Hymnus, Sequenz, Antiphon: Fallstudien zur volkssprachlichen Aneignung liturgischer Lieder im deutschen Mittelalter 9783110648799, 9783110646788

The volume assembles case studies on the vernacular adaptation of Latin hymns, sequences, and antiphons in the German Mi

276 68 2MB

German Pages 283 [284] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Hymnus, Sequenz, Antiphon: Fallstudien zur volkssprachlichen Aneignung liturgischer Lieder im deutschen Mittelalter
 9783110648799, 9783110646788

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Abteilung I: Hymnen
Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus
Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria
Sehen und Erkennen
Mischsprachigkeit
Abteilung II: Sequenzen
Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen
Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor und ihre niederrheinische Tagzeiten-Bearbeitung
Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder
Abteilung III: Antiphonen
Aneignungsformen der Antiphon Salve regina in spätmittelalterlichen Gebet- und Andachtsbüchern
Daz wir in dem tôde sweben
Index
Autorenverzeichnis

Citation preview

Hymnus, Sequenz, Antiphon

Liturgie und Volkssprache

Studien zur Rezeption und Produktion geistlicher Lieder in Mittelalter und Früher Neuzeit

Herausgegeben von Andreas Kraß

Band 3

Hymnus, Sequenz, Antiphon Fallstudien zur volkssprachlichen Aneignung liturgischer Lieder im deutschen Mittelalter

Herausgegeben von Andreas Kraß und Christina Ostermann

ISBN 978-3-11-064678-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064879-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064688-7 ISSN 2367-0312 Library of Congress Control Number: 2019940832 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Ausschnitt aus der Interlinearversion von „Veni creator spiritus“ in der Wiener Handschrift 2682. ÖNB Wien: Cod. 2682, fol. 160r. Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Andreas Kraß und Christina Ostermann Einleitung 1

Abteilung I: Hymnen Jessica Ammer Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

15

Matthias Standke Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria Überlegungen zu Umfang und Strophenfolge im Spannungsfeld von Liturgie und Volkssprache 37 Christina Ostermann Sehen und Erkennen Der Hymnus Ave vivens hostia und seine mittelalterlichen deutschen Übertragungen 65 Britta Bußmann Mischsprachigkeit Heinrich Laufenbergs Bearbeitungen der Antiphon Ave regina caelorum und des Hymnus Ave maris stella 94

Abteilung II: Sequenzen Andreas Kraß Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen Die Fallbeispiele Lauda Sion salvatorem und Stabat mater dolorosa Pavlina Kulagina Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor und ihre niederrheinische Tagzeiten-Bearbeitung Ein Fallbeispiel der Marienverehrung zwischen Liturgie und Privatandacht 172

125

VI

Inhaltsverzeichnis

David Murray Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder Das Fallbeispiel der Mariensequenz Salve mater salvatoris

193

Abteilung III: Antiphonen Lydia Wegener Aneignungsformen der Antiphon Salve regina in spätmittelalterlichen Gebet- und Andachtsbüchern 225 Lea Braun Daz wir in dem tôde sweben Die Antiphon Media vita in morte sumus und Hartmanns von Aue Erzählung Der arme Heinrich 249 Index 270 Autorenverzeichnis

278

Andreas Kraß und Christina Ostermann

Einleitung Der vorliegende Sammelband vereint neun Fallstudien zum ‚Berliner Repertorium‘, einer frei zugänglichen Online-Datenbank, die die volkssprachlichen Bearbeitungen lateinischer Hymnen, Sequenzen und Antiphonen im deutschen Mittelalter erschließt.1 Die Beiträge untersuchen die Hymnen Ave maris stella, Ave vivens hostia, Jesu dulcis memoria und Veni creator spiritus, die Sequenzen Lauda Sion salvatorem, Salve mater salvatoris und Stabat mater dolorosa sowie die Antiphonen Ave regina caelorum, Media vita in morte sumus und Salve regina misericordiae. Dies ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtzahl der deutschen Übersetzungen lateinischer geistlicher Lieder, die das ‚Berliner Repertorium‘ verzeichnet.2 Gleichwohl vermögen die Fallstudien einen Einblick zu geben in die Fülle der Fragen und Methoden, die sich mit der Erforschung dieser Textsorte verbinden.3 Neben genuin literaturwissenschaftlichen Ansätzen, die Aspekte der Überlieferungsgeschichte, Editionsphilologie und Übersetzungstheorie einschließen, kommt auch die Perspektive der Musikwissenschaft zur Geltung.

1. Hymnen Die Geschichte der christlichen Hymnen reicht in die Anfänge der Liturgie zurück.4 Als frühe Beispiele der westkirchlichen Tradition sind die Zwillingshymnen Gloria in excelsis Deo und Te Deum laudamus zu nennen, die in prosaischer Form

1 http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium (8. Juni 2019). 2 Bislang (Stand Juni 2019) wurden fast sechstausend deutsche Textzeugen zu annähernd vierhundert lateinischen Hymnen, Sequenzen und Antiphonen recherchiert. 3 Folgende Monographien und Sammelbände sind zu nennen (in der Reihenfolge ihres Erscheinens): Bärnthaler; Wachinger; Kraß: Stabat mater dolorosa; Nemes; Rothenberger, Wegener; Rothenberger. Anzuführen sind ferner die im ‚Verfasserlexikon‘ erschienenen Artikel zu deutschen Übertragungen lateinischer Hymnen, Sequenzen und Antiphonen sowie zwei Fallstudien zu den Mariensequenzen Ave praeclara maris stella und Mittit ad virginem: Kraß: „Ich gruess dich gerne“; Krass: Mittit ad virginem. 4 Zum Folgenden vgl. Gerhards, Lurz: Gloria in excelsis Deo; Gerhards, Lurz: Te Deum laudamus; Jaschinski u. a., Sp. 361; Bernt; Ebenbauer; Haubrichs, S. 246–250.  

Prof. Dr. Andreas Kraß, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur. Christina Ostermann, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-001

2

Andreas Kraß und Christina Ostermann

verfasst wurden. Als inhaltlich und formal stilbildend erwiesen sich die in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts entstandenen strophischen Hymnen des Ambrosius von Mailand. Inhaltlich dienen sie dem Lob des dreifaltigen Gottes, der Gottesmutter und der Heiligen. Formal bestehen sie aus Serien von meist acht identisch gebauten Strophen, die jeweils vier ungereimte Verse mit gleicher Silbenzahl umfassen. Sie weisen eine durchkomponierte Melodie auf, in der Regel kommt auf eine Silbe eine Note. Im achten Jahrhunderts ist für die monastische Feier ein Grundstock von einundzwanzig Hymnen fassbar, nämlich das ältere benediktinische Hymnar, das in der Folgezeit um einige Hymnen zu weiteren Heiligen- und Festtagen schrittweise erweitert wurde. Im früheren neunten Jahrhundert bildete sich ein neueres benediktinisches Hymnar aus, das bereits über dreißig Hymnen in veränderter Anordnung umfasste. Zu den bekanntesten Beispielen aus dieser Zeit zählt – neben dem Marienhymnus Ave maris stella – der traditionell Hrabanus Maurus zugesprochene Pfingsthymnus Veni creator spiritus. Im zehnten Jahrhundert umfasste der Kanon mehr als einhundert Hymnen, die das gesamte Spektrum liturgischer Anlässe abdeckten. Im weiteren Verlauf des Mittelalters kamen zahllose Neuschöpfungen hinzu, darunter der im zwölften Jahrhundert verfasste, traditionell Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Christushymnus Jesu dulcis memoria und der von Johannes Peckham im dreizehnten Jahrhundert verfasste Fronleichnamshymnus Ave vivens hostia. Die volkssprachliche Erschließung der lateinischen Hymnen setzte früh ein. Das älteste Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum sind die im ersten Viertel des neunten Jahrhunderts entstandenen, auf dem älteren benediktinischen Hymnar basierenden ‚Murbacher Hymnen‘.5 Bei dieser frühalthochdeutschen Bearbeitung handelt es sich nicht um eine Übersetzung im eigentlichen Sinne, sondern um eine Interlinearversion, d. h. volkssprachliche Glossen, die den lateinischen Text Wort für Wort erschließen. Der weitaus größte Teil der deutschen Übertragungen lateinischer Hymnen stammt freilich erst aus dem Spätmittelalter. Dabei überwiegt die Zahl der anonymen, oft im monastischen Umfeld entstandenen Prosaübertragungen bei weitem die Zahl der Versbearbeitungen, die vielfach von volkssprachlichen Liederdichtern wie dem Mönch von Salzburg oder Heinrich Laufenberg verfasst wurden.6 Während sich die Prosaübertragungen mit der Wiedergabe des Inhalts begnügen und eher dem Nachvollzug der Hymnen im Gebet dienen, suchen die Versübertragungen auch die Form ihrer lateinischen Vorlage wiederzugeben. Auf diese Weise ermöglichen sie die Sangbarkeit der deutschen Fassung auf die lateinische Melodie. Zum Hymnus Veni creator spiritus verzeich 

5 Vgl. Sonderegger; Haubrichs, S. 248–250. 6 Vgl. Bärnthaler.

Einleitung

3

net das ‚Berliner Repertorium‘ bislang (Stand: Juni 2019) vierundvierzig deutsche Übertragungen, die in einhundertundzehn Textzeugen überliefert sind. Zu Jesu dulcis memoria sind bislang dreizehn deutsche Übertragungen bekannt, die in siebenunddreißig Textzeugen dokumentiert sind. Zu Ave vivens hostia sind sieben deutsche Übertragungsgruppen erhalten, die in vierzehn Handschriften bezeugt sind. Jessica Ammer behandelt in ihrem Beitrag zu den gereimten Übersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus die volkssprachliche Rezeption des ältesten abendländischen Heilig-Geist-Hymnus. Sie erläutert zunächst den lateinischen Text in Bezug auf seinen Inhalt, die bislang erwogenen Autorzuschreibungen und Entstehungszusammenhänge, seinen formalen Aufbau und die älteste in der handschriftlichen Überlieferung erhaltene Melodie. Sodann wendet sie sich den deutschsprachigen Übertragungen zu, die seit dem zwölften Jahrhundert zahlreich überliefert sind. Es handelt sich um jene Reimpaarversionen, die Franz Josef Worstbrock und Julia Bauer in ihrem maßgeblichen ‚Verfasserlexikon‘-Artikel dokumentiert und kommentiert haben. Anhand aktualisierter Editionstexte setzt sie diese Übertragungen zu den lateinischen Vorlagen in ihrer jeweils rekonstruierbaren Form in Beziehung. Besonderes Augenmerk legt sie auf das Phänomen des ‚Bedeutungszuwachses‘, der sich im Übergang vom lateinischen zum deutschen Text beobachten lässt. Zu den betreffenden vier Übertragungen kann sie eine fünfte hinzufügen, die mit einem Textzeugen aus der Forschungsbibliothek Gotha (Cod. Chart. B 940, Bl. 214r–215v) unikal bezeugt ist. Matthias Standkes Beitrag zu den deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria, der sich mit Umfang und Strophenfolge dieses Liedes im Spannungsfeld von Liturgie und Volkssprache befasst, beginnt mit der Beobachtung, dass auch der lateinische Hymnus kein festes Konstrukt darstellt, sondern seinerseits eine im Laufe der Überlieferungsgeschichte veränderliche Größe. Anhand des mystisch geprägten Hymnus Jesu dulcis memoria legt er dar, wie sich sowohl das lateinische Lied als auch seine deutschsprachigen Übertragungen unabhängig voneinander weiterentwickeln. Dabei werden drei signifikante Tendenzen sichtbar. (1) Während die lateinische Vorlage fortlaufend erweitert wird, tendieren die deutschsprachigen Übertragungen zur Kürze. (2) Die deutschsprachigen Übertragungen gehen auf den rekonstruierten lateinischen Urtext zurück und ignorieren mehrheitlich die späteren Ergänzungen des lateinischen Textes. (3) Die Strophenfolge der lateinischen Vorlage wird in den deutschsprachigen Übertragungen beibehalten. Auf der Basis dieser Beobachtungen zeigt Standke anhand von drei charakteristischen Übertragungen auf, wie die deutschsprachigen Lieder die Dramaturgie des lateinischen Hymnus als „liturgische[n] Ankerpunkt“ bewahren und auf diese Weise auch in der deutschen Volkssprache eine „graduelle[] Liturgizität“ erzeugen.

4

Andreas Kraß und Christina Ostermann

Christina Ostermann untersucht in ihrem Beitrag zum Fronleichnamshymnus Ave vivens hostia das Verhältnis zwischen lateinischem Text und deutschen Übertragungen unter dem Gesichtspunkt, wie sie jeweils die Bedeutung von Sehen und Erkennen thematisieren. Insbesondere geht es um die Frage, wie der nichtliturgische Hymnus als performativer und erklärender Nachvollzug der Eucharistie fungiert. Entscheidend ist dabei die zeitliche Diskrepanz zwischen der Entstehung der lateinischen Vorlage bereits im dreizehnten Jahrhundert und der deutschen Übertragungen erst ab dem späten vierzehnten Jahrhundert. Während die Entstehung des lateinischen Hymnus im Zusammenhang mit der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre im Jahr 1215 und der Einführung des Fronleichnamsfests im Jahr 1264 zu sehen ist, setzen die deutschsprachigen Übertragungen erst zu einem Zeitpunkt ein, als Lehre und Fest längst etabliert sind. Daher stellt sich die Frage, inwiefern sich der Nachvollzug der Eucharistie in den deutschen Übertragungen als liturgiefernen geistlichen Liedern vom lateinischen Hymnus unterscheidet. Um diese Frage zu beantworten, untersucht Ostermann alle bekannten Versfassungen. Bislang lag nur die Übertragung des Mönchs von Salzburg (G 39: Ave, lebendes Oblat) in edierter Form vor; für zwei weitere Versfassungen werden nun erstmals Editionstexte bereitgestellt. Die Analyse der deutschen Bearbeitungen erfolgt mit Blick auf ihre formale und inhaltliche Nähe zur lateinischen Vorlage und zeigt die unterschiedlichen Vorgehensweisen auf, mit denen sie die theologischen und liturgischen Bezüge des lateinischen Hymnus in der Volkssprache nachzuahmen versuchen. So wird exemplarisch deutlich, wie die Übertragungen nicht nur zwei verschiedene Sprachen, sondern auch zwei verschiedene frömmigkeitsgeschichtliche Situationen miteinander vermitteln. Britta Bußmann nimmt sich des Phänomens der ‚Mischsprachigkeit‘ in Heinrich Laufenbergs Bearbeitungen des Hymnus Ave maris stella und der Antiphon Ave regina caelorum an. Es handelt sich um spezifische Übertragungsformen, die Elemente des lateinischen Ausgangstextes beibehalten und als ‚Glossenlieder‘ oder ‚mischsprachige Lieder‘ bezeichnet werden. Anhand der untersuchten Texte fragt Bußmann nach möglichen Funktionen der Mischsprachigkeit, um auf diese Weise Erkenntnisse über den intendierten Kreis der Rezipienten zu gewinnen. Im Falle des Gedichts Ave maris stella, bis grst ein stern im mer, einer Bearbeitung des Marienhymnus Ave maris stella, erweisen sich Lateinkenntnisse für das Verständnis der volkssprachlichen Bearbeitung als unerlässlich; daher ist anzunehmen, dass Laufenberg in diesem Fall ein lateinkundiges Publikum im Blick hatte. Hingegen lässt sich anhand des Glossenlieds Ave, bis grst, du himels port, einer Bearbeitung der Antiphon Ave regina caelorum, zeigen, wie Lateinkenntnisse das dargestellte Marienbild um eine zusätzliche Deutungsebene zu bereichern vermögen, wobei das Lied in seinen Grundzügen auch ohne Lateinkenntnisse durchaus rezipierbar bleibt. So veranschaulichen die beiden Fallbeispiele, wie ein auf

Einleitung

5

den ersten Blick ähnlich erscheinendes Bearbeitungsverfahren auf unterschiedliche Rezeptionskreise zielen kann.

2. Sequenzen Im Unterschied zum christlichen Hymnus, der bereits in der Spätantike entstand, handelt es sich bei der Gattung der Sequenz (auch ‚Prosa‘ genannt) um eine genuin frühmittelalterliche Schöpfung, die im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Stile ausprägte.7 Am Anfang steht der Typus des sogenannten Ersten Stils, der sich mit dem Namen Notkers I. von St. Gallen verbindet. Notkers um das Jahr 884 abgeschlossener Liber Ymnarum umfasst vierzig Sequenzen, die das gesamte Kirchenjahr begleiten.8 Formal stellt sich die Frühform der Sequenz als rhythmische Prosa dar, die strophisch gegliedert ist. Im Unterschied zum gleichstrophigen Hymnus besteht sie aus einer Folge verschiedenförmiger Strophen, die oft von einer Eingangs- und einer Schlussstrophe gerahmt werden. Während die Rahmenstrophen – Initium und Postludium – in der Regel nur einen Versikel (Versgruppe) umfassen, teilen sich die übrigen Strophen meist in je zwei gleichförmige Versikel, die Wechselgesang erlauben. Es korrespondieren also die Prinzipien der Variation (von Strophe zu Strophe) und Identität (innerhalb der Strophe); man spricht daher auch von ‚fortschreitender Repetition‘. Im zwölften Jahrhundert prägt sich der sogenannte Zweite Stil aus, der auf Adam von St. Viktor zurückgeht. Die Sequenz des neuen Typs ist formal reguliert; sie zeichnet sich durch strikte Einhaltung von Metrik, Rhythmus und Reim aus.9 Indem sie die Rahmung aufgibt und zur formalen Angleichung der Strophen neigt, nähert sie sich dem Hymnus an, hält aber an der Doppelversikelstruktur fest. Der Gattungsunterschied zwischen Hymnus und Sequenz lässt sich am Vergleich des Marienhymnus Ave maris stella und der Mariensequenz Ave praeclara maris stella illustrieren.10 Die Differenz zwischen Erstem und Zweitem Stil wird im Vergleich der Mariensequenzen Ave praeclara maris stella und Stabat mater dolorosa besonders deutlich.11 Das Konzil von Trient gebot der im späteren Mittelalter wuchernden Gattung Einhalt und beschränkte die Zahl der liturgischen Sequenzen auf die Ostersequenz Victimae paschali laudes (Wipo von Burgund), die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus (Stephan Langton), die Fronleichnamssequenz Lauda Sion

7 Vgl. Praßl; Bernt, Praßl; Schlager: Sequenz. 8 Vgl. Haefele, Sp. 1189–1192. 9 Vgl. AH 54, S. V–VII, bes. S. VI. 10 Vgl. Brinkmann: Voraussetzungen und Struktur. 11 Vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 73–77, 82 f.  

6

Andreas Kraß und Christina Ostermann

salvatorem (Thomas von Aquin) und die Totensequenz Dies irae (Thomas von Celano zugeschrieben). Im frühen achtzehnten Jahrhundert kam noch die Mariensequenz Stabat mater dolorosa hinzu (Jacopone da Todi zugeschrieben). Zwei kanonische Sequenzen, nämlich Lauda Sion und Stabat mater, sowie eine Sequenz Adams von St. Viktor, die nicht den Zuspruch des Konzils von Trient fand, nämlich Salve mater salvatoris, werden in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes näher behandelt. Die frühesten volkssprachlichen Übertragungen lateinischer Sequenzen entstanden im zwölften Jahrhundert. Es handelt sich um die Mariensequenzen aus Seckau und Muri, zwei frühmittelhochdeutsche Versbearbeitungen der von Hermann von Reichenau verfassten Mariensequenz Ave praeclara maris stella. Sie bewahren die Form ihrer Vorlage, passen aber den Inhalt an die Marienfrömmigkeit ihrer Zeit und ihres Milieus an.12 Auch im Falle der Sequenzen sind die Prosaübersetzungen meist unikal überliefert, die Versübertragungen von Liederdichtern wie dem Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich Laufenberg aber oft in zahlreichen Textzeugen. Das ‚Berliner Repertorium‘ verzeichnete im Juni 2019 zur Fronleichnamssequenz Lauda Sion zweiundzwanzig Übertragungen mit dreiundvierzig Textzeugen, zur Mariensequenz Stabat mater sechsundzwanzig Übertragungen mit einundvierzig Textzeugen und zur Mariensequenz Salve mater salvatoris elf Übertragungen mit vierundzwanzig Textzeugen. Andreas Kraß eröffnet das Kapitel zu den Sequenzen mit einem Beitrag zum Mönch von Salzburg. Am Beispiel der Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem und der Mariensequenz Stabat mater dolorosa untersucht er charakteristische Merkmale der Übersetzungspraxis des Mönchs. Für Lauda Sion zeigt er auf, wie das in der lateinischen Sequenz bereits angelegte poetologische Potential in der dem Mönch zugeschriebenen Übertragung Lob o Sion deinen hailer (G 41) gesteigert wird. Außerdem schlägt er vor, dass auch die Übertragung Deynen haylant lobe Syon (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3946, Bl. 470v–471r) vom Mönch oder aus dessen Umfeld stammt, zumal auch diese Bearbeitung die Tendenz zur poetologischen Selbstreflexion teilt. Während für das Lauda Sion die Rolle des Dichters im Fokus steht, lässt sich anhand der Übertragungen des Stabat mater die typologische Unterscheidung von konkurrierenden, kollaborierenden und kollektiven Übertragungsformen illustrieren. Mithilfe von drei Neufunden, die das in seiner Dissertation untersuchte Textkorpus ergänzen, gewinnt Kraß neue Erkenntnisse hinsichtlich der kollaborativen Übersetzungspraxis des Mönchs. Im Anschluss schlägt er vor, sich den Mönch von Salzburg weniger als

12 Vgl. Kunze: ‚Mariensequenz aus Muri‘; Kunze: ‚Mariensequenz aus Seckau‘; Brinkmann: Ave praeclara maris stella; Kraß: „Ich gruess dich gerne“; Rothenberger.

Einleitung

7

dichtende Einzelperson denn (im Sinne von Christoph März) als Mittelpunkt eines ‚Autorenkollektivs‘ zu denken: Das heißt, „dass er [der Mönch von Salzburg] Übersetzungen anderer Verfasser bearbeitete; dass andere Verfasser seine Übersetzungen bearbeiteten; dass verschiedene Verfasser dieselbe Vorlage übersetzten; dass ein Verfasser eine Vorlage mehrfach übersetzte.“ Mit dieser kollaborativen Arbeitspraxis bringt Kraß dann abschließend auch das zuvor beobachtete poetologische Selbstbewusstsein in Verbindung. Pavlina Kulagina widmet sich einer niederrheinischen Tagzeiten-Bearbeitung der aus der Feder Adams von St. Viktor stammenden Sequenz Salve mater salvatoris und beleuchtet sie als Beispiel einer Form der Marienverehrung, die zwischen Liturgie und Privatandacht angesiedelt ist. Bei der niederrheinischen Bearbeitung handelt es sich um eine nicht-sangbare Prosafassung, die Kulagina im Zusammenhang der spezifischen Überlieferungssituation und dem daraus ableitbaren Sitz im Leben betrachtet. Es geht um drei niederrheinische Stundenbücher im Besitz der Berliner Staatsbibliothek (Ms. germ. oct. 451; Ms. germ. oct. 499; Ms. germ. oct. 585), die einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die Marienverehrung legen und deutlich von der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna beeinflusst sind. Kulagina bietet zunächst einen Überblick über für das Verständnis der Sequenz wesentliche Grundzüge der mittelalterlichen Marienverehrung und skizziert dann die Bedeutung der Devotio moderna für die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxis. Im Anschluss wendet sie sich den Bearbeitungen des Salve mater salvatoris in den niederrheinischen Handschriften zu und analysiert Überlieferungssituation und -umfeld. Sie arbeitet heraus, dass die Sequenz in diesen Handschriften nicht als strukturelle Einheit, sondern in zergliederter Form begegnet, denn die Bestandteile werden verschiedenen Horen der ‚Goldenen Tagzeiten‘ zugeordnet. Kulagina bietet Transkriptionen der Passagen und identifiziert ihre lateinische Vorlage. Es zeigt sich, dass die niederrheinische Bearbeitung nicht die gesamte Sequenz berücksichtigt. Außerdem greift sie in die ursprüngliche Strophenreihenfolge ein und ergänzt sie um weitere, nur zum Teil identifizierbare Strophen. Mit Blick auf die „kompositorische Logik“ der Übertragung lässt sich zeigen, wie diese eine Narration entwickelt, die der lateinischen Vorlage fehlt, und so die Vorlage in ihren neuen Gebrauchskontext einpasst. David Murray untersucht in seinem musikwissenschaftlichen Beitrag die Versübertragungen des Mönchs von Salzburg in ihrer Eigenschaft als Lieder. Seine Forderung einlösend, dass deren Analyse einer ‚universale[n] Herangehensweise‘ bedürfe, die das Zusammenspiel von Text und Melodie berücksichtige, verbindet Murray literatur- und musikwissenschaftliche Methoden. Als Beispiel wählt er die (auch von Kulagina behandelte) Mariensequenz Salve mater salvatoris im Vergleich mit zwei Übertragungen des Mönchs von Salzburg (G 7: Salve, grüest pist, mueter hailes; G 8: Got grüeß dich, mueter unsers herren). Zunächst stellt er die la-

8

Andreas Kraß und Christina Ostermann

teinische Sequenz vor und zeigt Eigenheiten der Korrespondenz von Text und Melodie auf. Dann wendet er sich den Übertragungen des Mönchs zu, die sich nicht nur am Text, sondern auch an der Melodie des lateinischen Liedes orientieren. Die volkssprachlichen Bearbeitungen lassen deutliche Unterschiede zur lateinischen Vorlage erkennen (G 7 ist um klangliche Nachahmung bemüht, G 8 um inhaltliche Vorlagentreue), sind aber mit derselben Melodie überliefert, die sich als Variante der lateinischen Ursprungsmelodie erweist. Trotz ihrer Abweichungen stellt sich die Melodie als wesentliches Bindeglied zwischen den Übertragungen und der lateinischen Sequenz dar. Sie sichert die Rückbindung der Übertragungen an die Vorlage, aber auch die Verbindung der Übertragungen untereinander. Murray wertet das Nebeneinander der Übertragungen als unterschiedliche Versuche, die lateinische Sequenz in der Volkssprache erfahrbar zu machen.

3. Antiphonen Die spätestens im vierten Jahrhundert entstandene liturgische Gattung der Antiphon ist formal freier gestaltet als Hymnus und Sequenz.13 Ursprünglich handelt es sich um schlichte Kehrverse, die auf die im Stundengebet oder in der Messe gesungenen Psalmen antworten. Ihr Text geht oft auf die Psalmen oder die Tageslesung zurück. Manche Antiphonen – wie das berühmte Media vita in morte sumus – entwickelten sich zu selbständigen Gesängen. Eine wichtige Untergattung bilden die marianischen Antiphonen, die nicht mehr dem Psalter zugeordnet sind, sondern den Abschluss des täglichen Stundengebets bilden. Aus ihrer Fülle setzten sich vier durch: die zu Weihnachten gesungene Antiphon Alma redemptoris mater, die von Lichtmess bis Gründonnerstag verwendete Antiphon Ave regina caelorum, die zur Osterzeit gesungene Antiphon Regina caeli laetare und die in der übrigen Zeit gebrauchte Antiphon Salve regina misericordiae. Hinsichtlich ihrer Form erweist sich die Gattung der Antiphon als kurze Folge unterschiedlich langer Verse, die im Falle der selbständig gewordenen Antiphonen melismatisch reicher entfaltet sein können. Die Antiphon Media vita in morte sumus, die die Sterblichkeit des Menschen thematisiert, umfasst zehn Verse, die marianischen Antiphonen Ave regina und Salve regina acht beziehungsweise elf Verse. Während zum Ave regina nur fünf Übersetzungen bekannt sind, die in zwölf Handschriften bezeugt sind, lassen sich zum Salve regina zweiundfünfzig Übertragungen nachweisen, die in zweihundertundvierundsechzig Textzeugen überliefert sind. Zum Media vita sind bislang siebzehn Übertragungen mit fünfundzwanzig Textzeugen bekannt;

13 Vgl. von Huebner; Schlager: Antiphon; Heinz, Bretschneider.

Einleitung

9

außerdem wurde die Antiphon auf produktive Weise in der höfischen Erzählliteratur des Hochmittelalters rezipiert (Hartmann von Aue: Der arme Heinrich). Lydia Wegener befasst sich mit der Aneignung der überaus populären Antiphon Salve regina in spätmittelalterlichen Gebet- und Andachtsbüchern. Sie unterscheidet drei Typen der Aneignung, nämlich erstens Vers- und Prosaparaphrasen und Glossengedichte, zweitens glossierende Adaptationen und drittens glossierende Prosaübertragungen. Anhand von Einzelanalysen zeigt sie, wie sich diese Zugriffe auf die Antiphon unterscheiden. Während Paraphrasen und Glossengedichte einen auffallend kreativen und kritischen Umgang mit der Vorlage aufweisen, legen die glossierenden Adaptationen ein pragmatisches Interesse an den Tag, das strenger am Ausgangstext festhält. Besonderes Augenmerk legt Wegener auf die glossierenden Prosaübertragungen, insbesondere auf die Übertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit, die von der Forschung bislang kaum beachtet wurde, da sie sich nur in Details von ihrer lateinischen Vorlage unterscheidet. Doch gerade aufgrund ihrer Vorlagennähe bietet sie günstige Voraussetzungen für eine rezeptionsorientierte Analyse, die Wegener am Beispiel eines spätmittelalterlichen deutschen Mariengebetbuchs (Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek, Ms. germ. oct. 45) vorführt. Nach einem Überblick über den Codex untersucht sie die Antiphon hinsichtlich ihres unmittelbaren Textumfelds und zeigt bedeutungsverändernde wie bedeutungserweiternde Wechselbeziehungen zwischen dem Salve regina und seinen Begleittexten auf. Anschließend liest Wegener die Antiphon als Element des Gesamtprogramms der Handschrift und rekonstruiert auf diese Weise zugleich das Profil des Gebetbuchs. Insofern es insgesamt auf die Sterbestunde des Menschen ausgerichtet ist, stellt sich auch die Prosaauflösung des Salve regina als ein Text dar, der den Gläubigen auf den Tod vorbereitet. Wegener zeigt an diesem Fallbeispiel, wie spezifische Lesarten und Rezeptionsformen übersetzter liturgischer Lieder aus der Komposition einer Handschrift abgeleitet und somit neue Erkenntnisse spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraktiken gewonnen werden können. Der abschließende Beitrag zeigt an einem spektakulären Beispiel auf, dass auch die höfische Epik des Hochmittelalters für die Frage nach der volkssprachlichen Auseinandersetzung mit lateinischen geistlichen Liedern in hohem Maße relevant sein kann. Lea Braun legt dar, dass Hartmanns von Aue Erzählung Der arme Heinrich als frühester volkssprachlicher Zugriff auf die lateinische Antiphon Media vita in morte sumus zu werten ist. Die Novelle zitiert und paraphrasiert die Antiphon nicht nur, sondern stellt als solche gewissermaßen einen narrativen Tropus auf die Antiphon dar. Nach einer Vorstellung des lateinischen Textes gibt Braun zunächst einen Überblick über die erst im Spätmittelalter einsetzende Tradition der deutschsprachigen Übertragungen der Antiphon, die deutlich zahlreicher sind als bislang vermutet. Anschließend leitet sie aus der Referenz auf das

10

Andreas Kraß und Christina Ostermann

Media vita einen Ansatzpunkt für eine theologische Analyse nicht nur von Hartmanns Novelle, sondern auch seines erzählenden Werks insgesamt ab. Statt sich wie die bisherige Forschung allein auf den Hiob- und Absalom-Vergleich zu stützen, demonstriert Braun die Relevanz der Antiphon für den Armen Heinrich. Sie betrifft das zentrale Thema der Antiphon, nämlich die Simultanität von Leben und Tod, die daraus resultierende notwendige Hinwendung zu Gott und die implizite Chronologie von Krise, Suche und Hinwendung zu Gott. Die Antiphon fungiert also nicht nur als Sentenz, sondern geradezu als Rezeptionsanweisung für die Lektüre der Erzählung.

4. Literaturverzeichnis AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Bärnthaler, Günther: Übersetzen im deutschen Spätmittelalter. Der Mönch von Salzburg, Heinrich Laufenberg und Oswald von Wolkenstein als Übersetzer lateinischer Hymnen und Sequenzen. Göppingen 1983 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 371). Bernt, Günter: Hymnen, Hymnographie: I. Lateinisches Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 245 f. Bernt, Günter, Franz Karl Praßl: Sequenz. In: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 1770–1773. Brinkmann, Hennig: Ave praeclara maris stella in deutscher Wiedergabe. Zur Geschichte einer Rezeption. In: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Besch u. a. Berlin 1974, S. 8–30. Brinkmann, Hennig: Voraussetzungen und Struktur religiöser Lyrik im Mittelalter. In: Mittellateinisches Jahrbuch 3 (1966), S. 37–54. Ebenbauer, Alfred: Hymnendichtung. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 374–376. Gerhards, Albert, Friedrich Lurz: Gloria in excelsis Deo. In: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (1995), Sp. 751 f. Gerhards, Albert, Friedrich Lurz: Te Deum laudamus. In: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (2000), Sp. 1306–1308. Haefele, Hans F.: Notker I. von St. Gallen. In: 2VL 6 (1987), Sp. 1187–1210. Haubrichs, Wolfgang: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). Frankfurt a. M. 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I,1). Heinz, Andreas, Wolfgang Bretschneider: Marianische Antiphonen. In: Lexikon für Theologie und Kirche 6 (1997), Sp. 1357–1359. von Huebner, Dietmar: Antiphon. In: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 719–722. Jaschinski, Eckhard u. a.: Hymnus. In: Lexikon für Theologie und Kirche 5 (1996), Sp. 361–369. Kraß, Andreas: „Ich gruess dich gerne“. Aspekte historischer Intertextualität am Beispiel von gereimten deutschen Übersetzungen der Mariensequenz ‚Ave praeclara maris stella‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf  









11

Einleitung

Bentzinger, Ulrich-Dieter Oppitz, Jürgen Wolf. Stuttgart 2013 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 18), S. 301–314. Kraß, Andreas: Mittit ad virginem. Die Bearbeitungen der Mariensequenz durch den Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich von Laufenberg. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 193–219. Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. Kunze, Konrad: ‚Mariensequenz aus Muri‘. In: 2VL 6 (1987), Sp. 50–54. Kunze, Konrad: ‚Mariensequenz aus Seckau‘. In: 2VL 6 (1987), Sp. 54–56. Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1). Nemes, Balázs J.: Das lyrische Œuvre von Heinrich Laufenberg in der Überlieferung des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen und Editionen. Stuttgart 2015 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beihefte 22). Praßl, Franz Karl: Sequenz. In: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (2000), Sp. 476–477. Rothenberger, Eva: ‚Ave praeclara maris stella‘. Poetische und liturgische Transformationen der Mariensequenz im deutschen Mittelalter. Berlin, Boston 2019 (Liturgie und Volkssprache 2). Schlager, Karlheinz: Antiphon. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 40 f. Schlager, Karlheinz: Sequenz. In: Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart 1992, S. 752 f. Sonderegger, Stefan: Murbacher Hymnen. In: 2VL 6 (1987), Sp. 804–810. Wachinger, Burghart: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989 (Hermaea 57).  



Abteilung I: Hymnen

Jessica Ammer

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus Der Hymnus Veni creator spiritus zählt zu den berühmtesten und schon im Mittelalter am häufigsten übersetzten Hymnen. Er gilt als ältester abendländischer Hymnus, der auf den Heiligen Geist verfasst wurde, und als einziger antiker Hymnus, der bis heute von allen großen Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, übernommen wurde. Er findet sich ab dem elften Jahrhundert in Handschriften aus Deutschland, England, Frankreich, der Schweiz, Italien und Spanien. Franz Josef Worstbrock und Julia Bauer haben zahlreiche mittelalterliche deutsche Übertragungen dieses Hymnus für ihren Artikel im Verfasserlexikon recherchiert und systematisiert.1 Im vorliegenden Beitrag sollen die von Worstbrock und Bauer verzeichneten Reimpaarübertragungen näher betrachtet werden. Außerdem soll eine neu entdeckte Reimpaarübertragung aus dem Gothaer Codex Chart. B 940 vorgestellt werden, die sich von den bisher bekannten Reimpaarübersetzungen unterscheidet.

1. Der lateinische Hymnus Seit dem neunten Jahrhundert ist der Hymnus Veni creator spiritus im ganzen Abendland verbreitet. Schon früh findet er Eingang ins Breviarum Romanum. Seit dem zehnten Jahrhundert wird er im Stundengebet während der Pfingstoktav gesungen. Im Pontificale Romanum ist er Bestandteil der Liturgie der Bischofs-, Priester- und Kirchenweihe sowie der Ordensprofess. Der Hymnus ist somit ein „Kerntext des abendländischen kirchlichen Betens“2. Kein anderer Hymnus erfuhr bis heute einen so durchgängigen Gebrauch.

1 Vgl. Worstbrock, Bauer, Sp. 214–224. 2 Langenbahn, Sp. 592. Jessica Ammer, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Abteilung für germanistische Linguistik.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-002

16

Jessica Ammer

1.1 Text Der lateinische Text, der wahrscheinlich durch die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus sowie Ambrosius’ Weihnachtshymnus Veni redemptor gentium angeregt wurde, ist in zahlreichen Handschriften überliefert. Clemens Blume und Guido Maria Dreves verzeichnen in ihren Analecta hymnica 18 ältere Textzeugen und James Mearns zählt in seinen Early Latin Hymnaries 82 Hymnare, die diesen Hymnus beinhalten, unter diesen zehn, die schon bei Dreves und Blume verzeichnet sind.3 Im folgenden Abdruck des Textes stütze ich mich hauptsächlich auf die von Dreves und Blume, Mearns sowie Franz Joseph Mone4 (‚Lateinische Hymnen des Mittelalters‘) genannten Handschriften und habe weitere nur dann eingesehen, wenn die Beschaffung unproblematisch war. Wie schon Heinrich Lausberg anmerkte, sind in den Analecta hymnica nicht alle Varianten verzeichnet.5 So weist der Apparat z. B. nicht auf die verschiedenen Lesarten bei Christoph Brouwer (Mainz 1617, hier Sigle B) hin, der als Grundlage seiner Edition eine aus Fulda stammende Handschrift verwendete.6 Diese Handschrift ist deswegen von Bedeutung, da sie die einzige nicht-liturgische Handschrift ist, die den Hymnus bezeugt. Von dieser sind heute nur noch wenige Bruchstücke erhalten, die jetzt Teil der Einsiedler Miscellan-Handschrift Einsiedeln, Stiftsbibliothek, cod. misc. 266 sind, die den Hymnus allerdings nicht mehr enthalten. Außerdem soll auf den vermutlichen Urtext sowie auf Lausbergs Konjekturen (Sigle N) aufmerksam gemacht werden. Die hier angeführten Varianten stellen keinen vollständigen textkritischen Apparat dar, sondern werden nur dann verzeichnet, wenn sie für das Verständnis der deutschen Übersetzungen hilfreich sind. Orthographica bleiben im Apparat weitgehend unberücksichtigt; sie werden nur in denjenigen Fällen mitgeteilt, in denen die Varianten den Sinn verändern. Beim Abdruck der deutschen Übertragungen wird kein Ausgleich etwa von i und j, bzw. u und v vorgenommen. Strophenanfänge werden mit Majuskeln markiert und es wird eine Interpunktion gemäß heuti 

3 Vgl. Dreves, Blume, Bd. 50, S. 193 f., Nr. 144 sowie Mearns, S. 89. Bei den zehn Hymnaren, die sowohl in den Analecta hymnica als auch bei Mearns verzeichnet sind, handelt es sich um: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 17027; Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Ross. VIII. 144; Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 7172; Paris, Französische Nationalbibliothek, Ms. lat. 1092; Rom, Biblioteca Nazionale Centrale ‚Vittorio Emanuele‘, Farf. 4; Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Ott. lat. 145; Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 5776; Rom, Biblioteca Vallicelliana, Cod. C 79; Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Conv. sup. 524; Paris, Französische Nationalbibliothek, Ms. lat. 1235. 4 Vgl. Mone, S. 242. 5 Vgl. Lausberg, S. 21. 6 Vgl. Brouwer, S. 74.  

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

17

gem Sprachgebrauch ergänzt. Die Siglen verweisen auf folgende Handschriften: C = München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 27305; D = Durham, Cathedral Library, B.III.32; D1 = Trier, Stadtbibliothek, Hs. 592; G = Paris, Französische Nationalbibliothek, Ms. lat. 1092; H = Rom, Biblioteca Nazionale Centrale ‚Vittorio Emanuele‘, Farf. 4; L = Verona, Biblioteca Capitolare, Cod. Veronensis CIX [102]; R = München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14528. I

Veni, Creator Spiritus: mentes tuorum visita! imple superna gratia, quae tu creasti pectora!

II

Qui Paracletus diceris, donum Dei altissimi, fons vivus, ignis, caritas et spiritalis unctio:

III

Tu septiformis munere, dextrae Dei tu digitus, tu rite promisso Patris sermone ditans guttura.

IV

Accende lumen sensibus, infunde amorem cordibus, infirma nostri corporis virtute firmans perpeti:

V

Hostem repellas longius pacemque dones protinus: ductore sic te praevio vitemus omne noxium:

VI

Per te sciamus da Patrem noscamus atque filium, te utriusque Spiritum credamus omni tempore!

VII

Praesta hoc, Pater piissime Patrique compar unice cum Paraclito Spiritu regnans per omne saeculum!

 I,1 crator B; veni sancte creator D1. I,3 gratie D1. I,4 quae tu] tu que I. II,1 deique donum Mone; paraclitus R; Strophenreinfolge in R: I, II, IV, III, V, VI. II,3 vivis D1; ignis] om. B. III,1 munere] gracie R.

18

III,2 III,3 III,4 IV,3 IV,4 V,2 VI,3 VII,3

Jessica Ammer

dexterae G. promissum B. ditas D7; gutture D1. pectoris L. perpetim CHL. donans L. Mone: „te für et haben alle, ein Schreibfehler, der sich festgesetzt hat“8. cum spiritu paracleto B.

Die hier vermerkten Varianten sind insofern wichtig, als sie offensichtlich auch in den lateinischen Vorlagen der deutschen Übertragungen enthalten waren. Ich habe mich in III,3 gegen die u. a. bei Brouwer und Lausberg zu findende Lesart promissum Patris entschieden und folge stattdessen dem auch in den Analecta hymnica abgedruckten und in vielen Handschriften bezeugten promisso Patris. Lausbergs Annahme, dass der ursprüngliche Text promissum enthielt, begründet er mit dem ‚Zusammenwachsen‘ des Nasalkompendiums über dem auslautenden u zu o und mit dem „technischen Sinn“9 des im Synodenzusammenhang mehrmals bezeugten promissum Patris | sermone. Dieser Erklärung kann ich mich nicht anschließen. Lausberg bietet ebenfalls eine – und meines Erachtens überzeugendere – Erklärung für die auch von mir gewählte Variante: Das auf das sermone zu beziehende promisso verleiht durch dessen attribuierende Funktion eine christologische Sinnrichtung, die auf NT Luc. 1,2 zu beziehen wäre: ministri fuerunt sermonis. Auch wenn Lausberg mit seiner Vermutung, die Form promissum sei die ursprüngliche, richtigläge, so ist doch im Hinblick auf die volkssprachlichen deutschen Übersetzungen zu sagen, dass der Großteil derer, die die dritte Strophe auch im Lateinischen enthalten, ebenfalls promisso aufweist.10 Demnach haben zumindest diese Übersetzungen auf diese Vorlage zurückgegriffen.  

1.2 Verfasser Der Hymnus wurde in der Vergangenheit u. a. Ambrosius, Gregor dem Großen und Hrabanus Maurus zugeschrieben; einige sprachen sich sogar für Karl den  

7 Edition: Stevenson, S. 92 f. 8 Mone, S. 243. 9 Lausberg, S. 22. 10 So Basel, Universitätsbibliothek, A XI 58, Bl. 68v–69r; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 427, Bl. 36v–37v; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Aug. 72, Bl. 26vb–27ra; Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 137, Bl. 153r–154r; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2682, Bl. 160r; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14698, Bl. 41r.  

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

19

Großen aus.11 Die behaupteten Autorzuschreibungen und Entstehungsumstände sind spekulativ. Doch spricht vieles dafür, dass der Hymnus ins neunte Jahrhundert zu datieren und im Zusammenhang der Aachener Filioque-Synode von 809 zu sehen ist. Es wird vermutet, dass der Hymnus die Teilnehmer der Synode bereits darauf vorbereiten sollte, dass dem kaiserlichen Auftrag der Aufnahme des Filioque in das Glaubensbekenntnis entsprochen werde. Dieses Jahr kann laut Franz Josef Worstbrock und Julia Bauer zumindest als terminus a quo gelten.12 Aufgrund des vermuteten Entstehungsanlasses nehmen u. a. Dreves und Blume und Lausberg Hrabanus Maurus als Verfasser an, dem sie ein Gespür für die kirchenpolitische Lage seiner Zeit zuschreiben. Lausberg sieht außerdem in der sechsten Strophe einen Beleg für die Verbindung zwischen der Synode und dem Hymnus. Nach seiner Auffassung gibt VI,3 den Inhalt des theologischen Vorhabens der Synode wieder: te utriusque Spiritum, während IV,4 „die kirchenpolitische Intention der Synode in bezug (sic!) auf den theologischen Inhalt formuliert“13: credamus omni tempore. Sollte Hrabanus tatsächlich der Verfasser sein, so wäre der Entstehungsort in Fulda anzusetzen, wo er erst als Lehrer und später als Abt wirkte. Szövérffy bezeichnet diese Autorzuschreibung als „frommen Wunsch“14 und zitiert Frederic James Edward Raby:  

[A]n uncertain tradition assigns to him the famous ‚Veni creator spiritus‘, the solemn hymn of consecration sung when pontiffs and kings are crowned, at the election of bishops and at the translation of holy relics. If, however, it cannot be proved that this splendid hymn is the work of Raban, it is certain that it belongs to the ninth century und is a fruit of the Carolingian Renaissance.15

Gleichwohl scheint es in der heutigen Forschung Einigkeit darüber zu geben, Hrabanus die Verfasserschaft zuzuschreiben. Eine erste Verwendung des Hymnus ist in den Berichten über das Konzil von Reims 1049 zu finden: sed ad ejus adventum clerus decentissime cecinit hymnum, Veni creator Spiritus.16 Spätestens seit diesem Jahr hatte der Hymnus seinen festen Platz in der Liturgie. Auch durch die weite Verbreitung des Hymnus, auf die man durch die Vielzahl der erhaltenen Überlieferungsträger schließen kann, ist von einer schon früheren Verwendung in Kirchen und Klöstern auszugehen.

11 12 13 14 15 16

Vgl. Worstbrock, Bauer, Sp. 214. Vgl. ebd., Sp. 215. Lausberg, S. 140. Szövérffy, S. 220. Raby, S. 183. Mansi, S. 740.

20

Jessica Ammer

1.3 Form Der Hymnus Veni creator spiritus weist mit der Pfingstsequenz Veni sancte spiritus,17 von der er nach allgemeiner Auffassung angeregt oder beeinflusst wurde, einige Parallelen auf.18 Beide gehören zu den wenigen geistlichen Gesängen, die sich an den Heiligen Geist wenden. Lausberg betont, dass sich die „Gewichtigkeit des einleitenden Imperativs […] für das liturgische Pfingstfest aus der ‚Ankunft‘ des Heiligen Geistes“19 ergebe und so sei die Entstehung sowohl der Sequenz Veni sancte spiritus als auch der titelgleichen Antiphon zu verstehen. Die Komposition verweist auf den Inhalt des Hymnus. Die ursprünglich sieben Strophen spielen auf die sieben Gaben des Heiligen Geistes an, jedoch nicht in der Gestalt wie sie bei Jesaja vorkommen (Is. 11,2 f.),20 sondern in der umgekehrten ‚pädagogischen‘ Reihenfolge, wie sie seit Augustinus üblicherweise Verwendung findet.21 Die Siebenzahl wird in der dritten Strophe ausdrücklich erwähnt: septem munera. Die Strophen I bis III dienen als Exposition. Der Heilige Geist wird in Strophe I in drei Bitten angerufen (I,1: veni, 2: visita, 3: imple) und in Strophe II als Tröster und Geschenk Gottes benannt (II,1: paraclitus, 2: Deique donum), um schließlich in Strophe III im Höhepunkt als Finger der rechten Hand Gottes bezeichnet zu werden (III,2: dextrae Dei tu digitus22). In den nächsten drei Strophen wird der Heilige Geist durch Bitten und Aufforderungen angesprochen. Legt man den oben genannten Entstehungsanlass zugrunde, läuft der Hymnus auf die zentrale Stelle in VI,3 hinaus, in der um den Glauben an jenen Geist gebeten wird, der zu beiden gehört: Vater und Sohn (filioque). Die siebte, doxologische oder Gloria-Strophe variiert; sie stellt eine sogenannte „Wanderstrophe“23 dar, die in der Praxis ausgelassen oder durch eine andere doxologische Strophe ersetzt werden konnte. Worstbrock und Bauer nehmen die Gestalt bzw. Prä- oder Absenz der doxologischen Strophe als Anhaltspunkt für die Einteilung des Hymnus in Gruppen und Redaktionen.  

17 Vgl. Dreves, Blume, Bd. 54, S. 234–239, Nr. 153. 18 Der hier wiedergegebene Aufbau des Hymnus stellt nur einen Überblick dar. Zu den Bezügen zu Bibelstellen und anderen Werken siehe Lausbergs Werk zum Hymnus. 19 Lausberg, S. 179. 20 Vgl. Is. 11,2: et requiescet super eum spiritus Domini spiritus sapientiae et intellectus spiritus consilii et fortitudinis spiritus scientiae et pietatis 3 et replebit eum spiritus timoris Domini non secundum visionem oculorum iudicabit neque secundum auditum aurium arguet. 21 Vgl. Augustinus, 2.7.9–11. 22 Vgl. hierzu den Aufsatz von Andreas Kraß (siehe Literaturverzeichnis). 23 Weismann, S. 381.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

21

Die Metrik des Textes weist starke Ähnlichkeiten zum Versmaß des iambischen Quatenars auf. Typischerweise enthält der lateinische Hymnentext keinerlei Reime. Erst wesentlich später, um die Jahrtausendwende, wird der Reim, insbesondere der Paarreim, prominenter und stellt u. a. auch hohe Ansprüche an Melodien und Sangbarkeit, damit die Kohärenz des gesamten Textes erhalten bleibt und nicht in Zeilenpaare zerfällt. Manche Textänderungen vor allem in humanistischer Zeit sind womöglich dadurch zu erklären, dass versucht wurde, ein möglichst reines Metrum zu schaffen. Im Grunde kann man sagen, dass es sich bei dem Metrum um jenen akatalektischen iambischen Dimeter handelt, in dem beispielweise auch Venantius Fortunatus seinen Hymnus Vexilla regis erfasste. Dass es sich dabei nicht mehr um klassische quantitierende, sondern um akzentuierende Betonungen handelt, ist z. B. sehr gut an III,2 dextrae Dei tu digitus zu erkennen. Hiat wird einmal durch Synaloephe gemieden (IV,2: infunde amorem cordibus), bleibt jedoch auch zweimal stehen (II,2: donum Dei altissimi und VI,3: te utriusque Spiritum). Lausberg gibt hierfür weitere Beispiele aus der Hymnendichtung.24 Die älteste überlieferte Melodie zu diesem Hymnus findet sich in einem Hymnar aus Kempten (das sogenannte ‚Kemptener Hymnenbuch‘, das unter der Signatur Rh. 83 in der Züricher Zentralbibliothek liegt), das wohl um das Jahr 1000 entstanden ist. Dort steht sie als Melodie zu dem Osterhymnus Hic est verus, sie wurde im achten Kirchenton verfasst.25 Dass eine Melodie auf mehrere Hymnen bezogen wird, war durchaus üblich, da es keinen festen Melodie-Text-Zusammenhang gab. Jürgen Henkys nimmt allerdings an, dass es sich hierbei um die ursprüngliche Melodie des Hymnus Veni redemptor gentium des Ambrosius gehandelt haben könnte.26  



2. Die deutschen Übertragungen Seit dem zwölften Jahrhundert finden sich zahlreiche Übertragungen in die deutsche und andere Volkssprachen. Herbert Ulrich weist darauf hin, dass es aufgrund der im Gegensatz zum Lateinischen höheren Bedeutung des Wortakzentes in der deutschen Sprache eine große Schwierigkeit darstellt, den äußerst synthetischen Sprachbau des Lateins zu imitieren und eine Übertragung zu formulieren, die dieselbe Silbenzahl vorweist.27 Es wird sich zeigen, dass von den hier unter24 25 26 27

Vgl. Lausberg, S. 34. Vgl. hierzu z. B. Keil, S. 37–39. Vgl. Henkys, S. 606, zitiert nach Suarsana, S. 153. Vgl. Ulrich, S. 5.  

22

Jessica Ammer

suchten Übertragungen nur eine einzige diesen Aufbau zumindest annähernd ohne größere Eingriffe umsetzen kann.28 Den übrigen Fassungen fehlt ein erkennbares regelmäßiges Versmaß; daher ist es unwahrscheinlich, dass sie zu der überlieferten oder zu einer anderen Hymnenmelodie gesungen wurden. Worstbrock und Bauer teilen die mittelalterlichen Übersetzungen des Hymnus in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe umfasst den Komplex der Interlinearversionen bzw. Kontextglossierungen. Die zweite Gruppe enthält 17 oberdeutsche, vier mittel- und niederdeutsche sowie eine mittelniederländische Prosaübersetzung. Zur dritten Gruppe zählen vier Reimpaarübersetzungen.29 Hinsichtlich der lateinischen Vorlagen unterscheiden Worstbrock und Bauer eine sechsstrophige Grundfassung A (Str. I–VI), drei siebenstrophige Redaktionen B bis D und eine achtstrophige Redaktion E.30 Redaktion B erweitert die Grundfassung um die interpolierte Strophe Va (Da gaudiorum praemia, | Da gratiarum munera, | Dissolve litis vincula, | Astringe pacis foedera). Redaktion C ergänzt die doxologische Schlussstrophe VIIa (Sit laus patri cum filio, | Sancto simul paraclito, | Nobisque mittat filius | Charisma sancti spiritus), die im Codex Paris, Französische Nationalbibliothek, nouv. acq. lat. 1235 zu finden und für unseren Hymnus z. B. in R (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14528) nachgewiesen ist. Redaktion D weist die doxologische Schlussstrophe VIIb (Gloria Patri Domino | Natoque, qui ex mortuis | Surrexit ac paraclito | In sempiterna saecula) auf. Redaktion E fügt sowohl die interpolierte Strophe Va als auch die doxologische Schlussstrophe VIIa hinzu.31 Zu den von Worstbrock und Bauer verzeichneten 44 handschriftlichen und gedruckten Textzeugen kommen nach den Recherchen des Berliner Repertoriums nun über 100 weitere hinzu.32 Diese lassen sich teilweise in die von Worstbrock und Bauer genannten Gruppen einordnen. Es können aber auch neue Gruppen identifiziert werden, deren Varianten hier erstmals berücksichtigt werden.  

28 Hierbei handelt es sich um die Übertragungsgruppe III,25 (Kvm schöpffer heiliger geist | gemut der dynen heymbeleist). Anhand des vorliegenden Druckes L wurde so vorsichtig emendiert, dass ein regelmäßiges Schema erkennbar ist. 29 Vgl. Worstbrock, Bauer, Sp. 214–224. 30 Vgl. ebd. Sp. 218. 31 Die Zusatzstrophen sind zitiert nach Dreves, Blume, Bd. 50, S. 194. 32 Vgl. den Eintrag zum Veni creator spiritus im Berliner Repertorium: http://opus.ub.hu-berlin. de/repertorium (10. September 2018).

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

23

2.1 Die bisher bekannten Reimpaarübersetzungen Zunächst seien die vier bislang bekannten, von Worstbrock und Bauer im Verfasserlexikon angeführten Reimpaarübersetzungen besprochen. Die erste Gruppe (Incipit [Inc.] Chum schepfaer heiliger geist) wird von Worstbrock und Bauer unter der Nummer III,23 geführt und der Redaktion B zugeordnet. Sie weist die Zusatzstrophe Va auf, aber keine abschließende Doxologie. Yan Suarsana hat den Text neu ediert und unter formalen Gesichtspunkten besprochen.33 Die Edition berücksichtigt folgende Textzeugen: die Handschriften T (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 25, Bl. 95r–96r; 14. Jh.),34 G (Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 878, Bl. 124r–125r; 1. Viertel des 14. Jh.s oder 2. Hälfte des 13. Jh.s), W (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2745, Bl. 166v–168r; 1. Hälfte des 14. Jh.s), S (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 48, Bl. 130r–131v; 1490) und K (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 48, Bl. 108v–109v; 15. Jh.)35 sowie den Druck D (‚Die sieben Zeiten unserer lieben Frauen etc.‘ [Urach: K. Fyner], Bl. 103v–104v; 1482).36 Handschrift S wurde laut der Beschreibung von Fiala und Irtenkauf „in enger Anlehnung an einen Uracher Druck von 1480“37 geschrieben. Dass es sich dabei tatsächlich um den Druck D handelt, ist wegen der doch sehr erheblichen Unterschiede nicht eindeutig nachweisbar. Suarsana versucht, auf dieser Überlieferungsbasis die „wahrscheinlich ursprüngliche Fassung“38 herzustellen. Ich stütze mich hier und bei allen folgenden Transkriptionen auf die textkritisch verwertbaren Argumente. Dialektale und lediglich auf anderen Schreibweisen basierende Lesarten, die nicht relevant für eine textkritische Auswertung sind, werden zwar der Vollständigkeit halber im Apparat erwähnt, können ansonsten aber vernachlässigt werden. Diakritika ohne offensichtliche Funktion bleiben weitestgehend unberücksichtigt. Mir nicht verständliche Argumente und offensichtliche Lesefehler, die Suarsana in ihrer ‚Rekonstruktion‘ anführt, übergehe ich und biete stattdessen meine eigene Deutung an. Als Leithandschrift stütze ich mich auf einen der älteren Textzeugen, nämlich Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 25 (T). Die Varianten werden im Apparat vermerkt. Auf die einzelnen Textzeugen der ersten Fassung

33 Vgl. Suarsana, S. 151–170. Frühere Editionen nach der Wiener Handschrift finden sich bei Haupt, Fallersleben, S. 379, und Wackernagel, S. 44, Nr. 46. 34 Suarsana, S. 154, nennt als Datierung das dreizehnte Jahrhundert. 35 Diese Handschrift wird nicht bei Worstbrock, Bauer erwähnt. Sie ist der Übertragungsgruppe III,23 zuzuordnen. 36 Suarsana, ebd., nennt als Datierung das Jahr 1481. 37 Fiala, Irtenkauf, S. 67. 38 Suarsana, S. 155.

24

Jessica Ammer

gehe ich nicht mehr näher ein, da Suarsana dies schon mehr oder weniger ausführlich getan hat. Gruppe I I

[K]vm, schepfær heiliger geist! Heimsuch der dinen mut, als dv weist. Erfulle mit der obristen gnaden glast die herze, die du geschepfet hast.

II

Sit dv ein trostær bist genant, des obristen gotes gabe erkant, ein lebendiger brunne, ein fivrin rost, die ware minne, der sele trost.

III

Dv sibentfaltige gabe, dv vinger, der gotes zeswe her habe, dv richest der dinen munt vnde machest in wort vnd sprache kvnt.

IV

Enzvnde, erlvhte vnser sinne, vnser herze begevz mit diner minne. Vnsers libes krancheit sterke mit diner tugent breit.

V

Vertrip den vint von vns, gib vns den vride gotes svns, daz wir von dines geleites wisheit miden alle bosheit.

Va

Gib vns der vrevden lon, gib vns der gnaden gabe schon. Entslevz vns des strites bant, bestætige vns des vrides lant.

VI

Daz wir in den drin genennen den vater vnd den svn erkennen. Vnd dich, heiliger geist, in ir beder volleist gelouben vnd geloben sihteclich immer an ende ewiclich.

 I,1 Chum WK, Kom S; schepfer WK, schöpfer D, schopfer S. I,2 heimsuche GDS; mute GDS, muet WK; als du weist om. DS. I,3 erfült K; obersten WDS; gnade DS; om. K; glast om. DS. I,4 diu W; hertze W, hertzen DS; geschopffert S, geschephst K. II,1 troster WDSK. II,2 dez W; obersten WD, obrosten S; gots K; gabe erkant om. DS, gab WK. II,3 bronn S, brunn K; fiwerin G, fuirein W, furin DS, feyrein K; war minn K.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

II,4 III,1 III,2 III,3 III,4 IV,1 IV,2 IV,3 IV,4 V,2 V,3 Va,1 Va2 Va,3 Va,4 VI,1 VI,5 VI,6

25

troster DS. gabe] gottes gabe DS, gab WK. gotes zeswe her habe] gerechten gotes hannde D, gerechten gotes hannd S, zesewe W; her ab W, gots czesem her ab K. reichest W, richtest DS; mund DS. vnd WDSK; sprach GK. erleuch W, erleucht K; sinde G, sinn K. hertz DS, hercz K; begivz W, begeuß D, begus S; der G. vnser S; leibes WD; chrancheit W, krankheit D, kranckhait S. stercker S, sterk K; tugende D; preit W. frid WSK. gewaltes W. fröde DS. gab SK. entsliuz W, entslüsse D, entschisse S; streites pant WK, frides landt D, frides landet S. bestoetig G, bestetig […] frides lant W, bestet K; Versus om. DS. das D; dryen DS; genenden WK. glouben DS; geloben K; loben GWDSK; insichticlich W. end S.

Die zweite Gruppe (Inc. Kvm hailger gaist mit diner gutt) wird von Worstbrock und Bauer unter der Nummer III,24 geführt und auch der Redaktion B zugeordnet. Sie weist ebenfalls die Zusatzstrophe Va auf. Sie ist nur im Textzeugen Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Blasien 77, Bl. 57r, belegt.39 Gruppe II I

Kvm, hailger gaist, mit diner gütt! Begaub vnd schaw vnsrin gemüt mit den höchsten gnäden din, tu vns dines gaistes milte schin.

II

Der welte trost bist du genant, von gott dem vatter vs gesant. O lebendiger brun vnd götlichs fur, tů vns gaistlicher salbung stur.

III

O vinger gottes gerechtn hand, diner gauben krafft jn vns vollend, dz dich mug loben vnser kel, behüt vns von der helle quel.

39 Abgedruckt bei Wackernagel, S. 747, Nr. 985. Hier und im Folgenden biete ich meine eigene Transkription, die Lesarten beziehen sich auf die Edition bei Wackernagel.

26

Jessica Ammer

IV

Enzünd jn vns das liecht den sin, schenk in dz trank götlicher mynn, mach vest was jn vns blöde sy vnd bis vns, her, jn nöten by.

V

Hailiger gaist, schlach fer hin dan den vigend, der vns diner fröd enban, vnd gebur vns frid in dinen gewait, on sünd hilff vns zů öwikait

Va

Verlich vns, her, den fröden sold, gib süsser gauben riches gold, zerris vnd brich der sunden band vnd stell vns zů der gerechten hand.

VI

Hilff vns gottes vatters willen tůn mit kraft gottes suns jm hösten tron, dört ains mit jm bist öwenklich, des loben wir, warn gothait, dich.

 III,1 gerechter hend, gerechtu hand cod. III,4 vor. Va,1 der.

Die dritte Gruppe (Inc. Kvm schöpffer gott heiliger geist) wird von Worstbrock und Bauer unter der Nummer III,25 geführt und der Redaktion C zugeordnet. Sie weist die doxologische Schlussstrophe VIIa auf. Sie ist im Druck L Moser, Der guldin Spiegel des Sünders, Basel 1497 (Der Cursz vom sacrament, Bl. 26v–27r) und in der Handschrift Basel, Universitätsbibliothek, AN II 46, Bl. 9r, bezeugt.40 Gruppe III I

Kvm, schöpffer gott, heiliger geist! Gemüt der dinen heym beleist, mit gnod vom hymmel überlast die brüst, so du geschaffen hast.

II

Du, der ein tröster bist genant, die gob, vom höchsten gott gesant, der lebend brunn, die myn, dz phürr, die geistlich salbung ser gehür.

III

Du bist die sibenförmig gnod, der rechten hand gotts fynger trod,

40 Abgedruckt bei Wackernagel, S. 872, Nr. 1073.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

27

des vatters glüpt von hymmelrich die kelen machest reden rych. IV

Zünd vns dz licht der synnen an, güß liebe in den hertzen wan. Vnsers lybs sweren blödikeit mit tugend sterck zů ewikeit.

V

Den fynd vertrib von vns gar ferr vnd gib vns dinen frieden, herr. Dz wir vor verleitunge dyn alls schadens mögend eynig sin.

VI

Durch dich gib vns den vatter kundt, den sun bekennen alle stund vnd dich, jr beyder waren geist, dz wir dir gloubend allermeyst.

VIIa

Lob syg dem vatter mit dem sůn, dem heilgen tröster in commun. Dz vns der sůn gots schick die gob, des heilgen geists von hymmel ab.

 II,3 leben brunnen B; die myn] liebe L. II,4 geistliche B. IV,2 ingüß liebe den hertzen wan L. IV,4 tugenden L. V,1 gar om. L. V,3 vor verleitunge] durch vorbeleitung L. V,4 alles B; schadene B. VI,3 worener B. VIIa,2 heiligen BL; im L. VIIa,4 heiligen BL.

Die vierte Übertragungsgruppe (Inc. Kum schöpfer haymsůch haylliger geist) wird von Worstbrock und Bauer unter der Nummer III,26 geführt und der Redaktion D zugeordnet. Sie weist die doxologische Strophe VIIb auf. Sie ist im Münchner Textzeugen Cgm 1122, Bl. 327va–b, bezeugt. Gruppe IV I

Kum, schopfer, haymsuch, haylliger geist, gemut der deiner allermaist. Erfyll mit hocher der hertz, die du geschaffen hast.

II

Du pist, haist tröster vnd gibst mut. Ein gab des aller hochsten gut,

28

Jessica Ammer

du prunnen des lebens, lieb vnd fewr, geistliche salb, gib vns zu stewr. III

Dem gab, die sybenfoultig ist, der gerechter finger gottes pist. So mach vns der keln holt dines verhaussens vatters wort.

IV

Entzünd den synnen liechtes schein, geuß lieb jn die hertzn schrein. Dem plöden leib, dem vil geprist, dein kraft starck zu aller frist.

V

Vertreib von vns den frynd so weit vnd gib vns schnelles frides zeit vnd gang vns vor jn dieser fart, so sey wir wol vor poshait bewart.

VI

Durch die sey vns got vater kundt, der sun geliebt jm hertzen grundt. Dich, gouder geist, on vndter schand lebt vnser glaub jn ewig kont.

VIIb

Wir singen got dem vater ere, dem sun, der von der todes swere erstanden ist, dem tröster danck, ewig preiß in diß lobgesang.

Zunächst fällt bei den Fassungen I, II und IV auf, dass die Verslängen nicht mit denen der lateinischen Vorlage übereinstimmen. Sie schwanken in den verschiedenen Fassungen unregelmäßig zwischen sechs und elf Silben. Einerseits sollte wohl kein Detail der lateinischen Vorlage unübersetzt gelassen werden. Da sich aber alle Fassungen an den Paarreim halten, mussten des Reimes wegen auch einige Ergänzungen vorgenommen werden, die im Lateinischen nicht zu finden sind. Dies lässt u. a. den Schluss zu, dass die deutschen Fassungen im Gegensatz zu der lateinischen, die ein regelmäßiges Versmaß und eine einheitliche Strophenform aufweist, vermutlich nicht gesungen wurden. Daher nimmt Suarsana mit Verweis auf Henkys an, dass die volkssprachlichen Übersetzungen dieser Texte entweder für das Gebet außerhalb von Kirche und Gottesdienst, insbesondere für die stille Erbauung bestimmt waren oder allein aus poetischem Interesse erstellt wurden, jedoch nicht für die gesungene Liturgie zum Stundengebet oder Gottesdienst wie die lateinische Version.41  

41 Vgl. Suarsana, S. 159 mit Verweis auf Henkys, Sp. 618.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

29

Die Fassung III weist ein anderes Schema auf. Worstbrock und Bauer stellen fest, dass diese vierhebigen Reimpaarverse streng nach „jambische[m] Gang wie der lat[einische] Hymnenvers“42 gebaut seien. Allerdings fallen sowohl im Druck als auch in der Handschrift einige Unregelmäßigkeiten auf, die sich beim Vergleich der beiden Fassungen leicht beheben lassen. So liest z. B. die Handschrift in II,4 geistliche, wo der Druck das ins Versmaß passende geistlich bietet. In V,4 hat die Handschrift statt des einsilbigen alls des Druckes zweisilbig alles. In VI,3 steht in der Handschrift das dreisilbige Wort worener im Unterschied zum zweisilbigen waren im Druck. Allerdings weist auch der Druck Varianten auf, die nicht in dieses Versschema passen: So bietet er in IV,4 tugenden, während in der Handschrift tugend steht. Das gar in V,1 tilgt er. Es lässt sich zwar eine Fassung der Strophen I bis VIIb herstellen, die durchgängig dieses vierhebige jambische Schema mit Endreimen aufweist, allerdings verwirklichen (wie gezeigt wurde) weder der Druck noch die Handschrift eine wirklich reine Form dieses Schemas. Strophe VIIa hat in beiden Zeugen denselben Text. Sie fällt aus diesem Schema heraus; zwar behält sie den Endreim bei, aber die zweite und vierte Strophe haben jeweils acht Silben. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte eine spätere Anpassung von heilgen zu heiligen sein, das in beiden Versen vorkommt; dies hätte zur Folge gehabt, dass das achtsilbige Schema nicht mehr gehalten werden konnte. Bei den anderen Gruppen oder Fassungen lässt sich ein solches Schema nicht ohne größere Eingriffe ausmachen. Der paarige Endreim ist jedoch in allen Fassungen gegeben. Der Reimzwang erklärt neben den textlichen auch manche inhaltliche Unterschiede. Auf die textlichen Differenzen soll im Folgenden nur in dem Maße eingegangen werden, wie sie auch die inhaltliche Ebene betreffen. Verschiebungen von Wörtern in andere Verse und Unterschiede, die nur für das Versmaß relevant wären (z. B. heimsuch / haimsuche), werden im Folgenden ausgeklammert; sie sind vor allem für textkritische Untersuchungen relevant. Die deutschen Übersetzungen bieten an vielen Stellen entweder aufgrund von Auslassungen weniger oder aufgrund von Erweiterungen mehr Informationen als der lateinische Text. Als Beispiel soll hier die erste Strophe betrachtet werden. Der Anfangsvers wird fast wörtlich übersetzt. Dass Spiritus mit heiliger geist wiedergegeben wird, entspricht dem üblichen Sprachgebrauch. In der zweiten Gruppe ist das Creator unübersetzt geblieben, während in der dritten Gruppe gott hinzugefügt, der Heilige Geist also mit dem Schöpfergott gleichgesetzt wird, was zu der oben genannten These zum Entstehungskontext passt. Die Übersetzung des zweiten Verses (mentes tuorum visita) bietet in Gruppe I zusätzlich die Formulierung als du weist, die wohl der Herstellung des Reimes mit dem Wort geist im ersten  



42 Worstbrock, Bauer, Sp. 223.

30

Jessica Ammer

Vers zu erklären ist. In der zweiten Gruppe steht pleonastisch Begaub vnd schaw für das lateinische visita, so dass hier zusätzliches Gewicht auf die Bitte um Erfüllung der Herzen gelegt wird.43 Es wäre auch an eine Wiedergabe von visita und imple zu denken, da der nächste Vers in dieser Gruppe kein Prädikat aufweist, während die anderen Gruppen dem lateinischen Text entsprechend imple mit erfulle u.ä. übersetzen. Die Junktion superna gratia des dritten Verses übersetzt Gruppe II wörtlich mit hösten gnäden, Gruppe I ergänzt zusätzlich den glast mit obristen gnaden als Genetivattribut und Gruppe III fügt die Zusatzinformation vom hymmel hinzu, während Gruppe IV jegliche Übersetzung von gratia tilgt und lediglich hocher bietet. Das pectora des vierten Verses wird in den Gruppen I und IV einmal mit dem Plural herze bzw. dem Singular hertz wiedergegeben. Dagegen löst sich Gruppe II gänzlich von der lateinischen Vorlage und übersetzt tu vns dines gaistes milte schin und formt so die unpersönlichen Formulierungen der Vorlage (quae tu creasti pectora) so um, dass die Empfänger der höchsten Gnade in Erscheinung treten, nämlich die Gläubigen, die diesen Hymnus singen. Dasselbe begegnet bei der Fassung in Strophe II,1, in der mentes tuorum nicht wie bei den anderen Gruppen als gemüt der deinen u.ä., sondern als vnsrin gemüt wiedergegeben wird. So konnte hier am Beispiel der ersten Strophe gezeigt werden, dass der künstlerische Gestaltungswille und der Zwang, sich an das Reimschema zu halten, dazu führen können, eine freiere Übersetzung zu wagen, während manche Erscheinungen auf allgemeinem Sprachgebrauch bestimmter Termini (z. B. Spiritus) beruhen und manche der jeweiligen Mundart des Schreibers oder Verfassers zuzuordnen sind. Die Unterschiede können teilweise auch darauf zurückzuführen sein, dass die Übersetzer auf unterschiedliche lateinische Ausgangstexte zurückgreifen. So weisen die Gruppen I und II die zusätzliche Strophe Va auf, die in den anderen Gruppen nicht zu finden ist. Die Strophe wurde laut Spitzmuller erst nachträglich hinzugefügt.44 Auch Lausberg übergeht sie, zählt sie also nicht zum eigentlichen Hymnus. Im Breviarum Romanum fehlt sie. Die Strophe lautet:  

Da gaudiorum praemia, da gratiarum munera, dissolve litis vincula, astringe pacis foedera. [Gewähre uns den Lohn der Freuden, und die Gaben der Gnade. Löse die Fesseln des Streites, stärke die Bündnisse des Friedens.]

