dinge gegeben, und diese denken wir auf Grund der Kategorien als bedingt. Die Reihen von Bedingungen, auf die wir dadurch kommen, sind auf Grund der reinen Anschauung unvollendbar. Wenn wir dagegen die Gegenstände, die wir als bedingt erkennen, als Dinge an sich annehmen und demgemäß nach Ideen beurteilen, dann kommen wir zu der These, die die Totalität der Reihen der Bedingungen fordert und dadurch der reinen Anschauung widerstreitet. Diesen Widerstreit können wir nur aufheben, wenn wir die Annahme zurückziehen, daß wir es bei den Gegenständen der Erfahrung mit Dingen an sich zu tun haben. Ich will versuchen, diese etwas schwierige Betrachtung über die Kantische Auflösung der Antinomien deutlicher zu machen, indem ich den logischen Zusammenhang, um den es sich dabei handelt, auf eine bestimmte Form bringe. Wir haben auf der einen Seite den Schluß aus der Voraussetzung, die auf der Idee der Totalität alles an sich Wirklichen beruht. Dieser Schluß führt auf die These von der Endlichkeit der Natur, das heißt des Ganzen aller Dinge in Raum und Zeit. Auf der anderen Seite schließen wir aus der Unvollendbarkeit aller Formen der reinen Anschauung auf die Antithese, auf den Satz von der Unendlichkeit der Welt, das heißt des Ganzen aller an sich existierenden Dinge. Natur= Welt Unvollendbarkeit aller Formen der reinen Anschauung

Endlichkeit der Natur in Raum und Zeit (These)

Unendlichkeit der Welt in Raum und Zeit (Antithese)

Transzendentaler Idealismus (Natur::j::Welt)

300

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Worauf beruht hier nun der Widerstreit? Nur auf der Voraussetzung, daß wir es auf beiden Seiten mit einem und demselben Gegenstand zu tun haben, also auf der Voraussetzung der Identität der Natur, das heißt des Inbegriffs der Erscheinungen in Raum und Zeit, mit der Welt, das heißt der Totalität des an sich Wirklichen. Wenn wir nicht diese synthetische Voraussetzung hinzunehmen, so ist, bei Licht besehen, gar keine Antinomie vorhanden. Und so schließt auch Kant aus der Antinomie auf seinen transzendentalen Idealismus, das heißt auf die Notwendigkeit, die Voraussetzung dieser Identität aufzuheben und also zu unterscheiden zwis•chen der Natur, als dem Inbegriff der Erscheinungen in Raum und Zeit, und der Welt der Dinge an sich. Aber diese Auflösung erfolgt nicht eindeutig nach dem Satz des Widerspruchs, sondern Kant nimmt dabei stillschweigend, im Widerspruch zu seiner ausdrücklichen Darstellung, die Idee der Totalität alles an sich Wirklichen als feststehend an. Die Ideen sind gar nicht, wie es bei Kant scheint, den Kategorien entgegengesetzt, sondern sie sind entgegengesetzt den schematisierten Kategorien: den Naturbegriffen. Sie sind entgegengesetzt den metaphysischen Grundsätzen, die aus dem Schematismus der Kategorien entspringen. Dem Erfahrungsgebrauch der Kategorien, der auf dem Schematismus beruht, hafl:et infolge der Unendlichkeit und Stetigkeit der Formen der reinen Anschauung die Unvollendbarkeit an. Der Grund dieser Unvollendbarkeit liegt also in dem mathematischen Schematismus, vermöge dessen allein die Kategorien auf die Erscheinungen anwendbar sind. Und diese Beschränkung, die in der Unvollendbarkeit des Erfahrungsgebrauchs der Kategorien liegt, wird durch die Ideen auf gehoben gedacht'. Wenn wir erkannt haben, daß dies die Bedeutung der Ideen ist, dann können wir sie nicht als regulative Prinzipien der Erfahrung ansehen, wie Kant will. Kant stellt die Ideen als Regeln dar, die uns anweisen, an keiner endlichen Stelle der Erklärung der Naturerscheinungen stehenzubleiben und also den Regressus von dem Bedingten zu seinen Bedingungen über jede Grenze hinauszutreiben. Aber dieses Postulat, den Regressus in der Reihe der Bedingungen über jede Grenze hinauszutreiben, ist der Idee der Totalität gerade entgegengesetzt. Es ist ein Postulat, das vielmehr aus dem Schematismus der Kategorien ent-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

301

springt, eben aus der Unendlichkeit aller Formen der reinen Anschauung. Es bringt gerade die durch den Schematismus bedingte Unvollendbarkeit des Regressus zum Ausdruck und nicht die in der Idee liegende Forderung seiner Totalität. Bei Kant findet sich allerdings, wie ich schon gezeigt habe, noch eine andere Wendung in bezug auf den angeblichen Erfahrungsgebrauch der Ideen. Er sagt, die Ideen dienen als Regeln der systematischen Einheit. Sie weisen uns an, systematische Vollkommenheit in unsere Erkenntnis zu bringen, die Mannigfaltigkeit unserer Erkenntnisse auf ein Minimum von Prinzipien zurückzuführen. Hiernach wären die Ideen logische Prinzipien der analytischen Einheit des Systems unserer Urteile und nicht metaphysische Prinzipien einer objektiven synthetischen Einheit der Gegenstände unserer Erkenntnis. Sie bezögen sich dann nur auf das logische Verhältnis unserer Urteile zueinander und hätten keine objektive Bedeutung für die Bestimmung der Gegenstände. Die Ideen sind aber keine bloß logischen Begriffe, sondern in der Tat metaphysische Begriffe einer synthetischen Einheit der Gegenstände und zwar einer unbeschränkten oder absoluten synthetischen Einheit, im Gegensatz zu der beschränkten Einheit, wie wir sie in unserer Naturerkenntnis durch den Gebrauch der Kategorien in der Erfahrung erreichen. Die Ideen sind demnach nichts anderes als diejenigen Begriffe, durch die wir die Schranken des Erfahrungsgebrauchs der Kategorien aufgehoben denken. Sie stehen also nicht im Widerspruch zu den Kategorien, sondern dienen im Gegenteil dazu, die unbeschränkte Gültigkeit der Kategorien für alles an sich Wirkliche zu denken. Wenn wir so durch die Ideen die Schranken des Erfahrungsgebrauchs der Kategorien aufgehoben denken, so befreien sie uns dadurch doch nicht von diesen Schranken. Wir verstoßen dadurch nicht gegen das Ges·etz der Immanenz unserer Erkenntnis. Denn alle positive Anwendung der Kategorien bleibt an den mathematischen Schematismus gebunden und führt notwendig zu der Naturform unserer Erkenntnis und somit zur Form der Unvollendbarkeit. Aber wir können die in dieser Naturform unserer Erkenntnis liegende Beschränkung durch die Ideen als solche anerkennen und dieser beschränkten Naturform den negativen Begriff eines von den Schranken der Natur freien Seins der

302

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Dinge an sich entgegensetzen, ohne uns anzumaßen, dadurch zu einer positiven Erkenntnis dieser Dinge an sich zu gelangen.

Die Postulatenlehre Die religiösen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind, nach Kant, an und für sich nur problematische Begriffe. Und die spekulative Vernunft kann ihre Gültigkeit nur vermöge eines transzendentalen Scheins behaupten. Wir können, nach der Aufdeckung dieses Scheines, auf dem Felde der spekulativen Vernunft nicht weitergelangen als bis zu der Einsicht, daß sich die Realität der Ideen aus spekulativen Gründen ebensowenig widerlegen wie beweisen läßt. Nun erweist sich aber die Realität jener Ideen als eine notwendige Voraussetzung der praktischen Vernunft. Das Grundgesetz der praktischen Vernunft, das Sittengesetz, hat nur Bedeutung und Anwendbarkeit, wenn wir die Realität der Ideen voraussetzen. Auf diesem Gedanken beruht Kants Lehre von dem moralischen Beweise für die Ideen. Das Sittengesetz hat keine Bedeutung und keine Anwendbarkeit, wenn wir nicht unsere Freiheit voraussetzen, das heißt die Unabhängigkeit unserer Handlungen von Naturgesetzen. Die Gültigkeit des Sittengesetzes schließt daher die Voraussetzung der Realität der Idee der Freiheit ein. Das Sollen setzt nicht etwa nur psychologische Freiheit für denjenigen voraus, der soll, das heißt das Vermögen, willkürlich zu handeln, sondern metaphysische Freiheit im strengsten Sinne des Wortes, das heißt Unabhängigkeit des Wollens von dem Müssen der Natur und also Freiheit von Naturgesetzen überhaupt. Das Bewußtsein dieser Freiheit liegt unmittelbar in dem Bewußtsein der Verpflichtung oder des Sollens. Denn wenn durch die Natur schon bestimmt ist, wie wir handeln müssen, so hat es keine Bedeutung, von uns zu fordern, wie wir handeln sollen. Es gibt dann keine Verantwortung und keine Zurechnung für unser Handeln. Unsere Freiheit steht uns daher unmittelbar fest durch unser Bewußtsein des Sollens selbst. Durch diese Feststellung ist die Realität der Idee der Freiheit innerhalb der praktischen Philosophie sichergestellt. Kant geht aber noch weiter und erklärt, daß es gewisse Postulate

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

303

der praktischen Vernunft gibt, das heißt gewisse an und für sich spekulative Sätze, die als solche unerweislich sind, deren Annahme aber in praktischer Hinsicht notwendig ist. Diese Postulate der praktischen Vernunft, von deren Realität wir nicht schon wie bei der Idee der Freiheit unmittelbar durch das Bewußtsein des Sollens wissen, sind die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Wir gelangen zu ihnen durch den folgenden Gedankengang. Durch das Sittengesetz ist uns aufgegeben, nach der Verwirklichung des höchsten Gutes zu streben, und das bedeutet zunächst: nach moralischer Vollkommenheit, das heißt nach der völligen Angemessenheit der Gesinnungen an die Forderungen des Sittengesetzes. Dieses Gebot setzt die Möglichkeit der Erfüllung der gebotenen Aufgabe voraus. Ihre Erfüllung ist aber in keiner endlichen Zeit möglich. Denn wie weit auch in der Natur die sittliche Vervollkommnung fortschreiten mag, so bleiben wir doch als Glieder der Sinnenwelt von sinnlichen Antrieben abhängig, während völlige Angemessenheit der Gesinnungen an das moralische Gesetz völlige Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben zur Voraussetzung hat. Wenn also die Angemessenheit unserer Gesinnungen an das moralische Gesetz wirklich werden soll, so kann unser Dasein nicht an eine endliche Zeit gebunden sein. Wir müssen vielmehr einen unendlichen Fortschritt der sittlichen Vervollkommnung als möglich annehmen, das heißt wir müssen die Unsterblichkeit der Seele voraussetzen. Dies ist der moralische Beweis, den Kant für die Unsterblichkeit der Seele führt. Das oberste Gut, nämlich die Angemessenheit der Gesinnungen an das moralische Gesetz, ist aber noch nicht das vollendete höchste Gut überhaupt. Dazu wird noch etwas anderes erfordert. Es ist uns durch das Sittengesetz auf gegeben, zwar nicht, glückselig zu werden, wohl aber, der Glückseligkeit würdig zu werden, eben dadurch, daß wir unsere Gesinnungen dem moralischen Gesetz unterwerfen. Diese Aufgabe, der Glückseligkeit würdig zu werden, hat aber Bedeutung nur unter der Voraussetzung, daß ein Wesen, das sich der Glückseligkeit würdig macht, ihrer auch teilhaftig wird. Wir müssen daher glauben, daß es in der Welt eine Verteilung der Glückseligkeit nach Graden der Würdigkeit gibt. Da aber diese Verteilung durch die bloße Natur nie-

304

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

mals bewirkt werden kann oder in der Natur doch nur zufällig stattfinden könnte, so müssen wir das Dasein eines übersinnlichen Wesens als eines intelligenten und gerechten Urhebers der Natur annehmen, der seinerseits die Ursache dieser Verteilung der Glückseligkeit nach Graden der Würdigkeit ist. Das heißt, wir müssen das Dasein Gottes voraussetzen. Dies ist Kants moralischer Beweis des Daseins Gottes. Durch diese moralischen Beweise gibt die praktische Vernunfl: den Ideen die Realität, die ihnen die spekulative Vernunfl: nicht geben konnte. Auf diesem Gedanken beruht die Lehre vom Primat der praktischen Vernunfl:: Bei dem Zwiespalt zwischen spekulativer und praktischer Vernunfl: hat die praktische Vernunfl: den Vorrang. So führt diese Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunfl: auf einen reinen Vernunfl:glauben, der seinerseits nicht spekulativ begründbar ist, sondern nur aus einem praktischen Bedürfnis entspringt, nämlich dasjenige für wahr zu halten, ohne dessen Voraussetzung unsere sittlichen Überzeugungen bedeutungslos sein würden, so daß also dieses Bedürfnis doch ein notwendiges Bedürfnis der reinen praktischen Vernunfl: selbst ist und nicht aus subjektiven Antrieben entspringt. Wir müssen die Realität der Ideen glauben zum Behuf der Möglichkeit der Realisierung des höchsten Gutes, nach der zu streben uns durch das Sittengesetz geboten ist. Wie haben wir nun diese moralischen Beweise der religiösen Ideen zu beurteilen? Offenbar verhält es sich hier ähnlich wie mit den transzendentalen Beweisen, die Kant für die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes führt. Ein Postulat der praktischen Vernunfl: ist, wie Kant selbst sagt, ein an und für sich spekulativer Satz, freilich ein solcher, der durch spekulative Vernunfl: nicht zu rechtfertigen ist. Die Kantische Lehre von den praktischen Postulaten gibt uns denn auch keine Beweise, sondern bestenfalls eine regressive Aufweisung der Ideen als Voraussetzungen der Gültigkeit des Sittengesetzes. Was hier also allenfalls bewiesen wird, ist dieses, daß die Realität der Ideen eine Voraussetzung der Gültigkeit des Sittengesetzes ist. Wenn wir aber nicht mehr beweisen können als dieses, so ist die Realität der Ideen selbst noch nicht sichergestellt. Denn ebensogut, wie man auf Grund dieser Nach-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

305

weisung mit Kant von der Gültigkeit des Sittengesetzes auf die vorausgesetzte Gültigkeit der Ideen schließen kann, ebensogut kann man den umgekehrten Schluß ziehen von der zweifelhaften Gültigkeit der Ideen auf die zweifelhafte Gültigkeit des Sittengesetzes. Wenigstens ist zwischen diesen beiden Arten zu schließen solange keine Entscheidung zugunsten der ersten möglich, wie nicht für das Sittengesetz schon eine eigene, von spekulativen Voraussetzungen freie Deduktion zustande gebracht ist, eine Möglichkeit, die wir bei der Kritik von Kants praktischer Philosophie noch zu erörtern haben. Die Proklamierung des Primats der praktischen Vernunft kann eine solche Entscheidung jedenfalls nicht begründen; denn sie steht hier als ein bloßer Machtspruch, der nur mit anderen Worten die willkürliche Auszeichnung der einen Seite in dieser Alternative ausspricht. Sehen wir also von der noch fraglichen Deduktion des Sittengesetzes ab, so kann eine Begründung der spekulativen Ideen nur in einer spekulativen Ideenlehre gesucht werden. Auf die Notwendigkeit dieser Aufgabe wies schon das, was wir über die Voraussetzungen fanden, die Kant selbst, im Widerspruch mit seiner Lehre vom transzendentalen Schein, bei der Begründung der Antinomienlehre hinsichtlich der Realität der spekulativen Ideen macht. Alles dies gilt auch für die Idee der Freiheit, von deren Realität wir nach Kants Meinung unmittelbar durch die Tatsache des Sollens ein Wissen haben. Die Freiheit ist ebensowenig ein Gegenstand des Wissens wie die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Sie ist ebenso wie diese eine nur regressiv aus dem Bewußtsein des Sollens aufgewiesene Voraussetzung, die, wenn sie nicht nur hypothetisch, als ein praktisches Postulat, sondern kategorisch behauptet werden soll, einer spekulativen Begründung bedarf. Kants moralische Beweise sind aber auch im übrigen nicht einwandfrei. Es wird hier nicht einmal bewiesen, daß die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes praktische Postulate, das heißt notwendige Voraussetzungen für die Gültigkeit des Sittengesetzes sind. Die Unsterblichkeit, die auf Kants moralischen Beweis führt, ist zunächst nur eine endlose Fortdauer in der Zeit und damit etwas, was der Idee keineswegs entspricht. Die Idee fordert Ewigkeit, das heißt Aufhebung der Zeit überhaupt, Zeitlosigkeit des Daseins und nicht unendliche

306

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Dauer in der Zeit. Diese vermeintliche Idee von der endlosen Dauer in der Zeit kann uns aber auch gar nicht zu dem auf gegebenen Ziel führen. Denn wenn wir auf ein endloses Fortschreiten innerhalb der Zeit angewiesen wären, so würden wir zu keiner Zeit zu dem Ziel der Heiligung unseres Willens gelangen, und es würde folglich dieses Ziel nie erreicht werden. Wir kommen also durch eine endlose Fortdauer in der Zeit ebensowenig zu diesem Ziel wie in einer begrenzten Zeit. Die Idee der Befreiung unseres Willens von den Schranken der Sinnlichkeit kann nicht auf die psychologische Hypothese eines Fortlebens nach dem Tode gestützt werden; sie kann in der Natur überhaupt keine Realität haben; sie verlangt Aufhebung der Schranken der Natur überhaupt. Ebenso unbefriedigend ist Kants moralischer Beweis für das Dasein Gottes. Denn die zur Vollendung des höchsten Gutes geforderte Verteilung der Glückseligkeit nach Graden der Würdigkeit ist nur die unbegründete und unbegründbare Voraussetzung einer eudämonistischen Ethik. Glückseligkeit besteht in der Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse. Sie setzt daher zu ihrer Möglichkeit die Abhängigkeit von den Sinnen voraus, also gerade die Abhängigkeit, die wir in der Idee aufgehoben denken müssen. Dieser Umweg über das vermeintliche Ideal der Verteilung der Glückseligkeit nach Graden der Würdigkeit zur Idee der Gottheit ist nicht nur künstlich, sondern auch falsch. Die Annahme der Möglichkeit vollkommener Sittlichkeit ohne entsprechende Glückseligkeit widerstreitet nicht dem moralischen Gesetz, sondern allein dem subjektiven Interesse eines bedürftigen und also sinnlich beschränkten Wesens. Das Ideal des höchsten Gutes wird hier also fälschlich - gerade wie vorher die Idee der Befreiung unseres Willens von den Schranken der Sinnlichkeit - auf die Natur bezogen, deren Beschränkungen es seinem Begriff nach doch gerade entgegengesetzt ist. Läge übrigens hier wirklich ein Widerstreit nicht nur subjektiv mit unserer Neigung, sondern objektiv mit dem moralischen Gesetz vor, und gäbe es keine spekulative Begründung der Realität der Ideen, so wäre der daraus hervorgehende Widerstreit zwischen spekulativer und praktischer Vernunft auch unauflöslich. Um ihn zu schlichten, bedürften wir eines dritten, höheren Standpunktes über unserer Vernunft. So wird denn vollends deutlich, daß Kants Entscheidung zugunsten der prak-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

307

tischen Vernunft nur ein dogmatischer Machtspruch ist. Und es zeigt sich von allen Seiten, daß eine befriedigende Begründung der Ideen nur durch eine spekulative Ideenlehre möglich ist. Fragen wir zum Schluß nach dem tiefsten Grund dafür, daß Kant diese für die Kritik der Vernunft so entscheiclend wichtige Aufgabe verfehlt hat. Dazu müssen wir auf seine Lehre vom transzendentalen Idealismus zurücksehen. Durch diese Lehre, wie sie sich ihm aus der Auflösung der Antinomien entwickelt, war das Feld für die Annahme der Ideen frei geworden, und zwar schon innerhalb des Gebietes der spekulativen Vernunft. Warum hat er hier dennoch diese Annahme als transzendentalen Schein verworfen? Um dies zu verstehen, müssen wir berücksichtigen, daß - nach seiner eigenen Darstellung - Kant den transzendentalen Idealismus nicht erst aus der Antinomienlehre ableitet, sondern die Antinomienlehre nur, gleichsam nebenher, als eine Bestätigung für den transzendentalen Idealismus hinzubringt, den er schon anderweit begründet zu haben meint. Er meint ihn nämlich begründet zu haben durch den Beweis der Idealität von Raum und Zeit aus der Apriorität der Anschauung des Raumes und der Zeit, die er in der transzendentalen Asthetik nachweist. Nun habe ich schon gezeigt, daß dieser Beweis aus der Apriorität der Anschauung von Raum und Zeit fehlerhaft ist. Diese Lehre ist der von Kant besser so genannte formale Idealismus, das heißt die Lehre, daß die Formen unserer Erkenntnis a priori nicht für Dinge an sich gelten können. Sehen wir genauer zu, so ist der transzendentale Idealismus, wie er als Auflösung der Antinomien begründet wird, nicht identisch mit diesem formalen Idealismus, sondern sogar mit ihm unvereinbar. Die Beweisgründe der einen und anderen Lehre, die Kant beide als transzendentalen Idealismus bezeichnet, schließen einander geradezu aus. Die erste Beweisart, aus der Apriorität, hebt in ihrer Konsequenz den Grundgedanken der zweiten auf. Denn wenn die Apriorität einer synthetischen Vorstellung das Kennzeichen der Idealität des Gegenstandes der Vorstellung ist, das heißt, wenn diese sich nicht auf Dinge an sich beziehen kann, so muß die gleiche Konsequenz auch für die der Antinomienlehre zugrunde liegenden idealen Prinzipien gelten, das heißt für den Grundsatz der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten oder, wie Kant ihn auch bezeichnet,