43 Vgl. Ulrich, S. 3. 44 Vgl. Spitzmuller, S. 357 Anm. 24.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

31

Sie wird in den Gruppen I und II wie folgt wiedergegeben: Gruppe I

Gruppe II

Gib vns der vrevden lon, gib vns der gnaden gabe schon. Entflevz vns des strites bant, bestætige vns des vrides land.

Verlich vns, her, den fröden sold, gib süsser gauben riches gold, zerris vnd brich der sunden band vnd stell vns zů der gerechten hand.

Auch an dieser Strophe sind die inhaltlichen Unterschiede der Gruppen gut zu erkennen. Neben lexikalischer Varianz im ersten Vers (lon und sold für praemia) fällt in Gruppe II eine wesentliche freiere Übersetzung des zweiten Verses auf, indem die munera noch durch den Zusatz riches gold spezifiziert werden. Auch im dritten Vers steht die Übertragung der ersten Gruppe näher am lateinischen Text mit der Übersetzung kriges bant für litis vincula, während es in Gruppe II sunden band heißt. Der Ausdruck vrides lant ist eine reimbedingte Füllung des Ausdrucks pacis foedera, für den die zweite Fassung wieder eine freie Übersetzung wählt. Diese beiden Versionen haben außerdem keine zusätzliche doxologische Schlussstrophe wie die anderen Gruppen, die wiederum die Strophe Va nicht bieten, sondern sie enden mit der ursprünglich sechsten Strophe (Per te sciamus da Patrem), so dass die Siebenzahl der Strophen stets gewahrt bleibt. Die doxologische Schlussstrophe Praesta hoc, Pater piissime (VII) wurde dem Hymnus laut Spitzmuller erst später hinzugefügt.45 Es handelt sich um eine sogenannte ‚Wanderstrophe‘, die, wie bereits erwähnt, variieren kann und nicht zum Hymnus selbst zählt. Sie kommt in den Reimpaarübersetzungen nicht vor. Stattdessen legen diese die abweichenden Doxologien Sit laus Patri cum filio (VIIa, Gruppe III) oder Gloria Patri Domino (VIIb, Gruppe IV) zugrunde: VIIa Sit laus Patri cum filio, Sancto simul paraclito, Nobisque mittat filius Charisma sancti spiritus.

VIIb Gloria Patri Domino Natoque, qui ex mortuis Surrexit ac paraclito In sempiterna saecula.

Folglich weist jede der vier Übersetzungsgruppen eine andere Art der Doxologie auf. Gruppe I und II enden mit der ursprünglich sechsten Strophe (Per te sciamus); sie bieten somit eine Anrufung an den Heiligen Geist mit der Bitte um Erkenntnis von Vater und Sohn und setzen einen trinitarischen Akzent. Gruppe III hingegen,

45 Ebd.

32

Jessica Ammer

die die lateinische Strophe VIIa verwendet, bietet diese direkte Ansprache nicht und führt formal die Struktur des Hymnus nicht fort. Der Geist, der Vater und der Sohn werden zwar gepriesen und gelobt, allerdings geschieht dies nicht in einer direkten Anrede, sondern in unpersönlicher Form. Die Doxologie der Gruppe IV, die sich auf die lateinische Strophe VIIb bezieht, weist ebenfalls einen Zusammenhang zur Dreifaltigkeit auf; sie nennt Vater, Sohn und Heiligen Geist (als Tröster), tut dies aber in der 1. Person Plural, lässt die Gläubigen also direkt Ehre und Dank singen. Gruppe III

Gruppe IV

VIIa Lob syg dem vatter mit dem sůn, dem heilgen tröster in commun. Dz vns der sůn gots schick die gob, des heilgen geists von hymmel ab.

VIIb Wir singen got dem vater ere, dem sun, der von der todes swere erstanden ist, dem tröster danck, ewig preiß in diß lobgesang.

2.2 Eine neue Reimpaarübersetzung Zu den von Worstbrock und Bauer verzeichneten Reimpaarübersetzungen kommt eine weitere hinzu, die in einer Handschrift der Gothaer Forschungsbibliothek (Cod. Chart. B 940, Bl. 214r–215v) überliefert ist. Die betreffende Handschrift besteht aus drei Teilen; derjenige Teil, der die Übertragung enthält, wird auf das erste Viertel des sechzehnten Jahrhunderts datiert.46 Die Übertragung unterscheidet sich von den bislang besprochenen Gruppen und wird daher mit einer eigenen Nummer versehen (V). Sie lässt sich aber auch – legt man die Kriterien zur Einteilung der Gruppen von Worstbrock und Bauer zugrunde – der lateinischen Redaktion D zuordnen, da sie die Schlussstrophe VIIb enthält. Gruppe V I

Küm, erschaffer heylliger ge[yst]! Dy gemudt der deinen hainsuchen seyst, erfull mit hocher genaden last dy hertzen, dy du erschaffen hast.

II

Der eyn trester gesprochen pist, eyn gab des, der hoch ist,

46 Siehe die vorläufige Beschreibung von Falk Eisermann: http://bilder.manuscripta-mediaeva lia.de/hs//projekt_gotha.htm (10. September 2018).

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

33

ein gotlich feur, liebe, en zundt pryn, dar zw ein waree geistlich salbezong. III

Du syben feuruge gab genant, fynger der rechten gottes handt, durch vatters werhaiß machst warleich dar deynen gumen reden reych.

IV

Erzünd das liecht den synen schyr, geuß dy lieb in der hertzen gyr, dy swache vnssers leybs ger nyd, palld sterck durch kunst ynn ewygkaitt.

V

Den feindt fere von vns […] bend, den waren fryd auch geb pehendt, das so vns vor an platten pist und wyr meiden was schedlich ist.

VI

Durch dich wissen den vatter schyr, geb das den sün erkenne[n] wyr und dich den geist der payder zwar altzei[t] gelauben an fer.

VIIb

Er sey dem herren vatter clar vnd sün, der von der totten schar erstanden ist vnd troster reich in wellt der welltt erwygkllich.

Eisermann sieht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gruppe VIII der von Worstbrock und Bauer aufgeführten Prosaübertragungen.47 Der mit der Melodie des lateinischen Lieds versehene Text ist in einem deutschen Hymnar für das Stundengebet überliefert (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3079, Bl. 196v–198r). Doch schon der Strophenbestand zeigt, dass diese Fassungen nicht derselben Redaktion zuzuordnen sind. Während die Fassung der Wiener Handschrift von Worstbrock und Bauer der Redaktion E zugeordnet wird, die sowohl die interpolierte Strophe Va als auch die doxologische Schlussstrophe VIIa enthält, fehlt in der Gothaer Fassung nicht nur die Zusatzstrophe Va, sondern sie weist als doxologische Strophe VIIb und nicht VIIa auf. Die Silbenanzahl in den Strophen I und II schwankt zwischen acht und zehn und es ist schwer, eine Regelmäßigkeit zu erkennen. In den Strophen III bis VIIb ist auffällig, dass bis auf die Verse II,1, der neun Silben führt, und VI,4, der sieben Silben aufweist, alle Verse entsprechend der lateinischen Vorlage acht Silben enthalten. Die deutsche Übersetzung ist somit nah an der lateinischen Vorlage. Stro-

47 Vgl. Anm. 46.

34

Jessica Ammer

phe I entspricht, mit den entsprechenden notwendigen kleineren syntaktischen Umstellungen, die durch die Sprache und die Form einzuhalten sind, in der Versabfolge und im Wortgebrauch weitestgehend der Vorlage. In der zweiten Strophe fällt der dritte Vers auf. Er ändert die Reihenfolge in der Aufzählung von fons vivus, ignis, caritas in ein gotlich feur, liebe, en zundt pryn, was in den anderen Reimpaarfassungen so nicht der Fall ist. Ich würde dies allerdings nicht überinterpretieren, sondern mit dem zugehörigen Reimwort salbezong erklären. Im Gegensatz zu den Reimpaarfassungen II, III und IV stellt die Gothaer Fassung zu der geistlich salbezong das Attribut waree (in Fassung I kommt diese Wendung nicht vor). Auffällig ist außerdem, dass der zweite Vers in der zweiten Strophe, der mit sechs Silben der kürzeste des Hymnus ist, vom lateinischen donum Dei altissimi mit der Übersetzung eyn gab des der hoch ist weiter entfernt ist, als es im übrigen Hymnus der Fall ist, so dass vielleicht von einem Wortausfall [gottes?] ausgegangen werden kann. Größere Auffälligkeiten in der Lexik im Vergleich mit den anderen Fassungen finden sich im ersten Vers der ersten Strophe, in der Creator nicht wie in den anderen Reimpaarfassungen mit schöpfer übersetzt wurde (wenn es übersetzt wurde, in Gruppe II blieb es gänzlich unübersetzt), sondern mit erschaffer, was lediglich eine Variante darstellt, aber keinen Sinnunterschied nach sich zieht. Das aufgrund seiner vielen Bedeutungen schwer zu übersetzende Wort virtus in IV,4 wurde in dieser Fassung ebenfalls abweichend von den anderen Gruppen nicht mit tugent (Gruppe I und III) oder kraft (Gruppe IV) (auch hier bietet die zweite Gruppe wieder keine Übersetzung), sondern mit kunst übersetzt.48 Die Erklärung an dieser Stelle in der Silbenanzahl zu suchen, halte ich für verfehlt, da dem Übersetzer ohne Zweifel – und wie im Falle von kraft auch schon bewiesen wurde – andere Worte zur Verfügung gestanden haben. Vielmehr handelt es sich hier um eine – wenn auch freiere – Interpretation des Wortes virtus.

3. Abschließende Bemerkungen Der lateinische Hymnus ist auch in der Neuzeit vielfach ins Deutsche übersetzt worden. Die wohl berühmteste Übersetzung aus der Frühen Neuzeit stammt von Martin Luther, der seine Version wahrscheinlich als Reaktion auf Thomas Müntzers Übersetzung verfasste.49 Oft liest man, dass ein entscheidendes Merkmal der Übersetzung Luthers in der Vertauschung der dritten und vierten Strophe der la-

48 Es ist mir bisher nicht gelungen, eine vergleichbare Stelle zu finden. 49 Burdorf, S. 10.

Die Reimpaarübersetzungen des Hymnus Veni creator spiritus

35

teinischen Vorlage bestehe.50 Dies habe eine veränderte Gewichtung des Inhalts zur Folge. Indem Luther die vierte Strophe ins Zentrum rücke, bekomme die betreffende Aussage auch eine zentrale Stellung: „des Vaters Wort gibst du gar bald“51. Doch wie aus der Ausgabe in den Analecta hymnica hervorgeht, ist diese Strophenvertauschung bereits in der lateinischen Überlieferung nachweisbar, nämlich in einer französischen Handschrift des zwölften Jahrhunderts, die heute in Paris aufbewahrt wird.52 Einen Beleg für die Prominenz des Liedes auch jenseits des liturgischen Gebrauchs bietet eine Bemerkung von Johann Wolfgang von Goethe, der die poetologische Bedeutung des Hymnus erkannte. Im Jahr 1820 hatte Goethe einen befreundeten Pfarrer aus Weimar um die Zusendung des lateinischen Hymnus gebeten, um diesen zu übersetzen.53 Goethe schreibt in seinen ‚Maximen und Reflexionen‘: „Der herrliche Kirchengesang: Veni Creator Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht“.54

4. Literaturverzeichnis AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Aland, Kurt: Luther Deutsch: Kirche und Gemeinde. Bd. 6. Göttingen 1983. Brouwer, Christoph: Hrabani Mauri, ex Magistro et Fuldensi Abbate Archiepiscopi Moguntini, poemata de diversis. Mainz 1617. Burdorf, Dieter: Geschichte der Lyrik. Einführung und Interpretationen. Stuttgart 2015. Carmina sacra medii aevi: saec III–XV. Hg. von Henry Spitzmuller. Paris 1971. EG = Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. Hg. von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Evangelischer Presseverband für Bayern e.V. München o.J. Eisermann, Falk: Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha. Vorläufige Beschreibung vom 23. März 2010: http://bilder. manuscripta-mediaevalia.de/hs//projekt_gotha.htm (10. September 2018). Fiala, Virgil Ernst, Wolfgang Irtenkauf: Codices breviarii (Cod. brev. 1–167). Wiesbaden 1977 (Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart 1,3). Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Hg. von Erich Trunz. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 2004. München 2010.

50 51 52 53 54

Z. B. Aland, S. 348. EG, S. 126. Dreves, Blume, Bd. 50, S. 194, Sigle R. Trunz, S. 734. Trunz u. a., S. 472.  

36

Jessica Ammer

Goethes Werke. Bd. 12: Schriften zu Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hg. von Erich Trunz u. a. München 1994. Haupt, Moritz, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Altdeutsche Blätter. Bd. 1. Leipzig 1836. Henkys, Jürgen: Kirchenlied. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u. a. Bd. 18. Berlin, New York 1989, Sp. 603–643. Keil, Werner: Musikgeschichte im Überblick. München 2012. Kraß, Andreas: Der Finger Gottes. Die Spürbarkeit der Zeichen bei Hugo von St. Viktor und Johannes Bissel. In: Zeitsprünge 16 (2012), S. 301–319. Langenbahn, Stefan K.: Veni, Creator Spiritus. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. 3. Auflage. Freiburg i.Br. 2001, Sp. 591 f. The Latin Hymns of the Anglo-Saxon Church. With an Interlinear Anglo Saxon Gloss. Hg. von Joseph Stevenson. Durham 1851. Lausberg, Heinrich: Der Hymnus „Veni Creator Spiritus“. Opladen 1979. Mearns, James: Early Latin Hymnaries, an Index of Hymns in Hymnaries before 1100. Cambridge 1913. Mone, Franz Joseph: Lateinische Hymnen des Mittelalters. Bd. 1: Lieder an Gott und die Engel. Freiburg i.Br. 1853. Raby, Frederic James Edward: A History of Christian-Latin Poetry from the Beginnings to the Close of the Middle Ages. 2. Auflage. Oxford 1953. Sacrorum conciliorum collectio. Bd. XIX. Hg. von Giovanni Domenico Mansi. Venedig 1774. Sancti Aurelii Augustini: De doctrina christiana. In: Patrologia Latina [PL]. Hg. von Jacques Paul Migne. Bd. 34. Paris 1841. Suarsana, Yan: Der Hymnus „Veni creator spiritus“ in zwei mittelalterlichen Übersetzungen. Eine quellen- und sprachkritische Untersuchung. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 47 (2008), S. 151–170. Szövérffy, Joseph: Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch. Bd. 2: Die lateinischen Hymnen vom Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters. Berlin 1965. Ulrich, Herbert: Veni creator spiritus: Komm, allgewaltig heilger Hauch. In: Ökumenischer Liederkommentar zum Katholischen, Reformierten und Christkatholischen Gesangbuch der Schweiz. Hg. von Peter Bernoulli u. a. 6. Lieferung. Freiburg (Schweiz), Basel, Zürich 2009, unpaginiert. Vulgata = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robert Weber OSB. 5. Auflage. Stuttgart 2007. Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Leipzig 1867. Weismann, Eberhard u. a.: Liederkunde. Erster Teil: Lied 1 bis 175. Göttingen 1970 (Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch 3,1). Worstbrock, Franz Josef, Julia Bauer: ‚Veni creator spiritus‘. In: 2VL 10 (1999), Sp. 214–224.  









Matthias Standke

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria Überlegungen zu Umfang und Strophenfolge im Spannungsfeld von Liturgie und Volkssprache Burghart Wachinger konstatiert in seinem Überblick über die volkssprachlichen deutschen Übertragungen des lateinischen Hymnus Jesu dulcis memoria, dass dieser „außerordentlich breit“1 überliefert wurde. Während André Wilmart für den lateinischen Hymnus in seiner Studie zu den bernhardinischen Hymnen eine 42-strophige Textgestalt ambrosianischer Hymnenstrophen (iambischer Dimeter) rekonstruieren konnte,2 zeigt sich in der lateinischen wie volkssprachigen Überlieferung, dass „Strophenbestand (20–58 Strr.) und Strophenfolge [stark] schwanken“3. Zu den Gründen dieser Varianz merkt Heinrich Lausberg mit Blick auf die Genese der lateinischen Fassungen an: Wie die seit dem 13. Jahrhundert sich an den ursprünglichen Körper des Hymnus anfügenden Erweiterungs-Strophen verraten, ist der Hymnus frühzeitig nicht mehr als das verstanden worden, was er ist: ein Bericht über ein durch die Feste Ostern und Himmelfahrt bedingtes mystisches Präsenz-Erlebnis. Die spätere Verwendung des Hymnus zum Fest des Namens Jesu hat vollends den Zugang zum semantischen Kern versperrt.4

Bereits in der Überlieferung des lateinischen Hymnus wurden also sinnentstellende bzw. einen weiteren Sinn unterstellende Strophen ergänzt, die in der liturgischen Neueinordnung des Hymnus gipfelten. Wilmart listet in seiner Arbeit insgesamt 79 lateinische Strophen auf, die zuweilen weitere Varianten aufweisen.5 Erst seine Rekonstruktion der ursprünglichen Textgestalt sowie die ausführliche Interpretation des lateinischen 42-strophigen Hymnus durch Lausberg bieten eine

1 Mit einem deutlichen Bezug auf André Wilmart (Le ‚Jubilus‘ dit de Saint Bernard) Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 518. 2 Siehe dazu Wilmart, S. 234 f. 3 Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 518. 4 Lausberg: Hymnologische und hagiographische Studien, S. 7. 5 Siehe dazu Wilmart, S. 183–197.  

Dr. Matthias Standke, Universität Paderborn, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-003

38

Matthias Standke

profunde Basis für die bisher nur spärliche Untersuchung der deutschen Übertragungen des Hymnus.6 Die nachfolgende Studie widmet sich den bisher bekannten 14 Vers- und Prosaübertragungen und ihren aus dem spätmittelalterlichen oberdeutschen bis niederdeutschen Sprachraum stammenden Textzeugen.7 Einerseits möchte die Untersuchung also die im Verfasserlexikon gelisteten neun Übertragungen ergänzen bzw. vor dem Hintergrund der Befunde des ‚Berliner Repertoriums‘ differenzieren.8 Hierfür werden auch exemplarische Lesetexte einiger bisher nicht edierter Übertragungen gegeben, um die neuen Befunde zu verdeutlichen. Andererseits soll auf diese Weise ein umfassenderes Bild der im Strophenumfang ebenfalls variierenden deutschen Übertragungen gezeichnet werden. Hierbei fallen vor allem die kürzende Tendenz bzw. die annähernde Passgenauigkeit einiger Vers- und Prosaübertragungen gegenüber den von Lausberg und Wilmart beanstandeten Erweiterungsstrophen im Lateinischen auf. Die genauere Betrachtung und Einordnung dieses Phänomens erfolgt vor dem Hintergrund des verwendeten Strophenkorpus und der jeweiligen Strophenfolge. Die makroskopische Analyse auf der Ebene der Übertragungen will so Strategien aufzeigen, die im Spannungsfeld von Liturgie und Volkssprache zu einer graduellen Liturgizität der volkssprachlichen Hymnen beitrugen.

1. Der lateinische Hymnus Eine detaillierte Analyse des lateinischen Hymnus hat Heinrich Lausberg ausgehend vom Wilmart’schen Textkorpus vorgenommen.9 Anders als Alex Stock geht er vom rekonstruierten 42-strophigen Ursprungstext aus, nicht vom 15-stro-

6 Neben der bereits genannten umfänglichen Studie von Heinrich Lausberg ist auch dessen ergänzender Aufsatz zu nennen ‚Zum Hymnus Jesus Dulcis Memoria‘. Für die deutschsprachigen Übertragungen siehe zusätzlich zu Wachingers Artikel im ‚Verfasserlexikon‘ die Arbeit von Wilhelm Bremme: Der Hymnus Jesus dulcis memoria. 7 Basis der Untersuchung sind die Befunde und Daten des ‚Berliner Repertoriums‘ zu diesem Hymnus, siehe daher: http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/hymn/6654 (7. Februar 2018). 8 Bereits Wachinger nimmt in den Supplementbänden des ‚Verfasserlexikons‘ eine Korrektur vor, siehe dazu Wachinger: Jesu dulcis memoria [Korr.]. Außerdem sei auf die Arbeit von Judith Theben (‚Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts‘) verwiesen, die bereits eine Prosaübertragung genauer bestimmt, sowie Wachingers Rezension zu dieser Arbeit (ZfdA 140,3), in der er zusätzlich eine weitere Versübertragung ergänzt. 9 Zum lateinischen Hymnus siehe die bereits genannten Editionen von Wilmart und Lausberg. Die Analecta hymnica (AH) bieten keine umfängliche Textgrundlage des 42-strophigen Hymnus. Vgl. AH 1, Nr. 90, S. 114. Auf einen Abdruck des lateinischen Hymnus wird vor dem Hintergrund seiner Länge und der hervorragenden Editionen von Wilmart und Lausberg verzichtet.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

39

phigen und dem auf die drei liturgischen Tagzeiten Vesper, Matutin und Laudes aufgeteilten Text des Breviarium Romanum.10 Lausberg zergliedert die Strophen des Hymnus inhaltlich und am antiken Drama orientiert in fünf Teile:11 1. Proömium: 2. Protasis: 3. Epitasis: 4. Katastasis: 5. Katastrophe:

Strophen I–II Strophen III–XII Strophen XIII–XXIV Strophen XXV–XXXIV Strophen XXXV–XLII

Das Proömium versteht Lausberg als Präludium für den gesamten Hymnus. Der eigentliche Hymnenkörper umfasst somit 40 Strophen und verweist in seiner Zahlensymbolik auf die liturgischen Hochfeste Ostern und Christi Himmelfahrt.12 Beide Feste, wie auch das ebenfalls im Hymnus aufscheinende Hochfest Pfingsten, sind eng mit einem „mystischen Erleben“13 des Gottessohnes verknüpft. Dieses Präsenzerlebnis bzw. das sukzessiv gesteigerte Verlangen nach einem solchen Erleben göttlicher presentia entnimmt Lausberg der Dramaturgie des Hymnus, die er als „Dispositions-Dynamik“14 versteht. Diese Dynamik oder Dramaturgie sei zum besseren Verständnis des lateinischen Hymnus und der sich anschließenden Überlegungen zu seinen deutschen Übertragungen des Mittelalters kurz skizziert. Das Proömium besteht aus den ersten beiden Strophen des Hymnus. Die erste Strophe dient der Vorstellung des Themas, der Vergegenwärtigung Christi, welche als süß (dulcis) empfunden wird. Ein noch nicht selbst genanntes lyrisches Ich geht dabei von der bloßen Erinnerung (memoria) an Christus aus, die bereits zu größter innerlicher Freude (cordi gaudia) führe und stellt sich folgerichtig vor,

10 Siehe Stock, S. 79–85. Sein Kommentar bezieht sich insoweit nur auf die Form des Hymnus, die seit der Liturgiereform des II. Vatikanums üblich geworden ist und kann insofern vernachlässigt werden. 11 Vgl. auch im Folgenden Lausberg: Hymnologische und hagiographische Studien, S. 67–378, 411–416. Die Differenzierung Lausbergs wird innerhalb seiner Untersuchung noch komplexer, worauf hier jedoch nicht eingegangen wird. 12 Hierin und in der nachfolgend skizzierten Dramaturgie zeigt sich noch einmal die falsche Zuordnung des Hymnus zum erst im Mittelalter entstehenden und seit dem II. Vatikanum wieder aus der Liturgie gestrichenen Fest Sanctissimi nominis Jesu, welches am ersten Sonntag nach der Weihnachtsoktav gefeiert wurde. Zu diesem Fest und seiner liturgiegeschichtlichen Transformation siehe Stock, S. 83 f. Auch Wilmart geht in seiner gesamten Edition und Rekonstruktion des Urtextes noch von dieser liturgischen Zuordnung aus, was bereits der Titel seiner Einleitung ‚lntroduction. Le ‚Iubilus‘ sur le nom de Jésus dit de saint Bernard‘ offenbart; Wilmart, S. 3. 13 Ebd., S. 396–399. 14 Ebd., S. 411.  

40

Matthias Standke

um wieviel süßer (super mel et omnia) dessen Gegenwärtigkeit (presentia) sei. Die zweite Strophe schließt an diesen Gedanken an und begründet die im Hauptteil des Hymnus folgende „Behandlung eines solchen Themas durch [das lyrische Ich; M.S.] und die Wirk-Absicht.“15 Das lyrische Ich benennt in einer einprägsamen dreifachen Anapher (nil) diese Aspekte, die erstens sein Handeln betreffen, denn nichts sei schöner zu besingen (canitur), zweitens sein Publikum, denn nichts sei schöner zu hören (auditur), und drittens noch einmal den Gegenstand, denn nichts sei süßer zu erfahren (cogitatur) als die ersehnte Gegenwärtigkeit Gottes. Die Protasis umfasst die Strophen III–XII, sie stellt innerhalb des Hymnus und seines Gesamtkörpers den ersten Teil dar. In diesem Abschnitt des Hymnus findet sich ein erstes „kontinuierliches Anschwellen […] des mystischen Suchens“16, welches in der dritten Strophe mit einer Anrufung der göttlichen Instanz durch das lyrische Ich einsetzt. Das Suchen Jesu wird mit der Figur Maria Magdalenas verknüpft, die selbst am offenen Grab des Herrn anlangte und dieses leer vorfand. Die Strophen IX–XII sind als wörtliche Rede Magdalenas innerhalb des Hymnus zu verstehen.17 Zum einen wendet sie sich in den Strophen neun und zehn an Christus und zum anderen in den Strophen elf und zwölf an das Publikum, dem sie von ihrem Präsenzerlebnis berichtet. Der Abschluss ihrer Rede, die zwölfte Strophe, ist durchgängig als Aufforderung zur imitatio angelegt, jeder Vers endet mit einem Imperativ. Die Epitasis umfasst die Strophen XIII–XXIV. Die Strophen XIII und XIV leiten den zweiten Teil (bis Strophe XLII) des Hauptteils des Hymnus ein. Nach der zur imitatio auffordernden Rede Magdalenas (Strophen IX–XII) berichtet das lyrische Ich nun von seinem eigenen süßen Präsenzerlebnis. Die Einleitung in den zweiten Hauptteil weist dafür wiederum den typischen Topos der Unsagbarkeit auf. Das Ich verweist eingedenk seiner Erinnerung an die erlebte Gegenwärtigkeit erneut auf seine Unfähigkeit davon adäquat zu berichten, will es aber dennoch versuchen. In den Strophen XV–XVIII gibt das Ich einen „programmatischen Ausblick“ und in den Strophen IXX–XXIV „eine mimetische Schilderung des SuchVorgangs“18. Die Strophen XXV–XXXIV schließen sich zur Katastasis zusammen. In ihnen berichtet das lyrische Ich, nach der vorherigen Schilderung des Suchvorgangs in der Prostasis, von seinem Präsenzerlebnis. Wirksam schickt er der detaillierten

15 16 17 18

Ebd., S. 480. Ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 162–187. Ebd., S. 484–486.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

41

Schilderung mit der XXV. Strophe „eine programmatische Summe“19 dieses Geschehens voraus. Schon der erste Vers dieser Strophe hebt die Bedeutung des Ereignisses stilistisch, mittels der Anapher tunc, und inhaltlich, durch die Gesten des Umhalsens (amplexus) und Küssens (oscula), hervor. Während in den Strophen XXVI–XXX vor allem anhand der „Liebes-Brand-Metapher“20 das Präsenzerlebnis beschrieben wird und in der anaphorischen Strophe XXIX gipfelt, dienen die Strophen XXXI–XXXIV dem Lobpreis und Dank für die Teilhabe an der Vergegenwärtigung. Vor allem beinhalten sie aber auch eine Verpflichtung „zu religiöser Weite und Selbstlosigkeit im apostolischen Wirken“21, die im Lobpreis des Hymnus bereits performativ Ausdruck finden. Die Katastrophe berichtet vom Ende des Präsenzerlebnisses aufgrund der Himmelfahrt Christi, sie umfasst die Strophen XXXV–XLII.22 Die Strophen XXXV– XXXIX dienen zunächst dem eschatologisch begründeten Abschied und dem Ausklingen des Präsenzerlebnisses. Christus kehrt als Triumphator zurück in das Himmelreich, wo er mit Lobpreis empfangen wird. Mit den letzten drei Strophen kehrt das lyrische Ich an jenen Punkt zurück, der vor seinem Bericht über das eigene Präsenzerlebnis liegt. Christus ist absent, doch ihm gelten das Sehnen und die süße Erinnerung. Ein Teil, das Herz des Ichs (cor meum), weilt nach diesem Erlebnis bei Christus und diese innere Zerrissenheit begründet noch einmal die sehnsüchtige Suche. Um Christus gänzlich und nicht nur in der beschriebenen unio mystica zu erfahren,23 sollen die Gläubigen ihn preisen, so der Abschluss des Hymnus und der Bericht des lyrischen Ichs.

2. Die deutschen Vers- und Prosaübertragungen im Überblick Der nachfolgende Überblick der spätmittelalterlichen deutschen Übertragungen des lateinischen Hymnus Jesu dulcis memoria möchte die von Burghart Wachinger im Verfasserlexikon benannten neun Übertragungen vor dem Hintergrund der skizzierten Eigenheiten des lateinischen Hymnus erweitern und um Neufunde ergänzen. Grundlage Wachingers ist die verdienstvolle Arbeit von Wilhelm Bremme, der bereits 1899 sechs der im Lexikonartikel gelisteten Versübertragungen zu-

19 20 21 22 23

Ebd., S. 486. Ebd., S. 486–488. Ebd., S. 488. Vgl. ebd., S. 489 f. Vgl. ebd., S. 490.  

42

Matthias Standke

sammentrug.24 Um nicht zu sehr Redundanzen zu erzeugen, beschränken sich die Ausführungen auf knappe Darstellungen und werden nur mit Blick auf die zu ergänzenden Aspekte der Strophenfolge, die neuen Textzeugen und die noch fehlenden Übertragungen umfänglicher. Der Überblick folgt der Reihenfolge Wachingers, um so die Abweichungen zu verdeutlichen. Nie wart gesungen süzer gesanc ist eine elfstrophige Versübertragung.25 Die in Reimpaarversen verfasste Übertragung ist vermutlich die älteste deutsche Übertragung des lateinischen Hymnus. Neben zehn Strophen des rekonstruierten Urtextes enthält die Versübertragung die Strophe 33² des Wilmart’schen Zusatzkorpus, die Strophenfolge lautet: II; X; XVI; XIX; XXII; 33²; XXIV; XXXVII; XLI; XLII.26 Die Übertragung ist unikal in der wohl um 1348 entstandenen Sammelhandschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 717, Bl. 68v–69r überliefert. Erste Textausgaben bieten Wackernagel und Hoffmann von Fallersleben.27 Der süzz gedanch an ihesum christ ist eine 44-strophige Versübertragung.28 Die in je vier vierhebigen und reimpaarenden Versen verfasste Übertragung entspricht weitestgehend dem rekonstruierten Urtext: I; II; III; V; IV; VI; VII; VIII; IX; X; XI; XII; XIII; XIV; XV; XVI; XVII²; XIX; 44(36); 45; XX; XXI; XXII; XXIV; XXV; XXVI; XVII; XXVIII; XXIX; XXX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXV; 51; XXXVI; XXXVII; XXXVIII; XXXIX; XL; XLI; XLII. Sie weist also vier Strophen des Wilmart’schen Zusatzkorpus auf: XVII²; 44 (36); 45 und 51.29 Überliefert ist sie in zwei Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts:30 erstens Wien, Schottenstift, Cod. 295, Bl. 68r–70r sowie zweitens Stockholm, Königliche Bibliothek, Cod. A 192, Bl. 372ra–374ra. Die Textausgabe Wackernagels basiert auf der Wiener Handschrift.

24 Auch Wilmart bezieht sich bereits auf die philologischen Ausführungen Bremmes. Bremmes Arbeit bietet nämlich einen Überblick über die lateinischen Handschriften des Hymnus sowie eine Zusammenschau seiner späteren Übertragungen; siehe daher Bremme: Der Hymnus Jesu dulcis memoria. 25 Vgl. zu den folgenden Aspekten Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 1; sowie http:// opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8396 (7. Februar 2018). 26 Siehe Wilmart, S. 186–197. 27 Siehe dazu: Wackernagel, S. 325, Nr. 488; und mit den lateinischen Strophen Hoffmann von Fallersleben, S. 307–309, Nr. 167. 28 Vgl. dazu Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 2; sowie ders.: Jesu dulcis memoria [Korr.], Sp. 759; und http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8398 (7. Februar 2018). 29 Vgl. Anm. 25. 30 Gegenüber Wachinger ergänzt Theben bereits den Stockholmer Textzeugen, vgl. daher auch Theben, S. 467, Nr. 2.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

43

Jhesu wan ich gedencke an dich ist eine 43-strophige Versübertragung, der eine eigenständige, nicht zum Urtext gehörende doxologische Strophe folgt.31 Sie ist in je vier vierhebigen und reimpaarenden Versen verfasst. Die Strophenfolge entspricht nahezu dem rekonstruierten Urtext: I; II; III; IV; V; VI; VII; VIII; IX; X; XI; XII; XIII; XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; XX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXVII; XXVIII; XXIX; XXX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXVI; XXXVX; XXXVII; XXXVIII; 55(44); XXXIX; 78; XLI; 74; Doxologie. Drei Strophen entstammen dem Wilmart’schen Zusatzkorpus: 55 (44), 74 und 78.32 Die Textzeugen sind in einer Sammelhandschrift aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts sowie einer Gebetbuchhandschrift aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts überliefert: erstens Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7002 (GB 2°) 47, Bl. 92r–93v und zweitens Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 141, Bl. 149v– 155r. Die beiden Textausgaben von Wackernagel und Hoffmann von Fallersleben beziehen sich auf die ältere Handschrift.33 Die beiden nachfolgenden Übertragungen stellen eine erste, geringfügige Abweichung gegenüber dem Verfasserlexikon dar, es handelt sich um die vierte Übertragung in Wachingers Zählung. Das bisherige Initium wurde in der Folge neu vergeben, es folgt zunächst die Übertragung Jhesus suite betrachtinge. Dieses Initium bezeichnet eine 47-strophige Versübertragung.34 Die Strophen setzen sich aus je vier reimpaarenden Versen zusammen. Bis auf wenige Abweichungen entspricht die Strophenfolge dem rekonstruierten Urtext: I; II; III; IV; V; VI; VII; VIII; IX; X; 14(11); XI; 16(13); XII; 19(15); XIII; 21(17); XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; XX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXX; XXVII; XXVIII; XXIX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXVI; XXXV; XXXVII; XXXVIII; 55(44); XL; XXXIX; XLI; XLII. Fünf Strophen werden aus dem Wilmart’schen Zusatzkorpus eingeflochten: 14 (11); 16 (13); 19 (15); 21 (17) und 55 (44).35 Die Übertragung wurde in einer niederdeutschen Stundenbuchhandschrift aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts im Anschluss an die Getiide van der ewigher wysheit (Bl. 118r–136r) überliefert: Osnabrück, Staatsarchiv, Dep. 58 Hs. C IX, Bl. 136v–142v.36 Rudolf Langenberg hat die Übertragung in seinen ‚Untersuchungen der niederdeutschen Mystik‘ abge-

31 Vgl. dazu mit der Angabe von 44 Strophen, Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 3; sowie mit der neuen Zählung, http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8401 (7. Februar 2018). 32 Vgl. Anm. 25. 33 Siehe dazu Wackernagel, S. 628 f., Nr. 811; sowie Hoffmann von Fallersleben, S. 310–314, Nr. 168. 34 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/translation/8404 (7. Februar 2018). 35 Vgl. Anm. 25. 36 Siehe dazu den Handschriftenkatalog von Kühne, Tönnies und Haucap, S. 177 f.  



44

Matthias Standke

druckt.37 Schon Langenberg ging davon aus, dass die von Joseph Godehard Müller und Bernhard Hölscher edierten Texte seiner Übertragung glichen, diese „jedoch ganz unvollständig“ wiedergäben; zugleich merkt er aber auch an: „Die Hs. enthält den Hymnus noch ein zweites mal, hier in der Fassung von 21 Strophen nach den 7 Wochentagen in 7 Abteilungen, von je 3 Strophen mit der Doxologie, zerlegt.“38 Während sowohl Wachinger als auch Theben in ihrem Urteil und der daraus folgenden Zuordnung der übrigen Textzeugen zu dieser Übertragung Langenberg folgen, scheinen sie mir Zeugen einer weiteren Übertragung zu sein.39 Der Eintrag Nr. 4 des Artikels im Verfasserlexikon birgt insofern zwei unterschiedliche Versübertragungen. Die zweite Übertragung wird mit dem bisherigen Initium Jhesus soite betrachtinge markiert.40 Diese Übertragung besteht mindestens aus 21, maximal aus 24 Strophen, die jeweils vier reimpaarende Verse aufweisen. Zudem werden die Strophen wiederholt mit einer doxologischen Strophe der ‚Ewigen Weisheit‘ kombiniert. Entweder erfolgt diese Einbindung für die 21-strophige Variante wie von Langenberg beschrieben oder es werden für die 24-strophige Fassung „8 mal 3 Strr., dazu je eine Doxologiestr., im Rahmen der ghetide van der ewighen wysheit (Cursus de aeterna sapientia) auf die Horen verteilt.“41 Einer der wesentlichsten Unterschiede wird also von Wachinger selbst benannt, nämlich die Einbindung des übertragenen Hymnus in die Tagzeiten und weitere Textteile von der ‚Ewigen Weisheit‘.42 Im Gegensatz zur Übertragung Jhesus soite betrachtinge wird die zuvor besprochene Übertragung Jhesus suite betrachtinge allerdings erst im Anschluss und ohne weitere Einbindung überliefert. Wichtig ist zudem, dass die Übertragung Jhesus soite betrachtinge nicht nur einen kleineren Strophenumfang aufweist, sondern auch eine bestimmte Strophenfolge, die deutlich von derjenigen der Übertragung Jhesus suite betrachtinge abweicht. 23 der maximal 24 Strophen lassen sich auf den rekonstruierten Urtext Wilmarts zurückfüh-

37 Vgl. Langenberg, S. 53–58. Langenberg setzt die doxologische Strophe aus der Tagzeit der ‚Ewigen Weisheit‘ (bei Wachinger die 48. Strophe) in Klammern, da sie im Kontext dieser Übertragung innerhalb seines Textzeugen nicht überliefert ist, wohl aber an vorheriger Stelle. Es ist also von einer 47-strophigen Übertragung auszugehen, die mit der dem Hymnus eigenen doxologischen Strophe XLII endet. 38 Ebd., S. 52. 39 Siehe dazu Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 4; sowie ders.: Jesu dulcis memoria [Korr.], Sp. 759 f.; und Theben, S. 467, Nr. 4. 40 http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8421 (7. Februar 2018). 41 Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 4. 42 Für die noch zu besprechende Prosaübertragung O Jhesu sote gedechtnysse hat Wachinger diese Einsicht bereits formuliert, nicht aber für die Versübertragung: „Diese ist, wie ich jetzt präzisieren möchte, integraler Bestandteil der ‚Tagzeiten der ewigen Weisheit‘.“ Wachinger: Rezension, S. 405.  

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

45

ren, eine Strophe entstammt dem bei Wilmart aufgeführten ‚Restkorpus‘.43 Vor dem Hintergrund der Wilmart’schen Strophenzählung ergibt sich folgende Strophenfolge (ich lasse die sich wiederholende doxologische Strophe weg): I; II; III; IX; V; XX; XI; XVIII; 17(21); XV; XVI; IXX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXXII; XXXIV; XIII; XL; XXXIX; XLI.44 Neben der festen Strophenfolge und dem klar bestimmbaren Strophenumfang lässt sich noch ein weiteres Argument für die Eigenständigkeit der Übertragung anführen. Sowohl Müller als auch Hölscher weisen in ihren Ausgaben der einzigen, leider verschollenen Textzeugen der Übertragung darauf hin,45 dass Franz Joseph Mone eine entsprechende lateinische Vorlage abdruckt.46 Mones Frankfurter Pergamenthandschrift bietet unter der Überschrift de aeterna sapientia genau acht mal drei Strophen mit je einer doxologischen Strophe der ‚Ewigen Weisheit‘, die auf die Horen (auch hier werden anweisende Überschriften gesetzt) verteilt sind. Hölschers Münsteraner Handschrift (21 Strophen) sowie Müllers Hildesheimer Handschrift (24 Strophen) bieten also eine Versübertragung der bereits eigenständigen lateinischen Fassung. O Jhesus suete andachticheit ist eine 16-strophige Versübertragung.47 Die reimpaarende Struktur der Verse und Strophen weicht nur an wenigen Stellen ab. Die Strophen entstammen überwiegend dem rekonstruierten Textkorpus bzw. dem Wilmart’schen Zusatzkorpus, wobei fünf Strophen bisher nicht verortet werden konnten: I; II; III; V; XX; 21(17); XI; XVI; fünf offene Strophen; XXI; XXIV; XXVI. Die Übertragung wird in einem Textzeugen, der sogenannten ‚Deventerschen Liederhandschrift‘ aus dem fünfzehnten Jahrhundert überliefert:48 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 185, S. 61–65. Jhesus suess dein gedachtnus ist ist eine 42-strophige Versübertragung.49 Die Übertragung ist „rhythmisch, teiweise gereimt“50 und zählt zu den ‚Tegernseer

43 Vgl. Wilmart, S. 146–155 und 183–197; die Zählung übernimmt auch Lausberg: Hymnologische und hagiographische Studien, S. 491–502. 44 Vgl. Anm. 25. 45 Siehe dazu Müller, S. 56–59; sowie Hölscher, S. 135–138, Nr. LXX. 46 Siehe Mone, S. 329–333, Nr. 258. Eine textkritische Edition bietet Künzle, S. 606–618. 47 Der einzige Textzeuge bietet als Initium die Schreibung suete nicht wie bei Wachinger und von Theben übernommen soete. Siehe dazu und im Folgenden Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 5; sowie Theben, S. 467, Nr. 5; und http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/translati on/8406 (7. Februar 2018). 48 Siehe dazu Wilbrink, S. 13. 49 http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8408 (7. Februar 2018); sowie Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 519, Nr. 6. Wachinger benennt 44 Strophen, der Textzeuge weist jedoch mindestens drei komplette Streichungen des Schreibers auf (aufgrund von Dopplungen oder Fehlern bei der Abschrift). 50 Ebd.

46

Matthias Standke

Hymnen‘. 40 Strophen entsprechen, wie auch zumeist die Strophenfolge, dem rekonstruierten Urtext: I; II; III; IX; V; XX; IV; VI; VII; VIII; XI; XII; XIII; XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXVII; XXVIII; XXIX; XXX; XXXI; 44(36); XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXV; XXXVI; XXXVII; XXXVIII; XXXIX; XL; XLII. Zusätzlich wurden die Strophen 11 und 44 (36) des Wilmart’schen Zusatzkorpus übertragen.51 Berta Gillitzer bietet in ihrer Arbeit zu diesen Hymnen einen Abdruck des einzigen Textzeugen, einer Handschrift aus dem vierten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 858, Bl. 126r–130v.52 Jesu gedechtnüs suezz du pist ist eine 45-strophige teilweise gereimte Übertragung, die sich bis auf die drei Strophen des Wilmart’schen Zusatzkorpus – 44 (36); 45 und 51 – an die Strophenfolge des rekonstruierten Urtextes anlehnt:53 I; II; III; IV; V; VI; VII; VIII; IX; X; XI; XII; XIII; XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; 44(36); 45; XX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXVII; XXVIII; XXIX; XXX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXV; 51; XXXVI; XXXVII; XXXVIII; XXXIX; XL; XLI; XLII. Den gereimten oberdeutschen Übersetzungen sind jeweils die lateinischen Strophen vorangestellt.54 Die Übertragung ist in zwei Textzeugen, je einem aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, überliefert: erstens in der 1387 entstandenen lateinisch-deutschen Sammelhandschrift Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1107, Bl. 526v–528v und zweitens in der um 1449 entstandenen Sammelhandschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 7364, Bl. 527vb–530vb. Im Folgenden werden drei Prosaübertragungen präsentiert, die Wachinger in seinem Lexikonartikel unter der Nummer 8 mit der Angabe jeweils eines Textzeugen zusammenfasst.55 Diese Übertragungen sind jedoch zu differenzieren und teilweise um weitere Textzeugen zu ergänzen. O Jhesus eyne suesße gedechteniß ist eine 45-strophige Prosaübertragung.56 In ihrer Strophenfolge stimmt sie weitestgehend mit dem rekonstruierten Urtext überein: I; II; III: IV; V; VI; VII; VIII; IX; X; 14(11); XI; 16(13); XII; 19(15); XIII; 21(17); XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; XX;

51 Vgl. Anm. 25. 52 Siehe Gillitzer, S. 18–23. 53 Vgl. Anm. 25. 54 Siehe dazu und im Folgenden http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/ 8410 (7. Februar 2018); Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520 Nr. 7; ders.: Jesu dulcis memoria [Korr.], Sp. 759; sowie Theben, S. 467, Nr. 7. 55 Siehe dazu Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 8. Wachinger gibt insgesamt vier Prosaübertragungen an. Die Übertragungen Jhesu süß in gedechtniß und O Jhesu sote gedechtnysse sind jedoch nur oberdeutsche bzw. niederdeutsche Varianten einer Übertragung, wie zu zeigen ist. 56 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8413 (7. Februar 2018); sowie Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 8. Bei Theben fehlt diese Übertragung, obwohl sie sich in ihrer Auflistung eindeutig an Wachinger orientiert.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

47

XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXX; XXVII; XXVIII; XXIX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXVI; XXXV; XXXVII; XXXVIII; 55(44); XXXIX; XLI; XLII. Fünf Strophen des Wilmart’schen Zusatzkorpus werden eingeflochten: 14 (11); 16 (13); 19 (15); 21 (17) und 55 (44).57 Der einzige Textzeuge, ein lateinisch-mittelfränkisches Andachtsbuch, stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert: Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 194, Bl. 288v–293v. Der Übertragung geht eine Prosaübertragung des ebenfalls Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Hymnus Salve mundi salutare voraus (Bl. 272r–288r) und es folgt Heinrichs Seuse getzijde der ewigen wißcheit (Bl. 295r–317r). Auffallend sind die Gebrauchsspuren dieses Textzeugen, die auf eine häufige und gezielte Rezeption dieses Hymnus deuten.58 Jhesus is suet in onser memorien wird von Wachinger ebenfalls als Prosaübertragung unter der Nummer 8 seines Lexikonartikels geführt.59 Es handelt sich um eine 47-strophige Übertragung, die zwar fünf Strophen des Wilmart’schen Zusatzkorpus aufweist: 14 (11); 16 (13); 19 (15); 21 (17) und 55 (44). Ansonsten folgt sie aber der Strophenfolge des rekonstruierten Urtextes:60 I; II; III; IV; V; VI; VII; VIII; IX; X; 14(11); XI; 16 (13); XII; (19 (15); XIII; 21(17); XIV; XV; XVI; XVII; XVIII; XIX; XX; XXI; XXII; XXIII; XXIV; XXV; XXVI; XXX; XXVII; XXVIII; XXIX; XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXVI; XXXV; XXXVII; XXXVIII; 55(44); XXXIX; XL; XLI; XLII. Überliefert ist der einzige Textzeuge in einer aus Limburg stammenden Gebetbuchhandschrift des fünfzehnten Jahrhunderts, heute Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, ms. 21953, Bl. 78r–80v. Die nachfolgende Prosaübertragung fasst die letzten beiden Prosaübertragungen Wachingers zusammen. Unter der Nummer 8 seines Artikels im Verfasserlexikon werden die Initien Jhesu süß in gedechtniß und O Jhesu sote gedechtnysse als eigenständig genannt,61 die dazugehörigen Textzeugen, die für das Lexem soet bzw. suet meist ein Dehnungs-e aufweisen, sind allerdings lediglich einer Übertragung O Jhesu soete gedechtnysse zuzuordnen.62 Bei dem von Wachinger angeführtem Initium Jhesu süß in gedechtniß handelt es sich um die oberdeutsche Fassung der an-

57 Vgl. Anm. 25. 58 Die unteren äußeren Ecken der Handschrift weisen allein auf diesen Seiten starke Gebrauchspuren auf, aus welchem Zeitraum sie stammen, kann jedoch nicht rekonstruiert werden. 59 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8416 (7. Februar 2018); sowie Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 8. Bei Theben fehlt diese Übertragung, obwohl sie sich in ihrer Auflistung eindeutig an Wachinger orientiert. 60 Vgl. Anm. 25. 61 Vgl. Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 8. Theben nimmt diese Übertragung als einzige Prosaübertragung mit in ihre Liste auf; siehe Theben, S. 467, Nr. 8. 62 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/translation/8418 (7. Februar 2018).

48

Matthias Standke

sonsten vornehmlich niederdeutsch überlieferten Prosaübertragung. Ich gebe im Anhang einen leicht normalisierten Lesetext der beiden Fassungen zum besseren Nachvollzug dieser Zuordnung. Die Prosaübertragung ähnelt in ihrer Anlage der Versübertragung Jhesus soite betrachtinge, was wiederum auf den Überlieferungskontext im Rahmen der Tagzeiten von der ‚Ewigen Weisheit‘ zurückzuführen ist, deren „integraler Bestandteil“63 sie ist. Bestehend aus mindestens 21 und maximal 24 Strophen ist die Übertragung gemäß den Horen zergliedert; jeder Hore sind je drei Strophen samt einer sich wiederholenden doxologischen Schlussstrophe zugeordnet. Die Strophenfolge entspricht der parallel strukturierten Versübertragung. Wachinger weist neuerdings daraufhin, dass die Übertragung auf eine lateinische Vorlage im Horologium sapientiae von Heinrich Seuse rekurriert,64 diese hatte bereits Mone unter Auslassung der zusätzlichen Texte des Horologiums abgedruckt.65 Dieser Überlieferungskontext hat vermutlich zu der mit Abstand breitesten Überlieferung einer volkssprachlichen Übertragung des Hymnus Jesu dulcis memoria beigetragen. Selbst wenn man die bisher bekannten Textzeugen der übrigen Vers- und Prosaübertragungen des Hymnus zusammenzählt, reichen die 17 Textzeugen nicht an die 22 bisher im ‚Berliner Repertorium‘ gelisteten Textzeugen dieser Prosaübertragung heran.66 Zudem kann man davon ausgehen, dass im Rahmen der Überlieferung der Tagzeiten von der ‚Ewigen Weisheit‘ weitere Textzeugen gefunden werden. Drei der genannten Überlieferungsträger stammen noch aus dem vierzehnten Jahrhundert, einer aus dem sechzehnten Jahrhundert und alle übrigen aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Aus den Beständen der Berliner Staatsbibliothek sind bisher nur 24-strophige niederdeutsche Fassungen aus Gebetbüchern des fünfzehnten Jahrhunderts bekannt: 1. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 6, Bl. 45v–63v; 2. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 7, Bl. 44v–64v; 3. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 8, Bl. 72v–89v; 4. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 324, Bl. 33v–53v; 5. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 451, Bl. 34v–35r; 6. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 471, Bl. 152v–169v. Eine 24-strophige niederdeutsche Fassung befindet sich in einer Gebetbuchhandschrift des fünfzehnten Jahrhunderts, heute Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 230, Bl. 109v–127r. Die 24-strophige Fassung der Gebetbuchhandschrift (fünfzehntes Jahrhundert) aus St. Peter im Schwarzwald ist

63 Vgl. Anm. 41. 64 Siehe Wachinger: Rezension, S. 405 Anm. 8; dort mit Verweis auf die kritische Edition des Textes, Künzle, S. 606–618. 65 Vgl. Anm. 45. 66 Die Zählung berücksichtigt alle Textzeugen der übrigen Übertragungen, selbst die verschollenen Textzeugen der Übertragung Jehsus soite betrachtinge.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

49

der einzige Textzeuge der oberdeutschen Fassung, heute Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 9, Bl. 30v–37r.67 Eine 24-strophige niederdeutsche Fassung befindet sich in einem Stundenbuch des sechzehnten Jahrhunderts, heute Mülheim, Stadtarchiv, 1091/3, Bl. 83v–94r. Die einzige 21-strophige und ebenfalls niederdeutsche Fassung stammt aus einer Gebetbuchhandschrift des fünfzehnten Jahrhunderts, heute München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 160, Bl. 32r–43v. Das vermutlich aus dem Benediktinerkloster Brakel stammende Gebetbuch des fünfzehnten Jahrhunderts birgt den einzigen von Wachinger für diese Übertragung genannten,68 24-strophigen niederdeutschen Textzeugen, heute Trier, Bistumsarchiv (mit Dombibl.), Abt. 95 Nr. 559, Bl. 140r–145r. Das mit elf 24strophigen Textzeugen weitaus größte überlieferte Korpus dieser Übertragung befindet sich heute in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, es handelt sich ausnahmslos um niederdeutsche Gebetbuchhandschriften. Drei davon stammen noch aus dem vierzehnten Jahrhundert: 1. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 81.1 Aug. 8°, Bl. 45v–60r; 2. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 88.9.2 Aug. 12°, Bl. 136r–146v; 3. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1166 Helmst., Bl. 91r–106r. Die übrigen acht Gebetbücher wurden erst im fünfzehnten Jahrhundert erstellt: 1. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 59.1 Aug. 8°, Bl. 55v–73r; 2. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 62.14 Aug. 8°, Bl. 63v–83v; 3. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 65.4 Aug. 8°, Bl. 90r–110v; 4. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 67.10 Aug. 8°, Bl. 40r–55r; 5. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 85.7 Aug. 12°, Bl. 43v–56v; 6. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 85.11 Aug 12°, Bl. 77r–97v; 7. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1025 Novi, Bl. 240v–253v; 8. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1155 Helmst., Bl. 323r–335v. Har gesus gat in paradis ist eine sechsstrophige Versübertragung.69 Die Strophen bestehen aus je zwei dreihebigen paarreimenden Versen sowie einem Kehrvers. Die gesamte erste Strophe ist in Latein verfasst, ihre beiden ersten Verse entsprechen den ersten beiden Versen der ersten Strophe des Hymnus Jesu dulcis memoria. Der Kehrvers entstammt hingegen dem Gebet O bone Jesu. Die Zuordnung der Übertragung ist umstritten. Während Bremme sie als seine Nummer 2

67 Dieser Textzeuge war die Basis für Wachingers eigenständig angegebene Übertragung mit dem Initium Jhesu süß in gedechtniß. 68 Siehe dazu nochmals Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 8. An anderer Stelle merkt Wachinger aber an, dass es durchaus weitere Textzeugen geben kann, siehe Wachinger: Rezension, S. 405 Anm. 8. 69 Vgl. Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 9; ders: Jesu dulcis memoria [Korr.], Sp. 760; sowie http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/8444 (7. Februar 2018).

50

Matthias Standke

führt, Wackernagel seinen Abdruck mit dem Initium des Hymnus betitelt und Wachinger sie als Nummer 9 in seinem Artikel des Verfasserlexikons – wenn auch in kleinerer Schriftgröße – mitaufnimmt, ordnet Theben diese Versübertragung nicht mehr dem Hymnus zu.70 Der einzige Textzeuge befindet sich in einer Sammelhandschrift der Basler Kartause aus dem späten vierzehnten Jahrhundert, heute Basel, Universitätsbibliothek, B XI 8, Bl. 1r–v. Die süß gedechtnüß Ihesu ist eine 50-strophige Versübertragung, die im Artikel des Verfasserlexikons fehlt.71 Die Strophen der Übertragung weisen einen unregelmäßigen Paarreim auf. Neben den 42 Strophen des rekonstruierten Urtextes von Wilmart, die in ihrer Reihenfolge größtenteils stimmen, werden drei Strophen seines Zusatzkorpus verwandt: 21 (17); 44 (36) und 59.72 Außerdem bilden die letzten fünf Strophen vor der abschließenden Doxologie den Hymnus Jesu nostra redemptio,73 ein Umstand, der für die lateinischen Fassungen bereits im Wilmart’schen Zusatzkorpus vermerkt ist.74 Daraus ergibt sich die Strophenfolge: I; II; III; V; IX; IV; VI; VII; VIII; XI; XII; X; XIII; 21(17); XV; XVI; XIX; XVIII; XIV; XVII; XX; XXI; XXII; XXIII; XXXIV; XXV; XXXI; XXVI; XXVII; XXVIII; XXIX; XXX; 44(36); XXXII; XXXIII; XXXIV; XXXV; XXXVI; XXXVII; XXXVIII; XXXIX; XL; XLI; 59; XLII; fünf Strophen des Hymnus Jesu nostra redemptio; Doxologie. Der einzige Textzeuge stammt aus einem oberdeutschen Gebetbuch des frühen fünfzehnten Jahrhunderts, das im Nürnberger Katharinenkloster abgefasst wurde, heute Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III.1.8° 39, Bl. 106r–112r. Eine weitere Versübertragung hat Burghart Wachinger vor einigen Jahren im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv gefunden. Leider ist diese Übertragung, die im Anhang ebenfalls als normalisierter Lesetext abgebildet wird, nur bruchstückhaft in einer Fragmentmappe überliefert.75 Es handelt sich um den Pergamentstreifen mit der Signatur Stuttgart, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 522 A 282, r–v.76 Die wenigen überlieferten Strophen entstammen alle dem rekonstruierten Urtext und lassen auf eine ihm gleichende Strophenfolge schließen: XXXI; XXXII; XXXIII; XXXIV 1–2; XXXVII 2–4; XXXVIII; XXXIX; XL 1–2. Wie die Versübertragung Ihesus is suet in onser memorien ist auch diese volkssprachliche Übertragung mit den je-

70 Siehe dazu Bremme, Nr. 2; Wackernagel, S. 325, Nr. 489; Wachinger: Jesu dulcis memoria, Sp. 520, Nr. 9; sowie Theben, S. 465. 71 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/translation/8446 (7. Februar 2018). 72 Vgl. Anm. 25. 73 Vgl. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/original/7239 (7. Februar 2018). 74 Vgl. Wilmart, S. 196 Anm. 12. 75 Das ‚Berliner Repertorium‘ führt die Übertragung unter [Incipit fehlt], vgl. http://opus.ub.huberlin.de/repertorium/browse/translation/9958 (7. Februar 2018). 76 Siehe dazu Wachinger: Rezension, S. 406.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

51

weiligen lateinischen Strophen des Hymnus verknüpft, allerdings handelt es sich um eine Synopse.

3. Makroskopische Beobachtungen zu Umfang, Korpus und Strophenfolge Der Überblick über die deutschen Prosa- und Versübertragungen des lateinischen Hymnus Jesu dulcis memoria zeigt auf makroskopischer Ebene der Übertragungen – sieht man einmal von der Versübertragung Har gesus gat in paradis und der nur fragmentarisch überlieferten Versübertragung ab – dreierlei: Erstens tendieren die meisten der deutschen Übertragungen anders als der stetig erweiterte lateinische Hymnus zur Kürze oder sie weisen annähernd den Strophenumfang des rekonstruierten Urtexts auf. Von den neun Versübertragungen haben fünf einen geringfügig größeren Umfang, nämlich einmal 50, zweimal 47, einmal 44 und einmal 43 Strophen. Eine Übertragung hat genau 42 Strophen und vier Übertragungen sind sogar kürzer, zwei davon, weil sie ihre 21 bis 24 Strophen innerhalb der Tagzeiten der ‚Ewigen Weisheit‘ anordnen. Die beiden anderen Übertragungen haben sogar nur elf bzw. 16 Strophen. Ähnliches gilt für die drei Prosaübertragungen. Nur eine Übertragung weist mit 45 Strophen einen geringfügig größeren Strophenumfang auf. Eine hat genau 42 Strophen und die andere Prosaübertragung ist mit ihren 21 bis 24 Strophen wiederum in die Tagzeiten von der ‚Ewigen Weisheit‘ eingebunden. Diese Tendenz zur Kürze bzw. Passgenauigkeit ist auffallend, haben doch Wilmart und Lausberg für die lateinische Überlieferung eine genau gegenläufige Beobachtung gemacht.77 Zweitens fällt auf, dass es außer doxologischen Zusatzstrophen keine Erweiterungen gegenüber dem Strophenkorpus des rekonstruierten Urtextes und dem Wilmart’schen Zusatzkorpus gibt.78 Der Kern aller Übertragungen ist auf die 42 Strophen des lateinischen Hymnus zurückzuführen. Dem umfänglichen Zusatzkorpus ist nur eine kleine Anzahl von 14 Strophen entnommen; meist handelt es sich dabei um dieselben Strophen, so dass auch in dieser Hinsicht von einem sehr einheitlichen Korpus gesprochen werden kann. Im Einzelnen sind dies folgende

77 Vgl. Anm. 4 und 5. 78 Ausgenommen ist hier die niederdeutsche 16-strophige Versübertragung O Jhesus suete andachticheit, für die fünf Strophen noch nicht abschließend zugeordnet werden konnten. Sie weist allerdings ähnliche Varianzen in ihrer Strophenfolge wie die beiden Versübertragungen Jhesus suess dein gedachtnus ist und Die süß gedechtnüß Ihesu auf.

52

Matthias Standke

Strophen:79 einmal die 11, dreimal die 14 (11), dreimal die 16 (13), einmal die XVII², dreimal die 19 (15), siebenmal die 21 (17), einmal die 33², viermal die 44 (36), zweimal die 45, zweimal die 51, viermal die 55 (44), einmal die 59, einmal die 74 und einmal die 78. Die sich anschließende Betrachtung der Strophenfolge offenbart zudem, dass der Einsatz der mehrfach verwendeten Zusatzstrophen an den gleichen Stellen innerhalb des Hymnus erfolgt. Drittens ist die Strophenfolge, vor allem bei den mindestens 42-strophigen Übertragungen, eng an die Strophenfolge des lateinischen Urtextes angelehnt bzw. gleicht dieser fast vollständig, wie im Falle der Versübertragung Jesu gedechtnüs suezz du pist, die lediglich drei ergänzende Strophen aufweist: zwei, die 44 (36) und die 45, zwischen der XIX. und XX. Strophe und eine, die 51, zwischen der XXXV. und XXXVI. Strophe. Der Einschub dieser Zusatzstrophen an eben jenen Stellen liegt auch in der Übertragung Der süzz gedanch an ihesum christ vor, die zusätzlich aber noch eine Vertauschung der IV. und V. Strophe aufweist und anstelle der XVII. Strophe die Strophe XVII² des Zusatzkorpus bringt. Derartige Parallelen in der Aufnahme von Zusatzstrophen oder der Vertauschung von Strophen ist in weiteren Übertragungen feststellbar. O Jhesus eyne suesße gedechteniß wie auch Jhesus suite betrachtinge und Jhesus is suet in onser memorien bauen ihre Zusatzstrophen gleich ein: X; 14 (11); XI; 16 (13); XII; 19 (15); XIII; 21 (17) und XVIII; 55 (44). Zudem ziehen alle drei Übertragungen die XXX. Strophe nach der XXVI. vor. Eine ähnliche Vertauschung, nämlich die invertierte Strophenfolge XXXIV; XXXVI; XXXV, bieten die bereits genannten Übertragungen O Jhesus eyne suesße gedechteniß, Jhesus is suet in onser memorien und die Versübertragung Jhesu wan ich gedencke an dich. Es ließen sich noch weitere parallele Konstruktionen in der Strophenfolge der Übertragungen finden, auch bei den kürzeren Übertragungen.80 Ich belasse es bei den Befunden, die bereits auf eine enge Bindung an die Strophenfolge des rekonstruierten Urtextes verweisen und auf eine Präferenz bezüglich etwaiger Zusatzstrophen und ihrer Einbindung innerhalb der jeweiligen Strophenfolge.

4. Dramaturgie als liturgischer Ankerpunkt An die Strophenfolge und in gewisser Hinsicht auch an den Gesamtumfang einer Übertragung ist die jeweilige Dramaturgie eines Hymnus gekoppelt. Heinrich 79 Da Wilmart zwar auf den Umstand, dass der Hymnus Jesus nostra redemptio bereits innerhalb der lateinischen Überlieferung mit eingewoben wurde, verweist, aber nicht jede seiner fünf Strophen im Zusatzkorpus führt, lasse ich diese hier weg. Siehe dazu ansonsten Wilmart, S. 396. 80 Ich füge eine ausführliche Tabelle der Strophenfolgen im Anhang an.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

53

Lausberg hat für den rekonstruierten Urtext des lateinischen Hymnus und dessen Strophenfolge die Struktur des antiken Dramas als sinngebend und liturgisch wirksam herausgearbeitet. Die in der Mehrzahl der deutschen Übertragungen beobachtete Tendenz,81 sich an diese Strophenfolge des lateinischen Hymnus zu halten bzw. nur bestimmte Zusätze oder Variationen vorzunehmen, offenbart zweierlei: Erstens haben die Übersetzer der volkssprachlichen Übertragungen die ursprüngliche Dramaturgie des lateinischen Hymnus erkannt und zweitens haben sie versucht, diese ‚Dispositions-Dynamiken‘ in ihren Übertragungen mit Blick auf die Liturgizität der volkssprachlichen Texte zu bewahren. Das heißt, die Übersetzer haben ausgehend von der dem ursprünglichen lateinischen Hymnus inhärenten Dramaturgie ihre Übertragungen angefertigt. Insofern die Dramaturgie des lateinischen Hymnus zu dessen Liturgizität beiträgt und beide performativ stützt, dient die Orientierung der volkssprachlichen Übersetzer an besagter Dramaturgie einem bestimmten Zweck. Sie bemühen sich, den Übertragungen einen möglichst hohen Grad an Liturgizität beizumessen, indem sie die Disposition der volkssprachlichen Texte samt der daran geknüpften Dramaturgie möglichst nah an den lateinischen Ursprungshymnus angleichen. Exemplarisch sei dies für die drei Übertragungen O Jhesus eyne suesße gedechteniß, Jhesus suite betrachtinge und Jhesus is suet in onser memorien vorgeführt, die die bereits erwähnte auffällige Abfolge von Zusatzstrophen parallel aufweisen. Die Strophenfolge X; 14 (11); XI; 16 (13); XII; 19 (15); XIII; 21 (17) findet sich in den drei Übertragungen nach dem Proömium (I–II) am Ende der Protasis (III–XII) und zu Beginn der Epitasis. Das lyrische Ich hat also bereits in die Thematik des Hymnus eingeführt und begonnen, die erste Intensivierung der Suche nach der Gegenwärtigkeit Christi zu beschreiben. Den Abschluss der Protasis bildet die Rede Maria Magdalenas über ihr persönliches Präsenzerlebnis sowie die Aufforderung zur imitatio. Genau in diese Rede sind drei der vier Zusatzstrophen eingebunden, die vierte ergänzt die neuerliche Einleitung des lyrischen Ichs in den zweiten Hauptteil des Hymnus sowie die Epitasis. Zum Vergleich seien hier neben den entsprechenden lateinischen Strophen auch die Strophen der Prosaübertragung und einer der beiden Versübertragungen gegeben:82

81 Ich berücksichtige hierfür nicht die in die Tagzeiten eingegliederten Übertragungen sowie die umstrittene Versübertragung Har gesus gat in paradis. Das hieße, dass acht von elf Übertragungen eine solche Tendenz aufweisen und für das Fragment, also eine neunte Übertragung, durchaus ähnliches angenommen werden kann. 82 Alle Zitate aus den Handschriften wurden hinsichtlich der Klein- und Großschreibung normalisiert; u/v- sowie i/j-Wechsel ist dem Lautstand angeglichen; Schaft-s ist als rundes s wiedergegeben; Abbreviaturen wurden aufgelöst; zugunsten der Lesbarkeit wurde eine moderne Interpunktion eingefügt.

54

Matthias Standke

nach Wilmart83

Jhesus is suet in onser memorien84

Jhesus suite betrachtinge85

Mane nobiscum, domine, Et nos illustra lumine Pulsa mentis caligine, Mundum replens dulcedine.

Here blyft nu met ons, met dinen Lichte verluchte ons, veriaghet onser Herten Donckerheit, vervulle die Werelt inz Soeticheit.

Nu blyf myt uns, ghetruwe Here, mit dinen Lecht uns allen lere, verdryf des Herten Swaricheit, vervulle uns myt Vroelicheit.

Quando cor nostrum uisitas, Tunc lucet ei ueritas; Mundi uilescit uanitas Et intus feruet caritas.

Wanneer du den vandes ons Herten, Ynnicheit dan soe luchtet hem die Waerheit, hem woert onweert der WereltYydelheit, van bynnen es Mynne in Vuricheit.

Als du kumpst in dat Herte myn, so luchtet my der Waerheit schyn, dan sterft in my al Ydelheit der Leven bernnet Vuricheit.

Amor Iesu dulcissimus Et uere suavissimus, Plus milies gratissimus Quam dicere sufficimus.

O Ihesu een alre suetste Mynne ende waerlyc alre ghenuchlycste. Duysent meer aen ghenaemer, dan wi segghen moghen of yemant meer.

Jhesu Mynne is weldenryck, niet Soters vynt men sekerlyck, dusentwerf is see leefliker, dan wy ghespreken ummermeer.

Hoc probat eius passio, Hoc sanguinis effusio, Per quam nobis redemptio Datur et dei visio.

Dat bewyst sine Passie ende tvtstorttinghe syns Bloets. Doer welken ons Ghegenwoert, Verlossinghe onde ons Herten Bescouwinghe.

Des is eyn tuich syn Liden groet, syn edel Bloet dat he vergoet, daer mede wy alle syn verloest, des heb wy seker ryken Troest.

lesum omnes agnosicite Amorem eius poscite, Iesum ardenter quaerite, Quaerendo inardescite.

Ihesum bekennet. O allen Menscen sine Mynne sult ghi van hem heisschen. Jhesum suecket seer vuerichlyc al sueckende onrsteker uch.

Jhesum sullen gy bekennen leren siner Vrentschap sult gy begeren, Ihesum to soken syt bereit myt groter Leve und Vuricheit.

Sic amantem diligite, Amoris vicem reddite, In hunc odorem currite Et vota votis addite.

Alsoe uwen Mynnenden mynnet, synre Mynnen Loen weder ghevet.

De yn leef hevet, den hebbet leef, mit Levede leert betalen Leef. In synen Roke lopet na em, want he yn ment so menet en.

Iesu auctor clementiae, Totius spes laetitiae, Dulcoris fons et gratiae, Verae cordis deliciae.

O Ihesum een Vermerke der Myldicheit, een Hof der ganser Vrolycheit, een Borne der Ghenaden ende der Soeticheit ons Herten seker Wallust.

O ihesu Meister der Guetheit, wi wachten dyner Vrolicheit, du bist de Burn der Mildicheit, des Herten ware Lusticheit.

lesu mi bone, sentiam Amoris tui copiam: Da mihi per praesentiam Tuam videre gloriam.

O Ihesum goet Brutigam myn, gevolen moet ic der volre Soeticheit dyn, ghyf my doer dine Teghenwoerdicheit, te sien dynre Glorien Ewicheit.

Gude Ihesu gif my to Hant, dat ick vole der Mynnen Brant, laet my schouwen dyn Angesicht, mit Vrouden in den Hymmelryck.

83 Wilmart, S. 185–187. 84 Wiedergegeben nach: Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, ms. 21953, Bl. 78r–80v. 85 Wiedergegeben nach: Langenberg, S. 54 f.  