308

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

der Unmöglichkeit eines unendlichen Regresses. Können wir für dieses Prinzip keine transzendentale Realität in Anspruch nehmen, so entfällt die Beweiskraft der Thesis in den Antinomien, auf die Kant sich doch stützt, um seinen transzendentalen Idealismus abzuleiten, so entfällt, mit anderen Worten, das Kriterium, vermöge dessen allein wir unsere Naturerkenntnisse als eine nur beschränkte Erkenntnis anerkennen und einer unbeschränkten Erkenntnis der Dinge an sich entgegensetzen können. Es bleibt merkwürdig, daß sich Kant über diese Konsequenz nicht klargeworden ist. Um so mehr aber verstehen wir den tieferen Grund, der es Kant, gerade wenn er die Konsequenzen aus seinem formalen Idealismus verfolgte, unmöglich machen mußte, zu einer spekulativen Begründung der Ideen zu gelangen. Denn der Möglichkeit einer solchen stand von vornherein der formale Idealismus im Wege. So sah er sich, um dennoch eine Begründung für die Realität der Ideen zu erzwingen, auf das künstliche Hilfsmittel seiner moralischen Beweise angewiesen. Was über diese aber noch bemerkt zu werden verdient, ist, daß, bei allem Mißlingen der Ausführung, der Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft ein sehr tiefer Gedanke zugrunde liegt, den wir über der gegebenen Kritik nicht verkennen dürfen. Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung so, als ob diese Postulatenlehre in ihrem Grundgedanken unhaltbar wäre. Denn es wird hier versucht, aus gewissen Voraussetzungen über das Sollen die Realität von an und für sich spekulativen Ideen zu erweisen, das heißt also, von dem Sollen auf ein Sein zu schließen. Nun wissen wir zwar, daß vom Sein niemals ein zwingender Schluß auf das Sollen möglich ist; denn der Begriff des Seins schließt den des Sollens noch nicht ein. Aber es könnte doch wohl umgekehrt möglich sein, von dem Sollen auf ein Sein zu schließen, so paradox dies auf den ersten Blick ers,cheinen mag. In der Tat, wenn wir den Begriff des Sollens schärfer ins Auge fassen, so zeigt sich, daß er seinerseits den Begriff des Seins voraussetzt. Denn wenn wir von irgend etwas, was es auch sein mag, sagen, daß es sein soll, so sagen wir eben damit, daß es sein soll; wir setzen also im Begriff des Sollens den des Seins wirklich schon voraus. Es bleibt daher zu untersuchen, welche Voraussetzungen über das Sein schon gemacht werden müssen, wenn man ein Sollen annehmen will. Damit stehen wir aber bei der Aufgabe, die

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

309

sich Kant in seiner Postulatenlehre gestellt hat. Und diese Lehre ist auch bei Kant nicht in allen Stücken mißlungen. Sie ist von ihm durchaus richtig ausgeführt worden, soweit sie die Idee der Freiheit betrifft. Denn die Annahme, daß wir etwas tun sollen, setzt voraus, daß wir das, was wir sollen, auch tun oder lassen können und daß es also keine Bedingungen des Müssens gibt, die unser Handeln bestimmen. Daher ist in der Tat für die Möglichkeit des Sollens metaphysische Freiheit vorausgesetzt, das heißt die Unabhängigkeit des Willens von aller Notwendigkeit eines Müssens, im Unterschied von der nur psychologischen Freiheit, das heißt der Möglichkeit, willkürlich zu handeln. Wir können hier also mit gutem Grund von einem praktischen Postulat sprechen, im Sinne eines an und für sich spekulativen Satzes, dessen Gültigkeit die Voraussetzung der Gültigkeit des Sittengesetzes ist. Und zwar erkennen wir ihn als die Voraussetzung der Gültigkeit des Sittengesetzes durch eine bloße Zergliederung des Begriffs eines Sittengesetzes: als eines Gesetzes des Sollens. Wenn demnach dieses Postulat ein solches der bloßen Form des Sittengesetzes ist, so könnte es analoge Postulate geben, die sich aus dem Inhalt des Sittengesetzes ableiten. Hierher würden in der Tat die anderen von Kant auf gewiesenen Postulate gehören müssen, wenn ihre Ableitung fehlerfrei wäre. Denn Kant kommt auf sie durch die Untersuchung der Bedingungen, die wir für die Möglichkeit des Gegenstandes der praktischen Vernunft voraussetzen müssen. Der Gegenstand der praktischen Vernunft ist dasjenige, was uns durch die praktische Vernunft als Zweck aufgegeben ist; er ist das, was Kant mit einem zweideutigen Ausdruck das höchste Gut nennt. Er irrt nur in der Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes und damit in der Bestimmung dessen, was denn nun als höchstes Gut zu gelten hat. Dieser Irrtum ist bei ihm die Folge eines anderen Fehlers, auf den wir bei der Kritik seiner praktischen Philosophie noch eingehen müssen, nämlich seiner fehlerhaften logizistischen Ansicht vom formalen Charakter des Sittengesetzes. In Ermangelung einer hinreichenden Bestimmung des Sittengesetzes fehlt es ihm im Grunde auch an einer Bestimmung des Zweckes, den zu verwirklichen die reine praktische Vernunft uns gebietet. Und es bleibt daher nur übrig, dem Gegenstand der praktischen Vernunft einen außersittlichen Zweck unterzuschieben.Als solcher kommt aber für Kant nur die Glückseligkeit in Betracht, oder doch, da diese

310

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

als ein praktisch möglicher Zweck auf die Bedingungen der Sittlichkeit eingeschränkt ist, die Verteilung der Glückseligkeit nach Graden der Würdigkeit. Die Aussicht, die uns diese methodische Erwägung auf die Möglichkeit einer Postulatenlehre im Kantischen Sinne gewährt, ist natürlich an die Voraussetzung gebunden, daß es gelingt, für das Sittengesetz seinerseits eine von der spekulativen Ideenlehre unabhängige Begründung zu geben. Wir können also den Gedanken der Postulatenlehre festhalten unter dem Vorbehalt der Möglichkeit einer eigenen Deduktion des Sittengesetzes.

Die Kritik der praktischen Vernunft Von Kants Kritiken ist die der praktischen Vernunft am meisten von dem logizistischen Vorurteil in Mitleidenschaft gezogen worden, dem er hier, nach der zuerst glücklichen Anwendung der kritischen Methode in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, ganz anheimfällt. Zunächst wieder die quaestio facti: hier ist seine Darstellung fehlerfrei, soweit in ihr die Zergliederung des Begriffs des guten Willens reicht. Diese Zergliederung des Begriffs des guten Willens ist sogar ein Musterbeispiel der Anwendung der kritischen Methode. Sie führt zurück auf den tiefer liegenden Begriff der Pflicht und damit des kategorischen Imperativs. Nun biegt aber Kant unglücklicherweise von dem zergliedernden Gedankengang ab, indem er einen logischen Übergang sucht von dem Begriff der Pflicht zu dem Kriterium der Pflicht. Pflicht, sagt er, ist die Notwendigkeit einer Handlung aus bloßer Achtung vor dem Gesetz. Sittlich gut ist ein Wille, der sich bestimmen läßt durch den bloßen Gedanken der Allgemeingültigkeit des Gesetzes ohne Rücksicht auf die Materie des Gesetzes. Bis hierher sind seine Nachweisungen vollkommen richtig und einwandfrei. Aber er glaubt auf Grund dieses Ergebnisses unmittelbar schon das Kriterium der Pflicht bestimmen zu können. Er sucht nämlich dieses Kriterium in der Verallgemeinerung der Maxime unseres Handelns zum Gesetz. Die Tauglichkeit einer Maxime, als allgemeines Gesetz zu gelten, ist ihm dieses Kriterium. Und so setzt er das Kriterium der Pflicht in die bloße

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

311

Form der Gesetzlichkeit, das heißt in die bloße Widerspruchslosigkeit der zum Gesetz verallgemeinerten Maxime. Der Fehler liegt hier in der Verwechslung des Bestimmungsgrundes einer moralischen Handlung mit dem Kriterium der Pflicht. Infolge dieses Fehlers wird ihm die bloße logische Bedingung der Übereinstimmung des Willens mit sich selbst zum höchsten sittlichen Kriterium. Diese Bedingung ist aber keineswegs hinreichend. Denn durch die bloße Ausschließung eines Widerstreites des Willens mit sich selbst ist noch nicht bestimmt, für welche der einander widerstreitenden Maximen wir uns entscheiden sollen. Wenn Kant dennoch zu einer anwendbaren und also gehaltvollen Formulierung des Sittengesetzes kommt, so ist diese nur einer glücklichen Inkonsequenz zu danken. Er gleicht hier in der Tat durch einen neuen Fehler den vorher begangenen wieder aus. Er formuliert, wie wir wissen, das Sittengesetz als den Grundsatz von der Würde der Person, nämlich als die Forderung, jede Person als Selbstzweck zu achten und keine als bloßes Mittel für unsere Zwecke zu mißbrauchen. Dieser Satz folgt durchaus nicht, wie Kant meint, aus jener Bedingung der Widerspruchslosigkeit. Er kommt unabhängig davon und bei Kant ohne Begründung hinzu. Was hat nun Kant zu diesem neuen Fehler veranlaßt? Der Schein, der hier irreführt, liegt im folgenden: Wir können in der Tat eine Maxime nur dann als sittlich erlaubt denken, wenn wir ohne Widerspruch annehmen können, daß sie als allgemeines Gesetz gilt. Es liegt im Begriff der Pflicht, daß sie für jedermann verbindlich ist und daß darum, was für den einen geboten oder verboten ist, von allen, die sich in wirklich der gleichen Lage befinden, getan oder unterlassen werden sollte. Diese bloß analytische Bedingung, wonach, was dem einen erlaubt ist, auch, unter im übrigen gleichen Umständen, von jedem anderen getan werden darf, verwechselt Kant mit der synthetischen Bedingung, daß wir wollen können, unsere Maxime werde allgemein befolgt nach Art eines Naturgesetzes. Hiermit gewinnen wir wirklich ein Kriterium der Pflicht, einen synthetischen Grundsatz. Die Zweideutigkeit, diese Vertauschung jenes analytischen Prinzips mit diesem synthetischen, wird bei Kant verschleiert durch den Ausdruck der » Tauglichkeit einer Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung«. Hierunter wird einmal verstanden die Möglichkeit, unsere Handlungsweise als allgemein erlaubt anzuneh-

312

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

men, wodurch wir gar kein Kriterium erhalten. Denn wir müßten danach erst wissen, was denn jedem anderen in entsprechender Lage erlaubt ist, um daraus schließen zu können, was uns in unserer Lage tatsächlich erlaubt ist. Dieser Gedanke wird verwechselt mit dem Kriterium der Geltung der fraglichen Maxime als Naturgesetz, das heißt mit der Annahme, daß sie wirklich von jedermann in der gleichen Lage befolgt wird und wir ein solches Naturgesetz wünschen können im Gegensatz zu ihrer allgemeinen, nach Art eines Naturgesetzes geltenden Nichtbefolgung. Um dieses Kriterium anzuwenden, brauchen wir noch nicht zu wissen, was anderen in einer der unseren gleichen Lage erlaubt ist, sondern nur, was wir auf Grund unseres Interesses wünschen könnten, daß andere in einer der unseren gleichen Lage gegen uns tun. Derselbe Fehler zeigt sich von einer anderen Seite in der Unbestimmtheit des Kantischen Begriffs der Autonomie oder auch der Würde. Jedes vernünftige Wesen, sagt Kant, ist vermöge seiner Vernunft in praktischer Hinsicht selbst gesetzgebend und schränkt dadurch den Willen jedes anderen vernünftigen Wesens ein. Hiermit wird nur wieder die im bloßen Begriff der Pflicht liegende Allgemeingültigkeit des Gesetzes umschrieben. Aber diese Eigenschaft des vernünftigen Wesens, seine Autonomie oder Würde, die darin besteht, daß es vermöge seiner Vernunft an der allgemeinen Gesetzgebung teil hat, verwechselt Kant mit seiner Eigenschaft, durch seine Zwecke einen fremden Willen einzuschränken, mit der »Würde«, die darin besteht, jedem anderen gegenüber einen Anspruch auf Achtung seiner Zwecke zu haben. In der Tat, kein vernünftiges Wesen kann einem Gesetz unterworfen gedacht werden, das es sich nicht durch seine Vernunft selbst gibt. Diese Erwägung läßt aber den Inhalt des Gesetzes durchaus unbestimmt. Das vernünftige Wesen kann durch seine Vernunft jedes andere Wesen dem Gesetz nur unterwerfen hinsichtlich der diesem anderen Wesen obliegenden Pflicht. Aber was diese Pflicht dem einen und anderen gebietet, bleibt dadurch unbestimmt. Daß sie gerade die gegenseitige Achtung der Zwecke gebietet, ist erst das Eigentümliche des Inhalts des Gesetzes und folgt nicht aus jenem formalen Prinzip der Autonomie. Es liegt diesem Irrtum Kants ein tiefliegender psychologischer Fehler zugrunde, auf den ich noch eingehen werde.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

313

Ich will hier noch auf einige Fehler hinweisen, die die Folge dieser falschen Abstraktion sind, nämlich auf die Mangelhaftigkeit der Kantischen Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes. Das Kriterium der Pflicht soll liegen in der Möglichkeit der Einstimmung des Behandelten. Denn dies sagt der Satz, daß wir keine Person als bloßes Mittel zu unserem Zwecke gebrauchen dürfen: Der von uns Behandelte soll zugleich selbst den Zweck unserer Handlung enthalten. Nun liegt aber der Fall der Anwendung dieses Prinzips nur vor, wo eine Kollision der Interessen des Handelnden und des Behandelten eintritt. Denn ohne dies mögen wir handeln, wie wir wollen, wir werden immer der Einstimmung des Behandelten sicher sein. Nun ist aber klar, einmal, daß, wenn wir uns selbst behandeln, der Fall gar nicht möglich ist, daß wir uns zum bloßen Mittel machen in dem Sinne, daß wir nicht selbst den Zweck unserer Handlung enthielten. Denn wir mögen handeln, wie wir wollen, der Zweck, zu dem wir handeln, ist doch immer unser eigener Zweck. Eine Verletzung der eigenen Würde wäre hiernach überhaupt unmöglich. Betrachten wir andererseits den Fall der Behandlung einer anderen Person, und zwar den Fall, der hierfür allein in Frage kommt, wo also die von uns beabsichtigte Handlung einem Interesse des Behandelten widerstreitet, so gibt uns das formulierte Kriterium keine Entscheidung. Denn die Bedingung der Einstimmung des Behandelten kann hier gar nicht erfüllt sein. Es läge sonst ja gar keine Interessenkollision vor. Dem soll nun wohl die andere Formulierung abhelfen, wonach die von unserer Handlung betroffene Person zwar nicht wirklich in sie einstimmen muß, damit die Handlung pflichtgemäß ist, wohl aber in sie einstimmen können muß. Allein, hier entsteht die Frage nach einem Kriterium dafür, daß die von unserer Handlung betroffene Person in sie einwilligen könnte. Ob sie wirklich einwilligt, das können wir vielleicht wissen. Aber woran sollen wir erkennen, ob sie die Möglichkeit hat, einzuwilligen? Hierfür bedürfte es eines anderweitigen Kriteriums, und ein solches gibt uns die Kantische Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes nicht. Die bloße logische Möglichkeit, die Widerspruchslosigkeit, kann hier offenbar nicht genügen. Während nach dem eben Gesagten der Bereich der Personen, gegen die wir Pflichten haben, von Kant zu weit gefaßt wird - durch die

314

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Lehre von den Pflichten gegen uns selbst -, liegt ein weiterer Fehler darin, daß der Bereich von Pflichten auf der anderen Seite fälschlich verengt wird, indem Kant, gemäß dem schon erörterten Fehler, der Einschränkung unseres Beliebens durch das Interesse der von unserer Handlung betroffenen Person die Einschränkung unseres Beliebens durch ihre Vernunft unterschiebt und so auf die Vernünftigkeit des von uns behandelten Wesens seine Würde gründet, das heißt den Anspruch auf Achtung seiner Interessen. » Würde« in dem Sinne, daß ein Wesen unser Belieben durch seine Interessen einschränkt, hat es jedoch unabhängig davon, ob es Vernunft besitzt. Und wir dürfen also den Bereich der Wesen, in deren Behandlung wir Pflichten unterliegen, nicht einschränken auf vernünftige Wesen. Ich komme zu Kants Versuch einer Begründung der von ihm aufgewiesenen Prinzipien unserer sittlichen Urteile, kurz, des Sittengesetzes. Diese Lehre müssen wir ähnlich beurteilen wie seinen Versuch einer Begründung der spekulativen metaphysischen Grundsätze. Auch hier wird er durch sein logizistisches Vorurteil genötigt, an Stelle einer subjektiven Deduktion eine objektive zu versuchen, nach Analogie seiner erkenntnistheoretischen Methode bei den transzendentalen Beweisen. Statt zu fragen, auf welchen Erkenntnisgrund sich unsere Urteile über die Pflicht zurückführen lassen, fragt er nach dem objektiven Grund der Verbindlichkeit der Pflicht selbst - eine Frage, die ebenso unlösbar ist wie die Frage nach dem Grund der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis. Wie nämlich die objektive Gültigkeit einer Erkenntnis nur begründet werden kann durch Zurückführung auf eine andere, logisch höhere Erkenntnis, so kann die Verbindlichkeit einer Pflicht nur begründet werden durch Zurückführung auf eine höhere Pflicht, die uns die Befolgung der ersten gebietet. Einen Grund der Verbindlichkeit sittlicher Pflicht überhaupt anzugeben, ist daher in der Tat eine ebenso widersprechende Aufgabe wie die, den Grund der Gültigkeit unserer Erkenntnis überhaupt anzugeben. Wir müssen also diese objektive Stellung der Aufgabe verwerfen. Aber welches ist nun der scheinbare Grund, den Kant hier angeben zu können glaubt? Seine Antwort lautet: Die Verbindlichkeit der Pflicht beruht darauf, daß das Sollen, dem unser empirisches Wollen unterworfen ist, im Grunde unser eigenes intelligibles Wollen ist. Als Mit-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

315

glieder der intelligiblen Welt der Dinge an sich haben wir einen reinen Willen, und dieser reine Wille enthält das Gesetz für unser empirisch bedingtes Wollen, das heißt für uns.er Handeln als Naturwesen. Man sieht leicht, daß diese Antwort der gestellten Aufgabe nicht genug tun kann. Denn die Frage ist nun: Worauf beruht die Verbindlichkeit unseres intelligiblen Wollens für unser empirisches Wollen? Warum soll dieses mit jenem übereinstimmen? Auf dies,e Frage gibt die Kantische Erklärung keine Antwort. Man könnte diese Antwort zwar in Kants Sinn dahin zu geben versuchen, daß ohne die Übereinstimmung unseres empirischen Wollens mit dem intelligiblen unser Wille sich selbst widerstreiten würde. Aber die Gegenfrage bliebe doch unauflöslich: Warum soll denn unser Wille sich nicht selbst widerstreiten? Man könnte nur sagen: Weil der kategorische Imperativ, das Sittengesetz, es verbietet. Die Verbindlichkeit dieses Gesetzes müßte also allemal schon vorausgesetzt werden. Der tiefere Grund ·dieses Fehlers und der weiteren damit zusammenhängenden Mängel liegt auch hier wieder in der Erkenntnistheorie des formalen Idealismus. Nach dieser Lehre darf das Sittengesetz keine Materie haben, so daß denn als Kriterium der Sittlichkeit nur die bloße Form des Gesetzes übrigbleibt. Andernfalls nämlich, meint Kant, wäre der Wille nur empirisch bestimmbar, und alle Maximen müßten dann aus dem Trieb nach eigener Glückseligkeit entspringen. Dies ist in der Tat die ins Praktische übersetzte Konsequenz seines formalen Idealismus. Denn nach diesem müßte eine Maxime, die eine Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand enthält, auf der Rezeptivität des Gemüts beruhen. Der Bestimmungsgrund läge dann in der Lust. Alle Lust beruht in der Tat auf der Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke und ist insofern empirisch. Eine Handlung aus Pflicht darf aber keine empirischen Triebfedern haben. Also, schließt Kant, darf das Sittengesetz keine Materie haben. Und so kommt er auf den berühmten Formalismus seiner Moralphilosophie. Betrachten wir diese Beweisführung genauer. Der Grundgedanke ist in ihr der gleiche wie in der Kritik der spekulativen Vernunft. Es hängt hier alles von Kants Theorie über das Verhältnis der Willensbestimmung zum Gegenstande ab, wie dort von seiner Theorie über das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande. Auch hier beurteilt er das