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

55

Die Einschübe während der Rede Maria Magdalenas dehnen nicht nur deren Redeanteil aus. Sie dienen ebenso der inhaltlichen Ergänzung und Erweiterung, wobei die eingeschobenen Strophen immer einen Bezug zur vorherigen Strophe des rekonstruierten Urtextes aufweisen. So greift die Strophe 14 (11) die Lichtbringermetaphorik der Strophe X auf, die Magdalena mit der erlebten Gegenwärtigkeit Christi verbindet. Die Passionsstrophe 16 (13) ist hingegen als Beweis und Begründung für die Strophe XI angelegt, in der Magdalena von der allerlösenden Liebe Christi spricht. Noch expliziter ist dann der Bezug der Strophen XII und 19 (15), die den Abschluss ihrer Rede innerhalb des Hymnus bilden. Die Zusatzstrophe doppelt in ihrer Struktur, die ebenfalls auf vier Imperativen gründet, den Aufruf zur imitatio, der so noch vehementer wirkt. Das lyrische Ich leitet anschließend konsequent in die Epitasis (XIII–XXIV), seinen Bericht über das eigene Sehnen, Suchen und das tatsächliche Präsenzerlebnis, über. Die Strophe XIII dient dabei einer erneuten, lobpreisenden Anrufung der göttlichen Instanz parallel zur dritten Strophe. Diese Anrufung (Iesu / O Ihesum) wird mittels der Strophe 21 (17) ebenfalls wiederholt (Iesu / O Ihesum) und um den Wunsch eines neuerlichen Präsenzerlebnisses ergänzt. Diese Verknüpfung erweitert den in der Anrufung Christi geäußerten Wunsch des lyrischen Ichs, „das großmütige Geschenk einer gelungenen Dichtung, die meinem Publikum deine Freude, deine Süße und Gnade und deine Lust vermitteln will“86, auch für sich selbst noch einmal zu beanspruchen. Der sich anschließende Nachvollzug des Präsenzerlebnisses (vor allem in der Katastasis) dient in seiner performativen Vermittlung einer erneuten Teilhabe an der Gegenwärtigkeit. Die Zusatzstrophen stören die Dramaturgie des Hymnus nicht. Im Gegenteil verstärken sie sogar einzelne Aussagen und erweitern das performative Potential einer gemeinsamen Heilsvergegenwärtigung in den volkssprachlichen Übertragungen. Anders gesagt, führen die Ergänzungsstrophen in den deutschen Übertragungen des lateinischen Hymnus weder zu einer Überblendung noch zum Verlust der liturgischen Bezüge, wie es Lausberg und Wilmart für einen Großteil der lateinischen Überlieferung konstatiert haben. Die enge Bindung an den Umfang und die Strophenfolge des rekonstruierten Urtextes, die die Mehrzahl der deutschen Übertragungen aufweisen, sichern den Erhalt der Dramaturgie und damit der Liturgizität des Hymnus auch oder gerade in der Volkssprache.

86 Lausberg: Hymnologische und hagiographische Studien, S. 484.

56

Matthias Standke

5. Literaturverzeichnis AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Bremme, Wilhelm: Der Hymnus Jesus dulci memoria in seinen lateinischen Handschriften und Nachahmungen sowie deutschen Übersetzungen. Mainz 1899. Gillitzer, Berta: Die Tegernseer Hymnen des Cgm. 858. Beiträge zur Kunde des Bairischen und zur Hymnendichtung des 15. Jahrhunderts. München 1942 (Forschungen zur bairischen Mundartkunde 2). Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit. Anhang: In dulci iubilo. Nun singet und seid froh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie. Reprografischer Nachdruck der 3. Aufl. Hannover 1861. Hildesheim 1965. Hölscher, Bernhard: Niederdeutsche geistliche Lieder und Sprüche aus dem Münsterlande. Nach Handschriften aus dem XV. und XVI. Jahrhundert. Berlin 1854. Kühne, Udo, Bernhard Tönnies, Anette Haucap: Handschriften in Osnabrück. Bischöfliches Archiv, Gymnasium Carolinum, Bischöfliches Generalvikariat, Kulturgeschichtliches Museum, Niedersächsisches Staatsarchiv, Diözesanmuseum, Pfarrarchiv St. Johann. Wiesbaden 1993 (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen 2). Künzle, Pius: Heinrich Seuses Horologium sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benützung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer OP. Freiburg (Schweiz) 1977 (Spicilegium Friburgense 23). Langenberg, Rudolf: Quellen und Forschungen zur Geschichte der deutschen Mystik. Bonn 1902. Lausberg, Heinrich: Hymnologische und hagiographische Studien. Der Hymnus „Jesu dulcis memoria“. München 1967. Lausberg, Heinrich: Zum Hymnus „Jesus dulcis memoria“. In: Martyria, Leiturgia, Diakonia. FS Hermann Volk. Hg. von Otto Semmelroth. Mainz 1968, S. 361–369. Mone, Franz Joseph: Lateinische Hymnen des Mittelalters. Bd. 1: Lieder an Gott und die Engel. Freiburg i.Br. 1853. Müller, Joseph Godehard: Jesu dulcis memoria. (Tagzeiten der heiligen Anna). In: Niederdeutsches Jahrbuch 5 (1879), S. 56–59. Stock, Alex: Lateinische Hymnen. Herausgegeben, kommentiert und übersetzt. Berlin 2012. Theben, Judith: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen – Texte – Repertorium. Berlin, New York 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2). Wachinger, Burghart: Jesu dulcis memoria (Jubilus S. Bernhardi de nomine Jesu) (deutsch). In: 2VL 4 (1983), Sp. 518–520. Wachinger, Burghart: Jesu dulcis memoria [Korr.]. In: 2VL 11 (2004), Sp. 759 f. Wachinger, Burghart: Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen – Texte – Repertorium (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2), Berlin, New York 2010. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 140 (2011), S. 402–409. Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied. Bd. 2: Lieder und Leiche bis auf die Zeit der Reformation, von Otfried bis Hans Sachs einschl. (868–1518). Leipzig 1867. Wilmart, André: Le „Jubilus“ dit de saint Bernard. Etude avec textes. Rom 1944.  

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

57

6. Anhang: Lesetexte und tabellarische Übersicht der Strophenfolge Im Folgenden wird für die deutsche Prosaübertragung, die im Rahmen der Tagzeiten von der ‚Ewigen Weisheit‘ überliefert wurde, sowie für die fragmentarische Versübertragung je ein exemplarischer Lesetext abgedruckt.87 Die Edition der Prosaübertragung wird als Synopse der oberdeutschen und niederdeutschen Fassung der 32-strophigen Übertragung abgefasst, um einen vergleichenden Eindruck auch gegenüber den bereits bestehenden Textausgaben der parallel gestalteten Versübertragung Jhesus soite betrachtinge zu geben.88 Gleiches gilt für den Lesetext der fragmentarischen Versübertragung, der bereits als Synopse des lateinischen Hymnus und der deutschen Übertragung angelegt ist. Grundlage des Lesetextes der Prosaübertragung sind zwei Handschriften: zum einen die Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Peter pap. 9, Bl. 30v–37r, die den einzigen oberdeutschen Textzeugen bietet und zum anderen die Handschrift Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 7, Bl. 44v– 64v. Grundlage des Lesetextes der fragmentarischen Versübertragung sind die zwei von Wachinger gefundenen Pergamentstreifen des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs, die als Digitalisat vorlagen.

Lesetext: Jhesus soite betrachtinge Oberdeutsche Fassung

Niederdeutsche Fassung

44v Ymmen. 30v Ymnus. Jhesu suete Ghedenckenisse du gheves Ihesu süß in Gedechtniß geben woren Fride des Hertzen mir aber, ůber Honig und alle 45r waerachtighe Bliscap des Herten mer, boven Honich ende alle Dinc sine suete Ding ist süß sin Gegenwirtigkeit. Teghenwoerdicheit.

31r

Nuizit wirt gesungen süssiglicher, nüizit frölichers gehört noch süssers gedocht weder Ihesus gottes sun.

Niet en mach men singhen, dat sueter is. Niet en mach men horen, dat vroliker is. Niet en mach men dencken dat, sueter is, dan Jhesus, die Gotes Sone.

Ihesus ein Hoffnung der Ruwenden. Wie gar milt bistu den Pittenden, wie gut den Suchenden, aber was den Findenden.

O Jhesus een Hope der Gheenre, die in Berouwen syn. Hoe guedertieren bistu den Gheven, die di bidten. Hoe guet bistu den

87 Vgl. Anm. 82. 88 Siehe zu den Textausgaben von Hölscher und Müller Anm. 44.

58

Matthias Standke

Gheven, die die sucken. Mer wat bistu den Gheven, die dy vinden.

33r

Ewige Wißheit dir und dem Vater Glori mit dem tröstenden Geist durch unentliche welten. Amen.

O ewighe Wysheit di ende den Vater ende den heilighen Gheest moet syn Glorie in ewicheiden Amen.

Ihesu wunsamer Künig und edler Siger. Ein 51r unussprechlichen Sůsi und ganz begirlich.

O Jhesu mynlike Wunne ende edel seghen Echter. Du bist een onsprekelike Sueticheit ende altemale begheerlic.

Weder die Zung mag es nit sprechen, noch der Buchstab ußtrucken. Dem Erfarnen magstu. gelouben, was do sig, Ihesum lieb haben.

33v

34r

51v

Den can gheen Tonghe ghespreken, noch Littere beduden. Die Gheendiet besocht hevet, macht gheloven, wat is Jhesum te mynnen.

Die Lieb Jhesu on unterloß ist mir bi wonlicher siechtum. Mir Jhesus der Honig fliessend, der Frucht ist ewig.

Die ghestadighe Mynne Jhesu is my een ghestade quellunghe. Jhesus is my een honichvlietende Sueticheit ende een ewighe Vrucht des levens.

Ewige Wißheit, dir und dem Vater Glori mit dem tröstenden Geist durch vnentlichen Welten, Amen.

O ewighe Wysheit, di ende den Vader ende den heilighen Gheest moet syn Glorie, in Ewicheiden Amen.

Ihesu aller süesseste Lieb und worlich milt, 53v me wen tußent Molen angenemer weder wir gesprechent mögen.

O alre suetste Mynne Jhesu ende waerlike alre suetste dusent Werven bequamer dan wi mogen segghen.

Ihesu englische Gezierd, in den Oren ein süß Gesang, im Mund wunder fliessendes Honig, im Hertzen himelischer Süessertranck.

O Jhesu enghelsche Scoenheit. In den Oren een suete Sanc. In den Monde een wonderlic Honich. In den Herten eem hemels lutter Dranc.

Min gutter Ihesu ich muß inne werden diner Lieb. Genügsame gib mir durch din Gegenwirtigkeit, sehen din Glori.

O myn guede Jhesu laet im ghevoelen Overvloedicheit. Dynre Mynne gif my mit Teghenwoerdicheit, te sien dine Glorie.

Ewige Wisheit, dir vnd dem Vater Glori mit 54r dem tröstenden Geist durch vnentlichen Welten, Amen.

O ewighe Wysheit, di ende den Vader ende den heilighen Gheest moet syn Glorie, in Ewicheiden Amen.

55r

O Jhesu dine Mynne is ene bequame Vermakinghe der Sielen, Vervullende sonder Moyenisse ende sie is ghevende der Begheerten Hongher.

Ihesu din lütselige Liebi ist des Gemütes Labung, faret on Verdruß und gibt dem Verlangen Hunger.

Welche din versuchen, die hungert noch dir. Die dich trincken, die türstet noch me. Si wissen, noch könen nit anders begeren den Ihesum, den si lieb hand.

55v

Die di smaken, den honghert nae di. Die di drincken, den dordt nae di. Sie en kunnen niet begheren dan Jhesum, die sie mynnen.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

34v

35r

36r

59

Ich beger din zu tusent Molen, min Ihesu. Wen wistu komen? Wen wirstu mich frölich machen? Wen wirstu mich mit dir selber settigen?

Ic begheer di dusentwers, myn Jhesu. Wanneer salstu comen? Wanneer salstu my blide maken? Wanneer salstu my versaden van di?

Ewige Wißheit etc.

O ewighe Wysheyt, di ende den Vader ende den heilighen Gheest moet syn Glorie, in Ewicheide Amen.

57r Ihesu aller öberste Gütigkeit des Hertzen, wunderliche Fröligkeit, unbegriffne Gutheit, din Lieb mich zwing.

O Jhesu die overste Guedertierenheit ende wonderlike Vrolicheit, des Herten een onbegripelike Guetheit, laet dine Mynne my bevanghen.

Gut ist mir Ihesum zu lieben, fürbas nit anders zu suchen und mir ganz gebresten, das ich Ihesum leben mög.

Het is my guet Jhesum te mynnen, voert an iner anders te sueken, het is my nutte, dat ick my selven late, op dat ic Jhesu mach leven.

57v Ihesu min aller liebster ein Hoffnung, der uf süfftzenden Selen. Dich suchen die innigen Trehen und des Hertzen innerliches Geschrey.

O Jhesu myn alre suetste een Hope, der suchten der Sielen, die innighe Traven sueken di ende dat Roepen des innighen Herten.

Ewige etc.

O ewighe Wysheit, di ende den Vader ende den heilighen Gheest moet syn Glorie, in Ewicheiden Amen.

In welhen Stetten ich bin, so beger ich Ihesum mit mir. Wie frölich bin ich, so ich in find. Wie selig, so ic in behalt.

58v

In wat Stehden dat ic bin, soe begheert Minnen Jhesum. Hoe blide bin ic, als icken vinden. Hoe salich binic, als icken holte.

59r In der Zit siner Ummhalsung und Kußen, die über gond den Tranck des Honiges, wie selig den so vereiniget bin mit Christo, aber in dißen Dingen kurtze härz.

In dier Tyt syn Omhelsinghe ende Cussen, die boven gaen den Dranc des Honichs, dan is salich die Vereinughe myt Christo, mer het is ene cleyne Stonde.

Das ich gesucht hab, sich ich nun. Was ich begert hab, dz halt ich. In der lieb Christi siech ich und in dein Hertzen brenn ich.

Dat ic ghesocht hebbe, dat sie ic no. Dat ic begheert haebbe, dat holde ic. In der mynnen Cristi soe quelle ic ende in der Herten soe verne ic altomale.

Ewige Wißheit etc.

O ewige Wysheide di ende den Vader ende den heiligen Gheest moet syn Glorie, in Ewicheyden Amen.

Got sidender Balsam, du bist süß über aller 61r Süssigkeit und für alle Ding lieblichest.

O Jhesu du bist claerre dan die Sonne, sueter dan die Balsame. Du bist suete boven alle Sueticheit ende mynliker boven alle Dinc.

Du bist des Gemůttes Lust, der Lieb Vollendung. Du bist min Glorieren, von Ihesu, Behalter der Welt.

Du bist een Ghenuechte der Sielen, du bist een Volbrendhen der Minnen. Du bist myn Glorieren, O Jhesu, Beholdinghe der Werelt.

60

Matthias Standke

Ihesu Stifter der Genedigkeit, ein gantze Hoffnung der Freiden, ein Brunn der Genoden und Süssigkeit und ein worhaftige Freid des Hertzen.

Jhesus is een Maker der Guedertierenheit, een Hope alre Bliscap. Hie is ene Fonteine der Gracien ende der Sueticheit, hie is die waerachtighe Welde der Herten.

Ewige Wißheit, dir und dem Vater Glori mit 61v dem tröstenden Geist durch unentliche Welten, AMEN.

O ewighe Wysheit, di ende den Vader ende den heilighen Geest moet syn Glorie, in Ewicheiden Amen.

36v

64r Ihesus in Friden gebüttet, die allen Sinne über trift. Des begert min Gemůt und ilet sin zu nysßen.

Jhesus regyeert in den Vrede, die allen synen boven gaet. Dessen Vrede begheert myne Siele ende haestet dien to ghebruken.

37r

Dich, der des Himels Tor verkündet und din Lob wider singet, Ihesus die Welt frölich macht und sin Lob uns Got versünet.

Di soe Predict dat Choer des Hemels ende wederhaelt dine Love, Jhesus verblyt den Ommeganc der Werelt ende maect ons te Vreden mit Gode.

Ihesus ist zu sinem Vatter wider gangen, das himelisch Rich in gefaren. Min Hertz von mir gangen ist und ist noch Ihesum gefaren und zemol geswungen.

Jhesus is weder ghegaen totten Vader, hie is in ghegaen in dat hemelsche Rike. Myn Herte is van my gegaen ende is Jhesum vae ghegaen.

Ewige Wißheit, dir und dem Vater glori mit 64v O ewighe Wysheit, di ende den Vader ende den heilighen Gheest moet syn Glorie, in dem trostenden Geist druch unentliche Ewicheiden Amen. Welt, Amen.

Lesetext [Incipit fehlt] 282r

282v

O Ihesum partus virginis, Amor nostrae dulcedinis, Tibi laus honor nominis, Regnum beatitudinis.

Ihesum Blůme, dich trůc ain Mait, Ain Mine unsir Süzikait. Du bist ain Ere der Gothait, Von ain Rich der Saelikait.

Ihesu sole serenior Et balsamo suavior, Omni dulcore dulcior, Pre cunctis amabilior.

Ihesu liehter denne der Sunnen Schin, Senfter denne der Balsame muge sin, Su süze enist nit alse du, Hoh ouch so mineclich da zu.

Cuius me amor afficit? Cuius me odor reficit? Inquoo mens mea deficit? Solus amanti sufficit.

Din Mine mich dich minen tůt. Din Was erkiket mir den Můt. Můtis bebrechet mir an dir. Diu geinůgis aine minender Gir.

Tu mentis delectatio, Amoris consummatio.

Den Můt du ze Glust wendist, Alle Froude du endist.

Celi cives occurite! Triumphatori dicite! Salve Christe rex inclite!

Sanc gein un dane wer, Den Sik mit Krefte hat genomen. Nu sprich, Ihesu, Kunic wis Wille kommen.

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

Rex virtutum, rex inclite, Rex insignis victorie, Ihesu largitor gratie, Honor celestis curie.

Der rugide Kunic und der Err, Signuster Kunic her, Gnaden Geber Ihesu Crist, Des Himels Hoves Er du bist.

Te celi chorus predicat Et tuas laudes replicat. Ihesus orbem letificat Et nos deo pacificat.

Des Himels Chor, der prediget dich. Din Lop da wider waltet sich. Din Welt frouwet sich Gotis Suns, Der fridet ez zwiscen im und uns.

In pace Ihesus imperat, Qui sensum omnem superat.

Ihesus Gelut mit Fride stat, Der Fride allen sin uber gat.

61

Jesu

gedechtnüs

i

ii

iii

iv

v

vi

vii

viii

ix

x

xi

xii

xiii

xiv

xv

xvi

xvii

Der süzz

gedanch

i

ii

iii

v

iv

vi

vii

viii

ix

x

xi

xii

xiii

xiv

xv

xvi

xvii²

21(17)

21(17)

xiii

19(15)

19(15)

xiii

xii

16(13)

16(13)

xii

xi

14(11)

14(11)

xi

x

ix

viii

vii

vi

v

iv

iii

ii

i

suesße

eyne

O Jhesus

x

ix

viii

vii

vi

v

iv

iii

ii

i

suite

Jhesus

21(17)

xiii

19(15)

xii

16(13)

xi

14(11)

x

ix

viii

vii

vi

v

iv

iii

ii

xvii

xvi

xv

xiv

xiii

xii

xi

x

ix

viii

vii

vi

v

iv

iii

ii

i

wan ich

suet in

i

Jhesu

Jhesus is

xx

iv

xix

xvi

xvi

xv

xiv

xiii

21(17) xv

xii

xi

x xiii

viii

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xix

xvi

xv

11

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xix

xvi

xv

21(17)

21(17)

vii

xi

xx

v

ix

iii

ii

xviii

xi

xx

v

ix

iii

ii

xviii

vi

xii

xi

viii

vii

iv

v

ix

vi

ix

iii

ii

i

xxvi

xxiv

xxi

?

?

?

?

?

xvi

xi

21(17)

xx

v

iii

ii

i

xlii

xli

xxxvii

xxxvi

xxiv

33²

xix

xvi

x

ii

betrach

dein ged i

gesungen

i

Nie wart

ghedenk

soite

suete

Jhesu sote O Jhesus

Jhesus

suess

Jhesus

v

iii

ii

i

gedecht

Die süß

xl 1–2

xxxix

xxxviii

xxxvii 2–4

xxxiv 1–2

xxxiii

xxxii

xxxi

Fragm.

Har

i

gesus

62 Matthias Standke

Tabellarische Übersicht der Strophenfolge

Jesu

gedechtnüs

xviii

xix

44(36)

45

xx

xxi

xxii

xxiii

xxiv

xxv

xxvi

xxvii

xxviii

xxix

xxx

xxxi

xxxii

Der süzz

gedanch

xviii

xix

44(36)

45

xx

xxi

xxii

xxiii

xxiv

xxv

xxvi

xxvii

xxviii

xxix

xxx

xxxi

xxxii

xxviii

xxix

xxxi

xxviii

xxix

xxix

xxvii

xxviii

xxvii

xxvii

xxx

xxx

xxvi

xxx

xxvi

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xx

xix

xviii

xvii

xvi

xv

xxxiv

xxxiii

xxxii

xxxi

xxx

xxix

xxviii

xxvii

xxvi

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xx

xix

xviii

wan ich

suet in

xiv

Jhesu

Jhesus is

xxv

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xx

xix

xviii

xvii

xv

xiv

suesße

eyne

O Jhesus

xxvi

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xx

xix

xviii

xvii

xvi

xv

xiv

suite

Jhesus betrach

dein ged

xxxii

xxxiii

xxxii

44(36)

xxx 44(36)

xxxi

xxx

xxix

xxix

xxviii

xxvii

xxviii

xxvii

xxxi xxvi

xxvi

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xxv

xxiv

xxiii

xxii

xxi

xx

xix

xviii

xiv xvii

xvii

xli

xxxix

xxxix xli

xl

xiii

xxxiv

xxxii

xl

xiii

xxxiv

xxxii

xxvi

gesungen

xxvi

Nie wart

ghedenk

soite

suete

Jhesu sote O Jhesus

Jhesus

suess

Jhesus

xviii

gedecht

Die süß

Fragm.

Har gesus

Die deutschen Übertragungen des Hymnus Jesu dulcis memoria

63

Jesu

gedechtnüs

xxxiii

xxxiv

xxxv

51

xxxvi

xxxvii

xxxviii

xxxix

xl

xli

xlii

Der süzz

gedanch

xxxiii

xxxiv

xxxv

51

xxxvi

xxxvii

xxxviii

xxxix

xl

xli

xlii

xxxvii

xxxvii

xli

xlii

Dox.

xl

xlii

xlii

xli

xxxix

xli

55(44)

xxxix

xl xxxix

xxxviii

55(44)

55(44)

xxxvii

xxxviii

xxxviii

xxxv

xxxvi

xxxv

xxxv

xxxiii

xxxiv xxxiv

xxxii

74

Dox.

red.

Jesu nostra

xlii

59

xli

xl

xxxix

78 xli

xxxviii

xxxvii

xxxvi

xxxix

55(44)

xxxviii

xxxv

xxxiv

xxxv xxxvii

xxxiii

gedecht

Die süß

xxxvi

wan ich

suet in

xxxi

Jhesu

Jhesus is

xxxiii

xxxii

suesße

eyne

O Jhesus

xxxvi

xxxiv

xxxiii

xxxii

xxxi

suite

Jhesus

Nie wart gesungen

ghedenk

soite betrach

dein ged

xlii

xl

xxxix

xxxviii

xxxvii

xxxvi

xxxv

xxxiv

suete

Jhesu sote O Jhesus

Jhesus

suess

Jhesus

Fragm.

Har gesus

64 Matthias Standke

Christina Ostermann

Sehen und Erkennen Der Hymnus Ave vivens hostia und seine mittelalterlichen deutschen Übertragungen

1. Der lateinische Hymnus Ave vivens hostia Als Verfasser des Ave vivens hostia gilt der Franziskanermönch John Peckham, Erzbischof von Canterbury von 1279 bis zu seinem Tod 1292. Von Peckham sind acht Hymnen bekannt, darunter ein weiterer Corpus-Christi-Hymnus.1 Das Ave vivens hostia umfasst in der Überlieferung mehrheitlich fünfzehn Vagantenstrophen.2 Die Edition der Analecta hymnica (AH 31, Nr. 105) trennt die siebenhebigen Trochäen nach der Zäsur in zwei Kurzverse, deren zweiter jeweils eingerückt ist, und markiert so deutlich, dass sich nicht nur die Sechs-, sondern auch die Siebensilber einer Langzeile reimen und die Verse einer Strophe über einen Kreuzreim verbunden sind:

I

Ave vivens hostia (AH 31, Nr. 105)

Übersetzung3

Ave, vivens hostia, Veritas et Vita, In qua sacrificia Cuncta sunt finita, Per te patri gloria

Gegrüßt seist du, lebendige Opfergabe, die Wahrheit und das Leben, in der alle Opfer vollendet sind. Durch dich wird dem Herrn

1 Vgl. Szövérffy, S. 266. Bei dem zweiten Corpus-Christi-Hymnus Peckhams handelt es sich um das Hostia, viva, vale (AH 50, Nr. 396). Für diesen Hymnus ist noch keine deutschsprachige Übertragung belegt. 2 In der lateinischen Überlieferung bezeugte Zusatzstrophen und Doxologien sind abgedruckt in AH 31, S. 113 f. sowie AH 50, S. 597. 3 Jessica Ammer sei an dieser Stelle herzlich für ihre Unterstützung bei der Übersetzung gedankt.  

Anmerkung: Dieser Aufsatz entstand im Anschluss an ein Seminar zum geistlichen Lied im deutschsprachigen Mittelalter an der Humboldt-Universität zu Berlin im Sommersemester 2017. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sei an dieser Stelle namentlich für die lebhaften Diskussionen und die gemeinsame Textarbeit gedankt: Adam-Luca Walaszczynski, Caroline Lehnert, Stefan Pfeifer, Patrizia Unger, Alexandra Priesterath und Rosa Li Puk. Christina Ostermann, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-004

66

Christina Ostermann

Datur infinita, Per te stat ecclesia Iugiter munita.

unendlicher Ruhm gegeben. Durch dich steht die Kirche ewig befestigt.

II

Ave, vas clementiae, Scrinium dulcoris, In quo sunt deliciae caelici saporis, Veritas substantiae Tota salvatoris, Sacramentum gratiae, Pabulum amoris.

Gegrüßt seist du, Gefäß der Milde, Schrein der Süßigkeit, in dem die Wonnen des himmlischen Geschmacks sind, die Wahrheit des Wesens, die Ganzheit des Erlösers, das Sakrament der Gnade, die Nahrung der Liebe.

III

Ave, manna caelicum Verius legali, Datum in viaticum Misero mortali, Medicamen mysticum Morbo spiritali, Morte dans catholicum Vitae immortali.

Gegrüßt seist du, Manna des Himmels, wahrer als das Brot des Gesetzes, als Wegzehrung gegeben dem elenden Menschen, als geheimnisvolles Heilmittel dem kranken Geist, im Tod gibst du einen Rechtgläubigen dem unsterblichen Leben.

IV

Ave, corpus Domini Et munus finale, Corpus iunctum numini, Nobile iocale, Quod reliquit homini In memoriale, Cum finali termino Mundo dixit vale.

Gegrüßt seist du, Leib des Herrn und finales Geschenk, der Leib, der mit der Gottheit verbunden ist, edles Kleinod, das dem Menschen übrig blieb zum Andenken, als er zum endgültigen Ende der Welt Lebewohl sagte.

V

Ave, plenum gaudium, Vita beatorum, Pauperum solacium, Salus miserorum, Grande privilegium Est hoc viatorum. Quorum sacrificium Merces est caelorum.

Gegrüßt seist du, ganze Freude, das Leben der Seligen, das Trostmittel der Armen, das Heil der elenden Menschen, ein großes Privileg ist dies für die Wanderer. Deren Opfer ist der Lohn der Himmel.

VI

Ave, virtus fortium. Obvians ruinae, Turris et praesidium Plebis peregrinae, Quam insultus hostium Frangere non sine, Ne vi malignantium Pereat in fine.

Gegrüßt seist du, Tapferkeit der Starken, die dem Verfall entgegensteht, Turm und Schutz dem wandernden Volk, lass nicht zu, dass Verhöhnungen der Feinde es brechen, damit es nicht durch die Gewalt der Bösen am Ende vergehe.

Sehen und Erkennen

67

VII

Hic Iesus veraciter Duplex est natura, Non est partialiter Nec solum figura, Sed essentialiter Caro Christi pura Latet integraliter Brevi sub clausura.

Hier ist Jesus wahrhaftig zweifacher Natur. Nicht teilweise, nicht nur ein Abbild, sondern wesenhaft ist der reine Leib Christi unverletzt verborgen unter engem Verschluss.

VIII

Caelo visibiliter Caro Christi sita, Forma panis aliter Latet hic vestita, Solus novit qualiter, Hanc qui ponit ita, Potest hoc faciliter Virtus infinita.

Im Himmel sichtbar ist das Fleisch Christi gelegen, die Gestalt des Brotes ist anders hier verborgen, wie, weiß nur er allein, der es so bestimmt hat, leicht vermag das die endlose Kraft.

IX

Sumptum non consumitur Corpus salvatoris, Idem totum sumitur Omnibus in horis, Forma panis frangitur Dente comestoris, Virtus carnis sugitur Morsibus amoris.

Aufgenommen, aber nicht verzehrt wird der Leib des Erlösers. Derselbe wird ganz aufgenommen zu allen Stunden. Die Gestalt des Brotes wird gebrochen mit dem Zahn des Speisenden, die Kraft des Fleisches wird gesogen durch den Bissen der Liebe.

X

Christus nihil patitur Huius laesionis, Forma panis solvitur Vi digestionis, Tunc si Christus quaeritur, Est in caeli thronis, Sicut vult, hinc tollitur Datis vitae donis.

Christus erleidet nichts an dieser Verletzung, Die Gestalt des Brotes löst sich auf kraft der Verdauung, dann, wenn Christus gesucht wird, ist er auf dem himmlischen Thron. So, wie er wünscht, wird er von hier erhoben, nachdem er die Gaben des Lebens gegeben hat.

XI

Hoc ardoris calculo Veni nos ignire, Hoc amoris stimulo Frange motus irae, Et eodem ferculo Qui nos vis nutrire, Velis cordis vinculo Fortiter unire.

Durch dieses Steinchen der Glut komm uns zu entzünden, durch diesen Stachel der Liebe zerbrich die Regungen des Zorns, und durch dieselbe Speise, der du uns nähren willst, mögest du uns tapfer vereinen mit dem Bande des Herzens.

XII

Moris est amantium Invicem sitire, Ut arcana cordium Possint introire,

Es ist von Art der Liebenden nacheinander zu dürsten, in die Geheimnisse der Herzen eintreten zu können.

68

Christina Ostermann

Sic vult rex regnantium Caritatis mirae Cibando fidelium Intima subire.

So will der König der Könige von wunderbarer Nächstenliebe durch die Speisung der Gläubigen in das Innerste eintreten.

XIII

O Iesu dulcissime, Cibus salutaris, Qui sic nobis intime Tribui dignaris, Mala nostra deprime Fletibus amaris Et affectus imprime, Quibus delectaris.

O süßester Jesus, du heilbringende Speise, der du für würdig erachtest, dass wir ins Innerste ausgeteilt werden. Unsere Übel drücke nieder mit den bitteren Tränen und gib uns die Gefühle, durch die du erfreut wirst.

XIV

Iesu, vivens hostia, Placa maiestatem, Sacramenti gratia Confer sanitatem, Pauperum substantia, Da aeternitatem, Domini memoria, Fove caritatem.

Jesu, lebendige Opfergabe, besänftige die Majestät, durch die Gnade des Sakraments bring die Gesundheit, Wesen der Armen gib die Ewigkeit, Gedächtnis an den Herrn erhalte die Nächstenliebe.

XV

Vanitatem spernere Fac nos, consolator, Hostes dona vincere, Christe, propugnator, Et quod doces credere, Iesu reparator, Per te tandem cernere Da, remunerator.

Lass uns, Tröster, die Nichtigkeit verschmähen, gib, dass wir die Feinde besiegen, Christus, Verteidiger, und lass uns was du lehrst, glauben, Jesus, Erneuerer, gib, dass wir durch dich schließlich erkennen, Belohner.

Z4

Nobis consecrantibus Istud sacramentum Et cunctis credentibus Fiat nutrimentum, Devote sumentibus Sit delectamentum, Omnibus negantibus Fiat detrimentum.

Wir verehren dieses Sakrament und werde allen Gläubigen ein Nahrungsmittel, allen andächtig Einnehmenden sei es ein Vergnügen, und allen Verweigerern werde es ein Schaden.

Peckhams Dichtung zählt nicht zu den liturgischen Hymnen des Fronleichnamsfestes, dessen Offizium auf Thomas von Aquin zurückgeht.5 Ein expliziter Ge-

4 Zusatzstrophe (Z) nach AH 31, S. 113. 5 Zur liturgischen Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem vgl. den Beitrag von Andreas Kraß im vorliegenden Band.

Sehen und Erkennen

69

brauchshinweis findet sich nur für die nachreformatorische Zeit. So vermerkt das Mainzer Cantional von 1605/27 in der Ordtnung in dem Singampt zu halten: Wenn viel Communicanten seyn, werden etliche Verß, auß dem Ave viuens hostia, Teutsch vnnd Lateinisch gesungen, biß zu der Postcommunion.6 Für das Mittelalter können Verwendungskontexte aus der Überlieferung erschlossen werden. So verbindet die ‚Crailsheimer Schulordnung‘ das Ave vivens hostia strophenweise abwechselnd mit einem deutschsprachigen Gesang – keiner Übersetzung – und bezeugt auf diese Weise, dass der lateinische Hymnus in der Heiligen Messe Verwendung fand, hier gesungen von einer Schola cantorum an einer Lateinschule um 1480.7 Zwei weitere mittelalterliche Handschriften, Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter, Cod. b I 27 und Ottobeuren, Stiftsbibliothek, Ms. O. 4 (II 314), überliefern eine mehrstimmige Version des Hymnus als Prozessionsgesang zum Fronleichnamsfest.8 Die Forschung nimmt den Gebrauch des Ave vivens hostia daher als nichtliturgisches geistliches Lied während des Fronleichnamsfestes und als Kommunionlied in der Heiligen Messe an.9 Der Hymnus lässt sich anhand von sprachlichen und inhaltlichen Kriterien in drei Abschnitte einteilen: Die Strophen I–VI (Apostrophen), VII–X (Dogma) und XI–XV (Bitten) bilden je eine Einheit.10 Unter sprachlichen Gesichtspunkten lässt sich dies wie folgt begründen: Die Strophen I–VI beginnen jeweils mit der Begrüßungsformel Ave und einer darauffolgenden Bezeichnung der Hostie. Mit zwei Ausnahmen handelt es sich bei diesen Anreden um schmückende Beiworte des Messopfers, die zweiteilig aus einem Nominativ und einem Genitiv aufgebaut sind: Die Hostie wird begrüßt als vas clementiae (II,1), manna caelicum (III,1), corpus Domini (IV,1), und virtus fortium (VI,1). Die zweifache Verwendung des Personalpronomens te (I,5 und I,7) hebt hervor, dass die Hostie direkt angesprochen wird. Zu Beginn des zweiten Teils (VII–X) wird mit der Zuordnung des Demonstrativpronomens Hic (VII,1) auf Jesus Christus deutlich gemacht, dass es nun nicht mehr die Hostie ist, die angesprochen, sondern der Gottessohn, über den gespro-

6 Zitiert bei Janota: Studien, S. 61 Anm. 189. 7 Dem Ave vivens hostia geht in der ‚Crailshaimer Schulordnung‘ ein Ablassversprechen voraus. Während Janota die Beischrift im Zusammenhang mit dem Ave vivens hostia liest (vgl. Janota: Studien, S. 213), argumentiert Lipphardt für eine Zuordnung zum vorhergehenden Lauda Sion im Wechsel mit einer deutschen Leise (vgl. Lipphardt, S. 116). Näheres zum Entstehungskontext und zur Verwendung der ‚Crailsheimer Schulordnung‘ bei Janota: Schola, S. 37–41. Im Anschluss folgt eine Edition, vgl. ebd., S. 41–52. 8 Vgl. hierzu Schlager, S. 127–134, der sich ausführlich mit der Überlieferung dieser Liedfassung in einem Prozessionar der Oberschönenfelder Zisterzienserinnen aus dem Jahr 1597 befasst. 9 Vgl. Spechtler: Ave vivens hostia, Sp. 571 f.; Browe: Verehrung, S. 150 sowie Breuer, S. 344. 10 Auf die Dreiteilung des lateinischen Hymnus hat bereits Breuer, S. 343–353 hingewiesen.  

70

Christina Ostermann

chen wird. Sprachlich dominieren in den ungeraden Versen erst Adverbien auf -iter (VII: veraciter, partialiter, essentialiter, integraliter – VIII: visibiliter, aliter, qualiter, faciliter), dann passivische Verbformen (IX: consumitur, sumitur, frangitur, sugitur – X: patitur, solvitur, quaeritur, tollitur). Der dritte Abschnitt (XI–XV) zeichnet sich sprachlich durch die gehäufte Verwendung von Imperativen (XI: Veni, Frage – XIII: deprime, imprime – XIV: Placa, Confer, Da, Fove – XV: Fac, Da) und so wieder durch eine Adressatenfokussierung aus. Wie in der vorletzten Strophe hervorgehoben, ist es hier Iesu dulcissime (XIII,1), dem die Aufforderungen gelten und nicht mehr die Hostie, wie es im ersten Abschnitt der Fall ist. Dass diese miteinander gleichgesetzt werden können und sollen, ist ein zentraler Gedanke des Gesangs, der gleichermaßen zu Beginn als bekannt vorausgesetzt als auch in seinem Verlauf erklärt wird. Der Hymnus beginnt mit einer Begrüßung der hostia (I,1), mit der die Außergewöhnlichkeit der Opfergabe deutlich herausgestellt wird: Ihr wird nicht nur das Partizip vivens (I,1) zugeordnet, sie wird auch als das Leben selbst bezeichnet. Die Anrede als veritas et vita (II,2) spielt unverkennbar auf Joh 14,6 an: Dicit ei Jesus: Ego sum via, et veritas, et vita. Nemo venit ad Patrem, nisi per me.11 Auch wenn Jesus Christus zu Beginn des Hymnus noch nicht explizit genannt wird, so verdeutlicht das eröffnende Verspaar über das abgewandelte Bibelzitat bereits die Identität des Gottessohnes und der Opfergabe. Die doppelte Lesart der Hostie – als symbolisches Opfer und als Leib Christi – prägt den ersten Abschnitt, denn die Bildlichkeit der Sprache bietet wiederholt beide Deutungen an. In der ersten Strophe wird sie als die eine Opfergabe gepriesen, die allen anderen ein Ende setzt (vgl. I,3 f.). Hier kann sowohl das symbolische Messopfer des Neuen Bundes als Ablösung des Tieropfers des Alten Bundes als auch Jesu Kreuzestod als letztes Opfer verstanden werden. Das Ende der zweiten Strophe nennt die Hostie Pabulum amoris (II,8) und referiert so auf die Materialität der Hostie: Als Brot ist sie ein lebensspendendes Grundnahrungsmittel – sie ist aber auch mehr als das, nämlich ein Nährboden für die Liebe. Die dritte Strophe greift den Gedanken auf, indem sie die Hostie als Brot des Neuen Bundes zum Brot des Alten Bundes in Beziehung setzt: Ihr wird zugesprochen verius (III,2), also ‚wahrer‘ zu sein. Die Außergewöhnlichkeit der Hostie wird über die Vielzahl an Funktionen hervorgehoben, die ihr in den ersten sechs Strophen zugesprochen werden: Sie sei ein Mittel, um Gott zu rühmen (I,5 f.), sie sichere den Fortbestand der Kirche (I,7 f.), sie könne als Heilmittel eingesetzt werden (III,5), das ewige Leben ermöglichen (III,8), Trost spenden (V,3) und Schutz vor Feinden bieten (VI).  





11 In Übersetzung: „Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“

Sehen und Erkennen

71

Der erste Abschnitt beschäftigt sich demnach mit der Funktionsvielfalt der Hostie. Der Mittelteil (VII–X) nimmt sich dann einer Erklärung ihrer genauen Beschaffenheit und des Wandlungsprozesses an. Er geht nicht mehr von der Hostie, sondern von Jesus aus: Hic Iesus veraciter | Duplex est natura (VII,1 f.). Das Postulat der Zweinaturenlehre wird im Anschluss zu einem Postulat der Transsubstantiationslehre,12 wenn die Beschaffenheit der Hostie näher thematisiert wird. Sie sei kein Symbol, keine figura (VII,4), sondern essentialiter | Caro Christi pura (VII,5 f.). Eine etwaige Verständnishürde, die dieser Glaubensgrundsatz hervorrufen kann – bedeutet Jesu Präsenz in der Hostie seine Absenz im himmlischen Reich? – wird vorweggenommen, indem zu Beginn der achten Strophe auf die eucharistische Multilokation verwiesen wird: Jesus sei visibiliter (VIII,1) im Himmel zugegen, in der Gestalt des Brotes aliter (VIII,3) verborgen. Von einem Gespür dafür, dass auch die Erklärung selbst Verständnisschwierigkeiten nach sich ziehen kann, zeugt der weitere Verlauf der achten Strophe: Die letzten vier Verse erläutern, dass die gleichzeitige Anwesenheit Christi an mehreren Orten zugleich vollumfänglich nur von Gott selbst verstanden werden könne.13 Die neunte Strophe widmet sich dem Empfang der Hostie durch die Gläubigen und erklärt, dass Christi Körper unversehrt bleibe, da das Messopfer nur aufgenommen, aber nicht verzehrt werde. Der Vers Sumptum non consumitur (IX,1) kann als zweifache Anspielung gelesen werden: zum einen als abgewandeltes Zitat der liturgischen Fronleichnamssequenz Lauda Sion (Versikel 7b: [...] Nec sumptus consumitur), zum anderen als Verdichtung einer Passage aus Papst Urbans IV. Bulle Transiturus de hoc mundo, mit der 1264 das Fronleichnamsfest eingeführt wurde: Hic panis sumitur, sed vere non consumitur (DH 846). Das nicht-liturgische Ave vivens hostia wird so in die Nähe des liturgischen Fronleichnamsfestes gerückt. An dieser Stelle wird im Hymnus auch die Realpräsenz mit der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz der Hostie ins Spiel gebracht: Die Akzidentien des Brotes, seine Forma (IX,5), bleiben nach der Wandlung bestehen. Die Substanz des Brotes aber verschwinde in der Wandlung und werde durch Christi Substanz, Virtus carnis (IX,7), ersetzt.14 Dadurch ergebe sich, so die zehnte Strophe, dass auch nach dem Verzehr der Hostie Jesu beständiger Aufenthaltsort der himmlische Thron bleibe.  



12 Die Transsubstantiationslehre besagt, „daß die Substanzen Brot und Wein während der Konsekration der Elemente durch den Priester annihiliert werden und sich unter Wahrung der Akzidentien (Aussehen, Geschmack) in die Substanzen Leib und Blut Christi verwandeln“. Steiger, Sp. 539. 13 Breuer, S. 350 verweist darauf, dass die Dichtung mit ihrem Versuch, die Multilokation zu erklären, deutlich „nichtthomistische Züge“ zeige. Peckhams Argumentation mit der Allmacht Gottes orientiere sich an Wilhelm von Auvergne und Alexander von Hales. 14 Vgl. Breuer, S. 350 f.  

72

Christina Ostermann

Im Anschluss an den ‚dogmatischen Mittelteil‘ stehen einige Bitten, die zentrale Funktionen der Hostie aus dem ersten Part aufgreifen. Hierzu zählen die Bitte um Einheit (XI,7 f.), Heil (XIII,2), Ewigkeit (XIV,6) und Schutz gegen die Feinde (XV,3). Einzig die zwölfte Strophe fällt aus diesem Muster: Hier wird kein Imperativ verwendet und stattdessen die Eucharistie als Akt der Nächstenliebe erläutert. Auch in diesem Abschnitt wird die Kongruenz von Jesus und der Hostie über ein Zitat verdeutlicht, in diesem Fall jedoch nicht über ein Bibelzitat, sondern über einen Rückverweis innerhalb des Hymnus. So heißt es zu Beginn der vierzehnten Strophe in Anlehnung an den Eingangsvers: Iesu, vivens hostia (XIV,1). In seiner Gesamtgestaltung lässt sich der Hymnus als Nachvollzug der Eucharistie lesen, wobei sich die Verehrung ausschließlich auf die Hostie konzentriert und nicht den Wein als Blut Christi miteinbezieht.15 Der erste Abschnitt kann mit seiner wiederholten Begrüßung der Hostie als versprachlichte Elevation der konsekrierten Hostie verstanden werden. Während die Elevation der Hostie den Blick der Gläubigen auf sich zieht und so den visuellen Sinn der Gläubigen anspricht, wird mit dem anaphorisch eingesetzten Ave der auditive Sinn auf das Sanktissimum gelenkt. Über das Mittel der Sprache wird die Präsenz der Hostie evoziert und diese in ihrer Vielzahl an Formen und Funktionen vorgestellt. Im Anschluss an die Elevation folgt eine Bezugnahme auf die Wandlung, mit der mögliche Verständnishürden erläutert werden. Auf die Wandlung folgen wie in der eigentlichen Messliturgie einige Bitten. Das Ave vivens hostia nimmt somit nicht nur im dogmatischen Mittelteil, sondern im gesamten Gesang eine wissensvermittelnde Funktion ein, indem die Eucharistie gewissermaßen performativ nachvollzogen und zentrale Streitpunkte in der eucharistischen Frömmigkeit erklärt werden. Der Hymnus geht dabei weiter als die Liturgie, da er es nicht bei einem bloßen Sehen der Hostie belässt, sondern die Erkenntnis der Wesenhaftigkeit der Hostie garantiert. Peckham verfasst seinen Hymnus in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. Während die Transsubstantiationslehre seit dem IV. Laterankonzil 1215 dogmatisch ist, befindet sich der Kult um die Hostie noch in der Entwicklung.16 Das Fronleichnamsfest wird 1264 eingeführt, aber erst im vierzehnten Jahrhun 

15 Dies ist durchaus im Einklang mit der Praxis der Zeit: Gemäß der Konkomitanzlehre ist der Leib Christi in der Hostie vollständig zugegen, weshalb es ausreicht, wenn die Gläubigen nur die Hostie erhalten und allein der Priester auch den Wein trinkt, vgl. Iserloh, S. 94. 16 Zur Entwicklung der Eucharistiefrömmigkeit im Laufe des Mittelalters vgl. Browe: Verehrung, bes. S. 11–25, 147–154 sowie Browe: Eucharistie, bes. S. 399–413, 459–536. Mein hier formulierter Überblick stützt sich auf die dortigen Ausführungen.

Sehen und Erkennen

73

dert flächendeckend umgesetzt.17 Die gelegentliche Sichtbarkeit der Hostie ist seit dem Beginn des dreizehnten Jahrhunderts durch die Elevation in der Messe gegeben,18 das Schauverlangen der Gläubigen befindet sich im Aufschwung. Mit den zunehmenden Möglichkeiten, die Hostie zu sehen (Prozessionen, Aussetzungen), steigert sich im Laufe des Mittelalters auch das Schauverlangen der Gläubigen. Abergläubische Tendenzen zeigen sich: Man spricht der Hostie eine magische Wirkung zu, die sich über das bloße Anschauen des unverhüllten Sanktissimums entfaltet – die Kommunion selbst scheint nicht vonnöten.19 Geistliche reagieren zunächst mit Beschwerden auf die Gläubigen, die von jeder Möglichkeit, die Hostie zu sehen, Gebrauch machen, von Elevation zu Elevation eilen und der Messe so nicht vollständig beiwohnen,20 befördern jedoch schließlich die Anbetung der Hostie mit Ablassversprechen und vermehrten Aussetzungen.

2. Die deutschsprachigen Übertragungen Das Verfasserlexikon verzeichnet für das Ave vivens hostia drei deutschsprachige Übertragungen in mittelalterlichen Handschriften.21 Die wohl bekannteste wird dem Mönch von Salzburg zugeschrieben und liegt in sechs Textzeugen vor.22 Daneben wird auf eine Übertragung in den ‚Tegernseer Hymnenübersetzungen‘

17 Iserloh, S. 97: „Erst Clemens V. (gest. 1314) und das Konzil von Vienne 1311/12 und die Aufnahme des Dekrets in die ‚Clementinen‘ durch Johannes XXII. sorgten für die allgemeine Feier des Festes.“ 18 Gemäß Browe: Eucharistie, S. 509 stellt die Einführung der Elevation „den Ausgangspunkt der eucharistischen Frömmigkeit des Mittelalters“ dar. 19 Einen derartigen Einsatz der Hostie als Zaubermittel fasst Angenendt, S. 505 mit einigen Beispielen zusammen: „Man legte sie auf die Brust der Toten, zu den Reliquien im Altargrab, bestrich damit kranke Glieder, mischte sie ins Viehfutter, streute sie zerrieben auf die Felder oder benutzte sie – oft ein Vorwurf gegen Hexen – als Mittel zum Schadenszauber.“ 20 Vgl. Iserloh, S. 98. 21 Vgl. Spechtler: Ave vivens hostia, Sp. 571 f. Darüber hinaus verweist Spechtler auf eine Druckübertragung im Anhang von Ludwig Mosers ‚Guldin Spiegel des Sunders‘. In diesem Aufsatz soll – ebenso wie in der Arbeit des ‚Berliner Repertoriums‘ während der ersten beiden Förderphasen (2012–2018) – nur die handschriftliche Überlieferung in den Blick genommen werden. 22 Vgl. Spechtler (Hg.): Mönch, S. 301–312, G 39. Spechtler ediert den Hymnus nach der Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. 2856, Bl. 221r–222r (Sigle D) unter Berücksichtigung der Varianten in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1115, Bl. 37r–38r (Sigle B); Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. 4696, Bl. 186v–188v (Sigle E); Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. 2975, Bl. 157r–158r (Sigle F) und München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 444, Bl. 14r (Sigle P) und gibt eine zweite Fassung nach Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII, 38 (Sigle m) wieder.  

74

Christina Ostermann

(München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 858, Bl. 153r–155r) und eine weitere in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6034, Bl. 83r–84v verwiesen. Die Übersicht des Verfasserlexikons ist um vier weitere Übertragungsgruppen zu ergänzen, die hier anhand ihres Incipits angeführt werden: 1 (VL): 2 (VL): 3 (VL): 4: 5: 6: 7:

Ave, lebendes oblat (Mönch von Salzburg) Gruesset seist dus lebentiges oblat (‚Tegernseer Hymnenübertragungen‘)23 Ich gruß dich, lemtigs hostia (‚Ebersbeger Übertragung‘)24 Gegrůest seiest edle hostia25 Pist gegruest du lebntige speiß26 Gegriesset seiest du lebende hosty27 Bis gegrüst du lebentige hostia28

Alle volkssprachlichen Textzeugen entstammen dem oberdeutschen Sprachraum. Die handschriftliche Überlieferung setzt mit dem ältesten datierten Textzeugen im Jahr 1422 (Cgm 444) ein und reicht bis in die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts (Cgm 4688). Die deutschen Liedfassungen stammen somit aus einer Zeit der weit entwickelten Eucharistiefrömmigkeit, die sich durch eine hohe Sichtbarkeit der Hostie, vielfältige Anbetungsmöglichkeiten und eine Tendenz zum Aberglauben auszeichnet. Doch die Volkssprache entzieht den Hymnus dem liturgischen Raum. Wie drückt sich nun der Nachvollzug der liturgischen Eucharistie in einem nicht-liturgischen Gesang in der liturgie-fernen Volkssprache aus? Um diese Frage zu klären, nehme ich drei Versübertragungen in den Blick, die die lateinische Vorlage nicht nur inhaltlich übersetzen, sondern auch formal nachahmen. Prosa- sowie Reimprosaübertragungen klammere ich also aus. Die herausgearbeiteten Differenzen sollen mit Blick auf die Übertragung als Gesamtwerk und mit Blick auf Veränderungen in der Eucharistiefrömmigkeit gedeutet werden.

23 Edition bei Gillitzer, S. 48–50 (Nr. XV). 24 Edition bei Hoffmann von Fallersleben, S. 287 f. (Nr. 151). 25 Liegt vor in: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.3.8°10, Bl. 97r–99r; Privatsammlung Eis, Heidelberg, Hs. 142, Bl. 1r–v. 26 Singulär überliefert in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8118, Bl. 157r–158v. 27 Singulär überliefert in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4688, Bl. 346r–v. 28 Überliefert in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4701, Bl. 148v–151r; Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Will II.19.8°, Bl. 12r–15v.  

Sehen und Erkennen

75

2.1 Ave, lebendes oblat (Mönch von Salzburg) Bei der einzigen bisher edierten Übertragung handelt es sich um die Übersetzung des Mönchs von Salzburg, die auch die Metrik der Vorlage übernimmt und so formal Sangbarkeit ermöglicht. Die tatsächliche Umsetzung dieser Sangbarkeit bezeugen drei Handschriften, die den Text samt Melodienotation überliefern: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1115, Bl. 37r–38r; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. 2856, Bl. 221r–222r und Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Hs. 4696, Bl. 186v–188v.29 Die Mönchsübertragung umfasst nach Spechtlers Edition vierzehn Strophen.30 Die zwölfte und vierzehnte lateinische Strophe fehlen, final ergänzt wird eine Zusatzstrophe (Z), auf deren Vorkommen in der lateinischen Überlieferung die Analecta hymnica hinweisen.31 Das Ave vivens hostia ze teutsch. Munich32 I

Ave, lebendes oblat, warheit unde leben, in dem allem opfer hat got ein end gegeben. durch dich [ ] wirt der majestat lob in preis gegeben, durch dich auch die kirchen stat schon bewart und eben.  

II

Ave, vas der senftikait, schrein der süessen sinne, darinn lust und wunne waid,

29 Wachinger, S. 77 nimmt eine Entstehung der drei Handschriften im selben Skriptorium an. Daneben ist nur noch eine weitere deutschsprachige Übertragung mit Melodieüberlieferung bekannt: die auf sechs Strophen gekürzte Fassung im Clm 6034. 30 In der Fassung nach der Handschrift m (vgl. Anm. 22) ist der lateinische Hymnus vollständig in der Reihenfolge der Analecta hymnica wiedergegeben, die Zusatzstrophe erscheint zwischen der dreizehnten und der vierzehnten Strophe. Wachinger, S. 47 kommt nach seiner Analyse der Handschriftenverhältnisse zu folgendem Schluss: „Der Hauptzeuge für einen Text, der vor die Redaktion der Haupthandschriften zurückreicht, ist m, eine Handschrift, die freilich ihrerseits voller eigener Fehler steckt.“ Es ist demnach davon auszugehen, dass die Mönchsfassung ursprünglich eine vollständige, um eine Zusatzstrophe ergänzte Übertragung darstellte, der Strophenbestand später jedoch gekürzt und umgestellt wurde. Die meisten erhaltenen Textzeugen überliefert die spätere Fassung. 31 Vgl. AH 31, S. 113. 32 Der Abdruck folgt der Edition durch Spechtler (vgl. Anm. 22). Die Korrekturen durch Wachinger, S. 70 wurden eingearbeitet. Die Strophennummerierung verweist auf die Strophenzahl der lateinischen Vorlage.

76

Christina Ostermann

himels smachs beginne, werlichait und wesenhait hailandes aussen und inne, sacrament genaden prait, nar gotleicher minne. III

Ave, wares himelprot für das alt wärleichen, Christ czu wegwert dich erpot, armen als dem reichen. taugent erznei bringst du drot, geistleich seer entweichen. du geist nar in aller not christen ewigkleichen.

IV

Ave, herren leichnam, ein gepreistes medel, leib, veraint mit gottes stam, chlainet über edel, daz dir, mensch, zu hügnuß kam. an deines herzen zedel, do er urlaub von dir nam, und satzt in frides sedel.

V

Ave, volle freud und wunn, der saligen leben, armer lewt tröstlicher prun, wird und er daneben. grosser vortail, chlare sunn, auf dem weg gegeben, der opfer aus herzen chum, fleust von himel reben.

VI

Ave, starkcher herzen chraft für den val behende, tur und scherme sigehaft des volkes ellende, das uns starker veintesschaft icht prech auf ein ende noch sein list auf falscher potschaft; götlich chraft, die wende.

VII

Hie Jesus wärlichen ist zwifaltig nature, untailter zu aller frist und auch kain figure, sunder istikleicher christ mit seinem leichnam pure lauset ganz auf spahen list in kurzer klausure.

Sehen und Erkennen

VIII

In dem himel sichtperleich Christi fleisch enplekchet, protes forme anders geleich stet all hie bedekchet. er wais ain, der eren reich, wie er es dar strekchet, es ist im leicht gar mügleich, wann er es hat erwekchet.

IX

Sunst bestet es unverzert niessen von beginne, ganzer er empfhangen wirt zu verlust und gewinne. protes form die wirt verpert von des mundes chinne, kraft des leichnams ist beschert dem pis rainer minne.

X

Christus alles leidens frei stat in solichem seren, protes form, das chumbt zu drei und tuet sich vercheren, fragt iemand, wo Christus sei: in des himels eren, als er wil, dort und hiepei mit genaden meren.

XI

Das dein chol in uns ergloch, tue uns, herr, durchflammen, deiner minne gart und joch prech des zornes chrammen; mit der speis geadelt hoch, damit tuest du uns ammen, tue die herz genaden roch hertikleich beklammen.

XIII

O Jesu, durchsüessig reich, heilberleiche nare, als du uns tust gar innkleich speisen offenbare; unser sünd senkch in den teich der zäher amare, der begir pflig sunderleich für dein augen chlare.

XV

Smächen weltleich üppichait lern uns, werder tröster, unser veint tun uns chain laid, Christ, der argen röster. was uns der gelaub hie sait,

77

78

Christina Ostermann

Jesu, widerpringer, das werd uns durch dich berait in des himels zwinger. Z

Priestern, die da wandelen dein hoches scaramente, alln die da gelaubend sein werd es nar behende, die es mit andacht nemen ein, werd es lust an ende; all die da falsch reden darein, Jesu Christ, die schende.

Der Mönch bewahrt in seiner Übersetzung die formale Dreiteilung des Hymnus. Die anaphorischen Begrüßungen der ersten sechs Strophen werden mit ihrem lateinischen Wortlaut beibehalten, die Preisungen der Hostie hingegen nur sinnhaft und nicht gemäß der einheitlichen grammatikalischen Konstruktion der Vorlage übersetzt. Die per te-Anapher der ersten Strophe findet eine Entsprechung in der doppelten Verwendung von durch dich (I,5/7). Die Übertragung bleibt inhaltlich eng an der lateinischen Vorlage, die ersten beiden Strophen lesen sich wie eine wörtliche Übersetzung. In der dritten Strophe arbeitet der Mönch erstmals mit einem Zusatz, um die Form zu bewahren: Datum in viaticum | Misero mortali wird übersetzt mit Christ czu wegwert dich erpot | armen als dem reichen (III,3 f.). Es werden also nicht nur die Armen, sondern auch die Reichen genannt. Zudem fällt die explizite Nennung von Jesus Christus auf, für die es im ersten Part der Vorlage keine Parallele gibt. Der zweite Abschnitt der Übertragung wird eingeleitet mit dem Adverb Hie, das deutlich an die lateinische Vorlage erinnert: Hic (VII,1). Eine derartige lautliche Anlehnung an das Lateinische wird in dieser Strophe fortgesetzt: natura – nature (VII,2); partialiter – untailter (VII,3); figura – figure (VII,4); pura – pure (VII,6); clausura – klausure (VII,8). Auch die eröffnenden Verse der neunten und zehnten Strophe reihen sich hier ein: Sumptum – Sunst (IX,1); Christus – Christus (X,1). Inhaltlich ergänzt der Mönch in der zehnten Strophe einen Hinweis auf die Dreiteilung der Hostie während der Eucharistie statt auf die Auflösung des Brotes beim Verzehr durch die Gläubigen einzugehen: Forma panis frangitur | Dente comestoris wird wiedergegeben mit protes form, das chumbt zu drei | und tuet sich vercheren (X,3 f.). Der Mönch setzt in seiner Erklärung der Wandlung also einen Bezug zur Liturgie, indem er einen in der Liturgie zentralen Handlungsakt ergänzt. Die Wandlung selbst wird mit dem Verb vercheren (X,4) bezeichnet. Der dritte Abschnitt ist von fünf auf vier Strophen gekürzt, indem zwei Strophen gestrichen und eine Zusatzstrophe ergänzt werden. Dabei schafft das Auslassen der zwölften lateinischen Strophe auf formaler Ebene eine größere Einheit 



Sehen und Erkennen

79

lichkeit, da diese Strophe, wie zuvor erläutert, den bittenden Charakter des dritten Parts durchbricht. Das Fehlen der vierzehnten Strophe bedeutet das Fehlen einiger Bitten und des Verses Iesu, vivens hostia (XIV,1), der auf den ersten Vers des Hymnus zurückverweist. Es ließe sich argumentieren, dass die dortige Gleichsetzung von Jesus und der Hostie in der Mönchsübertragung nicht mehr nötig ist, da sie schon im ersten Abschnitt über die explizite Nennung von Christ (III,3) deutlich wird. Im Anschluss an die fünfzehnte lateinische Strophe ergänzt der Mönch eine Strophe, mit der er erneut eine Nähe zur eucharistischen Liturgie herstellt. Er übernimmt eine aus der lateinischen Überlieferung bekannte Strophe, übersetzt den einleitenden Vers Nobis consecrantibus aber mit Priestern, die da wandelen (Z,1). Auf diese Weise differenziert der Mönch nicht nur wie die lateinische Zusatzstrophe zwischen Jesus und der Gemeinschaft der Gläubigen, sondern ergänzt mit den am Wandlungsprozess beteiligten Priestern eine weitere Instanz. Die so insgesamt erreichte gerade Gesamtstrophenzahl kann mit der Sangbarkeit des Hymnus begründet werden. Denn wie Burghart Wachinger bemerkt, müssten gemäß der in Spechtlers Leithandschrift überlieferten Melodie und der dortigen Hervorhebung von Initialen immer zwei Strophen zu einer Großstrophe zusammengefasst werden.33 Abschließend lässt sich festhalten: Der Mönch behält die Form seiner Vorlage in Reim und Metrik, erinnert in seiner Wortwahl an den lateinischen Hymnus, markiert die dreiteilige Struktur deutlicher und passt die Strophenzahl im Sinne der Sangbarkeit der deutschen Übertragung an. Auf inhaltlicher Ebene hält er sich eng an den lateinischen Hymnus und ergänzt in einzelnen Passagen Hinweise auf den Ablauf der eucharistischen Liturgie.

2.2 Gegrůest seiest edle hostia Im Jahr 1966 macht Gerhard Eis auf ein ‚Fragment eines geistlichen Liederbuchs aus der Kartause Buxheim‘ aufmerksam, das ebenfalls eine deutschsprachige, kreuzgereimte Ave vivens hostia-Übertragung überliefert (Privatsammlung Eis, Heidelberg, Hs. 142, Bl. 1r–v).34 Er datiert das Fragment anhand der Schrift „auf das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts“35 und bestimmt die Schreibsprache in Einklang mit der Provenienz als schwäbisch.36 Das erhaltene Doppelblatt überliefert

33 34 35 36

Vgl. Wachinger, S. 70. Bei Eis, S. 188–191 findet sich eine Transkription des Fragments. Eis, S. 185. Vgl. Eis, S. 186.

80

Christina Ostermann

die Strophen I–VIII,6 des Ave vivens hostia gemeinsam mit einer ebenfalls unvollständigen Fassung der Lauda Sion-Übertragung des Mönchs von Salzburg.37 Mit der Handschrift Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.3.8°10 konnte ein zweiter Textzeuge dieser Fassung ermittelt werden, der auf Bl. 97r–99r eine abgeschlossene Übertragung im Umfang von neun Strophen zuzüglich Doxologie bietet.38 Bei dem Überlieferungsträger handelt es sich um ein oberdeutsches Gebetbuch aus dem Besitz der Familie Oettingen-Wallerstein, das vermutlich in Augsburg um 1520 entstand.39 Die Textfassung des Ave vivens hostia erscheint im Anschluss an Kommunionsgebete (Bl. 93r–97r) und unmittelbar vor einer deutschen Versübertragung der ersten Strophe des Fronleichnamshymnus Pange lingua gloriosi corporis mysterium von Thomas von Aquin (Bl. 99r–v). Beide für den lateinischen Hymnus erwogenen Verwendungskontexte (Kommunionslied, Fronleichnam) finden hier eine Entsprechung in der deutschen Fassung. Im Gegensatz zum Fragment der Privatsammlung Eis lässt sich im Fall des Augsburger Textzeugen nicht von „karger Schmucklosigkeit“40 sprechen, denn: „braun-goldene Buchmalerinitialen auf farbigem Grund (blau, rot, purpur, violett, orange, grün)“41 markieren die abgesetzten Strophenanfänge. Dazu wurde auf Bl. 99v, nach dem Pange lingua-Exzerpt, ein Kupferstich von Lucas van Leyden eingeklebt, der die Kreuztragung Christi zeigt (datiert 1515) und die beiden Corpus-Christi-Hymnen so bildlich mit der Passion, der Selbstopferung Christi, in Verbindung bringt.42 In der Darstellung stützt sich Jesus auf einen Steinblock, der die Initiale ‚L‘ des Kupferstechers trägt – damit könnte durchaus der Leib Christi auf dem Altar symbolisiert werden.43 Es folgt ein Abdruck der Augsburger Übertragung unter Berücksichtigung der Varianten aus Privatsammlung Eis, Heidelberg, Hs. 142 (Sigle E) anhand der Transkription von Eis. Auch hier verweist die Strophennummerierung auf die lateini-

37 Vgl. Spechtler: Lauda, Sp. 613. Der Textzeuge des Lauda Sion setzt erst mit den letzten beiden Versen des fünften Versikels ein. Eis identifiziert den Textzeugen noch nicht als Übertragung der lateinischen Sequenz und vermutet zwei separate geistliche Lieder (vgl. Eis, S. 100 f.). Abdruck der vollständigen Lauda Sion-Übertragung nach Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 808 (813; O 51), Bl. 106v– 107r bei Spechtler (Hg.): Mönch, S. 323–326 (G 41 nach Hs. b). 38 Für eine Beschreibung der Handschrift siehe Schneider, S. 135–145 sowie Frühmorgen-Voss, Ott, Bodemann, S. 22–25 (Nr. 43.1.6.). Die Handschrift ist online einsehbar unter: http://nbn-resol ving.de/urn:nbn:de:bvb:384-uba003075-6 (14. August 2018). 39 Vgl. Frühmorgen-Voss, Ott, Bodemann, S. 22. 40 Eis, S. 185. 41 Frühmorgen-Voss, Ott, Bodemann, S. 24. 42 Frühmorgen-Voss, Ott, Bodemann, S. 24 ist demnach unbedingt zu widersprechen – der Kupferstich wurde keineswegs „[o]hne erkennbaren Textzusammenhang“ ergänzt. 43 Ich danke Patrizia Unger für diesen Hinweis.  

Sehen und Erkennen

81

sche Vorlage. Ein u/v-, i/j-, i/y-Ausgleich wird vorgenommen, Schaft-s als Rund-s dargestellt, sz als ß. Großschreibung wird nur am Satzanfang und für Eigennamen verwendet. Diakritische Zeichen werden wiedergegeben, auf die Wiedergabe von Superskripta wird verzichtet (z. B.: a statt ä, i statt ÿ). Abkürzungen (Nasalstriche, etc.-Kürzungen) werden stillschweigend aufgelöst. Wenn in der Handschrift Komposita oder Partikelverben getrennt geschrieben sind, dann werden sie in der Edition verbunden. Für eine bessere Lesbarkeit wird eine Interpunktion ergänzt.  

Hernach volgendt die verß, die man singen ist von dem hailigen sacrament, die in latein anfahen: Ave vivens hostia veritas et vita. I

Gegrůest seiest edle hostia, die warhait und das leben, durch dich sind alle sacrament volendt in reichem leben, der vater [97v] durch dich wirt geert und gelobt on ende, durch dich wirt die cristenhait gemert, all prechen an uns wende.

II

Gegrůeßt seiestus cristen vaß, das sůeß in dir verschlossen, die himel speiß der engel als das taglich wirt genossen, du warhait aller miltigkait, ain trost aller welte, ain sacrament gar wol berait, speiß in des himels velde etc.

III

Ich grůeß dich edels himel prot, damit wir uns bewaren, gegeben an des weges not, wann wir von hinnen faren, du gaistliche salb der armen sel, hilff, das wir nit verderben, zůletst gib unns den glauben schnell, ee das wir sterben etc.

IV

Gegrůest seiestu leichnam [98r] fein, ain gaub unnd auch ain letze, verainet mit dem gaiste dein, ain klainet edler gesetzte, wann du uns hast gelassen hie, das wir an dich gedencken, das du hiengest an dem creutze hie und dein haupt tatest senken etc.

82

Christina Ostermann

V

Volle freẘd ich grůesse dich, der himel kind ain leben, uns armen dursstig du versprich, die in angsten hie sterben; du solt brief unnd handtfest sein, den, die von hinnen faren und den leichnam niessen dein unnd sich damit bewaren etc.

VI

Ich grůeß dich edle tugendt starck, ain behuetung vor dem valle, ain thurn vest unnd zůflucht starck und auch ain freud den ellenden [alle], hilff, das uns nit ůber[98v]wind der boße ane wenden, darein dein gnad ain mittel send unnd dein groß erbarmen etc.

VII

Hie ist Jhesus gar unvermaligt, ain zwifaltig nature, got unnd mensch gar ungetailt, der allten ee figure; wesenlichen ist da zwar sein flaisch unnd auch sein plůte, in dem prot verborgen gar in klainer beschliessung hutte etc.

VIII

In dem himel sichtigclich wie sein flaisch hab wesen, in gestalt des brots verenderlich wirt hie verdecht gesehen; allain erkennt er nůn zestund, wie er das hat geleget, in seiner edlen gothait sůnd, darinn er ewig schwebet etc.

IX

Wie vil Jhesus genossen wirt, wirt er doch nit verzeret [99r], sein hilff in unns nit abgepurt, damit er uns erneret; zerprochen wirt des prots gestallt von den, die es da niessent; von Got werdent si taglich zallt, die in leiplich beschluessent etc.

Doxologie

Sighafftige crafft und lob der hailigen trivalte, sei ere, wird unnd lob dem vil hochsten gewalte, betrachten Jhesum statigklich

Sehen und Erkennen

83

unnd sein schone erleuchten, fueg unns inns vaterland geleich, das wir werden behalten. Amen.  Beischrift in E: Hie nach volgt das [lob gesa]ng von sacrament gen [ant] [A]ue viuens hostia. I,2 die fehlt E; das] ain. I,3 By dir so send. I,4 volendt in reichem] gelegt in schaendem. I,5 Von dir wirt der vater. I,7 Von dir. II,1 cristen] kusches. II,2 in dir] ist in. II,3 als] as. II,5 du] Die; miltigkait] mistikait – vermutlich eine Verwechslung von Schaft-s und l. II,6 ain trost] trster. II,7 gar] vil. III,6–8 in E verderbt, vgl. Eis, S. 188 Anm. 1. III,8 ymmer sterben. IV,3 verainet] Du ainig. IV,8 tatest] gundest. V,3 uns] Die. V,4 hie fehlt E; streben. V,7 und die den. VI,3 unnd] ain. VI,4 des fraend sich die ellende alle. VI,5 nit] icht. VI,6 wenden] wegung. VI,7 darein] da mit; send] find. VI,8 vnd auch din grosse bamung. VII,4 ee] ain. VII,5 ist er da. VIII,3 werden wir jn erkennen gentzlich. VIII,4 nach ditz leben geessen. VIII,6 das er; hiernach bricht der Text in E ab.

Von besonderen Interesse ist hier die Beischrift, die die deutsche Übertragung zu ihrer lateinischen Vorlage in Verbindung setzt und explizit auf deren Sangbarkeit verweist: Hernach volgendt die verß, die man singen ist von dem hailigen sacrament, die in latein anfahen: Ave vivens hostia veritas et vita. Formal orientiert sich die deutsche Übertragung in der Tat am lateinischen Hymnus. Das Versmaß tendiert zu den abwechselnden Vier- und Dreihebern der Vorlage und der Kreuzreim wird nachgeahmt, aber nicht in gleicher Konsequenz umgesetzt. Im Unterschied zur lateinischen Vorlage (abababab) lautet das Reimschema ababcdcd. Die Ein-

84

Christina Ostermann

zelstrophen werden somit nicht als geschlossene Einheit markiert, sondern nach dem vierten Vers in zwei Hälften getrennt. In der ersten und siebten Strophe reimen sich der erste und der dritte Vers nicht (I,1/3: hostia – sacrament; VII,1/3: unvermaligt – ungetailt), darüber hinaus begegnen unreine Reime (z. B. VII,2/4: nature – figure; IX,1/3: wirt – abgepurt). Von den fünfzehn in den Analecta hymnica edierten Strophen werden nur die ersten neun wiedergegeben, gefolgt von einer doxologischen Schlussstrophe. Der gleichförmige sprachliche Aufbau der ersten sechs Strophen wird in der Übertragung nicht beibehalten. Für das sechsmal anaphorisch wiederholte Ave erscheinen zwei Übersetzungsvarianten (I/II/IV,1: Gegrůest seiest; III/V/VI,1: Ich grůeß dich44), die typische Konstruktion der Preisungen werden zum Teil ignoriert (IV,1: leichnam fein; VI,1: edle tugendt starck). Der dogmatische Mittelteil ist von vier auf drei Strophen verkürzt, der dritte, bittende Teil fehlt vollständig. Eine Deutung des Liedtextes als Nachvollzug der eucharistischen Liturgie ist für diese Übertragung nicht möglich. Der Hymnus beginnt mit der verehrenden Preisung der Hostie und endet nach den ersten drei die Wandlung erläuternden Strophen. Die ergänzte Doxologie stellt, wie für eine Schlussstrophe typisch, eine bittende Anrufung mit formelhaftem Charakter dar. Dennoch gehen die Bitten der Vorlage in der Übertragung nicht gänzlich verloren, da die Hostienpreisungen des ersten Abschnitts am Ende der dritten Strophe in Bitten verwandelt werden. Die Anrufung der Hostie in der zweiten Hälfte der dritten Strophe wird imperativisch übersetzt:  

du gaistliche salb der armen sel, hilff, das wir nit verderben, zůletst gib unns den glauben schnell, ee das wir sterben etc. (III, 5–8).