316

I. Teil: David Humc und Immanuel Kant

fragliche Verhältnis als ein Kausalverhältnis, wo denn entweder der Gegenstand den Grund der Möglichkeit der Willensbestimmung oder diese den Grund der Möglichkeit des Gegenstandes enthalten muß. Wenn der Wille auf ein Objekt als auf seinen Zweck gerichtet ist, so müßte die Willensbestimmung empirisch sein. Denn er müßte darin vom Objekt abhängen. Und die Moralität würde sich auf die Empfänglichkeit des Subjekts für äußere Eindrücke gründen und damit auf eine empirische Triebfeder, was dem Begriff der Moralität widerspricht. Da also für die Bestimmung des Willens, damit sein Entschluß moralisch heißen kann, keine Abhängigkeit von äußeren Eindrücken und also keine Materie des Gesetzes in Betracht kommt, so bleibt allein die Form des Gesetzes übrig als das Kriterium für die Sittlichkeit einer Handlung. Hier liegt dieselbe dogmatische Disjunktion zugrunde, die wir als die psychologische Grundvoraussetzung von Kants Kritik der spekulativen Vernunft gefunden haben. Dort bezog sie sich auf die Erkenntnisquellen; hier bezieht sie sich auf die Antriebe des Willens. Wie die Erkenntnisquellen, so können auch die Antriebe des Willens nach Kant nur liegen entweder in der Sinnlichkeit oder im Verstande, wo die Sinnlichkeit das Vermögen, von Gegenständen affiziert zu werden, bedeutet, der Verstand dagegen als das Vermögen der Spontaneität des Subjekts erscheint. Nun ist der Verstand für sich in der Tat leer. Er kann uns ebensowenig eigene Antriebe zu den sinnlichen Antrieben hinzugeben, wie er einen eigenen Gehalt vonErkenntnissenzu der sinnlichen Erkenntnis hinzugeben kann. Die Verständigkeit betriffi beim Willen nur die Form seiner Entschlüsse, so wie sie bei der Erkenntnis nur die Form des Urteils betriffi. Eben darum aber ist es ebenso falsch, den verständigen Entschluß dem sinnlichen gegenüberzustellen, wie es falsch ist, die reflektierte Erkenntnis der sinnlichen gegenüberzustellen. Wie die Form des Urteils, die allein durch die Reflexion bestimmt wird, es nicht ausschließt, daß das Urteil seinen Gehalt aus der Sinnesanschauung schöpft, so ist auch ein verständiger Entschluß nur durch die Form der Entschließung selbst gekennzeichnet und nicht durch die Art der Antriebe, die den Inhalt des Entschlusses bestimmen. Ein verständiger Entschluß ist daher als solcher ebensowohl auf Grund sinnlicher Antriebe möglich wie auf Grund reiner Antriebe. Man kann sich mit Überlegung entschließen zu einer Handlung, die doch aus sinnlichen Antrieben entspringt, indem man zum Beispiel das

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

317

zweckmäßigste Mittel wählt, um sich einen Genuß zu verschaffen. Verständigkeit ist daher, wenn sie auch eine notwendige Bedingung der Moralität des Entschlusses ist, für diese nicht hinreichend. Zu dieser sind vielmehr noch besondere Antriebe, unabhängig von den sinnlichen, erforderlich. Diese Antriebe fehlen in Kants Theorie. So bleibt ihm denn für den sittlichen Entschluß, da hier kein sinnlicher Antrieb der Bestimmungsgrund sein kann, nur objektiv die bloße Form des Gesetzes als Bestimmungsgrund übrig, ohne allen Antrieb. Gerade so, wie er hinsichtlich der spekulativen Vernunft bei der Form des Urteils stehenbleibt und nicht auf die unmittelbare metaphysische Erkenntnis zurückgeht, ohne die durch die Form des Urteils kein Gegenstand bestimmt werden könnte, so ist ihm hier der unmittelbare rein vernünftige Antrieb der praktischen Vernunft entgangen, ohne den eine Willensbestimmung durch die Form des Gesetzes psychologisch unmöglich wäre. Denn offenbar kann das Gesetz als solches den Willen nicht bestimmen, sondern, was den Willen bestimmen kann, ist nur die Vorstellung des Gesetzes in uns. Diese Vorstellung des Gesetzes in uns hat Kant mit dem Gesetz selbst verwechselt. Darauf beruht denn auch ein wichtiger Fehler seiner Lehre von der Freiheit. Er begründet die Lehre von der transzendentalen oder metaphysischen Freiheit, das heißt der Unabhängigkeit von Naturgesetzen, im Gegensatz zur bloß psychologischen Freiheit als der Unabhängigkeit von äußeren Naturgesetzen, folgendermaßen: Beim moralischen Wollen muß das Gesetz der Bestimmungsgrund des Willens sein. Nun ist aber das Gesetz keine in der Natur vorkommende Ursache: Es ist keine Erscheinung der Sinnenwelt selbst, die in dieser wirksam sein könnte. Folglich muß der moralische Wille unabhängig von Naturursachen bestimmt sein und also im metaphysischen Sinne frei sein. Bei dieser Beweisführung hat Kant übersehen, daß, wenn auch nicht das Gesetz selbst, so doch recht wohl die Vorstellung des Gesetzes, worauf es hier allein ankommt, eine in der Natur wirkende Triebfeder sein kann. Daher bleibt ihm auch die Kardinalfrage seiner Kritik der praktischen Vernunft unlösbar. Er formuliert diese Frage dahin, wie ein reiner Wille möglich sei, das heißt wie reine Vernunft praktisch sein könne. Diese Frage läuft für ihn, gemäß dem eben Gesagten, auf die andere hinaus, wie ein freier Wille möglich sei. Denn ein reiner, das heißt von

318

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

sinnlichen Triebfedern unabhängiger Wille wäre danach ein solcher, der, weil er überhaupt von keinen Naturursachen abhängen darf, sich selbst bestimmen muß. Die Antwort, daß ein reiner Wille nur in der Form des verständigen Entschlusses möglich ist, diese Antwort bezeichnet zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Denn allerdings enthält der Verstand für sich keine Antriebe. Da aber außer dem Verstande nach Kants Voraussetzung nur die Sinnlichkeit als Quelle von Antrieben übrigbleibt, so würde in der Tat folgen, daß ein reiner Wille überhaupt keine Antriebe als Bestimmungsgrund haben darf und also Freiheit im metaphysischen Sinne voraussetzt. Mit der Aufhebung der falschen Disjunktion von Sinnlichkeit und Verstand entfällt diese Konsequenz, und es eröffnet sich ein Weg zur befriedigenden Auflösung der Frage, wie ein reiner Wille möglich sei, nämlich durch die Nachweisung der Möglichkeit eines rein vernünftigen Antriebes. Reine Vernunft ist danach selbst ein Vermögen der Antriebe und nicht die bloße Form des verständigen Entschlusses. Daß Kant diesen Weg verfehlt hat, beruht freilich außer auf dem allgemeinen erkenntnistheoretischen Dogmatismus noch auf einem besonderen psychologischen Fehler. Er unterscheidet drei Grundvermögen des menschlichen Geistes: das Vermögen des Erkennens, das Vermögen des Gefühls der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen. In diesem letzten Ausdruck wird von Kant Verschiedenes vermengt, was sich nicht auf ein und dasselbe Grundvermögen zurückführen läßt. Er hat nämlich nicht unterschieden zwischen dem Begehren als bloßem Antrieb und dem Begehren als Entschluß. Das Begehrungsvermögen, als das Vermögen der Antriebe, ist nur eine besondere Form des Interesses, als des Vermögens, den Dingen wertend gegenüberzutreten; es ist das Interesse, wiefern dieses auf den Willen wirkt. Daraus folgt zweierlei: Es folgt erstens, daß das Begehrungsvermögen mit dem Vermögen der Lust- und Unlustgefühle, von denen Kant es geschieden hatte, in eine und dieselbe Klasse gehört, einem und demselben Grundvermögen zuzuschreiben ist, nämlich dem Vermögen des Interesses. Es folgt aber andererseits zugleich, daß zur Möglichkeit des Handelns in der Tat noch ein weiteres Vermögen hinzukommen muß zu dem Vermögen des Interesses. Und dies dritte Vermögen ist das des

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

319

Wollens in dem bestimmteren Sinne des Wortes, wonach es mit dem Entschließungsvermögen einerlei ist. Von dieser Seite wird die Notwendigkeit noch deutlicher, die verschiedenen Formen des Entschlusses scharf zu unterscheiden von den verschiedenen Arten der Antriebe. Ein Interesse bestimmt den Willen entweder unmittelbar oder vermittels eines Reflexionsaktes. Im zweiten Fall sprechen wir von einem reflektierten oder verständigen Entschluß. Will man demgegenüber bei der ersten Form der Willensbestimmung von einem »sinnlichen Entschluß« sprechen, so muß man sich darüber klar sein, daß diese Einteilung nur dann ausschließend und vollständig ist, wenn wir sie nicht auf den Ursprung des Bestimmungsgrundes beziehen, sondern nur auf die Form der Willensbestimmung. Für diesen Begriff des »sinnlichen Entschlusses« bleibt es durchaus zufällig, wenn der sogenannte sinnliche Entschluß nur durch einen sinnlichen Antrieb als Bestimmungsgrund möglich ist. Wenn dem wirklich so ist, so ist dies doch ein Satz, den nur die empirische Psychologie feststellen kann und der nicht schon logisch aus dem Begriff des sinnlichen Entschlusses hervorgeht. Begrifflich ist hier nur gefordert, daß der Antrieb den Willen unabhängig von der Reflexion bestimmt - denn sonst wäre der Entschluß als ein verständiger gekennzeichnet-, und also in der Tat auch, daß der den Willen bestimmende Antrieb eine Lust ist; denn darunter verstehen wir ein Interesse, das unabhängig von der Reflexion zum Bewußtsein kommt und den Willen bestimmen kann. Wir könnten die Lust insofern geradezu als das intuitive Interesse bezeichnen. Daß aber jede Lust sinnlichen Ursprungs ist, dieser für die Kantische Theorie grundlegende Satz, läßt sich nicht a priori als notwendig erkennen, sondern, wenn er richtig ist, nur als ein Tatbestand der inneren Erfahrung feststellen. Ob wir eine intellektuelle Lust besitzen, die als solche unabhängig von der Reflexion und also, ohne daß es dazu eines verständigen Entschlusses bedürfte, den Willen bestimmen kann, das ist durchaus nur eine Frage des psychologischen Tatbestandes, geradeso wie die, ob wir intellektuelle Anschauung besitzen. Es könnte ein reines und doch intuitives Interesse geben, das als solches Bestimmungsgrund eines sogenannten sinnlichen Entschlusses wäre. Es ist daher besser, nicht von »sinnlichen Entschlüssen« zu sprechen, wo es sich um den Gegensatz zum verständigen Entschluß handelt, son-

320

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

dern statt dessen »triebhaften« und verständigen Entschluß zu unterscheiden, wie dies ja auch dem Sprachgebrauch entspricht,und andererseits nach den Arten der Antriebe die Entschlüsse zu unterscheiden als sinnliche und rein-vernünftige. Formen des Entschlusses: triebhaft verständig Arten der Antriebe:

sinnlich rein-vernünftig

X

Kehren wir nun zurück zu dem Grundproblem der Theorie der praktischen Vernunft. Es ist das Problem, das Kant durchaus richtig gesehen hatte: wie ein reiner Wille möglich sei; das heißt, wie reine Vernunft praktisch sein könne oder, populär gesagt, wie ein sittlicher Entschluß möglich sei. In der Tat: Ein sittlicher Entschluß ist nichts anderes als ein solcher, der unabhängig von aller Neigung zu irgendwelchen Gegenständen nur um der Pflicht willen geschieht, das heißt aus bloßer Achtung vor dem Gesetz, was auch dessen Inhalt sein mag. Das Gesetz aber wird durch die reine Vernunft vorgestellt. Daher die ganz richtige Stellung der Frage: wie reine Vernunft praktisch sein kann; denn das heißt nichts anderes als, wie die bloße Vorstellung des Gesetzes den Willen bestimmen kann oder, negativ ausgedrückt, wie eine Bestimmung des Willens unabhängig von sinnlichen Triebfedern möglich ist. Wenn also hiernach ein sittlicher Entschluß in der Tat nur ein reinvernünftiger sein kann, so darf dies aber nur heißen: ein Entschluß aus rein-vernünftigem Antriebe. Reine Vernunft soll hier praktisch sein, das heißt den Willen bestimmen. Das ist nur möglich, wenn es reine praktische Vernunft als ein eigenes Vermögen der Antriebe gibt, unabhängig also von der bloßen Form des verständigen Entschlusses. Selbst wenn die Form der Verständigkeit notwendig ist für den sittlichen Entschluß, so ist sie doch für ihn nicht hinreichend. Es bleibt also ein Problem für die Theorie der praktischen Vernunft, das nur durch eine psychologische Untersuchung entscheidbar ist einerseits, ob es überhaupt einen rein-vernünftigen Antrieb gibt, und andererseits, ob ein rein-vernünftiger Entschluß auch ein verständiger Entschluß sein muß, das heißt, ob der rein-vernünftige Antrieb nur

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

321

vermittels der Reflexion den Willen bestimmen kann und nicht unmittelbar als solcher: in der Form eines triebhaften Entschlusses. Wir kommen damit zurück auf die Frage, ob der Kanti~che Satz richtig ist, daß alle Lust sinnlich ist. Das heißt ja, daß kein anderes intuitives Interesse möglich ist als da!s sinnliche und daß also jedes reine Interesse nur vermittels der Reflexion den Willen bestimmen kann und nicht in der Form eines triebhaften Entschlusses. In der Tat liegt in diesem Satz eine durchaus richtige Behauptung, ja eine große Entdeckung Kants. Die psychologische Beobachtung überzeugt uns von der Richtigkeit dieses Satzes. Es liegt hierin eine Entdeckung, die sogar in der neueren Psychologie, die sich auf ihren Empirismus so viel zugute tut, noch nicht allgemein durchgedrungen ist. Der Grund der Verkennung dieser Wahrheit liegt, wie übrigens schon Kant nachweist, in der Verwechslung der Arten der Lust mit den Arten der Gegenstände, auf die sich die Lust bezieht, oder der Vorstellungen, die mit Lust oder Unlust verbunden sind. Nicht darauf kommt es für die Theorie der Lust an, ob diese Vorstellungen ihrerseits sinnlichen oder intellektuellen Ursprungs sind, sondern allein darauf, ob die Lust selbst sinnlichen oder intellektuellen Ursprungs ist. Und wenn man die Frage so stellt, zeigt sich, daß alle Lust, auch diejenige, die mit intellektuellen Vorstellungen verbunden ist - wie zum Beispiel mit der Vorstellung des Guten oder der Pflichterfüllung - sinnlichen Ursprungs ist. An dieser großen psychologischen Entdeckung, die Kant hier gemacht hat, wollen und müssen wir festhalten, aber wir wollen sie befreien von den Fehlern, mit denen sie bei Kant vermengt ist. Falsch wird der Satz, wenn man ihn - wie es die Kantische Theorie nahelegt - dahin deutet, daß alles Interesse sinnlichen Ursprungs sein muß. Man überträgt dann, was für die Lust richtig ist, nämlich den sinnlichen Ursprung, auf jedes Interesse überhaupt. Demgegenüber bleibt es richtig, daß wir keine intellektuelle Lust besitzen. Besäßen wir nämlich eine intellektuelle Lust, so würde dies heißen, daß wir ein reines Interesse besitzen, das in triebhafter Form, das heißt ohne Vermittlung der Reflexion, den Willen bestimmen kann. Daß wir ein solches nicht besitzen, das ist eine der großen Kantischen Entdeckungen, die immer stehenbleiben werden. Diese Erörterungen setzen uns in den Stand, die Ansatzpunkte her-

322

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

auszuarbeiten, die bei Kant für eine wirkliche subjektive Deduktion anzutreffen sind, und die Bausteine zusammenzustellen, aus denen sich vielleicht bei einer weiteren Bearbeitung des Problems eine solche Deduktion in befriedigender Weise ausführen läßt. Ein solcher Baustein ist zunächst der Satz von der Möglichkeit des reinen Willens. Vonseiten dieses Satzes zeigt sich uns das philosophische Interesse an der Theorie der praktischen Vernunft überhaupt, das Interesse an einem psychologischen Problem, auf das wir aber hier nur geführt werden, indem wir von einer an sich philosophischen Problemstellung ausgehen, nämlich der Aufgabe einer Deduktion des Sittengesetzes. Dieser Satz darf freilich in einer endgültigen psychologischen Theorie nicht als ein bloßes sittliches Postulat auf treten, sondern muß in ihr als ein reiner Erfahrungssatz begründet werden. Und zwar gestaltet sich uns diese Aufgabe zu der anderen der Nachweisung der Existenz eines rein-vernünftigen Antriebes. Damit ist das Problem jedoch nicht erschöpft. Es bleibt vielmehr noch die Frage zu entscheiden: Wenn es einen solchen Antrieb gibt, bestimmt er den Willen notwendig in der Form des verständigen Entschlusses oder kann er Bestimmungsgrund eines triebhaften Entschlusses sein? Die Lösung dieses Problems wird uns geliefert durch den anderen für Kants Theorie grundlegenden Satz vom sinnlichen Ursprung aller Lust oder von der Unmöglichkeit intellektueller Lust. Dieser Satz bleibt in der Tat ebenfalls ein Hauptsatz der Theorie der praktischen Vernunft, so unvollkommen auch seine Begründung bei Kant noch sein mag. Bei Kant erscheint nämlich die Gleichsetzung der reinen Vernunft mit der bloßen Form der Verständigkeit als einfache logische Folgerung aus der Verbindung jener beiden Hauptsätze seiner Theorie: der Möglichkeit des reinen Willens einerseits und der Unmöglichkeit intellektueller Lust andererseits, wobei aber in Wahrheit die dogmatische Voraussetzung der Vollständigkeit der Alternative von Lust und Verstand als möglichen Bestimmungsgründen mitspielt oder, wie wir auch sagen können, die Voraussetzung der Identität der beiden Begriffe des unmittelbaren Interesses und der Lust. Diese Voraussetzung muß in der Tat zu den beiden Hauptsätzen der Kantischen Theorie der praktischen Vernunft hinzugenommen werden, wenn man auf die Kantische Lösung schließen will.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

323

Das Kantische Ergebnis, der Satz von der Möglichkeit der Willensbestimmung durch die bloße Form der Verständigkeit des Entschlusses ist, wie wir uns überzeugt haben, unmittelbar psychologisch unhaltbar; er widerspricht einem dritten psychologischen Satz, der gleichwertig neben den beiden Hauptsätzen der Kantischen Theorie steht und den wir daher ebenso wie diese festhalten müssen, wenn wir den Tatsachen vollständig Rechnung tragen wollen. Es ist dies der Satz von der ursprünglichen Leerheit des Verstandes: die bloße Form der Verständigkeit enthält keinen Antrieb; aus dem Verstand kann kein Bestimmungsgrund des Entschlusses entspringen. An der Wahrheit dieses Satzes scheitert der Logizismus der Kantischen Theorie. Um das hier vorliegende logische Verhältnis noch deutlicher zu machen, können wir uns einer anschaulichen Darstellung (S. 324) bedienen. Dieses Schema geht ohne weiteres in das die »Axiomatik des Humeschen Problems« symbolisierende andere über, wenn wir nur überall die praktischen Begriffe durch die entsprechenden theoretischen ersetzen, überall anstelle des Wortes »Lust« das Wort »Anschauung« und statt der Bestimmungsgründe des Willens die Erkenntnisquellen der Urteile einsetzen. Es ergibt sich dann das zweite Schema (S. 325). Es ist also im Grunde ein und dasselbe logische Problem, das uns in der subjektiven Deduktion der Kategorien wie in der des Sittengesetzes beschäfligt hat. Und mit der Lösung des einen ist die des anderen von selbst gegeben. Denn ob wir von Lust oder von Anschauung sprechen, das heißt von intuitivem Interesse oder intuitiver Erkenntnis, und ob wir von den Bestimmungsgründen des Willens oder den Erkenntnisgründen der Urteile sprechen, macht hier logisch keinen Unterschied, da es für die logische Seite des Problems nur auf die Beziehungen zwischen den fraglichen Begriffen ankommt und nicht auf den besonderen Inhalt dieser Begriffe selbst. Indem wir aber dennoch das Problem das eine und andere Mal gesondert diskutiert haben, haben wir eine um so wertvollere Bestätigung. für die Richtigkeit der Lösung im einen und anderen Falle gewonnen. Damit eröffnet sich uns zugleich ein Ausblick auf den zu erwartenden Fortgang der wissenschaftlichen Bearbeitung des Problems über Kant hinaus, ähnlich wie wir früher die Kritik der Humeschen Theorie mit

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

324

P4 Vollständigkeit der Disjunktion von Lust und Verstand als Bestimmungsgründen (Unmöglichkeit unmittelbaren nicht-intuitiven Interesses)

K3 Möglichkeit der Willensbestimmung durch bloßen Verstand (Logizismus)

p3 Unmöglichkeit der Willensbestimmung durch bloßen Verstand

K2

K1

Unmöglichkeit rein.~n Willens (Empirismus)

Möglichkeit intellektueller Lust (Mystizismus)

K4 Unvollständigkeit der Disjunktion von Lust und Verstand als Bestimmungsgründen (Möglichkeit unmittelbaren nicht-intuitiven Interesses) (Kritizismus)

einer Axiomatik des Humeschen Problems abgeschlossen und daran einen Leitfaden gewonnen hatten für die Fortführung der Metaphysik über Hume hinaus, nämlich bei Kant. Unser jetziges Schema ist nichts anderes als die Vervollständigung des Schemas, in dem wir das Humesche Problem axiomatisch dargestellt hatten, - vervollständigt durch

325

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

P4 Vollständigkeit der Disjunktion von Anschauung und Verstand als Erkenntnisquellen (Unmöglichkeit unmittelbarer nicht-anschaulicher Erkenntnis)

Pe

P1 Unmöglichkeit intellektueller Anschauung

Möglichkeit der Metaphysik

Ka Möglichkeit metaphy5ischer Erkenntnis durch bloßen Verstand

Pa Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis durch bloßen Verstand

K2

Kt

Unmöglichkeit der Metaphysik

Möglichkeit intellektueller Anschauung

K4 Unvollständigkeit der Disjunktion von Anschauung und Verstand als Erkenntnisquellen (Möglichkeit unmittelbarer nicht-anschaulicher Erkenntnis)

die erweiterte und vertiefte Einsicht in das Problem, die uns die Kantische Theorie gewährt, die zwar noch keine vollständige Lösung bietet, uns aber um so mehr in den Stand setzt, das verallgemeinerte Humesche Problem in restloser Schärfe zu stellen und damit den allein möglichen Weg der Lösung klar vor uns zu erkennen.