Wie in der Vorlage wechselt der Mittelteil von der imperativischen zur indikativischen Rede. Die Unversehrtheit des christlichen Leibes findet in der deutschen Übertragung bereits in VII,1 Erwähnung, wenn Jesus als unvermaligt, also ‚unbeschädigt‘45 bezeichnet wird. Dieses Adjektiv wird anstelle des lateinischen Adverbs veraciter (VII,1) gewählt, das sich in der lateinischen Vorlage auf die doppelte Natur Christi bezieht. Die Augsburger Fassung überspringt die Zweinaturenlehre jedoch keineswegs, sondern geht im Anschluss sogar noch deutlicher als der lateinische Hymnus auf sie ein. Sie belässt es nicht bei dem Verweis auf die zwifal-

44 In der fünften Strophe rückt die Begrüßung an das Versende. 45 Vgl. mhd. unvermeiliget bei Lexer, Bd. 2, Sp. 1959.

Sehen und Erkennen

85

tig nature (VII,2), sondern führt explizit aus, dass Jesu got unnd mensch gar ungetailt (VII,3) sei. Im folgenden Vers nimmt die Übersetzung zwar das lateinische figura (VII,4) auf, spezifiziert es jedoch mit dem Zusatz der allten ee (VII,4). Auf diese Weise wird ein typologischer Bezug zu den Schaubroten des Alten Testaments hergestellt und Jesu Vorbestimmung betont. Erst in der zweiten Strophenhälfte schwenkt der Fokus von der Zweinaturenlehre zur Transsubstantiationslehre. Auffällig ist die erweiterte Übersetzung von Caro Christi pura (VII,6) mit sein flaisch unnd auch sein plůte. Die deutsche Übertragung entfernt sich so inhaltlich vom lateinischen Lobgesang und nähert sich der Wandlungszeremonie an, die Brot und Wein, Leib und Blut umfasst. Einen weiteren Bezug zum kirchlichen Raum wird über die Übersetzung von Brevi sub clausura (VII,8) gewährleistet: Während der lateinische Hymnus den Verschluss des Leibes Christi in der Hostie nicht näher spezifiziert, spricht die deutsche Übertragung von klainer beschliessung hutte und geht damit auf den kirchlichen Aufbewahrungsort der konsekrierten Hostie, dem Tabernakel ein.46 Eine gesteigerte Hostienfrömmigkeit lässt sich in der neunten Strophe erkennen, wenn das Verspaar Virtus carnis sugitur | Morsibus amoris wiedergegeben wird mit: von Got werdent si taglich zallt, | die in leiplich beschluessent (IX,7 f.). Hier wird der Ablassgedanke greifbar, der im Spätmittelalter mit der Anbetung der Hostie verbunden war.47 Mit diesem Verspaar schließt die deutsche Übertragung der Vorlage. Die angehängte doxologische Strophe legt abschließend Zeugnis ab vom spätmittelalterlichen Schaubedürfnis: Die Gläubigen werden mit dem dritten Verspaar zur Andacht vor dem Körper Christi aufgefordert: betrachten Jhesum statigklich | unnd sein schone erleuchten. Indem die deutsche Übertragung auf die performative Dimension des lateinischen Hymnus verzichtet, kondensiert sie die eucharistische Liturgie auf das in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis relevante Geschehen. Die Anbetung der Hostie wird mit den Anrufungen Christi verbunden und der Wandlungsprozess stärker im kirchlichen Raum positioniert. Die Kürzung des lateinischen Hymnus reduziert nicht die Hostienfrömmigkeit, sondern verdichtet sie bei gleichzeitiger Verankerung in der liturgischen Praxis. Das bittende Schauen der Hostie wird zum Kern des Lobgesangs. Der wissensvermittelnde Part bleibt relevant, bedarf gleichwohl nicht der Ausführlichkeit der lateinischen Vorlage. So spiegeln sich spätmittelalterliche Frömmigkeitspraktiken in der Übertragung wieder.  

46 Georges, Bd. 2, Sp. 3001 führt für lat. tabernaculum die Übersetzungen ‚Hütte‘ und ‚Zelt‘. Für mhd. hütte listet Lexer, Bd. 1, Sp. 1409 ebenfalls diese Übersetzungsmöglichkeiten. 47 Die Beischrift zu einer deutschen Prosaübertragung des Ave vivens hostia, die in München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4701, Bl. 148v und Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Will II,19.8°, Bl. 12r erhalten ist, verweist explizit auf die Möglichkeit, Ablass für das Beten des deutschsprachigen Ave vivens hostia zu erhalten.

86

Christina Ostermann

2.3 Pist gegruest du lebntige speiß Eine dritte Versübertragung ist singulär überliefert auf Bl. 157r–158v der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8118.48 Bei dem Überlieferungsträger handelt es sich um eine geistliche Sammelhandschrift aus dem mittelbairischen Sprachraum, die anhand eines Kolophons auf das Jahr 1476 datiert werden kann.49 Die deutsche Übertragung des Ave vivens hostia erscheint im Anschluss an ein Mariengebet und vor Invokationen an den dreifaltigen Gott. Sie umfasst wie ihre Vorlage fünfzehn Strophen, spart jedoch die elfte lateinische Strophe aus und ergänzt im Anschluss an die fünfzehnte die aus der lateinischen Überlieferung und der Mönchsübertragung bekannte Zusatzstrophe.50 I

[P]ist gegruest du lebntige speiß, die warhait und das leben, in der nu allen opferen greis ist volligs endt gegeben, durch dich dein vater tuet in preis und hochsten eren sweben, durch dich51 di kirchen stet mit fleiß versichert vest und eben.

II

Pis gruest ein vas der mildikait, der suessikait ein schreine, in dem ganz sind wollustikait himelisches smacks gemaine, ein war substanz und wesenhait ganz unßers hailers raine, ein sacrament der gnad berait, der lieb narung allaine etc.

III

[P]is geruest warchleichs himelprot, warer dan der juden speise, ein wegheiser so pistu got, tedlicher mensch leise, erznei fur geistleichs sichtumbs not trostleich an uns beweise,

48 Auf die Übertragung weist Neske, S. 99 in ihrer Handschriftenbeschreibung hin. 49 Vgl. Neske, S. 90 f. 50 Die Transkriptions- und Editionsrichtlinien unter 2.2 behalten ihre Gültigkeit mit folgenden Ergänzungen: Es wurde ein z/cz-Ausgleich vorgenommen. Die Unterscheidung von u/v/w wurde für diese Handschrift nach mhd. Normalform ausgeglichen. Der Schreiber verwendet anlautendes w zuweilen in b-förmiger Variante. 51 Die Handschrift hat hier dich dich, die Wiederholung wurde eliminiert.  

Sehen und Erkennen

warleich gib kristenleicher rat das hi[157v]melisch paradeise. IV

Pis gruest der leichnam Jesu Christ52, daz entleich gent an smerzen, war got warer mensch verainet ist in adelleichem scherzen, zu gedachtnus du hie pist gelassen treuen herzen, do du auffurt in kurzer frist zu himelischen terzen.

V

Pis gruest volkomne freud an zahl, saligere leben frone, der armen wunsamleicher schal, den durftigen ein krone, gross freihait ist mit rechter wal der wegfertigen schone, wann irem opfer volgt an qual ze lon der himel throne.

VI

Responsio Pist gruest, ein tugent starck sin53, tue uns fur vall auffswingen, dein hilff lass auss gotleicher minn uns pilgran wol gelingen, halt fur das kainen sig gewin54 teuflischer veind an dingen, daz nicht der vaigen krafft beginn gotleicher sterck furdringen.

VII

Hie ist warleich Jesu Christ zwefeldiger nature, ganz ungetailt zu aller frist und nicht allain figure, sunder sichtikleichern ist sein leichnam klar mit kure, verporgen ganz auß kluegem list under smaler pure.

VIII

Responsio Sichtikleich in himels thron tuet Christi leichnam sizen, der under der gestalt hie schon dez protz tuet anders glizen;

52 Korrektur von Christi zur Erhaltung des Reimschemas. 53 Von sun korrigiert, Üb. von lat. virtus. 54 Von gewun korrigiert (analog zu VI,1), hier zur Erhaltung des Reimschemas.

87

88

Christina Ostermann

allain waiß Got, der ewig lon, wie er es fugt mit wizen, di ewig krafft gar leicht das kan [158r] volenden an verrazen. IX

Der leichnam Gotes pleibt unverzeirt, wie offt man in gunt niessen, die sel er unengezet nert, all stund gar an verdriessen; di gestalt dez protz der menschn entschert ... [iessen] fleisch neust und beheret, wer lieb iuget kan schliessen.

X

Responsio Christus gar kain leiden hat an solcher forme spalden, der gestalt des protz tuet sunder drat di krafft der deuung walden; wer Christum suechet, der vind nach rat in hochstem thron den halden. Hilff, das wir dort in himes pfat sein ewikleich behalden.

XII

Sixtus Lieb pei lieb begert zu sein, darumb, das es werd inne seins liebes herz und sich verain mit im und es gewinne; also der hochste kunig vain wil auß gruntloß minne speisen treue herzen gemain mit speis gotleicher sinne.

XIII

Responsio O suesser Jesu in uns sinnck dein hailsam speis mit schallen, in innikleicher lieb entrunck, das es pring frucht uns allen, unser ubel von uns ruck durch pitten zahar wallen, soleich begirde in uns druck, in den du habst gefallen.

XIV

Hilff Jesu, das sich zu uns send gotleiche macht all stunde, durch dein genadigs sacrament halt lieb und sel gesunde, der armen auffenthalt an endt, mach alwig freud uns kunde,

Sehen und Erkennen

89

dein gotleiche lieb herr in uns sendt, darinn uns stat enzunde. [158v] XV

Hais uns vermeiden uppikait, unß troster veste, unsere streiter von uns schaid die teufellischen geste; waz uns lernt die kristenhait, das wir es dort mit reste klarleich beschauen in ewikait, das ist furwar das peste.

Z

Wer hie nach volget frue unde spat dem sacrament so klare, der christenleichen glauben hat, Christe dem pis ein nare, wer andacht hat den machet sat dein suesse speis furware, der dein verlangent ane rat darnach im widerfare. Amen etc.

Auch diese Fassung orientiert sich formal an der Vorlage. Der Kreuzreim wird so strikt wie in der lateinischen Vorlage durchgeführt; Abweichungen sind erklärbar (z. B. III,1/3/5/7: prot – got – not – rat), das Metrum der lateinischen Vagantenstrophe wird angestrebt. Darüber hinaus gibt die Textgestaltung Hinweise auf eine intendierte Sangbarkeit. Mit Ausnahme der letzten drei erscheinen je zwei Strophen als Einheit, die durch einen Zeilenwechsel, eine deutlich Abstandsmarkierung oder eine etc.-Kürzung markiert ist. Die sechste, achte und zehnte Strophe ist mit einer ‚Responsio‘-Kürzung als zweiter Part eines Strophenpaares gekennzeichnet. Auf den Beginn der sechsten Doppelstrophe weist am linken Blattrand eine Sixtus-Kürzung hin. Für die letzten drei Strophen ist die Aufteilung aus dem Textlayout nicht eindeutig erkennbar, da mit dem Wechsel von der vierzehnten zur fünfzehnten Strophe auch ein Foliowechsel einhergeht. Die vierzehnte Strophe endet mit dem Zeilenende auf Bl. 158r, die fünfzehnte Strophe und die angehängte Zusatzstrophe bilden auf Bl. 158v eine Einheit. Da der Versbeginn auf Bl. 158v nicht eingerückt ist, ist davon auszugehen, dass die letzten drei Strophen eine Schlusstrias bilden. Neben dieser möglichen Sangbarkeit weist die Übertragung weitere Gemeinsamkeiten mit der Mönchsübertragung auf: Die Begrüßungsformel Ave des ersten Abschnitts wird einheitlich übersetzt (Pis gruest), die per te-Anapher der ersten Strophe wird beibehalten: durch dich (I,5/7). Die in der lateinischen Vorlage streng parallel gebauten Hostienpreisungen werden ebenso wie beim Mönch zwar inhaltlich übernommen, aber nicht nach einem einheitlichen Schema übersetzt. Mit der Mönchsübertragung identische Anklänge an den lateinischen Hymnus  

90

Christina Ostermann

finden sich zu Beginn des Mittelteils (VII,1: Hie; X,1: Christus) und in einzelnen Wörtern des Mittelteils (VII,2: nature, VII,4: figure; VII,8: pure55). Im Gegensatz zur Mönchsübertragung ist die Münchener Fassung weit entfernt von einer wörtlichen Übersetzung der Vorlage. Trotz der gelegentlichen Anklänge an das Lateinische überwiegen die inhaltlichen Modifikationen zugunsten der Form. So nennt diese Übertragung Christus nicht nur bereits im ersten Abschnitt des Liedes (vgl. IV,1), sondern übersetzt auch in I,5 mit Bezug auf den Gottessohn: patri – dein vater. Daneben ergänzt die Übertragung auch einen Hinweis auf die Frömmigkeitspraxis: Sunder sichtikleichern ist sein leichnam klar mit kure, verporgen ganz auß kluegem list under smaler pure. (VII,5–8)

Unter pure kann hier nach Grass das purpurfarbene Tuch verstanden werden, unter dem die konsekrierte Hostie in einem Gefäß aufbewahrt werden konnte.56 An der Stelle, an der die Augsburger Übertragung von einem Tabernakel spricht, fände dann eine andere, einfachere Aufbewahrungsform der Hostie Erwähnung. Denkbar wäre aber auch, pure als dialektale Variante des im Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Matthias Lexer nachgewiesenen Wortes bûr aufzufassen, das das ‚Haus‘ bezeichnet (wie in nhd. ‚Vogelbauer‘) und somit ebenfalls auf den Tabernakel verweist.57 Auffällig ist der Umgang mit den im lateinischen Hymnus vermittelten kirchlichen Lehren. So wird die Transsubstantiationslehre bereits in der zweiten Strophe berücksichtigt, wenn die Hostienpreisung Veritas substantiae mit ein war substanz und wesenhait (II,5) wiedergegeben wird. Hier werden nicht nur die substanziellen, sondern auch die akzidentiellen Eigenschaften der Hostie angesprochen und die Einheit der beiden betont. Neben der Transsubstantiation findet auch die Zweinaturenlehre Eingang in den ersten Abschnitt des Hymnus, wenn Corpus iunctum numini mit der Formulierung war got warer mensch verainet ist (IV,3) wiedergegeben wird. Umgekehrt findet sich das durch die wiederholte Begrüßungsformel evozierte Schauen der Hostie im zweiten Abschnitt wieder. Der visuelle Sinn wird angespro-

55 Im lateinischen Hymnus steht pura zwei Verse früher (VII,6). Wie noch zu zeigen sein wird, erfolgt die Anlehnung an das Lateinische hier nur auf der lautlichen, nicht auf der semantischen Ebene. 56 Vgl. Grass, S. 21. 57 Vgl. Lexer, Bd. 1, Sp. 390.

Sehen und Erkennen

91

chen, wenn die Hostie mit dem Verb glizen (VIII,4) in Verbindung gebracht wird: Der Leib Christi sei im Brot verborgen, seine Präsenz offenbare sich aber durch seinen Glanz. Diese Übersetzung lässt sich auch mit Blick auf die spätmittelalterlichen Hostienwunder lesen, in denen Jesus Christus in der konsekrierten Hostie sichtbar wird.58 Neben dem visuellen wird der auditive Sinn angesprochen, wenn in der dreizehnten Strophe die folgende Bitte formuliert wird: O suesser Jesu in uns sinck | dein hailsam speis mit schallen (XIII,1 f.). Der Hinweis auf das schallen, das heißt den Gesang, findet keine Entsprechung in der Vorlage. Die Übertragung des Kommunionsliedes verweist also auf denselben Gebrauchszweck. Doch auch der zweite mögliche Gebrauchskontext des lateinischen Hymnus wird in dieser Übertragung angedeutet, denn die Übersetzung von Vitae beatorum mit saligere leben frone (V,2) kann als Verweis auf das Fronleichnamsfest gelesen werden. Für die deutschsprachige Fassung im Cgm 8118 lässt sich somit festhalten, dass sie zeitgenössische frömmigkeitspraktische Aspekte ergänzt und die Verwendungskontexte des lateinischen Hymnus übernimmt. Entwicklungen in der Eucharistiefrömmigkeit werden ebenso greifbar, in erster Linie das gesteigerte Schaubedürfnis.  

4. Fazit Anhand des lateinischen Ave vivens hostia konnte gezeigt werden, wie die Eucharistie in einem Hymnus, der ursprünglich nicht für den liturgischen Gesang bestimmt war, vergegenwärtigt und erklärt wird. Während der liturgische Kontext hier über die Sprache, das Zitat eines liturgischen Gesangs und einen performativen Nachvollzug hergestellt wird, wählen die drei analysierten deutschsprachigen Übertragungen andere Wege, um diesen Bezug auch in der Volkssprache zu bewahren. Alle drei Übertragungen bemühen sich um Sangbarkeit, das heißt um die Bewahrung der Gattung des geistlichen Lieds. Die tatsächliche Verwendung als Gesang ist nur für die Übertragung des Mönchs von Salzburg mit einer Melodienotation bezeugt; sie ist für die zweite Versübertragung aus der Beischrift abzuleiten und für die dritte aufgrund der Textgestaltung zu vermuten. Der Nachvollzug der Liturgie gemäß dem Vorbild des lateinischen Hymnus ist am ehesten in der Übertragung des Mönchs von Salzburg möglich. Diese imitiert den lateinischen Hymnus in Aufbau und Form und stellt auch auf lautlicher Ebene Bezüge zur Vorlage

58 Vgl. Angenendt, S. 506 f.  

92

Christina Ostermann

her. Die liturgische Praxis wird vom Mönch über die Ergänzung eines Handlungsakts (Brotbrechen) und eines Personenbezugs (Priester) evoziert. Im Unterschied dazu ergänzen die anderen beiden Versübertragungen die Vorlage um einen Verweis auf den jeweiligen Aufbewahrungsort der Hostie und lassen den kirchlichen Raum so greifbar werden. Sie geben zudem einen deutlichen Fokus auf die Sichtbarkeit der Hostie zu erkennen. Während die auf zehn Strophen gekürzte Fassung ihren Schwerpunkt auf die versprachlichte Elevation legt, wird die Wirkung der sichtbaren Hostie in der Münchener Übertragung hervorgehoben. Diese Veränderung in Bezug auf die Vorlage ließe sich auf die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxis, das gesteigerte Schauverlagen der Gläubigen, beziehen. Der dogmatische Mittelteil verliert in beiden Übertragungen tendenziell seine zentrale Stellung zugunsten des Sehens der Hostie. Zeigt das lateinische Ave vivens hostia noch einen deutlichen Übergang vom Sehen der Hostie zum Erkennen derselben, so behandeln insbesondere die beiden hier neu vorgestellten Versübertragungen das Sehen zugunsten des Erkennens. Alle drei Übertragungen weichen die strenge Chronologie der Vorlage auf, identifizieren die Hostie von Beginn an mit dem Gottessohn und tasten sich nicht mehr an die Vermittlung kirchlicher Lehren heran, sondern setzen ihre Kenntnis voraus. Auch hier ließe sich als Grund auf den Entstehungskontext der deutschsprachigen Übertragungen verweisen. Der zeitliche Abstand zur Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre beträgt nicht mehr nur wenige Jahrzehnte, sondern mehrere Jahrhunderte. Die deutschsprachigen Übertragungen des lateinischen Ave vivens hostia-Hymnus zeigen damit deutlich, dass eine Übersetzung nie nur zwischen zwei Sprachen, sondern immer auch zwischen zwei Gegenwarten stattfindet.

5. Literaturverzeichnis AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. 4. Auflage. Darmstadt 2009. Breuer, Wilhelm: Die lateinische Eucharistiedichtung des Mittelalters von ihren Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts. Ein Beispiel religiöser Rede. Wuppertal, Kastellaun, Düsseldorf 1970 (Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 2). Browe, Peter: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Hg. von Hubertus Lutterbach, Thomas Flammer. Münster, Hamburg, London 2003 (Vergessene Theologen 1). Browe, Peter: Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter. München 1933. Nachdruck Sinzig 1990. DH = Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hg. von Heinrich Denzinger. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. von Peter Hünermann. 43. Auflage. Freiburg u. a. 2010.  

Sehen und Erkennen

93

Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin, New York 1972 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 51). Eis, Gerhard: Fragment eines geistlichen Liederbuchs aus der Kartause Buxheim. In: Neuphilologische Mitteilungen 67 (1966), S. 182–191. Frühmorgen-Voss, Hella, Norbert H. Ott, Ulrike Bodemann: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Bd. 5,1/2 (Gebetbücher, von Regina Cermann). München 2002. Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 2 Bde. 9. Auflage. Basel 1951. Gillitzer, Berta: Die Tegernseer Hymnen des Cgm. 858. Beiträge zur Kunde des Bairischen und zur Hymnendichtung des 15. Jh. München 1942 (Forschungen zur bairischen Mundartkunde 2). Grass, Franz: Studien zur Sakralkultur und kirchlichen Rechtshistorie Österreichs. Innsbruck, München 1967 (Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte 2). Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit. Anhang: In dulci iubilo. Nun singet und seid froh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie. 3. Auflage. Hannover 1861. Iserloh, Erwin: Abendmahl III/2. Mittelalter. In: TRE 1 (1977) S. 89–106. Janota, Johannes: Schola cantorum und Gemeindelied im Spätmittelalter: Erneuter Hinweis auf die Bedeutung der ‚Crailsheimer Schulordnung‘ für die hymnologische Forschung. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 24 (1980), S. 37–52. Janota, Johannes: Studien zu Funktion und Typus des geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (MTU 23). Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1869–1878. Lipphardt, Walther: Ein Mainzer Prozessionale (um 1400) als Quelle deutscher geistlicher Lieder. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9 (1964), S. 95–121. Neske, Ingeborg: Die spätmittelalterliche deutsche Sibyllenweissagung. Untersuchung und Edition. Göppingen 1985 (GAG 438). Schlager, Karlheinz: Ave vivens hostia. Von der Meditatio zum Prozessionsgesang. In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 85 (2001), S. 127–134. Schneider, Karin: Deutsche mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg. Die Signaturengruppen Cod. I.3 und Cod. III.1. Wiesbaden 1988 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg II,1). Spechtler, Franz Viktor: ‚Ave vivens hostia‘ (deutsch). In: 2VL 1 (1978), Sp. 571 f. Spechtler, Franz Viktor: ‚Lauda Sion salvatorem‘ (deutsch). In: 2VL 5 (1985), Sp. 613 f. Steiger, Johann Anselm: Transsubstantiation. In: 4RGG 8 (2005), Sp. 539. Szövérffy, Joseph: Die Annalen der lateinischen Hymnendichtung. Ein Handbuch. Bd. 2: Die lateinischen Hymnen vom Ende des 11. Jahrhunderts bis zum Ausgang des Mittelalters. Berlin 1965. Vulgata = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robert Weber OSB. 5. Auflage. Stuttgart 2007. Wachinger, Burghart: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989 (Hermaea 57).  



Britta Bußmann

Mischsprachigkeit Heinrich Laufenbergs Bearbeitungen der Antiphon Ave regina caelorum und des Hymnus Ave maris stella

1. Mischsprachigkeit und ihr Stellenwert im Laufenberg-Korpus In seinem für das heutige Verständnis des spätmittelalterlichen deutschen Liedes wegweisenden Aufsatz ‚Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400‘ spricht Horst Brunner der Zeit um 1400 eine besondere Rolle für die Entwicklungsgeschichte des deutschsprachigen Liedes zu. „[H]insichtlich Produktivität, Experimentierfreude, Reichtum an Innovationen und prägendem Einfluß auf die folgenden anderthalb Jahrhunderte der Liedgeschichte“1 lasse sich nämlich einzig die Wende vom vierzehnten zum fünfzehnten Jahrhundert mit der Zeit um 1200 vergleichen, jener in der Forschung sehr viel präsenteren Phase also, in der Autoren wie Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen, Wolfram von Eschenbach und nicht zuletzt Walther von der Vogelweide die Liedgattungen des Minnesangs, der Sangspruchdichtung und der Großform des Leichs zu ihrer Blüte geführt haben.2 Um diese zum Veröffentlichungszeitpunkt – den frühen 1980er Jahren – noch durchaus provozierende These zu erhärten, führt Brunner eine Reihe von Innovationen an, die er mit der Zeit um 1400 verbindet, und skizziert in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung im Bereich der geistlichen Lyrik.3 Als entscheidenden Innovationsschub wertet er hier den Umstand, dass sich die geistliche Lieddichtung um 1400 zunehmend von ihren Wurzeln, d. h. von den traditionellen deutschen Liedtypen, abwendet und stattdessen „auf breiter Front geistliche lateinische Lieddichtung des Mittelalters […] mit ihren formalen Besonderheiten (Abecedarium, Akrostichon) durch Übersetzungen und durch freie Schöpfungen rezipiert“4.  

1 2 3 4

Brunner, S. 392. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 407–410. Ebd., S. 410.

Dr. Britta Bußmann, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Germanistik.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-005

Mischsprachigkeit

95

Brunner hat, das wird deutlich, keine bestimmte Form der Aneignung der lateinischen Vorlagen vor Augen. Mit Blick auf das geistliche Liederœuvre des Mönchs von Salzburg, das für ihn den Beginn der beschriebenen Entwicklung markiert und das er deswegen zur Basis seiner Darstellung macht, benennt er vielmehr diverse Rezeptionsmodi, so etwa die regelrechte Übersetzung, die Neutextierung vorhandener Sequenz- und Hymnenmelodien oder die Übernahme typischer Stilelemente der lateinischen Lieddichtung. Der relativ vage Begriff der „freie[n] Schöpfung[ ]“5, die Brunner ebenfalls als Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der lateinischen Tradition auflistet, mag dem Umstand geschuldet sein, dass er noch nicht abschätzen konnte, in welchem Verhältnis die kanzonenförmigen Lieder des Mönchs zur Tradition der lateinischen Cantiones stehen, d. h. ob der Mönch diesen Liedtyp nur nachahmt oder ob es direkte Vorlagenbeziehungen gibt.6 Grundsätzlich beweist freilich das Prunkstück des Mönch-Korpus, die Mariensequenz Ave, Balsams Creatur (Guldein Abc), dass der Mönch dazu in der Lage war, das sprachliche und musikalische Formenrepertoire der lateinischen Lyrik auch ohne konkrete Text- oder Melodievorlagen zu adaptieren: Die Sequenz gilt als Eigendichtung und Eigenkomposition.7 Angesichts der bereits im Liederœuvre des Mönchs dokumentierten Bandbreite an Auseinandersetzungsoptionen mit der lateinischen Liedtradition und den differenziert zu bewertenden Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den lateinischen Vorlagen und den verschiedenen Reproduktionstypen fällt auf, dass die Forschung sich bis heute weitgehend auf eine Diskussion der direkten Übersetzungen des Mönchs und seiner Nachfolger konzentriert. Dabei liegt das Augenmerk neben dem Mönch insbesondere auf jenen beiden Autoren, die auch Brunner aus der Gruppe der Nachfolger namentlich hervorhebt: Heinrich Laufenberg und Oswald von Wolkenstein.8 Die Fokussierung auf die Übersetzungen ist inso 

5 Ebd. 6 Vgl. ebd., S. 409 f. Vgl. zu diesen Liedern neuerdings Rosmer. Seine 2014 an der Universität Basel eingereichte Dissertation, die ebenfalls die kanzonenförmigen geistlichen Lieder des Mönchs fokussiert, ist 2019 unter dem Titel ‚Der Mönch von Salzburg und das lateinische Lied. Die geistlichen Lieder in stolligen Strophen und das einstimmige gottesdienstliche Lied im späten Mittelalter‘ beim Reichert-Verlag in Wiesbaden erschienen. 7 Ich zitiere die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg nach der Edition Spechtlers. Ave, Balsams Creatur trägt hier die Nr. G 1. Zur Einschätzung der Sequenz als Eigendichtung und -komposition siehe Kraß: Goldenes Abc, S. 125. 8 Vgl. Brunner, S. 408. Es gibt eine ganze Reihe von komparatistisch angelegten Studien, die die Übersetzungsverfahren des Mönchs, Oswalds und Laufenberg miteinander vergleichen. Klassisch ist hier die Untersuchung von Bärnthaler. Siehe zuletzt Kraß: Mittit ad virginem. Eine Zusammenschau wird dabei dadurch gefördert, dass die drei genannten Autoren zum Teil dieselben lateinischen Vorlagen übersetzt haben.  

96

Britta Bußmann

fern gerechtfertigt, als die alte (und in dieser Vereinfachung wohl zu verwerfende) These von dem mit dem Epochenwandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit verbundenen Wechsel von freieren zu enger am Prätext orientierten Übertragungsverfahren das Spätmittelalter auch aus Sicht der genuinen Translations-Forschung zu einer Schlüsselepoche macht.9 Für ein Verständnis der Rezeption der lateinischen in der deutschen Lieddichtung des Spätmittelalters erweist sich die Beschränkung auf die reinen Übersetzungen dennoch als problematisch. Vor allem werden auf diese Weise die Unterschiede zwischen den einzelnen Korpora nivelliert. Wenn man etwa Heinrich Laufenberg, dessen Liederœuvre10 im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen soll, als Übersetzer lateinischer Hymnen und Sequenzen unkommentiert neben den Mönch von Salzburg und Oswald von Wolkenstein stellt, dann verschleiert diese Gleichsetzung, dass Laufenbergs Translate nach Ausweis der Beischriften des verbrannten Straßburger Codex *B 121 überwiegend der frühen, d. h. vor 1421 entstandenen, Schicht des Korpus angehören.11 Der Aneignungsmodus ‚Übersetzung‘ wird danach weitestgehend durch andere Rezeptionsformen abgelöst, nämlich einerseits durch Glossenlieder bzw. -gedichte (die als Adaptationstyp allerdings schon immer neben den Übersetzungen stehen, also zum Teil vor 1421 entstanden sind12), andererseits durch die vier späten Stücke (Wackernagel 2, S. 599–603, Nr. 777–779 und 782), deren Adaptationsweise Wachinger als „Montage“13 beschreibt; diese zeichnen sich al 

9 Vgl. zu dieser These Worstbrock. Zur Kritik an dieser These siehe Hausmann, insbes. S. XVI–XX. 10 Wendet man Janotas Kriterium an (vgl. Janota, S. 34), dass ein als ‚Lied‘ zu bezeichnendes Stück als gesungenes Lied ausgewiesen sein muss, und hält sich dabei an die von ihm offerierten Indizien (Melodieüberlieferung, Stück ist eine Kontrafaktur, Hinweise wie Repetitionszeichen, entsprechende Nachrichten), kann man nicht für alle Stücke des Laufenberg-Korpus entscheiden, ob es sich bei ihnen um ein Lied oder ein Gedicht handelt. Von der großen Gruppe der Grüße und Anrufungen hält Wachinger allerdings viele für Gedichte, zumal die gleichstrophigen Stücke mit fünfzeiligen Strophen und Kornreim. Eine Reihe der Stücke dieses Typs kombinieren nämlich einen strophigen Hauptteil mit einem Schlussabschnitt in Reimpaarversen und dies spricht in Wachingers Augen insgesamt dafür, dass „auch bei den Strophen der Gedanke an Musik bereits ferngelegen“ habe (Wachinger, S. 367). Die aufgenommenen Fremdtexte sind aber oft Lieder. Generell werde ich daher an der Bezeichnung ‚Lied‘ (bzw. im Allgemeinen ‚Stück‘) festhalten und mich spezifisch nur zu den Stücken äußern, die ich interpretiere. 11 Vgl. Wachinger, S. 356 f., Schiendorfer, S. 280 f. 12 Ein frühes Beispiel für das Interesse an dem Adaptationstyp ‚Glossenlied/-gedicht‘ ist das älteste datierte Stück der Handschrift, das Glossengedicht Bjß grst, du himelfarwer schin (Wackernagel 2, S. 593 f., Nr. 772) von 1413. Nemes hält dieses Stück freilich nicht notwendig für ein Original Laufenbergs, sondern nimmt an, dass es von Laufenberg womöglich bloß rezipiert worden ist (vgl. Nemes, S. 69–71, 77 f.). 13 Wachinger, S. 375. Die Bezeichnung wird in der Kapitelüberschrift eingeführt.  







97

Mischsprachigkeit

lesamt dadurch aus, dass sie in je unterschiedlicher Art Teile der rezipierten lateinischen liturgischen Lieder in den deutschen Text inserieren.14 So übersetzt Laufenberg in seiner Übertragung der Mariensequenz Verbum bonum et suave zwar die Versanfänge, übernimmt jedoch die lateinischen Reimwörter: Ejn verbum bonum et suaue | sand dir got, dz heisset aue (Wackernagel 2, S. 603, Nr. 782, 1,1 f.).15 Zusammen mit dem von Laufenberg wohl nicht selbst verfassten Marienlied Regina celi, terre et maris (Wackernagel 2, S. 602, Nr. 780)16 bilden die Lieder Nr. 777– 779 und 782 jene Gruppe der in der Handschrift *B 121 tradierten Lieder, die in der älteren Forschung unter der Überschrift der ‚mischsprachigen Lieder‘ einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.17 Sie signalisieren ein Interesse des Verfassers sowohl an der (partiellen) Bewahrung des Originaltextes wie an der direkten Konfrontation von lateinischer und deutscher Sprache, das sich als solches bereits in den Glossenliedern ankündigt. Denn anders als beispielsweise beim Mönch von Salzburg, dessen einziges Glossenlied Maria, pis gegrüsset (G 12) ein von vornherein in deutscher Sprache verfasstes Ave Maria ausdeutet,18 ist die Ba 

14 Vgl. zu den Liedern Wachinger, S. 376 f. Die vier fraglichen Lieder sind nach Ausweis ihrer Positionierung im Straßburger Codes *B 121 alle zwischen ca. 1438 und ca. 1443 entstanden (vgl. zur Datierung ebd., S. 378). Unsicher ist aber die Datierung der Abschrift von Regina celi, terre et maris. Sie hängt im Wesentlichen davon ab, wo genau man die Bruchstellen der sekundären Umordnung der Handschrift *B 121 ansetzt, durch die die Lieder der frühen Schaffensperiode (1413–1421) zwischen diejenigen der Jahre 1421–1434 und diejenigen der Jahre 1436–1445 zu stehen gekommen sind. Wachinger vermutet die erste Nahtstelle bei Bl. 78/79 (vgl. Wachinger, S. 357), sodass die Abschrift von Regina celi, terre et maris – das auf Bl. 75r platziert war – ca. 1434 zu datieren wäre; Schiendorfer verortet die Nahtstelle hingegen „irgendwo zwischen Blatt 55 und Blatt 79“ (Schiendorfer, S. 280; vgl. überdies ebd. Anm. 22 und Nemes, S. 75). Regina celi, terre et maris könnte dann auch vor 1421 in die Handschrift aufgenommen worden sein und so belegen, dass Laufenberg sich schon früh für Mischsprachigkeit interessiert hat. 15 Wachinger, S. 376. Vgl. zu diesem Lied zuletzt Bußmann, insbes. S. 149–153. 16 Laufenbergs Verfasserschaft wird deswegen ausgeschlossen, weil die früheste Überlieferung (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18921, Bl. 113v–114r) noch ins vierzehnte Jahrhundert verweist (vgl. Kornrumpf, S. 228 Anm. 21). Die Situation ist freilich komplexer, als dies in der Forschung in der Regel dargestellt wird. Denn die Datierung des Codex ist eigentlich nicht beweiskräftig: Die Handschrift ist zwar auf das zweite oder dritte Viertel des vierzehnten Jahrhunderts zu datieren (vgl. Plessow, S. 342), aber das Lied selbst ist von einer der Nachtragshände geschrieben worden, die auch in der neuesten Beschreibung nicht genau bestimmt sind („Nachträge von mehreren [Händen] des 14. und 15. Jhs.“; ebd.). Um Laufenbergs Verfasserschaft mit Sicherheit ausschließen zu können, müsste diese frühe Abschrift demzufolge genauer kodikologisch untersucht werden. 17 Vgl. Hoffmann von Fallersleben, insbes. S. 10–15; Blume, S. 37 f. 18 Zur Verdeutlichung zitiere ich den Beginn der ersten Strophe: Maria, pis gegrüsset, | dein zarter, hochgelobter nam | vor allen dingen süsset, | du sälge himelport (G 12, I, 1–4).  



98

Britta Bußmann

sis für die Glossierungen bei Laufenberg in der Regel der lateinische Text. In geringem Umfang mischsprachig sind mithin auch die Glossenlieder. Die Glossenlieder und die vier im engeren Sinn mischsprachigen Lieder sind damit diejenigen Rezeptionsformen lateinischer Lyrik, die in Laufenbergs Gesamtwerk seit den 1420er Jahren dominieren. Fokussiert man sie, dann verschiebt sich der Blick auf die potentiellen Funktionszusammenhänge der an der lateinischen Lyrik orientierten deutschsprachigen Lieder. Die betreffende Debatte ist bislang primär auf Basis der direkten Übersetzungen geführt worden.19 Für Übersetzungen steht durchaus im Raum, dass sie als Verständnishilfe für die lateinischen Prätexte konzipiert sind und womöglich während der Aufführung des jeweiligen Originals in der Liturgie mitgelesen wurden. Dieses Erklärungsmodell ist freilich eher für schmucklosere, nicht auf Sangbarkeit ausgerichtete ProsaÜbersetzungen als für die artistisch anspruchsvollen Hymnen- und Sequenzübertragungen des Mönchs von Salzburg oder Heinrich Laufenbergs in Anschlag gebracht worden.20 Deren größeres künstlerisches Niveau entspricht nach gängiger Forschungsmeinung ein höherer Grad an Autonomie; Übertragungen dieses Typs haben – so die Schlussfolgerung – daher wahrscheinlich „eine selbständige Verwendung als persönliches Gebet oder als Gemeinschaftsgebet“21 gefunden. Für Laufenbergs Glossenlieder und die mischsprachigen Lieder ist das Erklärungsmodell ‚Verständnishilfe‘ in anderer Weise zu relativieren. Denn da diese Lieder lateinische und volkssprachige Textbausteine miteinander kombinieren, werfen sie immer schon die Frage auf, ob sie nicht ein Publikum voraussetzen, das über zumindest rudimentäre Lateinkenntnisse verfügt und insofern nicht oder in sehr viel geringerem Maß auf eine Hilfestellung bei der Rezeption der lateinischen Originale angewiesen ist.22 Stimmt diese Vermutung, dann würde an dieser Stelle eine von der Forschung in ihren Konsequenzen bislang kaum bedachte Ausdifferenzierung des Publikums, an das sich die verschiedenen Aneignungsformen der lateinischen Lyrik richten, in voneinander geschiedene Rezipientenkreise mit je eigenen Vorkenntnissen und Erwartungen sichtbar werden. Auch mit Blick auf die Gesamteinschätzung der spätmittelalterlichen geistlichen Liedkunst scheint es demzufolge relevant, den Umfang der Lateinkenntnisse, die

19 Brunner spricht – allerdings eher beiläufig – mit Blick auf die verschiedenen Aneignungsformen der lateinischen Lyrik, die er beim Mönch von Salzburg beobachtet (Übersetzung, Neutextierung, freiere Nachahmung), von „eine[r] denkbare[n] Differenzierung der Funktion der einzelnen Formen“ (S. 410), ohne dies jedoch weiter zu präzisieren. 20 Vgl. Kraß: Stabat mater, S. 324 f.; ähnlich auch Wachinger, S. 375. Siehe überdies Lenz, S. 30– 34. 21 Kraß: Stabat mater, S. 325. 22 Wachinger erwägt dies etwa für Ejn verbum bonum et suaue (vgl. S. 376).  

Mischsprachigkeit

99

Laufenberg seinen Rezipienten in den mischsprachigen Liedern abverlangt, genauer zu klären. Im Folgenden möchte ich deswegen anhand zweier Stücke des in der verbrannten Straßburger Handschrift *B 121 tradierten Laufenberg-Korpus der Frage nachgehen, in welcher Weise sie das Zusammenspiel zwischen deutschen und lateinischen Textbausteinen organisieren und welche Schlussfolgerungen dies über das je anvisierte Publikum und dessen Lateinkenntnisse zulässt. Hierzu werde ich mich einerseits auf das Glossenlied Ave, bis grst, du himels port (Wackernagel 2, S. 596 f., Nr. 775), andererseits auf das mischsprachige Gedicht Ave maris stella, bis grst ein stern im mer (Wackernagel 2, S. 600, Nr. 778) stützen.23 Beide können mit Sicherheit oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit als echte Laufenberg-Stücke gelten. So war Ave maris stella, bis grst ein stern im mer im Codex *B 121 mit einem Datierungszusatz – nämlich der Jahreszahl 1443 – versehen.24 Ave, bis grst, du himels port war sogar ein lateinisches Widmungsgedicht an einen nicht näher benannten frater beigefügt, in dem sich Laufenberg als Verfasser (Heinrici miseris ingenijs) identifiziert.25  

23 Nemes bezeichnet Ave, bis grst, du himels port als „Glossengedicht“ (Nemes, S. 76 Anm. 34), auch Wachinger fasst es als Gedicht auf (vgl. Wachinger, S. 367). Für Wachinger scheint dabei ausschlaggebend zu sein, dass man Ave, bis grst du himels port in die Gruppe der oben bereits angesprochenen (vgl. Anm. 10) gleichstrophigen Mariengrüße mit paargereimten Schlusspartien einordnen kann, die Wachinger ja insgesamt nicht als Lieder sieht (vgl. Wachinger, S. 367). Das lateinische Widmungsgedicht ist aber sicherlich als separate, paratextuelle Ergänzung zu Ave, bis grst du himels port zu verstehen und sagt insofern nichts über den Liedcharakter des Stücks aus. Außerdem benennt das Sprecher-Ich seine Tätigkeit als Singen: gib mir din lob ze singen (1,5). Aufgrund dieses inhaltlichen Kriteriums möchte ich an der Bezeichnung als Lied festhalten. Anders liegt der Fall bei Ave maris stella, bis grst ein stern im mer. Das Stück erweitert den Hymnus Ave maris stella in einer Form, dass der neu entstandene Text nicht mehr auf die ursprüngliche Strophe gesungen werden kann. Da auch sonst keine Melodie bekannt ist und der Text keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass Laufenberg das Stück als Lied verstanden haben könnte, schließe ich mich hier Wachinger an, der es als Gedicht anspricht (vgl. Wachinger, S. 376). Beide Stücke sind in der rezenten Laufenberg-Forschung kaum präsent, sodass ich sie im Anhang beide vollständig nach der Ausgabe von Wackernagel wiedergebe. 24 Wachinger zählt die Datierungen zu den „positiven Echtheitskriterien“ (S. 354), erkennt ihnen aber eine weniger große Beweiskraft zu als Autorsignaturen im Text und Zuschreibungen in Paratexten (vgl. ebd.). 25 Zitiert nach Wackernagel 2, S. 597 Anm. zu Nr. 775.

100

Britta Bußmann

2. Ave, bis grst, du himels port – ein Glossenlied auf die Antiphon Ave regina caelorum In dem mit Blick auf das gesamte Liederœuvre und seine Präsentation im Straßburger Codex *B 121 nicht sicher zu datierenden26 Marienlob Ave, bis grst, du himels port glossiert Heinrich Laufenberg die seit dem zwölften Jahrhundert in Handschriften bezeugte Antiphon Ave regina caelorum.27 Ihre zwei Strophen lauten, wenn man sich an den Laufenberg bekannten Wortlaut hält, folgendermaßen: Ave regina celorum, Ave domina angelorum, Salve radix sancta, Per quam mundo lux est orta. Gaude gloriosa, Super omnes speciosa, Uale valde decora, Et pro nobis semper Cristum exora.28

26 Auch hier hängt die Entscheidung in der Datierungsfrage davon ab, wo genau man die Bruchstellen der sekundären Umordnung der Handschrift *B 121 ansetzt. Im Unterschied zu Wachinger, der Verwerfungen bei der Seitenzählung rund um Bl. 133 – d. h. dem Blatt, auf dessen Versoseite die Abschrift von Ave, bis grst, du himels port beginnt – als Indiz dafür interpretiert, dass hier die zweite Nahtstelle und damit die Rückkehr zur chronologischen Ordnung anzunehmen ist (vgl. Wachinger, S. 352 f.), gehen Schiendorfer und Nemes davon aus, dass die Handschrift bereits ab Bl. 124 die chronologische Ordnung wieder aufnimmt (vgl. Schiendorfer, S. 280 Anm. 22; Nemes, S. 75 f.), sodass die danach folgenden Lieder (und damit auch Ave, bis grst, du himels port) eigentlich den 1430er Jahren zuzurechnen wären. Nemes hält Ave, bis grst, du himels port und das vorausgehende O Mary, du berendes zwy (Wackernagel 2, S. 573, Nr. 743 Anm.) jedoch für Lieder der Zeit vor 1421, die als Nachtrag in die Gruppe der späteren Lieder aufgenommen worden sind. In Fall von Ave, bis grst, du himels port begründet er die These damit, dass die Selbstbezeichnung im Widmungsgedicht (Heinrici miseris ingenijs) an die Selbstnennung in der Überschrift zur Parallelüberlieferung der Sequenzübertragung Bjs grst, maria, schner merstern (Wackernagel 2, S. 585, Nr. 763) in der ebenfalls verbrannten Straßburger Handschrift C 22 erinnert. Diese lautete Heinricus miserrimis ingeniis. Die Übertragung gehört der frühen Schaffensphase vor 1421 an (vgl. Nemes, S. 76 f. und Anm. 34). 27 Vgl. Chevalier 1, S. 122, Nr. 2070; Daniel 2, S. 319, Nr. 10; Cantus Index Nr. 001542. Vgl. zu der Antiphon Lausberg: Ave Regina caelorum, Sp. 1143 sowie Heinz, spez. zur Datierung Sp. 1358. 28 Die von Laufenberg in sein Glossenlied inserierte Textfassung der Antiphon weicht leicht von den in den oben genannten hymnologischen Sammlungen (vgl. Anm. 27) präsentierten Versionen ab, die allerdings untereinander ebenfalls nicht ganz deckungsgleich sind. Am ehesten ähnelt der bei Laufenberg bezeugte Text der dann im sechzehnten Jahrhundert üblichen Fassung der Anti 







Mischsprachigkeit

101

(Sei gegrüßt, Himmelskönigin, sei gegrüßt, Herrin der Engel; sei gegrüßt, heilige Wurzel, durch die der Welt das Licht aufgegangen ist; freue dich, Herrliche, über alle Schöne; Lebewohl, sehr Geschmückte, und bitte Christus immer für uns.)

Marianische Antiphonen ergänzen keine Psalmen, sondern werden in der Komplet (oder in der Vesper, wenn diese die letzte gemeinschaftlich gefeierte Hore ist) als Abschluss des Stundengebets gesungen.29 Heinz vermutet, dass sie als „Inkarnationsgedächtnis“ fungieren und letztlich „dem Wunsch entsprungen [seien], Maria zu derselben Zeit zu grüßen, zu der sie nach einer im [Mittelalter] weit verbreiteten Ansicht der Erzengel Gabriel gegrüßt“30 habe. Dieser Wunsch paare sich mit dem Bestreben, sich vor Beginn der Nacht des Schutzes durch Maria zu versichern.31 Beide Elemente schlagen sich in Ave Maria caelorum nieder, denn die Antiphon kombiniert eine ganze Kette von Grußformel (Ave – Ave – Salve – Gaude) mit der im letzten Vers vom Sprecher-Kollektiv geäußerten Bitte um Fürsprache bei Christus: Et pro nobis semper Cristum exora (II,4). In den die Schlussbitte einleitenden Abschiedsgruß Uale (II,3) hat sich zudem der ursprüngliche Gebrauchszusammenhang der zunächst speziell für die Non von Mariä Himmelfahrt konzipierten Antiphon eingeschrieben. Die Gläubigen verabschieden sich hier von der in den Himmel aufgenommenen Maria.32 An sie als Assumpta richten sich freilich auch die schon zu Beginn der Antiphon gewählten Anreden regina celorum und domina angelorum (I,1 f.), die die Himmelfahrt also gleichsam vorwegnehmen, bevor die Antiphon sie tatsächlich nachvollzieht. Laufenberg integriert diesen Text in sein Lied, indem er jedem Wort oder – im Fall von Präpositionalkonstruktionen (Per quam; 10,1 / Super omnes; 16,1 / Pro nobis; 21,1), periphrastischen Verbformen (Est orta; 13,1) und adverbialen Ergänzungen (Valde decora; 19,1) – je zwei Wörtern der Antiphon jeweils eine seiner Stro 

phon: Ave Regina coelorum, | Ave Domina angelorum, | Salve radix sancta, | Ex qua mundo lux est orta. | Gaude virgo gloriosa, | Super omnes speciosa. | Vale, valde decora, | Et pro nobis semper Christum exora (zitiert nach Marx-Weber, S. 186, Textanhang). Die Laufenberg bekannte Textfassung weicht lediglich in Vers 2,1: Gaude gloriosa ab (die aber so bei Daniel 2, S. 319, Nr. 10 belegt ist); eigentümlich auch im Vergleich mit den anderen Texteditionen ist ihr zudem der Ersatz der Ablativkonstruktion Ex qua mundo lux est orta durch eine – freilich bedeutungsgleiche – Präpositionalphrase mit Akkusativ: Per quam mundo lux est orta. 29 Vgl. Heinz, Sp. 1357. 30 Ebd., Sp. 1358. 31 Vgl. ebd. 32 Lausberg: Ave Regina caelorum, Sp. 1143. Im nachtridentinischen Brevier ist die Antiphon hingegen der Zeit zwischen Mariä Lichtmess und Gründonnerstag zugeordnet (vgl. Heinz, Sp. 1357).

102

Britta Bußmann

phen zuordnet. Den 29 Wörtern der Antiphon entsprechen auf diese Weise 24 Strophen des Glossenliedes.33 In diese werden die lateinischen Lemmata als Initium inseriert,34 wobei sie fest in den Rhythmus der Strophe eingebunden sind. Mit Ausnahme der Strophe 23, deren Lemma, die im Akkusativ stehende Namensform Cristum, keiner Übertragung bedarf und insofern umstandslos in das Bild des von der Jungfrau gefangenen Einhorns überführt wird (Cristum, den einhürn in der schoss | din edler magtm uns besloss; 23,1 f.), folgt dem lateinischen Anfangswort der Strophen stets unmittelbar eine Übertragung ins Deutsche.35 Diese wird dann zum Ausgangspunkt für weitere Ausdeutungen oder Reflexionen. Beispielhaft kann eine Wiedergabe der zweiten Strophe von Ave, bis grst, du himels port dieses Verfahren illustrieren. Hier ist die Übersetzung des Lemmas [r]egina – künginn – zugleich Teil der um das Attribut gabenrich erweiterten Namensform künginn […] von saba, mit der Maria gleichgesetzt wird:  

REGINA, künginn gabenrich, von saba, frow, ich loben dich, verzukt in wunder minnenclich, nie creatur wart din gelich in gld, dz du maht bringen. (2,1–5)

Überblickt man alle 24 Strophen und die in ihnen enthaltenen Translate der Einzelwörter der Antiphon, dann fallen durchaus Abweichungen zwischen den lateinischen Lemmata und ihren vorgeblichen volkssprachigen Äquivalenten auf. So wird [s]uper omnes etwa mit über all statt mit ‚über alle‘ übersetzt, und der Kontext der Strophe beweist, dass an dieser Stelle nicht etwa eine Apokope vorliegt, sondern die Präpositionalkonstruktion tatsächlich als adverbiale Bestimmung (‚am ganzen Körper‘) verdeutscht wird: Super onmes, über all | bistu geziert mit ri-

33 Unsicher ist, ob Laufenberg hiermit einen bestimmten Zweck verfolgt. Zwar führen die Zusammenziehungen dazu, dass die durch Paarreim gebundenen Verse der Antiphon nun durch (annähernd) dieselbe Anzahl von Strophen vertreten werden. So werden die beiden Antiphon-Verse Gaude gloriosa (II,1) und Super omnes speciosa (II,2) nun etwa ungeachtet ihrer differierenden Wortzahl in je zwei Strophen glossiert. Insgesamt scheint sich die Einteilung der Antiphon aber nur bedingt auf die Struktur von Laufenbergs Marienpreis umzubrechen, ignoriert die von ihm eingeführte Verknüpfung von jeweils zwei Strophen durch strophenübergreifende Endreime doch immer schon die Versgrenzen des lateinischen Originals. 34 Vgl. zum Verfahren Appelhans, S. 71. Dass die glossierten Worte zu Beginn der Strophen stehen, ist für deutsche Glossenlieder üblich (vgl. ebd.). 35 Meistens ist sofort das nächste Wort die Übertragung, doch kann diese kontextbedingt auch später folgen. Sie ist allerdings immer im ersten Vers der Strophe zu finden, wie z. B. in Vers 8,1: Radix, von yesse wurzel gt.  

Mischsprachigkeit

103

chem schall (16,1 f.). Laufenberg übersetzt folglich die einzelnen Bestandteile der Phrase nacheinander und stimmt die Übertragung von omnes als ‚all‘ auf den weiteren Argumentationsverlauf ab. An zwei Stellen entfernt er sich in seinen Translaten überdies in markanterer Weise von der lateinischen Vorlage. Gemeint ist die Wiedergabe der Abschiedsformel Uale valde decora (II,3) in den Strophen 18 und 19 des Glossenliedes. Während die Übersetzung von [v]alde decora mit wunder clg (19,1) statt mit ‚sehr Geehrte‘ wohl als Analogiebildung zur Übertragung von [s]peciosa mit wunder schon (17,1) zu erklären ist, reagiert die Übersetzung von Uale mit bys fry in ganczer maht (18,1) statt mit ‚Lebwohl‘ wahrscheinlich vordringlich auf den veränderten Gebrauchskontext. Anders als die für Mariä Himmelfahrt gedichtete Antiphon ist das Glossenlied ja nicht für die Nutzung innerhalb einer Festtagsliturgie bestimmt, vielmehr entwirft Laufenberg es als allgemeines, anlassunabhängiges Marienlob. Dies ist auch genau jene Sprechhaltung, die das insbesondere zu Beginn des Glossenliedes exponierte Sprecher-Ich einnimmt, wenn es ankündigt, das lob Marias singen zu wollen (1,5).36 Für die Verdeutschung des Abschiedsgrußes weicht Laufenberg deswegen auf die Grundbedeutung des lateinischen Verbs valere – ‚kräftig, stark, tüchtig sein‘37 – aus und verzichtet mithin auf eine Nachahmung der die Antiphon so entscheidend prägenden und auf ihre liturgische Funktion bezogenen Abfolge von Willkommens- und Abschiedsgruß. Im Vergleich zu Ave regina caelorum ist das Ende von Ave, bis grst, du himels port ohnehin wenig akzentuiert, da Laufenberg von den fünf Strophen, die die Lemmata der Schlussbitte Et pro nobis semper Cristum exora (II,4) glossieren, nur die allerletzte als Bittstrophe formuliert:  

EXORA, bitt für vns behend, dz Jesus vns sin hilffe send, e naas38 vnser g erblend in todes nten an dem end, dz er vns lse, Amen. (24,1–5).

Auch diese Entscheidung wird man wohl als Reaktion auf die veränderte Gebrauchssituation des Glossenliedes werten müssen.

36 Vgl. auch 2,2: frow, ich loben dich. 37 Georges 2, Sp. 3353–3356. 38 Gemäß Wackernagel ist naas zu satanas aufzulösen; vgl. Wackernagel 2, S. 597 Anm. zu Nr. 775.

104

Britta Bußmann

Sichtbar wird zudem, dass Laufenberg die Glossierung der Antiphon explizit dazu nutzt, eine eigene Deutung zu etablieren und Maria zu profilieren. Ave regina caelorum spricht der Gottesgebärerin Maria zwar eine Rolle im Heilsplan zu, da sie der Menschheit Christus, das Licht der Welt (lux; I,4), gebracht habe, leitet daraus aber keineswegs eine Eigenschaft als Miterlöserin ab. Vielmehr beschränkt sich ihre Funktion darauf, als Mediatrix Fürbitte bei Christus zu leisten, eine Aufgabe, zu der sie ihre große Nähe zu ihrem göttlichen Sohn in besonderer Weise prädestiniert. Laufenberg hingegen glossiert den auf Marias Mutterschaft bezogenen Relativsatz der Antiphon (Per quam mundo lux est orta; I,4) in den Strophen 10–13 seines Liedes derart, dass sich seine Aussage geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Marias Heilsrelevanz verselbständigt sich gewissermaßen. Ihretwegen, so erklärt die Sprecher-Instanz nämlich, könne Gott als wahrer Samariter heilen (Per quam, durch dich got heylen kann | mit öl, der war samaritan; 10,1 f.), sie selbst sei bereits als Gnadenzeichen für die Welt geboren worden (Mundo, der welt bistu geborn | ein morgenrot, der gnaden horn; 11,1 f.) und auch die ChristusBezeichnung [l]ux wird nun für Maria in Anspruch genommen: Lux bist, ein lieht vs dem got maht | wie er vom tage schied die naht (12,1 f.). Lediglich die Strophe 13 rekapituliert die Grundidee des paraphrasierten Satzes der Antiphon, dass Christus durch Maria der Welt als Erlöser erschienen sei: Est orta, vns vff gangen ist | der gnaden tage, Jhesus Christ (13,1 f.). Die hier exemplarisch vorgeführte Zielrichtung ließe sich für das gesamte Glossenlied nachweisen. Durchgängig wird Maria auch über ihre Mutterschaft hinaus Anteil am Erlösungswerk zuerkannt. So erscheint sie etwa in Strophe 15 in typologisch-allegorischer Durchstoßung der Zeitlinien als Ursache für die Tötung von Holofernes, wobei die von Laufenberg gewählte Formulierung diese Tat offenbar mit Marias Sieg über den Teufel, den bösen Feind, gleichsetzt: durch die mit holofernes swert | des vyendes maht ist gar erlert (15,2 f.). Die Feinheiten dieser Verfahrensweise, mit der Laufenberg das Marienbild von Ave, bis grst, du himels port als Erweiterung und Übersteigung des Marienbildes von Ave regina caelorum gestaltet, eröffnen sich nur einem Publikum, das über gute Lateinkenntnisse verfügt. Daher überrascht nicht, dass der erste (und vielleicht einzige) Rezipient durch die Sprache des an ihn gerichteten (bereits oben zitierten) Widmungsgedichts als lateinkundig ausgewiesen wird. Dennoch sind Lateinkenntnisse keine unumgängliche Vorbedingung, um das LaufenbergLied verstehen zu können. Wenngleich es gelegentlich nur mit Abstrichen möglich ist, aus den Übersetzungspassagen des Ave, bis grst, du himels port eine Übertragung der Antiphon Ave regina caelorum zu gewinnen, wird man doch festhalten müssen, dass die Translate der Lemmata in der Regel nahe genug am Ausgangstext bleiben, um wenigstens den Eindruck zu vermitteln, dass eine genaue Wiedergabe des Ausgangstextes intendiert ist. Das Glossenlied ist folglich auch  









Mischsprachigkeit

105

für sich allein rezipierbar, wird aber dadurch auf seine Oberflächenstruktur reduziert, da das Spiel mit den Bedeutungsdimensionen der Vorlage verloren geht.39 Dass Laufenberg den Originaltext der Antiphon in sein Glossenlied einbindet und nicht etwa nur die Übersetzungen der Lemmata in die Strophen einbaut, ist wohl auf zweierlei Weise zu verstehen: Einerseits ist es als Maßnahme zu interpretieren, mit der er den Bezug zum Original wahren will. Die Antiphon bleibt audiovisuell als Ausgangspunkt für die Glossierung präsent, selbst wenn sie nicht verstanden wird, und signalisiert damit den Status des Glossenliedes als ‚Literatur auf zweiter Stufe‘, d. h. als Ergebnis einer Transfer- und Transformationsleistung. Dem sprachlich gebildeten Rezipienten eröffnet dies die Möglichkeit, den Text des Originals als Folie für sein Verständnis des Reprodukts heranzuziehen.40 Darüber hinaus soll die Aufnahme des Originalwortlauts vielleicht der Nobilitierung dienen. Denn die fremde – und heilige – Sprache Latein wertet den deutschen Text auf und unterstreicht die religiöse Funktion. Ihre Integration minimiert so vielleicht den Bedeutungsverlust, den das Glossenlied gegenüber der Antiphon durch die Streichung der liturgischen Dimension hinnehmen muss.41  

3. Ave maris stella, bis grst ein stern im mer – eine Bearbeitung des Hymnus Ave maris stella In dem im Straßburger Codex *B 121 auf 1443 datierten und insofern sicher der Spätphase seines dichterischen Schaffens42 zuzuweisenden Gedicht Ave maris stella, bis grst ein stern im mer bearbeitet Laufenberg den im Mittelalter äußerst populären Marienhymnus Ave maris stella (AH 51, S. 140–142, Nr. 123). Laufenberg hat ihn im Jahr 1419 bereits einmal in die Volkssprache übertragen (Wackernagel 2, S. 581, Nr. 757), sodass das hier zu besprechende Stück seine zweite Auseinandersetzung mit dem lateinischen Original darstellt.43

39 Zum komplexen Ineinandergreifen von glossiertem und glossierendem Text siehe auch Wegener, Lallinger, Cano Martín-Lara, S. 408–411. 40 Vgl. ebd., S. 409 f. Zum Begriff der ‚Literatur auf zweiter Stufe‘ siehe Genette. 41 Wegener, Lallinger, Cano Martín-Lara sprechen in diesem Kontext von der „liturgische[n] Autorität“ (S. 409) des Originals, die die Glossierung eben nicht besitzt. 42 Zur Datierung vgl. die in der Edition mitgeteilten Paratexte (Wackernagel 2, S. 600 Anm. zu Nr. 778). 43 Zur Datierung vgl. wiederum die Edition, die auf eine entsprechende Beischrift verweist (Wackernagel 2, S. 581 Anm. zu Nr. 757). Zur Popularität des Hymnus, die sich sowohl in lateinischen Bearbeitungen und Glossierungen als auch in Übersetzungen in die Volkssprache zeigt, vgl. Lausberg: Hymnus, S. 116–119; Lipphardt, Sp. 566–568; Bernt. Vgl. überdies die vom Berliner Re 

106

Britta Bußmann

Ave maris stella ist seit dem neunten Jahrhundert handschriftlich belegt und wurde als Vesperhymnus ursprünglich zum Fest Mariä Verkündigung, später aber auch an weiteren Marienfesten gesungen.44 Da er das Verkündigungsgeschehen in der zweiten Strophe direkt anspricht (vgl. II,1 f.), ruft der Hymnus freilich stets die Inkarnation ins Gedächtnis, selbst wenn eine konkrete Anbindung an das Verkündigungsfest fehlt. Dabei legt die im Text explizit inszenierte Spiegelung des Engelsgrußes durch das an Maria gerichtete Ave der Gläubigen (Ave, maris stella […] Sumens illud Ave | Gabrielis ore; I,1–II,2) nahe, dass das Inkarnationsgedächtnis – ähnlich wie es oben bereits für die marianischen Antiphonen diskutiert worden ist – auch an den performativen Nachvollzug des Verkündigungsgeschehens geknüpft ist: Die Gläubigen erinnern den Engelsgruß, indem sie ihn selbst artikulieren und in ihrer Grußformel gleichsam verdoppeln.45 Kennzeichen des Hymnus ist die dichte, durch intratextuelle Verweise erreichte Fügung des Textes, denn der Ave-Gruß und die Marienanreden (maris stella, Dei mater alma, virgo, [f]elix caeli porta; I,1–4) der ersten Strophe geben die Themen vor, die in den fünf folgenden Strophen variierend aufgegriffen werden. So referentialisiert die zweite Strophe mit ihrer Darstellung der Inkarnation (II,1 f.) den Ave-Gruß (I,1). Die in der dritten Strophe formulierte Bitte, den Blinden das Licht zu bringen (Profer lumen caecis; III,2), bezieht sich auf die Marienanrede maris stella (I,1). Die in der vierten Strophe an Maria gerichtete Aufforderung, sich als Mutter zu erweisen (Monstra te esse matrem; IV,1), greift die Benennung als Dei mater alma (I,2) auf. Die die fünfte Strophe einleitende Apostrophe [v]irgo singularis repetiert die vorausgegangene Bezeichnung virgo (I,3). Und die sechste Strophe mit ihrer Bitte um Hilfe auf dem Weg zum ewigen Leben (VI,2–4) bezieht sich auf die Adressierung Marias als [f]elix caeli porta (I,4).46 Der Hymnus schließt mit  



pertorium online zur Verfügung gestellte Sammlung von Übertragungen: http://opus.ub.hu-ber lin.de/repertorium/browse/hymn/6860 (8. Februar 2017). Offenbar schreibt sich Laufenberg zu Beginn seines Gedichts in diese Tradition ein: Wachinger, S. 376 verweist darauf, dass die lateinischen Einschübe ein anderes Glossengedicht über Ave maris stella anklingen lassen, nämlich Konrads von Haimburg Ave maris stella, Verbi Dei cella (AH 3, S. 40–44, Nr. 40). Tatsächlich finden sich die drei Halbverse tu verbi dei cella (1,2), tu virtutum palma (1,4) und verbum tam suave (2,2) (nahezu) wortgleich auch bei Konrad (vgl. I,2; II,2; V,2). Außerdem spielt Laufenberg auch auf seine eigene Übersetzung des Hymnus an: Die Halbverse bis grst ein stern im mer (1,1), du gottes mter her (1,2) und entbind der sünde band (3,1) erinnern an die Verse Bjs grst, stern im mere, | gottes mter here (1,1 f.) und Entbind band den sünden (3,1) der Übertragung. 44 Lausberg: Ave maris stella, Sp. 1141; Bernt, S. 317. 45 Vgl. oben, S. 100 f. 46 Vgl. Bernt, S. 317; Rothenberger, S. 182–184. Vgl. ausführlich Lausberg: Hymnus, S. 29–95.  



Mischsprachigkeit

107

einer Doxologie, sodass „die Hinwendung an die Gottesmutter“, wie es typisch ist für seine frühe Entstehungszeit, „grundsätzlich trinitarisch“47 bleibt. Laufenbergs Gedicht Ave maris stella, bis grst ein stern im mer nimmt den Text von Ave maris stella in der Weise auf, dass es jede Strophe um jeweils vier lateinische und acht deutsche Verse erweitert. Diese Zusätze sind so angeordnet, dass immer ein lateinischer und ein deutscher Vers einander zu einem Langvers ergänzen;48 jede zweite dieser mischsprachigen Langzeilen beginnt mit einem Vers von Ave maris stella. Der ursprüngliche Textbestand des Originals ist mithin um das Vierfache angewachsen, da den vier sechssilbigen Versen der Hymnenstrophen nun sechzehn Sechs- bzw. Siebensilber gegenüberstehen, die sich auf acht binnen- und endgereimte Langverse verteilen:49 AVE MARIS STELLA, bis grst ein stern im mer, tu verbi dei cella, du gottes mter her, DEI MATER ALMA, du gotz gebrerin, tu virtutum palma, du aller tugent schrin, ATQUE SEMPER VIRGO, du mter, ksche meyt, tu plena dei verbo, als gabriele seyt, FELIX CELI PORTA, die sah ezechiel, per te est salus orta, der wor emanuel. (1,1–8)

Die Strophenfaktur mit ihrem Wechsel von Originalversen und zum Teil erläuternden, zum Teil reflektierenden Einschüben erinnert an die Struktur regulärer Glossenlieder bzw. -gedichte, wobei die Erweiterungen durch ihre Zweisprachigkeit auf den ersten Blick sogar wie das Ergebnis einer doppelten Glossierung wirken.50

47 Rothenberger, S. 184 Anm. 62. 48 Als einzige Ausnahme ist Vers 2,8 durchgängig in deutscher Sprache gehalten: mit dinem sssen aue, bis grsset yemer me. 49 Ich folge der Strophenanordnung bei Wackernagel 2, S. 600, Nr. 778. Vgl. aber auch die Beschreibung bei Hoffmann von Fallersleben, S. 11 f. Dieser setzt den Kurzvers als Einheit an und geht daher von sechzehnversigen Strophen mit Kreuzreimen aus statt von solchen mit acht Langversen, die durch Binnen- und Endreim (Paarreim) miteinander verbunden sind. 50 Wachinger erwägt daher auch, ob das Gedicht das Resultat zweier voneinander unabhängiger, nacheinander verlaufender Glossierungsvorgänge sein könnte: Laufenberg wären dann nur die deutschen Partien zuzuweisen; die lateinischen Einschübe wären das Werk eines unbekannten, vielleicht durch Konrad von Haimburg beeinflussten Verfassers, der den Hymnus früher als Laufenberg bearbeitet hätte. Vgl. die entsprechenden Überlegungen bei Wachinger, S. 376. Wie die nachfolgende Erörterung der Verbindung zwischen den deutschen und den lateinischen Textpartien noch im Detail nachweisen wird, ist diese Annahme aber letztlich unbegründet: Alle Erweiterungen sind in einem Zug entstanden und daher auch von einem Autor – Laufenberg – zu verantworten.  

108

Britta Bußmann

Trotz dieser strukturellen Nähe unterscheidet sich die Art und Weise, wie die Mischsprachigkeit in Ave maris stella, bis grst ein stern im mer zutage tritt, dennoch deutlich von derjenigen der anderen Glossenlieder. Einerseits nämlich ist der fremdsprachige Textanteil in Ave maris stella, bis grst ein stern im mer ungleich höher, da hier nicht nur das erste Wort oder der erste Vers, sondern die Hälfte der Strophe in lateinischer Sprache verfasst ist. Die Frage nach der Rezipierbarkeit des Gedichts stellt sich so mit weitaus größerer Dringlichkeit als bei den anderen Glossenliedern oder -gedichten des Laufenberg-Korpus. Andererseits verläuft bei Ave maris stella, bis grst ein stern im mer die Grenze zwischen Eigen- und Fremdtext eben nicht parallel zur Sprachgrenze zwischen den lateinischen und deutschen Strophenbestandteilen. Sie steht vielmehr quer zu ihr, weil die lateinischen Einschübe ebenfalls Laufenberg zuzurechnen sind. Eine jede Interpretation seines Gedichts muss demzufolge die Frage nach der Verständlichkeit von derjenigen der inhaltlichen Zielsetzung abkoppeln: Während erstere eine Untersuchung der Interaktion zwischen den deutschen und lateinischen Textanteilen erfordert, stützt sich letztere auf eine Analyse der Verschränkung der eingearbeiteten Originalzitate und der Laufenberg zuzuschreibenden Erweiterungen des Hymnentexts. Blickt man zunächst darauf, wie Laufenberg das Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Strophenbestandteilen gestaltet, dann zeigt sich schnell, dass er nicht durchgängig eine bestimmte Verknüpfungstechnik favorisiert, sondern vielmehr über ein ganzes Arsenal unterschiedlichster Methoden verfügt, um die verschiedensprachigen Textpassagen miteinander zu verbinden. Wie schon im initialen, titelgebenden Langvers des Gedichts sichtbar wird, sind einige der deutschen Halbverse als Übersetzungen des ursprünglichen Hymnentexts konzipiert. Die Übertragungen beziehen sich dabei in der Regel auf den vorangegangenen, nicht auf den nachfolgenden Halbvers.51 Vielfach wählt Laufenberg diese Option für die Strophenanfänge, wie etwa auch in Vers 3,1: Salue vincla reis, entbind der sünde band oder Vers 4,1: Monstra de esse matrem, zeyg mterliche trw.52 Einige der deutschen Halbverse sind Marien-Anreden, die entweder – wie zu Beginn der ersten Strophe (1,1–5) – eine bereits im Original vorhandene Kette von Apostrophen ergänzen oder aber als Einschub in den lateinischen Satz eingefügt sind: verbum tam suaue, du aller eren stam (2,2). Möglich ist auch, dass die deutschen Halbverse als syntaktisch in sich geschlossene Konstruktionen die la-

51 Als einzige Ausnahme wäre auf du gottes mter her | Dei mater alma (1,2 f.) hinzuweisen, in der die Übertragung dem übersetzten Text vorangestellt ist. 52 Die meisten der so angelegten deutschen Verse sind Neuübersetzungen, nur diejenigen in den Versen 1,1 f. und 3,1 weisen Parallelen zu Laufenbergs eigener Übersetzung auf. Vgl. Anm. 43.  



Mischsprachigkeit

109

teinischen Halbverse erweitern, z. B. als Relativsatz (felix celi porta, die sah ezechiel; 1,7) oder als konjunktionaler Nebensatz (Profer lumen cecis, won ich ein blinde bin; 3,3). Allen diesen Optionen ist gemeinsam, dass der Sprachwechsel innerhalb des Langverses mit einem syntaktischen Einschnitt zusammenfällt. Theoretisch wäre es daher denkbar, dass ein Rezipient ohne oder mit nur geringen Lateinkenntnissen sich gleichsam von deutschem Halbvers zu deutschem Halbvers hangelt und die für ihn opaken Textpassagen ignoriert, zumal man die partiell eingeschobenen Übertragungen aus dieser Perspektive als zusätzliche Verständnishilfen interpretieren könnte. Letztlich scheint mir diese These freilich nicht überzeugend, denn häufig liegt das semantische Gewicht explizit auf den lateinischen Versanfängen. Wenn die Sprecher-Instanz Maria etwa in Vers 3,3 bittet, den Blinden das Licht zu bringen (Profer lumen cecis), und dies mit seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe begründet (won ich ein blinde bin), läuft die kausale Verknüpfung der beiden Halbverse ins Leere, wenn nicht zusätzlich zu der deutschen Begründung auch die lateinische Bitte verstanden wird. Dass Laufenberg tatsächlich mit einem lateinkundigen Publikum rechnet, unterstreicht überdies der Umstand, dass es immer wieder auch Verse gibt, in denen die lateinischen und deutschen Bestandteile eines Langverses zusammen einen Satz bilden, also gerade nicht gegeneinander abgeschlossen sind (etwa: Mites fac et castos an sele vnd an lib; 5,7). Handelt es sich bei dem lateinischen Versbeginn um einen der neuen lateinischen Einschübe – und nicht um ein Zitat aus Ave maris stella –, erweist sich die Ergänzung des lateinischen durch den deutschen Halbvers sogar oft als obligatorisch, weil es nur durch die Zusammenfügung beider Halbverse möglich ist, eine syntaktisch korrekte Aussage zu erhalten. In der in Vers 3,4 formulierte Bitte, dass Maria das Ich aus der tiefsten Tiefe seiner Sünde ziehen möge (de profundo fecis zh mich der sünde min), hätte der lateinische Versanfang de profundo fecis etwa niemals allein stehen können, weil ihm das Verb fehlt.53 Inhaltlich strebt Laufenberg wie in dem zuvor besprochenen Glossenlied Ave, bis grst, du himels port eine Profilierung und Aktualisierung der Mariendarstellung an, die sich an den Erwartungen marienfrommer Gläubiger des fünfzehnten Jahrhunderts orientiert. Dabei macht es ihm sein Ausgangstext in gewisser Weise leicht. Zwar wird man mit Lausberg annehmen müssen, dass die im Originalhymnus zumindest auf der Textoberfläche scheinbar ablesbare „Unmittelbarkeit des Wirkens Mariens“, wie sie sich etwa in den direkt formulierten Bitten der dritten  

53 Ähnliches gilt auch für die Verse 2,4; 3,6; 4,8; 6,2; 7,2; 7,4 und 7,8. Dies beweist ohne jeden Zweifel, dass alle Erweiterungen, unabhängig von der Sprache, in der sie abgefasst sind, in einem Zug entstanden und daher einem Autor zuzuschreiben sind.

110

Britta Bußmann

Strophe zeigt (z. B.: Solve vincla reis; III,1), eigentlich „als Wirken der Fürbitte zu interpretieren ist“54 und dass das von Maria erbetene Handeln von den Rezipienten des neunten Jahrhunderts somit immer schon als mittelbar und durch Gott bedingt wahrgenommen wurde.55 Formulierungen wie die oben zitierte Bitte öffnen sich jedoch auch solchen Lesarten, die Maria eine aktivere Rolle innerhalb des Heilsplans und eine eigene Erlösungskapazität zuerkennen – letztlich muss hierfür ja lediglich der Subtext, dass Marias Handeln durch Gott bedingt ist, durch die Annahme einer größeren Eigenverantwortlichkeit abgelöst werden. Der Abstand zwischen dem Marienbild von Ave maris stella, bis grst ein stern im mer und der Marienfrömmigkeit des neunten Jahrhunderts offenbart sich in Äußerungen wie peccamina ignosce durch dines kindes blt (3,8), wird Maria hier doch nicht nur die Macht zur Sündenvergabe zuerkannt, die eigentlich nur Gott zukommt, sondern darüber hinaus betont, dass sie durch die Sühnemacht des am Kreuz vergossenen Blutes hierzu bewegt werde – üblicherweise ist Gottvater (oder auch Christus selbst) Zielpunkt solcher Bitten.56 Bezeichnend ist auch Laufenbergs Umgang mit der Doxologie. Im Hymnus dient sie gewissermaßen der trinitarischen ‚Deckelung‘ der Marienfrömmigkeit, weil durch sie die Hierarchie zwischen dem dreieinigen Gott, dem das alleinige Lob der Gläubigen gilt, und der in der Doxologie nicht mehr erwähnten Maria gewahrt wird. Hier setzt Laufenbergs Umgestaltung ein, indem er Maria in die Doxologie einschreibt, ohne sie jedoch in das Gotteslob einzubeziehen:  

SIT LAUS DEO PATRI, got vatter lobe sy, qui tibi, vere matri, hofiert mit symphony. SUMMO CHRISTO DECUS, dz sye ouch dem crist, cui ventris tui specus sin hol gewesen ist. SPIRITUI SANCTO sy lob ouch ewenclich, vni deo tanto vf erd vnd hymelrich, HONOR TRINUS VNUS, ein got in drin person, celeste nobis munus erwirb, maria, schon.

Laufenberg erweitert die Trinität also nicht zur Quaternität, unterstreicht aber gleichwohl Marias Bedeutung gerade für Gottvater und für den Gottessohn. In Fortführung der marianischen Auslegungstradition des Hohenliedes ist Maria die von Gott Umworbene (hofiert; 7,2), deren Schönheit und Sündenlosigkeit Gott

54 Lausberg: Hymnus, S. 64. 55 Vgl. ebd., S. 64 f. 56 Zur Blut- und Passionsfrömmigkeit des späteren Mittelalters vgl. einführend Hamm: Normative Zentrierung und Hamm: Typen.  

Mischsprachigkeit

111

angezogen haben und mithin ihre Erwählung zur Gottesmutter rechtfertigen;57 in Bezug auf Christus stellt er ihre Mutterrolle heraus (cui ventris tui specus sin hol gewesen ist; 7,4). Beides verweist auf ihren Anteil am Heilsgeschehen, sodass das an die göttliche Dreieinigkeit gerichtete Lob gewissermaßen auf Maria abstrahlt, obwohl sie nicht einbezogen ist. Der Schlussakkord gilt der Betonung von Marias Rolle als Fürbitterin. Betrachtet man die syntaktische Struktur der Doxologie, verdeutlicht sich noch einmal, wie wichtig Lateinkenntnisse für ein Verständnis des Gedichts sind. Denn in ihr finden sich eine hohe Anzahl solcher Verse, in denen die deutschen und lateinischen Bestandteile eines Langverses zusammen einen (Neben-)Satz bilden (7,2; 7,4; 7,5; 7,6; 7,8), und mit Ausnahme von Vers 7,5 f. sind diese Verse die Träger der auf Maria bezogenen Aussagen (7,2; 7,4; 7,8), d. h. sie sind semantisch hochrelevant. Anders als bei dem zuvor besprochenen Glossenlied Ave, bis grst, du himels port sind die vom Publikum erwarteten Lateinkenntnisse demzufolge offenbar nicht in dem Sinn fakultativ, dass sprachliche Kompetenz zwar eine vertiefte Interpretation garantiert, ein grundsätzliches Verständnis des Stücks aber auch ohne sie denkbar ist. Für die Rezeption von Ave maris stella, bis grst ein stern im mer sind Lateinkenntnisse vielmehr eine Vorbedingung, da sonst ein Nachvollzug von Laufenbergs Argumentation unmöglich ist. Angesichts der Tatsache, dass Laufenberg durch die mischsprachigen Ergänzungen den Lateinanteil seines Gedichts noch über die Aufnahme des Hymnentextes hinaus erweitert, wird man zudem eine andere Gewichtung der Funktionalität des Lateinischen annehmen müssen als für das Glossenlied. Sicherlich führt die Aufnahme des lateinischen Hymnentextes in die Bearbeitung ähnlich wie bei Ave, bis grst, du himels port dazu, dass das Original in der Reproduktion präsent gehalten wird und dass der Status von Laufenbergs Gedicht als Reprodukt sichtbar wird. Dass Laufenberg den Lateinanteil erweitert, lässt sich aber letztlich nur so erklären, dass er dem Lateinischen – und zwar jenseits seiner Verweiskraft auf liturgische Zusammenhänge, der ja bei Ave maris stella, bis grst ein stern im mer gar nicht überall gegeben ist – eine grundsätzlich nobilitierende Kraft unterstellt, die er für sein Gedicht nutzt. Die Mischsprachigkeit dient hier demnach primär der Sublimierung; sie ist ein Ausdruck der Dignität des Gegenstandes.58  



57 Ein weiteres Indiz für dieses Verständnis findet sich in Vers in 2,6: spiritus sancti face din hercz in mynne bran, nach dem auch Marias Herz durch den Heiligen Geist in Liebe entzündet wird. 58 Vgl. bereits Hoffmann von Fallersleben, S. 15, der die intendierte erbauliche Wirkung betont.

112

Britta Bußmann

4. Fazit Vergleicht man abschließend beide hier besprochenen Laufenberg-Stücke, dann wird deutlich, dass sie trotz ihrer unleugbaren Ähnlichkeiten hinsichtlich ihrer Quellenbasis (Rückgriff auf liturgische lateinische Lieder) und der Bearbeitungstechnik (mischsprachige Glossierung) im Ganzen unterschiedlich funktionieren und sich nicht notwendig an dasselbe Publikum richten. Die konventionellen Glossenlieder bzw. -gedichte vom Typ des hier intensiver untersuchten Ave, bis grst, du himels port wenden sich an eine Gruppe von Rezipienten, die nicht unbedingt Latein verstehen müssen, die aber – falls sie es tun – interpretatorisch davon profitieren. Die intrikate Art und Weise, mit der Laufenberg die Marienantiphon Ave regina caelorum adaptiert und in der Bearbeitung gedanklich erweitert, wird nämlich nur dann durchsichtig, wenn man Ave, bis grst, du himels port vor der Folie des lateinischen Originals lesen kann und dabei kompetent genug ist, den spielerischen Umgang mit dem Urtext (etwa die Übertragung des Christus-Titels lux auf Maria) nachzuvollziehen. Dies rückt derartige Lieder in die Nähe der komplexeren Hymnen- und Sequenzübertragungen, die zwar „(in der Regel) ohne die lateinische Vorlage verständlich sind“59, die aber oftmals dennoch in vergleichbarer Form einen Dialog zwischen Ausgangs- und Zieltext inszenieren und insofern ebenfalls ein Publikum anvisieren, das um die Vorlagenbindung weiß und Vergleiche zwischen Prä- und Retext zu ziehen vermag.60 Deutlicher als bei den Übersetzungen bleibt in den Glossierungen freilich die Vorlage in ihrer sprachlichen Materialität präsent, sodass die klangliche Qualität der heiligen Sprache Latein Dignität erzeugen kann. Sie machen damit ein Rezeptionsangebot für alle Teile des Publikums, ungeachtet ihrer sprachlichen Kompetenz. Die im engeren Sinn mischsprachigen Stücke, für die hier stellvertretend Ave maris stella, bis grst ein stern im mer interpretiert worden ist, richten sich hingegen von vornherein sehr viel ausdrücklicher an ein lateinkundiges Publikum. Zumindest dann, wenn – wie im Fall von Laufenbergs Ave maris stella-Bearbeitung – der semantische Fokus stärker auf den lateinischen Strophenpartien liegt, sind Sprachkenntnisse für die Rezeption unabdingbar. Wachinger beschreibt das Gedicht als „Übergang der Hymnenrezeption zu den Glossengedichten unter den Mariengrüßen“61. Doch mir scheint der Umstand, dass die Glossierungsebene

59 Wachinger, S. 375. 60 Für ein entsprechendes Beispiel in einer Sequenz-Neutextierung des Mönchs von Salzburg siehe Bußmann, S. 147. 61 Wachinger, S. 376.

Mischsprachigkeit

113

stets als mischsprachig konzipiert ist, überdies (und vielleicht noch prominenter) eine Nähe zu den mischsprachigen Liedern vom Typ des in die Straßburger Handschrift *B 121 aufgenommenen Regina celi terre et maris nahezulegen – eine Nähe zu solchen Liedern also, die ganz ohne Rückgriff auf eine vorgängige, in die Bearbeitung inserierte lateinische Vorlage immer schon um der Mischsprachigkeit willen als mischsprachig entworfen worden sind und diese explizit als Stilmittel nutzen. Die vier Laufenberg-Stücke Nr. 777–779 und 782 zeichnen sich gegenüber Regina celi, terre et maris und vergleichbaren Liedern vor allem dadurch aus, dass sie nicht auf eine liturgische Anbindung verzichten und somit die Dignität der Klangwirkung durch die Dignität des Gegenstandes erweitern. Es wäre zu erwägen, ob die Annäherung dieser vier Lieder an die mischsprachigen Lieder vom Typ Regina celi, terre et maris nicht auch zu ihrer Neubewertung führen muss. Wachinger beurteilt sie aus Perspektive der Übertragungs-Forschung als „Lieder mit kühner, experimentell wirkender Sprach- und Zitatmontage“62. Doch ließen sie sich ebenso gut als Annäherung an einen im Spätmittelalter äußerst populären Liedtyp beschreiben (sodass sich die Waghalsigkeit des Experiments verringert), dessen Montage-Möglichkeiten Laufenberg als zusätzliche Option der Bearbeitung von lateinischen liturgischen Lieder nutzt.

5. Literaturverzeichnis Appelhans, Peter: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Die rhythmischen mittelhochdeutschen Mariengrüße. Heidelberg 1970. Bärnthaler, Günther: Übersetzen im deutschen Spätmittelalter. Der Mönch von Salzburg, Heinrich Laufenberg und Oswald von Wolkenstein als Übersetzer lateinischer Hymnen und Sequenzen. Göppingen 1983 (GAG 371). Berliner Repertorium [http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium (13. September 2018)]. Bernt, Günther: Art. ‚Ave maris stella‘. In: Marienlexikon 1 (1988), S. 317 f. Blume, Clemens: Repertorium repertorii. Kritischer Wegweiser durch U. Chevalier’s Repertorium Hymnologicum. Alphabetisches Register falscher, mangelhafter oder irreleitender Hymnenanfänge und Nachweise mit Erörterung über Plan und Methode des Repertoriums. Leipzig 1901 (Hymnologische Beiträge 2). Brunner, Horst: Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch der Erklärung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Berlin 1983, S. 392–413. Bußmann, Britta: Das Spiel mit der Nähe. Zwei spätmittelalterliche Übertragungen (Mönch von Salzburg/Heinrich Laufenberg) der Sequenz Verbum bonum et suave im Vergleich. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 137–156.  

62 Ebd., S. 378.

114

Britta Bußmann

Cantus Index: Catalogue of Chant Texts and Melodies [http://cantusindex.org/ (13. September 2018)]. Chevalier, Ulysse: Repertorium hymnologicum. Catalogue des chants, hymnes, proses, séquences, tropes en usage dans l’église latine depuis les origins jusqu’à nos jours. Bd. 1. Brüssel 1892. Daniel, Hermann Adalbert: Thesaurus hymnologicus sive hymnorum canticorum sequentiarum circa annum MD usitatarum collectio amplissima. Bd. 2. Leipzig 1844. Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin, New York 1972 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 51). Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993 (edition suhrkamp. N.F. 683). Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel. Nachdruck der 8. verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges. 14. Auflage. Hannover 1976. Hamm, Berndt: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie. In: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 163– 202. Hamm, Berndt: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität. In: Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Berndt Hamm, Volker Leppin, Gury Schneider-Ludorff. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58), S. 43–83. Hausmann, Albrecht: Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens. In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Britta Bußmann u. a. Berlin, New York 2005 (TMP 5), S. XI–XX. Heinz, Andreas: Art. ‚Marianische Antiphonen. I. Liturgisch‘. In: 3LThK 6 (1997), Sp. 1357–1359. Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: In dulci iubilo nun singet und seid froh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Poesie. Hannover 1854. Janota, Johannes: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (MTU 23). Kornrumpf, Gisela: Eine Melodie zu Marners Ton XIV in Clm 5539. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978), S. 218–230. Kraß, Andreas: Das Goldene Abc. Spiel und Ernst in einem Marienlied des Mönchs von Salzburg (14. Jh.). In: Spiel und Ernst: Formen – Poetiken – Zuschreibungen. Zum Gedenken an Erika Greber. Hg. von Dirk Kretzschmar u. a. Würzburg 2014 (Literatura 31), S. 125–137. Kraß, Andreas: Mittit ad virginem. Die Bearbeitungen der Mariensequenz durch den Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich Laufenberg. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 193–219. Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. Lausberg, Heinrich: Art. ‚Ave maris stella‘. In: 2LThK 1 (1957), Sp. 1141 f. Lausberg, Heinrich: Art. ‚Ave Regina caelorum‘. In: 2LThK 1 (1957), Sp. 1143. Lausberg, Heinrich: Der Hymnus Ave maris stella, Opladen 1976 (Abhandlungen der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften 61).  







Mischsprachigkeit

115

Lenz, Philipp: Marienverehrung und Mariensequenzen als Teil der liturgischen Erneuerung im Kloster St. Gallen an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 11–45. Lipphardt, Walther: Art. ‚Ave maris stella (deutsch)‘. In: 2VL 1 (1978), Sp. 565–568. Marx-Weber, Magda: Palestrinas sechsstimmige Marienlitanei und ihre autographe Quelle. In: Musikalische Quellen – Quellen zur Musikgeschichte. Fs. für Martin Staehelin. In Verbindung mit Jürgen Heidrich, Hans Joachim Marx hg. von Ulrich Konrad. Göttingen 2002, S. 175–186. Nemes, Balázs J.: Das lyrische Œuvre von Heinrich Laufenberg in der Überlieferung des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen und Editionen. Stuttgart 2015 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beihefte 22). Plessow, Oliver: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption. Unter Mitwirkung von Volker Honemann, Mareike Temmen. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 12). Rosmer, Stefan: Höfische Liedkunst im Kloster, in der Stadt und andernorts. Zur Rezeption der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Musikalische Repertoires in Zentraleuropa (1420–1450). Prozesse & Praktiken. Hg. von Alexander Rausch, Björn R. Tammen. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 271–297. Rothenberger, Eva: Poetologische Weiterführung des Alten im Neuen. Der Marienhymnus Ave maris stella und Hermanns Mariensequenz Ave praeclara maris stella im Vergleich. In: Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts. Hg. von Felix Heinzer, Thomas Zotz unter Mitarbeit von Hans-Peter Schmit. Stuttgart 2016 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 208), S. 175–194. Schiendorfer, Max: Der Wächter und die Müllerin verkêrt, geistlich. Fußnoten zur Liedkontrafaktur bei Heinrich Laufenberg. In: Contemplata aliis tadere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hg. von Claudia Brinker u. a. Bern u. a. 1995, S. 273–316. Wachinger, Burghart: Notizen zu den Liedern Heinrich Laufenbergs. In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Fs. für Kurt Ruh. Hg. von Dietrich Huschenbett u. a. Tübingen 1979, S. 349–385. Wegener, Lydia, Franziska Lallinger, Arrate Cano Martín-Lara: Transformation und Destruktion. Formen der volkssprachlichen Aneignung des Salve regina im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 395–450. Worstbrock, Franz Joseph: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142.  





116

Britta Bußmann

6. Anhang Text 1: Ave, bis grst, du himels port (Wackernagel 2, S. 596 f., Nr. 775)  

Der Text folgt der Edition von Wackernagel, verzichtet aber auf eine Kennzeichnung des Schaft-s. In seinen Anmerkungen zu dem Lied (vgl. Wackernagel 2, S. 597) löst Wackernagel naas in 24,3 als satanas auf. Die lateinischen Lemmata der Antiphon Ave regina caelorum sind durch Großbuchstaben hervorgehoben. 1

AVE, bis grst, du himels port durch die vns kam des vatter wort, din magtm bleib doch vnzerstort, des sunes schrin, des geistes hort, gib mir din lob ze singen.

2

REGINA, künginn gabenrich von saba, frow, ich loben dich verzukt in wunder minnenclich, nie creatur wart din gelich in gld, dz du maht bringen.

3

CELORUM, himelsch Jerarchy, dich lobt der seraph symphony, dir singt der cherub armony, dir clenkt der thronen melody mit aller geist hofieren.

4

AVE, bis grst on alles we, du tieffes mer, du wisser se, du weg, du straß der nwen e, dich lobet gabriels aue daz eua kan mutieren.

5

DOMINA, du himels frow, du paradys, du summerow, du austerwind, du ssses tw, du fhterin der herzen rw, du mter der naturen.

6

ANGELORUM, der engel glancz, der menschen lieht, der helgen krancz, der sünder trost, dryg ein substancz, hat dich beht vor sünden schrancz vs allen creaturen.

7

SALVE, wilkomen, edly meyt, die got in kschem libe treyt,

Mischsprachigkeit

die sunnen glancz het gar becleit, der mon vnder ir fsß sich leit, von tugenden gekrnet. 8

RADIX, von yesse wurzel gt, von Aaron hat ein edly rt die meres tieffi truken tt, durch die wasser vs velsen wt, die hester het gefrnet.

9

SANCTA, helig bistu genant von allen die dich hand bekant, du bist die reb die noe vant, der kraft er in dem slaf enphant da er gab sinen segen.

10

PER QUAM, durch dich got heylen kan mit öl, der war samaritan, in strites spicz der sturme van, ein blm vf aller eren plan den vns got hett gegeben.

11

MUNDO, der welt bistu geborn ein morgenrot, der gnaden horn, ein zeichen by dem ist gesworn dz kein mensch me sol sin verlorn denn durch ir eygen sünde.

12

LUX bist, ein lieht vs dem got maht wie er vom tage schied die naht, daz gedeon vor mit im braht, da er die madian erschraht durch hofeliche sünde.

13

EST ORTA, vns vff gangen ist der gnaden tage, Jhesus Christ, ein edli botschaft du vns bist daz wir vor tode sind gefrist so benedab vns tröwet.

14

GAUDE, frw dich, der frden wunn, der nahte mon, des tages sunn, der wasser sod, der garten brunn, frw dich, du göttliche madunn, in der sich alles frwet.

15

GLORIOSA, eren wert, durch die mit holofernes swert des vyendes maht ist gar erlert, der sssen smak got hat begert, daz er möht mensche werden.

117

118

Britta Bußmann

16

SUPER OMNES, über all bistu geziert mit richem schall, ich glb daz got nüt bass gevall ein tblin vserwelt on gall, ein wnder nw vf erden.

17

SPECIOSA, wunder schon, mter künges salomon, du edly tohter von syon, du hoher turn von babylon, do got sin wunder zeiget.

18

UALE, bys fry in ganczer maht, du bist daz bch ob dem gedaht aswerus in der sünden naht, wie er vns hat ze fryden braht, do er sin gnad vns neyget.

19

VALDE DECORA, wunder clg, du bist der edel wasser krg den die schn rebecca trg, vs dem eleazar so gng ist gar nach lust getrenket.

20

ET, vnd het ich der wisheit kron, ich sprech du bist der bme schon den vor der küng von babylon sah von der erd ze hymel gon, des schatt vns hett beschrenket.

21

PRO NOBIS, für vns wiltu sin ein mter vnd ein mitlerin, ein thron des edlen kindes din, denn ht vns, magt, vor helle pin durch diner eren pryse.

22

SEMPER, allzit lob ich dich gern, du bist im mer der heyter stern des gnad doch nieman mag enbern, du bist ein nuss von sssem kern, der hie ist vnser spise.

23

CRISTUM, den einhürn in der schoss din edler magtm vns besloss, do sich der gnade regen goss, den er durch vns nam one moss durch sinen helgen namen.

24

EXORA, bitt für vns behend, dz Jesus vns sin hilffe send, e naas vnser g erblend

Mischsprachigkeit

119

in todes nten an dem end, dz er vns lse, Amen.

Text 2: Ave maris stella, bis grst ein stern im mer (Wackernagel 2, S. 600, Nr. 778) Der Text folgt der Edition von Wackernagel, verzichtet aber auf eine Kennzeichnung des Schaft-s. Nachgewiesen sind sowohl Wackernagels (Sigle: Wa) als auch Hoffmann von Fallerslebens (Sigle: Fa)63 Konjekturen sowie Abweichungen des Laufenberg bekannten Textes von Ave maris stella von der in den Analecta hymnica (Sigle: AH) edierten Textfassung (AH 51, S. 140–141, Nr. 123). Die inserierten Verse von Ave maris stella sind durch Großbuchstaben hervorgehoben. In der beigefügten Übersetzung sind die Übertragungen derjenigen Verse Laufenbergs, die selbst schon als mittelhochdeutsches Translat des lateinischen Originals angelegt sind, eingeklammert, um so den Lesefluss zu erleichtern. 1

AVE MARIS STELLA, bis grst ein stern im mer, tu verbi dei cella, du gottes mter her, DEI MATER ALMA, du gotz gebrerin, tu virtutum palma, du aller tugent schrin, ATQUE SEMPER VIRGO, du mter, ksche meyt, tu plena dei verbo, als gabriele seyt, FELIX CELI PORTA, die sah ezechiel, per te est salus orta, der wor emanuel.

2

SUMENS ILLUD AUE, dz dir von himel kam, verbum tam suaue, du aller eren stam, GABRIELIS ORE gegrsset mynnenclich et celesti rore durchgossen sunderlich, FUNDA NOS IN PACE, du bist des friden van, spiritus sancti face din hercz in mynne bran, MUTAS NOMEN EUE, du hast verwandlet we mit dinem sssen aue, bis grsset yemer me.

3

SALUE VINCLA REIS, entbind der sünde band, parce peccatis meis, küngin von engelland, PROFER LUMEN CECIS, won ich ein blinde bin, de profundo fecis zh mich der sünde min. MAA NOSTRA PELLE, vertrib all myssetat et a mortis felle beht mit dinem rat,

63 Für dessen Edition vgl. Hoffmann von Fallersleben, S. 58–60, Nr. 21.

120

Britta Bußmann

BONA CCUNCTA POSCE, erwirb vns alles gt, peccamina ignosce durch dines kindes blt. 4

MONSTRA TE ESSE MATREM, zeyg mterliche trw, placando nobis patrem, erwirb vns ware rw, SUMAT PER TE PRECEM, der dich ze mter koß, deleat et necem durch dich, du himel roß. QUI PRO NOBIS NATUS vs dinem kschen lib, qui venter [...] beatus, du hohe himelschib, TULIT ESSE TUUS, er wolt din kinde sin ob hoc quod dolor suus solt sin daz leben min.

5

VIRGO SINGULARIS ob aller wirdikeit, que virgo deum paris, du himels ougenweid, INTER OMNES MITIS, der miltikeit ein thron, veri botri vitis des künges salomon, NOS CULPIS SOLUTOS vnd mach vor sünden fry virtutibus imbutos, da ewig leben sy, MITES FAC ET CASTOS an sele vnd an lib vt natos protoplastos, du heligestes wib.

6

VITAM PRESTA PURAM, verlih ein leben rein, que omnem creaturam hest erfrwt allein, ITER PARA TUTUM, so ich von hynnan var, sis lancea et scutum biß in der engel schar, UT VIDENTES IHESUM in sinem paradys, qui nobis donet esum sich selb der engel spis, SEMPER TOLLERENTUR in siner glory bi dir, et ibi jocundentur, des hilf, maria, mir.

7

SIT LAUS DEO PATRI, got vatter lobe sy, qui tibi, vere matri, hofiert mit symphony. SUMMO CHRISTO DECUS, dz sye ouch dem crist, cui ventris tui specus sin hol gewesen ist. SPIRITUI SANCTO sy lob ouch ewenclich, vni deo tanto vf erd vnd hymelrich, HONOR TRINUS VNUS, ein got in drin person, celeste nobis munus erwirb, maria, schon.

Lesarten: 2,7 Mutas] Mutans AH; mutas ist auch in den Varianten der AH nicht aufgeführt. 3,1 Salue] Solve AH; salve ist auch in den Varianten der AH nicht aufgeführt. 6,7 tollerentur] collaetemur AH; tollerentur ist auch in den Varianten der AH nicht aufgeführt – Verschreibung aus tolleremur? 7,3 Summo] Summum AH; summo ist in den Varianten der AH aufgeführt. 7,7 Honor trinus] Honor, tribus AH; honor trinus ist in den Varianten der AH aufgeführt. in Konj. Wa für hs. on. 7,8 munus Konj. Fa für hs. (oder Wa?) numus. maria,] maria.

Mischsprachigkeit

121

Übersetzung: 1 Ave, Meeresstern, [sei gegrüßt, Stern im Meer], du Zelle des göttlichen Wortes, du Gottes schöne Mutter, Gottes nährende/gütige Mutter, du Gottesgebärerin, du Tugendpalme, du Schrein aller Tugenden, und immer Jungfrau, du Mutter, keusche Jungfrau, du voll vom göttlichen Wort, wie Gabriel sagte, glückliche Pforte des Himmels, die Ezechiel sah, durch dich ist das Heil aufgegangen, das Emanuel war. 2

Die du jenes Ave annahmst, das dir vom Himmel (zu)kam, jenes so süße Wort, du Stamm aller Ehren, von Gabriels Mund so lieblich gegrüßt und vom Tau des Himmels besonders (als einzige) durchgossen, befestige uns im Frieden, du bist die Friedensfahne, durch das Feuer/die Fackel des Heiligen Geistes brannte dein Herz in Liebe, du änderst Evas Namen, du hast Schmerz verwandelt mit deinem süßen Ave, sei auf ewig gegrüßt.

3

Löse die Fesseln der Sünder, [löse der Sünder Fesseln], verzeih/lass nach meine Sünden, Königin des Engellandes (des Himmels), bringe den Blinden das Licht, weil ich ein Blinder bin, vom Grund der Tiefe/von der tiefsten Tiefe meiner Sünde ziehe mich, beseitige unsere Sünden, [vertreibe jede Missetat], vor der Bitterkeit des Todes behüte mit deinem Rat, erbitte (für uns) alles Gute, [erwirb uns alles Gute], vergib die Sünden durch das Blut deines Kindes.

4

Zeige, dass du Mutter bist, [zeige mütterliche Treue], indem du uns mit Gott versöhnst, erwirb uns wahre Reue, er möge durch dich die Bitte annehmen, der dich zur Mutter erkoren hat, und er möge den Tod deinetwegen tilgen, du Himmelsrose, der, für uns geboren aus deinem keuschen Leib – dieser gesegnete […] Leib, du hohe Himmelsscheibe –, es auf sich genommen hat, dein Sohn zu sein, [er wollte dein Kind sein], deswegen sollte sein Schmerz mein Leben sein.

5

Einzigartige Jungfrau, über jeder Würde, die du als Jungfrau Gott gebierst, du Augenweide des Himmels, Sanftmütigste von allen, ein Thron der Mildtätigkeit, Weinrebe der wahren Traube des Königs Salomo, wenn wir von Sünden befreit sind, [und mach von Sünden frei], und wenn wir mit Tugenden angefüllt sind, wo das ewige Leben ist, mach uns sanft und keusch an Seele und Leib wie die erstgeborenen Kinder (Adam und Eva vor dem Sündenfall), du heiligste Frau.

6

Gewähre ein reines Leben, [verleihe ein reines Leben], die du alle Kreaturen allein erfreut hast, bereite den sicheren Weg, wenn ich von hinnen fahr, du mögest Lanze und Schild sein bis in die Schar der Engel,

122

Britta Bußmann

damit sie, wenn sie Jesus in seinem Paradies sehen, der uns geben möge die Speise, (nämlich) sich selbst, die Speise der Engel, immer aufgehoben werden in seiner Glorie bei/von dir, und dort erfreut werden, dazu verhilf, Maria, mir. 7

Lob sei Gott Vater, [Gott Vater sei Lob], der dir, wahre Mutter, mit der Symphonie (Chor der Engel) dient. Dem höchsten Christus (sei) Ehre, [das sei auch Christus], dem die Höhle deines Bauches seine Höhle gewesen ist. Dem Heiligen Geist sei auch immer Lob, dem einen großen Gott auf Erden und im Himmelreich, Ehre den drei zusammen, ein Gott in drei Personen, die himmlische Gnade uns erwirb, Maria, auf schöne Art und Weise.

Abteilung II: Sequenzen

Andreas Kraß

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen Die Fallbeispiele Lauda Sion salvatorem und Stabat mater dolorosa Unter dem Namen des Mönchs von Salzburg, eines Liederdichters, der in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts am Hof des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. von Puchheim tätig war, sind 48 deutsche geistliche Lieder überliefert, die für die Bestimmung des Verhältnisses von Liturgie und Volkssprache von Belang sind.1 Darunter finden sich Übertragungen von 26 lateinischen Hymnen und Sequenzen.2 Hinzu kommen sechs Mariensequenzen, die auf Melodien lateinischer Vorbilder gedichtet sind, ohne sich inhaltlich auf diese zu beziehen.3 Wei-

1 Vgl. Bärnthaler; Wachinger: Der Mönch von Salzburg; ders.: Mönch von Salzburg; Waechter; zu Ave praeclara maris stella vgl. Kraß: „Ich gruess dich gerne“; Rothenberger: ‚Ave praeclara maris stella‘; zu Mittit ad virginem vgl. Kraß: Mittit ad virginem; zu Stabat mater dolorosa vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa. 2 A solis ortus cardine (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 53; Spechtler G 21); Ave maris stella (Hymnus; Anal. hymn. 51, Nr. 123; G 15); Ave praeclara maris stella (Sequenz; Anal. hymn. 50, Nr. 241; G 6); Ave virginalis forma (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 395; G 5); Ave vivens hostia (Hymnus; Anal. hymn. 31, Nr. 105; G 39); Caeli enarrant gloriam (Sequenz; Anal. hymn. 50, Nr. 267; G 48); Christe qui lux es et dies (Hymnus; Anal. hymn. 51, Nr. 22; G 43); Crux fidelis inter omnis (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 66; G 25); Festum nunc celebre (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 143; G 32), Gaude Sion quod egressus (Sequenz; Anal. hymn. 55, Nr. 120; G 49), Inventor rutili (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 31; G 26); Lauda Sion salvatorem (Sequenz; Anal. hymn. 50, Nr. 385; G 41); Mittit ad virginem (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 1915; G 13); Mundi renovatio (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 148; G 28); O lux beata trinitas (Hymnus; Anal. hymn. 51, Nr. 40; G 44); Pange lingua gloriosi corporis mysterium (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 386; G 40); Rex Christe factor omnium (Hymnus; Anal. hymn. 51, Nr. 72; G 27); Salve festa dies toto (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 69; G 31); Salve mater salvatoris (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 245; G 7, 8); Stabat mater dolorosa (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 201; G 16); Surgit Christus cum trophaeo (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 230; G 30); Ut queant laxis (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 96; G 47); Uterus virgineus (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 248; G 19); Veni creator spiritus (Hymnus; Anal. hymn. 50, Nr. 144; G 34); Veni sancte spiritus (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 153; G 35); Victimae paschali laudes (Sequenz; Anal. hymn. 54, Nr. 7; G 29). 3 G 2 (auf Lauda Sion salvatorem), G 3 (auf Salve mater salvatoris), G 4 (auf Veni sancte spiritus), G 17 (auf Mundi renovatio), G 18 (auf Verbum bonum), vermutlich auch G 14. Vgl. Wachinger: Mönch von Salzburg, Sp. 665; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 26 (zu G 14), S. 30 f. (zu G 18).  

Prof. Dr. Andreas Kraß, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-006

126

Andreas Kraß

terhin ist eine Mariensequenz zu nennen, die der Mönch von Salzburg in Form und Inhalt neu schuf, nämlich das Goldene Abc.4 Schließlich sind zwei Lieder anzuführen, die sich an lateinische Hymnen und Cantiones anlagern und offenbar für den gottesdienstlichen Gebrauch bestimmt waren.5 Folglich sind drei Viertel der deutschen geistlichen Lieder in je verschiedener Weise auf lateinische liturgische Lieder bezogen. Bei den übrigen zwölf handelt es sich um meisterliche Strophenlieder, die zwar nicht auf die Tradition der Hymnen, Sequenzen und Cantiones, aber doch auf liturgische Feste6 und Riten7 bezogen sind. Somit bewegt sich das gesamte Korpus der deutschen geistlichen Lieder, die unter dem Namen des Mönchs von Salzburg überliefert sind, im Spannungsfeld von Liturgie und Volkssprache. Sie eröffnen die – am Hof des Salzburger Erzbischofs offenbar rege genutzte – Möglichkeit, die Liturgie des Kirchenjahres im Medium der Volkssprache zu verdoppeln, zu ergänzen und zu begleiten. Der folgende Beitrag befasst sich mit zwei geistlichen Liedern des Mönchs von Salzburg, die zur Gruppe seiner Übersetzungen lateinischer Hymnen und Sequenzen zählen. An diesen Beispielen (es handelt sich um Sequenzen) sollen zwei Tendenzen herausgearbeitet werden, die für diese Gruppe, aber auch für die geistlichen Lieder des Mönchs insgesamt charakteristisch sind. Am Beispiel der Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem lässt sich zeigen, dass viele Übertragungen poetologische Reflexionen aufweisen. Am Beispiel der Mariensequenz Stabat mater dolorosa lässt sich illustrieren, dass viele Bearbeitungen in mehreren parallelen Fassungen überliefert sind. Zugleich werden einige neue Textzeugen nachgewiesen und ausgewertet.

1. Lauda Sion salvatorem Der Mönch von Salzburg verfasste fünf geistliche Lieder, die dem Fronleichnamsfest gewidmet sind: drei Übertragungen lateinischer Lieder, die Thomas von Aquin und John Peckham zugeschrieben werden, und zwei eigenständige Schöp-

4 G 1; vgl. Kraß: Das Goldene Abc; Wachinger: Mönch von Salzburg, Sp. 665 f. 5 G 22: Joseph lieber neve mein (gesungen zur Melodie der Cantio Resonet in laudibus), G 24: Eia der grossen liebe (als Refrainstrophe gesungen zum Hymnus Rex Christe factor omnium); vgl. Wachinger: Mönch von Salzburg, Sp. 665; ders.: ‚Resonet in laudibus‘; Janota. 6 G 10 (Weihnachten), G 11 (Neujahr), G 12 (Mariä Verkündigung), G 20 (Mariä Geburt), G 23 (Tagzeitenlied zur Passion), G 33 (Pfingsten), G 36 (Allerheiligen), G 37 (Fronleichnam), G 38 (Fronleichnam), G 45 (Cisiojanus), G 46 (Dreikönig). 7 G 42: Tischsegen in Anlehnung an das lateinische ‚Benedicite‘ und ‚Gratias‘; vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 55 f. Anm. 11.  



Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

127

fungen.8 Die Thomas von Aquin zugerechneten Lieder – der Hymnus Pange lingua gloriosi und die Sequenz Lauda Sion salvatorem – zeichnet der Appell an die Gläubigen aus, den Lobpreis Gottes anzustimmen. Pange lingua beginnt mit der Aufforderung, dass die Zunge den Leib Christi besingen (pangere) möge, Lauda Sion mit der Ermunterung, den Erlöser zu preisen (laudare). Die Lieder weisen eine poetologische Dimension auf, insofern sie die Forderung, die sie stellen, zugleich selbst erfüllen. Der Mönch von Salzburg nahm diesen Impuls auf und setzte eigene Akzente. Im Folgenden soll zunächst die Bedeutung des Fronleichnamsfestes für die lateinische Hymnik erläutert, dann die Sequenz Lauda Sion analysiert und schließlich die produktive Auseinandersetzung des Mönchs von Salzburg mit diesem Lied untersucht werden. Vieles spricht dafür, dass dem Mönch noch eine zweite Übersetzung der Sequenz Lauda Sion zuzuschreiben ist.

1.1 Die Fronleichnamsliturgie Das kirchliche Hochfest Fronleichnam (Corpus Christi) wurde im dreizehnten Jahrhundert in den liturgischen Kalender eingeführt. Papst Urban IV. verfügte in seiner im Jahr 1264 veröffentlichten Bulle Transiturus de hoc mundo, dass dem Sakrament der Eucharistie ein eigener Feiertag gewidmet werden solle.9 Die Bulle erwähnt auch Lieder, die anlässlich des neuen Hochfests gesungen werden sollen: Wir haben daher, um den wahren Glauben zu stärken und zu erhöhen, für recht und billig gehalten, zu verordnen, daß außer dem täglichen Andenken, welches die Kirche diesem heiligen Sakramente bezeigt, alle Jahre auf einen gewissen Tag noch ein besonderes Fest, nämlich auf den fünften Wochentag nach der Pfingstoktave, gefeiert werde, an welchem Tage das fromme Volk sich beeifern wird, in großer Menge in unsere Kirchen zu eilen, wo von den Geistlichen und Laien [cleri et populi pariter] voll heiliger Freude Lobgesänge [cantica laudis] erschallen. An diesem heiligen Tage sollen aus dem Herzen der Gläubigen, aus ihrem Mund und von ihren Lippen Freudenhymnen [ymnos letitie] ertönen. An diesem denkwürdigen Tage soll der Glaube triumphieren, die Hoffnung sich erheben, die Barmherzigkeit glänzen, die Frömmigkeit frohlocken, unsere Tempel von Freudengesängen widerhallen und die reinen Seelen vor Freude erzittern. Mögen an diesem Tage der Andacht alle Getreuen mit Herzensfreude in unsere Kirchen eilen, mit unbegränztem Gehorsame sich da ihrer Pflichten entledi-

8 G 37: Got in drivaldikait ainvalt (eigenständiges Strophenlied), G 38: In gotes namen (eigenständiges Strophenlied), G 39: Ave lebendes oblat (Ave vivens hostia, John Peckham zugeschrieben), G 40: Lobt all zungen des ernreichen (Pange lingua gloriosi, Thomas von Aquin zugeschrieben), G 41: Lob o Sion deinen hailer (Lauda Sion salvatorem, Thomas von Aquin zugeschrieben). 9 Drei Fassungen dieser Bulle sind überliefert; vgl. Walters, Corrigan, Ricketts, S. 64.

128

Andreas Kraß

gen, und so auf eine würdige Weise dieses große Fest begehen. Möge es Gott gefallen, sie zu einem so heiligen Eifer zu entflammen, dass sie durch Ausübung ihrer Frömmigkeit bei demjenigen, welcher sie wieder erkauft hat, am Verdienste zunehmen. Möge dieser Gott, der sich ihnen zur Speise gibt, auch ihr Lohn in der anderen Welt sein.10

Die Bulle spricht von Lobgesängen (cantica laudis) und Freudenhymnen (ymnos letitie), die in der Kirche erklingen sollten, und zwar aus dem Munde der Kleriker und der Laien (cleri et populi pariter). Die Bulle scheint sich also nicht nur auf lateinische, sondern auch auf volkssprachliche Gesänge zu beziehen – es sei denn, sie meint, dass auch das Volk lateinische Lieder memorieren und mitsingen solle. Zugleich ordnet Urban IV. die Einrichtung einer eigenen Messe für das neue Hochfest an, die außer den Lesungen auch Responsorien, Versikel, Antiphonen, Psalmen, Hymnen (ymnis) und Gebete enthalte, und erklärt, dass dieses Offizium der Bulle bereits beigefügt sei: Daher thun wir Euch kund und ermahnen Euch im Namen des Herrn und durch diese apostolische Anordnung, wir befehlen Euch kraft des heiligen Gehorsams und schärfen Euch ein, alle Jahre am fünften oben benannten Wochentage ein so herrliches Fest [mit neun Lesungen sowie mit zu eben diesem Fest besonders passenden Responsorien, Versikeln, Antiphonen, Psalmen, Hymnen und Gebeten, die die wir Euch mit einem eigenen, in unsere Bulle eingefügten Messoffizium schicken, andächtig und förmlich zu feiern und geflissentlich] in allen Kirchen und Orten Eueres Bisthums feiern zu lassen.11

10 Zitiert nach: Eucharisticum, S. 209. – Der lateinische Text lautet: Nos itaque, ad corroborationem et exaltationem catholice fidei, digne ac rationabiliter duximus statuendum, ut de tanto sacramento, preter cotidianam commemorationem quam de ipso facit ecclesia, specialiter et sollempnior annuatim memoria celebretur, certum ad hoc designantes et describentes diem, videlicet feriam quintam proximam post dominicam festum Pentecosten primo sequentem, ut in ipsa quinta feria, devote turbe fidelium propter hoc ad ecclesias affectuose concurrant, ut tunc cleri et populi pariter congaudentes, in cantica laudis surgant, tunc omnium corda et vota, ora et labia ymnos personent letitie salutaris, tunc psallat fides, spes tripudiet, exultet caritas, devotio plaudat, jubilet puritas et sinceritas jocundetur, tunc singuli alacri animo promptaque voluntate conveniant, sua studia laudabiliter ad exequenda tanti festi sollempnia transfundentes, et utinam ad Christi servitutem sic ejus fideles ardor dilectionis inflammet, ut per hec et alia proficientibus ipsis meritorum cumulo apud eum, ipse qui se pro illis dedit in pretium tribuitque se ipsis in pabulum, tandem post hujusmodi vite decursum, eis se in premium largiatur; zitiert nach: Les registres d’Urbain IV, S. 424 (rechte Spalte unten) bis S. 425 (linke Spalte oben). 11 Eucharisticum, S. 209, die von mir in Klammern ergänzte Passage fehlt in der dritten Fassung der Bulle (vgl. Walters, Corrigan, Ricketts, S. 64) und auch in der Übersetzung von Ott. Der lateinische Text lautet: Ideoque universitatem vestram monemus et hortamur in Domino, per apostolica vobis scripta mandantes quatinus tam excelsum et tam gloriosum festum, predicta quinta feria singulis annis, cum novem lectionibus, cum responsoriis, versiculis, antiphonis, psalmis, ymnis et orationibus ipsi festo specialiter congruentibus, que cum proprio misse officio vobis sub bulla nostra mittimus in-

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

129

Sieben Handschriften des späten dreizehnten und frühen vierzehnten Jahrhunderts überliefern das für Fronleichnam bestimmte Offizium in drei verschiedenen Hauptfassungen.12 Welche Fassung ursprünglich der Bulle beigefügt war, ist noch nicht abschließend geklärt. Je nach Fassung enthält das Offizium eine Auswahl der Hymnen Pange lingua, Sacris solemniis und Verbum supernum sowie der Sequenz Lauda Sion.13 Diese Lieder werden traditionell Thomas von Aquin zugeschrieben, der auch als Verfasser des in der Bulle erwähnten Offiziums insgesamt gilt.14 Der Hymnus Sacris solemniis ist in fünf, der Hymnus Pange lingua in drei, der Hymnus Verbum supernum in zwei und die Sequenz Lauda Sion in einer der frühen Handschriften bezeugt.15 Nur ein Codex enthält alle vier der Thomas von Aquin zugeschriebenen Lieder, nämlich eine Anfang des vierzehnten Jahrhunderts entstandene Pergamenthandschrift, die heute in der Französischen Nationalbibliothek in Paris aufbewahrt wird (Lat. 1143).16 Diese Handschrift, die als frühestes Zeugnis für die Standardfassung des Offiziums gilt, enthält Randnotizen, die auf die ursprüngliche Herkunft der Melodien verweisen.17 Sacris solemniis ist auf die Melodie des Märtyrerhymnus Sanctorum meritis gedichtet, der Hrabanus Maurus zugeschrieben wird.18 Pange lingua stellt eine Kontrafaktur auf den Passionshymnus Pange lingua gloriosi proelium certaminis des Venantius Fortunatus dar.19 Verbum super-

tercluse, devote ac solempniter celebretis, et faciatis studiose per universas ecclesias vestrarum civitatum et diocesium celebrari; zitiert nach: Les registres d’Urbain IV, S. 425 (Mitte der linken Spalte). 12 (1) Den Haag, Königliche Bibliothek der Niederlande, KB 70.E.4; (2) Prag, Bibliothek des Klosters Strahov, MS D.E.I.7 [Strahov]; (3) Paris, Französische Nationalbibliothek, Lat. 1143 [Paris 1143]; (4) Graz, Universitätsbibliothek, MS 134 [Graz 134]; (5) Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, ms. 139 [BR 139]; (6) Brigham Young University, Harold B. Lee Library, Special Collections, Vault 091 R263 1343 [BYU]; (7) Edinburgh, Universitätsbibliothek, MS 211.IV (Incholm Antiphonary) [EU]. Vgl. Walters, Corrigan, Ricketts, S. 77–91. 13 Hinzu kommt noch ein lokales, weitgehend für sich stehendes Offizium, das als Anhang nur den Hymnus Ad cenam agni providi und die Sequenz Laureata plebs fidelis enthält (KB 70.E.4); vgl. Walters, Corrigan, Ricketts, S. 92. 14 Vgl. Anal. hymn. 50, Nr. 385–389: Nr. 385 (Lauda Sion salvatorem), Nr. 386 (Pange lingua gloriosi), Nr. 387 (Sacris solemniis), Nr. 388 (Verbum supernum prodiens). Ein weiterer Hymnus, der ebenfalls Thomas von Aquin zugeschrieben wird, ist in den frühen Handschriften nicht vertreten: Adoro te devote, Anal. hymn. 50, Nr. 389. 15 Sacris solemniis: Graz 134, BYU, EU, Strahov, Paris 1143; Pange lingua: Paris 1143, BYU, Strahov; Verbum supernum: Paris 1143, Strahov; Lauda Sion: Paris 1143. 16 Vgl. die Beschreibung in der Datenbank der BNF: http://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/ 12148/cc59071k (18. Mai 2018). 17 Vgl. Walters, Corrigan, Ricketts, S. 83–85. 18 Anal. hymn. 50, Nr. 153, mit Zuschreibung an Hrabanus Maurus. 19 Anal. hymn. 50, Nr. 66; vgl. Fischer; oft wird die achte Strophe vorangestellt und der Hymnus entsprechend als Crux fidelis apostrophiert, so auch in der Übertragung des Mönchs von Salzburg (G 25).

130

Andreas Kraß

num ist nach dem Vorbild des Himmelfahrtshymnus Aeterne rex altissime komponiert, der seit dem zehnten Jahrhundert überliefert ist.20 Lauda Sion folgt der Melodie der Kreuzessequenz Laudes crucis attollamus, als deren Verfasser Adam von St. Viktor gilt.21

1.2 Die lateinische Sequenz Die Sequenz Lauda Sion stellt nicht nur hinsichtlich der Melodie, sondern auch des Wortlauts keine vollständige Neuschöpfung dar. Sie bezieht sich auf zwei Adam von St. Viktor zugeschriebene Sequenzen. Der Zusammenhang mit der Kreuzessequenz Laudes crucis ist durch das Motiv des Lobes markiert, das jeweils im ersten Wort des Initiums eingeführt wird (Lauda/Laudes). Eine weitere Parallele bildet das Motiv der Allegorese, das Lauda Sion mit ähnlichen Worten (Str. VIa: Sub diversis speciebus, | Signis tantum et non rebus | Latent res eximiae, Str. Xb: In figuris praesignatur) formuliert wie Laudes crucis (Str. XIV: In scripturis sub figuris | Ista latent, sed iam patent | Crucis beneficia). Auch der Ostersequenz Ecce dies celebris sind einige Verse entlehnt: Umbram fugat veritas, | Vestustatem novitas (Str. IIIb, vgl. Ecce dies, Str. III).22 Das Motiv des neuen Paschafests hat hier ebenfalls eine Entsprechung (Str. IIIb: Novum pascha, vgl. Ecce dies, Str. IV und V: Pascha novum). Ferner wird ein zentraler Glaubenssatz der päpstlichen Bulle in die Sequenz eingepasst (Hic panis sumitur, sed vere non consumitur; vgl. Str. VIIb: Sumit unus, sumunt mille, […] Nec sumptus consumitur), und auch die Metapher des Engelbrots ist in der Bulle vorgegeben (Panem enim angelorum; vgl. Str. Xa: panis angelorum).23 Der gesamte Text lautet:24 Ia

Ib 5

IIa

20 21 22 23 24

Lauda, Sion, salvatorem, Lauda ducem et pastorem In hymnis et canticis. Quantum potes, tantum aude, Quia maior omni laude, Nec laudare sufficis.

Lobe, Sion, den Erlöser, lobe den Führer und Hirten in Hymnen und Gesängen. / Wage so viel, wie du kannst, denn er ist größer als alles Lob, und nicht genug kannst du ihn loben.

Laudis thema specialis Panis vivus et vitalis Hodie proponitur,

Ein besonderer Gegenstand des Lobes, das lebendige und lebenschaffende Brot wird heute vorgestellt, / das am Tisch des heiligen Mahles

Anal. hymn. 51, Nr. 88. Anal. hymn. 54, Nr. 120; vgl. Heinz. Vgl. Heinz, Sp. 680; Ausgabe: Anal. hymn. 54, Nr. 144. Vgl. Registres d’Urbain IV, S. 424, linke Spalte unten. Zitiert nach Anal. hymn. 50, Nr. 385 (meine Übersetzung).

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

IIb

10

IIIa 15

IIIb 20

IVa

25

IVb 30

Va

Vb 35

VIa

VIb

40

VIIa 45

VIIb

VIIIa 50

VIIIb

131

Quem in sacrae mensa cenae Turbae fratrum duodenae Datum non ambigitur.

der Zwölfschar der Brüder unzweifelhaft gegeben wurde.

Sit laus plena, sit sonora, Sit iucunda, sit decora Mentis iubilatio; Dies enim solennis agitur, In qua mensae prima recolitur Huius institutio. In hac mensa novi regis Novum pascha novae legis Phase vetus terminat; Vetustatem novitas, Umbram fugat veritas, Noctem lux eliminat.

Das Lob sei volltönend, sei klangvoll, sei angenehm, schön sei der Jubel des Geistes. Der festliche Tag nämlich wird begangen, an dem die erste Einsetzung dieses Tisches verehrt wird. / An diesem Tisch des neuen Königs beendet das neue Pascha des neuen Gesetzes die alte Zeit. Neuheit vertreibt das Alte, Wahrheit den Schatten, Licht sperrt die Nacht aus.

Quod in cena Christus gessit, Faciendum hoc expressit In sui memoriam, Docti sacris institutis Panem, vinum in salutis Consecramus hostiam.

Was Christus beim Mahl tat, das zu tun trug er auf zu seinem Gedächtnis: / Belehrt durch die heilige Einsetzung weihen wir Brot und Wein als Opfer zum Heil.

Dogma datur christianis, Quod in carnem transit panis Et vinum in sanguinem; Quod non capis, quod non vides, Animosa firmat fides Praeter rerum ordinem.

Der Glaubenssatz wurde den Christen gegeben, dass das Brot in Fleisch übergeht und der Wein in Blut. / Was du nicht begreifst, was du nicht siehst, bestätigt der beherzte Glaube jenseits der Ordnung der Dinge.

Sub diversis speciebus, Signis tantum et non rebus Latent res eximiae, Caro cibus, sanguis potus, Manet tamen Christus totus Sub utraque specie.

Unter verschiedenen Gestalten, nur in Zeichen und nicht in den Dingen sind außerordentliche Dinge verborgen: / Die Speise ist Fleisch, der Trank ist Blut, dennoch bleibt Christus ganz unter beiden Gestalten.

A sumente non concisus, Non confractus, non divisus, Integer accipitur. Sumit unus, sumunt mille, Quantum isti, tantum ille, Nec sumptus consumitur.

Vom Nehmenden nicht zerkaut, nicht zerbröckelt, nicht zerteilt, wird er unversehrt empfangen. / Einer verzehrt, tausend verzehren, wie viel diese, so viel jener, und er wird doch nicht aufgezehrt.

Sumunt boni, sumunt mali, Sorte tamen inaequali Vitae vel interitus; Mors est malis, vita bonis; Vide, paris sumptionis Quam sit dispar exitus.

Gute verzehren, Böse verzehren, doch ungleich im Los des Lebens oder Untergangs. / Tod wird den Bösen, Leben den Guten zuteil; Sieh, wie bei gleichem Verzehr das Ende ungleich ist.

132

IXa

Andreas Kraß

55

IXb 60

Xa 65

Xb

70

XIa

XIb

75

80

Fracto demum sacramento Ne vacilles, sed memento Tantum esse sub fragmento, Quantum toto tegitur. Nulla rei fit scissura, Signi tantum fit fractura, Qua nec status nec statura Signati minuitur.

Wenn dann das Sakrament gebrochen ist, schwanke nicht, sondern bedenke, dass im Bruchstück so viel wie im Ganzen enthalten ist. / Keine Spaltung der Sache geschieht, sondern nur die Brechung des Zeichens, wodurch weder Zustand noch Gestalt des Bezeichneten verringert wird.

Ecce, panis angelorum, Factus cibus viatorum, Vere panis filiorum, Non mittendus canibus. In figuris praesignatur, Cum Isaac immolatur, Agnus Paschae deputatur, Datur manna patribus.

Seht, dass das Brot der Engel, das zur Speise der Wanderer wurde, das wahre Brot der Söhne, nicht den Hunden vorgeworfen wird. / In Bildern ist es vorausgedeutet, mit Isaak wird es geopfert, für das Paschalamm wird es gehalten, als Manna wird es den Vätern gegeben.

Bone pastor, panis vere, Iesu nostri miserere, Tu nos pasce, nos tuere, Tu nos bona fac videre In terra viventium. Tu qui cuncta scis et vales, Qui nos pascis hic mortales, Tu nos ibi commensales, Coheredes et sodales Fac sanctorum civium.

Guter Hirte, wahres Brot, Jesus, erbarme dich unser, weide uns, schütze uns, lass uns die Güter schauen im Land der Lebenden. / Du, der du alles weißt und vermagst, der du uns Sterbliche hier weidest, mach uns dort zu deinen Tischgenossen, zu Miterben und Gefährten der heiligen Bürger.

Die Sequenz folgt dem formalen Vorbild von Laudes crucis, nimmt aber eine Änderung vor, indem sie den ersten Versikel verdoppelt. Somit umfasst auch die erste Strophe zwei gleichgebaute Versikel. Insgesamt dominiert der trochäische Strophentyp, den man aus der Sequenz Stabat mater dolorosa kennt (4-a, 4-a, 4b // 4-c, 4-c, 4b). Von diesem Muster weichen vier Strophen ab. Die neunte und zehnte Strophe erweitern die Versikel um je einen Vers, die elfte Strophe erweitert sie um zwei Verse, die dritte Strophe ist in ihrem Umfang verdoppelt und weist Unregelmäßigkeiten in der Verslänge auf.25 Vermutlich dient die quantitative Variation der Strophenfolge der impliziten Darstellung eines Kreuzes, das nicht nur Thema des Originals, aber auch für die Kontrafaktur von

25 Die Unregelmäßigkeiten liegen jeweils in der zweiten Hälfte der betreffenden Versikel vor, deren Verse teils länger (Str. IIIa, V. 1–2: zehn statt acht Silben), teils kürzer (Str. IIIb, V. 1–2: sieben statt acht Silben) sind als zu erwarten.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

133

Belang ist, die in der Verehrung des Leibes Christi den Passionsgedanken aufnimmt. Demnach markieren die ersten beiden Strophen den oberen Teil des Stammes, die dritte Strophe den Querbalken, die vierte bis achte Strophe den unteren Teil des Stammes und die letzten drei Strophen den gestuften Sockel des Kreuzes.

Abb. 1: Schematische Darstellung der kreuzförmigen Struktur der Sequenz Lauda Sion (die römischen Ziffern verweisen auf die Strophenzählung, die arabischen Ziffern auf die Zahl der Verse pro Strophe)

Das Lied setzt in der ersten Strophe mit der selbstbezüglichen Aufforderung ein, Christus, den Fürsten, Hirten und Erlöser, in Hymnen und Gesängen (hymnis et canticis) zu preisen. Der Appell wird flankiert von der Ermutigung, das dichterische Potential in vollem Maße auszuschöpfen (Quantum potes, tantum aude), und der Einschränkung, dass dennoch das genügende Maß niemals erreicht werde. Es handelt sich also um eine Variante der Unsagbarkeitspose: Gott ist größer als jeglicher Lobpreis. Das Motiv des Lobens wird in dieser Strophe viermal benannt (V. 1, 2, 5, 6). Die poetologische Dimension dieser Eröffnungsstrophe ist somit unverkennbar, sie scheint auf den Auftrag der päpstlichen Bulle zu antworten, dem Altarsakrament eine eigene Liturgie zu widmen. Die Strophe ist als Apostrophe gestaltet, die mit Imperativen (lauda!, aude!) und der zweiten Person Singular (potes, sufficis) arbeitet, aber doch auch als Selbstaufforderung des Hymnendichters zu verstehen ist. Die zweite Strophe führt das Motiv des Lobes weiter und ver-

134

Andreas Kraß

schiebt den Akzent vom poetischen Appell zum poetischen Sujet (thema): dem eucharistischen Brot, das gemeinsam mit dem eucharistischen Wein das Leitmotiv der Sequenz bietet. Dieses Motiv hat drei zeitliche Aspekte: die Einsetzung in der Vergangenheit (das letzte Abendmahl), die Wiederholung in der Gegenwart (die Eucharistie) und die Vorausdeutung im Alten Bund (Paschafest). Die zweite Strophe hebt auf die Vergangenheit, die Tischgemeinschaft Christi mit seinen Aposteln ab. Während die ersten beiden Strophen den zum Himmel weisenden Teil des Stammes bilden, lässt sich die überlange dritte Strophe als Querbalken verstehen. Die linke Hälfte des Balkens (Str. IIIa) wiederholt noch einmal die Themen der ersten beiden Strophen, Lobpreis (V. 1–3) und Einsetzung des Altarsakraments (V. 4–6); die rechte Hälfte (Str. IIIb) führt die Typologie des alten und neuen Pascha ein (V. 7–9) und verweist auf die Ablösung des alten durch den neuen Bund (V. 10–12). Die poetologische Reflexion setzt sich in den ersten drei Versen der dritten Strophe fort, indem die dichterische Qualität des geforderten Lobs mit vier Merkmalen umschrieben wird: Fülle (plena), Klang (sonora), Gefälligkeit (iucunda) und Schmuck (decora). Nach dieser Überleitung setzt sich in den Strophen IV bis VIII der vertikale Balken bis zum Sockel fort. Die vierte antwortet auf die zweite Strophe, indem sie von der Einsetzung des Sakraments in der Vergangenheit zur Wiederholung des Sakraments in der Gegenwart überleitet und somit gewissermaßen den Quer- am Längsbalken befestigt. Es wechselt auch die Perspektive zum Wir der eucharistischen Gemeinde, die das Gedächtnis des biblischen Abendmahls begeht. Die fünfte Strophe lenkt den Blick auf das Dogma, das sich mit dem Fest Fronleichnam verbindet. Der christliche Glaubenssatz, der hier formuliert wird, betrifft die Transsubstantiation von Brot und Wein in Fleisch und Blut (Str. Va). Diese Verwandlung ist ein Mysterium, das man weder sehen (vides) noch begreifen (capis), sondern nur mit dem Glauben (fides) erfassen kann (Str. Vb).26 Dieses Geheimnis wird als Du-Apostrophe zur Sprache gebracht; somit wird ein Zusammehang zur ersten Strophe hergestellt, die in der gleichen Form zum Lobpreis Gottes aufrief. Der Konnex besteht darin, dass das, was man nur mit dem Glauben erfassen kann, auch nur mit Hymnen beantworten kann – die ihrerseits von dem Ungenügen geprägt sind, Gott in angemessener Weise zu preisen. Die Liturgie beschwört das Geheimnis eher, als dass sie es lüftet. In der sechsten, siebten und achten Strophe werden drei paradoxe Merkmale des Dogmas benannt: Der Leib Christi

26 Auch in den Übersetzungen des Hymnus Ave vivens hostia wird das Motiv des Sehens als eines Weges zur Erkenntnis verstärkt; vgl. den Aufsatz von Christina Ostermann in diesem Band.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

135

bleibt eins, auch wenn er geteilt wird (Str. VI); er wird verzehrt, aber nicht aufgezehrt (Str. VII); er wird von Guten und Bösen in gleicher Weise empfangen, ist aber in ungleicher Weise wirksam (Str. VIII). Jede dieser Strophen – sowie die neunte Strophe – benennt eine Teilhandlung der Eucharistie, aber in umgekehrter Reihenfolge: das Brechen (Str. IX), den Empfang (Str. VIII), den Verzehr (Str. VII) des Brotes. Die zweifache Thematisierung der Wandlung in der fünften und sechsten Strophe lässt sich mit der zentralen Bedeutung dieses Aspekts begründen. Zugleich fällt auf, dass die Mitte des Liedes in der fünften Strophe liegt, wenn man die Strophen zählt, aber in der sechsten Strophe, nämlich in Vers 40, wenn man die Verse zählt. Dieser Vers aber bringt die Wandlung auf den Punkt: „Die Speise ist Fleisch, der Trank ist Blut“ (Caro cibus, sanguis potus). Die neunte, zehnte und elfte Strophe bilden den Sockel des Kreuzes. Die neunte Strophe beschließt die Reihe der dogmatischen Sentenzen, indem sie den Aspekt der Ganzheit noch einmal aufgreift – diesmal aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Unerschöpflichkeit, sondern der Unteilbarkeit in der Teilung. Wie in der fünften (capis, vides) und achten (Vide) wird auch in der neunten Strophe die Gemeinschaft der Gläubigen durch Apostrophen involviert: Sie sollen angesichts der gebrochenen Hostie nicht an ihrer Vollkommenheit zweifeln (Ne vacilles, sed memento). Die zehnte Strophe kehrt zur Opposition von Altem und Neuem zurück, die bereits in der dritten Strophe eingeführt wurde. Sie ruft Vers für Vers sieben traditionelle Bilder auf, die den Leib Christi in figuribus zur Anschauung bringen: Die ersten vier Bilder werden mit der vergegenwärtigenden Interjektion Ecce eingeleitet: Brot der Engel (panis angelorum), Speise der Wanderer (cibus viatorum), Brot der Söhne (panis filiorum), Brot, das nicht den Hunden vorgeworfen wird (Non mittendus canibus, vgl. Mk 7,28). Die folgenden drei Bilder sind alttestamentlicher Herkunft und stehen im Zeichen der Typologie (V. 5: In figuris praesignatur): Isaaks Opfer (Cum Isaac immolatur), Paschalamm (Agnus Paschae) und Manna (manna). In der letzten Strophe, die eine Bitte der Gemeinde an Christus formuliert (und dabei die Wir-Form wählt wie in der vierten Strophe), wird ein neuer zeitlicher Aspekt aufgerufen. Auf die Vorvergangenheit des alten Paschafests, die Vergangenheit des letzten Abendmahls und die Gegenwart des Altarsakraments (Str. IIa: Hodie) folgt nun die Zukunftshoffnung der Gläubigen auf Teilhabe an der himmlischen Tischgenossenschaft. Die Strophe wird mit dem Motiv des Hirten eingeleitet, das bereits am Anfang der ersten Strophe stand und somit das Lied verklammert. Das Motiv des Hirten (pastor), der seine Schafe weidet (pascis) und doch zugleich selbst ein Lamm (Str. X: agnus), nämlich ein Opferlamm ist, erzeugt eine metaphorische Paradoxie, die den im ersten Vers des Liedes angesprochenen Erlösungsgedanken (salvatorem) illustriert. Der poetologische Aspekt, der in der ersten Strophe entwickelt wird und sich im ersten Versikel der dritten Strophe fortsetzt, ist so dominant, dass er im wei-

136

Andreas Kraß

teren Verlauf des Liedes stets mitschwingt. Im Grunde wird die gepriesene Hostie zum Symbol des preisenden Hymnus selbst. Die Spannung von Teil und Ganzem, die das gebrochene Brot der Eucharistie betrifft, gilt auch für die Komposition des kreuzförmigen Liedes, das aus einzelnen Motiven, Versen und Strophen ein unteilbares Ganzes bildet (Str. IIIa: plena). So oft es gesungen wird, verliert es nicht seine Kraft; und viele Münder singen es mit einer Stimme. Der Gesang verwandelt die Gläubigen ebenso in eine Gemeinschaft wie das gemeinsam verzehrte Brot des Altarsakraments. Das Lied kann von Guten ebenso wie von Bösen gesungen werden, kann also nur dann seine preisende Wirkung entfalten, wenn es von Herzen kommt. Während diese Entsprechungen auf Assoziationen beruhen, wird eine andere Parallele deutlich markiert. In der ersten Strophe heißt es, dass der Sänger in seinem Lobpreis so viel wagen solle, wie er könne (Quantum potes), und doch Gott niemals genügen werde (Nec […] sufficis); in der letzten Strophe heißt es, dass Christus derjenige sei, der alles wisse und vermöge (qui cuncta scis et vales). Die Ohnmacht des Dichters und die Allmacht Gottes bilden somit einen weiteren Rahmen; der Schöpfer des Liedes und der Schöpfer der Welt sind spannungsvoll aufeinander bezogen. In poetologischer Hinsicht zeigt der Dichter auf das Lob Christi, in eucharistischer Hinsicht auf den Leib Christi.

1.3 Lob o Sion deinen hailer Bislang sind zwei gereimte hochdeutsche Übertragungen der Sequenz Lauda Sion salvatorem bekannt.27 Die erste stammt aus der Feder des Mönchs von Salzburg: Lob o Sion deinen hailer;28 die zweite, noch unpublizierte Bearbeitung ist in einer Wiener Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts überliefert.29 Spechtler edierte die Übersetzung des Mönchs in einer Hauptfassung, der er acht Textzeugen zuordnete (A, B, D, E, F, N, U), und einer Nebenfassung, die in einem weiteren Textzeugen überliefert ist (b).30 Wachinger ergänzte das überlieferungsgeschichtliche Bild. Er zeigte erstens, dass sich zwei von Spechtler unterschiedene, je fragmentarisch überlieferte Textzeugen ergänzen und somit zusammengehören (m/U). Zweitens fügte er der Hauptfassung den neuen (mit U eng verwandten) Textzeugen n hinzu. Drittens wies er der in b repräsentierten Fassung den neuen Text-

27 28 29 30

Vgl. Spechtler: ‚Lauda Sion salvatorem‘, Sp. 613 f. Vgl. Spechtler: ‚Lauda Sion salvatorem‘, Sp. 613 (Nr. 1). Vgl. Spechtler: ‚Lauda Sion salvatorem‘, Sp. 613 (Nr. 3). Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 317–326 (G 41).  

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

137

zeugen p hinzu und legte dar, dass es sich bei dieser Fassung um eine Kontamination mit einer anderen Versübertragung handelt. Viertens druckte er einen weiteren neuen Textzeugen (o) ab, der ebenfalls eine Kontamination bezeugt, in diesem Fall mit einer Prosaübertragung.31 Das Gesamtbild sieht nun also wie folgt aus: Fassung

Textzeugen

Sigle

Nachweis

Lob o Sion deinen hailer

München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 715, Bl. 92v–98v (mit Melodie) München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 1115, Bl. 34v–37r (mit Melodie) Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2856, Bl. 237v–240r (mit Melodie) Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 4696, Bl. 179r–186v (mit Melodie) Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2975, Bl. 156r–157r Klosterneuburg, Stiftsbibl., Hs. 533, Bl. 3r–4r Berlin, Staatsbibl. – Preußischer Kulturbesitz, mgo 137, Bl. 151v–153r München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 5249, Fragment 64, Bl. 6r–v Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2907, Bl. 89v–90r

A

Spechtler

B

Spechtler

D

Spechtler

Lob syon deinen scheppher Melk, Stiftsbibl., Hs. 808, Bl. 106v–107r (Kontamination) Heidelberg, Sammlung Eis, Hs. 142, Bl. 2r–v Lob o syon deinen hailer (Kontamination)

Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 3609, Bl. 283v–285r

E F

Spechtler Spechtler

N U

Spechtler Spechtler

m U n

Spechtler Wachinger Wachinger

b

Spechtler

p

Wachinger

o

Wachinger

Im Folgenden drucke ich Spechtlers auf der Leithandschrift D basierende Edition der Hauptfassung ab; doch füge ich die von Wachinger vorgeschlagenen, vielfach dem Wortlaut der Textzeugen U und n folgenden textkritischen Besserungen ein.32 Außerdem ersetze ich, Wachinger folgend, die Sigle m durch U. Den Les-

31 Vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 50–55. 32 Es handelt sich um zwölf Besserungen: 15 jubilo] jubilet; 22 die gestrichen; 24 erleucht] ausreut; 30 do gestrichen; 46 zweites in gestrichen; 47 der as vil als die verklausent (Zeile); 62 das zaichen bleibet] des bezaichent; 70 himmelprot] manna; 71 O gestrichen; 78 o werder gestrichen, tischgefert] tischgeferten; 79 zu dem erbern kore] einerben klare. – Ferner habe ich in V. 67 das von Spechtler ge-

138

Andreas Kraß

artenapparat erweitere ich um den neuen Textzeugen n, entlaste ihn aber um Beischriften und lateinische Incipits. Im Lesartenapparat löse ich Abkürzungen in Klammern auf. In der rechten Spalte drucke ich zum Vergleich den lateinischen Text in jener Fassung ab, die dem Mönch von Salzburg zugrunde gelegen haben dürfte. Als Referenzen dienen mir zwei österreichische Handschriften: ein Missale, das im Jahr 1399 für St. Pölten geschrieben wurde und heute in Wien liegt (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1828),33 sowie ein Graduale, das in den 1260er Jahren vermutlich in Salzburg entstand und früher im Besitz des Stifts Seitenstetten war, bis es an die Pierpont Morgan Library in New York verkauft wurde (M. 855).34 Die deutsche Strophenzählung folgt Spechtler, die lateinische den Analecta hymnica: Hauptfassung (Leithandschrift D) 1

5

2

10

Lateinischer Vergleichstext

Lob, o Sion, deinen hailer, lob den fürsten, lob den herter mit lobsanck in stimme klar, frew dich, was du immer machte35, gros ob allem lob betrachte, noch vollobstu in nimmer gar.