326

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Die Kritik der Urteilskraft In Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft finden sich die uns schon bekannten Mängel in analoger Form wieder. Kant geht hier von der sehr richtigen und aufklärenden Nachweisung aus, daß sich das ästhetische Urteil nicht auf die Form eines theoretischen Urteils bringen läih, weil es von Begriffen unabhängig und infolgedessen unbeweisbar ist. Hieraus schließt er aber fälschlich auf die nur subjektive Bedeutung der ästhetischen Urteile. Dieser Schluß setzt voraus, daß ein Urteil, um objektive Bedeutung zu haben, wenn es nicht geradezu auf Anschauung beruht, bewiesen werden müßte. Und das ist in der Tat nur möglich für Urteile, die sich vermittels eines Begriffs auf allgemeine Regeln zurückführen lassen. So wird er hier durch seine dogmatische Disjunktion der Kriterien der Objektivität genötigt, die Objektivität des ästhetischen Urteils zu bestreiten. Kant schreibt dem ästhetischen Urteil zwar eine subjektive Allgemeingültigkeit zu. Diese besteht darin, daß wir das gleiche Urteil jedem Menschen ansinnen, also in einer Übereinstimmung der urteilenden Subjekte untereinander, ohne Beziehung auf die Einheit des Gegenstandes. Diese subjektive Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils führt Kant darauf zurück, daß das Gefühl der Lust an der Beschauung des Schönen entspringt aus der Harmonie des freien Spiels der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Die Möglichkeit des ästhetischen Urteils setzt hiernach als transzendentalen Grund nichts weiter voraus als Einbildungskraft auf der einen und Verstand auf der anderen Seite. Diese Vermögen können wir in der Tat bei jedem Menschen voraussetzen, so daß wir auch jedem die Empfänglichkeit für die Lust am Schönen ansinnen und ihm also die Zustimmung zu unseren ästhetischen Urteilen a priori zumuten können. Diese Deduktion berührt aber wieder das Problem der Gültigkeit des ästhetischen Urteils im Grunde gar nicht. Kant verwechselt das Wohlgefallen am Schönen, das in der Tat dem ästhetischen Urteil zugrunde liegt, mit der subjektiven Lust an der Beschauung des Schönen. Diese Lust ist nur empirisch und beruht nicht auf Prinzipien a priori. Das ästhetische Urteil ist nicht jenes nur subjektiv allgemeingültige

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

327

Urteil, sondern es bezieht sich objektiv auf den schönen Gegenstand. Eine Deduktion des eigentlichen ästhetischen Urteils fehlt bei Kant. Auch hier spiegelt sich nur der formale Idealismus der Kantischen Erkenntnistheorie wider. Kant spricht denn auch ausdrücklich vom Idealismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit, und er beweist diesen ästhetischen Idealismus aus dem, was er das Prinzip des ästhetischen Rationalismus nennt. Dieses Prinzip ist die durchaus richtige (obgleich von Kant nicht richtig begründete) Behauptung, daß den ästhetischen Urteilen Prinzipien a priori zugrunde liegen. Aus der Rationalität der ästhetischen Urteile folgert Kant die Idealität des Schönen. Wir haben in dieser Folgerung offensichtlich die Schlußweise des formalen Idealismus vor uns, den Schluß von der Apriorität einer Vorstellungsweise auf die Idealität ihres Gegenstandes. Hiermit hängt ein anderer, psychologischer Fehler der Kantischen Asthetik nahe zusammen. Kant behauptet nämlich die Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens. Dieser Satz ist von allgemeinerer Wichtigkeit, weil er die Möglichkeit ästhetischer Antriebe ausschließt. Er steht daher in folgerichtigem Zusammenhang mit der Kantischen Ethik, die nur zwei Arten von Antrieben kennt: die sinnlichen Antriebe der Neigung und die sittlichen Antriebe des Pflichtbewußtseins. Wie begründet nun Kant seine Lehre von der Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens? Der Ausdruck »Interesselosigkeit« ist eigentlich zweideutig. Kant versteht darunter einmal die Eigenschaft des ästhetischen Wohlgefallens, auf die Existenz des schönen Gegenstandes keine Rücksicht zu nehmen, dann aber auch die von ihm behauptete Tatsache, daß es keine ästhetischen Antriebe gibt, das heißt kein Begehren des Schönen. In der ersten Auffassung ist der Satz von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung eine bloße Folge von Kants Verwechslung der ästhetischen Schätzung mit der Lust an der Beschauung des Schönen. Für diese Lust kommt es in der Tat gar nicht auf das Dasein des schönen Gegenstandes an. Sie hängt wirklich nur ab von der Harmonie des freien Spiels der Einbildungskraft mit der Ges.etzmäßigkeit des Verstandes. Es genügt also für diese Lust, daß das Gemüt sich in dem Zustand solcher subjektiven Harmonie befindet, mag der schöne Gegenstand seinerseits existieren oder bloß in der Phantasie vorgestellt sein;

328

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

die Lust an der Beschauung ist beidemal dieselbe. Aber diese Lust an der Beschauung des Schönen ist ihrerseits darum keineswegs interesselos. Denn wenn sie auch auf die Existenz des schönen Gegenstandes keine Rücksicht nimmt, so doch auf die Existenz ihres eigenen Gegenstandes, nämlich des Gemütszustandes bei der Beschauung des Schönen. Und wie die Lust an der Beschauung des Schönen in diesem Sinne interessiert ist, so ist auch das Wohlgefallen am Schönen seinerseits interessiert. Uns ist in der Tat an der Existenz des Schönen gelegen, wie man daraus ersehen kann, daß wir das Schöne vor Vernichtung geschützt zu sehen wünschen, wie auch daraus, daß uns die Zerstörung des Häßlichen Genugtuung gewährt. Die Täuschung, daß es sich anders verhalte, beruht nur auf einer Zweideutigkeit des Wortes »Existenz«. Wenn man dieses Wort im physikalischen Sinne versteht, dann ist es in der Tat richtig, daß das ästhetische Wohlgefallen von der Rücksicht auf die Existenz des Gegenstandes unabhängig ist. Die physikalische Existenz wird nach Begriffen beurteilt, nämlich durch die Subsumtion des Gegenstandes unter Naturgesetze. Die Unabhängigkeit des Wohlgefallens am Schönen vom Dasein des Gegenstandes ist daher in diesem Sinne eine bloße Folge aus dem Satze, daß das Wohlgefallen am Schönen von Begriffen unabhängig ist. Uns ist aber dennoch an der Existenz des Schönen gelegen; das Bewußtsein der Wirklichkeit des schönen Gegenstandes, so wie es unmittelbar in der Anschauung liegt, unabhängig von Begriffen, ist für die ästhetische Schätzung wesentlich. Man darf nämlich die ästhetische Schätzung auch nicht verwechseln mit dem bloßen Geschmacksurteil, mit dem Urteil, wie es der Kunstkritiker über die künstlerische Darstellung eines Gegenstandes fällt. Dieses Urteil ist gewiß möglich ohne Rücksicht auf die Existenz des dargestellten Gegenstandes. Aber es enthält eben darum auch nur eine hypothetische Schätzung des dargestellten Gegenstandes. Es enthält den Gedanken, daß ein solcher Gegenstand, wenn er wirklich wäre, auch schätzenswert wäre; aber eine kategorische ästhetische Schätzung liegt nicht darin. Auf der anderen Seite bedeutet der Kantische Satz von der Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Schönen, daß es keine ästhetischen Antriebe gibt. Sieht man nun näher zu, so zeigt sich, daß alle Begründungen dieser Behauptung bei Kant auf eine petitio principii hinauslaufen.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

329

Es wird dabei nämlich allemal schon stillschweigend vorausgesetzt, daß jedes Begehren entweder sinnlichen oder moralischen Ursprungs ist. Und es wird dann aus dem unbestreitbaren Satze, daß das Schöne als sokhes weder um des Genusses willen noch auf Grund eines moralischen Gebotes begehrt wird, geschlossen, daß das Schöne überhaupt nicht Gegenstand eines Begehrens sein kann, während doch gerade die Frage ist, ob es nicht ein eigenes, spezifisch ästhetisches Begehren gibt. Und ein solches gibt es in der Tat. Wir wünschen, das Schöne zu erhalten, und sind bestrebt, es vor Vernichtung zu schützen. Daß es ein solches Interesse am Schönen gibt, ist auch Kant keineswegs entgangen. Kant war ein viel zu guter Beobachter, um diese Tatsache übersehen zu können. Aber er deutet sie falsch. Er schließt nämlich ohne weiteres, daß dieses Interesse nicht spezifisch ästhetisch sein könne und daß also ein anderweitiger Ursprung dafür gesucht werden müsse. Und so führt er es teils auf sinnlichen, teils auf moralischen Ursprung zurück. Das sinnliche oder empirische Interesse am Schönen ist aber in Wahrheit nur das subjektive Interesse an der Beschauung des Schönen und kann sich auf den schönen Gegenstand nur mittelbar beziehen, sofern er die Bedingung der Möglichkeit dieser Beschauung ist. Neben diesem empirischen steht nun auch nach Kant noch das intellektuelle Interesse am Schönen. Dieses deutet Kant auf einen moralischen Ursprung in seiner Lehre von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit. Diese moralische Deutung ist offenbar gezwungen und nur der Theorie zuliebe erfolgt, wenn auch der Gedanke der symbolischen Bedeutung des Schönen einen sehr tiefen und treffenden Hinweis enthält, der aber, eben darum, in seiner wahren Konsequenz nur um so mehr die Unzulänglichkeit der subjektivistischen Grundlage der Kantischen Asthetik offenbart. Es ist gleichsam die Kehrseite dieser subjektivistischen Deutung des Schönen, daß sich neben der ästhetischen Naturbeurteilung in Kants System eine objektiv-teleologische Naturbeurteilung nach Begriffen findet. Da die ästhetischen Urteile nicht auf Begriffe gebracht werden können, so schließt Kant auf ihre Subjektivität. Eine objektive Zweckmäßigkeit kann nach dieser Schlußweise nur in theoretischen Urteilen erkannt werden. Und so schleicht sich bei Kant folgerichtig eine objektive Teleologie nach Begriffen ein.

330

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Kant entwickelt diese Lehre im zweiten Teil seiner »Kritik der Urteilskraft«, in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«. Er bemüht sich hier, zu zeigen, daß der Organismus ein solcher Gegenstand ist, der nur nach teleologischen Prinzipien begriffen werden könnte, das heißt, dessen Möglichkeit wir uns nur begreiflich machen können durch Beziehung auf objektiive Naturzwecke. Nun gesteht Kant allerdings zu, daß das Prinzip dieser objektiven Zweckmäßigkeit der Natur nur regulative Bedeutung für die Wissenschaft hat und kein konstitutives Prinzip der Naturerklärung werden kann. Es enthält also zwar nicht selbst einen Erklärungsgrund, aber doch eine Nötigung für uns, auf eine mechanische Erklärung des Organismus zu verzichten, da wir seine Entstehung nach bloßen Naturgesetzen nicht als möglich voraussetzen können. Jede Naturerklärung muß in der Tat die Form der Zurückführung auf mechanische Prinzipien haben. Daraus folgt aber hier nach Kant nur, daß für uns überhaupt keine restlose Erklärung des Organismus möglich ist und daß wir uns eben darum hier mit einer teleologischen Betrachtungsweise begnügen müssen. Es ist schwer, eine klare und eindeutige Darstellung der hierhergehörigen Kantischen Lehren zu geben. Manches ist da schwankend und läßt sich nicht ohne Gewaltsamkeit auf eine einfache Formel bringen. Wichtig ist für uns, daß wir jedenfalls nicht sagen dürfen, Kant sei Vitalist. Er lehnt eine teleologische Erklärung des Organismus ab. Aber wir können auch nicht sagen, daß Kant Mechanist sei, denn auch eine mechanische Erklärung des Organismus weist er als unmöglich ab. Wir müssen nach seiner Meinung hinsichtlich der Organismen bei dem regulativen Gebrauch der Zweckbegriffe stehenbleiben. Diese Meinung ist jedoch nicht vereinbar mit den Grundsätzen der Kantischen Metaphysik der Natur. Nach diesen Grundsätzen kann ein Gegenstand nur insofern Gegenstand der Natur sein, als er unter den Gesetzen der Mechanik steht. Und es muß daher grundsätzlich für alle Naturerscheinungen an der Möglichkeit einer mechanischen Erklärung festgehalten werden. Die teleologische Betrachtung kann demnach immer nur die Bedeutung einer Vorstufe für die mechanische Betrachtungsweise haben und muß verlassen werden für die endgültige Gestaltung der biologischen Wissenschaften. In der Tat gibt es eine teleologische Betrachtungsweise in der Bio-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

331

logie; aber sie hat hier nur heuristische Bedeutung, das heißt, sie dient nur zur Vorbereitung einer anderweitigen Erklärung. Wenn wir nämlich die Ursachen gegebener Erscheinungen noch nicht kennen, so bedienen wir uns bei ihrer Aufsuchung eines Gedankenexperimentes, in dem wir die Kausalreihe umkehren, das heißt, uns die Vorstellung bilden, daß die beobachtete Lebenserscheinung ein Zweck sei, für dessen Verwirklichung die zunächst unbekannten Ursachen als Mittel bestimmt werden. Danach bilden wir uns dann unsere Hypothesen über die gesuchten Ursachen der beobachteten Erscheinungen. Diese Betrachtungsweise ist also offenba.r nur einevorhereitende: Sie soll gerade dazu dienen, die wirklichen Ursachen der zu erklärenden Erscheinungen erst aufzufinden. Diese Umkehrung der Kausalreihe enthält nicht selbst ein eigenes objektives Prinzip der Naturlehre. Alle wahre objektive Teleologie der Natur kann im Gegenteil nur in unserer ästhetischen Naturbeurteilung gesucht werden, außerhalb aller Wissenschaft. In der Tat findet sich bei einer vorurteilsfreien Prüfung des ästhetischen Urteils, daß in ihm unmittelbar ein Anspruch auf objektive Gültigkeit liegt, eine unmittelbare Beziehung auf den schönen Gegenstand selbst, und daß es keineswegs nur die Vorstellung des Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust verknüpft. Es liegt hier in gleicher Weise ein Anspruch auf objektive Gültigkeit vor wie bei unseren theoretischen Urteilen, nur daß wir ihn hier nicht logisch begründen, das heißt durch Schlüsse auf allgemeine Regeln zurückführen können. In Wahrheit fällt also die objektive Teleologie der Natur mit der Ksthetik zusammen. Die tiefere Deutung dieser Tatsache mag für die Theorie der ästhetischen Urteilskraft ihre Schwierigkeiten haben; aber eine richtige Theorie muß dieser Tatsache Rechnung tragen.

Das System der Metaphysik a) Die Naturphilosophie

Es bleibt mir noch übrig, auf das Kantische System der Metaphysik kritisch einzugehen und nachzuweisen, in welchen Folgen sich hier die Mängel seiner Dialektik äußern.

332

1. Teil: David Hume und Immanuel Kant

In seinen »metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« hat Kant die höchsten Prinzipien einer Metaphysik der Natur aufgewiesen. Aber für die Anwendung dieser Prinzipien hat er die Aufgabe zu eng gefaßt. Das ergibt sich schon aus dem über seine Teleologie Gesagten. Es gilt aber nicht nur für diese. Er beschränkt die Aufgabe auf das Gebiet der Mechanik und der Physik und schließt die Chemie ebenso wie die Biologie von seiner Aufgabe aus, in der Meinung, daß diese beiden niemals Wissenschaften im strengen Sinne des Wortes werden können, daß sie sich vielmehr mit einer bloß beschreibenden Darstellung der beobachteten Erscheinungen begnügen müssen. Dabei hat Kant durchaus recht, wenn er sagt, daß strenge Wissenschaft nur so weit reicht wie die Anwendung der Mathematik auf die Erscheinungen. Aber die Unmöglichkeit einer mathematischen Konstruktion für die chemischen und organischen Prozesse hat er nicht erwiesen. Und es läßt sich auch die Möglichkeit einer solchen Konstruktion für diese Prozesse keineswegs a priori ausschließen. Daher müssen wir die wissenschaftliche Aufgabe weiter fassen. Es bleibt uns für alle Arten von Naturerscheinungen das Postulat einer mathematischen Unterordnung unter die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft stehen. Ebenso hat Kant die Psychologie von seiner Aufgabe ausgeschlossen, in der Meinung, daß auch diese nie zum Rang einer erklärenden Wissenschaft aufsteigen kann. Allerdings kann sich die Aufgabe einer Metaphysik der inneren Natur an Bedeutung und Umfang nicht mit derjenigen der Metaphysik der äußeren Natur vergleichen. Diese geringere Entwicklungsfähigkeit hat ihren Grund in dem Mangel an mathematischer Konstruktionsmöglichkeit für die Gegenstände der inneren Erfahrung. Trotzdem darf die Metaphysik der inneren Natur eine Stelle im System beanspruchen. Es gibt nämlich auch in der inneren Erfahrung eine wenigstens beschränkte Anwendung der rein anschaulichen Erkenntnisweise. Die Erscheinungen des inneren Sinnes sind intensive Größen. Als solche sind sie nach dem metaphysischen Grundsatz der Qualität, dem Prinzip der Antizipation der Wahrnehmungen, dem Gesetz der Stetigkeit unterworfen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer eigenen Metaphysik der inneren Natur und, vermittels dieser, die Aufgabe einer erfahrungsmäßig auszubildenden psychologischen Theorie.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

333

b) Die Tugendlehre

Die praktische Metaphysik Kants, die von ihm so genannte »Metaphysik der Sitten«, zerfällt in zwei unabhängige Disziplinen: Die metaphysische Tugendlehre und die metaphysische Rechtslehre. In seinen »Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre« macht Kant den Versuch, ein System bestimmter Pflichten aus seinem Moralprinzip abzuleiten. Die Legalitätsmoral, die dadurch entsteht, bringt uns aber ins Gedränge mit der uns gerade durch Kants Kritik zuteil gewordenen Belehrung, daß jede wahre Ethik eine Gesinnungsethik sein muß und nicht nach Art eines Gesetzeskodex materiell bestimmte Handlungen gebieten darf. Dieser Versuch ist aber bei Kant noch aus einem besonderen Grunde verfehlt, nämlich wegen der Leerheit seines kategorischen Imperativs. Infolge des Formalismus seiner Moralphilosophie ist sein kategorischer Imperativ kein Prinzip, aus dem sich inhaltlich bestimmte Pflichten ableiten ließen, wie ich das früher nachgewiesen habe. Die Kantische Ethik hat aber noch einen weiteren bedeutenden Mangel, der freilich meistens mehr gefühlt als richtig beurteilt worden ist. Man pflegt den Rigorismus der Kantischen Ethik zu tadeln, ein Tadel, gegen den sich schon Kant selbst mit Recht verwahrt hat. Einern Moralprinzip darf man überhaupt nicht Rigorismus zum Vorwurf machen. Das Moralprinzip soll uns eine Formel geben zur Bestimmung unserer Pflicht. Es muß daher in einem kategorischen Imperativ bestehen, das heißt in einem Gebot, dessen Verbindlichkeit auf keine Bedingung eingeschränkt sein kann und das daher unter allen Umständen Gehorsam fordert, ohne die Möglichkeit von Ausnahmen. Ein Moralprinzip, das Einschränkungen zuließe, würde sich selbst aufheben. Die Bezeichnung einer moralischen Lehre als rigoristisch kann daher, wie Kant selbst bemerkt hat, so wenig als Tadel gelten, daß sie vielmehr ein Lob bedeutet. Aber ein Fehler, den man im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Rigorismus im allgemeinen wohl vor Augen hat, wenn man ihn auch nicht zu deuten wußte, liegt wirklich in der Kantischen Ethik, nämlich in dem, was man passender ihren Moralismus nennen könnte. Ich verstehe unter einer moralistischen Ethik eine solche, die kein anderes Prinzip der Bewertung menschlicher Handlungen anerkennt als das der Pflicht. Von dieser Art ist die Kantische Ethik. Damit ist nicht ge-