Ia

Lobes ursach geistlich scheinet, lebleich prot zärtleich durchseinet36 ist uns allen füergesetzt, das zum fronen abendessen Christ sein jungern gab vermessen, do er sich von hinne letzt.37

IIa

Ib

IIb

Lauda, Sion, salvatorem, Lauda ducem et pastorem In hymnis et canticis. Quantum potes, tantum gaude, Quia maior omni laude, Nec laudare sufficis. Laudis thema spiritalis Panis vivus et vitalis Hodie proponitur, Quem in sacra mensa cenae Turbae fratrum duodenae Datum non ambigitur.

gen die Leithandschrift eingefügte Wort sich gestrichen, zumal es auch in U und n fehlt. Der Satz ist auch in der nicht reflexiven Form sinnvoll. 33 Anal. hymn. 50, S. 585 (Sigle V). Vgl. Unterkircher, S. 44. 34 Anal. hymn. 50, S. 585 (Sigle A). Vgl. das Inventar der mittelalterlichen Handschriften des Benediktinerstifts Seitenstetten, nach dem handschriftlichen Katalog von Glaßner, S. 5; sowie die aktuelle Handschriftenbeschreibung der Pierpont Morgan Library (http://ica.themorgan.org/manu script/158991) (18. Mai 2018). 35 „machte ‚vermagst‘ (Reimzwang, s. 5), entspr. potes“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 317). 36 „durchseinet s. segnen (Lexer 2, 848)“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 318). 37 „von hinne letzen hier: ‚Abschied nehmen‘ (Lexer, 1, 1891)“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 318).

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

3 15

4 20

5

25

30

6

35

7

40

139

Lob sei völlig und erläuchtig, wunsam, zierleich, hochgedeuchtig38 sei deins herzen jubilet, hoher tag stet fürgewent, do das frone sacrament hie sein erstes stiften tet.

IIIa

Sit laus plena, sit sonora, Sit iucunda, sit decora Mentis iubilatio; Dies enim solennis agitur, In qua mensae prima recolitur Huius institutio.

An dem tisch des newen wirte newe ostern, news gefirte39 alten ostern gibt ein end, alte gewonhait ‹› newikait, ware sunn den schaten verjait, liecht ausreut40 die nacht behent.

IIIb

In hac mensa novi regis Novum pascha novae legis Phase vetus terminat; Vetustatem novitas, Umbram fugat veritas, Noctem lux eliminat.

Was des nachtmals Christus handelt, das zu treiben er do wandelt vor in der gedächtnüß sein, ‹do die heilig ler gegeben wart in hailes opher eben, ‹› wart gesegent pluet aus wein.

IVa

Quod in cena Christus gessit, Faciendum hoc expressit In sui memoriam, Doctis sacris institutis Panem, vinum in salutis Consecravit hostiam.

Die beweisung halt wir christen, das ein prot mit weisen listen wirt zu fleisch und wein ze pluet, was dein sin ensiecht noch smecket, f.st er dir dasselbe wecket, wider ordnung er das tuet.

Va

Under paiderlai gestalde nuer mit zaichen nicht mit halde41 alle dink verporgen sein,› f.eisch zu speise, pluet zu trangke, ganz beleibet sunder wangke Christus under paider schein.

VIa

IVb

Vb





VIb

Dogma datur christianis, Quod in carnem transit panis Et vinum in sanguinem; Quod non capis, quod non vides, Animosa firmat fides Praeter rerum ordinem. Sub diversis speciebus, Signis tantum et non rebus Latent res eximiae, Caro cibus, sanguis potus, Manet tamen Christus totus Sub utraque specie.

38 „hochgedeuchtig ‚großartig (scheinend)‘, vgl. lat. Orig.: decora“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 318). 39 „gefirte mhd. geverte stn. ‚Weg, Reise‘, gemeint: der neue Weg“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 319). 40 ausreut zu mhd. ûzriuten, wörtlich: ‚ausreuten‘ (zu eliminat); vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 53. 41 „halde ev. ‚Gehalt‘ (Schmeller I, 1099, bes. für Münze), im Gegensatz zum (äußeren) zaichen“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 320). Auch in der gängigen Bedeutung ‚Bestand‘, ‚Aufenthalt‘ (Lexer) fügt sich mhd. halt als Gegenbegriff zu ‚Zeichen‘ gut ein; daher habe ich die von Spechtler gesetzte Crux (†) entfernt.

140

Andreas Kraß

8 45

9 50

10

55

60

11 65

70

Von dem nemer ungetailet, unzerbrochen, unvermailet, ganz er do genommen wirt, in nimpt ainer, ‹› nement tawsendt, der als vil als die verklausent,42 noch bestet er unverzert.

VIIa

In nement guet, in nement die pösen, doch in ungeleichem lösen43 lebens und des todes frist: tot den pösen, leben den frumen, wie geleich wirt er genomen, ungeleich sein ausgangk ist.

VIIIa

Wenn das sacrament verrengke, so nicht zweifel, nuer gedencke: als vil sei ain prosem lengke44, das mit ganzem stet verdakt. kain geben das guet verstellet, sunder zaichen wirt zefellet, laidigung maß nicht mer quellet45 des bezaichent unverzwakt46.

IXa

Prüeft, wie ist der engel prote wegfertiger47 speis in note, wärleich prot der kind nicht drate ist zu werffen für die hunt. in figuren das bezaichent: do Isaac das opfer raichet, osterlamb, das auch beswaichet48, manna wart den vätern kunt.

Xa

VIIb

VIIIb

IXb

Xb

A sumente non concisus, Non confractus, non divisus, Integer accipitur. Sumit unus, sumunt mille, Quantum isti, tantum ille, Nec sumptus consumitur. Sumunt boni, sumunt mali, Sorte tamen inaequali Vitae vel interitus; Mors est malis, vita bonis; Vide, paris sumptionis Quam sit dispar exitus. Fracto demum sacramento Ne vacilles, sed memento Tantum esse sub fragmento, Quantum toto tegitur. Nulla rei fit scissura, Signi tantum fit fractura, Qua nec status nec statura Signati minuitur. Ecce, panis angelorum, Factus cibus viatorum, Vere panis filiorum, Non mittendus canibus. In figuris praesignatur, Cum Isaac immolatur, Agnus Paschae deputatur, Datur manna patribus.

42 verklausent zu mhd. verklûsen, wörtlich: ‚einschließen‘; vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 54: „dieser eine erhält ebenso viel in der Hostie eingeschlossen wie jene tausend“. 43 „lösen subst., stn. Dat. Sg. mhd. lôzen swv. ‚verteilen‘ (Lexer 1, 1973)“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 321). 44 „lenke ‚biegsam‘ (Lexer 1, 1881), prosem ‚Krume‘ (Lexer 1, 359)“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 319). 45 „quellen mhd. queln stv. ‚Schmerzen verursachen, bez. auf die unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers, die keine Schmerzen mehr verursacht, obwohl die Hostie, der Leib Christi, geteilt wird“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 322). 46 „unverzwakt ‚unvermindert, unverfälscht‘“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 322). 47 „wegfertiger Gen. Pl., s. viatorum“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 322). 48 „besweichet s. sweichen (Lexer 2, 1350), euphem. für ‚sterben‘. Z. 69/70 abh. von do“ (Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 322).

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

12

75

80

‹› Werdes prot und hüeter, herre, du uns allen miserere, du bescherm uns und auch nere, das wir dich an widerkere niessen in deins vater land. chraft und witze hast du gare, hie todleicher menschen nare, ‹› tischgeferten sunderbare, setz uns dort einerben klare49 aller heiligen unverwant.

XIa

XIb

141

Bone pastor, panis vere, Iesu nostri miserere, Tu nos pasce, nos tuere, Tu nos bona fac videre In terra viventium. Tu qui cuncta scis et vales, Qui nos pascis hic mortales, Tu nos ibi commensales, Coheredes et sodales Fac sanctorum omnium.

 1 hayler ABEFNU] schepher D. 2 den f.] dein f. BNFUn. den] deinn (dein n) FNUn. herter] hueter BEFNU, hyrten A. hutt(er) n. 3 lobsam U. stÿmmen AEFU. 4 magst N. 7–9 nach 10–12 n. 7 Lob n. 8 Lebleich N] Löbleich DABEFUn. zierlich durchfynet U. durich seynet oder d. feynet? n. 9 füergesetzt] geseczt. 10 Das] Was ABEFNU. zum f.] czu fronem (frönen N) BFNUn. abendessen] abent U. jüngen N. 13 völlikleich ABEF. erläuchtig] erg (durchgestrichen ) erklem(m)gig U, erchlanchig N, erklenkig n. 14 hachgedankig N, hohgesengig U. Wunsam czertleich gedenkig n. 15 iubilet ABEFN, iubilus D, jubilo Un. 17/18 Do Jhesus tett erst stifftent Ditz fron heilig sacrament U. 18 Von erst hie sein st. ABEFN. Er bestift tet ih(esu)s n. 19 An] In U. 20 news] nuwe U. gefirte] gew(er)te n. 21 gebt N. 22 die fehlt Un. die n. ABDEFN. 23 den] dem B. schad n. 24 Das l. ABEFN. liecht fehlt n. vßrútt Un] erleucht ABEFN, aus new D. 25 Was] Das U. wand(e)lt n. 26 Das] Da BF. do] das ABFN. 27 Vor] Fort U. 28–39 fehlen D, erg. aus A 94v. 28 geben n. 30 do fehlt Un. do wart ABDEFN. wein czu pluet n. 32 weisen] spehen (spechen n) Un. listen] fristen B. 34–36 fehlen F. 34 Was] Als (= durchgestrichen) Das U, Das n. 35 fest] Vest(er) n. er dir dasselbe] glawben dir das N, glowb das an dir Un. 36 ordnung] arnung N, orden Un. das U] dasselbe ABE, daz selber N. 37 Wid (er) n. 38 nuer] nüwr U. mit NM] tuet ABEF. 39 Alle] Grosse U. sind n. 41 sunder wangke] an allen (all F) swankke (wannkche N) ABEFN. 45 Ganz] Ganzer BNn. er do] do er N. do fehlt AE. genomen wirt] enphangen wirt vnerwertt (vnerdert N) ABEFN. genomen] enphangen Un. 46 zweites in fehlt Un. in nement ABDEFN. nement] nenent n. 47 Der als vil als dÿ verchlaẅsend NUn. frei als vil als der vorht lawsent (lawset D) ABEFD. 48 Noch] Doch U. 49 zweites in fehlt n. nempt pöse Nn. in nement] vnd ōch U. 50 Yedoch ABEFN. und] ald U. frist ABEFNU] czyl D. 51 Leben n. 52 pösen] argen Un. 53 Seht wy Un. 54 Wie unglich Un. 55 Wenn] Bem F, Wem n, Könt U. v(er)wenkche F, verrenckte U. 56 zweifelt mer gedenkte U. 57 sei] sein UNn. lenkte U. 58 ganczen N. bedakt ABEFNUn. 59 geben] gewin NUn. das guet] den werden schacz ABEFN. guet] dingk U. verstellet] bestellet ABEFNn. 60 Sunder] Wy wol (doch U) daz NU. Wol das czaiche(n) wirt cz(er)uellig n. z. es do wellet (Ende) ABEF. 61 Doch getailet vnd gefellet (Zeile) ABEF. Glidt vnd mß nit mer v(er)quellet (Zeile) U. maß] daz N. Ledigu(n)g n. 62 das bezeichent U. Das v(er)zache(n)t n. (Wiewol ABEF) das zaichen bleibet ABDEFN. 63 Prüeft] nempt war A. 64 Wegfertige U. Wegwertig(er) n. in fehlt N. 65 W. ein prot N. drate] prot ABEF. 65/66 nicht drate Ist] Ist nicht n. 66 Zu werff(e)n ist für F. 67 figuren sich AEFN. 68 Das n. 69 osterlamb über durchgestrichenem hymelprot E. beweychet (U: nach durchgestrichenem bezeich) Un. 70 manna Un. himmelprot ABDEFN. 71 O fehlt Un. O

49 einerben konjiziert aus in erben (Un), im Sinne von ‚Miterben‘, vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 54: „setze uns dort ein als Tischgenossen und Miterben aller Heiligen“.

142

Andreas Kraß

werdes ABDEFN. 72 Du] Christ Un. 73 auch fehlt Un. nere] mere F. 74 wir wider an dich chere N. 75 deins vater land] dem vaterlannt AEF, dem (deinem N) väterleichen landt BN. 76 witz U. hast] last ABEF, die hst U. 77 todleich m. ner n. 78 O werder fehlt N. Tischgeferte(n) Un. tischgefert auch s. BFN. 79 in (zu deinen N) Erben klre UNn. zu dem erbern (der erb(e)n F) kore ABDEF. 80 heiligen unverwant] engel frewd wird (vns FN) vns (all(e)n wird F, wird N) bekannt ABEFN, engel vnverwant Un.

Der Mönch verfolgt den Anspruch, die lateinische Sequenz sowohl in formaler wie auch in inhaltlicher Hinsicht möglichst getreu in deutscher Sprache wiederzugeben. Somit unterwirft er sich einem doppelten Zwang, der das poetische Vermögen des Dichters herausfordert. In der ersten, poetologisch grundierten Strophe steigert der Mönch das Motiv des Lobes, indem er der vierfachen Nennung in der lateinischen Vorlage (Lauda, Lauda, laude, laudare) zwei weitere Erwähnungen hinzufügt – zum einen durch die anaphorische Wiederholung im zweiten Vers (lob den fürsten, lob den herter), zum anderen durch die Wiedergabe von hymnis mit lobsangk im dritten Vers. In der zweiten (Lobes zu Laudis) und dritten Strophe (Lob zu laus) führt er, der lateinischen Vorlage entsprechend, das Motiv des Lobes weiter. Den Gedanken, dass die Dichtkunst stets an ihre Grenzen stoße, wenn ihr Gegenstand Gott selbst sei (Str. Ib), setzt der Mönch doppelt um. Er gibt Quantum potes mit was du immer machte wieder, formt aber auch den bereits auf den letzten Vers zielenden Gedanken, dass Gott größer sei als alles Lob (maior omni laude) als fortgesetzte Aufforderung an den Sänger um, ein Lob zu ersinnen, dass alles bisherige Loben übersteige (gros ob allem lob betrachte). Man wird also sagen können, dass die Übersetzung den poetologischen Aspekt der Vorlage nicht nur erfasst, sondern noch steigert. Einen weiteren Akzent setzt der Mönch, wenn er Liturgie und Sakrament als synästhetisches Ereignis darstellt. Damit kommt er dem in der dritten Strophe formulierten Appell nach, dass das Lob in Fülle vergegenwärtigt werden solle (Sit laus plena). In der ersten Strophe betont er den akustischen Sinn, wenn er die klare Stimme hervorhebt, mit der der Lobgesang erschallen solle (V. 3: mit lobsangk in stimme klar zu In hymnis et canticis). In der sechsten Strophe führt er den optischen mit dem gustatorischen Sinn zusammen, wenn er den Vers Quod non capis, quod non vides mit der Formulierung wiedergibt: was dein sin ensiecht noch smecket. Das Motiv des Sehens ist vorgegeben (vides), das Motiv des Schmeckens hingegen tritt an die Stelle des Begreifens (capis). Gemeint dürfte sein, dass man zwar das Brot sehen und schmecken könne, nicht aber das Fleisch, in das es sich verwandelt. In der elften Strophe gibt der Mönch die Interjektion Ecce als Aufforderung wieder, die Wahrnehmung zu schärfen: Prüeft. In der letzten Strophe ersetzt er das Wort videre durch niessen und spielt so noch einmal auf den Genuss der Hostie an, in der sich Christus als wahres Brot (panis vere) ver-

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

143

körpert. Zudem gibt er das Bild des Hirten (pastor), der seine Schafe weidet (pasce, pascis) auf zugunsten der Vorstellung, dass Christus seine Tischgenossen nähre (nere, nare). Die poetologischen Akzente, die der Mönch setzt, mögen auf den ersten Blick als Nuancen erscheinen, zumal schon die Vorlage deutliche Signale dieser Art aufweist. Betrachtet man die Übersetzung jedoch im Zusammenhang mit anderen geistlichen Liedern des Mönchs, so zeigt sich, dass dieser nicht nur vorgegebene poetologische Motive aufgreift und forciert, sondern auch dort den Akt des Dichtens thematisiert, wo die Vorlage selbst dies nicht tut.

1.4 Deynen haylant lobe Syon Spechtler verzeichnet als zweite mittelhochdeutsche Bearbeitung eine bislang unpublizierte Versübertragung, die in einer Wiener Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts überliefert ist (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3946, Bl. 470v–471r).50 In seiner Ausgabe der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg führt er unter der Sigle M diese Handschrift an, weil sie drei Lieder des Mönchs enthält, nämlich Übersetzungen der Mariensequenz Verbum bonum (G 18), des Marienhymnus Salve mater salvatoris (G 7) und der Ostersequenz Mundi renovatio (G 28). Diesen drei Liedern geht eine Übersetzung der Fronleichnamssequenz Lauda Sion voran, die Spechtler nicht dem Œuvre des Mönchs zuschreibt. Eine Begründung hierfür gibt er nicht, sondern vermerkt nur: „Übersetzung des Lauda Sion (fehlt [Wackernagel]): Deynen haylant lob syon deinē scheppfer gib lobes don …“.51 Meines Erachtens sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass auch diese Übertragung dem Mönch von Salzburg zuzurechnen ist. Sie wäre nicht das einzige Beispiel dafür, dass zwei verschiedene Übertragungen desselben Liedes vorliegen.52 Das erste Indiz ist die Überlieferungsgemeinschaft mit drei Hymnenübertragungen des Mönchs von Salzburg. Gemeinsam bilden die volkssprachlichen Lieder eine Gruppe, die dem Mammotrectus super bibliam angehängt ist, einem Werk des italienischen Franziskaners Johannes Marchesinus (dreizehntes Jahrhundert), das die Bibel, aber auch eine Sammlung lateinischer Hymnen und Sequenzen

50 Spechtler: ‚Lauda Sion salvatorem‘, Sp. 613 (Nr. 3): „Versübertragung in Wien, cod. 3946 (15. Jh.), 470v–471r. Unpubliziert“. 51 Es handelt sich um die Mönchs-Handschrift M; vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 59 f., hier S. 60; vgl. Menhardt, S. 960 f. 52 Auch der Hymnus Salve mater salvatoris ist in zwei separaten Bearbeitungen überliefert, eine davon in der Wiener Handschrift (G 7, vgl. G 8).  



144

Andreas Kraß

kommentiert.53 Der hymnologische Teil des Mammotrectus dürfte der Grund gewesen sein, warum eine Reihe volkssprachlicher Übertragungen von Hymnen und Sequenzen mit in die Handschrift aufgenommen wurde. Die Abschriften des Mammotrectus und der deutschen Lieder stammen von verschiedenen Händen. Es scheint, dass der zweite Schreiber auf eine Sammlung von geistlichen Liedern des Mönchs zurückgreifen konnte. Die Handschrift stammt, wie Spechtler ausführt, aus dem Domkapitel Salzburg. Der lateinische Teil ist auf die Jahre 1424 und 1425 datiert; die zweite Hand, „die unsere Lieder geschrieben hat“54, stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Die deutschen Lieder haben die bairisch-österreichische Mundart gemeinsam. All diese Indizien – die gemeinsame Überlieferung, die gemeinsame Hand, der gemeinsame Dialekt, die gemeinsame Gattung, die ursprüngliche Herkunft der Handschrift aus Salzburg – legen nahe, dass auch die Übertragung von Lauda Sion in den Umkreis des Mönchs von Salzburg gehört. Für diese Zuordnung spricht nicht zuletzt die poetische Qualität der Übertragung. Das Lied teilt gewissermaßen den Sound des Mönchs von Salzburg. Aus diesen und weiteren Gründen, die in der folgenden Textanalyse benannt werden, schlage ich vor, die Wiener Fassung mit der Nummer G 41a zu bezeichnen. Im Folgenden ediere ich die von Spechtler und Wachinger übergangene Versübertragung. Ich füge eine moderne Interpunktion ein, löse Abkürzungen auf, gleiche u/v und i/j aus und schreibe Eigennamen groß. Die lateinischen Incipits, die die Handschrift am Rand notiert, lasse ich bis auf die erste, die zugleich als Überschrift dient, beiseite. Lauda Syon sequencia 1

5

2

Deynen haylant lobe, Syon, deinem scheppfer gib lobes don mit gesang ze aller stund. Als duz peste macht volpringen, lob mit andacht, lob mit singen, dennoch rürstu nicht den grunt.

Ia

Gotes leichnam heb die rede und sein raines plüt, die pede die sein meines tichtens hort,

IIa

Ib

53 Vgl. das Digitalisat des Straßburger Drucks (Martin Flach, 1494) in der Landes- und Universitätsbibliothek Düsseldorf (http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-1171 73) (18. Mai 2018). 54 Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 59.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

10

3 15

4 20

5

25

30

6

35

7

Den55 er gab den czwelfen seinen, do er gahet zu den peynen vnd eilet zu des todes mort.

IIb

Frewt euch christenn, frewt euch alle, singet hoch und lebt in schalle, seit der tag sich anevieng; Der tag ist uns allen gut, gotes leichnam und sein plüt an uns swendet56 helle twanckch.

IIIa

In des newen chuninges wirtschaft phase waich, pasca bla‹i›bt ehaft,57 do er zu dem tode gieng. Alder vloch, vro‹› newer cham,58 warhait macht figuren lam,59 do das liecht die nacht verdrankch.

IIIb

Do daz abentezzen wrte, Jhesus Cristus des pegerte, das man sein gedenken sey. Pey prot und wein (getar ich wol melden) wart gesegent czu allen selden, das ist nu den christenn vrey.60

IVa

Wisset, alle lewte gute, prot wiert flaisch vnd wein ze plüte, wenn der segen raichet61 dar; Chain sinn mag sein nicht vervahen, der gelaube müz das gahen62, wo sich scheppfet sölche var63.

Va

Czwisschen dingen wol pesunder, do die gotheit loset64 under vnd thuet salichait so vil,

VIa

145

IVb

Vb

55 Bezieht sich auf Gotes leichnam. 56 swenden ‚zunichte machen‘. 57 „weicht das (alte) Pascha und bleibt das (neue) Pascha Gesetz“; vgl. V. 22. 58 „Der alte (Herr) wich, der neue Herr kam“. 59 „Die (geoffenbarte) Wahrheit macht die Bilder überflüssig“. 60 „Bei Brot und Wein (so wage ich wohl zu melden), erging der Segen zu allem Heil, das nun den Christen offensteht“. 61 reichen ‚sich erstrecken‘. 62 gahen ‚ereilen‘. 63 var: gemeint ist die Wandlung. 64 lôsen ‚erlösen‘.

146

Andreas Kraß

40

8 45

9 50

10

55

60

11 65

70

Fleisch das speyset, plut das trenchket, die gothait stet ungechrenchet und ist gantz und hat chain zil65.

VIb

Von dem, den die speise hailet, ungebrochen, ungetailet, peleibet got unversert.66 Ainer isset, tawsent essent, das ist ewichleich gemezzen67, dennoch lebt er unverzert.

VIIa

Pöze in ezzent mit den pesten, ainer got, der ander presten,68 das geet69 nach dem herzen dar; Got die pözen let verderben, auf die guten let er erben sein reich und den hymmel chlar.

VIIIa

Wirt daz sacrament zervellet70 und ain chlaines tail dergellet71, gancze kraft ist da bestellet als das tail mit voller prait72. Czaichenleich geschicht das brechen; niemand bricht den got so vrechen, für die warhait tar ich sprechen: p‹r›üch die gothait nie gelait.

IXa

Secht das prot der engel speyse, das macht uns des weges weyse, das got geit den chinden leyse73 und den hunden ist versait. Hymmel prot viel auf die erden, Ysaac solt geoppfert werden, ze ostern lamp in den geperden74 gotz leichnam wart gelait75.

Xa

VIIb

VIIIb

IXb

Xb

65 zil ‚Ende‘. 66 „Von demjenigen, dem die Speise Heil bringt, ungeteilt und ungebrochen, bleibt Gott unversehrt“. 67 ewiclîche gemessen ‚unermesslich‘, ‚unerschöpflich‘. 68 „einer (erwirbt) Gott, der andere Gebrechen.“ 69 gân hier: ‚sich richten‘. 70 zervellen ‚zerlegen‘, ‚zerteilen‘. 71 vergellen ‚vergällen‘, hier: ‚verdauen‘. 72 „wie auch das Teil den ganzen Umfang (birgt)“. 73 „das (Brot, das) Gott den Kindern sanftmütig gibt.“ 74 in den geberden ‚zeichenhaft‘. 75 geleget ‚dargebracht‘.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

12

75

80

Wares prot und unser nerer, unser scherm und unser werer, gnad76 und unser selden merer, unser vater unser lerer, hilf uns zu dir in dein reich. Du bist wäger aller dingen, speis uns, herr, laz uns gelingen, das wir uns ze frewden swingen und in erbeschaft dir singen mit den engeln ewigleich.

147

XIa

XIb

Amen  20 blabt M. 22 vloch] vol vloch M. vro] vrow M. 27 gedechte da M. 62 prüch] püch M. gelait] getailt gelait M.

Zwei bessernde Eingriffe in den Text scheinen mir, von der Korrektur offensichtlicher Schreibfehler abgesehen, erforderlich. In Vers 22 steht in der Handschrift vrow statt vro; doch kann sich der Vers nur auf Christus, nicht auf die Gottesmutter beziehen. In Vers 27 ist der Reim gestört; vermutlich änderte der Schreiber die ursprüngliche Form des Prädikats von der Verlaufsform im Präsens Konjunktiv (gedenken sey) zum Konjunktiv Präteritum (gedechte) und fügte das Füllwort da ein, um vier Hebungen zu erzielen. Auch die Versübertragung G 41a setzt poetologische Akzente – stärker noch als G 41. Der erste Vers erweist sich als Inversion des entsprechenden Verses von G 41. Die zweite Hälfte wird nach vorn gerückt, die erste Hälfte nach hinten geschoben:

5

G 41a Deynen haylant lobe, Syon, deinem scheppfer gib lobes don mit gesang ze aller stund. Als duz peste macht volpringen, lob mit andacht, lob mit singen, dennoch rürstu nicht den grunt.

5

G 41 Lob, o Sion, deinen hailer, lob den fürsten, lob den herter mit lobsanck in stimme klar, frew dich, was du immer machte, gros ob allem lob betrachte, noch vollobstu in nimmer gar.

Man könnte die Vertauschung als impliziten Hinweis darauf verstehen, dass der Verfasser mit einem Gegenentwurf auf G 41 antwortet. Auch die zahlreichen Reim-

76 Genitivattribut zu merer.

148

Andreas Kraß

wörter, die er aus G 41 ausleiht, legen dies nahe.77 Die umgekehrte Richtung der Bezugnahme ist weniger plausibel, da sich G 41 deutlich enger an der lateinischen Vorlage orientiert und die Wiener Übertragung ihre größere sprachliche Geschmeidigkeit durch einen freieren Übersetzungsstil erzielt. Ein weiteres Element, das G 41a in der ersten Strophe übernimmt, ist die Anapher des Wortes lob, allerdings in veränderter Position (V. 5 statt V. 2). Das Motiv des Singens, das in der lateinischen Sequenz fehlt, erscheint in beiden Übersetzungen an entsprechender Stelle (V. 3) und wird in G 41a noch einmal wiederholt (V. 5). Das Reimwort zu Syon, nämlich don, weist auf die Melodie des Liedes hin. Die Bezugnahme auf den schepfer, die in der lateinischen Vorlage fehlt und in V. 36 noch einmal als Verb (scheppfet) wiederkehrt, könnte als poetologisches Signal dafür gelesen werden, dass sich der Übersetzer als Nachschöpfer mit dichterischem Anspruch versteht. Die Formulierung Als duz peste macht volpringen (V. 4) betont den Akt des poetischen Schaffens deutlich stärker als der entsprechende Vers der lateinischen Vorlage (Quantum potes) und der konkurrierenden Übersetzung (was du immer machte). Die Formulierung dennoch rürstu nicht den grunt (V. 6, zu Nec laudare sufficis) geht über die in G 41 gewählte Unsagbarkeitsgeste hinaus; sie gibt dem Gedanken der poetischen Insuffizienz eine mystische Tiefe, wie man sie aus dem Granum sinapis kennt (hîr ist ein tûfe sunder grunt).78 Der poetologische Akzent wird in den folgenden Strophen weitergeführt. Während G 41 das vorgegebene Motiv des Lobs (Lobes, zu Laudis) getreu wiedergibt, nimmt G 41a dies zum Anlass einer doppelten Bezugnahme auf den Akt des Dichtens. Der Verfasser fordert sich und die Gemeinde auf, über den Leib des Herrn zu sprechen (V. 1: Gotes leichnam heb die rede), und bezeichnet ihn als meines tichtens hort (V. 9). Die Eucharistie erscheint somit als Quelle der Dichtung; zu den Gnadengaben, die der Leib Christi verleiht, gehört auch das poetische Vermögen. In der dritten Strophe nimmt der Verfasser das Motiv des Singens ein drittes Mal auf: singet hoch und lebt in schalle (V. 14). In der vierten Strophe schaltet er sich als mutiger Bote des eucharistischen Geheimnisses ein: getar ich wol melden (V. 28). Dieselbe Geste wiederholt sich in der zehnten Strophe: für die wahrhait tar ich sprechen (V. 61). In der sechsten Strophe apostrophiert er die Gemeinde mit dem Imperativ Wisset! und gibt das lateinische capis mit einer Formulierung wieder, die wiederum die Erfindungskraft des Dichters zu konnotieren scheint: Chain sinn mag sein nicht vervahen (V. 34). In der letzten Strophe klingt das Lied mit ei-

77 ungetailet (G 41a,44) zu ungetailet (G 41,43); essent (G 41a,46) zu abendessen (G 41,10); gemezzen (G 41a,47) zu vermessen (G 41,11); unverzert (G 41a,48) zu unverzert (G 41,48); chlar (G 41a,54) zu klare (G 41,79); zervellet (G 41a,55) zu zefellet (G 41,60); bestellet (G 41a,57) zu verstellet (G 41,59); nerer (G 41a,71) zu nere (G 41,73). 78 Str. III, V. 4; vgl. Ruh.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

149

ner nochmaligen Wiederholung des Motivs des Singens aus, ohne Vorbild in der lateinischen Sequenz: das wir uns ze frewden swingen | und in erbeschaft dir singen | mit den engeln ewigleich (V. 78–80).

2. Stabat mater dolorosa Nicht nur zur Fronleichnamssequenz Lauda Sion, sondern auch zur Mariensequenz Stabat mater dolorosa liegen mehrere Übersetzungen aus dem Umkreis des Mönchs von Salzburg vor. Die Mariensequenz, die das seelische Mitleiden der Gottesmutter mit ihrem gekreuzigten Sohn umkreist, wurde vermutlich im dreizehnten Jahrhundert verfasst. Ihr Frömmigkeitsprofil verweist eher auf die Zisterzienser und Viktoriner als die Franziskaner.79 Bis ins sechzehnte Jahrhundert, als das Konzil von Trient die Zahl der liturgischen Sequenzen auf vier (die Ostersequenz Victimae paschali laudes, die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus, die Fronleichnamssequenz Lauda Sion salvatorem und den als Totensequenz gebräuchlichen Hymnus Dies irae) verringerte, war sie in verschiedenen lateinischen Fassungen und zahlreichen volkssprachlichen Übertragungen im Gebrauch.80 Erst im Jahr 1727 wurde sie wieder in den römischen Ritus aufgenommen. Aus dem Umkreis des Mönchs von Salzburg sind mehrere Versübertragungen überliefert, die über dessen Übersetzungspraxis Aufschluss geben.

2.1 Übersetzungstypen In meinem Beitrag zur Festschrift für Gisela Kornrumpf (2013) schlug ich am Fallbeispiel der gereimten Übertragungen der Mariensequenz Ave praeclara maris stella vor, unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität drei Typen volkssprachlicher Bearbeitungen lateinischer Hymnen und Sequenzen zu unterscheiden, nämlich konkurrierende, kollaborierende und kollektive Übertragungen.81 Mit konkurrierenden Übertragungen meine ich solche, die oftmals von einem namentlich bekannten Autor verfasst wurden und sowohl mit anderen Übertragungen desselben Typs als auch mit der lateinischen Vorlage selbst in Konkurrenz treten. Diese Übertragungen erheben einen poetischen Anspruch, indem sie die

79 Vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 132–142. 80 Zur lateinischen Überlieferung vgl. Anal. hymn. 54, Nr. 201; Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 17–72; zur volkssprachlichen Überlieferung vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 167–202, sowie van Dun: De middelnederlandse vertalingen van het Stabat mater. 81 Vgl. Kraß: „Ich gruess dich gerne“, S. 312–314.

150

Andreas Kraß

formale Gestaltung der Vorlage aufnehmen und eigene stilistische – und oft auch inhaltliche – Akzente setzen. Die Konkurrenz zu anderen Übertragungen kann durch intertextuelle Bezüge markiert sein. Ein Beispiel für diesen Typ sind die Bearbeitungen des Ave praeclara durch den Mönch von Salzburg, Heinrich Laufenberg und Sebastian Brant.82 Die kollektiven Übertragungen zeichnen sich hingegen durch ihre Anonymität aus. Es handelt sich um volksprachliche Bearbeitungen, die in Prosa verfasst sind und keinen anderen Anspruch erheben als denjenigen, den Sinn des lateinischen Liedes in die Volkssprache zu übertragen. Sie verhalten sich also dienend gegenüber ihren Vorlagen. Die Übertragungen dieses Typs sind einander oft sehr ähnlich, obwohl sie unabhängig voneinander entstanden sind; der Grund hierfür liegt in der Ähnlichkeit der Entstehungsmilieus und Gebrauchsbestimmungen. So liegen auch zahlreiche Prosaübertragungen des Ave praeclara vor, die in der Regel unikal überliefert sind und singuläre Zugriffe verschiedener Klöster auf dasselbe lateinische Lied widerspiegeln.83 Kollaborative Übertragungen sind solche, die sich auf einen Übersetzerkreis zurückführen lassen. Im Falle des Mönchs von Salzburg scheint dieser Typus vorzuliegen. Darauf lässt die Konstellation der überlieferten Texte schließen, insbesondere der Sachverhalt, dass zu einem Hymnus oder einer Sequenz oftmals eine Vielzahl von Übertragungen vorliegt, die sich entweder als verschiedene Fassungen derselben Übersetzung darstellen oder als separate Übersetzungen, die wörtliche Entsprechungen aufweisen können. So liegt die Übertragung des Ave praeclara, die dem Mönch von Salzburg zugeschrieben wird, in zwei Hauptfassungen sowie drittens als Teil einer Kompilation vor, die im Liederbuch der Anna von Köln überliefert ist.84 Besonders eindrucksvoll ist das Fallbeispiel der gereimten Übertragungen der Mariensequenz Stabat mater dolorosa. In meiner 1998 erschienenen Dissertation unterschied ich im Rückgriff auf die Editionen und Untersuchungen Franz Viktor Spechtlers und Burghart Wachingers vier Fassungen und postulierte anhand dieses Befunds die Existenz von mindestens zwei weiteren Fassungen.85 Aufgrund eines Hinweises von Gisela Kornrumpf, den ich in meiner Dissertation nicht mehr berücksichtigen konnte,86 und der aktuellen Recherchen im Rahmen des ‚Berliner Repertoriums‘ möchte ich an dieser Stelle drei Textzeugen näher vor-

82 Vgl. Kraß: „Ich gruess dich gerne“, S. 307–309 (Mönch von Salzburg), S. 311 (Heinrich Laufenberg), S. 311 f. (Sebastian Brant). 83 Vgl. den betreffenden Eintrag zum Ave praeclara maris stella im Berliner Repertorium sowie die in der Reihe ‚Liturgie und Volkssprache‘ erschienene Dissertation von Eva Rothenberger. 84 Vgl. Kraß: „Ich gruess dich gerne“, S. 309. 85 Vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 193–197. 86 Vgl. ebd., S. 176 f. (Sigle Ho).  



Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

151

stellen, die neues Licht auf die Übersetzungspraxis des Mönchs von Salzburg werfen.

2.2 Überlieferungsbefund Aus dem Œuvre, das dem Mönch von Salzburg zugeschrieben wird, waren bislang vier volkssprachliche Bearbeitungen des Stabat mater bekannt. Spechtler edierte drei verwandte Fassungen: die elfstrophige Übertragung A (Maria stuend in swindem smerczen), die zehnstrophige Übertragung m (Bey dem krewtz jn iamers dol) und die siebenstrophige Übertragung n (Cristus muter stunt in smercz).87 Wachinger stellte eine vierte Übertragung in Reimpaarversen vor, die er mit dem Sigel o bezeichnete (Die mueter stuend mit jamers dol).88 In meiner Dissertation wagte ich die Vermutung, dass der Fassung n eine zehnstrophige Fassung *n zugrunde liege. Diese sei in einem cut and paste-Verfahren umgemodelt worden, um eine siebenstrophige Version zu gewinnen, die im Zusammenhang mit der Verehrung der Sieben Schmerzen der Gottesmutter zu sehen sei.89 Außerdem formulierte ich die Hypothese, dass die Fassung o als redaktionelle Umformung einer zehnstrophigen Fassung *o aufzufassen sei, deren Strophen durch mechanische Umstellung der Verse in eine paargereimte Fassung transformiert worden seien.90 Dieses Gesamtbild lässt sich durch die Auswertung von drei neuen Textzeugen erweitern und präzisieren. Der Berliner Textzeuge (Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgo 568) stellt sich zur Fassung A (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 715), die nun in zwei Handschriften repräsentiert ist. Die Textzeugen aus der Kantonsbibliothek Aarau (MsBN 49) und der Stiftsbibliothek Hohenfurt (Vyšší Brod) (Ms. 15) stellen sich zur Fassung n (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 100) und bestätigen die Existenz der von mir postulierten Fassung *n. Zugleich erweitern sie das Bild in der Weise, dass der Aarauer Textzeuge zehn und der Hohenfurter Textzeuge neun Strophen umfasst. Somit sind aus dem Umfeld des Mönchs von Salzburg verschiedene Fassungen im Umfang von sieben, neun, zehn und elf Strophen belegt, außerdem eine paargereimte Version des Stabat mater, die auf einer zehnstrophigen Vorlage basiert. Es liegen also vier Übertragungen in sieben überlieferten Textzeugen vor.

87 88 89 90

Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, G 16, S. 199–205 (A: S. 199–202, m: S. 203 f., n: S. 204 f.). Vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 26–29, hier S. 26–28. Vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 193–197. Vgl. ebd.  



152

Andreas Kraß

Übertragung

Textzeugen

Sigle

Umfang

Nachweis

Maria stuend in swindem smerczen

München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 715, Bl. 70r–v, 72r–75v Berlin, Staatsbibl. – Preußischer Kulturbesitz, mgo 568, Bl. 26r–27v

A

11 Str.

Spechtler

p

11 Str.



Bey dem krewtz jn iamers dol

Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 24, Bl. 123v–125v

m

10 Str.

Spechtler

Cristus muter stunt in smercz

Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 100, n Bl. 178r–179r Aarau, Kantonsbibl., MsBN 49, 93r–94v q Hohenfurt, Stiftsbibl., Ms. 15, r Bl. 155r–157v

7 Str.

Spechtler

10 Str. 9 Str.

– –

(10 Str.)

Wachinger

Die mueter stuend mit jamers dol

Wien, Schottenstift, Cod. 313 (336), Bl. 139r–140v

o

Ausgehend von den Untersuchungen, die ich in meiner Dissertation vorgelegt habe, lässt sich der redaktionsgeschichtliche Befund folgendermaßen zusammenfassen. Auf einer ersten Stufe sind drei zehnstrophige Fassungen zu unterscheiden, nämlich die in m repräsentierte Übertragung Bey dem krewtz jn iamers dol, die im Aarauer und Hohenfurter Textzeugen repräsentierte Übertragung Cristus muter stunt in smercz sowie die auf der Basis von o rekonstruierbare Übertragung Die mueter stuend mit jamers dol (*o). Diese drei Fassungen sind in unterschiedlicher Weise miteinander verwandt. Auf einer zweiten Stufe lassen sich zu den genannten drei Übertragungen jeweils abweichende Fassungen nachweisen, die die Zahl der Strophen und/oder die Reihenfolge der Verse variieren. Auf der in m repräsentierten Übertragung basiert die elfstrophige Fassung Maria stuend in swindem smerczen, die in zwei Textzeugen überliefert ist, nämlich in A und p. Auf der in q und r repräsentierten Übertragung Cristus muter stunt in smercz beruht die siebenstrophige Fassung n. Auf der rekonstruierten Übertragung Die mueter stuend mit jamers dol (*o) basiert die in Reimpaarverse umgemodelte Fassung o. Es steht außer Frage, dass die erhebliche Varianz der Fassungen auf zweiter Stufe sich nicht Zufällen, sondern bestimmten Distinktionsabsichten verdankt. Der erste Fall ist die Umwandlung einer zehnstrophigen Übersetzung (m) in eine elfstrophige Zentralkomposition, in deren mittlerer Strophe sich das poetische Ich in den Vordergrund drängt (A, p). Der zweite Fall ist die Umwandlung einer zehnstrophigen Übersetzung (q) in eine siebenstrophige Fassung, die auf die Verehrung der Sieben Schmerzen Marias zielt (n). Der dritte Fall ist die Umwandlung einer zehnstrophigen Übersetzung in eine Fassung (*o), die das strophische Lied in eine Reimpaardichtung transponiert (o). Die Interessen, die sich mit den ver-

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

153

schiedenen Abwandlungen verbinden, sind also von kategorial unterschiedlicher Art, gleichwohl ergänzen sie sich zu einem Spektrum übersetzungspoetischer Möglichkeiten, die auf drei verschiedenen Ebenen ansetzen: der dichterischen Selbstreflexion (auktoriale Ebene), des Gattungswechsels (formale Ebene) und des veränderten Gebrauchszusammenhangs (pragmatische Ebene). Allein im Fall der neunstrophigen Fassung r, die sich von ihrer Vorlage nur durch das Fehlen der letzten Strophe unterscheidet, stellt sich die Frage, ob redaktionelle Absicht oder ein bloßer Überlieferungsdefekt vorliegt.

2.3 Maria stuend in swindem smerczen Schon Hermann Degering hatte in seinem 1932 erschienenen Verzeichnis der deutschen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek den Berliner Textzeugen mgo 568 dem Münchner Textzeugen Cgm 715 zugeordnet.91 Dennoch blieb die Relevanz des Berliner Textzeugen für die Überlieferung des Mönchs von Salzburg Spechtler und der weiteren Forschung verborgen. Dies dürfte daran gelegen haben, dass Degering den Mönch von Salzburg nicht namentlich erwähnte, sondern nur in knapper Form auf Wackernagel verwies, der den Münchner Textzeugen im zweiten Band der ‚Kirchenlieder‘ abgedruckt und mit dem Mönch von Salzburg in Verbindung gebracht hatte.92 Jedenfalls trifft Degerings Hinweis zu, in der Tat stellt sich der Berliner Textzeuge p zum Münchner Textzeugen A. Beide überliefern also die elfstrophige Fassung Maria stuend in swindem smerczen, die als Überarbeitung jener zehnstrophigen Übertragung zu verstehen ist, die im Nürnberger Textzeugen m vorliegt. Die Umformung der zehn- in eine elfstrophige Fassung erfolgte in der Weise, dass die fünfte Strophe gestrichen, dafür aber zwei neue Strophen eingefügt wurden. Im Vergleich mit A weist p einige abweichende Lesarten auf, die teilweise von textkritischer Relevanz sind. Im Folgenden drucke ich den auf der Leithandschrift A basierenden, aber mit Lesarten aus m und p verbesserten Text; er entspricht der Editionsfassung, die ich in meiner Dissertation auf der Grundlage von Spechtlers textkritischer Edition und Wachingers überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen erarbeitet habe (nun aber mit Ausgleich von i/j und u/v).93 Im Lesartenapparat löse ich Abkürzungen in Klammern auf. Die römischen Ziffern verweisen auf die Versikel der lateinischen Vorlage:

91 Vgl. Degering, S. 199. 92 Degering, S. 199: „= Wackernagel II, Nr. 602“. 93 Vgl. Kraß: Stabat mater dolorosa, S. 234–236.

154

Andreas Kraß

1

5

2

10

3 15

4 20

5

25

30

6

35

7

40

Maria stuend in swindem smerczen pey dem kreucz und waint von herczen, da ir werder sun an hienng. Ir geadelte zartte sele, ser betrüebt in jamers quele, scharff ein sneydunts swert durch gieng.

Ia

O wie sere mit laid bestricket was dy mueter gebenedictet, mueter ‹kinds› des aingeporn, Wie sy laid in jamer jaget, wie sy wainet, wie sy klaget pein ires sunes auserkorn.

IIa

Welich mensch wainen versmehe, das dy mueter Gotes sehe in so swindem jamer stan? Wer möcht laides ane wesen, der dy mueter auserkesen sehe den sun mitleiden an?

IIIa

Füer der sünder sünd und schuld sach sy Jhesum mit gedult sere gegaiselt nemen ab; Sy sach iren süessenn troste ‹sterbend› alles trostes erloste, do er seinen geist aufgab.

IVa

Ib

IIb

IIIb

IVb

Sy sach an der selben state: den thron der Trinitate (das ist kristi prust unde hercz) Ein jud mit ainem scharffen spere swind durch stach; awe der sere und des pittern grossen smercz. Wie da smercz in smerczen drungen! und hiet ich hundert tausent czungen und redt ich aller engel sprach, So kund ich doch nicht volsagen söleich wainen, söleich klagen; do geschach ach in ach. O ursprung rainer mynne pring mich deines smerczen inne, hilf, das ich dein laid bewain, Das mein hercz werd enczündet und in kristi minn verwundet, das ich im gefall allain.

Va

Vb

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

8 45

9 50

10

55

60

11

65

Hilf, das ich mit dir bewaine den gekreuczten, nicht klag saine94 alle dy weil ich leb auf erd. Pey dem kreucz mit dir beleiben hilf mir, kron ob allen weiben, pis dein laid mein herz versert.

VIIa

O magt, aller magt gimme, hilf, das ich deins smerczen werd inne, das ich ymmer mit dir klage, Das ich deines sunes tode, marter, wunten, pluet so rote hoch betracht und sein plage,

VIIIa

Das sein wunden mich verwunden und sein kreucz mich hail von grunden und sein rosenfarbes pluet, ‹Daz die hellisch ewig flammen ob mir nit slagen zu sammen, o gute fraw, halt mich in hut.›

IXa

Starkcher Got, als ich verschaide, tail mir durch dy werden maide dy palme der signunft dein, Wann der leib alhie ersterbe, das dy sele dort erwerbe des paradises klaren schein.

Xa

155

VIIb

VIIIb

IXb

Xb

Amen.  1 geswinden p. 5 jamers] laides mp. 9 kinds ergänzt aus m. des fehlt p. 10 jamer in p. 12 dye pein deß suns p. 13 versmach p. 14 sehe] sehen A, sach p. 17 ausserkorren p. 19 der] des p. 20 sy fehlt p. 23 sterbend ergänzt aus m und p (sterben). erloste] loß p. 25 selbigen p. 26 daß der dron der p. 27 hercz vnde prust A. das ist] auf p. 30 smerczen p. 31 da] das A, der p. drungen] drangen A. 33 vnd fehlt p. aller] aber der p. 34 volsagen] woll sagen p. 35 das erste ach fehlt p. 37 O] Eya m, p. raine p. 39 dein kind laid p. 41 minn] hercz p. 43 dir fehlt p. 44 kreuczen p. nicht] mit p. 45 alle fehlt p. 48 laid] kind p. 49 gimme] gunne A, gim(m) p. 50 deins smerczen wird inne] dich hoch erklim p. 53 vnd wunden p. 54 hoch] hab p. sein] den p. 56 sein fehlt p. 58–60 fehlen Ap, ergänzt aus m. 61 O starcker p. tail mir] tail mit mir tail mitt mir p. 65 alhie fehlt p.

Der Berliner Textzeuge p entspricht weitgehend dem Münchner Textzeugen A (auch im Fehlen des Versikels IXb), weist aber zahlreiche Varianten auf, die offensichtlich fehlerhaft sind. Folgende Lesarten sind textkritisch relevant. In Vers 23 bewahrt p wie m das in A fehlende Wort sterbend; er bietet allerdings nicht das

94 seine ‚langsam, träge‘, ‚klein, gering‘.

156

Andreas Kraß

Partizip Präsens, sondern den Infinitiv (sterben), der syntaktisch ebenso möglich ist (AcI). In Vers 27 überliefert p die richtige, für den Reim erforderliche Wortfolge prust vnd hercz (statt hercz vnde prust). In Vers 31 überliefert p das richtige, für den Reim erforderliche Wort drungen (statt drangen). In Vers 49 verweist p mit der Lesart gimm auf das richtige Wort gimme (‚Edelstein‘, zu praeclara), während A hier eine verschriebene Lesart hat, die wie eine Mischung aus gunne (wohl im Sinne von ‚gönne‘) und gimme aussieht. In Vers 50 bietet p die Lesart hilff daß ich dich hoch erklim, die offenbar einen reinen Reim mit gimm herstellen soll. Sie überzeugt freilich nicht, denn zwar passen ‚hoch‘ und ‚erklimmen‘ semantisch zusammen, doch ergeben sie mit Bezug auf die Gottesmutter wenig Sinn. In einigen Versen weist p, zum Teil in Übereinstimmung mit m, Lesarten auf, die in semantischer Hinsicht keinen Unterschied machen, sich aber in metrischer und zum Teil auch syntaktischer Hinsicht besser einpassen. In Vers 12 stellen m und p dem Substantiv pein den bestimmten Artikel voran und ersetzen das Possessivpronomen ires durch den einsilbigen Artikel des; auf diese Weise erzeugen sie einen vierhebigen Vers, der die natürliche Wortbetonung respektiert. In Vers 26 weist p die Konjunktion daß auf, die den Vers (in der Lesart von A) syntaktisch und metrisch stützen könnte; allerdings ist der Wortlaut von p im weiteren Verlauf der Verse syntaktisch verderbt. In Vers 37 haben m und p der lateinischen Vorlage entsprechend die Lesart Eya (statt O), die sich aufgrund ihrer Zweisilbigkeit metrisch besser einpasst. In diesen drei Fällen ist dennoch von Emendationen abzusehen, da die betreffenden Lesarten der Leithandschrift durchaus konsistent sind. In zwei Fällen ersetzt p einzelne Wörter (V. 41: hercz statt minn, V. 48: kind statt laid); hier ist der Leithandschrift A der Vorzug zu geben. Abschließend bleibt der Sachverhalt zu betonen, dass die elfstrophige Bearbeitung in mindestens zwei Textzeugen überliefert ist: in der Münchner Handschrift Cgm 715 (A) sowie in der Berliner Handschrift mgo 568 (p). Letztere, die im sechzehnten Jahrhundert, vielleicht schon Ende des fünfzehnten Jahrhunderts entstand und in bairischem Schreibdialekt mit mitteldeutschen Spuren verfasst wurde, kann als weiteres Zeugnis für die erhebliche zeitliche und räumliche Verbreitung der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg gewertet werden.95

2.4 Gotes muter stund in smerczen In meiner Dissertation stellte ich aufgrund philologischer Beobachtungen die Vermutung an, dass der Nürnberger Textzeuge n (Cristus muter stunt in smercz) als

95 Vergleiche den Eintrag im Handschriftencensus (9343).

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

157

Bearbeitung einer zehnstrophigen Vorlage *n aufzufassen sei. Der Bearbeiter habe mithilfe eines montierenden Verfahrens einen siebenstrophigen Text erzeugt, der sich auf die Verehrung der sieben marianischen Schmerzen beziehen lasse. Inzwischen sind zwei neue Textzeugen bekannt geworden, die die vermutete Existenz der zehnstrophigen Vorlage bestätigen. Der eine stammt aus der Kantonsbibliothek Aarau (q), der andere aus der Stiftsbibliothek Hohenfurt (r). Der Hohenfurter Textzeuge r war schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts bekannt geworden; er wurde aber nicht ausgewertet und geriet in Vergessenheit. Schon Raphael Pavel hatte im 1891 publizierten Handschriftenkatalog zur Hohenfurter Stiftsbibliothek vermerkt, dass der Codex 15 eine deutsche Übertragung des Stabat mater enthält: Fol. 155–157 vo. R. ‚Sequencz von dem schmerzen marie der edelkunigynne‘. Stabat mater. Anf.: Maria muter bey dem chrewtcz stund in schmerzen, Und waynet mit gantczem herczen. Ende: Vor der haiszen schlangen glut, Wenn dein kint urteil tutt.96

Pavel war jedoch verborgen geblieben, dass sich die Übertragung in den überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang des Mönchs von Salzburg einordnet. Diese Einsicht reichte vier Jahre später der österreichische Literaturwissenschaftler Rudolf Wolkan in den ‚Mittheilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen‘ nach: Die Papierhandschrift no. 15 der Hohenfurter Stiftsbibliothek gehört dem Ende des XIV. oder dem Anfange des XV. Jahrhunderts an, und enthält neben einer Fülle von Gebeten und Tractaten, die zum Theile mystischen Inhaltes sind […], zwei Mariensequenzen. Die eine (Bl. 155 bis 157) ist eine Übertragung des Stabat mater von Jacoponus von Todi (Wackernagel, Kirchenlied I, no. 262), und stimmt in einigen Zeilen wörtlich mit der dem Mönche von Salzburg zugeschriebenen Übersetzung (abgedruckt bei Wackernagel II, no. 602) überein; doch ist die handschriftliche Überlieferung hier sehr mangelhaft und das Lied scheint aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben.97

Wolkan bezieht sich (wie Degering im Falle der Berliner Handschrift) auf den von Wackernagel abgedruckten Münchner Textzeugen Cgm 715 (A). Der Hinweis auf den Mönch von Salzburg trifft zu, nicht aber die Zuordnung zum Münchner Textzeugen. Vielmehr handelt es sich um jene Fassung, die auch der Nürnberger Textzeuge n überliefert. Die Fassungen A und n stimmen zwar in den ersten Versen weitgehend überein, gehen aber schon ab der zweiten Strophe unterschiedliche Wege. Wie die Überprüfung und Auswertung des Hohenfurter Textzeugen zeigt,

96 Pavel, S. 234, Nr. 14. 97 Wolkan, S. 395.

158

Andreas Kraß

umfasst dieser im Unterschied zum Nürnberger Textzeugen nicht sieben, sondern neun Strophen. Auch wenn die letzte Strophe fehlt, besteht kein Zweifel daran, dass der Hohenfurter Textzeuge jene zehnstrophige Fassung *n repräsentiert, deren Existenz ich in meiner Dissertation postuliert hatte. Der Aarauer Textzeuge entspricht weitgehend dem Hohenfurter Textzeugen, überliefert im Unterschied zu diesem aber auch die zehnte Strophe. Die böhmische Pergamenthandschrift aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts ist der Forschung seit langem bekannt, weil sie Gebete Johanns von Neumarkt und einen Auszug aus Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit enthält. Doch erst der 2009 von Charlotte Bretscher-Gisiger und Rudolf Gamper vorgelegte Katalog der mittelalterlichen Handschriften in Aarau und anderen schweizerischen Bibliotheksorten erschloss den Codex so genau, dass auch das Stabat mater Berücksichtigung fand: „Stabat mater dolorosa. Deutsche Übertragung von AH 54 Nr. 201. Gotes muter stund in smerczen pey dem creucze unde waint von herczen …“98. Das Digitalisat mitsamt der detaillierten Handschriftenbeschreibung ist in der Schweizer Datenbank E-Codices frei zugänglich.99 Die Übersetzung ist in eine Gruppe von Gebeten zur Passion Christi und compassio Marias integriert (Bl. 27r– 97r), die auch die Tagzeiten Johanns von Neumarkt zum Leiden Christi und Mitleiden Marias enthält (Bl. 39v–47v). Aufgrund der neuen Kontextualisierung ist der Bezug zum Mönch von Salzburg nicht mehr erkennbar. Auf der Basis der Textzeugen aus Aarau (q), Hohenfurt (r) und Nürnberg (n) lässt sich ein kritischer Editionstext herstellen, der das Korpus der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg um ein weiteres Lied ergänzt. Als Leithandschrift dient mir der Aarauer Textzeuge, da nur er alle zehn Strophen enthält und den vergleichsweise besten Text bietet. Die abweichenden Lesarten der Textzeugen aus Hohenfurt und Nürnberg werden im textkritischen Apparat verzeichnet. Die Varianten des siebenstrophigen Nürnberger Textzeugen werden der ursprünglichen Versfolge entsprechend notiert.100 Im Editionstext werden der u/v- sowie der i/j-Ausgleich durchgeführt; die Anfangsverse der Versikel sind mit einem Großbuchstaben versehen; eine moderne Interpunktion wird zum besseren Verständnis eingefügt. Emendationen sind in der Leithandschrift nur an wenigen Stellen erforderlich, sie lassen sich oft anhand der Lesarten der Hohenfurter und Nürnberger Textzeugen bestätigen.

98 Bretscher-Gisiger, Gamper, S. 201. 99 http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/kba/BN0049/Bretscher (18.05.2018). 100 In meiner Dissertation ist mir bei der Edition der Fassung n ein Zählungsfehler unterlaufen, den ich hier korrigiere: V. 33 (Christi creucze vnd auch sein plut) gibt nicht den dritten Vers von Versikel VIIIb (et plagas recolere), sondern den dritten Vers von Versikel IXa (et cruore filii) wieder.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

1

5

2

10

3 15

4 20

5

25

30

6

35

7

40

Gotes muter stund in smerczen pey dem creucze unde waint von herczen, do ir trawt sun vor ir hing. Gar betrubet waz ir sele, dy vor seuffczen grozzen quel stach eyn swert, daz durch sy ging.

Ia

O wy trawrig und vorseret waz dy muter hochgeeret umb ir eyngepornes kint, Daz si sach in grozzer peyn; sein wetag in ir hercze scheyn, daz ir synne wurden plint.

IIa

Wer möchte wainens sich vorczeyhen, der dy muter sent mareyen sech so in grozzen nöten stan? Wer möchte daz in trawren sparn, der dy meit mit irem ‹parn› in ir smerczen schawet an?

IIIa

Den sach sie mit gayseln twingen, Jhesum, und seyn plute auz dringen durch unz sündige lewte allhy. Dornach sach sy seyn vorderben, sein vorwaysen vnd seyn sterben, do er seynen geist vorlie.

IVa

O du brunne der süzzen mynne, tu mich deynes smerczen ynne, daz ich dy bewaynen sey. Hilf mir, daz meyn hercze enczünt, got lip czu haben ane sünt, daz ich ym behag do pey.

Va

Du süzze muter, an mir hege, daz sich dez gecrewczigten slege sencken in meynes herczen pfat. Tail auch mit mir, mutter meyn, deynes verwunten kindes peyn, daz ‹er› durch mich erliden hat.

VIa

Hilf mir, daz ich mit dir wayn und daz mich erparme der rayn, dy weil ich lebendig pin; Pey dem crewcze mich czu dir stelle, daz ich werde deyn geselle in der clage, dez gert meyn syn.

VIIa

Ib

IIb

IIIb

IVb

Vb

VIb

VIIb

159

160

Andreas Kraß

8 45

Du clare iunckfrawe süzze, daz ich mit dir clagen müzze, dez gib mir dy hülfe deyn. Hilf mir daz tragen in [ ] ∫ meynem herczen ∫ cristus tot und seynen smerczen und dy pittern slege seyn.

VIIIa

Hilf, daz mich deyn slege vorseren, daz [ ] meyn heyle müzze meren cristus crücze und auch seyn plut. Dy werde muter mich behut vor der flammen und vor der glut, wenne deyn kint seyn urteil tut.

IXa

Du werder crist, wenn ich ∫ tot lige ∫, unde hilf mir czu dem sige durch dy libe muter deyn. Auch beger ich von dir, criste, daz meyn sele noch diser friste in deynem paradyse erscheyn.

Xa



9 50

10

55

60

VIIIb



IXb

Xb

 1 Gotes] Maria r. Cristus n. stund] bey dem chrewtcz stund r. 2 und waynet mit gantczem herczen r. pey] vnder n. 3 hinge q. trawt] lieber r. 4 Gar] O maria wie n. ir] dein n. sele] synn r. 5 vor] von rn. und grossen r, grosser n. 6 daz durch sy ging] durch ir sel r. 7 waz] stunt n. 10 in] sein r. Daz] Do r. groz q. große r. grossen n. 11 wie wart ir wol schein r. wetag] we wart n. hercze scheyn] derschein n. 12 do ir kint mit der durnein kron und mit scharpfen sper wart gewunt r. do ir sun wart vorwunt n. 13–15 fehlen n. 13 Und wer r. 14 sent marien] Maria. 15 so] also r. nöten] leyden r. 16 daz in trawren] sein weynen r. wainen do n. sparn] gesparen n. 17 meit] junffrawen r. Der dy meit ] wann er die muter n. irem parn] irem kinde q, iren czehern r. 18 ir] irem r, in jrem n. schawet an] schawen r. 19 Den sach sie] Maria sach r, Darnach sach sie n. 20 und fehlt n. und seyn] das r. 21 durch der lewt sunden r, vmb der lewt sunde da n. 22 Alhie dornach r. 23 vorwesen rn. seyn sterben] auch sterben r, auch sein sterben n. 24 vorlie] auff gab n. 25 der süzzen] suzsser n. 26 deyn q. deynes n. laß mich werden deiner seuffczen inne r. 27 mach das r, hilff mir daz n. dy bewaynen sey] bewayne meine sunde r, wainen vnd clagen sey. 28 Hilf mir daz] Hilff das ich r. Schaff, daz sich n. 29 lieb haben czu got r, lip zu haben got n. sünt] sunden r. 30 das ich nu habe r. 31 Du süzze muter] Clare juncfrawe n, Do bey suße muter maria r. hege] behagen r. 32 sich] si q, ich r. gecrewczigten] gecrewczigen q, creuczes n. 33 Sencke q. 34–36 fehlen n. 34 meyn] reyne r. pfat] pforte n. 35 kindes verwunten r. gelitten r. 37–41 fehlen n. 37–39 und 40–42 vertauscht in r. 37 Hilf mir fehlt r. 38 und das mich erbarme] das vns genedig sey r. 39 all die weil die r. 40 stelle] uelle q. 42 begert r. syn] sele n. 43–45, 48 fehlen n. 43 O du r. hilff mir das ich r. 45 fehlt r. 46 Hilf mir daz] Vnd czu r, Vnd geb mir zu n. meynem herczen] dem herczen meyn q. 48 tot] marter n. seynen smerczen] auch sein tod n. 49–50 fehlen n. 49 daz mich deyn slege] mir sein r. 50 sich meyn heyle müzze] dein hilffe r. 51 auch fehlt r. 52 dy werde muter] Suße mutter r, Clare juncfraw n. 53 vor der haißen schlangen glut r, fur flammen vnd fur glute n. 54 seyn fehlt r. 55–60 fehlen r. 55 Ich pit dich, werder crist n. 56 wann mein sele lait tod n. 57 liben q. 60 deynem ] dem n.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

161

Folgende Emendationen der Leithandschrift scheinen mir erforderlich. Im dritten Vers der ersten Strophe ist hinge durch hing zu ersetzen, um einen reinen Reim mit ging herzustellen. Diese Lesart wird durch r und n bestätigt (r: hingk, n: hieng). Im vierten Vers der zweiten Strophe ist in grozzer pein statt in grozz pein zu schreiben, da sich das flektierte Adjektiv metrisch besser einfügt. Der Textzeuge r bietet statt der präpositionalen Fügung ein Akkusativobjekt (große pein), n bestätigt die präpositionale Fügung, bietet aber eine Pluralform (in also grossen peinen). Im fünften Vers bietet die Leithandschrift das überzeugende Wort wetag (normalisiert: wêtac) im Sinne von Schmerz und Leid. Die Textzeugen r und n haben dieses Wort offenbar nicht mehr verstanden und bieten an dieser Stelle einen korrupten Text (r: wie wart, n: we wart). In der dritten Strophe sind zwei Emendationen vorzunehmen. Zum einen ist mareyen statt marien zu schreiben, da die diphthongierte Form einen reinen Reim zum ebenfalls diphthongierten vorczeyhen bietet. Zum anderen ist im fünften Vers das Wort kinde durch das synonyme parn zu ersetzen, um den Reim mit sparn wiederherzustellen. Diese Lesart wird durch n (paren) bestätigt, während r weniger überzeugend czehern schreibt. Im dritten und sechsten Vers der vierten Strophe bietet die Leithandschrift das akzeptable Reimpaar allhy (normalisiert: alhie) und vorlie (normalisiert: verlie). Der Textzeuge r bestätigt die Lesart des sechsten Verses (verließ), lässt aber das Reimwort des dritten Verses vermissen. Einen anderen Weg geht der Textzeuge n, der das lateinische emisit mit auff gab übersetzt. Diese Lesart passt semantisch besser, da der Gekreuzigte seinen Geist nicht ‚verlässt‘, sondern ‚aufgibt‘ (vielmehr verlässt der Geist den Gekreuzigten). Den Reim versucht n halbwegs mit dem Füllwort da zu kitten, das dem sechsten Vers angehängt wird. Auch wenn die Lesart der Leithandschrift semantisch schwierig ist, dürfte sie doch aufgrund der formalen Stimmigkeit vorzuziehen sein. Im fünften Vers der vierten Strophe halte ich an der Lesart vorwaysen (‚verwaisen‘, statt r, n: verwesen) fest, da sie das lateinische desolatum treffend wiedergibt. Im zweiten Vers der fünften Strophe ist aus metrischen Gründen die flektierte Form des Possessivpronomens einzusetzen (deynes statt deyn), diese Lesart wird durch n bestätigt. In der sechsten Strophe sind zwei Verbesserungen erforderlich. Die erste Emendation betrifft die Lesart von Versikel VIa, die in den Textzeugen n und r auf der ‚deutschen‘ Redaktion der lateinischen Vorlage beruht (Sancta mater, illud age, | crucifixi insint plage | cordi meo livide), im Textzeugen q hingegen gemäß der ‚romanischen‘ Redaktion umgewandelt wurde (Sancta mater, illud agas, | crucifixi fige plagas | cordi meo valide). Der Unterschied besteht darin, dass sich im ersten Fall die Schläge des Gekreuzigten ins Herz der Gläubigen senken (daz sich dez gecrewczigten slege sencken), während sie im zweiten Fall von der Gottesmutter ins Herz geschlagen werden (daz si des gecrewczigten slege sencke). Im einen Fall sind die Wunden also Subjekt, im anderen Objekt des Geschehens, das sich im gläubigen Herzen

162

Andreas Kraß

vollzieht. Da die hier edierte Übersetzung (wie alle Übersetzungen des Stabat mater, die im Korpus des Mönchs von Salzburg überliefert sind) auf die ‚deutsche‘ Redaktion des lateinischen Textes zurückgreift, erscheint es sinnvoll, hier auch die entsprechende Lesart zu wählen, obwohl die im Aarauer Textzeugen überlieferte Variante einen stimmigen Text bietet. Die vorzuziehende Lesart ist direkt in n bezeugt, indirekt in r, wo ein Lesefehler vorliegen dürfte (ich statt sich). Der Textzeuge r bringt eine dritte Option ins Spiel: dass nämlich das gläubige Ich selbst Subjekt des Geschehens sei, die Schläge also wie ein Flagellant selbst an sich vornehme. Eine weitere Emendation ist im letzten Vers dieser Strophe erforderlich; hier ist das offensichtlich fehlende Wort er zu ergänzen (vgl. r). In der siebten Strophe weist die Leithandschrift die ursprüngliche Reihenfolge der Versikel auf, die im Hohenfurter Textzeugen (wie in einem Teil der lateinischen Überlieferung) vertauscht sind. Ob auch die Vorlage von n diese Vertauschung aufwies, lässt sich nicht rekonstruieren, da n nur einen Vers der betreffenden Strophe bewahrt. Im vierten Vers der siebten Strophe bedarf die Leithandschrift einer Korrektur, deren Notwendigkeit aus dem Vergleich mit r (stelle) und dem lateinischen Text (stare) zweifelsfrei hervorgeht: Hier muss es stelle statt uelle heißen. Im vierten Vers der achten Strophe weist die Leithandschrift eine Wortvertauschung vor, die sich aufgrund des erforderlichen Reims mit smerczen und im Vergleich mit den stimmigen Lesart in r und n leicht korrigieren lässt: tragen in meynem herczen (statt tragen in dem herczen meyn). Im zweiten Vers der neunten Strophe hat der Schreiber die syntaktischen Beziehungen nicht erkannt und irrigerweise das Reflexivpronomen sich (daz sich meyn heyle müzze meren) eingefügt. Dies hat zufolge, dass die Wörter des nachfolgenden Verses (cristus crücze und auch seyn plut), die das Subjekt der beschriebenen Handlung bieten, ihren syntaktischen Bezug verlieren. Ursprünglich muss es, in freier Wiedergabe des lateinischen Wortlauts (cruceque me fac beari et cruore filii), geheißen haben: „Hilf, dass das Kreuz und Blut Christi mein Heil mehren mögen“. Die syntaktische Schwierigkeit, die den Schreiber der Aarauer Handschrift fehlgeleitet hat, resultiert aus der Nachstellung des Subjekts und der Wahl eines eingedeutschten Genitivs, wie er auch im fünften Vers der achten Strophe vorliegt: cristus statt cristi. Auch der Schreiber der Hohenfurter Handschrift ist an dieser Stelle gestolpert: das dein hilffe meren cristi chrewtze vnd sein plut („dass Christi Kreuz und Blut deine Hilfe mehren“). Im ersten Vers der zehnten Strophe ist die Reihenfolge der Wörter lig tot umzukehren und das Wort lig um ein auslautendes e zu ergänzen, um den Reim mit sige wiederherzustellen (tot lige). Im dritten Vers muss es libe statt liben heißen, um die korrekte Akkusativform zu gewährleisten. Im Vergleich mit der emendierten Leithandschrift lassen sich einige Aussagen über redaktionelle Tendenzen der Fassungen n und r treffen. Dass n eine montierende Umformung des zehnstrophigen in einen siebenstrophigen Text vor-

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

163

nimmt, habe ich schon dargelegt. Im Falle von r ist eine Neigung zur redundanten Anreicherung der Verse erkennbar, die in motivischer Hinsicht gesteigerte Plastizität und Affektivität, in formaler Hinsicht aber überfüllte Verse zur Folge hat. So wird im zweiten Vers der ersten Strophe das Wort herczen um das Attribut gantczem erweitert. So werden im sechsten Vers der zweiten Strophe die Passionswerkzeuge eingefügt (do ir kint mit der durnein kron und mit scharpfen sper wart gewunt). So wird im ersten Vers der sechsten Strophe das Wort muter um den Namen maria ergänzt und so wird im fünften Vers der neunten Strophe das Motiv der Glut (gemeint ist die Höllenglut) zur „heißen Schlangenglut“ ausgebaut. Auch die Überschrift neigt zur Wortfülle, wenn sie die Gottesmutter als edel kunigynne apostrophiert, obwohl sie im folgenden Lied nicht als Himmelskönigin, sondern als Schmerzensfrau porträtiert wird.

3. Ergebnisse Die Ergebnisse zu den Sequenzen Lauda Sion salvatorem und Stabat mater dolorosa und ihren Übersetzungen durch den Mönch von Salzburg lassen sich unter zwei Gesichtspunkten zusammenfassen. Der eine betrifft die Charakterisierung der geistlichen Lieder unter dem Gesichtspunkt des kollaborativen Übersetzens, der andere das übergreifende Merkmal der poetologischen Reflexion. Beide Aspekte lassen sich aufeinander beziehen.

3.1 Kollaboratives Übersetzen Die Zahl der Textzeugen, die dem Korpus der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg zugerechnet werden können, vermehrt sich kontinuierlich. Spechtler edierte 48 deutsche geistliche Lieder, die in 261 Textzeugen überliefert sind.101 Wachinger fügte 52 weitere Textzeugen aus zahlreichen weiteren Handschriften und Inkunabeln hinzu, die Spechtler nicht kannte oder überging.102 Im vorliegenden Beitrag wurden vier neue Textzeugen ausgewertet. Somit steigt die Gesamtzahl auf 317. Nach heutigem Kenntnisstand sind nur ein Sechstel der geistlichen Lieder unikal, alle anderen aber mehrfach überliefert.

101 Vgl. die Handschriftenliste; Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 96 f. 102 Darunter die verbrannten Straßburger Handschriften, deren Lesarten Wackernagel in seiner Ausgabe der ‚Kirchenlieder‘ verzeichnet; vgl. die Handschriftenliste; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 212 f.  



164

Andreas Kraß

Die in mehreren Textzeugen überlieferten Lieder liegen häufig in mehreren redaktionellen Fassungen vor. Bereits Spechtler hat in vielen Fällen alternative Fassungen abgedruckt; Wachinger hat in seinen überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen weitere Fassungen eruiert. Mit Bezug auf die Hymnen- und Sequenzenübertragungen lässt sich festhalten, dass nach heutigem Kenntnisstand mehr als ein Drittel der Texte in zwei (G 5, 6, 13, 28, 34, 39), drei (G 21, 41) oder gar fünf (G 16) Fassungen überliefert ist. Teilweise beruhen abweichende Fassungen auf mangelhafter Überlieferung. Ein Beispiel hierfür ist G 5, eine kunstvolle Übertragung der Mariensequenz Ave virginalis forma, die in zwei Redaktionen überliefert ist: einer verstümmelten (die Spechtler abgedruckt hat) und einer intakten (die Wachinger rekonstruiert hat).103 Häufiger aber handelt es sich um redaktionelle Fassungen, die man als parallele Versionen eigenen Rechts bewerten kann. Dies gilt beispielsweise für die verschiedenen Fassungen von G 16 (Stabat mater dolorosa), die ich oben besprochen habe. Von der Varianz der überlieferten Textzeugen und Fassungen ist ein dritter Fall zu unterscheiden, nämlich die Überlieferung verschiedener Übersetzungen derselben lateinischen Vorlage. Spechtler präsentiert in seiner Ausgabe nur einen derartigen Fall, nämlich G 7 und G 8, zwei separate Bearbeitungen der Mariensequenz Salve mater salvatoris. Beide Übertragungen sind in der Korpushandschrift A überliefert, die im Register vermerkt, dass es sich um zwei verschiedene Übersetzungsstile handle, einen ‚schweren‘ (G 7: ein swär in dewtsch) und einen ‚leichten‘ (G 8: ringer deütsch). Ingo Reiffenstein bezog diese Unterscheidung auf die übersetzungstheoretischen Überlegungen der Wiener Schule, eines Kreises von Übersetzern und Redaktoren, die in jener Zeit geistliche Gebrauchsprosa für die Volkssprache bearbeiteten. Auch Wachinger sieht einen Zusammenhang zwischen der Wiener und Salzburger Übersetzungstätigkeit,104 bezweifelt aber im vorliegenden Fall die Autorschaft des Mönchs: Es wäre zwar auffällig, wenn ein und derselbe Autor einen und denselben Text zweimal in verschiedenen Stilen übersetzt hätte. Aber da die Stile wohl auch verschiedene Adressaten oder Gebrauchsfunktionen intendieren, wäre es nicht ausgeschlossen. Freilich wäre zu erwarten, daß ein und derselbe Autor, wenn er einen Text zum zweitemal in anderer Absicht übersetzt, aus seiner ersten Übertragung Wendungen übernimmt, die dem neuen Zweck dienen.105

103 Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 135–143, auf der Basis der Handschriften ABE; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 10, 139–144, auf der Basis der Handschrift U. 104 Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 137: „Gelesen, gebetet, vielleicht z. T. auch gesungen wurden die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg also im selben Gebiet, vermutlich auch in denselben Kreisen, wie die neue geistliche Gebrauchsprosa der Wiener Schule“. 105 Ebd., S. 16–19, hier S. 17.

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

165

Aufgrund stilistischer und linguistischer Beobachtungen kommt Wachinger zu dem Schluss, dass G 8 „das Werk eines anderen Übersetzers“106 und nachträglich in das Mönchs-Korpus eingefügt worden sei. Dieser Argumentation ließe sich entgegenhalten, dass ein künstlerisch versierter Dichter wie der Mönch von Salzburg sich durchaus die Aufgabe gestellt haben könnte, zwei verschiedene Übersetzungsstile zu erproben, ohne sich in den Formulierungen und Reimklängen zu wiederholen. Doch selbst wenn die zweite Fassung von einem anderen Verfasser stammt, ist doch festzuhalten, dass zwei verschiedene Übersetzungen derselben Vorlage gemeinsam überliefert sind und typologisch aufeinander bezogen werden. Die im vorliegenden Beitrag diskutierten Fallbeispiele sind in diese Überlegungen mit einzubeziehen. Auch die Sequenz Lauda Sion liegt in zwei Übertragungen vor, nämlich Lob o Sion deinen hailer (G 41) und Deynen haylant lobe Sion. Vermutlich hat Wachinger auch in diesem Fall nur die erste Übertragung gelten lassen wollen und daher (wie Spechtler) die zweite Übertragung beiseitegelassen. Doch zeigte der Vergleich beider Übertragungen, dass sie auf der Ebene der gewählten Reimwörter durchaus Entsprechungen aufweisen und aufeinander bezogen sind. Auch in diesem Fall sind die Übersetzungen stilistisch verschieden – die eine ist gespreizter, die andere geschmeidiger. Noch komplexer ist die Sachlage bei den verschiedenen Fassungen der Sequenz Stabat mater. Es handelt sich hier um drei verschiedene Lieder, die jeweils in zwei verschiedenen redaktionellen Fassungen überliefert sind: m/A, qr/n und *o/o. A ist eine elfstrophige Bearbeitung von m, n eine siebenstrophige Bearbeitung von qr, o eine Reimpaarfassung von *o. Die verschiedenen Fassungen bzw. Übertragungen weisen partielle Übereinstimmungen auf, könnten also nach Wachingers grundsätzlichen Erwägungen von demselben Verfasser stammen. Doch zeigt sich Wachinger im konkreten Fall wiederum skeptisch. Zwar sei nicht auszuschließen, dass die Fassung m vom Mönch stamme und der Mönch in Fassung A „seine eigene frühere oder auch eine fremde Übersetzung bearbeitet“107 habe. Auch räumt Wachinger ein, dass ein „derartiges zitierend-montierendes Umgehen von vorhandenen Versübertragungen […] in der Mönch-Überlieferung mehrfach“108 begegne. Dennoch gelangt er aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen zu dem Schluss, dass die Autorschaft des Mönchs für beide Fassungen zu bezweifeln sei.109

106 107 108 109

Ebd., S. 17. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 29.

166

Andreas Kraß

Mir scheint, dass sich Wachingers behutsame Erwägungen noch einmal anders darstellen, wenn man mit der Möglichkeit der Kollaboration verschiedener Dichter, Übersetzer und Bearbeiter rechnet. Dann wäre der Mönch von Salzburg nicht als einzelner Autor anzusehen, dem bestimmte Lieder zu- oder abzusprechen wären, sondern namengebender Teil eines „Autorenkollektiv[s]“110, als Mittelpunkt eines literarisch produktiven Kreises, der mehrere Personen umfasst. In dieser Konstellation sind viele Möglichkeiten denkbar: dass der Mönch seine eigenen Übersetzungen bearbeitete; dass er Übersetzungen anderer Verfasser bearbeitete; dass andere Verfasser seine Übersetzungen bearbeiteten; dass verschiedene Verfasser dieselbe Vorlage übersetzten; dass ein Verfasser eine Vorlage mehrfach übersetzte. Die Forschung ist sich jedenfalls einig, dass am Hof des Salzburger Erzbischofs ein solcher „die Liedkunst pflegender Kreis“111 den Mönch umringte. Wachinger hält es für möglich, dass „manche Lieder von anderen Mitgliedern des Salzburger Literaturkreises verfaßt worden“112 seien, die freilich nicht das Talent des Mönchs gehabt hätten: „Es mag wohl sein, daß an den nicht als ‚unecht‘ aussonderbaren Liedern einfacheren Typs auch andere Mitglieder der Salzburger Hofgesellschaft als Autoren beteiligt sind“113. Der literarische Kreis um den Mönch von Salzburg ist von Spechtler und Wachinger näher beschrieben worden. Erzbischof Pilgrim förderte die Liedkunst und wurde zum Dank mit einem Akrostichon verewigt (G 2).114 Diese Ehre wurde auch Reicher von Radstadt zuteil (G 3), der dem Bischof als Hofkaplan und Hofmeister diente.115 Das Register der Handschrift A behauptet, der Mönch habe die Lieder mit sampt ainem laypriester hern Martein gemacht […] und zw dewtsch bracht. Auch wenn die Mitwirkung eines Leutpriesters Martin umstritten ist, so kann doch festgehalten werden, dass in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die Sammler mit kollaborierenden Verfassern rechneten.116 Wachinger merkt an, dass „ein weiterer Dichter sich gut in das Bild eines der Liedkunst hingegebenen Kreises am Hofe Pilgrims fügen“117 würde. Einblicke in eine solche kollaborative

110 Diesen Begriff benutzt März in seiner Ausgabe der weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg, S. 3–8, hier S. 6. März unterscheidet in Anlehnung an Wachinger verschiedene stilistische Schichten und erwägt, dass sie auf verschiedene Autoren verweisen. 111 Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 120. 112 Ebd., S. 132. 113 Ebd., S. 136. 114 Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 14 f.; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 120. 115 Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 15 f.; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 120. 116 Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 16 f.; Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 124– 126. 117 Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 124.  





Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

167

Praxis gewähren zwei Lieder, in denen der Mönch auf Lieder anderer Dichter antwortet, die ebenfalls in Beziehungen zum Salzburger Hof standen. G 5 (Ave grüest pist magtleich forme) ist eine deutsche Übersetzung der von Jakob von Mühldorf verfassten Mariensequenz Ave virginalis forma,118 G 9 (O Maria pia) eine lateinische Kontrafaktur auf die Mariensequenz Maria gnuchtig zuchtig Peters von Sachsen.119 Die Handschriften wissen von der Korrespondenz der Dichter zu erzählen: Als her Peter von Sahsen dem Münch von Salzburg diß vorgeschrieben par [Lied] schicket, da schicket er ime diß nachgende latinisch par her widerumb in dem selben tone.120 Man kann diese Notiz gewiss als Beleg der kollaborativen Praxis des Dichtens, Übersetzens und Kontrafazierens im Umkreis des Salzburger Bischofshofs werten.

3.2 Poetologische Selbstreflexion Ein gemeinsames Merkmal der geistlichen Lieder, die aus dem Umkreis des Mönchs von Salzburg überliefert sind, ist die für das vierzehnte Jahrhundert typische „Kontrafakturpraxis“; sie macht, wie Wachinger betont, den „Zusammenhang des Œuvres […] verständlicher“.121 Fasst man Kontrafaktur und Übersetzung als Typen produktiver Auseinandersetzung mit bestehenden Liedern zusammen, so lassen sich im Korpus der geistlichen Lieder vier Spielarten unterscheiden: das Verfassen neuer volkssprachlicher Texte auf Melodien volkssprachlicher Lieder, das Verfassen neuer volkssprachlicher Texte auf Melodien lateinischer Lieder, die Übersetzung lateinischer Lieder in die Volkssprache und die Übersetzung deutscher Lieder in die lateinische Sprache. Geht man ferner davon aus, dass der Mönch von Salzburg als Dichter nicht allein agierte, sondern zentrale Gestalt eines literarisch produktiven Kreises war, so gewinnt das Merkmal des Austauschens, Bearbeitens und Vergleichens von Texten noch größere Relevanz. Man wird daher annehmen dürfen, dass der Mönch von Salzburg und sein Zirkel über ein geschärftes poetologisches Bewusstsein verfügten. Wie sich am Beispiel der Übersetzungen von Lauda Sion zeigte, gibt es im Korpus des Mönchs von Salzburg in der Tat zahlreiche Indizien für poetologische Selbstreflexionen. Verschiedene Arten solcher Hinweise lassen sich unterscheiden. Zunächst sind die Dichtungen zu nennen, die sich strengen Regeln unterwer-

118 119 120 121

Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 17 f.; Worstbrock. Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 18; Kornrumpf. Vgl. Spechtler: Die geistlichen Lieder, S. 167 (Handschriften K und V, hier K). Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 129.  

168

Andreas Kraß

fen und somit den poetischen Selbstanspruch erheblich steigern. Dies ist der Fall bei Liedern, die ein Alphabet (G 1, 5) oder Akrostichon enthalten (G 2, 3, 4, 11) und somit sprachlich einen doppelten Boden aufweisen. Einige Lieder werden, weil sie besonders anspruchsvoll sind, in der Überlieferung mit dem Prädikat ‚schwer‘ versehen (G 5, 7). Andere werden, weil sie besonders kunstvoll sind, mit goldenen Artefakten verglichen wie das Goldene Abc (G 1), das Goldene Ave Maria (G 12) und der Goldene Fingerring (G 11, vgl. G 36, 37). Im Falle von G 11 wird dieser Vergleich nicht nur in der überlieferten Überschrift, sondern auch im Liedtext selbst gezogen. Hier tritt der Dichter in der Pose des Goldschmieds auf, der für die Gottesmutter einen Ring aus sechs allegorischen Edelsteinen gefertigt habe. Dabei handelt es sich um die sechs Buchstaben, die den Namen Jhesus bilden und dem Lied als Akrostichon eingeprägt sind.122 Der Markierung des poetologischen Selbstbewusstseins diesen auch die häufigen Unsagbarkeitsposen, die von kurzen Formeln123 bis hin zu elaborierten Strophen reichen können wie im Falle der Stabat mater-Übertragung G 16, wo es über den unaussprechlichen Schmerz der mitleidenden Gottesmutter heißt (V. 31–36): Wie da smercz in smerczen drungen! vnd hiet ich hundert tausent czungen vnd redt ich aller engel sprach, So kund ich doch nicht volsagen söleich wainen, söleich klagen; do geschach ach in ach.

In diesen Zusammenhang gehören auch die Inspirationsbitten, die sich an himmlische Instanzen richten. Auch sie implizieren die angebliche Insuffizienz des Dichters, der ohne spirituelle Hilfe dem poetischen Anspruch seines Gegenstands nicht gerecht werden kann und sich daher an Maria, Jesus und den Heiligen Geist wendet.124 Letzterer wird in G 33 um Beistand angerufen als Sachwalter der Sieben Freien Künste, die hier der Reihe nach (Trivium: Grammatik, Dialektik, Rhetorik; Quadrivium: Musik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie) angeführt und poetologisch gewendet werden (V. 93–99):

122 Mein trost, Maria, raine mait, | der deinen wirkikhait | hab ich berait ain guldein vingerlein, | mit sexerlai gestain durchlait, | das dir den namen sait, | den geren trait dein junkfreuliche güt (G 11,1–6). 123 das chain zung dein güt volsait (G 4,27); wer möchte dein lob durchgründen (G 12,5); niemant sie volloben mag (G 17,21); das kan unser klainikait | gänzleich nicht volloben (G 19,42 f.); die nie chain zung volsait G 38,112). 124 Maria: Oben loben got und dich, | […] | hilf uns, müterleiche mait (G 4,28–30); gib, raine maid, mir kraft und macht (G 10,8); Jesus: Jesu, […], | hilf uns, das wir werden behalten | die lob deiner mueter stalten (G 7,76–78).  

Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

169

gib uns der siben künst geticht, ler, das die red sei wol gericht, ler falsch erkennen pei der slicht, ler raine wort zu blümen. ler singen das zu got verpflicht, ler zal die all sünd gar verjicht, ler messen hoch gaistlich gesicht, ler himlisch kunst an rümen.

In diesen Kontext gehören ferner die performativen Gesten, mit denen der Dichter erklärt, dass er grüßen, loben, dichten wolle, oder die Gemeinde aufruft, in sein Grüßen, Loben, Dichten einzustimmen.125 Ebenso ruft er die Lobgesänge der Engel und anderen Himmelsbewohner auf.126 Er spiegelt sich außerdem in den Rollen des Erzengels Gabriel (als Überbringer der guten Nachricht), der Apostel (als Boten Gottes), des Königs Salomo (als Dichter des Hohenlieds), der Propheten (als Verkünder des Messias) und eines Wächters (der die Geburt Christi bezeugt).127 Auch die abschließenden Doxologien bieten eine Gelegenheit für die Thematisierung des Lobens und Singens.128 Gewiss sind viele dieser poetologischen Motive in der lateinischen Hymnik vorgegeben; aber sie werden bereitwillig aufgenommen, akzentuiert, erweitert und auch in jenen Liedern reproduziert, die frei formuliert sind. Der Mönch von Salzburg und der literarische Kreis, der ihn umgab, wussten, was sie taten, und sie sprachen davon.

125 Sänger: Ich gruess dich gerne (G 6,1); bis gegrüesset (G 8,19); also rueff ich den morgen an (G 23,21); Grüest seist, heiliger tag | aller ewikait wirdig lobsag (G 31,1 f.); das red ich gar on allen spot (G 42, Zusatzstrophe nach Hs. L); Gemeinde: Wir süllen loben all die raine (G 18,1); lobes probe (G 15,27); Menschen zung, ticht lob dem streite (G 25,7); und einem schepher geben schon | alle scheph ihres danckes lon (G 31,19 f.); unser gemüet tuet twingen | löbleich gesank zu singen (G 32,3 f.); Lobt all zungen (G 40,1); mit geticht des lobes (G 44,6); Das hell aufklimmen deiner diener stimmen (G 47,1). 126 wol auf alls das zu himel sei, | mit aller süssen simphonei | und singet got der eren krei (G 10,15– 17); das herpfen in der ierarchei | die vierundzwainzig alden | darzu ich unverdienter schrei (G 10,21– 23); Sie ist aller engel lob (G 17,22); die zwelf mit irem singen (G 20,49); dir mues erklingen | zu lob der engel don (G 20,54 f.); durch dich hant stimm der engel seng (G 33,23); und aller engel süss gesank (G 36,42). 127 Gabriel: Du pist ob allen weiben | gesegent, das die warheit muss | das wunder von dir schreiben (G 12, 44–46); Trit nahent der jungkfrawn zu | und sprich ‚ave‘ zu ir … (G 13,31 f..); Apostel: Uns künden all zwelfpoten gar | gotes und menschen suns lob, | er, die aus erde himmel macht (G 48,1–3); Salomo: davon getichtt hat Salomon | gesang von den gesangen (G 10,69 f.); Propheten: als mit figuren | propheten haben benennt (G 20, 40 f.); durch dich [den hl. Geist] sprach weissaglich gemüt (G 33,60); Wächter (G 46). 128 Dem geperer, dem geporen | lob sei in herzen, jubilus, | darzu wird und kraft gesworen | sei und reiches lobes dus, | der von den zwaien hergefaren, | dem ste gleiches lob allsus (G 40,31–36).  













170

Andreas Kraß

4. Literaturverzeichnis Bärnthaler, Günther: Übersetzen im deutschen Spätmittelalter. Der Mönch von Salzburg, Heinrich Laufenberg und Oswald von Wolkenstein als Übersetzer lateinischer Hymnen und Sequenzen. Göppingen 1983 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 371). Bretscher-Gisiger, Charlotte, Rudolf Gamper: Katalog der mittelalterlichen Handschriften in Aarau, Laufenburg, Lenzburg, Rheinfelden und Zofingen. Dietikon-Zürich 2009. De middelnederlandse vertalingen van het Stabat mater. Ingeleid en toegelicht door P. Maximilian van Dun. Zwolle 1957. Degering, Hermann: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek III. Die Handschriften in Oktavformat und Register zu Band I–III. Leipzig 1932 (Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek IX) (Nachdruck Graz 1970). Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin, New York 1972. Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hg. von Christoph März. Tübingen 1999 (Münchener Texte und Untersuchungen 114). Eucharisticum. Legende von den lieben Heiligen des glorwürdigsten wunderbarlichen Sakramentes. Hg. von Georg Ott. Regensburg, New York, Cincinnati 1869. Fischer, Balthasar: Pange lingua. In: LThK 7 (1998), Sp. 1311 f. Heinz, Andreas: Lauda Sion. In: LThK 6 (1997), Sp. 680 f. Janota, Johannes: ‚Rex Christe factor omnium‘. In: 2VL 8 (1992), Sp. 9–12. Kraß, Andreas: Das Goldene Abc. Spiel und Ernst in einem Marienlied des Mönchs von Salzburg. In: Spiel und Ernst. Formen – Poetiken – Zuschreibungen, Zum Gedenken an Erika Greber. Hg. von Dirk Kretzschmar u. a. Würzburg 2014, S. 125–137. Kraß, Andreas: ‚Ich gruess dich gerne‘. Aspekte historischer Intertextualität am Beispiel von gereimten deutschen Übersetzungen der Mariensequenz ‚Ave praeclara maris stella‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf Bentzinger, Ulrich-Dieter Oppitz, Jürgen Wolf. Stuttgart 2013 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 18), S. 301–314. Kraß, Andreas: Mittit ad virginem. Die Bearbeitungen der Mariensequenz durch den Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich von Laufenberg. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 193–220. Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. Les registres d’Urbain IV (1261–1264), Recueil des bulles de ce pape publiées ou analysées d’après les manuscrits originaux du Vatican par M. Jean Guiraud, Tome deuxième, Paris 1901. Pavel, Raphael: Beschreibung der im Stifte Hohenfurt befindlichen Handschriften. In: Die Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienser-Stifte. Bd. 2. Wien 1891 (Xenia Bernardina II,2). Reiffenstein, Ingo: Übersetzungstypen im Spätmittelalter. Zu den geistlichen Liedern des Mönchs von Salzburg. In: Lyrik des ausgehenden 14. und 15. Jahrhunderts. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Amsterdam 1984 (Chloe, Beihefte zum Daphnis 1), S. 173–205. Rothenberger, Eva: ‚Ave praeclara maris stella‘. Poetische und liturgische Transformationen der Mariensequenz im deutschen Mittelalter. Berlin, Boston 2019 (Liturgie und Volkssprache 2). Ruh, Kurt: ‚Granum sinapis‘. In: 2VL 3 (1981), Sp. 220–224.  





Der Mönch von Salzburg als Übersetzer von Hymnen und Sequenzen

171

Spechtler, Franz Viktor: ‚Lauda Sion salvatorem‘ (deutsch). In: 2VL 5 (1985), Sp. 613 f. Unterkircher, Franz: Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek bis zum Jahre 1400. 1. Teil: Text. 2. Teil: Tafeln, Wien 1969 (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich 1). Wachinger, Burghart: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989 (Hermaea N.F. 57). Wachinger, Burghart: Mönch von Salzburg. In: 2VL 6 (1987), Sp. 664–667. Wachinger, Burghart: ‚Resonet in laudibus‘. In: 2VL 7 (1989), Sp. 1226–1231. Waechter, Hans: Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Melodien. Göppingen 2005. Walters, Barbara, Vincent Corrigan, Peter T. Ricketts (Hgg.): The Feast of Corpus Christi. Pennsylvania State University Press 2006. Wolkan, Rudolf: Hohenfurther Mariensequenz. In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen (MVGDB) 33 (1895), S. 395–399.  

Pavlina Kulagina

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor und ihre niederrheinische Tagzeiten-Bearbeitung Ein Fallbeispiel der Marienverehrung zwischen Liturgie und Privatandacht Im ausgehenden vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert bestimmte die Devotio moderna den Charakter der Frömmigkeit im niederländischen und niederdeutschen Raum. Eine andere mittelalterliche religiöse Bewegung, die für mehr Textproduktion und unter anderem für mehr Übersetzungsproduktion gesorgt hat, lässt sich kaum finden. Das Aufblühen der Buch- und Schriftkultur innerhalb dieser Strömung ist unmittelbar mit ihrer Programmatik verbunden.1 Die Devoten versuchten, das Leben und die Frömmigkeit der Frühchristen nachzuahmen; auf diesem Weg zur Heilsgewinnung wurde der individuellen Leistung mehr Gewicht beigelegt als der Kirche mit ihren Sakramenten; die Zweiteilung in Kleriker und Laien wurde relativiert und religiöse Laienbildung gefördert. Obwohl man mit der Versuchung, die Devotio moderna zu den direkten Vorläufern der Reformation zu zählen, vorsichtig sein sollte, bereitete die niederländische Erneuerungsbewegung zumindest durch ihre Hochschätzung des volkssprachlichen Schreibens und Lesens als Instrumente der Privatandacht den Boden für die großen Ereignisse des sechzehnten Jahrhunderts vor.2 Mit dieser Bewertung der Devoten kann auch die Tatsache erklärt werden, dass ein deutlicher Schwerpunkt der aus ihren Kreisen stammenden Handschriften bei Stundenbüchern liegt. Den Kern der Stundenbücher bilden Tagzeiten – Texte für einen Zyklus aus acht Stundengebeten, die idealerweise täglich im Drei-Stunden-Schritt zu wiederholen waren. Stundenbücher stellten eine verkürzte, „paraliturgische“3 Version des Breviariums dar und wurden ab dem dreizehnten Jahrhundert besonders unter semireligiösen Gemeinschaften sowie unter Laien beliebt, die auf solche Weise ihren Alltag nach dem Alltag des Klerus richten

1 Zur pragmatischen Buchkultur der Devotio moderna vgl. Staubach. 2 Zu der Diskussion vgl. Hinz. 3 Palmer, S. 578. Pavlina Kulagina, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-007

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

173

wollten.4 Die Devotio moderna sorgte für eine breite Überlieferung des volkssprachlichen Stundengebets, deren Bedeutung schwer zu überschätzen ist: Sie ist „almost solely responsible for the introduction of translated liturgical texts into the prayer repertoire of the late medieval devout in the Low Countries who had not mastered Latin“5. So sind weltweit bis zu 2000 Getijdenboeken in der Übersetzung des Gründers der Bewegung, des Deventer Theologen und Predigers Geert Groote (1340–1384) bekannt.6 Ein Blick alleine in den Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin zeigt 17 Stundenbücher in Grootes Übersetzung und noch viele andere, die eine Verwandtschaft mit der Devotio moderna aufweisen. Trotz der reichen Überlieferung werden Stundenbücher von LiteraturwissenschaftlernInnen vernachlässigt und sind bis heute ungenügend erforscht.7 Dabei könnte ihre Analyse nicht nur für die Geschichte der Frömmigkeit im Spätmittelalter, sondern auch für ein besseres Verständnis von allgemeinen literaturgeschichtlichen Themenbereichen wie Übersetzung und Textvariation in der Diachronie oder der historischen Poetik ergiebig sein. Welche Änderungen sind bei der Übertragung eines liturgischen lateinischen Texts in die Volkssprache möglich? Auf welche Weise spiegelt sich die Pragmatik der Gattung, die zwischen Liturgie und Privatandacht funktioniert, im übersetzten Text wider? Welchen Einfluss nehmen die Tendenzen der zeitgenössischen Frömmigkeit darauf? Die vorliegende Arbeit wird versuchen, diese Fragen ausgehend von der Analyse der bisher unerforschten spätmittelalterlichen niederrheinischen ‚Goldenen Tagzeiten‘, eines prägnanten Beispiels marianischer Frömmigkeit, zu beantworten. Obwohl sie nicht zu Geert Grootes Getijdenboek in seiner ab dem ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts fest etablierten Form gehören, verweisen der Entstehungskontext sowie der Inhalt der Handschriften, die den Text überliefern, auf unmittelbaren Einfluss der Devotio moderna. In der Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin finden sich die ‚Goldenen Tagzeiten‘ in drei Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts: Ms. germ. oct. 451 (Bl. 228r–246v), Ms. germ. oct. 499 (Bl. 122v–138r) und Ms. germ. oct. 585 (Bl. 13r–24r), wobei der letztere Textzeuge signifikante Ähnlichkeiten zu Ms. germ. oct. 499 ausweist (und deshalb im Folgenden nur am Rande berücksichtigt wird). Während eine lateinische Vorlage der Tagzeiten nicht gefunden werden konnte, wurde deren hymnischer Teil als eine Übersetzung der Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor († 1146)

4 5 6 7

Vgl. Ochsenbein, S. 470. Desplenter, S. 399. Vgl. de Bruin, S. 268. Vgl. Matter: Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte, S. 171.

174

Pavlina Kulagina

identifiziert.8 Auf diesem Teil wird auch der Fokus der folgenden Untersuchung liegen.

1. Stundenbücher und Marienverehrung: Privatandacht auf der Suche nach Vermittlung Die ‚Goldenen Tagzeiten‘ sind nicht die einzigen marianischen Texte in den Handschriften Ms. germ. oct. 451, Ms. germ. oct. 499 und Ms. germ. oct. 585. Außer ihnen sind dort Psalmen, Rosenkränze, ‚Die sieben Freuden von unseren lieben Frauen‘, weitere Tagzeiten und zahlreiche Gebete zu finden, die alle der Gottesmutter gewidmet sind und jeweils einen erheblichen Anteil am Text des Manuskripts haben. Generell ist für Andachtsbücher eine solche Schwerpunktsetzung auf die Marienverehrung sehr charakteristisch. So bildet den Hauptteil des „klassischen“ Stundenbuches das Officium (parvum) Beatae Mariae Virginis: ein „(kleines) Stundengebet der seligen Jungfrau Maria“9, welches vom Brevier übernommen wurde. Um diese Zentrierung der Privatandacht auf Maria zu verstehen und die von Adam von St. Viktor verfasste Sequenz sowie die darauf basierenden ‚Goldenen Tagzeiten‘ frömmigkeitsgeschichtlich zu kontextualisieren, lohnt es sich einen kleinen Einblick in die Geschichte der Marienverehrung zu geben. Den theologischen Ausgangspunkt für die besonders hohe Stellung Maria in der christlichen Kirche bilden zwei Wahrheiten, die biblisch bezeugt sind und die später zu Grunddogmen erklärt wurden: die Gottesmutterschaft Mariens sowie die jungfräuliche Empfängnis Jesu in ihrem Schoß.10 Bei der Auseinandersetzung der frühen Theologen mit den beiden Fragen ging es in erster Linie nicht um Maria, sondern um die Deutung der Inkarnation. So wurde im Jahre 431 auf dem Konzil von Ephesus der Ehrentitel theotokos, Gottesgebärerin, dem der Bezeichnung christotokos, Christusgebärerin, vorgezogen.11 Dabei lag der Kern der Kontroverse nicht in der marianischen Terminologie als solcher: Es musste sich darauf geeinigt werden, ob von einem fleischgewordenen Gott oder von einem gottgewordenen Menschen die Rede sein sollte.12 Auf dem Konzil wurde die Einigungschristologie (die Menschheit Jesu wird ganz von der Gottheit des Sohnes umfangen) akzeptiert, die Trennungschristologie (die göttliche und die menschliche Natur

8 Vgl. AH 2, Nr. 18051, S. 513. 9 Ochsenbein, S. 468 f. 10 Vgl. Söll, S. 98. 11 Vgl. Scheffczyk, S. 390. 12 Vgl. Delius, S. 108.  

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

175

werden streng voneinander unterschieden) dagegen als Häresie verworfen. Demzufolge wurde der Begriff theotokos dogmatisiert, die Marienverehrung erhielt einen wesentlichen Impuls und der Gottesmutter wurden alle göttlichen Ehren zugesprochen: „Die physische Einheit der beiden Naturen in Christus entwickelt sich zu einem physischen Verhältnis zwischen Gott und Maria, das auf die göttliche Würde der Jungfrau hinstrebt“13. Die Diskussionen um die Doktrin der Inkarnation auf den frühen Konzilen trugen dazu bei, dass ein zweitrangiger Charakter des Evangeliums zu einer der Hauptfiguren des christlichen Pantheons wurde. Ein weiterer entscheidender Wandel in der Geschichte der Marienverehrung trat im Hochmittelalter ein. Der Ausgangspunkt der Veränderungen lag wieder in der Frage nach der Menschheit Jesu – nun allerdings spielten sie sich am deutlichsten im Bereich der Frömmigkeit und nicht nur in dem der gelehrten Theologie ab.14 Der Prozess, den man verallgemeinernd als Verdiesseitigung, Emotionalisierung und Interiorisierung des Glaubens bezeichnen könnte, manifestierte sich in der Verschiebung des Fokus vom auferstandenen Herrn im Schein seiner Gloria zum historischen Jesus.15 Das brennende Interesse für sein irdisches Leben und das Mitleid für seinen qualvollen Tod führten auch dazu, dass Maria nicht mehr als „starre, in kosmologische Dimensionen entrückte Majestät“16, sondern als zärtlich liebende Mutter dargestellt wurde. Marias heilsgeschichtliche Rolle als menschliche Gebärerin Jesu war jedoch schon in der frühen byzantinischen Frömmigkeit klar: Durch ihren Schoß, der Jesus getragen hat, und durch ihre Brüste, die ihn ernährt haben, entstand Gottes Verbindung zur Menschheit; Jesu Teilnahme an der universal-menschlichen Erfahrung verpflichtete ihn zu Solidarität und Mitleid; „in enabling God, as Christ, to become human, […] Mary, in fact, had made God humane“17. Aber erst im zwölften Jahrhundert gewann der menschliche, emotionale Aspekt der Christologie – und damit der Mariologie – dramatisch an Bedeutung. Es werden multiple Faktoren genannt, die die Interiorisierung des Glaubens und Verdiesseitigung der Gestalten von Jesus und Maria verursacht haben konnten, hier sollen nur einige von ihnen erwähnt werden. Aus geschichtlicher Perspektive können intensive eschatologische Erwartungen und die Hoffnung auf die endzeitliche Wiederkunft Christi, die mit der Jahrtausendwende kam, als einer der ersten Auslöser dieses ‚devotional turn‘ angesehen werden. Dass diese Hoffnungen nicht erfüllt wurden, erweckte in Gläubigen Enttäuschung und Angst, be-

13 14 15 16 17

Ebd., S. 111. Vgl. Johnson, S. 394 f. Vgl. Cousins, S. 375 f. Koschorke, S. 43. Brown, S. 439.  



176

Pavlina Kulagina

wegte sie dazu, Jesus stattdessen in der eigenen Seele zu suchen.18 Auch der Erste Kreuzzug (1095–1099), der das Heilige Land für den Westen öffnete, brachte ambivalente Frömmigkeitstendenzen mit sich. Einerseits konnten die Kämpfenden und Pilger durch die unmittelbare Nähe zu den Orten von Jesu Leben und Passion seine Präsenz besonders intensiv empfinden19 – was sicherlich das Interesse am historischen Christus anspornte. Andererseits inspirierte der Drang ins Heilige Land eine gewisse Gegenbewegung: Um Mönche in ihren Klöstern zurückzuhalten, wurde gehäuft dazu aufgerufen, auf ferne Reisen zu verzichten und die Suche nach Gott nach innen zu kehren.20 Oder, wie Bernard von Clairvaux begründete: „Denn nicht das irdische Jerusalem, sondern das himmlische zu suchen ist Ziel der Mönche; dies erreichen wir nicht durch die Schritte unserer Füße, sondern durch den Fortschritt in dem Verlangen unseres Herzens“21. Aber vor allem wurde ein allgemeines Bedürfnis nach Verinnerlichung und Spiritualisierung in den späteren Jahrhunderten intensiviert, als Reaktion auf verheerende Katastrophen wie die Schwarze Pest oder den Hundertjährigen Krieg sowie auf Instabilität innerhalb der Kirche (Abendländisches Schisma, Häresien).22 Die Gläubigen, gequält von Todes- und Höllenangst, suchten Zuflucht und diese war nicht bei dem strengen himmlischen Königspaar, sondern bei den ‚human‘ und ergo ‚humane‘ Christus und Maria zu finden. Als die Szene, die in diesem Kontext das größte heilbringende Potenzial aufwies, wurde die Passion Christi – und zwar mit Maria im Vordergrund – ab dem zwölften Jahrhundert in den Mittelpunkt der Andacht und theologischen Auseinandersetzungen gerückt.23 Reziprokes Mitleid wurde als verbindende Kraft zwischen Gott und der Menschheit gesehen: Einerseits erlitt Christus aus Mitleid zu den Menschen den menschlichen Tod, um ihre Sünden zu tilgen; andererseits konnte die Rettung für den Gläubigen nur dann erfolgen, wenn er das Ausmaß des Opfers gebührend beachten würde – also von ganzem Herzen mit dem gekreuzigten Christus mitleidet. Christi physisches Martyrium am Kreuz sollte allerdings so intensiv gewesen sein, dass es mit der menschlichen Erfahrung kaum begriffen werden konnte – im Gegensatz zu dem geistlichen Martyrium seiner unter dem Kreuz weinenden Mutter. Marias Seelenschmerzen wurden als der reinste

18 Vgl. Fulton: From Judgement to Passion, S. 64–78. 19 Vgl. Riley-Smith, S. 99–101. 20 Vgl. Constable: Opposition, S. 125. 21 „Neque enim terrenam, sed coelestem requirere Jerusalem, monachorum propositum est; et hoc non pedibus proficiscendo, sed affectibus proficiendo.“ Bernhard von Clairvaux, Bd. 3, Epistola 399, S. 784–787. 22 Vgl. Johnson, S. 393. 23 Vgl. Kraß, S. 103–113.

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

177

Ausdruck von compassio gesehen, die ein Mensch Gott gegenüber überhaupt empfinden konnte und wurden so zu einem Modell für alle Gläubigen24 sowie zu einem beliebten Gegenstand theologischer Abhandlungen, dessen ins Extrem geführte Emotionalisierung des Marienbildes seine „entschiedene Vermenschlichung“25 bewirkte. Die Hervorhebung von Marias Fähigkeit zum Mitleid brachte eine weitere wichtige Folge mit sich. Da das Mitleid der Gottesmutter so perfekt war, konnte man wohl hoffen, dass es sich auf die ganze Menschheit ausdehnen können würde. Als Mutter, die dem Tod ihres eigenen Sohnes zusehen musste, würde sie nicht wollen, dass eines ihrer geistlichen Kinder verloren geht. Als Mutter, die zudem praktisch mit-gekreuzigt wurde, hätte sie auch die Autorität vor ihrem Sohn eine Fürbitte für sie einzulegen. Für die Gläubigen, die nach sicherer Erlösung suchten, war diese Rolle der barmherzigen, milden Fürsprecherin notwendig, da Christus, trotz seiner hochmittelalterlichen Verdiesseitigung, immer noch große Angst erregte: Beim Jüngsten Gericht sollte er als ein strenger Richter erscheinen und kein Vergehen unbeachtet lassen. So gewann die Vorstellung von Maria Mediatrix, die zwar schon im Frühchristentum existierte,26 ab dem zwölften Jahrhundert rasant an Bedeutung. Während sich die Marienverehrung im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters zu ungeahnter Blüte entwickelte, Marias Lebensgeschichte mit zahlreichen neuen Details bereichert wurde und ihre Beziehung zu Christus an emotionaler Tiefe gewann, wurde die Kargheit biblischer Aussagen zu Maria sowie ihrer eigenen Aussagen besonders spürbar. Die Notwendigkeit, diese Lücke zu schließen, wurde zu einem der Gründe, warum Exegeten das Hohelied ab dem zwölften Jahrhundert immer häufiger als Dialog zwischen Maria und Jesus deuteten. Eine solche Lesart brach nicht nur mit Marias Schweigen und legte ihr die Worte in den Mund, welche ihre intime und zärtliche Beziehung zu ihrem Sohn bestätigten.27 Auch stand diese Deutung in Einklang mit dem allgemeinen geistlichen Interesse an Marias Körper, „den Gott zum Ort und Träger seiner Menschwerdung gemacht hatte“28. Der bildreiche alttestamentliche Text bat eine Fülle von Stellen, deren schon seit Origenes als gefährlich angesehene Erotik durch eine marianische Lesart auf die heilbringende Weiblichkeit der Gottesmutter umgedeutet werden konnten.29 Auf diese Weise bekam die exaltierte Frömmigkeit, die sich nach den vermenschlich-

24 25 26 27 28 29

Vgl. Fulton: From Judgement to Passion, S. 199 f. Kraß, S. 106. Vgl. Söll, S. 122–124. Vgl. Fulton: Mimetic Devotion, S. 90. Schreiner, S. 499. Vgl. Astell, S. 1–16.  

178

Pavlina Kulagina

ten Maria und Jesu sehnte, eine wichtige Quelle, durch die sie ihre Sprache mit poetischen und sinnlichen theologischen Metaphern bereichern konnte. Die neue religiöse Sensibilität, das Streben der Laien, sich in Christi und Marias Leiden zu versenken und in eigener Seele die heilbringende Liebe und das Mitleid zu erzeugen, fanden Inspiration und gleichzeitig das geeignete Instrumentarium in monastischen meditativen Praktiken. Die eine war die lectio divina, das langsame private Lesen der Heiligen Schrift, das den Gläubigen in die Ereignisse aus Christi Leben und Passion miteinbezog.30 Die andere war das Officium divinum, welches den Alltag der Klosterinsassen und Kleriker in eine komplex gestaltete, sakrale Zeitordnung fügte und die Präsenz des Gotteswortes in ihren Leben gewährleistete. Aus Neid der Laien auf eine solche direkte und intime Verbindung zu Gott entstand eine unübersichtliche Andachtsliteratur, die liturgische Texte, den Bedürfnissen der Privatfrömmigkeit entsprechend, vereinfachte, modifizierte und erweiterte.31 Die Devotio moderna mit ihrer programmatischen imitatio Christi und Privatisierung des Glaubens, die sich zum erheblichen Teil in massiver Produktion der Andachtstexte mit Schwerpunkt auf Stundenbüchern äußert, bildet wohl den Höhepunkt dieser Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, warum die Marienverehrung und der Boom der Literatur für die Privatandacht ab dem zwölften Jahrhundert Hand in Hand gingen. Von Höllenangst gepeinigte Christen suchten nach sicherer Rettung und glaubten diese durch den emotionalen, persönlichen Kontakt mit dem vermenschlichten Gott und durch das Einleben in seine Leiden zu finden. Die notwendige Vermittlung dafür gewährleisteten sowohl die Übernahme liturgischer Texte und monastischer Praktiken, als auch die Anbetung der barmherzigen Fürsprecherin Maria. Diese hochmittelalterlichen Entwicklungen in der Privatfrömmigkeit, die Maria den Menschen annäherten und ihrer Gestalt emotionale Tiefe verliehen, annullierten allerdings nicht ihren Status als himmlische Majestät. Nach wie vor blieb sie eine makellose, gotterwählte, höchstgepriesene Königin, die schönste und reinste der Frauen; „sheer delight in Virgin Mary“32 spielte nicht die letzte Rolle in ihrem aufblühenden Kult. In Salve mater salvatoris, geschrieben von Adam von St. Viktor in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, finden die wichtigsten Aspekte der neuen marianischen Frömmigkeit – exaltierte Bewunderung, Hoheliedbezüge, Hochpreisung der Gottesmutter als Ursprung des Heils und Anflehung der Maria Mediatrix als die letzte Hoffnung der Gläubigen – ihren reinsten Ausdruck. Die drei Jahrhunderte später vollendete

30 Vgl. Cousins, S. 377. 31 Vgl. Wieck, S. 27. 32 Johnson, S. 395.

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

179

niederrheinische Bearbeitung der Sequenz behält diese Züge bei, transformiert aber den Text erheblich, was eine nähere Analyse erläutern wird.

2. Salve mater salvatoris und die ‚Goldenen Tagzeiten‘ Dass die ‚Goldenen Tagzeiten‘ im spirituellen Kontext der Devotio moderna entstanden sind, lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen. Zusätzlich zu den drei Berliner Handschriften konnten sie bisher noch in fünf Darmstädter und zwei Kölner Handschriften gefunden werden33 – was zwar nicht mit der Überlieferung des Stundenbuchs von Geert Groote vergleichbar ist, aber trotzdem auf eine gewisse Beliebtheit des Textes am Niederrhein hinweist. Fast alle Handschriften sprechen mit ziemlicher Sicherheit für die Provenienz aus der Kölner Diözese, wobei als Herstellungsorte Augustinerinnenklöster am häufigsten bezeugt sind. Die Frömmigkeitslandschaft Nordwestdeutschlands war im fünfzehnten Jahrhundert generell durch die Devotio moderna stark geprägt34 und der Augustinerorden in besonderer Weise, da viele seiner Klöster sich der von Geert Grootes Nachfolgern gegründeten Windesheimer Kongregation anschlossen.35 Die uns vor allem interessierenden Handschriften, Ms. germ. oct. 451 und Ms. germ. oct. 499, enthalten Texte aus Geert Grootes Getijdenboek, wobei zwei Unterschiede zum Standartstundenbuch der Devotio moderna auffallen: Der lockere Aufbau, die große Vielfalt an nichtliturgischen Andachtstexten (Gebete, Rosenkränze etc.) sowie die viel stärker ausgeprägte marianische Thematik. Der – im Vergleich zum Getijdenboek – ‚privatere‘ Charakter der Handschriften könnte wohl die intensivierte Hinwendung an die Gottesmutter erklären. Auf jeden Fall zeigt sich der Einfluss der Devotio moderna in der Wahl der Sequenz von Adam von St. Viktor als Kern der ‚Goldenen Tagzeiten‘. Wie viele Theologen des späten vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts sich von den geistlichen Schriften des zwölften Jahrhunderts inspirieren ließen oder das Spätmittelalter mit dem zwölften Jahrhundert generell „an affinity of religious temperament“36 aufwies, so wurde auch die Devotio moderna von der introversiven Mystik der Schule der Viktoriner beeinflusst. Die Transformationen, vor allem auf der strukturellen Ebene,

33 Vgl. Achten, Knaus Nr. 23 (S. 102), 51 (S. 207), 61 (S. 244), 65 (S. 263), 100 (S. 318); Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7010 (Wallraf), 57; Best. 7008, 153. 34 Vgl. Costard, S. 2–4. 35 Vgl. Heim, S. 61 f. 36 Constable: Twelfth-Century Spirituality, S. 31 f.  



180

Pavlina Kulagina

welche die niederrheinische Bearbeitung mit dem lateinischen Original durchführt, werden im Folgenden näher betrachtet. Die wohl signifikanteste Modifikation der Sequenz besteht in der Umsetzung von Versen in Prosa, was den Übergang von der gesungenen Liturgie in den Bereich des privaten Lesens markiert. Vor allem bei den Tagzeiten-Übersetzungen, die in den Kreisen der Devotio moderna entstanden sind, gab es davon kaum Ausnahmen. Weitere auffällige Veränderungen betreffen die Komposition des Textes. Aus der 24-strophigen Sequenz von Adam von St. Viktor werden nur zwölf Strophen übersetzt. Diese werden gepaart auf die einzelnen Horen verteilt und jeweils als Hymnen bezeichnet. Die ursprüngliche Reihenfolge der Strophen wird dabei komplett durcheinandergebracht und die Neuanordnung entbehrt auf den ersten Blick jeder kompositorischen Logik. Außerdem werden in den beiden Handschriften zu einigen Horen (zur Sext und Vesper in Ms. germ. oct. 451 sowie zur Vesper in Ms. germ. oct. 499) unterschiedliche Textstücke aus anderen Quellen – allerdings von passender marianischer Thematik – eingesetzt und auch als Hymnen betitelt. Wegen dieser Einschübe werden nur den ersten drei Horen die gleichen Strophen zugeordnet, danach ‚desynchronisieren‘ sich die Tagzeiten. Die Identifikation der zusätzlichen Textstücke war nur zum Teil erfolgreich. Zu den zwei gebetsartigen ‚fremden‘ Texten in Ms. germ. oct. 451 wurden bisher keine lateinischen Vorlagen gefunden. Man könnte jedoch von ihrer Existenz zumindest für den Hymnus zur Vesper ausgehen, da die Dichte von Latinismen dort auffällig hoch ist (penetencie, columba, precioesen) – obwohl das auch ein Ergebnis der Stilisierung sein könnte, im Versuch, dem Gebet durch Splitter der Sakralsprache mehr Gewicht zu verleihen. In Ms. germ. oct. 499 konnte der Einschub als die fünfte und sechste Strophe der Sequenz Mariae praeconio serviat cum gaudio37 bestimmt werden, auf deren Beliebtheit im niederländischen Bereich unter anderem die Kontrafaktur von Hadewijch verweist (Lied Nr. 45).38 Unten werden die Transkriptionen der Hymnen parallel mit ihren lateinischen Vorlagen (wenn vorhanden) tabellarisch dargestellt. Alle Textteile, die nicht unmittelbar zu der Übersetzung von Salve mater salvatoris gehören (Einschübe, Überschriften der Tagzeiten und Horen, doxologische Schlussstrophen) werden kursiv gesetzt. Der vollständige Text der Sequenz Salve mater salvatoris nach der Fassung der Analecta hymnica (Bd. 54, Nr. 249) findet sich in der Anlage 1 und die Transkription der Hymnen aus Ms. germ. oct. 585 in der Anlage 2.

37 Chevalier, Nr. 11162. 38 Vgl. Hadewijch, S. 410.

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

181

Lateinische Vorlagen

Ms. germ. oct. 451 Ms. germ. oct. 499 Dit synt seuen ynnige getzyde va(n) Diß synt die gulde(n) vnser lieuer vrawen Ind sent gregorius getitger der moder got(s) hait gemacht zo ere der glorioser ionffrauwen marien Ind synt genoymet van werdicheit de gulden getzyde

AH 54:245, Str. I–II

Tzo metten tzÿt we sy geboren wart van – irre moder

Salve, mater salvatoris, Gegroit systu moder vns behelders eyn Gegrußet sistu moder vnße Vas electum, vas honoris, vsserweilt vas der eren ind der behelders eyn ußerwelt Vas caelestis gratiae, hemelscher gracie(n) faß der eren vnd der hemelscher genaden Ab aeterno vas provisum, Ey(n) vas van ewicheiden vurseyn ein Vas insigne, vas excisum edel vas vsgesneden van der hant der Eyn vorsien faß van Manu sapientiae. wÿsheit ewicheit Eyn edel faß uß geschneden van der wisheit hant O jonffrauwe maria moder des here(n) beschrift vnße namen zo dyme heilige(n) namen in das buch des lebes pry(m)

AH 54:245, Str. XIX–XX

We der engel gabriel marien de engelsche groisse brachte ind (christus) intfeynck Die pryme

Salve, mater pietatis Et totius trinitatis Nobile triclinium,

Gegroit sistu moder der myldicheit eyn Got groiß dich moder der edel cenakel der hilger dryueldicheit myldicheit vnd eyne edel schatz kamer alle der Du bys eyne moder des vngeschaffen heiliger drifeldicheit wordes bereidende eyne sonderlynge herbryge der ouerster geweldicheit Bereiden eyne sunderliche herbirg der almechticheit des in gefleischte(n) wortes

Verbi tamen incarnate Speciale maiestati Praeparans hospitium.

Loff sy dir edel reyne jonffrauwe maria AH 54:245, Str. IX–X

We die ionffrauwe maria den son gotz gebeirde der werelt: Die tercie

tercie

Tu convallis humilis, Terra non arabilis, Quae fructum parturiit;

Gegroit sistu oitmoedige dal vngeert lant wilch lant de selige geiste durch louffent mit hilger vrucht

Got groiß dich oitmoidiger dail eyn vnbeschmyzte erde die da frocht hait gebert

182

Pavlina Kulagina

O blome des veldes (Christus) hait vs Eyne blome des feldes vnd Flos campi, convallium Singulare lilium, Christus, dir vortgebracht ey(n) sonderlynge lÿlie eyne lilie der dail (Christus) ist uß dir fort der dale ex te prodiit. gegangen –

We de hilge drykonynge vnsem heren – iren offer brachten ind in anbeden: Die sexte



Gegroit sijstu sterne der ionfferschaff – eyn wech des leuens eyn lycht des schyns eyne wailruchende salue daruende der yamerheit des meers O ionffrauwe du wurdes alleyne swanger sonder sae(n) des mans O sonderlynge ionffer die ouermitz de conynge wurdes geeirt O clair sterne du bys clair vpgega(n)gen want du wurdes geboren van de(m) vry edelen gebloede der conynge

AH 54:245, Str. VII–VIII

We maria (Ihesum) in den tempel droich sexte ind in offerde: Die none

Salve, decus virginum, Mediatrix hominum, Salutis puerpera,

Gegroit systu tzierde der ionffrauwen eyne myddelery(n)eine der mynschen kyntbeiryge ionffrauwe der selicheit

Myrtus temperantiae, Rosa patientiae, Nardus odorifera.

Du bys eyne duycht der bescheydenheit eyne roese der kuyscheit eyne Eyn edel baum der wailruchende salue messicheit Eyne roß der meldicheit vnd geduldicheit Eyne woil riechende salbe



Van der glorioser hemelvart vns heren – De vesper



O maria mylde moder eyn schois der – die penetencie doynt eyne hulpe der crancker eyne columba der starckheit ene voedersse der hillicheit O goederteiren ionffer alles loeues werdich eyn volle vroude der verblydender eyn troist der schryender eyn artzedie der gesontheit eyne sicherheit der vryheit Gegroit systu suuerliche blynckende morgen roede raynachtige wulck hemelsch dau mach sois dat hertze mit dynre soissicheit

Got groiß dich zierliheit der jonffrauwen myttelery (n)nen der menschen moder des heils

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

183

Gegroit systu genadenriche ionffer erwerff vns genade mit dyme precioesen gebede bidde dynen son vur vns ind stant vns by in der vren vns doitz AH 54:245, Str. XXI–XXII

Van der glorioser hemelvart marien der hemelscher conynckynnen De completen

none

O Maria, stella maris, Dignitate singularis, Super omnes ordinaris Ordines caelestium.

Maria sterne des meers O sunderlynge ionffer myt werdicheit geordeneirt bouen alle orde(n) der hemelscher geiste

Maria sterne des mers myt sunderlicher werdicheit woirdestu geordenert ober alle ordenunge

In supremo sita poli, Nos commenda tuae proli, Ne terrors sive doli Nos supplantens hostium.

O maria in de(m) lesten auent des vsganges vnser selen beuele vns dyme kynde vp dat neit de erschrecklicheit noch die valsche droegen der vyande vns neit en vndertreden

Sizen in dem hoiste(n) throne befele vns dyme kynde das vns die eißlicheit der betriegender werelt nyt in verleide

AH 54:249, Str. V–VI



fesper

Ave, manans satie, Fons – misericordiae, Vera mentis sauciae Medicina; Tu pincerna veniae, Tu lucerna gratiae, Tu superna gloriae Es regina.

Got groiß dich floß der threne der stedicheit fonteyne der barmhertzicheit du bist eyne wairheftige ertzedie dem gedanck der selen Wyn schenckersche(n) der barmhertzicheit du bist eyne lantern der genedicheit vnd eyne konyneky(n)nen der hemelen

AH 54:245, Str. III(?), XIV



Salve, verbi sacra parens, – Flos de spina, spina carens Flos, spineti gloria; Ebur candens castitatis, Aurum fulvum caritatis Praesignant mysteria.

complet O maria moder des ewigen konyncks eyne blome van dem dorne die keyne doirne in hait an ir Eyne ere vnd eyne blome der sunder vnd eyne wiß helffen beyne der reynicheit wnd lutter gult der myldicheit

184

Pavlina Kulagina

Doxologische Schlussstrophe O maria moder O ionffrauwe durch dynen son durch den vader ind durch den hilgen geist stant vns by in der vren vns doitz ind vestige vnsen vsganck O mylde (Jhesu) dyne passie mois vns intbynden van de(me) bande vnser sunden ind mois vns geuen eyn puyr leuen ind mois vns tzo hulpen comen in vnsem lesten ende

Loff sy dir gude (Jhesu) vnd dyner soisser moder marien vns sy zo samen freude in ewicheit Amen (Außer Komplet)

(Außer Vesper und Komplet)

Die Tagzeiten-Paratexte, die in Ms. germ. oct. 451 besonders ausführlich sind, bestimmen die Wahrnehmung der Sequenzbearbeitung in vielerlei Hinsicht. Die Bezeichnung ‚Goldene Tagzeiten‘ spiegelt neben ihrer Schönheit und werdicheit auch „the view of a Marian chant as a treasured possession“39 wider. Dabei kann diese Aussage nicht nur im metaphorischen – als geistiger Schatz –, sondern auch im weitgehend materiellen Sinn verstanden werden, wenn man an die in der Regel prachtvoll verzierten Stundenbücher denkt, die von ihren stolzen Besitzern als Privatschatz angesehen wurden und oft als Statusobjekt fungierten.40 Die Zuschreibung der Tagzeiten an sent gregorius (vgl. in Ms. germ. oct. 585 – heift sancte gregorius der heilige pais gemaict) mag nicht verwundern. Die Praxis, mit einer kirchlichen Autorität den heilbringenden Effekt des Textes zu untermauern, war bei Andachtsbüchern durchaus üblich.41 Außerdem kann man spekulieren, dass der Name von Gregor dem Großen gerade für eine Tagzeiten-Überschrift wegen der zeitgenössischen Beliebtheit der Gregorsmessen-Ikonographie besonders passend war. Die Darstellung von Gregor dem Großen, dem während der Messe der Schmerzensmann und die Leidenswerkzeuge erschienen sein sollen, war ab dem fünfzehnten Jahrhundert nördlich der Alpen weit verbreitet,42 unter anderem als eine der Tagzeiten eröffnende Abbildung in Stundenbüchern. Die Assoziation mit dem Namen des Papstes verwies den Gläubigen auf seine eigene Situation, in der

39 Page, S. 168. 40 Vgl. Poos, S. 34. 41 Nur einige Beispiele von den unzähligen Zuschreibungen der Gebete an Gregorius Magnus: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4701, Bl. 151v; Ebstorf, Klosterbibliothek, Ms. IV 15, Bl. 84r; Hildesheim, Stadtarchiv, Best. 52 Nr. 373, Bl. 58r; Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB II 28, Bl. 8v. 42 Einen umfassenden Überblick bietet Meier.

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

185

er durch das regelmäßige Lesen paraliturgischer Texte die unmittelbare Präsenz Gottes zu erfahren strebte, und verstärkte auf diese Weise seine Erlösungshoffnungen. Um die Vermittlung der göttlichen Präsenz kümmert sich auch die Zuordnung der Hymnentexte zu Lebensstationen Mariens. In Ms. germ. oct. 451 wird das durch die Überschriften der einzelnen Horen umgesetzt. In Ms. germ. oct. 499 fehlen solche Angaben, allerdings könnte man vermuten, dass der mittelalterliche Rezipient die Horen auch ohne die Hilfe der Paratexte auf die Ereignisse aus der Biographie der Gottesmutter deuten würde. Eine solche Erinnerungspraxis war vor allem auf Stationen der Passion Christi bezogen, aber auch für das Marienleben üblich und hatte zum Ziel, die Andacht in eine Gleichzeitigkeit mit dem Heilsgeschehen zu bringen.43 Die Implikation der Überschriften, die Hymnen erläutern das dort vorgegebene Thema, erscheint zuerst problematisch, da die lateinische Sequenz in ihrer ursprünglichen Form keine Narration aufweist. Allerdings lässt sich durch die Auswahl und Umstellung der Strophen in der Tagzeiten-Bearbeitung tatsächlich eine gewisse Kongruenz zwischen zumindest einigen angekündigten Themen und den Hymnentexten erkennen. Maria wird von der Hand der Weisheit geschaffen (Matutin, Mariä Geburt); (von Gabriel) als Mutter, die dem Logos eine Herberge vorbereitet, begrüßt (Prim, Verkündigung); mit einer Reihe von Fruchtbarkeitsmetaphern als Gebärerin Christi gepriesen (Terz, Weihnachten); letztlich, als mächtige Himmelskönigin um Fürsprache bei ihrem Sohn gebeten (Himmelfahrt). Dieser Logik folgend, könnte man im Falle von Ms. germ. oct. 451 auch das Einschieben eines fremden Textfragments zur Sext mit demselben Wunsch erklären, die Hymnen an die Erzählung des Evangeliums anzubinden. Jedenfalls deuten die wiederholte Anrede Marias als (wegführender) Stern sowie die Aussage über ihre hohe Stellung unter den Königen das Thema der Horen – Anbetung der Könige – an. Neben dem Aufbau der Tagzeiten nach der Reihenfolge heilsgeschichtlicher Ereignisse bieten sich zwei weitere Anmerkungen zu den möglichen Motiven für die Strophenumstellung an. Erstens kann die Verschiebung der 19. und 20. Strophe zur Prim mit der großen glaubensgeschichtlichen Relevanz dieses Textabschnitts erklärt werden. Seine Beliebtheit bezeugt die Tatsache, dass Salve mater pietatis et totius Trinitatis auch als ein separater Text existierte.44 Die Bezeichnung Marias als Triclinium Trinitatis entstammt dem Johannesevangelium und war im Mittelalter als Thema der geistlichen Literatur ziemlich verbreitet; un-

43 Zum Aufbau der einzeln überlieferten Tagzeiten von den Marienfesten vgl. Matter: Die Tagzeiten, S. 52. 44 Chevalier, Nr. 18039.

186

Pavlina Kulagina

ter anderem schrieben darüber Hugo von St. Viktor, der mit Adam von St. Viktor wohl in Kontakt stand, und Jean Gerson, der die Sequenz in seiner Predigt erwähnte.45 Für einen einfachen Gläubigen war der Topos allerdings eher durch volkssprachliche Dichtung sowie vor allem durch sein Pendant in der bildenden Kunst bekannt: durch die sogenannten Schreinmadonnen, oder vierges ouvrantes. Bezeugt seit ca. 1200, stellen diese Figuren, wenn geschlossen, Madonna lactans dar und, wenn geöffnet, die Trinität in der Mitte sowie (in der Regel) Maria anbetende Gläubige an den Flügeln.46 Man könnte sich auf jeden Fall vorstellen, dass die Bekanntheit dieser Metapher dazu beitrug, dass die Zeilen über den cenakel (oder schatz kamer) der hilger dryueldicheit an den Anfang der Tagzeiten gerückt wurden. Etwas weniger einleuchtend ist die Wahl der Strophen III und XIV in Ms. germ. oct. 499 (Strophen XI und XIV in Ms. germ. oct. 585) für den Hymnus zur Komplet. Im Gegensatz zu den Strophen XXI und XXII, welche die Tagzeiten in Ms. germ. oct. 451 mit einer effektvollen Lob- und Bittpassage abschließen, scheinen die aus den Aufzählungen von Mariensymbolen zusammengesetzten Verse wenig Potenzial für ein überzeugendes Finale zu haben. Allerdings wird die kompositorische Absicht erkennbar, wenn man sich an den Titel der Tagzeiten erinnert: lutter guld der myldicheit rundet den Text mit dieser Referenz ab und stellt ihn als ein einheitliches Kunstwerk dar. Kein Zufall ist außerdem, dass der letzte Hymnus der Tagzeiten auf myldicheit endet: Für den nach Rettung strebenden Gläubigen war das wohl die wichtigste Qualität Mariens, auf die alle seinen Hoffnungen gerichtet waren. Im Einklang damit steht die in ihrer volksetymologischen Form verwendete Übersetzung von ebur: hellfen beyne. Obwohl Elefanten wegen der Ähnlichkeit des Wortes mit dem verständlicheren helper generell oft als solche bezeichnet wurden,47 scheint es im Kontext der Verehrung der Gottesmutter als Vermittlerin besonders signifikant zu sein. Der an Maria adressierte Komplet-Hymnus in Ms. germ. oct. 499 und Ms. germ. oct. 585 enthält also keine direkte Bitte, wie in Ms. germ. oct. 451, verfolgt aber dasselbe Ziel mit anderen rhetorischen Mitteln: Erinnerung Mariens an ihre Rolle als barmherzige Fürbitterin. Außer der Strophenumstellung fällt eine weitere strukturelle Transformation der Sequenz auf, die Texterweiterung (insofern man die acht Tagzeiten-Hymnen als eine textuelle Einheit betrachtet) durch Einschübe, die als separate Hymnen fungieren, sowie durch Ergänzungen der Hymnen mit Doxologien. Dies lässt sich wohl auch mit der Gattungspragmatik erklären. Während die Strophen aus der

45 Vgl. Hallebeeck, S. 364. 46 Dazu Katz, S. 194. 47 Vgl. Lexer, Sp. 1231.

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

187

Sequenz von Adam von St. Viktor Maria vor allem bezogen auf das Wunder der jungfraulichen Geburt Christi lobpreisen, sind die inkorporierten Textstücke überwiegend (außer dem Hymnus zur Sext in Ms. germ. oct. 451) an ihrer Funktion als Menschenschützerin ausgerichtet. Dabei fügen sich die Einschübe zur Vesper in den beiden Versionen der Tagzeiten organisch in den Text ein. Dort, ähnlich wie in den Hymnen aus Salve mater salvatoris, basiert der Gruß an die Gottesmutter auf parallel aufgebauten Aufzählungen von marianischen Metaphern. In den Sequenzstrophen deuten sie auf ihre Reinheit und Fruchtbarkeit und stammen zum größten Teil aus dem Hohelied (oitmoedige dal, vngeert lant, duycht der bescheydenheit, roese der kuyscheit, eyne blome van dem dorne die keyne doirne in hait an ir). In den Vesper-Hymnen beschreiben die Metaphern Marias Barmherzigkeit sowie ihre rettende und tröstende Macht, allerdings wird dabei auch sporadisch Hohelied-Wortschatz verwendet (columba der starckheit, fonteyne der barmhertzicheit). Die Vermittlerrolle Mariens wird auch in den ausführlichen (in Ms. germ oct. 451 fast vom gleichen Umfang wie die Hymnen selbst) Doxologien betont, obwohl sie sich hauptsächlich an Christus wenden, der ja die endgültige Entscheidung beim Jüngsten Gericht fällen soll. Wenn man neben allen diesen Ergänzungen die Tatsache berücksichtigt, dass die für die Tagzeiten gewählten Sequenzstrophen an sich nur einen Bruchteil der ausführlichen marianischen Preisung Adams von St. Viktor darstellen, aus dem die meisten vom Hohelied inspirierten Strophen mit Reihen alttestamentlicher Metaphern weggelassen wurden, wird die Verschärfung des pragmatischen Fokus auf die Bitte hin besonders deutlich. Es bietet sich an, die niederrheinische Bearbeitung der Sequenz Adams von St. Viktor im Rahmen der ‚Goldenen Tagzeiten‘ weiter zu erforschen: sowohl die Übersetzung mit dem lateinischen Original auf syntaktischer und lexikalischer Ebene zu vergleichen, als auch aufgrund der handschriftlichen Befunde die Überlieferungsgeschichte zu verfolgen. Allerdings zeigt schon ein flüchtiger Blick, welchen vielfältigen Transformationen der Text unterzogen wird. Die Lesererwartungen werden durch die ausführliche Überschrift mit der Autorenzuschreibung an Gregor den Großen gelenkt, die den Text als ein besonders wertvolles Heilsmittel bewirbt. Die Strophenzahl wird reduziert und die Strophen werden als einzelne Hymnen auf acht Horen verteilt, welche mit Lebensstationen Marias assoziiert werden. Durch eine dramatische Strophenumstellung wird der ursprüngliche Text komplett umgestaltet. Außerdem werden zwischen den Hymnen, die aus Salve mater salvatoris stammen, Hymnen anderer Provenienz geschoben und die Sequenzabschnitte zusätzlich mit doxologischen Schlussstrophen ergänzt. Als Ergebnis werden einerseits die heilsgeschichtlichen Ereignisse im Alltag des Lesenden vergegenwärtigt; andererseits wird Marias Rolle als Menschenschützerin und Vermittlerin betont und Bittpassagen neben den Lobpassagen akzentuiert. Die Trans-

188

Pavlina Kulagina

formationen der Sequenz tragen also nicht nur zu ihrer formellen Anpassung an die paraliturgische Textsorte bei, sondern auch dazu, dass die volkssprachliche Bearbeitung die pragmatischen Anforderungen des Stundengebets erfüllt.

3. Fazit Die vielschichtigen Modifikationen der Sequenz von Adam von St. Viktor innerhalb der ‚Goldenen Tagzeiten‘ sind ein prägnantes Beispiel dafür, was für eine bedeutende Arbeit die Devotio moderna leistete, um lateinische liturgische Texte den Laien und lateinunkundigen Gläubigen generell zugänglich zu machen. Die Sequenz wird nicht bloß in die Volkssprache übersetzt. Die umfangreiche, komplexe Dichtung wird verkürzt und vereinfacht widergegeben. Die Form der Tagzeiten erlaubt es, die Sequenz ‚dosiert‘ in übersichtlichen Abschnitten einzuführen, und außerdem, metaphorische Bilder durch die Assoziierung der Horen mit der Abfolge der heilsgeschichtlichen Ereignisse in narrative Bilder umzuwandeln. Solche strukturellen Entwicklungen waren für Andachtsliteratur generell symptomatisch und könnten, James H. Marrow zufolge, mit dem andauernden Prozess des sozialen und historischen Wandels im religiösen Leben des Spätmittelalters und insbesondere mit der Anpassung der Spiritualität an den Geschmack und Charakter der immer weniger anspruchsvollen und gebildeten Leserschaft erklärt werden.48 Allerdings sorgen die Veränderungen nicht nur für die bessere Nachvollzierbarkeit der Übertragung. Ein Stundengebet sollte dem persönlichen geistlichen Nutzen dienen und die ‚Goldenen Tagzeiten‘ versuchen dementsprechend den offiziellen liturgischen Text in mehreren Schritten ‚andächtig‘ zu machen. Dies leisten einerseits die Präsenzillusion der Heilsgeschichte, andererseits zahlreiche gebetsartige Ergänzungen, Doxologien und exaltierte Bittaufrufe. Auch ändert sich das Bild der Gottesmutter, was mit dem Übergang aus der Liturgie in den paraliturgischen Bereich, aber auch mit den allgemeinen religionsgeschichtlichen Entwicklungen zu tun hat. Die lateinische Sequenz zeigt zwar eine von der Frömmigkeit des zwölften Jahrhunderts bereits beeinträchtigte, aber noch ziemlich traditionelle Gestalt: Maria, die in vollem Glanz ihrer heilbringenden Körperlichkeit erscheint und als die neben ihrem Sohn thronende Königin um Schutz vor dem Feind gebeten wird. In der späten niederrheinischen Bearbeitung wird eine viel dynamischere und zur Menschheit viel nähere Figur dargestellt, die an ihre Reali-

48 Vgl. Marrow, S. 192 f.  

Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

189

tät im Evangelium gebunden ist, und deren Funktion einer Helferin, Trösterin und Heilerin ihre volle Wirkungskraft entfaltet; dementsprechend wird sie dort auch direkt und eifrig angefleht. So bieten die ‚Goldenen Tagzeiten‘ dem armen Sünder nicht nur eine Hoffnung darauf, dass ihm nach seinem lesten ende Marias Fürsprache geleistet wird, sondern auch ein wirksames Mittel, von der Gottesmutter erhört zu werden und diese rettende Fürsprache abzusichern.

4. Literaturverzeichnis Achten, Gerard, Herrmann Knaus: Deutsche und niederländische Gebetbuchhandschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt. Darmstadt 1959 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt 1). AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Astell, Ann W.: The Song of Songs in the Middle Ages. Ithaca, London 1990. Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch. Hg. von Gerhard B. Winkler. 10 Bde. Innsbruck 1994–1999. Brown, Peter: The Notion of Virginity in the Early Church. In: Christian Spirituality. Origins to the Twelfth Century. Hg. von Bernard McGinn, John Meyendorff. London 1987, S. 427–443. de Bruin, Cebus C.: Groote, Geert. In: 2VL 3 (1981), Sp. 263–272. Chevalier, Ulysse: Repertorium hymnologicum. Catalogues de chants, hymnes, proses, sequences, tropes en usage de l’église latines depuis l’origins jusqu’a nos jours. 2 Bde. Louvain 1892–1897. Constable, Giles: Opposition to Pilgrimage. In: Religious Life and Thought (11th–12th Centuries). London 1979, S. 126–146. Constable, Giles: Twelfth-Century Spirituality and the Late Middle Ages. In: Religious Life and Thought (11th–12th Centuries). London 1979, S. 27–60. Costard, Monica: Spätmittelalterliche Frauenfrömmigkeit am Niederrhein. Geschichte, Spiritualität und Handschriften der Schwesternhäuser in Geldern und Sonsbeck. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 62). Cousins, Ewert: The Humanity and the Passion of Christ. In: Christian Spirituality. High Middle Ages and Reformation. Hg. von Jill Raitt. London 1987, S. 375–391. Delius, Walter: Geschichte der Marienverehrung. München 1963. Desplenter, Youri: The Latin Liturgical Song Subtitled. Middle Dutch Translations of Hymns and Sequences. In: Church History and Religious Culture 99.3 (2008), S. 395–413. Fulton, Rachel: From Judgement to Passion. Devotion to Christ and the Virgin Mary, 800–1200. New York 2002. Fulton, Rachel: Mimetic Devotion, Marian Exegesis, and the Historical Sense of the Song of Songs. In: Viator. Medieval and Renaissance Studies 27 (1996), S. 85–116. Johnson, Elisabeth A.: Marian Devotion in the Western Church. In: Christian Spirituality. High Middle Ages and Reformation. Hg. von Jill Raitt. London 1987, S. 392–414. Hadewijch: Lieder. Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien. Hg. von Veerle Fraeters, Frank Willaert, Louis Peter Grijp. Berlin, New York 2016.