334

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

sagt, daß eine solche Ethik keine sittlich indifferenten Handlungen kennt. In der Tat verlangt die Karnische Ethik keineswegs, daß alle Handlungen, die überhaupt erlaubt sind, aus Pflicht geschehen sollen. Wohl aber muß sie behaupten, daß alle Handlungen, die nicht als Pflicht geboten sind, überhaupt ethisch gleichgültig seien. Diese Auffassung ist sehr einseitig. Es gibt nach ihr nur Pflicht auf der einen Seite und Neigung auf der anderen. Ein Gefühl für diese Einseitigkeit macht sich auch bei Kant geltend. Es tritt bei ihm dadurch in Erscheinung, daß er einen Unterschied einführt zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten oder, nach anderer Bezeichnung, zwischen strengen und verdienstlichen Pflichten, eine Unterscheidung, durch die er sein System den Beurteilungen des wirklichen Lebens anzupassen sucht. Aber der Begriff der unvollkommenen Pflicht enthält einen Widerspruch. Eine unvollkommene Pflicht wäre eine Handlung, die nicht bedingungslos geboten ist, die also nicht Pflicht wäre. Wenn wir genauer analysieren, was eigentlich in den Forderungen der Pflicht liegt, so finden wir, daß alle strenge Pflicht im Grunde nur auf negative Gebote zurückgeht, auf Verbote, durch die unsere Handlungen auf gewisse Bedingungen eingeschränkt werden. Andere als strenge Pflichten dürfen wir aber überhaupt nicht annehmen. Wir finden in der Tat, daß alle ursprünglichen positiven Zwecke im Leben nicht aus Pflichtgeboten entspringen, sondern nach einem ganz anderen Maßstab beurteilt werden. Wenn wir eine Handlung verdienstlich nennen und also positiv als erstrebenswert beurteilen, so bewerten wir sie nach einem anderen Prinzip als dem Sittengesetz. Wir sprechen von der Schönheit einer solchen Handlung und loben sie, ohne sie als Pflicht zu fordern. Den Maßstab dieser Bewertung kann man ohne Vergewaltigung des Sprachgebrauchs nicht wiederum als Pflicht bezeichnen. Wir haben dafür das Wort »Ideal«. Wir bezeichnen dadurch das Prinzip einer objektiven positiven Wertung von Handlungen. Als Grund der Wertung solcher Handlungen bleibt nach Kant nur der Genuß eines feineren Vergnügens übrig, womit denn ihre Bewertung aus der Ethik verwiesen wird. Hierin liegt ein empfindlicher Mangel seiner Ethik. Diese bleibt ihm bloße Moral, das heißt Pflichtenlehre. Zwar gibt es auch nach Kant eine Wertung der Vollkommenheit. Er sieht diese in der Ausbildung der Talente des Menschen. Aber der Wert dieser Voll-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

335

kommenheit bestimmt sich ihm nur durch die Tauglichkeit zu allerlei Zwecken und also nur mittelbar, mit Rücksicht auf anderweit vorausgesetzte Pflichten, nicht aber als etwas an sich Wertvolles. Dieser Moralismus der Kantischen Ethik ist eine notwendige Folge der Lehre von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung, wonach es keine ästhetischen Antriebe geben kann, so daß in der Tat nur die Antriebe der Neigung auf der einen Seite und die der Pflicht auf der anderen übrigbleiben. Dieser Fehler hat die merkwürdige Folge, daß er, weit entfernt, dem Rigorismus der Kantischen Moral zur Last zu fallen, in Wirklichkeit zu einer fehlerhaften Einschränkung des moralischen Rigorismus führt, indem er Kant nötigt, durch Einführung des widerspruchsvollen Begriffs der unvollkommenen Pflicht jenem Unterschied von pflichtmäßigen und positiv wertvollen Handlungen Rechnung zu tragen.

c) Die Rechtslehre

Auch in der Rechtslehre müssen wir die Folgen betrachten, die der Formalismus des Prinzips der Kantischen Metaphysik der Sitten nach sich zieht. Hier macht sich dieser Fehler sogar am allerstärksten fühlbar. Er hat zur Folge, daß der Kantischen Rechtslehre geradezu ein eigenes Prinzip des Rechtes fehlt. Kant behält nach der Konsequenz seiner Deduktion allenfalls ein Prinzip für die Tugendlehre, in dem Grundsatz: Handle aus Achtung vor dem Gesetz. Dieses Prinzip wendet sich an die Gesinnung des einzelnen. Es ist daher nur ein Prinzip der Moral und führt zu keinem Prinzip der Rechtslehre. Denn die Rechtslehre kann sich nur auf ein Prinzip gründen, das von aller Beziehung auf die Gesinnung abstrahiert und nur für äußere Handlungen als solche gilt. Ein solches Prinzip fehlt aber, strenggenommen, in Kants praktischer Metaphysik. Und so dürfte er konsequenterweise gar keine Rechtslehre neben seiner Tugendlehre zulassen. Das scheinbare Gelingen des Kantischen Aufbaus der Rechtslehre beruht denn auch nur auf dem irreführenden Gebrauch bloßer Nominaldefinitionen, ohne daß für die dadurch eingeführten Begriffe irgendeine Gewähr der Existenz gegeben wäre.

336

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Dies zeigt sich sogleich beim ersten Schritt: der Einteilung der praktischen Metaphysik, wonach neben das System der Tugendlehre ein solches der Rechtslehre treten soll. Diese Einteilung gründet sich auf den Unterschied der Moralität und der Legalität des Handelns. Eine Handlung ist moralisch, wenn sie aus Achtung vor dem Gesetz geschieht, legal, wenn sie, welches auch ihr Bestimmungsgrund sein mag, mit dem Inhalt des Gesetzes übereinstimmt. Eine legale Handlung kann daher erzwungen werden, nicht dagegen eine moralische; denn was sich erzwingen läßt, ist nur die äußere Tat als solche, während die moralische Handlung gerade dadurch definiert ist, daß sie aus bloßer Einsicht in die Pflicht und also ohne allen Zwang geschieht. Durch diese Unterscheidung bestimmt sich nach Kant der Unterschied von Tugendpflichten und Rechtspflichten. Der Begriff einer Rechtspflicht ist hiernach zwar logisch widerspruchsfrei definiert; um aber die Existenz einer solchen behaupten zu können, müßte man schon ein im Kantischen Sinne materiales Gesetz voraussetzen, da ohne ein solches der Begriff der Legalität gegenstandslos wäre. Die Möglichkeit der Rechtspflichten bleibt daher nicht nur unerwiesen, sondern ihre Annahme steht sogar im Widerspruch mit dem formalistischen Prinzip der Kantischen Ethik. Welchen Wert sollte hiernach auch, angesichts der Lehre vom alleinigen sittlichen Wert des guten Willens, eine äußerlich erzwungene Tat haben? Ein solches Wertungsprinzip wird ja durch den Grundgedanken der Kantischen Ethik geradezu ausgeschlossen. Die Verschleierung dieses Widerspruchs entsteht bei Kant nur durch die bereits erörterte Unklarheit seines Begriffs der Autonomie oder Freiheit, von dem alle seine naturrechtlichen Beweisführungen ausgehen. Autonomie nannte er die Eigenschaft eines Wesens, keinem anderen Gesetz unterworfen zu sein als dem, das es sich selbst gibt. Sie ist daher die Eigenschaft jedes vernünftigen Wesens. Praktische Vernunft ist nichts anderes als das Vermögen einer solchen Selbstgesetzgebung. Dieser Begriff läßt nun aber das Gesetz selbst, dem das vernünftige Wesen vermöge seiner Vernunft unterworfen ist, gänzlich unbestimmt. Solange uns dieses Gesetz selbst noch fehlt, das die Freiheit der einzelnen einschränkt, ist nicht bestimmt, wodurch überhaupt ein Unrecht geschehen könnte, und es ließe sich insofern auch von keinem Rechte sprechen. Denn das Recht des einen besteht in nichts anderem

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

337

als in der Einschränkung der Freiheit anderer. Das Recht wird denn auch nach Kants Erklärung zu einer bloßen Befugnis. Solange wir aber nur von Befugnissen ausgehen, erhalten wir überhaupt keine Einschränkung der Freiheit. Denn die bloße Befugnis ist nur das Nichtverboten-Sein einer Handlung und erfordert daher noch gar kein Gesetz. Solange wir kein Gesetz annehmen, das die Freiheit, zu handeln, einschränkt, ist die Befugnis unbeschränkt. Kant formuliert sein Prinzip der Rechtslehre in der Tat als den Grundsatz der Einschränkung der Freiheit der einzelnen auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen nach einem Gesetz. Aber das Gesetz selbst, das die Regel für die gegenseitige Beschränkung der Freiheit abgeben soll, fehlt auch hier noch. Es ist ein Irrtum, wenn Kant glaubt, aus diesem Prinzip das Gesetz der Gleichheit ableiten zu können. Der Kantischen Formulierung des Prinzips genügt jede Gesellschaftsordnung, wenn sie nur der Form nach durch Gesetze geregelt ist. Auch die despotischste Gesellschaftsordnung, die das Volk der Knechtung durch einen Tyrannen unterwirft, würde diesem Prinzip genügen, wenn sie nur der Form nach gesetzlich ist. Die Gesetzgebung, in der der Despot seinen Willen niederlegt, schränkt ja die Freiheit der einzelnen auf ihre Zusammenstimmung mit der Freiheit der anderen ein - nach dem Gesetz, daß die Untertanen sich den Launen des Tyrannen zu fügen haben. Es fehlt der Kantischen Rechtslehre also gerade das Wesentliche: die Regel für die Einschränkung der Freiheit, und damit das Kriterium, nach dem sich die Rechtlichkeit einer Gesetzgebung beurteilen läßt. Denn die bloße Widerspruchslosigkeit kann als ein solches Kriterium nicht genügen. So findet sich denn auch in der weiteren Ausführung der Rechtslehre, daß Kant hier eigentlich nur die Fehler der Naturrechtsschule wiederholt. Aus seiner Formel lassen sich ebensowenig bestimmte Anforderungen an den Staat geltend machen wie aus den von seinen Vorgängern aufgestellten Freiheitsprinzipien. Der entscheidende Fehler liegt hier schon in der Grundansicht seiner Lehre vom Staatsrecht, wonach sich eine bestimmte Staatsverfassung unmittelbar rechtsphilosophisch auszeichnen ließe. Er fordert mit Montesquieu die Teilung der Gewalten, das heißt eine Trennung der gesetzgebenden, richtenden und vollziehenden Gewalt

338

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

im Staate. Und er proklamiert mit Rousseau das Prinzip der Volkssouveränität, wonach die gesetzgebende Gewalt im vereinigten Willen des Volkes liegen soll. Alles dieses beruht auf Irrtum. Von der Notwendigkeit einer Trennung der drei Gewalten im Staate kann schon darum keine Rede sein, weil die ausführende Gewalt in Wahrheit die einzige Gewalt im Staate ist und weil, wenn wir diese auch von der Befugnis der Gesetzgebung und des Gerichtes trennen, es doch nur von dem guten Willen des Inhabers der ausführenden Gewalt abhängt, ob er seine Gewalt in den Dienst des gesetzgebenden und richterlichen Urteils stellen oder selbst das Amt der Gesetzgebung und Rechtsprechung an sich reißen will. Ebenso irrig ist die Kantische Wiederholung der RousseauschenLehre von der Volkssouveränität. Kant beruft sich darauf, daß dem Volk nur dann kein Unrecht geschehen könne, wenn es sich seine Gesetze selbst gibt, nach dem Satze: volenti non fit iniuria. (Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht.) Der Schein ist hier besonders bestechend, als ob für diese staatsrechtliche Doktrin das Prinzip der Autonomie unmittelbar einen Beweisgrund hergäbe, gemäß jener Deutung, wonach das Kriterium der Rechtlichkeit einer Gesetzgebung in der Einstimmung der ihr Unterworfenen liegen soll. Wir sehen aber jetzt leicht den Fehler dieser Beweisführung: Er liegt in derselben quaternio terminorum, die den Grundfehler seiner Theorie des reinen Willens ausmachte. Sie zeigt sich hier in der Verwechslung des allgemein gesetzgebenden Willens im Sinne der reinen praktischen Vernunft mit dem allgemein gesetzgebenden Willen im Sinne des übereinstimmenden Beschlusses aller einzelnen im Volke. Kant hat hier nicht bedacht, daß der übereinstimmende Wille aller, der die Gesetze geben soll, nur in der Idee und nicht in der Wirklichkeit existiert. Der Idee nach trägt freilich jeder den allgemein gesetzgebenden Willen in sich als Träger der Vernunft, die in der Tat bei allen die gleiche ist. Aber diese Vernunft kann in der Gesellschaft doch nicht äußerlich als Gesetzgeber auf treten. Was hier äußerlich in Erscheinung tritt, ist nur der mehr oder weniger vernünftige Wille der einzelnen im Volke. Dieser mehr oder weniger vernünftige Wille der einzelnen wird von Kant, infolge seiner Mißdeutung des Prinzips der Autonomie, der Vernunft untergeschoben. Übereinstimmung des Willens der einzelnen wäre in der Natur nur zufällig. Es gibt kein Naturgesetz, wo-

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

339

nach die Vernunft den Willen der einzelnen bestimmen müßte. Dieser Umstand ist es gerade, was den Grund der Notwendigkeit einer äußeren Gesetzgebung und überhaupt des Staates ausmacht. Käme es für die Rechtlichkeit einer Gesellschaftsordnung nur darauf an, das Volk vor einem Unrecht seitens seiner Gesetzgeber zu schützen, so wäre dafür weiter nichts nötig, als Gesetzgebung und Staat überhaupt aufzuheben. Der Zweck der Gesetzgebung und des Staates ist aber vielmehr der, zu verhindern, daß nicht die einen den anderen im Volke Unrecht zufügen. Und diese Aufgabe kann nicht dadurch gelöst werden, daß man den übereinstimmenden Willen aller im Volke, der nach der Voraussetzung nicht existiert, die Gesetze geben läßt. So schränkt denn auch Kant sein Kriterium nachträglich dahin ein, daß es nicht sowohl in der wirklichen Zustimmung aller zum Gesetz besteht, als vielmehr in der Möglichkeit ihrer Zustimmung. Er bemerkt aber nicht, daß er damit sein Kriterium völlig preisgibt. Denn das Kriterium der Möglichkeit der Einwilligung in das fragliche Gesetz könnte doch nur dessen Übereinstimmung mit der praktischen Vernunft sein. Es war aber gerade das Gebot dieser praktischen Vernunft, was durch das fragliche Kriterium erst bestimmt werden sollte. Als einzig anwendbares Kriterium für die Rechtlichkeit einer Gesetzgebung bleibt bei Kant in der Tat nur die faktische Einstimmung übrig. Zwar auch diese nicht als der übereinstimmende Beschluß aller; denn der ist unmöglich. Aber doch wenigstens als der Beschluß der Mehrheit im Volke. Dieser Majorität würde dann aber der Wille des einzelnen geradeso unterworfen sein, wie im anderen Falle dem Willen eines persönlichen Despoten. Offenbar um dem aus der unbeschränkten Geltung dieses Prinzips fließenden Despotismus die Sanktion zu verweigern, modifiziert denn auch Kant sein Kriterium der Selbstgesetzgebung wiederum dahin, daß das Volk sich nur zum Gesetze machen dürfe, was der Würde aller gemäß ist, daß es also hinreichend gebildet ist, um sich vernünftige Gesetze zu geben. Er führt so eine höhere Bedingung ein, die die Rechtlichkeit des Volksbeschlusses einschränkt. Aber die Einführung einer solchen Bedingung hebt das Prinzip wieder völlig auf. Denn dann liegt das Kriterium der Rechtlichkeit in einer höheren, von der Einwilligung unabhängigen Norm. Und es kommt dann alles auf den Inhalt des Gesetzes an, nämlich auf seine Obereinstimmung mit dieser Norm, und gar nicht darauf, wer das

340

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Gesetz gibt. Die Alternative läßt sich nicht umgehen: Entweder die Volkssouveränität: dann duldet die Verbindlichkeit des Volksbeschlusses keine rechtliche Einschränkung, da ja durch ihn das Recht überhaupt erst konstituiert wird - oder das Gesetz der Vernunft: dann unterliegt die Verbindlichkeit des Gesetzes nicht der Bedingung der Zustimmung des Volkes, da vielmehr umgekehrt das Gesetz seinerseits die Bedingung der Rechtlichkeit aller Beschlüsse enthält. Der Grund aller dieser Fehler liegt in dem Mangel einer wirklichen Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes. In Ermangelung einer solchen wird Kant genötigt, dem Inhalt des Gebotes der praktischen Vernunft den Willen unterzuschieben, um auf diese Weise aus der bloßen Form des Gesetzes ein vermeintliches Kriterium abzuleiten. d) Die Religionsphilosophie

Dieser Fehler hat für die Ausgestaltung seines Systems der Metaphysik noch eine weitere eigentümliche Folge. Wir haben früher schon bemerkt, daß die bei Kant fehlende Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes eigentlich zusammenfallen müßte mit einer Aufgabe, die Kant sich in der Tat stellt, nämlich der Bestimmung des Gegenstandes der praktischen Vernunft, das heißt des Zwecks, den zu verwirklichen das Sittengesetz uns gebietet, kurz, des höchsten Gutes, nach Kants Bezeichnung. Diese Lehre vom höchsten Gut enthält vielerlei Fehler. In ihr erweitert sich eigentlich Kants objektive Teleologie der Natur zu einer Teleologie der Geschichte, ja zur Religionsphilosophie. Er unterscheidet nämlich das höchste Gut für den Menschen nicht von dem höchsten Gut in der Welt, und also die Zwecke, die wir, vermöge unserer Vernunft, uns selbst setzen sollen, nicht von den Zwecken der Welt. Ethik und Rechtslehre haben es nur mit den Zwecken der ersten Art zu tun. Ihnen schiebt er aber eine religionsphilosophische Zwecklehre, eine Lehre von dem höchsten Gut in der Welt, unter. Und so führt uns die Frage nach dem Gehalt, den wir in der Rechtslehre nicht finden, wo wir nach einer Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes suchen, hinüber in eine vermeintlich objektive Teleologie, nämlich in die Kantische Religionsphilosophie. Die Religionsphilosophie hat denn auch im Grunde keine eigene Stelle

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

341

im System bei Kant, sondern erscheint darin vielmehr nur als eine Art Anhang zur Moral, wie uns dies aus seiner Postulatenlehre schon bekannt ist. Man kann daher auch von einem Moralismus seiner Religionsphilosophie sprechen. Religion ist ihm nichts anderes als die Anerkennung unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Das höchste Gut besteht in der moralischen Vollkommenheit einerseits und in einer der Sittlichkeit entsprechenden Verteilung der Glückseligkeit andererseits. Daß sich diese Bestimmung des höchsten Gutes nicht, wie Kant meint, aus seinem Sittengesetz ableiten läßt, habe ich schon gezeigt. Aber freilich bleibt für Kant, da er dem Sittengesetz allen objektiven Inhalt genommen hat, nichts übrig, als den gesuchten Zweck durch ein außersittliches Interesse zu bestimmen - es sei denn, daß er zur Ausführung dieser Bestimmung die bloße Form des moralischen Handelns selbst wieder in den Inhalt des Gesetzes einführt. Dies letzte ist in der Tat der Gedanke in seiner Lehre vom »obersten« Gut. Was dieses betriffi, nämlich die moralische Vollkommenheit, worunter Kant die Übereinstimmung unserer Gesinnungen mit dem moralischen Gesetz versteht, so kann sie gar nicht als ein Gegenstand der praktischen Vernunft geboten sein, da das Gesetz nur Handlungen gebietet und nicht Gesinnungen. Schon die eigene Moralität ist nicht selbst als Gegenstand der praktischen Vernunft geboten; wieviel weniger also die moralische Vervollkommnung der Welt. Nicht einmal die Rechtlichkeit des Handelns anderer Personen ist Gegenstand einer Pflicht für uns. Rechtlichkeit des Handelns ist nach dem Sittengesetz nur Pflicht des einzelnen selbst. Es widerspricht sich geradezu, anzunehmen, daß es meine Pflicht sei, daß andere ihre Pflicht erfüllen. Wir können zwar aus dem Sittengesetz ein Ideal des Rechts ableiten, das heißt das Ideal eines Zustandes der vollkommenen Rechtlichkeit des äußeren Verhaltens aller vernünftigen Wesen überhaupt. Aber dies ist in der Tat ein bloßes Ideal; seine Verwirklichung kann nicht unmittelbar als Pflicht geboten sein. Täte nämlich jeder einzelne von sich aus seine Pflicht, so würde dieses Ideal schon von selbst verwirklicht sein. Als eine besondere Aufgabe entspringt dieses Ideal vielmehr gerade aus dem Umstand, daß nicht alle von sich aus ihre Pflicht erfüllen. Nur mit Rücksicht auf diesen Umstand kann für mich die Aufgabe entstehen, über meine Pflicht hinaus danach zu streben, daß auch andere ihre Pflicht erfüllen.

342

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

Mit dem politischen Ideal des Rechtszustandes verwechselt Kant jedoch das pädagogische Ideal der Vervollkommnung der Menschen der Gesinnung nach. Und dieses Ideal verwechselt er wiederum mit einer Pflicht. Weil nun die moralische Vervollkommnung der einzelnen im »ethischen Naturzustand« dem Zufall überlassen bleibt, so entsteht nach Kant die Pflicht, sich zwecks gegenseitiger Vervollkommnung zu einem »ethischen Staat«, das heißt zu einer Gesellschaft unter Moralgesetzen zu vereinigen. Durch das Gesetz, unter dem sich eine solche Gesellschaft vereinigt, solle nur die innere moralische Gesetzgebung öffentlich werden. Ein solches Gesetz aber könne nicht von Menschen gegeben sein, sondern nur von einem Gesetzgeber, dessen Gebote mit dem moralischen Gesetz identisch sind. Der ethische Staat sei also nur unter göttlicher Gesetzgebung, das heißt in der Form einer Kirche, möglich. So schiebt hier Kant der religiösen Idee des Reiches der Zwecke die Vorstellung der Kirche unter als einer irdischen Gemeinschaft unter göttlicher Gesetzgebung, als eines ethischen Staates in der Natur. Kant bemerkt gelegentlich selbst, daß die behauptete Pflicht der Gründung eines solchen »Reiches der Tugend« in Wahrheit eine aus dem moralischen Gesetz selbst nicht abzuleitende Idee sei, weshalb er denn auch meint, zur Ausführung dieser Idee die göttliche Beihilfe fordern zu müssen. Eine solche Aufgabe aber unabhängig von dem Sittengesetz dennoch als Pflicht aufzustellen, wie Kant es tut, ist ein Widerspruch. Das fragliche öffentliche Gesetz würde entweder mit dem Rechtsgesetz identisch sein; dann könnte es keine Ki~·che als ethischen Staat, der von dem politischen verschieden wäre, geben. Oder aber wir erhielten eine eigene, von der rechtlichen noch verschiedene öffentliche Gesetzgebung; dann wäre nicht abzusehen, wie diese beiden öffentlichen Gesetzgebungen sich widerspruchslos vereinigen ließen und wie sie sich in ihren Kompetenzen bei einem möglichen Widerstreit gegenseitig beschränken sollten. Ein öffentliches praktisches Gesetz kann in der Tat nur ein Rechtsgesetz und nie ein Tugendgesetz sein. Denn Tugend ist die Befolgung des Gesetzes aus bloßer innerer Achtung vor dem Gesetz. Die moralische Verpflichtung ist also nur Gegenstand der Einsicht des einzelnen und kann als solche niemals auf ein öffentliches und insofern äußerlich gegebenes Gesetz gegründet werden.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

343

Um die Religionsphilosophie von dem Moralismus zu befreien, in den sie bei Kant verwickelt bleibt, muß man sie gacnz von der Aufgabe der Ethik trennen. Religion hat es in der Tat mit dem höchsten Gut in der Welt zu tun, nicht mit den eigenen Zwecken der Menschen, sondern mit den Zwecken der Welt oder den Zwecken Gottes. Diese lassen sich aber nicht wissenschaftlich ergründen, nicht nach Begriffen bestimmen. Religion hängt, soweit sie positive Vorstellungen enthält, überhaupt nicht von Begriffen ab, sondern lebt nur im Gefühl, in einem Gefühl, das sich ebensowenig in moralische Begriffe auflösen läßt wie in theoretische Begriffe.Und so offenbart sich hier der um so engere Zusammenhang zwischen Religion und Asthetik. Diesen Zusammenhang zu würdigen war Kant verhindert durch den schon aufgewiesenen Mangel seiner Ksthetik, der in seiner Ansicht von der nur subjektiven Bedeutung der ästhetischen Urteile zum Ausdruck kommt. Dieser Fehler veranlaßte ihn, eine objektive Teleologie nach Begriffen außerhalb der Ksthetik zu suchen und diese ihrerseits auf den Bereich des interesselosen Geschmacksurteils zu beschränken. Schon der gewöhnliche Sprachgebrauch unterscheidet den bloßen Geschmack vom Gefühl für das Schöne. Im Gefühl für das Schöne äußert sich die Anerkennung der objektiven Bedeutung des Schönen; es ist das religiöse Interesse am Schönen, das in ihm zu Tage tritt. Ich habe gezeigt, inwiefern Kant das reine objektive Interesse am Schönen fälschlich moralisch deutet. Das Schöne ist uns nicht, wie er meint, das Symbol der Sittlichkeit, sondern das Symbol der Ewigkeit. In der Anerkennung dieser objektiven Bedeutung der ästhetischen Symbole besteht allein das Leben im Positiven der Religion. Aber der Weg zu dieser Ausbildung der Lehre war für Kant auch aus einem anderen Grunde, verschlossen, nämlich darum, weil er die objektive Gültigkeit der spekulativen Ideen nicht rechtfertigen konnte infolge seiner ierkenntnistheoretischen Lehre vom tranl5zendentalen Schein. Es vereinigt sich also die subjektivistische Tendenz seiner spekulativen Ideenlehre mit derjenigen seiner Ksthetik in der gleichen Wirkung, ihm den Zugang zur Lösung des Problems der Religionsphilosophie zu verschließen. Und so zeigt sich von allen Seiten der tiefe Zusammenhang zwischen den Fehlern, die wir in den letzten Konsequenzen des Kantischen Systems der Metaphysik finden, und jenen

344

I. Teil: David Hume und Immanuel Kant

ersten Voraussetzungen, auf die wir die in seiner Kritik der Vernunft stehengebliebenen Mängel zurückführen konnten. Unter dem Eindruck dieser Kritik der Kantischen Lehre ist man vielleicht geneigt, die Frage zu stellen, was nach Abzug der auf gewiesenen Mängel und Irrtümer überhaupt von ihr stehenbleibt. Dieser Eindruck beruht indessen gleichsam auf einer optischen Täuschung, auf einer perspektivischen Verkürzung der zuerst erörterten, durch die nachfolgende Kritik in den Hintergrund gerückten wohlbegründeten Teile der Kantischen Lehre. Auf jene Frage antworte i,ch daher: Es bleibt alles das stehen, was ich dargestellt habe, ehe ich zur Kritik überging. Allerdings sind diese Teile der Lehre mit denen, die ich in der Kritik als verfehlt zurückgewiesen habe, so eng verflochten, daß es schwer ist, nach beiden Seiten hin reinlich zu sichten. Diese Sichtung gelingt nur durch eine künstliche Trennung, wie ich sie vorgenommen habe. Aber daß diese Trennung möglich ist, darauf kommt es hier an, und das ist es, was ich hoffe, bewiesen zu haben durch die Art meiner Darstellung. Durch sie sollte die Unabhängigkeit jener Teile der Lehre, die sich als stichhaltig erweisen, von diesen, die mir als verfehlt erscheinen, dargetan werden. Ich will nun kurz mit einigen Stichworten angeben, was mir als das in dialektischer Hinsicht Entscheidende der Kantischen Entdeckungen erscheint. Ich formuliere damit das Minimum, dessen Anerkennung und Festhaltung von jedem zu fordern ist, der in der Fortbildung der Metaphysik über Kant hinauszugehen beansprucht. Die dieses Minimum bildenden Errungenschaften der Kantischen Lehre sind die folgenden: 1. Die kritische Methode im Gegensatz zu aller dogmatischen.

2. Die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile und die Trennung dieser Einteilung von der anderen nach den Erkenntnisquellen. 3. Die Anerkennung der für die Metaphysik entscheidenden Bedeutung der Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 4. Die Entdeckung der reinen Anschauung als Erkenntnisquelle der synthetischen Urteile a priori der Mathematik. 5. Die Einsicht in die Unmöglichkeit eines logischen Kriteriums materialer Wahrheit.

Kants Begründung der kritischen Metaphysik

345

6. Der transzendentale Leitfaden. 7. Die Lehre vom mathematischen Schematismus als Prinzip der Anwendbarkeit der Kategorien. 8. Die Widerlegung des Idealismus. 9. Die Aufdeckung der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 10. Die Unterscheidung von Ideen und Naturbegriffen. 11. Die Auflösung der Antinomien durch den transzendentalen Idealismus. 12. Die Anerkennung der Unmöglichkeit einer Wissenschaft aus Ideen. Das betriffi den spekulativen und damit dialektisch grundlegenden Teil der Lehre. Für die praktische Philosophie kommt hinzu: 13. Die Feststellung des Begriffs der Pflicht als eines kategorischen Imperativs und damit die Entdeckung der Aufgabe einer Metaphysik der Sitten, sowie endlich: 14. Die Anerkennung des ästhetischen Rationalismus in Verbindung mit dem Nachweis der Unmöglichkeit eines Systems der Asthetik. Alle diese Lehren wurden, ehe ich mich zur Kritik der Kantischen Philosophie wandte, entwickelt, gemäß der ihnen von Kant selbst gegebenen Begründung. Hierauf gründet sich die Forderung, daß jeder, der über Kant hinausgehen will, auf alle diese Lehren Rücksicht nehmen muß, daß er sie entweder annehmen muß, um auf ihnen weiterzubauen, oder sie, wenn er sie nicht annimmt, widerlegen muß. Wie Kant selbst die Lehren seiner Vorgänger geprüft und nicht ohne gründliche Widerlegung verworfen hat, so muß auch jeder Nachfolger Kants sich der gleichen Aufgabe Kant gegenüber unterziehen. Es gibt, wie in der »Einleitung« gezeigt wurde, eine Geschichte der Philosophie nur so weit, wie es eine Kontinuität des philosophischen Denkens gibt. Wer sich über diese Forderung der Kontinuität hinwegsetzt, büßt dadurch den Anspruch auf eine Stelle in der Geschichte der Philosophie ein, sein Verdienst mag im übrigen sein, welches es wolle. Nach diesem Kriterium werde ich die geschichtliche Untersuchung über Fortschritte und Rückschritte der Philosophie weiterführen.

Zweiter Teil

RÜCKSCHRITTE NACH KANT

Zwischenbetrachtung:

Die Bedeutung des Studiums der Rückschritte der Philosophie nach Kant Goethe sagt einmal (in den Gesprächen mit Eckermann): »Wenn nur die Menschen das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es täte der Menschheit ein Positives not, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und das Wahre wäre. Aber die Menschen können keine Ruhe halten, und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder obenauf.« Die europäische Geistesgeschichte ist reich an tragischen Beispielen, die die Wahrheit dieses Wortes des großen Menschenkenners bestätigen. Aber ich kenne kein Beispiel, das dieses Wort in so ungeheurem, ich möchte sagen: unheimlichem Maßstabe bestätigt wie die Reaktionserscheinung in der Geschichte der Philosophie, die uns jetzt beschäfl:igen soll. Und es ist daher mit dem angeführten Wort von Goethe schon das allgemeine Interesse bezeichnet, das sich an diesen Gegenstand heftet. Am Schluß seiner »Kritik der reinen Vernunft«, die 1781 erschien, sprach Kant die zuversichtliche Hoffnung aus, daß der von ihm entdeckte Fußsteig, auf dem sich die Philosophie zu einer festen Wissenschaft ausbilden lasse, daß dieser von ihm entdeckte Fußsteig noch vor Ablauf des Jahrhunderts, in einer Frist von weniger als 20 Jahren also, zur Heeresstraße werden würde. Niemals ist eine Hoffnung fürchterlicher enttäuscht worden! Der alte Kant hat es selbst noch erlebt, wie die Frucht seiner Lebensarbeit von ehrgeizigen Nachfol-

350

II. Teil: Rückschritte nach Kant

gern zerrüttet wurde und wie im Gefolge dieser Zerrüttung eine Verwirrung wieder obenauf kam, wie sie die Geschichte der Philosophie in Jahrhunderten noch nicht gesehen hatte. Das Thema »Rückschritte der Philosophie« möchte zwar nicht gerade ermutigend erscheinen für die Hoffnung, durch ihr Studium das Wissen zu bereichern. Aber es hat mit den Rückschritten und überhaupt mit den Irrtümern in der Geschichte der Philosophie eine eigene Bewandtnis. Auch das Studium der Irrtümer hat auf diesem Gebiet, wo es noch so wenig feste und anerkannte Wissenschaft gibt, seine Bedeutung. Und diese Bedeutung wächst, wenn es sich um typische Irrtümer handelt, das heißt um solche, die jederzeit naheliegen, ja die immer wieder ein ganzes Zeitalter in ihren Bann ziehen können. Von dieser Art sind die Irrtümer, die uns hier beschäftigen sollen, Irrtümer, die noch heute fast allgemein von den Geschichtsschreibern der Philosophie geradezu als der Höhepunkt der Großtaten des menschlichen Geistes in seiner Geschichte überhaupt gepriesen werden. Nicht nur in geschichtlicher Hinsicht hat das Studium solcher Irrtümer seinen Wert. Auch rein philosophisch betrachtet, können die irrigen Systeme eine erhebliche Bedeutung erlangen. Ich meine hier nicht die Bedeutung, die ihnen gewöhnlich zugeschrieben wird und die man darin zu sehen pflegt, daß sie die Mannigfaltigkeit der vorhandenen Meinungen bereichern. Ein solches Interesse gibt es in der Wissenschaft nicht. Das Ideal der Wissenschaft ist nicht, die Mannigfaltigkeit der Meinungen über eine Frage zu vermehren, sondern, im Gegenteil, sie nach Möglichkeit zu vermindern. Das Ideal der Wissenschaft ist erst erreicht, wenn diese Fülle auf ein Minimum beschränkt ist, wenn sie herabgemindert ist bis auf eine einzige Meinung, nämlich die richtige. Aber gerade für diese Möglichkeit, zu der richtigen Lösung der Probleme durn¾zudringen, haben die irrigen Systeme in der Geschichte der Philosophie wirkliche Bedeutung. Irrige Systeme, sage ich. Die Systeme haben nämlich den Sinn, daß sie den Gehalt der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien in allen Einzelheiten ans Licht ziehen, ihn gleichsam auseinanderlegen und durchleuchten, nämlich durch die mannigfachen Konsequenzen, die sich aus ihnen entwickeln. Und so hat die systematische Ausführung eines Irrtums für die Geschichte der Philosophie den großen Wert, daß sie

Bedeutung des Studiums der Rückschritte

351

den Irrtum selbst in seiner Tragweite oft überhaupt erst erkennbar macht. Man denke zum Bei,spiel an die Bedeutung, die etwa das Leibnizsehe System für die großen Forts,chritte gehabt hat, die Kant in der Philosophie herbeigeführt hat. Ohne den mit vollendeter Konsequenz durchgeführten Ausbau, den Leibniz dem logischen Dogmatismus gegeben hat, wäre es kaum möglich gewesen, daß Kant den Grundirrtum des logischen Dogmatismus durchschaut und sich endlich von ihm befreit hätte. Eine ähnliche Bedeutung hatte für Kant die Entwicklung, dieHume der empiristischen Philosophie gegeben hatte. Die Konsequenzen des Empirismus, die Hume zuerst entwickelt" hatte, waren es, die Kant in die Lage versetzten, sich des empiristischen Grundirrtums ein für allemal zu entledigen. In gewisser Hinsicht haben die nachkantischen irrigen Systeme, die unter dem stolzen Namen des »deutschen Idealismus« die Welt geblendet haben und weiter blenden, eine ähnliche Bedeutung für die Geschichte der Philosophie. Darüber wird noch viel zu sagen sein. Eins will ich jedoch hier im voraus bemerken. Ich habe die Irrtümer nachgewiesen, die in der Kantischen Philosophie stehengeblieben sind. Diese Irrtümer sind unmittelbar schwer zu durchschauen, und noch schwerer ist es, sie so abzusondern, daß dabei der bleibende Gewinn der Kantischen Lehre unversehrt erhalten bleibt. Ganz anders steht man diesen Irrtümern gegenüber, wenn man sie gleichsam durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Und eine solche vergrößernde Betrachtung gewährt es uns im Grunde, wenn wir diese Fehler ansehen in der Gestalt, in der wir sie wieder antreffen bei den Nachfolgern Kants, die sie in ihre äußersten und letzten Konsequenzen entwickelt haben. Wer diese Konsequenzen in Betracht zieht, durchschaut die Tragweite der Irrtümer leichter, als wer diese Konsequenzen nicht kennt. Und es wird ihm eher gelingen, sich richtig mit jenen Irrtümern auseinanderzusetzen. Aber das Studium der Rückschritte in der Geschichte der Philosophie nach Kant hat noch eine andere Bedeutung. Gerade im Zeitalter des Weltkrieges gewinnt dieses Studium eine besonders ernste Bedeutung. Was wir im Verlauf dieser Jahre erlebt haben und

352

II. Teil: Rückschritte nach Kant

noch erleben, das muß einen nachdenklichen Menschen auf den Gedanken bringen, daß irgend etwas in unserer Geistesgeschichte nicht stimmen kann, daß an dem Grund, auf dem wir gebaut haben, irgend etwas brüchig sein muß, was uns bisher entgangen war. Denn man möchte doch nicht annehmen, daß der äußere Verlauf der Geschichte sich abspielt ganz ohne jeden Zusammenhang mit dem menschlichen Geistesleben, mit der Entwicklung der Gedanken, die sich der Mensch über den Lauf der Dinge bildet, und der Ideen, mit denen er ihn zu deuten sucht. Wozu sollte ihm wohl die Vernunft gegeben sein? Vermutlich nicht nur, um ihn zum duldenden Zuschauer des Getriebes zu machen, das über ihn hinweggeht, ohne daß er etwas dazutun könnte, es in eine andere Bahn zu lenken. Und so können die Ereignisse dieser Zeit uns einen Anstoß geben, in unserer geistigen Vergangenheit nachzuforschen, wo wir vielleicht durch falsche Ideen auf Abwege gedrängt worden sind. Es wird uns heute, nach dem Erlebnis des Unheils, das die herrschenden Ideen - ich will mich vorsichtig ausdrücken - nicht haben verhindern können, leichter werden, das für unseren Eigendünkel niederschlagende Zugeständnis zu machen, daß wir durch die Ideen, auf die wir stolz waren, in die Irre und ins Unheil geführt worden sind. Wir müssen also nachforschen, welche Ideen dies gewesen sind, und dazu wird das Studium der nachkantischen Rückschritte in der Philosophie einen Beitrag liefern.

1.

KAPITEL

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre 1.

Ehe ich indessen auf die Fortbildungen, die die Kantische Philosophie erfahren hat, selbst eingehe und sie schildere, will ich die möglichen Fortbildungen der Kantischen Philosophie unabhängig von der Betrachtung ihrer Wirklichkeit in Erwägung ziehen. Der Stoff, der uns in dem Stadium der Geschichte der Philosophie entgegentritt, das wir hier betrachten, ist so ungeheuer verschlungen und undurchsichtig, daß wir nicht ohne jede Vorbereitung an ihn herantreten können, wenn wir uns eine klare übersieht über ihn verschaffen wollen. Wir müssen schon einen Leitfaden mitbringen, der uns ermöglicht, den Stoff zu durchdringen und uns in ihm zu orientieren. Wir müssen gleichsam erst ein festes Achsensystem errichten, um in dem vorhandenen Chaos den einzelnen Erscheinungen ihren intellektuellen Ort zu bestimmen. Ich werde daher zuerst ein Schema entwickeln, in das wir die geschichtlichen Erscheinungen dann eintragen und in dem wir jeder von ihnen ihre Stelle anweisen können. Dieses Schema entnehme ich der Kritik, die ich an der Kantischen Philosophie geübt habe. Kants Entdeckergröße erscheint dadurch in einem besonderen Lichte, daß seine verschiedenen grundlegenden Entdeckungen mit verhältnismäßig großer Unabhängigkeit nebeneinanderstehen. In der Lockerheit der systematischen Verknüpfung, die er selbst diesen Entdeckungen gegeben hat, darin, daß Kant sich nicht durch eine kurzsichtige Systemsucht hat verführen lassen, den Reichtum an solchen

354

II. Teil: Rückschritte nach Kant

Entdeckungen zu beeinträchtigen, darin besteht ein Kennzeichen seines philosophischen Genies. Ein großer philosophischer Entdecker wird sich (wie bereits hervorgehoben) in wichtigen Entscheidungen nicht durch den Gesichtspunkt der Konsequenz bestimmen lassen, sondern er wird sich seinem Wahrheitsgefühl überlassen und so eine Entdeckung neben die andere stellen, unbekümmert um die Einheit des Systems. Vielleicht werden dann die Nachfolger an den Inkonsequenzen Ans:oß nehmen, die sich zeigen, wenn sie die Lehre im Ganzen überblicken. Wenn ein Philosoph von vornherein nur auf die Konsequenz seines Systems bedacht ist, so kann man ihm vorhersagen, daß er keine großen Entdeckungen machen wird. Auch der Philosoph ist ein Kind seiner Zeit und teilt mit seiner Zeit gerade die tiefsten philosophischen Voraussetzungen, ohne sich über sie klar zu sein, und gerade weil er sich nicht über sie klar ist. Geht er nur auf Konsequenz aus, so wird er nie dazu kommen, sich über diese Voraussetzungen zu erheben, sondern er wird ganz an sie gebunden bleiben. Zu ihrer Überwindung gelangt er erst dadurch, daß er sich unbefangen neuen Entdeckungen hingibt, ohne nach deren logischem Verhältnis zu anderweitigen, schon als feststehend angenommenen Lehren zu fragen, und daß er diese Entdeckungen so weit verfolgt, bis der Widerspruch zwischen ihnen und alten Vorurteilen, die er selbst teilt, klar hervortritt. Man kann überhaupt zwei Grundtypen von Philosophen in der Geschichte der Philosophie unterscheiden: solche, die vorwiegend Entdecker sind, und solche, die vorwiegend Systematiker sind. Nur ganz wenige, nur die aller hervorragendsten Philosophen gehören in gleicher Vollkommenheit beiden Typen an. Die ersten sind durch ein starkes und unbeirrbares Wahrheitsgefühl ausgezeichnet. Ihnen ist die eigentliche Bereicherung des Gehalts der Wissenschaft zu danken. Die anderen sind diejenigen, die durch eine besondere logische Begabung oder doch durch das Interesse an der logischen Form getrieben werden, in dem von jenen entdeckten Stoffe nachträglich die Systematisierung durchzuführen. Ihnen wird also der Stoff gereicht durch die Entdekkungen ihrer Vorgänger. Kant verdankt bei all seiner systematischen Größe seine Bedeutung als Bahnbrecher einer neuen Epoche der Philosophie doch nur seiner Zugehörigkeit zum ersten Typus. Ganz anders seine ersten Nachfol-

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

355

ger. Sie mußten den Mangel an systematischer Einheit in seiner Lehre bemerken und an diesem Mangel Anstoß nehmen. Man bemerkte Widersprüche zwischen den einzelnen Lehrstücken. Und die Beseitigung dieser Widersprüche mußte die Aufgabe der Nachfolger Kants in der Geschichte der Philosophie werden. Die systematische Einheit des Ganzen der Kantischen Lehre wurde so der Gegenstand, um den sich weiterhin der philosophische Streit drehte. Wenn wir nun die verschiedenen nachkantischen Lehren nach einheitlichen Gesichtspunkten übersehen wollen, so scheint es mir für das hier ausschlaggebende systematische Interesse am zweckmäßigsten zu sein, diese übersieht nach drei getrennten Gesichtspunkten zu ordnen. Es sind drei große Rätsel ungelöst in Kants Lehre stehengeblieben. Diese Rätsel, die die Nachfolger in Kants Lehre vorfanden und an deren Lösung sie sich versuchen mußten, entsprechen den drei Grundfehlern, auf die wir die Mängel der Kantischen Lehre zurückführen konnten. Der erste von diesen betriffi: die Methode, der zweite die Ausführung der Untersuchung, die Kant die subjektive Deduktion nannte, der dritte die Ausführung der von ihm so genannten objektiven Deduktion. Der erste Fehler ist logischer Natur. Der zweite ist ein psychologischer Fehler. Der dritte betriffi: unmittelbar die Metaphysik selbst. Es handelt sich bei dem ersten um die Lehre von der Begründung der Urteile, nämlich um die Methode der kritischen Begründung der metaphysischen Grundsätze. Der zweite Fehler betriffi:, bei der Ausführung der Kritik der Vernunft, die psychologische Lehre von den Erkenntnisquellen und der dritte die Begründung des transzendentalen Idealismus und der Ideenlehre. Betrachten wir zunächst das Rätsel der Methode: Die Kritik der Vernunft sollte die für alle künftigen Versuche, ein System der Metaphysik zu errichten, notwendige Voruntersuchung sein, eine Voruntersuchung, die sich für Kant als notwendig ergeben hatte, um die Prinzipien des Systems, da sie nicht an und für sich evident sind, erst zu suchen und sicherzustellen. über die Frage aber, welcher Erkenntnisart diese vernunftkritische Untersuchung ihrerseits angehört, über diese Frage hat Kant keine eigene Untersuchung angestellt. Diese Frage mußte seinen Nachfolgern unvermeidlich aufstoßen. Hier liegt in der Tat ein tiefes Rätsel verborgen. Denn welcher Art sollte wohl

356

II. Teil: Rückschritte nach Kant

diese vernunftkritische Propädeutik jedes Systems der Metaphysik sein? Sollte sie etwa selbst eine Art der metaphysischen Erkenntnis darstellen? Das erscheint ungereimt, wenn man bedenkt, daß es ihre Aufgabe ist, überhaupt erst über die Möglichkeit einer Metaphysik zu entscheiden. Wollte man diese Frage wiederum auf dem Wege einer Metaphysik entscheiden, so wäre offenbar alles verloren und durch die neue Methode nichts gegen den alten Dogmatismus gewonnen. Oder sollte die Vernunftkritik etwa der formalen Logik angehören? Auch das erscheint unmöglich. Kant selbst ist es gewesen, der gegen seine logizistischen Vorgänger den Satz auf gestellt hat, daß es unmöglich ist, aus bloßer Logik Metaphysik zu machen. Es bliebe nur übrig, daß die Vernunftkritik eine Erfahrungswissenschaft wäre. Aber auch das erscheint unannehmbar, und wenigstens Kant selbst hat ausdrücklich eine solche Annahme zurückgewiesen. Es erscheint darum unannehmbar, weil die zu begründenden Prinzipien einer rationalen Erkenntnisart angehören und keiner empirischen. Wie sollte die Begründung rationaler Prinzipien ihrerseits empirisch sein können? Rationale Prinzipien sind ja solche, die von aller Erfahrung unabhängig gelten, ihren Grund also nicht in der Erfahrung haben. Man kann hier auch noch eine andere Erwägung anstellen. Es war gerade eine der grundlegenden Entdeckungen Kants gewesen, mit denen er dem Empirismus den Boden entzogen hatte, daß Erfahrung ihrerseits gar nicht unabhängig von gewissen Voraussetzungen möglich ist, die nicht aus der Erfahrung entspringen. Es gibt, wie er zeigt, metaphysische Prinzipien für die Möglichkeit der Erfahrung. Wäre also die Kritik eine Erfahrungswissenschaft, so würde sie ihrerseits schon metaphysische Voraussetzungen machen müssen. Und es scheint daher, daß die auf solchem Wege versuchte Begründung metaphysisd1er Prinzipien unvermeidlich auf einen Zirkel hinausläuft. Hier liegt also in der Tat ein eigentümliches und tief verborgenes Rätsel, ohne dessen Auflösung an eine sichere und befriedigende Weiterbildung der Kritik der Vernunft nicht zu denken ist. Daß bei Kant diese Frage im dunkeln bleiben mußte, daß er selbst uns keinen Ausweg aus dieser Verlegenheit bietet, das ist die Folge des Fehlers, den er in methodischer Hinsicht begangen hat und an den hier nur kurz erinnern will. Dieser Fehler entsprang aus einer falschen Ansicht von der Aufgabe

im

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

357

der Kritik der Vernunft, einer Ansicht, die wir das Vorurteil des Transzendentalen genannt haben, nämlich aus der Meinung, die Kritik der Vernunft bezwecke einen Beweis der metaphysischen Grundsätze, woraus dann folgen würde, daß sie hinsichtlich ihrer Erkenntnisart mit dem System der Metaphysik gleichartig sein müßte, also wie die Metaphysik selbst einer Erkenntnisweise a priori angehören müßte. Ehe wir die weiteren Folgen dieses Fehlers untersuchen, wollen wir uns zur Betrachtung des zweiten Rätsels wenden, das die Kantis,che Vernunftkritik zurückläßt und das die von Kant so genannte subjektive Deduktion betrifft. Dieses Rätsel ist psychologischer Natur. Es betrifft die Lehre von den Erkenntnisquellen. Diese Lehre hatte Kant um ein bedeutendes Stück gefördert durch den Nachweis, daß unsere Erkenntnis nicht, wie seine Vorgänger insgesamt angenommen hatten, auf bloß empirische Erkenntnis einerseits und logische andererseits beschränkt ist. Er verdankt diese Bereicherung der Wissenschaft seiner Entdeckung der synthetischen Urteile a priori, das heißt solcher von der Erfahrung unabhängigen Urteile, die unsere Erkenntnis über den bloßen Begriff ihres Gegenstandes hinaus erweitern. Diese Entdeckung war ihm gelungen im Anschluß an die tiefsinnigen Untersuchungen Humes. Hume war auf Grund der ihm noch als selbstverständlich geltenden Annahme, daß Sinnlichkeit und Verstand die einzig möglichen Erkenntnisquellen für uns seien, zu der auf Grund dieser Annahme in der Tat unvermeidlichen Konsequenz gelangt, daß alle Bemühungen um eine Metaphysik auf immer vergeblich seien, da eine solche sich weder aus der Erfahrung noch aus der Logik entwickeln läßt. Denn Metaphysik besteht, nach dem Kantischen Ausdruck, ganz und gar aus synthetischen Urteilen a priori, während es nach jener Voraussetzung keine anderen Urteile geben kann als analytische Urteile einerseits und synthetische Urteile a posteriori andererseits, das heißt synthetische Urteile aus der Erfahrung. Dieses war die skeptische Konsequenz, die zuerst Hume aus jener psychologischen Voraussetzung gezogen hat, einer Voraussetzung, die wir durch die ganze Geschichte der Philosophie zurückverfolgen können bis auf Aristoteles, der sie zuerst gleichsam axiomatisch festgestellt hatte. Diesen uralten Fehler in der Geschichte der Philosophie hat Kant beseitigt durch den Nachweis der synthetischen Erkenntnis a priori, einer Erkenntnis,

358

II. Teil: Rückschritte nach Kant

die aus einer anderen Quelle entspringen muß als Empirie einerseits und Logik andererseits. Durch diesen Nachweis war der skeptischen Schlußfolgerung Humes der Boden entzogen. Es ist an dieser Stelle nützlich, sich zu vergegenwärtigen, wie Kant zu dieser Entdeckung vorgedrungen ist. Er kam dazu durch die Bemerkung, daß, wenn die Konsequenz, die Hume in unanfechtbarer Weise aus seinen Prämissen gezogen hatte, richtig sein sollte, sie in gleicher Weise wie die Metaphysik auch die Geometrie treffen würde. Kant hat nachgewiesen, daß die geometrischen Urteile synthetische Urteile sind, daß sie also nicht logischen Ursprungs sein können. Sie können aber ebensowenig empirischen Ursprungs sein. Denn das widerspräche, wie Hume richtig gesehen hatte, ihrer Apodiktizität. Kant kam also zu seiner Widerlegung Humes durch eine einfache Übertragung der Humeschen Problemstellung von der Metaphysik auf die Geometrie. Wir führen uns diese Übertragung in dem nebenstehenden Schema vor Augen. Wenn die Konsequenz, die Hume aus seinen Prämissen für die Metaphysik gezogen hatte, zwingend wäre, dann würden wir aus den fraglichen Prämissen nach Analogie des Humeschen Schlusses die Konsequenz ziehen müssen, daß die geometrische Erkenntnis, da sie weder aus der Sinnesanschauung noch aus der Reflexion entspringen kann, es aber außer diesen beiden Erkenntnisquellen keine dritte geben soll, selbst unmöglich ist. Durch diese Überlegung ergab sich für Kant, daß in der Humeschen Lehre von den Erkenntnisquellen ein Fehler liegen muß. Und da dieser Fehler nicht in Humes Schlüssen liegt, so kann er nur in seinen Voraussetzungen liegen. Er liegt, wie Kant zeigte, in der Voraussetzung, daß Sinnesanschauung und Reflexion die einzigen Erkenntnisquellen seien. Dieser Fehler wird aufgehoben durch Kants Nachweis der reinen Anschauung als der Quelle der geometrischen Erkenntnis. Für die Metaphysik ist Kant nicht so glücklich gewesen wie für die Geometrie. Metaphysische Urteile sind nach seinem Nachweis zwar auch, wie die geometrischen, synthetische Urteile a priori, aber sie sind nicht solche aus reiner Anschauung, sondern solche aus bloßen Begriffen. Und es blieb daher die Frage: Wie sind solche Urteile möglich, synthetische Urteile a priori nicht aus reiner Anschauung, son-

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

359

Jede Erkenntnis entspringt entweder aus der Sinnesanschauung oder aus der Reflexion (Dogmatische Disjunktion)

Aus der Sinnesanschauung kann die geometrische Erkenntnis nicht entspringen

Aus der Reflexion kann die geometrische Erkenntn:s nicht entspringen

Es gibt keine geometrische Erkenntnis (Skeptizismus)

Die geometrische Erkenntnis entspringt aus der Reflexion (Logizismus)

Die geometrische Erkenntnis entspringt aus der Sinnesanschauung (Empirismus)

Die geometrische Erkenntnis ist eine solche aus reiner Anschauung (Kritizismus)

dern aus reinen Begriffen? Diese Frage übersteigt an Schwierigkeit und Dunkelheit bei weitem jene andere, die Geometrie betreffende Frage. Denn eben weil hier die Anschauung als Erkenntnisquelle gänzlich versagt, bleibt die diesen Urteilen zugrunde liegende Erkenntnisquelle völlig im dunkeln. Dieses Dunkel hat Kant nicht aufzuhellen vermocht. Ja, man kann sagen, daß seine Lehre nicht nur den Erkenntnisgrund metaphysischer Urteile unaufgeklärt läßt, sondern sogar ihre bloße logische Möglichkeit. Der Begriff eines synthetischen Urteils, das dennoch ein Urteil aus bloßen Begriffen sein soll, schließt eine, wie es scheint, unauflösliche Paradoxie ein. Denn als

360

II. Teil: Rückschritte nach Kant

synthetisches Urteil muß es unsere Erkenntnis des Gegenstandes über dessen Begriff hinaus erweitern. Als einem Urteil aus bloßen Begriffen scheint ihm aber gerade dieses versagt zu sein. Und so bleibt in der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aus bloßen Begriffen ein ungelöstes Rätsel. Dieses Rätsel liegt einerseits in der logischen Paradoxie des Begriffs solcher Urteile, andererseits aber auch in ihrer Unvereinbarkeit mit der Voraussetzung von den möglichen Erkenntnisquellen, selbst wenn wir diese vervollständigt denken durch die Kantische Entdeckung der reinen Anschauung. Dann tritt nämlich an die Stelle der alten Einteilung der Erkenntnisquellen in Sinnesanschauung und Reflexion die neue in Anschauung überhaupt und Reflexion. Aber auch die reine Anschauung kann, als Anschauung, nicht die Erkenntnisquelle metaphysischer Urteile sein. Denn diese sollen unabhängig von aller und jeder Anschauung aus bloßen Begriffen entspringen. Wir besitzen keine metaphysische Anschauung: Unsere Anschauung ist, wie Kant sich ausdrückt, nicht intellektuell. Wir besitzen zwar eine reine Anschauung über die bloße Sinnesanschauung hinaus. Aber diese reine Anschauung geht doch auf nichts anderes als auf die Form möglicher Gegenstände der Sinnesanschauung. Wir erkennen durch sie die Zusammensetzung der Gegenstände im Raum und in der Zeit, aber nicht ihre Verknüpfung. Die Zusammensetzung ist allemal nur eine zufällige Verbindung, die Verknüpfung aber eine notwendige. Und diese notwendige Verknüpfung ist es, was durch die metaphysischen Urteile erkannt wird. Es müßte eine intellektuelle Anschauung geben, eine Anschauung der Verknüpfung und nicht bloß der Zusammensetzung der Gegenstände, wenn wir nach Kants Vervollständigung der Einteilung der möglichen Erkenntnisquellen unter diesen eine solche für die Metaphysik finden könnten. Die Kantische Voraussetzung, daß Anschauung und Reflexion die einzig möglichen Erkenntnisquellen seien, schließt also die Möglichkeit metaphysischer Urteile ebenso aus, wie dies die Humesche Voraussetzung tat, daß bloße Sinnesanschauung und Reflexion die einzigen Erkenntnisquellen seien. Die Möglichkeit synthetischer Urteile aus bloßen Begriffen widerspricht dieser psychologischen Grundvoraussetzung der Kantischen Vernunftkritik. Hierin liegt das ungelöste Rätsel, das die Kantische Vernunftkritik in psychologischer Hinsicht zurückläßt.

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

361

Den Fehler Kants, der die Ursache dieses Umstandes ist, habe ich damit im Grunde schon ausgesprochen. Er entsprang aus dem Vorurteil, das ich die dogmatische Disjunktion der Erkenntnisquellengenannt hatte, nämlich aus der Annahme, daß jede Erkenntnis entweder eine solche aus der Reflexion oder eine solche aus der Anschauung sein müßte. Dieses Vorurteil verhinderte ihn, in der unmittelbaren - weder reflektierten, noch anschaulichen - metaphysischen Erkenntnis die Quelle der metaphysischen Urteile zu entdecken. Endlich das dritte Rätsel, das die Metaphysik selbst betrifft. Der Kantischen Ausführung der Metaphysik liegt seine große Lehre vom transzendentalen Idealismus zugrunde, das heißt die Lehre, daß unsere Erkenntnis uns die Dinge nicht so erkennen läßt, wie sie an sich sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen, nämlich in den Formen des Raumes und der Zeit. Die Begründung dieser Lehre liegt bei Kant zuletzt in seinem formalen Idealismus, speziell in dessen Konsequenz, daß sich die reine Anschauung als synthetische Erkenntnis a priori nicht auf Dinge an sich beziehen kann. Nun besteht hier das eigentümliche Verhältnis, daß diese Begründung uns in einen Widerspruch verwickelt gerade mit derjenigen Lehre, die eigentlich dadurch begründet werden sollte, nämlich mit der Kantischen Ideenlehre, insbesondere deren Hauptstück: der Lehre von der Möglichkeit der Freiheit. Ideen sind notwendige Begriffe unserer Vernunft von Gegenständen, die über alle mögliche Erfahrung hinaus liegen. Von dieser Art müssen unsere Begriffe von Dingen an sich sein, da, wie der transzendentale Idealismus lehrt, unsere Erfahrung auf Erscheinungen beschränkt ist. Der transzendentale Idealismus sollte das Feld frei machen für die Ideenwelt: für die Welt der Dinge, wie sie bestehen unabhängig von der Naturform, an die unsere Erkenntnis gebunden ist, nämlich unabhängig von Raum, Zeit und Naturgesetzen. Kurz, es war der transzendentale Idealismus, durch den es Kant gelang, den Naturalismus der Wissenschaft zu beschränken und neben ihm oder über ihm Platz zu schaffen für die Ideen: für eine Welt der Freiheit. Betrachten wir nun aber die Begründung, auf die diese Gedankenreihe zuletzt zurückgeht. Wenn, wie der formale Idealismus lehrt, synthetische Prinzipien a priori nicht von Dingen an sich gelten kön-

362

II. Teil: Rückschritte nach Kant

nen, so folgt daraus, daß auch die Ideen keine Beziehung auf Dinge an sich haben können. Ja, schon die Annahme von Dingen an sich überhaupt ist mit dem formalen Idealismus in Widerspruch. Denn wir können uns keinen Begriff von einem Ding an sich machen als vermittels der Kategorien und der aus ihnen entspringenden Ideen, also zuletzt gerade der synthetischen Prinzipien a priori, die nach dem formalen Idealismus keine Geltung für Dinge an sich haben können. Hier finden wir daher den Ort des dritten fundamentalen Fehlers in der Kantischen Ausführung der Vernunftkritik. Er liegt in seiner Lehre vom formalen Idealismus und deren Konsequenzen für die Ideenlehre, wie sie Kant zwangen, den spekulativen Ideen die objektive Realität abzusprechen und ihnen einen regulativen Gebrauch in der Naturwissenschaft anzuweisen. Aus diesen drei Grundfehlern, die in der Kantischen Spekulation stehengeblieben sind, lassen sich, wie früher gezeigt, alle weiteren Mängel in Kants Lehre erklären. Diese drei Fehler haben aber auch untereinander einen eigentümlich tiefen und engen Zusammenhang und stehen keineswegs unabhängig voneinander da. Der tiefste Grund aller dieser Fehler liegt eigentlich in dem psychologischen Vorurteil Kants, dem Vorurteil von der Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Anschauung und Reflexion als Erkenntnisquellen, einem Vorurteil, zu dessen Aufdeckung sich Kant den Weg gerade dadurch versperrt, daß er die empirisch-psychologische Untersuchung von den Auf gaben seiner Vernunftkritik ausschließt. Aber es war wiederum jenes psychologische Vorurteil, das, umgekehrt, diesen methodischen Fehler unvermeidlich nach sich zog. Denn wenn man davon ausgeht, daß es außer Anschauung und Reflexion keine dritte Erkenntnisquelle gehen kann, so wird die Konsequenz unvermeidlich, daß die Erkenntnisquelle der metaphysischen Urteile, da sie nicht in der Anschauung liegen kann, in der Reflexion liegen müsse. Ihre Begründung kann dann nur in der Zurückführung auf andere Urteile bestehen; das heißt, sie müßte die Form des Beweises haben. Die Folge davon ist die logische Oberordnung der Kritik der Vernunft über das System der Metaphysik. Denn die Kritik müßte dann die Beweis-

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

363

gründe für die Prinzipien des Systems der Metaphysik enthalten. Und so kommen wir hier notwendig auf das Kantische Vorurteil des Transzendentalen, das heißt auf die Konsequenz der Apriorität der vernunftkritischen Begründung der metaphysischen Urteile. Und ferner: Wenn man keine unmittelbare Erkenntnis als Grund der metaphysischen Urteile anerkennt, weil man als mögliche Erkenntnisgründe nur Anschauung und Reflexion gelten läßt,so kommt man dadurch zugleich zu der Konsequenz des formalen Idealismus. In Ermangelung einer unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis können nämlich die fraglichen Prinzipien nicht durch eine subjektive Deduktion begründet werden. Auf diese Weise wurde Kant dazu gedrängt, die subjektive Methode der Vernunftkritik an dieser Stelle unvermerkt zu verlassen und in eine objektive umzudeuten, die man im Gegensatz zu der vernunftkritischen eine erkenntnistheoretische nennen kann, da sie hinausläuft auf eine Vergleichung der Erkenntnisse, nicht untereinander, sondern mit ihrem Gegenstand. So sah sich Kant genötigt, zum Behuf der Begründung der Prinzipien der Metaphysik eine Theorie über das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand zu entwickeln. Da nun bei metaphysischen Erkenntnissen nicht wie bei empirischen, das heißt solchen aus der Sinnesanschauung, der Gegenstand als Grund der Erkenntnis in Frage kommt, so blieb für Kant nur das Umgekehrte übrig: die Erkenntnis hier selbst zum Grund der Möglichkeit des Gegenstandes zu machen und auf dieses Verhältnis ihre Wahrheit zu gründen. Diese erkenntnistheoretische Lehre ist nichts anderes als der formale Idealismus, wonach synthetische Prinzipien a priori nicht für Dinge an sich Geltung haben können. Denn bei einer Erkenntnis von Dingen an sich müßte der Gegenstand, als Grund der Erkenntnis, dieser vorhergehen, und es könnte nicht umgekehrt, wie Kant es für die synthetischen Prinzipien a priori annimmt, die Erkenntnis ihrerseits den Grund des Gegenstandes bilden. Von der Apriorität der synthetischen Urteile der Metaphysik müssen wir dann mit Kant auf ihre Idealität schließen und demgemäß die Realität der spekulativen Ideen als transzendentalen Schein verwerfen. So wird klar, daß die auseinandergesetzten Kantischen Fehler in der

364

II. Teil: Rückschritte nach Kant

Tat nicht isoliert und zufällig nebeneinander stehen, sondern sich notwendig aus den Grundvoraussetzungen ergeben, die Kant mit seinen Vorgängern, insbesondere auch mit Hume teilte.

2. Welches sind nun zunächst die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre, die auf Grund ihrer prinzipiellen Mängel überhaupt in Betracht kommen? Eine Fortbildung wird hier für die Kantische Lehre insofern gesucht, als es sich darum handelt, die ihr fehlende systematische Einheit herzustellen, das heißt einen befriedigenden logischen Zusammenhang zwischen den von Kant ohne einen solchen Zusammenhang, ja im Widerspruch zueinander gelassenen Lehrstücken. Es galt, diese Widersprüche zu überwinden. Und dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Stellen wir diese Frage zuerst vom Standpunkt des Problems der Methode aus! Das Vorurteil, das Kant zu seinem methodischen Fehler veranlaßt hatte, war, wie ich gezeigt habe, die Meinung, daß die Kritik der Vernunft nicht nur subjektiv den Erkenntnisgrund der metaphysischen Prinzipitn aufweisen, sondern selbst den Beweisgrund der objektiven Gültigkeit dieser Prinzipien enthalten solle. Dieser Beweisgrund könnte nur in den höchsten Prämissen liegen, aus denen die Grundsätze der Metaphysik logisch folgen. Die in diesem Sinne zur Erkenntnistheorie umgedeutete Kritik der Vernunft ordnet sich dann logisch dem System der Metaphysik über. Die Folge davon ist, daß die Kritik der Vernunft, der Erkenntnisart nach, mit dem System der Metaphysik gleichartig sein muß. Denn der Erkenntnisgrund muß mit der auf ihn gegründeten Erkenntnis gleichartig sein. Aus diesem Sachverhalt lassen sich verschiedene und einander gerade entgegengesetzte Konsequenzen ziehen. Wir wollen sie uns in einem Schema übersichtlich machen. Man kann aus der Voraussetzung, daß Kritik und System, da sie im logischen Verhältnis von Grund und Folge stehen, gleichartig sind, zwei einander entgegengesetzte Schlüsse ziehen, je nachdem, ob man aus der Erkenntnisart des Systems auf die der Kritik schließt oder, umgekehrt, aus der der Kritik auf die des Systems.

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

365

Auf der einen Seite haben wir die Voraussetzung, daß der Grund metaphysischer und also von der Erfahrung unabhängiger Prinzipien seinerseits nicht in der Erfahrung liegen kann. Daraus würde dann folgen, daß die Kritik keine Erfahrungswissenschaft sein darf. Auf der anderen Seite haben wir die Voraussetzung, daß die Kritik als eine Wissenschaft von Erkenntnissen (nämlich von dem Erkenntnisgrund der metaphysischen Urteile) ihrerseits eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung ist. Aus der ersten Art zu schließen hatte sich die Konsequenz ergeben, daß die Kritik keine Erfahrungswissenschaft ist, also das Gegenteil dieser zweiten Voraussetzung. Aus dieser folgt dagegen, daß der Grund der zu beweisenden Prinzipien in der inneren Erfahrung liegt, was der Voraussetzung des ersten Schlusses widerspricht. Die Ansicht, daß die Kritik der Vernunft, weil sie den Beweisgrund metaphysischer Prinzipien enthält, keine Erfahrungswissenschaft sein und also auch keine psychologische Erkenntnis enthalten kann, ist das, was wir das transzendentale Vorurteil genannt haben. Wir können die ihr gegenüberstehende Ansicht, wonach der Grund der metaphysischen Prinzipien darum, weil ihre Begründung durch die Kritik der Vernunft psychologischer Art ist, selbst in der Psychologie liegen müßte, das psychologistische Vorurteil nennen. Damit sind, wie man nun ohne weiteres sieht, nicht alle möglichen Ansichten erschöpft, sondern es bleibt noch möglich, die beiden einander gegenüberstehenden Voraussetzungen zu verbinden, um dann allerdings die dritte, den beiden entgegengesetzten Schlußweisen gemeinsame Voraussetzung fallenzulassen. Gerade hierauf also führt uns die noch übrigbleibende, dritte Schlußweise. Wenn die Kritik der Vernunft eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung ist, andererseits aber der Grund der durch sie zu begründenden metaphysischen Prinzipien nicht in der Erfahrung liegt, so folgt, daß die Kritik zwar die Begründung, nicht aber den Grund der metaphysischen Prinzipien enthält und daß infolgedessen auch die Notwendigkeit entfällt, die Erkenntnisart der Kritik mit der des Systems der Metaphysik für gleichartig zu halten. Denn wenn die Kritik nicht den Grund der metaphysischen Prinzipien enthält, so findet der Satz von der Gleichartigkeit einer Erkenntnis mit dem Erkenntnisgrund auf das Verhältnis des Systems zur Kritik überhaupt keine Anwendung.

366

II. Teil: Rückschritte nach Kant

Die Kritik enthält den Grund der metaphysischen Prinzipien (Kritik und System ·sind gleichartig) Der Grund der metaphysischen Prinzipien liegt nicht in der Erfahrung

Die Kritik ist eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung

Die Kritik ist keine Erfahrungswissenschaft (Transzendentales Vorurteil)

Der Grund der metaphysischen Prinzipien liegt in der inneren Erfahrung (Psychologistisches Vorurteil)

Die Kritik enthält nicht den Grund der metaphysischen Prinzipien (Kritik und System sind ungleichartig)

Wir werden auf alle diese Ansichten ausführlich eingehen. Es kommt jetzt nur darauf an, die verschiedenen möglichen Ansichten als solche ins Auge zu fassen. In dieser Hinsicht zeigt sich, daß das methodische Rätsel der Kantischen Vernunftkritik an und für sich drei mögliche Deutungen zuläßt, wie wir sie soeben abgeleitet haben. Für eine von ihnen muß man sich entscheiden, wenn man eine konsequente methodische Ansicht über das Verhältnis der Kritik der Vernunft zu dem durch sie zu begründenden System der Metaphysik gewinnen will. Nun müssen wir zweitens untersuchen, in welcher Weise sich die psychologischen Mängel der Kantischen Deduktion beheben lassen, in welcher Weise sid1 also Kants Lehre von den Erkenntnisquellen konsequent weiterbilden läßt. Ich habe gezeigt, daß wir bei Kant schon alle Prämissen vorfinden, die erforderlich sind, um die Existenz einer unmittelbaren - weder ansd1aulichen noch reflektierten - metaphysischen Erkenntnis nachzuweisen. Diese Beweisführung der subjektiven Deduktion geht näm-

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

367

lieh auf drei Fundamentalsätze zurück, und diese drei entscheidenden Prämissen finden sich auch in Kants Kritik der reinen Vernunft anerkannt. Wir braud1en sie nur als solche herauszuheben und miteinander richtig zu verbinden. Sie lassen sich folgendermaßen formulieren: P1: Wir besitzen metaphysische Urteile, das heißt synthetische Urteile aus bloßen Begriffen, wie Kant sagt, im Gegensatz zu solchen aus der Anschauung, sei dies sinnliche oder nichtsinnliche Anschauung. Dieser Besitz metaphysischer Urteile ist ein Faktum, das Kant festgestellt hat. Ihr Grund mag sein, welcher er wolle, er mag existieren oder nicht, die Urteile mögen objektiv gültig sein oder nicht, wir besitzen sie faktisch. P2: Unsere Anschauung ist nicht intellektuell. Auch die reine Anschauung ist keine intellektuelle Anschauung. Sie geht nur auf die Form der Gegenstände der Sinnesanschauung und auch hier nur, wie Kant es ausdrückt, auf die figürliche Synthesis, nicht auf die intellektuelle Synthesis der Erscheinungen, nur auf die zufällige Zusammensetzung der Dinge in Raum und Zeit und nicht auf ihre notwendige Verknüpfung. P3: Die Reflexion ist leer; das heißt, aus ihr entspringen an und für sich nur analytische Urteile. Sie wiederholt nur anderweit gegebene Erkenntnisse. Wir können daher auch sagen: Die reflektierte Erkenntnis ist mittelbar. Diese drei Sätze sind hinreichend, um die Existenz einer nichtanschaulichen und doch unmittelbaren, also auch nichtreflektierten Erkenntnis nachzuweisen als die Quelle der metaphysischen Urteile. Wenn wir nämlich nach der ersten Prämisse faktisch metaphysische Urteile besitzen, nach der zweiten aber die Erkenntnisquelle dieser Urteile nicht in der Anschauung liegen kann und nach der dritten diese Erkenntnisquelle ebensowenig in der Reflexion liegen kann, so muß sie in einer weder der Anschauung noch der Reflexion angehörenden Erkenntnis liegen, kurz, in einer unmittelbaren nichtanschaulichen Erkenntnis. Diese Konsequenz hat Kant nicht gezogen. Denn nach seinen Voraussetzungen mußte der Begriff einer solchen weder anschaulichen noch reflektierten Erkenntnis ein unauflösliches Paradoxon sein. Kant hielt, ohne den Widerspruch zu der Konsequenz aus den von ihm

368

II. Teil: Rückschritte nach Kant

anerkannten drei Sätzen zu bemerken, an der Annahme fest, daß es außer dem Urteil und der Anschauung keine dritte Erkenntnisart geben könne. Neben den drei genannten faktischen Prämissen steht daher bei ihm wie ein Axiom die dogmatische Prämisse: P4: Jede Erkenntnis ist entweder Urteil oder Anschauung. Wenn wir also Konsequenz in die Lehre von den Erkenntnisquellen bringen wollen, so sind wir genötigt, entweder einen der drei zuerst angegebenen Sätze fallenzulassen oder aber den vierten, die Annahme der Vollständigkeit der Disjunktion der Erkenntnisquellen in Anschauung und Reflexion. Wir müssen uns also entschließen, entweder die Annahme aufzugeben, daß wir metaphysische Urteile besitzen, oder den Satz von der nicht-intellektuellen Natur der Anschauung oder den Satz von der Leerheit der Reflexion oder endlich die dogmatische Disjunktion der Erkenntnisquellen. Jeder einzelne von diesen Sätzen ist unvereinbar mit der Konsequenz aus den übrigen. Es handelt sich hier im Grunde um das Humesche Problem. Denn dieses betraf von vornherein das Rätsel des Ursprungs der metaphysischen Urteile. In Kants Versuch einer Lösung dieses Problems bleibt eine Dunkelheit. Zur Beseitigung dieser Dunkelheit bieten sich uns vier mögliche Wege an. Wir wollen nun sehen, welche möglichen Konsequenzen auf diese Weise entstehen: K1: Lassen wir den Satz fallen, daß wir metaphysische Urteile faktisch besitzen, so kommen wir auf die skeptische Konsequenz des metaphysischen Empirismus zurück, auf die Lehre, daß es keine metaphysische Erkenntnis geben kann. K2: Lassen wir den Satz von der nicht--lntellektuellen Natur der Anschauung fallen, so kommen wir auf den metaphysischen Mystizismus zurück, das heißt, auf die Behauptung des Besitzes einer intellektuellen Anschauung als der Quelle der metaphysischen Erkenntnis. K3: Lassen wir den Satz von der Leerheit der Reflexion fallen, so kommen wir auf den metaphysischen Logizismus zurück, der die Reflexion zur Quelle der metaphysischen Erkenntnis macht. K4: Endlich, wir lassen die dogmatische Disjunktion der Erkenntnisquellen fallen und vereinigen die drei faktischen Prämissen zu dem Schluß auf die Existenz einer dritten Erkenntnisquelle neben Anschauung und Reflexion, wodurch wir auf die Behauptung einer unmittel-

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

369

baren weder anschaulichen noch reflektierten Erkenntnis als Quelle der metaphysischen Urteile geführt werden. Wir können diese Ansicht kurz den metaphysischen Kritizismus nennen, weil sie sich nur auf die von Kant festgestellten faktischen Prämissen stützt und die dogmatische Voraussetzung der übrigen Ansichten aufhebt. Wir wollen das logische Verhältnis dieser verschiedenen möglichen Schlußweisen wieder in einem Schema darstellen.

P4 Jede Erkenntnis ist entweder eine solche aus der Anschauung oder aus der Reflexion

P3 Die Reflexion

K1 Wir besitzen keine Metaphysik (Empirismus)

P1 Wir besitzen Metaphysik

Die Metaphysik entspringt aus intellektueller Anschauung (Mystizismus)

Die Metaphysik entspringt aus der Reflexion (Logizismus)

K4 Die Metaphysik entspringt aus einer nichtanschaulichen unmittelbaren Erkenntnis (Kritizismus)

370

II. Teil: Rückschritte nach Kant

Es ist leicht zu bemerken, daß dieses Schema in formaler Übereinstimmung mit einem Schema steht, in dem ich das Humesche Problem dargestellt habe. Es werden hier jedes Mal je drei von den vier Prämissen zu einer Konsequenz vereinigt. So entstehen vier mögliche Konsequenzen, von denen je eine immer der übrigbleibenden vierten Prämisse widerspricht. Endlich: Welche Fortbildungen sind für die Kantische Philosophie möglich hinsichtlich des dritten, des metaphysischen Problems, das wir betrachtet hatten? Wir haben gesehen, daß der formale Idealismus Kants, die Lehre, wonach synthetische Erkenntnis a priori nicht für Dinge an sich gelten kann, im Widerspruch steht zu der Annahme von Dingen an sich überhaupt. Falls man nämlich an der Kantischen Lehre festhält, daß alle unsere Urteile, um sich auf Gegenstände zu beziehen, synthetische Prinzipien a priori als Bedingungen ihrer Möglichkeit voraussetzen, so gilt dies auch von unseren Urteilen über Dinge an sid1 und also sd10n von dem allgemeinen Urteil, daß es überhaupt Dinge an sich gibt, ganz abgesehen von der Möglichkeit ihrer Erkenntnis. Sobald wir etwas über Dinge an sich behaupten, wenden wir in dem Urteil, das wir aussprechen, metaphysische Prinzipien an. Schon die Anwendung des Dingbegriffs, wie auch des Begriffs der Existenz, enthält eine metaphysische Voraussetzung. Wir haben in dieser Kantischen Lehre also drei Sätze, die miteinander nicht widerspruchslos vereinbar sind. Der eine ist der formale Idealismus. Der zweite ist der Satz von der Bedingtheit unserer inhaltlichen (im Unterschied zu den logischen) Urteile durch synthetische Prinzipien a priori, der dritte die Annahme von Dingen an sich. Je zwei von diesen Sätzen führen auf eine Konsequenz, die dem dritten widerspricht. Um diesen Widerspruch zu beseitigen, können wir einmal schließen aus dem formalen Idealismus in Verbindung mit dem Satz von der Bedingtheit aller inhaltlichen Urteile durch Prinzipien a priori. Dieser Schluß führt uns auf die Verwerfung der Annahme von Dingen an sich. Denn wenn synthetische Prinzipien a priori nicht für Dinge an sich gelten, alle unsere Urteile aber, und also auch die über Dinge an

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

371

sich, synthetische Prinzipien a priori erfordern, so wird die Annahme von Dingen an sich unzulässig. Auf der anderen Seite können wir aus der Annahme von Dingen an sich in Verbindung mit dem formalen Idealismus schließen. Dieser Schluß nötigt uns, den Satz von der Bedingtheit aller Urteile durch Prinzipien a priori aufzuheben. Denn der formale Idealismus läßt sich mit der Behauptung von Dingen an sich nur unter der Voraussetzung vereinigen, daß wir von Dingen an sich ein Wissen haben, das nicht durch Prinzipien a priori bedingt ist. Oder aber endlich, wir vereinigen den Satz von der Bedingtheit aller Urteile durch Prinzipien a priori mit dem anderen von der Existenz der Dinge an sich. Dann müssen wir den formalen Idealismus aufgeben. Diese logischen Zusammenhänge veranschaulicht das folgende Sd1ema: Formaler Idealismus

Annahme von Dingen an sich

Bedingtheit der Urteile durch Prinzipien a priori

Unabhängigkeit der Urteile von Prinzipien a priori (Empirismus)

Unzulässigkeit der Annahme von Dingen an sich (Rationalismus) Unzulässigkeit des formalen Idealismus

Hierbei müssen wir nun noch die erkenntnistheoretische Bedeutung des formalen Idealismus in Betracht ziehen. Erkenntnisse a posteriori sind für Kant solche, deren Grund im Gegebensein des Gegenstandes liegt, während Erkenntnisse a priori solche sind, die ihrerseits den Grund der Möglichkeit des Gegenstandes enthalten. Der Unter-

372

II. Teil: Rückschritte nach Kant

schied der Erkenntnis a priori und a posteriori wird hier also von Kant erklärt durd1 ein verschiedenes erkenntnistheoretisches Verhältnis, nämlich durch ein verse,.\.iiedenes kausales Verhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand. Diese erkenntnistheoretische Deutung zieht eine bemerkenswerte Konsequenz nach sich. Wenn man nämlich die Annahme der Dinge an sich aufgibt, so müßte man auch die Möglichkeit von Erkenntnissen a posteriori leugnen. Denn Erkenntnisse a posteriori setzen Dinge an sich als Gründe ihrer Möglichkeit voraus. Wir werden hier also zu einer rationalistischen Konsequenz gedrängt, wonach alle Erkenntnisse solche a priori sein müßten. Im anderen Fall dagegen, wenn wir, um die Annahme der Dinge an sich aufrechtzuerhalten, den Schluß ziehen, daß unsere Urteile nicht von Prinzipien a priori abhängen, kommen wir auf eine empiristische Konsequenz. So führt hier die Konsequenz des formalen Idealismus zu einer Erneuerung des alten Streites zwischen Rationalismus und Empirisnms. Und nur durch den Verzicht auf den formalen Idealismus werden wir in den Stand gesetzt, die Möglichkeit rationaler und empirischer Erkenntnis zu vereinigen. Dies letzte entspricht denn auch der kritischen Konsequenz. Durch diese Bemerkung zeigt sich bereits, wie die drei Schemata, die uns eine übersieht über die möglichen Fortbildungen der Kantischen Pilosophie geben, miteinander zusammenhängen. Der Zusammenhang des ersten, des methodischen Schemas, mit dem dritten, dem metaphysischen, ist ohne weiteres ersichtlich. Dem transzendentalen Vorurteil entspricht hier die rationalistische Konsequenz, dem psychologistischen dagegen die empiristische Konsequenz. Der Trennung von Kritik und System entspricht die kritische Konsequenz, die Aufhebung des formalen Idealismus. Wie hängt nun aber hiermit das zweite Schema zusammen? Wir haben auch in ihm den Gegensatz einer empiristischen und einer rationalistischen Konsequenz. Die rationalistische Konsequenz spaltet sich hier nur in zwei mögliche Deutungen, die des Logizismus und die des Mystizismus, gemäß den beiden möglichen Arten der Erkenntnis a priori, aus der die Metaphysik entspringen könnte. Wenn wir nämlich einen metaphysischen Rationalismus behaupten wollen, so bleiben

Die möglichen Fortbildungen der Kantischen Lehre

373

noch zwei Möglichkeiten, je nachdem wir die Erkenntnisquelle der Metaphysik in der Reflexion suchen oder sie in eine intellektuelle Anschauung verlegen. Im einen Fall kommen wir auf den metaphysischen Logizismus, im anderen auf den metaphysischen Mystizismus. Hiermit haben wir nun, was wir suchten: ein System zur Orientierung über die Entwicklung der Philosophie nach Kant. Ich will damit nicht behauptet haben, daß alle Philosophen, die nach Kant aufgetreten sind, uns den Gefallen täten, sich zwanglos in dieses System einzuordnen, so daß wir jedem von ihnen ohne weiteres eine bestimmte Stelle darin anweisen könnten, und noch dazu so, daß die Analogie zwischen den drei Schemata dabei gewahrt bliebe. Aber etwas anderes behaupte ich: Daß nämlich, wenn ein Philosoph sich nicht in der angegebenen Weise unserem System einordnet, dies an nichts anderem liegt als an einem Mangel an Folgerichtigkeit seines Denkens. Wir können schließlich diese verschiedenen Schemata in einem einzigen vereinigen, das zugleich eine Art Stammbaum darstellt für die Entwicklung der Philosophie nach Kant, indem es das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der verschiedenen Philosopheme voneinander zum Ausdruck bringt. Der gemeinsame Ausgangspunkt der weiterhin zu betrachtenden Philosopheme ist die Philosophie von Kant. Nun treten gemäß den gegebenen Auseinandersetzungen zunächst zwei grundverschiedene Auffassungen der Kantischen Vernunftkritik auseinander. Die eine ist die, die in den einzelnen Schemata immer an Stelle der sogenannten kritischen Konsequenz auftritt. Es ist die Auffassung, die dem Eigentümlichen der neuen Methode, die Kant die Kritik der Vernunft nannte, treu bleibt, während die andere Auffassung eine Umdeutung dieser kritischen Methode enthält, eine Umdeutung, die ich, um sie der kritischen Konsequenz entgegenzustellen und das Gemeinsame der durch sie ausgezeichneten Typen zu umfassen, kurz die erkenntnistheoretische Deutung nennen will. Denn sie läuft darauf hinaus, der kritischen und demgemäß subjektiven Begründung der Erkenntnis durch Zurückführung der mittelbaren Erkenntnis auf eine unmittelbare ein objektives Verhältnis unterzuschieben, nämlich das Ver-

II. Teil: Rückschritte nach Kant

374

hältnis der Erkenntnis zum Gegenstand. Die erkenntnistheoretische Deutung spaltet sich dann, gemäß dem durch das erste Schema Veranschaulichten, in die des Transzendentalismus und die des Psychologismus, je nachdem nämlich, ob man die als Erkenntnistheorie verstandene Kritik der Vernunft nach der Methode des transzendentalen Vorurteils oder nach der des psychologistischen Vorurteils (vom dritten Schema aus beleuchtet: in der Richtung der rationalistischen oder der empiristischen Konsequenz) entwickelt. Und da treten dann innerhalb des Transzendentalismus noch die beiden Möglichkeiten auseinander, die wir als die des meJ:aphysischen Logizismus und die des metaphysischen Mystizismus unterschieden haben.

~

Erkenntnistheorie

Kritizismus

T