190

Pavlina Kulagina

Hallebeeck, Jan: Papal Prohibitions Midway Between Rigor and Laxity. On the Issue of Depicting the Holy Trinity. In: Iconoclasm and Iconoclash. Struggle for Religious Identity. Hg. von Willem van Asselt u. a. Leiden, Boston 2007, S. 353–383. Heim, Manfred: Augustiner-Chorherren. In: Mönchtum, Orden, Klöster. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Lexikon. München 1993, S. 59–66. Hinz, Ulrich: Die Brüder vom Gemeinsamen Leben im Jahrhundert der Reformation. Das Münstersche Kolloquium. Tübingen 1997 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 9). Katz, Melissa R.: Behind Closed Doors. Distributed Bodies, Hidden Interiors, and Corporeal Erasure in Vierge ouvrante Sculpture. In: Res. Anthropology and Aesthetics 55/56 (2009), S. 194–221. Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen. 3. Auflage. Frankfurt a. M. 2000. Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. 2. Auflage. Stuttgart 1992. Marrow, James H.: Passion Iconography in Northern European Art of the Late Middle Ages and Early Renaissance. Kortrijk 1979. Matter, Stefan: Die Tagzeiten von den Marienfesten in Cgm 4697. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, New York 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 47–64. Matter, Stefan: Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht. Zu Formen des Laienstundengebetes im deutschsprachigen Mittelalter. In: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIII. Anglo-German Colloquium, Nottingham 2013. Hg. von Henrike Lähnemann, Nicola McLelland, Nina Miedema. Tübingen 2013, S. 171–184. Meier, Esther: Die Gregorsmesse: Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus. Köln 2006. Ochsenbein, Peter: Stundenbücher. In: 2VL 9 (1995), Sp. 468–472. Page, Christopher: The Owl and the Nightingale. Musical Life and Ideas in France 1100–1300. Berkley 1990. Palmer, Nigel F.: Tagzeitengedichte. In: 2VL 9 (1995), Sp. 577–588. Poos, Lawrence R.: Social History and the Book of Hours. In: Time Sanctified. The Book of Hours in Medieval Art and Life. Hg. von Roger S. Wieck. New York 1988, S. 33–38. Riley-Smith, Jonathan: The First Crusade and the Idea of Crusading. 4. Auflage. London, New York 2003. Scheffczyk, Leo: Theotokos. In: Marienlexikon. Bd. 6. Regensburg 1994, S. 390 f. Schreiner, Klaus: Maria: Jungfrau, Mutter, Herrscherin. Tübingen 1996. Söll, Georg: Maria in der Geschichte von Theologie und Frömmigkeit. In: Handbuch der Marienkunde. Hg. von Wolfgang Beinert, Heinrich Petri. Regensburg 1984, S. 93–232. Staubach, Nikolaus: Bücherkult und Bücherskepsis – das Janusgesicht der Devotio moderna. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 418–461. Wieck, Roger S.: Introduction. In: Time Sanctified. The Book of Hours in Medieval Art and Life. Hg. von Roger S. Wieck. New York 1988, S. 27–32.  





Die Sequenz Salve mater salvatoris von Adam von St. Viktor

5. Anhang 5.1. Salve mater Salvatoris De Beata Maria V. 1. Salve Mater Salvatoris, Vas electum, vas honoris, Vas caelestis gratiae,

2. Ab aeterno vas provisum, Vas insigne, vas excisum Manu sapientiae.

3. Salve, verbi sacra parens, Flos de spinis, spina carens, Flos, spineti gloria;

4. Nos spinetum, nos peccati Spina sumus cruentati, Sed tu spinae nescia.

5. Porta clausa, fons hortorum, Cella custos unguentorum, Cella pigmentaria;

6. Cinnamomi calamum, Myrrham, tus et balsamum Superas fragrantia.

7. Salve, decus virginum, Mediatrix hominum, Salutis puerpera,

8. Myrtus temperantiae, Rosa patientiae, Nardus odorifera.

9. Tu convallis humilis, Terra non arabilis, Quae fructum parturiit;

10. Flos campi, convallium Singulare lilium, Christus ex te prodiit.

11. Tu coelestis paradisus Libanusque non incisus, Vaporans dulcedinum;

12. Tu candoris et decoris, Tu dulcoris et odoris Habes plenitudinem.

13. Tu thronus es Salomonis, Cui nullus par in thronis Arte vel materia;

14. Ebur candens castitatis, Aurum fulvum charitatis Praesignant mysteria.

15. Palmam praefers singularem Nec in terris habes parem Nec in coeli curia;

16. Laus humani generis, Virtutum prae caeteris Habes privilegia.

17. Sol luna lucidior, Et luna sideribus; Sic Maria dignior Creaturis omnibus.

18. Lux eclypsim nesciens Virginis est castitas, Ardor indeficiens Immortalis charitas.

19. Salve, mater pietatis Et totius trinitatis Nobile triclinium,

20. Verbi tamen incarnati Speciale majestati Praeparans hospitium.

21. O Maria stella maris, Dignitate singularis, Super omnes ordinaris Ordines coelestium;

22. In supremo sita poli, Nos commenda tuae proli, Ne terrores sive doli Nos supplantent hostium.

191

192

Pavlina Kulagina

23. In procinctu constituti Te tuente simus tuti. Pervicacis et versuti Tuae cedat vis virtuti, Dolus providentiae.

24. Jesu, verbum summi Patris: Serva servos tuae matris. Solve reos, salva gratis Et nos tuae claritatis Configura gloriae.

5.2. Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. oct. 585, die ‚Goldenen Tagzeiten‘ (13r) Dese naeuolgende getyden heift sancte gregorius der heilige pais gemaict van vnser lieuer vrouwen ind is van werdicheit geheiten dye gulden getyden (13r-v) [die metten] Got gruessen dich moder des behalders wtuercoren vat der eeren Eyn vat der hemelscher genaden vur sien in der ewicheit Eyn edel vat wtgehauen myt der hant des meist(er)s der ewigen wysheit (15v) [Toe prymen tyt] Got gruesse dich moder der myldicheit en(de) edel huis der ganser driuoldicheit Eyn sonderlinge werdige herbrige des soens gads (16v) [Tertien tyt] Got gruete dich vol oitmoedich(eit) en(de) fruchtbair erde die droeges die vrucht des leuens Die bloeme des veldes die lilie des daels xpus sonder smette (3) is wt dy gebaren (18r) [Sexte(n) tyt] Got grueten dich tzierheit der io(n)cferen myddelersche der lude end bereiderse der salicheit Gagel cruyt der mynschen lychte rose der reynicheit end waelrukende narde (19r) [Nonen] O sterne des mers du byst sonderlingen werdich Du byst onck geordeniert bouen des hemels orde(n) en(de) bouen des hemels hoichde byst du gesat Beuele ons huden dinen kinde op dat die veruernisse onser vianden ons nz en ondertrede (20r-v) [Vesper tyt] Got gruet dich vleit der stedichen fonteyne der barmhertichen du bist eyn waerachtige artzedie den gedancken der sielen Eyn schinckinge der barmherticheit du byst eyn lanterne der genedicheit en(de) konyncgy(n)ne der glorien (22r) [Complete] Got gruet dich paradys des hemels ongesueden lybaens mer nochtant wt gunstu sueticheit Wyt elpenbeyn der reynicheit lutter golt myldicheit En clair schyn der heymlich(eit) Doxologische Schlussstrophe: Loff sy dy guede ihu en(de) maria dinre sueter moder Jnd vns moet syn toe samen vroude in ewich(eit) A(men)

David Murray

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder Das Fallbeispiel der Mariensequenz Salve mater salvatoris

1. Lieder übersetzen Die Lieder des Mönchs von Salzburg sind zugleich Meilensteine der spätmittelalterlichen Literaturgeschichte wie auch der Musikgeschichte.1 Sie sind jedoch mit wenigen Ausnahmen nur aus der Sicht der Literatur- bzw. Musikwissenschaft studiert worden.2 Die geistlichen und weltlichen Teile des Mönchs-Korpus werden in der Forschung ebenfalls mehr oder weniger strikt auseinandergehalten und mögliche Schnittstellen der beiden disziplinär definierten Teile wie etwa die Kontrafaktur sind noch nicht ausgewertet.3 Die Forschung hat sich eher anderen Aspekten der musikalischen Praxis des Mönchs gewidmet. So sind etwa die im Spätmittelalter ansonsten unbekannten Andeutungen über mögliche Aufführungsweisen und -situationen, die die handschriftliche Überlieferung der Lieder bietet, mit Recht hochgeschätzt worden. Das hat zur Folge, dass die weltlichen Lieder des Korpus vorgezogen und die geistlichen Lieder vornehmlich aus textkritischer und literarischer Perspektive betrachtet wurden.4 Diese Forschungslage hat zu einem gewissen Grad damit zu tun, dass eine ausführliche kritische Text-

1 Siehe grundsätzlich Wachinger: Der Mönch von Salzburg. 2 Zu nennen sind hier beispielsweise die Studien von März und Wachinger (von Wachinger insbesondere: Textgattungen). 3 So bestehen nämlich vielversprechende Möglichkeiten zur Untersuchung der Kontrafaktur unter den geistlichen Liedern des Mönchs, wo anscheinend Töne Gottfrieds von Neiffen und Werners von Hohenberg mit marianischer Lyrik textiert worden sind. Vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung, S. 127 f. sowie Kornrumpf, S. 18 f. 4 Etwa Wachinger: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung.  



Anmerkung: Dieser Beitrag entstand im Kontext des ERC-Projekts ‚Music and Late Medieval European Court Cultures‘ an der Universität Oxford. Das Projekt wird von dem ERC im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogrammes ‚Horizont 2020‘ gefördert (Finanzhilfevereinbarung Nr. 669190). Der Herausgeberschaft und Christian Thomas Leitmeir möchte ich für ihre freundlichen Anregungen und sprachlichen Hinweise danken. Dr. David Murray, University of Oxford, Faculty of Music.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-008

194

David Murray

und Musikausgabe auf dem Niveau der von Christoph März vorgelegten Ausgabe der weltlichen Lieder ein Desiderat bleibt. Aus diesen Gründen ist der Rolle der Musik in der Konzeptualisierung und Komposition der geistlichen Lieder wie auch deren Anknüpfung an das musikalische Leben des erzbischöflichen Hofes in Salzburg noch wenig Beachtung geschenkt worden.5 Nirgends ist die Notwendigkeit der systematischen Einbeziehung der Musik augenfälliger als in der Diskussion der Sequenzen- und Hymnenübersetzungen, die zwei Drittel der geistlichen Lieder des Mönchs ausmachen. Diese Stücke, die die wörtlichen und inhaltlichen Übertragungsprozesse mit dem musikalisch-poetischen Verfahren der Kontrafaktur zusammenbringen, verdienen eine nähere Betrachtung bei der Einschätzung des musikalischen Wirkens des Mönchs. Wo eine einzige Melodie als Vehikel für zwei inhaltlich aufs Engste verwandte, aber in verschiedenen Sprachen verfasste Texte benutzt wird, verschwindet sie hinter dem von der Literaturwissenschaft oft präferierten Thema der ‚Übersetzung‘. Das kulturelle Phänomen mittelalterlichen Gesangs wird so durch das Interesse am Text verdrängt. Der Mönch überträgt aber nicht nur Wörter. Es wäre sogar in bestimmten Fällen angemessen zu fragen, inwieweit einige dieser Übertragungen tatsächlich den Sprung von einer Sprache in die andere vollziehen, einen ‚Sprung‘, den man vielleicht als entscheidenden Moment des Übersetzens bezeichnen könnte. Dem Mönch geht es eher darum, Lieder zu übertragen, die über rein textliche Gefüge hinaus auf sehr unterschiedliche Weise leben und überleben. Ich nehme als Ausgangspunkt die Besprechung der Poetik des Mönchs in der aufschlussreichen Studie von Bruno Quast: ‚Vom Kult zur Kunst‘. Quast positioniert die Hymnenübertragungen des Mönchs an den Übergang vom allmählichen Niedergang des rituellen Textes im Laufe des Mittelalters zur gleichzeitigen Aufwertung eines autorbezogen komponierten und konzipierten Textes. Diese beiden Prozesse, die Faszination am rituellen Wert eines Textes, d. h. an seiner Wiederholung und Wiederholbarkeit, einerseits und die Tendenz zur selbstbestimmten Übertragung andererseits lassen sich nach Quast im Mönchs-Korpus klar ablesen. Die daraus resultierende Spannung zwischen den Impulsen, den auratischen Wert eines Textes entweder wieder- oder abzugeben, hat ihre Resonanz darin, wie  

5 Zum Musikleben Österreichs siehe Flotzinger und die Beiträge zum Online-Projekt ‚Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich‘: http://www.musical-life.net (1. April 2018). Mit spezifischem Bezug zu Salzburg und dem Mönch ist der dreistimmige Kanon W31 Iu ich jag besonders belangreich, da er eine Melodie mit dem französischen ‚chace‘ Umblemens vos pri merchi gemeinsam hat. Zu diesem Punkt, siehe März: Ein dreistimmiger Satz. Einen erheblichen Fortschritt zum Thema der wechselseitigen Beziehungen zwischen den geistlichen Liedern des Mönchs und anderen (auch weltlichen) Liedtraditionen in Latein und Volkssprache bietet die Dissertation von Stefan Rosmer.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

195

die Rezipienten ein rituelles oder kulturelles Geschehnis erleben. In diesem Fall ist das Geschehnis Gesang. Ein umfassendes Verständnis des Auratisierungsprozesses (wie auch seiner eventuellen Negation) in den Übertragungen des Mönchs muss also das Lied auf all seinen Ebenen berücksichtigen: Wörter, Melodie und Aufführung. Diese universale Perspektive geht zugegebenermaßen weit über den Rahmen von Quasts Studie hinaus, auch wenn er an einer Stelle die Melodie einfach als ‚Grundlage‘ einer der Hymnenübertragungen bezeichnet.6 Gleiches gilt für Hans-Joachim Behr, der von Maria stuend in swindem smerzen (G 16), einer Übertragung der Mariensequenz Stabat mater dolorosa, sagt: „der Ausgangstext muß mitgehört werden, soll die Kunstfertigkeit des Autors im Umgang mit der Vorlage, d. h. sein mit ihr konkurrierendes Formulierungsgeschick auch tatsächlich gewürdigt werden“7. Ergänzend wäre zu sagen: Nicht nur der Ausgangstext, sondern auch die übernommene Melodie muss mitgehört werden. Sie ist von dauerhafter Bedeutung bei der Erzeugung und Tradierung der Autorität der lateinischen Lieder als Bestandteil der Liturgie und der weiteren Frömmigkeitspraxis. Neuere Forschungen zur späten Sequenz und vor allem die Untersuchungen Margot E. Fasslers konnten zeigen, wie das Repertoire der Viktoriner ein dicht vernetztes Bedeutungssystem bildet, das sowohl durch die mehrmalige Benutzung der Melodien für einzelne Versikel (‚Timbre‘ in ihrer Nomenklatur) wie auch eine komplexe Intertextualität gekennzeichnet ist.8 Diese Charakteristika wuchsen aus dem intellektuellen und geistlichen Leben der Gemeinschaften, die sie komponiert, gesungen und überliefert haben. Fassler zufolge bildete das SequenzenRepertoire ein Sinnbild der gesamten Kirche: „The Victorines attempted to arrange and interrelate the texts through the music to make yet another hierarchy, a hierarchy of praise [that] created a system of musical and textual interaction which was sacramental in character“9. Die Autorität und der Wert einer jeweiligen Sequenz stecken also in der Gesamtheit des Liedes und seiner Verwirklichung und nicht in seinen einzelnen Teilen. Unsere Herangehensweise sollte vielmehr  

6 Quast, S. 150, in Bezug auf Das hell aufklimmen deiner diener stimmen (G 47). G-Nummern beziehen sich im Folgenden auf die Ordnung der geistlichen Lieder des Mönchs in Spechtlers Ausgabe. Zu diesem Stück siehe auch März: Pange lingua. 7 Behr, S. 98. 8 Vgl. Fassler, S. 137–184; S. 166 f.: „The artist changed the music of the new piece to suit his text, yet preserved the familiar contours of the melody so that it could be easily recognized, even though reshaped within a new poetic framework.“ ‚Timbre‘ bezeichnet im Folgenden also nicht wie üblich den Charakter eines musikalischen bzw. vokalischen Klangs, sondern ist Terminus technicus aus der Sequenzenforschung und bedeutet eine fixierte Notenreihe bzw. ein einheitliches melodisches Fragment. Der Terminus ist eine Prägung von Misset und Aubrey; Sie geben eine Übersicht der ‚Timbres‘, S. 119–166, von denen Fassler einen neuen Katalog vorbereitet. 9 Fassler, S. 267.  

196

David Murray

ganzheitlich sein. Ziel dieses Beitrages ist es daher, die Stücke des Mönchs von Salzburg als Übersetzungen von Liedern und nicht nur Gedichten, als Übertragung von Erfahrungen und nicht nur Texten zu untersuchen. Die Hymnen- und Sequenzenübersetzungen des Mönchs sind also nicht nur die Wiedergabe des Inhalts eines Liedes in einer anderen Sprache, sondern auch das Angebot eines Simulacrums für diejenigen, denen die lateinische Liturgie unzugänglich war. In diesem Verfahren spielt die Musik eine zentrale und sinnstiftende Rolle. Besonders gut geeignet für eine Untersuchung der Rolle des Erlebnisses im volkssprachigen Umgang mit lateinischen Sequenzen sind die Übertragungen des Salve mater salvatoris. Der erste Abschnitt meines Beitrags befasst sich mit dem Text und der Melodie dieser Adam von St. Viktor zugeschriebenen Sequenz; der zweite Abschnitt wendet sich den wechselnden Beziehungen zwischen lateinischen und volkssprachlichen Versionen der beiden Übertragungen zu, die unter den Liedern des Mönchs von Salzburg überliefert sind.10 Im Anschluss wird gezeigt, wie sich die deutschen Texte gegenüber der melodischen Überlieferung verhalten. In einem abschließenden Abschnitt führe ich die Ergebnisse meiner Textund Melodieuntersuchung zusammen und gehe auf einige Besonderheiten der handschriftlichen Überlieferung ein.

2. Salve mater salvatoris Die lateinische Sequenz Salve mater salvatoris (AH 54, S. 383–386) wird dem Pariser Theologen und Dichter Adam von St. Viktor zugesprochen, der während der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts am gleichnamigen Augustiner-Chorherrenstift tätig war. Die Sequenz war offensichtlich sehr beliebt und ist in zahlreichen Überlieferungsträgern erhalten. Schon im zwölften Jahrhundert war die Sequenz in Österreich bekannt und wurde im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts im gesamten deutschsprachigen Gebiet verbreitet.11 Die Sequenz war ein vielverwendetes Element der Liturgie bei verschiedenen Marienfesten, darunter Empfängnis, Geburt, Verkündigung und Himmelfahrt.12 Bei den Viktorinern war sie besonders mit dem Fest Geburt Marias verknüpft, während sie in der Kathedrale Notre-Dame de Paris bei sonntäglichen Verkündigungsfesten erklang.13 10 Behr, S. 86 bezeichnet diesen Fall als besonders aufschlussreich, geht ihm aber nicht nach. 11 Vgl. Jollès, S. 222. Zu Salve mater salvatoris und dem gesamten Sequenzenrepertoire Adams siehe auch die tiefgreifende Analyse Grosfiliers. 12 Vgl. Berliner Repertorium: Salve mater salvatoris. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/ browse/hymn/6854 (31. Januar 2018). 13 Vgl. Jollès, S. 223. Als weiteres Zeugnis der großen Beliebtheit dieser Sequenz unter den Augustiner-Chorherren seien etwa die zwei Klosterneuburger Exempelsammlungen aus dem späten drei-

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

197

Das Salve mater salvatoris beginnt mit einer längeren Meditation über die Symbole der Demut der Jungfrau Maria sowie ihrer Keuschheit und Liebe. Der zweite Teil fokussiert Marias einmalige Rolle als mediatrix zwischen Menschen und Gott und das Ende hebt ihre Funktion als glorreiche Gottesmutter hervor. Der Text der Sequenz ist größtenteils dem Alten Testament, vor allem dem Hohelied, entnommen und aus diesem Intertext werden mehrere prophetische Ankündigungen der Auserwählung Marias übernommen. Formal gesehen besteht das Salve mater salvatoris meistens aus Doppelversikeln mit dem metrischen Raster 8po 8po 7ppo 8po 8po 7ppo, das man als typisch für das Korpus Adams bezeichnen kann.14 Die Doppelversikel IX und X weichen mit der Form 7ppo 7ppo 7ppo 7ppo ab, während XII und XIII noch ein anderes Schema benutzen: 8po 8po 8po 7ppo. Die Sequenz Salve mater salvatoris ist in ihren Details und poetischen Ambitionen eines der bemerkenswertesten Stücke, die an St. Viktor komponiert wurden, und hatte offensichtlich eine wichtige Stellung im Korpus der viktorinischen Sequenzen. Der Legende zufolge gefiel die Sequenz der Gottesmutter so sehr, dass sie dem komponierenden Adam am Anfang des elften Doppelversikel erschien, um ihm zu danken. Dies geschah angeblich in der Krypta-Kapelle, wo er der Tradition nach an seinen Kompositionen arbeitete und wo die Viktoriner später in Erinnerung an die Marienerscheinung ein Denkmal errichteten.15 Diese Legende ist auch als Rubrik in der handschriftlichen Überlieferung der Mönchsübertragungen zu finden: Salve mater saluatoris hat ein doctor ze paris gemacht dem wart ein besundre eer Alz ain pildes neigung nach seinem begeren beweiset vnd hat ein swär in dewtsch (Handschrift A, Bl. 1v). Auf diese Beischrift werde ich im Folgenden noch näher zu sprechen kommen. Die Sequenz erfreute sich also großer Beliebtheit und ihre Überlieferung ist dementsprechend breit: Blume und Bannister führen in den Analecta hymnica 67 Textzeugen an. Eine besonders durch die Dominikaner geförderte Variante hat den Text um vier Doppelversikel gekürzt.16 Franz Viktor Spechtler gibt in seiner

zehnten und vierzehnten Jahrhundert angeführt, die das Exempel Magister quidam theologus ad laudem BMV dictavit sequentiam Salve mater salvatoris überliefern; siehe Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 131, Bl. 294vb und Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1074, Bl. 426va. Es sei auch auf die wichtige, aber mir leider unzugängliche Grazer Dissertation Franz Karl Praßls hingewiesen, die den Gebrauch der Sequenzen unter Augustiner-Chorherren in Österreich gründlich untersucht. 14 Zur späten Sequenz im Allgemeinen und zu Adam im Einzelnen siehe Raby, S. 345–351. Zur Erläuterung der Abkürzungen: po = Paroxytonon (Betonung auf der vorletzten Silbe), ppo = Proparoxytonon (Betonung auf der vorvorletzten Silbe). 15 Vgl. Jollès, S. 216 Anm. 21. 16 Vgl. AH 54, S. 386. Eine deutsche Prosafassung der kürzeren Variante findet sich in einer einzigen Handschrift, ehemals im Besitz des Nürnberger Katharinenklosters: Nürnberg, Stadtbiblio-

198

David Murray

Ausgabe der geistlichen Lieder des Mönchs den Text der Analecta hymnica wieder. Im Folgenden seien Text und Melodie nach dem um 1360 entstandenen Moosburger Graduale abgedruckt, einer für die Augustiner-Chorherren des Kastulusstifts in Moosburg bei Landshut geschriebenen Handschrift. Das heute unter der Signatur München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. 156 bekannte Graduale ist von besonderem Belang für die Verbreitung und Überlieferung des Sequenzenund Conductusrepertoires im deutschsprachigen Gebiet, da es wertvolle Einsichten in den Gebrauch des gottesdienstlichen Gesangs im vierzehnten Jahrhundert eröffnet. Die zweite Hälfte der Sammlung, die aus cantiones besteht, gibt nämlich wichtige Hinweise zum liturgischen Tanz.17 Aus Platzgründen sind die lateinischen Texte zweifach unterlegt und melodische Unterschiede im Anschluss an die Ausgabe verzeichnet. I

II

thek, Cod. Cent. VII, 24, Bl. 362r–364v. Sie überliefert auch die Stabat mater dolorosa-Übertragung des Mönchs, G 16, auf Bl. 123v–125v. 17 Die Melodie gebe ich nach Waechters Ausgabe der geistlichen Lieder wieder, die die melodischen Versionen aus der Moosburger und der Mondsee-Wiener Handschrift zum Vergleich bietet. Das Graduale ist jetzt auch im Netz verfügbar: https://epub.ub.uni-muenchen.de/11079 (12. Januar 2017). Zum Graduale im Allgemeinen vgl. Spanke.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

III

IV

V

VI

199

200

VII

VIII

IX

X

David Murray

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

201

XI

XII

Notenbeisp.: Salve mater salvatoris nach dem Moosburger Graduale (München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. 156), Bl. 216v–217v. Melodische Lesarten: IIb,1: pec zu c–a–g, nicht b–a–g, gesungen; IIb,2: tati zu e–c, nicht d– c; IIb,3: -scia zu d–e–d, nicht d–d; IIIb,1: calamum zu d–f–d–c–e, nicht d–fe–dc–d; VIb,1: -ris zu fg nicht f und et zu a, nicht a–g; VIb,2: et on- zu a–b, nicht g–a; VIIb,2: -tis zu f, nicht a; VIIIb,2: am Ende fehlt zweites a; Xb,2: -le zu c–b–c, nicht c; XIb,3: -ve zu d–e, nicht d–f; XIIb,1: -mi zu c, nicht d; XIIb,5: -ra zu a–g–f, nicht a–a–g. Außer kleinen graphischen Unterschieden weicht der Text von den Analecta bzw. Spechtler nur in zwei Fällen ab: IIb,2 crucitati gegen cruentati in den Analecta. Diese Lesart ist bemerkenswert näher an den deutschen Texten, wo es verwunden (G 7) und gespürnet (G 8) heißt. VIIIb,3 tenens privilegia gegen habes privilegia in den Analecta. Nochmals ist die Moosburger Lesart der des Mönchs näher: In G 7 steht du traist in polirter zir.

In dieser Sequenz sind Melodie und Text eng ineinander verflochten und die Melodie strukturiert die Andacht des Rezipienten. Es wäre also unangebracht, Text und Melodie in der Analyse künstlich auseinanderzuhalten. Eine Nichtbeachtung der Melodie kann ferner zu erheblichen Missverständnissen führen. So betrachtet beispielsweise Bernadette Jollès die Versikel IXa und IXb als eigenständige Einheiten, obwohl sie mit derselben Melodie überliefert sind.18 18 Vgl. Jollès, S. 214–217.

202

David Murray

Die Verbindung von Text und Melodie ist besonders augenfällig in den ersten drei Doppelversikeln, die eine Meditation auf die typologischen Verheißungen der jungfräulichen Vervollkommnung Mariens im Hohelied bilden. Die letzte Zeile eines jeden Versikels hat dieselbe Melodie: Die Musik macht also die sechs Versikel zu einer einheitlichen Phase der Andacht. Dieses Wiederholungsverfahren tritt auch in den Anfangszeilen der ersten zwei Doppelversikel hervor, wo parallele Anrufungen der Jungfrau (Salve mater salvatoris und Salve verbi sacra parens) zu sehr ähnlichen melodischen ‚Timbres‘ gesetzt sind. Das gleiche Muster ist ebenfalls am Anfang des Doppelversikels IV zu finden, der das ‚Timbre‘ zum Vers IIa,1 mit den Worten Salve decus virginum wiederholt. In jedem Fall wird also das Grußwort Salve mit dem Quintenschritt d–a assoziiert, der die wiederkehrende Phrase d–a–a–g eröffnet. Diese melodische Idee taucht noch einmal am Anfang des Doppelversikels III auf. Auf diese Weise werden die verschiedenen Sinnbilder Mariens — vas celestis, cella pigentaria, rosa sine spinis — zu einer kaleidoskopischen Einheit verbunden. Man bemerke auch die Verbindung zwischen den melodisch und inhaltlich verschachtelten Versikeln und dem prominenten Motiv des Wohlgeruchs (Gewürze, Blumen und fruchtbarer Boden): Adam schafft einen wahren hortus conclusus in sangbarer Form. Diese Tendenz zur Wiederholung der melodischen Bestandteile, die in dieser Sequenz so wichtig ist, verbindet Salve mater salvatoris mit dem gesamten viktorinischen Repertoire. Das ‚Timbre‘ ein und desselben Versikels kann also in mehreren verschiedenen Sequenzen auftreten. Wie Margot Fassler nahelegte, waren die Viktoriner bemüht, in neuen Sequenzen Anklänge an andere Textzusammenhänge zu schaffen.19 Nur ein ‚Timbre‘ des Salve mater salvatoris, das die Doppelversikel VI und VII umfasst (Nr. 176 im Katalog von Misset und Aubrey), wird mit einer anderen Sequenz geteilt. Er kommt auch in der Sequenz Cor angustum dilatemus (AH 55, Nr. 2) vor. Dieser Text stellt die Apostel und ihre Taten vor und das gemeinsame ‚Timbre‘ trägt dort den mittleren von dreizehn Doppelversikeln, der die Eroberung Indiens für Christus durch den Apostel Thomas erzählt. Das ‚Timbre‘ fungiert also in Cor angustum wie in Salve mater salvatoris als Kennzeichen eines Umbruchs, das den Übergang vom meditativen Anfang zur bewegteren zweiten Hälfte und zu den abschließenden Gebeten markiert. Ebenfalls typisch für den viktorinischen Zweischritt ist es, dass der Doppelversikel VI der erste der ganzen Sequenz ist, der keinen melodischen Anklang an andere Versikel oder eine sonstige inhaltliche Wiederholung aufweist. Die Verse VIb,2 f., tu dulco 

19 Vgl. Fassler, S. 300 mit Bezug auf die Sequenzen Dulce lignum, Laudes crucis und Zima vetus: „[…] the entire interrelated complex resonated with a host of associations. A mind which contained all three sequences would hear all three of them each time any one of them was sung“.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

203

ris et odoris | tenens plenitudinem, stellen damit eine Art Zusammenfassung der vorhergehenden Versikel dar. Die darauffolgenden Verse verlegen den Schwerpunkt von Marias Eigenschaften auf ihre einmalige Stellung in Himmel, dignitate singularis | super omnes ordinaris (XIa,2 f.). Dieser Perspektivenwechsel bringt auch einen Wechsel des Vokabulars mit sich: Während der Beginn von der physisch-natürlichen Metaphorik des Hohenlieds durchdrungen ist, ist die zweite Hälfte eher dem Abstrakten zugeneigt. Maria wird hier als ein Wesen von kaum vorstellbarer Vervollkommnung dargestellt. Es fällt auf, dass die ‚Timbres‘ in diesem Teil der Sequenz keine Wiederspiegelungen bzw. Wiederholungen aufweisen, sondern ohne zurückhaltende formelle Verschachtelungen fortschreiten. Einzige Ausnahme bilden die zwei abschließenden Verse der beiden letzten Versikel (XIIa,3 f., XIIb,3 f.). Hier bitten die Sänger, dass das Böse vor Marias Tugenden scheitern möge und sie in ihrer glorreichen claritas leben dürfen. Diese finalen Verse erklingen zu derselben Melodie wie das Ende der Versikel Va und Vb, in denen Maria als Gottesmutter perspektiviert wird und als unberührter Boden, von dem Jesus, flos campi, convallium | singulare lilium, entsprang.20 Diese letzte Wiederholung bindet den ganzen Text zusammen und verwahrt die Einheitlichkeit der Sequenz. Salve mater salvatoris ist also ein Kunstwerk ersten Ranges, das einen schöpferischen Höhepunkt im Repertoire der Viktoriner darstellt. In ihm wird der eine, einheitliche Andachtsmoment umrahmt, in dem die Jungfrau ob ihrer sündenfreien Geburt gepriesen und gelobt wird.  





3. Zwei deutsche Übertragungen des Salve mater salvatoris Wie eingangs bemerkt, erfreute sich Salve mater salvatoris einer großen Beliebtheit, die in der Breite der Überlieferung nicht nur von Adams lateinischem Text, sondern auch der deutschsprachigen Bearbeitungen deutlich wird. Diese Bearbeitungen schließen sowohl Prosa- wie auch Versübersetzungen ein.21 Ich beschränke mich hier auf die beiden deutschsprachigen Übertragungen des Salve mater

20 Die Lilie war auch Sinnbild der Jungfrau, aber da Maria hier als Boden dargestellt wird, muss man das Bild mit der Interpretation des Hrabanus Maurus in De universo (PL 111, 528 B) deuten und die Blume als Christus lesen. 21 Die Texte sind hauptsächlich in Süddeutschland und Österreich überliefert. Es ist aber auch ein Beispiel aus Köln bekannt. Siehe dazu das Berliner Repertorium: http://opus.ub.hu-berlin.de/re pertorium/browse/hymn/6854 (31. Januar 2018).

204

David Murray

salvatoris, die in der Überlieferung des Mönchs von Salzburg begegnen, nämlich Salve, grüest pist, mueter hailes (G 7) und Got grüeß dich, mueter unsers herren (G 8). Die Lieder sind in den Handschriften ADEF bzw. AFMm überliefert. Alle Zeugnisse in ADE sind mit Noten versehen, in A endet die Melodie für G 8 jedoch mitten in der ersten Zeile des Versikels IVb.22 Franz Viktor Spechtler hat beide deutschen Texte in seine Ausgabe der geistlichen Lieder des Mönchs aufgenommen, doch ist nach den Untersuchungen Burghart Wachingers nur eines dem Mönch oder wenigstens der Grundschicht der handschriftlichen Überlieferung zuzusprechen.23 Aus stilistischen und sprachlichen Gründen spricht Wachinger G 8 dem Mönch ab: Got grüeß dich sei formell erheblich weniger anspruchsvoll, wie kurz zu demonstrieren sein wird.24 Wachingers Zweifel an der Autorschaft bestreite ich nicht. Da aber G 8 schon verhältnismäßig früh in Salzburg überliefert ist, lohnt es sich nicht nur aus literarischen, sondern möglicherweise auch aus historischen Gründen, die beiden Texte in eine Diskussion deutschsprachiger Sequenzen in oder um Salzburg einzubeziehen. Die zwei deutschsprachigen Versionen bezeugen zutiefst unterschiedliche Zugänge zur Wiedergabe des Lateinischen in der Volkssprache und somit auch zur Erschließung der Sequenz für ein neues oder breiteres Publikum.25 Sie stellen also zwei Arten dar, das Erlebnis vom Singen des Salve mater salvatoris zu vermitteln. In G 7 fördert der Mönch ein Gefühl der Unmittelbarkeit durch präzise klangliche Nachahmung der Vorlage, indem er etliche Phoneme des lateinischen Texts im deutschen Text mehr oder weniger genau bewahrt. G 8 setzt hingegen auf inhaltliche Treue, um einen einfach verständlichen, wenn auch künstlerisch wenig ambitionierten Text vorzulegen. Das heißt wohl aber nicht, dass letztere Übertragung ohne literarischen Wert ist.26 Hier sei zuerst Spechtlers Ausgabe von G 7, Salve grüest pist, mueter hailes, zitiert.27

22 Ich benutzte die von Spechtler etablierten Siglen: A: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 715; D: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2856; E: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4696; F: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2975; M: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3946; m: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 1135. 23 Vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 16–19. 24 Vgl. Wachinger: Der Mönch von Salzburg, S. 17. Er begründet seine Zweifel an der Autorschaft des Mönchs für dieses Liedes durch die im Mönch-Korpus fast einmalige Benutzung des Reims i:ei in G 8 (z. B. VIII,a3 bzw. b3: himelreich:dich). Der Reim begegnet sonst nur im G 46 Eia here got, was mag das gesin, das Wachinger dem Mönch ebenfalls abspricht. 25 Andreas Kraß hat die Breite der vielfältigen Übersetzungsverfahren dargelegt, die sich im Bereich der deutschsprachigen geistlichen Lieder des Mittelalters ablesen lassen. Vgl. Kraß: Spielräume. 26 Behr, S. 98 beschreibt diese Sequenz als „alles andere als rhetorisch unbearbeitet“. 27 Spechtler, S. 154–160.  

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

Ia

Ib

IIa

IIb

IIIa

IIIb

IVa

IVb

Va

Vb

VIa

VIb

VIIa

Salve, grüest pist, mueter hailes, vas erkesen, vas par mailes, vas der himmelischen genad. pei got ewig vas beschawet, vas geformet und gepawet mit der hant, weisleicher pfad. Salve, mueter hochgeporen, pluem, von doren auserkoren, pluem, in ruem des dorneichs er. wir das dorneich, mit der sünde darum verwunden in die gründe, du gar par vor dornechs ser. Port verslossen, prunn der garten, zellhüeterin der salb zarten, zell gepulverischter misch. zimein süeß ein überpruef, mirr, balsam, ain zinsig schruef, aller tugent überfrisch. Salve grüest pist, zierd der maid, götleich, menschleich underschaid, sälden ein gepererin. mirtenpawm, du temperung, ros dultig, in saft entsprung, nardus smagk, flagranz der sinn. Du talnaikung diemüetikait, du erde, die nie sich versnaid und doch früchtig früchte tuet. (du) veldpluem, demüetig tal, (du) lilge sunder misseval, Christus aus dir plüemleichen plüet. Du himmel paradis in siten, Liban weisser unversniten, der doch smags süeß nie vermaid. du durchfeinig, du durchscheinig, du durchgrüessig, du durchsüessig vollaist aller selikait. Du pist der thron Salomonis, dem geleicht sich kaines thrones forme noch ir understent.

205

206

David Murray

VIIb

edler helfant, weiß in kewsche, pruniertes gold, gelfig rewsche, du volschönst wol (all) behent.

IXa

Palmen aller maide werde traist du sunder, kain substanz auf erde noch under dem himmel geleicht sich dir. lob lobsam menschlich geslechte, aller tugent ain übermächte du traist in polierter zir.

IXb

Xa

Xb

XIa

XIb

XIIa

XIIb

XIIIa

XIIIb

Sunnen glast den manen überglenzt, (nach) des mans schein stent die steren, so ist Maria wol überkrenzt creaturen allen in eren. sunn der glenst und nie derlast, ist der maide käwsche, prunstleich prunst, der nie enbrast untodleiche lieb in ruem. Salve, mueter gueter rete, der gedreiten trinitete edels, schöns, gedreits geslos. gotes sun, got vater worte sunder magenkreftig porte, übergehews dein maidelich schos. O Maria, stern des meres, ain wirdikait sunder weres und des himelischen heres ordenung ein überpog. in gestalt des höchsten himmel wasch von uns der sünden schimel, das wir, deines kindes gezimel, auch sein frei vor veintes trog. An der letzten hinefarte dein sicher beschaw unser warte, fraw, magt, mueter, tochter zarte, tausentlistig feintes arte weicht pald von den tugenden dein. Jesu, sun des jungen alten, hilf uns, das wir werden behalten die lob deiner mueter stalten, ainleich an deiner drifalten zuflicht uns gedreit dem schein.

207

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

Von Anfang an macht sich die klangliche Nachahmung des Lateinischen deutlich bemerkbar. Wörter aus der Vorlage werden imitiert und manchmal gänzlich übernommen. Sie sind oben fett gedruckt. Einige Fälle sind gewissermaßen Latinismen (creaturen Xa,4 oder paradis VIa,1) bzw. unvermeidliche Anklänge wie etwa du:tu oder mueter:mater. In anderen Fällen handelt es sich jedoch um ausgewählte Klänge, die ins Deutsche eingepflanzt werden – zum Beispiel das wiederholte vas im ersten Doppelversikel oder port und zell im dritten. Vor diesem Hintergrund sticht die kleine Anzahl von Latinismen, die keine direkte Entsprechung in der lateinischen Sequenz haben, deutlich hervor. Mit forme (VIIa,3) und substanz (VIIIa,2) und ihren eher scholastischen Anklängen zielt der Verfasser des deutschen Textes offensichtlich auf eine bestimmte Art Latinität. Es geht aber meiner Ansicht nach nicht um einen Versuch, das Deutsche zu verbessern, wie etwa Ingo Reiffenstein vorgeschlagen hat, sondern darum, sich die Dignität des Lateinischen anzueignen.28 Besonders auffällig sind jene Stellen, an denen die Übertragung vom Sinn des Salve mater salvatoris abweicht. Manchmal geht es um die Erhaltung des Reimschemas, wie z. B. kewsche und rewsche statt castitas und caritas (VIIb,1 f.). Anders sind die stilistischen Tendenzen, die auf die ‚geblümte Rede‘ zurückzuführen sind, die beispielsweise in früchtig früchte (Va,3), Christus aus dir plüemleich plüet (Vb,3) oder lob lobsam (VIIIb,1) vorkommen. Hier konnten stilistische Anliegen die Oberhand über den Versuch einer inhaltlich genauen Übersetzung gewinnen. Anders betrachtet wären diese Änderungen Merkmal einer freieren Art der Übertragung, die darauf abzielt, die Sequenz in den gegenwärtigen poetischen Diskurs besser einzubetten. Einer solchen Interpretation widerstünde jedoch der Versuch des Mönchs, ganze Phrasen aus dem Lateinischen wiederzugeben, auch wenn dies die Verständlichkeit und den Textfluss unterbricht. Noch gravierender sind die Eingriffe mit möglichen theologischen Implikationen: In Versikel IIa ersetzt der Mönch verbum – zentrale Synekdoche Christi – mit mueter. Dadurch wird Maria ganz am Anfang der Sequenz von ihrer Rolle als Gottesmutter losgelöst. Diese Verdeutschung des lateinischen Textes schlichtweg als Übersetzung zu bezeichnen, hieße also nichts anderes als verbale Kunstfertigkeit den zugrundeliegenden Beweggründen vorzuziehen und die merkenswerten Veränderungen des Sinns zu verleugnen. Wendet man sich Got grüeß dich, mueter unsers herren (G 8) zu, findet man einen deutschen Text, der weniger auf die Konturen der sprachlichen Gestaltung ausgerichtet ist. Nochmals zitiere ich die Ausgabe Spechtlers mit den Korrekturen von Wachinger in Kursiv.  

28 Vgl. Reiffenstein, S. 207.



208

Ia

Ib

IIa

IIb

IIIa

IIIb

IVa

IVb

Va

Vb

VIa

VIb

VIIa

David Murray

Got grüeß dich, mueter unsers herren, Ein vas auserwelter eeren, vas von himmel genadenvol, in der ewikait getichtet, schon entworffen und gerichtet von der hant der weishait wol. Pluem, von doren entsprungen, gotes mueter, alle zungen loben dich mit eeren gail, missetat hat uns verdürnet, sunden dorn hat uns gespürnet, der gewan nie an dir tail. Ein port verslossen, prunn der garten, des ungenden sollt du warten, von pigment ein zelle klar. zimein und negelein, Weirauch, mirr und balsam drein, das überreucht dein smak vil gar. Junkfrawn zierde, bis gegrüesset, dein genad uns kumer püesset, hailes ein kindelpeterinn, edle mirren, wol durchmischet, ros, in hoher dult erfrischet, smaghaft ist der nardus dein. Du veltpluem in prehendem schein, Christ, gotes sun, ein lilgen fein blüet aus dir in kewscher zucht. du demutreiches, reiches lilgental, ein erd, die arbait nie entswal und trueg doch der selden frucht. Du himmelisches paradeis, Libanus in süessem preis, unersniten zu aller stund. aller schön und aller zirde, aller süeß und aller wirde hast du vollikleichen grunt. Du pist herrn Salomonis thron, erpawen wart nie kain sal so schon von materi noch von kunst,

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

VIIb

(der cheusch ein scheinich helfenpain, der chlarhait golt ie aus dir schein, hail bezaichent uns dein gunst.

VIIIa

Du scholt ain die palme han eid dein geleichen nie gewan erde noch das himmelreich. tugent ist in dir verrigelt, wol verschriben, wol versigelt, des lobt menschleich chünne dich.

VIIIb

IXa

IXb

Xa

Xb

XIa

XIb

XIIa

XIIb

Als die sunn geit liechten glast über man und über stern, also traistu der wirde last, dein niemand mag noch sol enpern. dein chewsche und die rainichait ist ein liecht, das nie verswant, ein liecht in der ewichait, immerwernder minn ein prant. Wis gegrüsset, aller güte muter, seit got aus dir blüte in seiner dreivaltichait, und des vater wort pesunder slaich in dich mit grossem wunder, der dein chewschait nie versnaid. O Maria, meres sterne, in des vronen himmels erne traistu ain der wierde lucerne über aller engel chör. in dem himmel hoch geheret, hilf uns, das uns werd bescheret, das uns werd von dir vercheret sünde und unser veinde stör. Sich, wir sten auf dem geverte, o Maria, hoch geherte, hilf uns zu dir mit genaden, das wir werden dar geladen, da nichts ist wann freuden fund. Jesu, durch dein liebe muter wis uns senftig und auch guter, als wir chome fur gerichte gutlich uns mit dir verslichte und tu uns dein gothait chund. Amen.

209

210

David Murray

Spechtlers Edition gibt die folgenden Lesarten: Ia,1 ø vas; Ib,2 erworben; Ib,3 wol; IIIa,1 des garten; IIIb,2 mirren und balsam darein; IVa,1 zier; Vb,1 demüetigs

Auch in dieser Verdeutschung sind wichtige Umdeutungen zu finden. Abermals geht es um Christus, der in G 8 nicht nur präsent – wie vor allem in der lateinischen Vorlage – ist, sondern sogar deutlich in den Vordergrund tritt. Während in G 7 der Gottessohn erst im letzten Doppelversikel namentlich erwähnt wird, begegnet er in G 8 schon in Va (Christ gotes sun, ein lilgen fein). Dadurch wird die göttliche Lilie auf Kosten der mütterlichen terra non arabilis betont, die in den anderen Texten verhüllt bleibt. Ebenfalls im Doppelversikel V findet man Beispiele für leichte Akzentenverschiebungen: Die hl. Jungfrau in Gestalt des Erdbodens wird als demutreich und reich qualifiziert und die Verbindung zwischen ihr und ihrem göttlichen Sohn durch die explizite Doppelung von einem lilgen fein (Va, 2) und lilgental (Vb, 1) hervorgehoben. Es hat den Anschein, als hätte der Autor seinem Publikum das etwas ungewöhnlichere Sinnbild Christi erklären wollen. Gleiches gilt etwa für den Versikel XIa, in dem die ordines celestium als der engel chör expliziert wird. Diese Abschwächung des metaphorischen Gerüsts der Sequenz hat auch ein syntaktisches Gegenstück. Vergleicht man den lateinischen und deutschen Versikel XIIa in der Fassung von G 8, erkennt man den Versuch, aus der komplizierteren lateinischen Syntax zwei schlüssige, einfache Aussagen zu schaffen, die jeweils mit einem Imperativ (Sich, hilf) beginnen. In procinctu constituti Tu tuente simus tuti, Pervitatis et versuti Tuae cedat vis virtuti Dolus providentie.

Sich, wir sten auf dem geverte, o Maria, hoch geherte, hilf uns zu dir mit genaden, das wir werden dar geladen, da nichts ist wann freuden fund.

Diese Umformung zielt möglicherweise auf das bessere Verständnis seitens des Rezipientenkreises und benötigt keinesfalls Vertrautheit mit dem lateinischen Text, wie man von G 7 behaupten darf. Dort werden Adams implizite Verben und absolute Konstruktionen relativ strikt nachgeahmt, so dass der Text zuweilen nicht gerade deutsch wirkt. G 8 hingegen macht es sich zur Aufgabe, jeden Doppelversikel in eine einfach verständliche syntaktische Einheit mit Verb zu gestalten. Die Umformung im Übersetzungsverfahren hat aber auch stilistische Resonanzen: Im letzten zitierten Vers bringt die Wiedergabe von dolus providentiae mit nichts wann freuden eine kleine, aber bemerkenswerte Veränderung der inhaltlichen Betonung mit sich. Ein weiterer Teil dieser Erleichterung des Tons ist die Erhellung der Symbolik. Ganz buchstäblich erhellt der Autor den Versikel XIa

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

211

mit der wierde[n] lucerne, die die klassische marianische Metapher, den meres sterne, ohne Entsprechung im lateinischen Text doppelt. Ebenfalls im abschließenden Versikel wird eine einzelne Idee (solve reos, XIIb,3) aus den letzten vier Versen Adams entnommen und über zwei Verse hinweg ausgearbeitet (als wir chomen fur gerichte | gutlich uns mit dir verslichte, XIIb,3 f.). Die beiden Versionen des Salve mater salvatoris stellen also ein ungewöhnliches Phänomen dar, insoweit sie – mindestens im üblichen Sinn – keine ‚wirklichen‘ Übersetzungen darstellen.29 Die erste bringt nämlich den Sprung von einer Sprache zur anderen nie vollständig zum Abschluss; und die zweite bleibt der Vorlage nur partiell inhaltlich und sprachlich treu, um das Reimschema und das metrische Schema beibehalten zu können. In beiden Fällen aber lohnt sich eine nähere Betrachtung der wechselseitigen Beziehung zwischen wörtlichen und melodischen Elementen der deutschen Sequenzen. Sie bietet nämlich aufschlussreiche Einblicke in die in ihnen stattfindenden Übersetzungsarbeit sowie in die von ihrem Verfasser gesetzten Schwerpunkte.  

4. Die Melodie und die deutschen Texte Wie für den Fall des lateinischen Textes des Salve mater salvatoris bereits dargestellt wurde, ist die Beziehung von Text und Musik auch für ihre deutschsprachigen Versionen von zentraler Wichtigkeit. Salve grüest pist, mueter hailes (G 7) und Got grüeß dich, mueter unsers herren (G 8) sind mehrheitlich mit identischen Melodien überliefert: G 7 hat eine vollständige Melodie in den Handschriften ADE, während G 8 allein mit einer nur bis zum Anfang des Doppelversikels VIII reichenden Melodie erhalten ist. Die Abwesenheit musikalischer Notation in der Handschrift F, die beide deutsche Versionen überliefert, schließt keineswegs eine Bestimmung für musikalische Rezeption aus. Wie noch zu zeigen wird, ist die Melodie vom Text untrennbar. Sie ist aber – genau wie die verschiedenen Texte – nicht ohne Varianten. Kleinere Abweichungen zwischen den überlieferten Melodien haben zur Folge, dass es stellenweise genauer wäre, die deutsche Fassungen näher in die Richtung der Kontrafaktur zu rücken, d. h. dem musikalischen-dichterischen Verfahren, bei dem neue Worte zu einer bestehenden Melodie gesetzt werden und bei dem ein gewisser Grad an musikalischer Eigenständigkeit erlaubt ist.  

29 Zur Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen Vorlage und Reprodukt im Mittelalter vgl. Hausmann.

212

David Murray

Adams Melodie wird nämlich an mehreren Stellen manipuliert, um eine Anpassung an die deutschen Texte zu ermöglichen. Es geht in fast allen Fällen um die Anpassung an eine höhere Silbenzahl im Deutschen. Drei Techniken kommen vor: Hinzufügung von Noten am Beginn oder am Ende einer melodischen Phrase, Aufspaltung von Melismen (d. h. Stellen, an denen eine Silbe auf mehrere Töne gesungen wird) und Doppelung von Noten innerhalb einer musikalischen Idee. Das ‚Timbre‘ des Versikels VIIIa von G 8 nach Handschrift D und dem Moosburger Graduale weist alle drei Techniken auf:  

Notenbeisp. 2: Versikel VIIIa von Got grüeß dich, mueter unsers herren (G8) im Vergleich zu Salve mater salvatoris im Moosburger Graduale.

Man sieht die Aufspaltung von Melismen zweimal in der zweiten Zeile (-ter und -bes des lateinischen Textes) und nicht nur Doppelung, sondern Verdreifachung des a im letzten Vers. Es ist auch bemerkenswert, dass sich die Tonhöhen am Ende der oben zitierten Zeilen unterscheiden: Wo das Moosburger Graduale f–g–a zeigt, steht in Handschrift D c–d–e–e. Ein ähnlicher Unterschied in der Stimmung erzeugt in allen volkssprachlichen Handschriften die Aufgabe sowohl des längeren Melismas auf sol bzw. lux am Versikelanfang in IX wie auch anderer kleinerer Verzierungen, die dem kurzen Wechsel mit dem nächst unterliegenden Ton auf werde in der ersten Zeile des obigen Notenbeispiels ähneln.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

213

In seiner Untersuchung der zwei Übertragungsstrategien im Mönchs-Korpus demonstriert Quast überzeugend, dass beiden Herangehensweisen eine hohe Einschätzung der Unversehrtheit der Sequenz zugrunde liegt. Aus dieser Unantastbarkeit der Sequenz resultiert der Versuch, soviel Inhalt wie möglich so direkt wie möglich aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übermitteln. Das Verfahren beschreibt Quast als „ritualistische[] Übersetzungsleistung des Mönchs, die neben der Materialität auch die Positionalität des vorgegebenen Sprachkörpers, der Buchstaben wie der Wörter, zur normativen Maßgabe erklärt“30. Im Fall von G 8 trifft das nur teilweise zu, da die Wiedergabe sprachlicher Anklänge in den ersten fünf Doppelversikeln der deutschen Sequenz überwiegt. Auf den ersten Blick könnte man dies als schwindendes Interesse an einem poetischen Spiel abtun oder sogar als Zeichen dafür nehmen, dass der lateinische Intertext eigentlich nur als Ausgangspunkt diente. Dies ist aber nicht der Fall. Wie die vorhergehende Besprechung von Adams Melodie gezeigt hat, sind die ersten fünf Doppelversikel von auffallender – und präziser – melodischer Variation geprägt, die die ‚Timbres‘ verweben. Was Quast mit Bezug nur auf den Text ‚Positionalität‘ nennt, meint eigentlich viel treffender, dass der Mönch den tiefersitzenden und unabdingbaren Zusammenhang zwischen Sprachklang und musikalischem Ton anerkennt. Ein gutes Beispiel für diesen Konnex ist die Aufnahme des Wortes Salve im deutschen Text. Es bringt nicht nur tiefe inhaltliche Resonanzen an die Verkündigung mit sich, sondern bewahrt auch die Verbindung mit dem Sprung d–a und dem folgenden Schritt a–g. Die resultierende Notengruppe d–a–a–g eröffnet die ‚Timbres‘ der Doppelversikel I, II und IV und kehrt teilweise auch in X wieder. Dieselbe Verbindung von Sprachklang und Ton ist noch einmal in II zu sehen: Dort wird geporen auf die gleiche Notenfolge (a–a) wie parens gesungen. Man könnte vielleicht noch weitergehen und vorschlagen, dass ausdrücklich Vokale die Übertragung G 7 durch ihre enge Assoziation mit der Tonhöhe bestimmen. In IVa,3 liegen nicht nur klare Bedeutungsparallelen vor, sondern auch die Vokale von gepererin und puerpera stimmen überein. Es muss aber nicht zwangsläufig inhaltliche Parallelen geben, wie man in IVa,1 sieht, wo die ersten Vokallaute von czierd und virginum, obwohl sie nicht genau übereinstimmen, ausreichend ähnlich sind, dass die Einheit von Ton und Wort weitgehend unverletzt fortbesteht. Das gleiche Phänomen ist im Versikel XIIa zu sehen, wo die kurzen Wechselnoten-Verzierungen am Zeilenende mit der Vokalgruppe -is verbunden werden, die im Deutschen in heres oder meres wiedergegeben sind. An einigen Stellen jedoch bringt das künstlerische Spiel des Mönchs die Einheit der Sequenz in Gefahr. Die

30 Quast, S. 162.

214

David Murray

Einführung des Binnenreims doren:erkoren in II bedeutet, dass zwar das zweite, nicht jedoch das erste Wort zum ‚richtigen‘ Ton gesungen wird. Das heißt, wo -koren am Zeilenende zu d–c erklingt und damit das Lateinische carens wiedergibt, wird doren mitten in der Zeile zu g–e gesungen. Die Identifikation von bestimmten Silben mit bestimmten Notenfolgen wird dadurch geschwächt. Nach dem sechsten Doppelversikel jedoch wird die kunstfertige sprachliche Imitation weniger deutlich sichtbar und diese Wandlung spiegelt die veränderte melodische Komplexität der Sequenz. Genau wie Adam die Andacht des Betenden oder Singenden durch seine Melodie prägt, strukturiert er die poetische Gestaltung des Mönchs, dessen Umkomponieren und Verdeutschen ebenfalls auch als Frömmigkeitspraxis zu werten ist. In G 8 hingegen hat sich die Melodie gegenüber dem Text ganz verselbstständigt. Diese Autonomie wäre, Quast zufolge, im ersten Rang als Zeichen eines auktorialen Versuchs zu betrachten, der auf die Bestätigung des poetischen Eigenwertes seines Textes abzielte. Diese Annahme hat aber auch zur Folge, dass die Bedeutungskraft der Melodie aufgewertet wird. Anders gesagt: Die Umformungen des Inhalts der Sequenz laufen während des Übertragungsverfahrens vor dem mehr oder weniger konstanten Hintergrund der Melodie ab, die gewissermaßen die bleibende Präsenz Adams repräsentiert. Akzeptieren wir Märzens Behauptung, dass die Niederschrift eines lateinischen Incipits ein Beweis dafür ist, dass der Schreiber ein mit der lateinischen Sequenz bzw. der Melodie vertrautes Publikum voraussetzt, so prägt diese fortwährende Präsenz die Rezeption von G 8.31 Drei Textzeugen der Übersetzung enthalten nämlich die Beischrift Salve mater salvatoris, die auf eine erwartete Kenntnis der lateinischen Sequenz hinweist. Man stößt hier auf das Problem der Melodienüberlieferung in der Handschrift A, der einzigen Handschrift mit Noten, die deutlich von dem Zeugnis von G 7 in derselben Handschrift abweicht. Besonders hervorzuheben sind die Verse IVa,2 f. und IIa,2, die weitgehend verschieden und um einen ganzen Ton höher als in Handschrift D notiert sind, die ihrerseits die Vorlage für Waechters Ausgabe bildete. Ich gebe den Versikel IVa hier wieder, wie er in den Handschriften D und A erscheint.  

31 Vgl. März: Pange lingua, S. 298.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

215

Notenbeisp. 3: Versikel IVa von Got grüeß dich, mueter unsers herren (G8) nach den Hss. D und A.

Derartige melodischen Abweichungen gleichen die Fälle aus, in denen G 8 dem Sinn des lateinischen Textes nähersteht. Die Melodie des Salve mater salvatoris kommt noch ein drittes Mal im Mönchs-Korpus vor: als Vorlage für die marianische Sequenz Richer schatz der höchsten freuden (G 3).32 Neben dem eröffnenden Wortspiel auf den Namen Reicher von Ettlingen lässt das Akrostikon Richerus plebanus in Rastat die neue Sequenz als wahrscheinlichen Auftrag des Salzburger Hofkaplans und Hofmeisters erkennen.33 Als Ganze betrachtet ist die Version der Salve mater salvatoris-Melodie, die mit G 3 in D überliefert wird, erheblich näher an der des Moosburger Graduales als die der zwei besprochenen Übertragungen. Dies liegt wohl daran, dass als neuer Text und reines Kontrafakt G 3 weder Inhalte noch, wie in G 7, bestimmte Vokale oder phonetische Gruppen an bestimmten Orten wiedergeben musste. Ironischerweise beförderte die dadurch gewonnene künstlerischer Freiheit ein engeres Verhältnis zur melodischen Vorlage.

5. Mehr als Worte übersetzen Wie eingangs bemerkt, weist die Handschrift A auf die Ursprungslegende des Salve mater salvatoris hin. Ich habe dargelegt, wie der Text, der mit dieser Legende verknüpft ist, nicht nur, wie es in der Rubrik heißt, „ein schwieriges Deutsch“ (ein

32 Ausgabe: Spechtler, S. 129–132. 33 Zu dieser Figur siehe Spechtler, S. 15 f.  

216

David Murray

swär in dewtsch), sondern gewissermaßen auch ‚schwerlich Deutsch‘ ist. Dass sie allerdings so eng mit dem Ursprung der Adamschen Sequenz verbunden bleibt, ist in Bezug auf die mittelalterliche Wertschätzung solcher Übertragungen äußerst aussagekräftig. Das heißt, der deutsche Text bildet fast eine weitere Ebene des stetig wachsenden Bedeutungssystems der Viktoriner, dessen Wirkung durch den Sprachwechsel anscheinend unbeschränkt bleibt. Die lateinische Sequenz (und dadurch auch die Resonanz ihrer Melodie) blieb auf jeden Fall in der handschriftlichen Überlieferung der beiden deutschen Übertragungen fortwährend präsent. Die beiden Sequenzenübersetzungen sind mit folgenden Vermerken bzw. Rubriken überliefert: G7 A 1v (Reg) E 127r

Salue mater saluatoris hat ein doctor ze paris gemacht dem wart ein besundre eer Alz ains pildes naigung nach seinm begeren beweiset vnd hat ein swär in deẅtsch Sequitur sequencia Salue mater saluatoris secundum textum monachus

G8 A 1v (Reg) A 24r F 152r M 471v

Ein ander Salue mater saluatoris ringer deütsch Ein ander ringer Salue mater Item alia sequencya secundum textum Saue mater saluatoris monachus Salue mater saluatoris

Die Verwendung des Vermerks secundum textum ist mehrmals als Zeichen dafür gedeutet worden, dass die damit verzierten Texte in erster Linie als Übersetzungen betrachtet werden sollen.34 Er sei also das Gegenstück zum genauso oft vorkommenden Vermerk sub melodia, der Kontrafakte erkennen lässt. Die mögliche Breite der Ansätze unter diesen secundum textum-Stücken, die die beiden deutschen Salve mater salvatoris-Übertragungen einschließen, habe ich dargelegt. Man müsste sich also fragen, inwiefern dieser Vermerk zwangsläufig ein entschiedenes Interesse am Text kennzeichnet: Einerseits bemüht sich G 7 mit ungewöhnlichem Feingefühl um die Bewahrung des ursprünglichen Zusammenhangs zwischen Sprache – also nicht Text – und Melodie. Andererseits ist G 8 mehr mit dem Sinn als mit dem wörtlichen Gewebe des Textes befasst. Motor des späteren poetischen Umgangs mit Adams Text ist letzten Endes die Melodie. Die zentrale Rolle der Melodie für das Nachleben der Sequenz erkennt man etwa in der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 716. Sie bietet einen Einblick in die enge Verwandtschaft zwischen den Sequenzen des Mönchs und ihren lateinischen Gegenstücken. Das Sequentiar und Kantionale aus dem oberbayrischen

34 Vgl. März: Pange lingua, S. 296.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

217

Benediktinerstift Tegernsee enthält die lateinische Sequenz Salve mater salvatoris direkt nach ihrem deutschen Kontrafakt, Richer schatz der höchsten freuden (G 3, Bl. 170r–172v).35 Dies weist darauf hin, dass die gemeinsame Melodie der zwei Stücke von solch hohem Wert für die Überlieferer und die Ordensgemeinschaft war, dass in ihren Augen eine vollständige Wiederholung innerhalb von fünf Blättern gerechtfertigt war. Der exakte Sitz im Leben dieser deutschsprachigen Sequenzen wie auch der Hymnen ist bekanntermaßen umstritten.36 Wie Andreas Kraß in Bezug auf den aktuellen Forschungsstand zusammenfasst, dürfen wir am ehesten annehmen, dass deutschsprachige geistliche Lieder eine ‚liturgiebegleitende Rolle‘ hatten.37 Auch wenn man wenig zur präzisen Funktion der Verdeutschungen sagen kann, lässt sich noch etwas zur Frühgeschichte der zwei hier besprochenen Sequenzen bemerken, die die schlichte Trennung zweier Übertragungsansätze problematisieren.38 Als Wachinger G 8 dem Mönch absprach, behauptete er, dass, wenn G 7 und G 8 von demselben Autor stammten, man klare textliche Übereinstimmungen erwarten könnte. Interessant und erleuchtend in diesem Zusammenhang ist die Kontaminierung zwischen den beiden deutschen Versfassungen in Handschrift A. Es folgen die Texte der vierten Doppelversikel: G 7 in Hs. D, hg. Spechtler

G 7 in Hs. A

G 8 in Hs. A

Salve grüest pist, zierd der maid, götleich, menschleich underschaid, sälden ein gepererin. mirtenpawm, du tempering, ros dultig, in saft entsprung, nardus smagk, flagranz der sinn.

mirtenpawm, du tempering, ros dultig, in saft entsprung, nardus smagk, flagranz der sinn edle mirren wol durch mischet gotleicher genaden erfrischet sëlden ein kindelpeterinn

Junkfrawn zier, bis gegrüesset, dein genad uns kumer püesset, hailes ein kindelpeterinn, edle mirren, wol durch frischet, ros, in hoher dult erfrischet, smaghaft ist der nardus dein.

In Handschrift A also lassen die klare Übereinstimmung des letzten Verses in G 7 mit dem dritten in G 8 sowie dem vierten Vers in beiden Versionen auf eine gewisse Bekanntschaft mit den beiden Texten auf einer frühen bzw. früheren Überliefe-

35 Auf den Blättern Bl. 140r–141v gibt es eine weitere Sequenz, die auch mit dem Vers Salve mater salvatoris (AH 47, Nr. 465) beginnt, die aber in keiner Beziehung mit der Vorlage für die deutsche Sequenz des Mönchs steht. 36 Zentrale Figur dieser Debatte ist Johannes Janota, der volkssprachlichen Liedern einen vollberechtigten liturgischen Gebrauch abspricht, ohne jedoch ihren tatsächlichen Gebrauch positiv zu erörtern. Deutliche Kritik an Janotas Liturgiedefinition findet sich bei Harnoncourt, S. 270–293. 37 Kraß: Mittit ad virginem, S. 213–218, hier S. 218. 38 Vgl. Bärnthaler, S. 493, der in seiner Dissertation auf das „komplexe Gewebe von einander widersprechenden Tendenzen“ unter den Übertragungen des Mönchs-Korpus hinweist.

218

David Murray

rungsstufe schließen. Gleiches gilt für die Wiederholung von erfrischet im fünften Vers, möglicherweise auch für die erhaltene Verbindung von nardus und smag. Man wäre auch geneigt, bestimmte Entscheidungen von G 8 als Rekurse auf G 7 zu betrachten. So lautet der siebte Doppelversikel: Moosburger Graduale

G 7 in Hs. A

G 8 in Hs. A

Tu thronus es Salomonis, Cui nullus par in thronis Arte vel materia ; Ebur candens castitatis Aurum fulvum caritatis Praesignant mysteria.

Du pist der thron Salomonis, dem geleicht sich kaines thrones von materi noch von kunst. edler helfant, weiß in kewsche, pruniertes gold, gelfig rewsche, du vol schönst wol all behent

Du pist herrn Salomonis thron, erpawen wart nie kain sal so schon von materi noch von kunst, der cheusch ein scheinich helfenpain, der chlarhait golt ie aus dir schein, hail bezaichent uns dein gunst.

Die Wahl von chlarheit in G 8 legt die Vermutung nahe, der Verfasser hätte unter dem Eindruck der Lichtsymbolik von ebur candens das Wort caritatis mit claritatis verwechselt. Ebenfalls bemerkenswert ist der gemeinsame Vers von materi noch von kunst, der nur in dieser Handschrift vorkommt: Die anderen Zeugnisse von G 7 haben an dieser Stelle forme noch ir understent, mit der Lesart nach in DE. Die beiden Lesarten aus G 8 (chlarheit und materi) nehmen, wenn auch nur kurz, die erwünschte Latinität von G 7 in Anspruch und geben Anlass für die Vermutung, dass nicht immer so einfach zwischen dem sogenannten wörtlicheren Übertragungsansatz und dem die Vorlage imitierenden ‚rituellen‘ Text unterschieden werden kann. In jedem Fall aber ist der potentiell gesungene Vortrag mitzudenken und damit die Melodie mitzuhören.39

6. Fazit Selbstverständlich müssen bei Übertragungen Abstriche an Sinn, Einheit oder Melodie in Kauf genommen werden. Als Versuche in der Kunst der Vermittlung zeigen die oben aufgeführten deutschsprachigen Sequenzen die breite Palette von technischen Möglichkeiten, die dem mittelalterlichen Liedübersetzer zur Verfügung standen. All diese Verfahren, die von der präzisen Imitation von linguistischen Elementen, sei es Sprachklängen oder Syntax, zur sorgsamen Wiedergabe des Inhalts bei entsprechender metrischer und/oder musikalischer Anpassung

39 Helen Deeming schreibt von der „virtual polyphony“, die die Wiederverwendung einer Melodie impliziert. Sie behauptet jedoch, dass „the new text never fully displaces the old“, S. 67.

Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

219

reichen, schließen bestimmte Verluste oder sogar tiefgreifende Änderungen mit ein. Die deutschen Texte sind jedoch bis zu einem gewissen Grad noch die Sequenz Salve mater salvatoris. Die Übertragungen stellen also – allen Abweichungen und Verwandlungen in Sinn oder Klang (und sogar Sprache) zum Trotz – ein äußerstes Glied des weitverzweigten und abwechslungsreichen Netzwerks von viktorinischen Sequenzen dar. Allerdings läßt sich innerhalb der Überlieferung der zwei deutschen Texte nicht immer einwandfrei zwischen zwei festumrissenen Übersetzungstraditionen unterscheiden, was einen in der Vermutung bestärkt, dass das entscheidende Element für den Erfolg des Salve mater salvatoris in der Tat seine Melodie war und dass erst sie das anhaltende Interesse am angeknüpften Text anregte. Konzipiert man nämlich die Übertragung als einen Versuch, eine Art Unmittelbarkeit zu einem künsterlichen Gegenstand zu erzeugen, sei sie ästhetisch oder inhaltlich gerichtet, so muss man bei jeglicher Einschätzung die Melodie als unabdingbare Teil der einheitlichen Sequenz bzw. des Gesangs einbinden. Sie ermöglichte und steuerte das Fortleben des Liedtextes, bildete aber auch die Basis einer solchen Einheitlichkeit, dass Dichter wie der Mönch von Salzburg einem neuen Publikum das erwünschte Erlebnis des unangetasteten Kerns des Salve mater salvatoris vermitteln konnten.

7. Literaturverzeichnis Adam de Saint-Victor. Quatorze proses du XIIe siècle à la louange de Marie. Hg. und übers. von Bernadette Jollès. Turnhout 1994 (Sous la règle de Saint Augustin 1). AH= Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Bärnthaler, Günther: Die Hymnen- und Sequenzenübersetzungen des Mönchs von Salzburg. Diss. Masch. Salzburg 1977. Deeming, Helen: Music, Memory and Mobility. Citation and Contrafactum in Thirteenth-Century Sequence Repertoires. In: Citation, Intertextuality and Memory in the Middle Ages and Renaissance. Bd. 2: Cross-Disciplinary Perspectives on Medieval Culture. Hg. von Giuliano di Bacco, Yolanda Plumley. Liverpool 2013, S. 67–81. Der Mönch von Salzburg. Die Melodien zu sämtlichen geistlichen und weltlichen Liedern. Hg. von Hans Waechter, Franz Viktor Spechtler. Göppingen 2004 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 719). Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Hg. von Franz Viktor Spechtler. Berlin, New York 1972 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 51). Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hg. von Christoph März. München 1999 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 114). Fassler, Margot E.: Gothic Song. Victorine Sequences and Augustinian Reform in Twelfth-Century Paris. 2. Auflage. Notre Dame 2011.

220

David Murray

Flotzinger, Rudolf: Musikgeschichte Österreichs. Bd. 1: Von den Anfängen zum Barock. 2., stark erweiterte Auflage. Wien 1995. Grosfillier, Jean: Les séquences d’Adam de Saint-Victor. Étude littéraire (Poétique et rhétorique). Textes et traductions, commentaires. Turnhout 2008 (Bibliotheca Victorina 20). Harnoncourt, Philipp: Gesamtkirchliche und teilkirchliche Liturgie. Studien zum liturgischen Heiligenkalendar und zum Gesang im Gottesdienst unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes. Freiburg im Breisgau 1974. Hausmann, Albrecht: Übertragungen. Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens. In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Britta Bußmann u. a. Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 5), S. XI–XX. Janota, Johannes: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 23). Kornrumpf, Gisela: Rezension zu Walther Röll: Vom Hof zur Singschule. Überlieferung und Rezeption eines Tones im 14.–17. Jahrhundert. In: Anzeiger für deutsches Altertum 90 (1979), S. 14–22. Kraß, Andreas: Mittit ad virginem. Die Bearbeitungen der Mariensequenz durch den Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Heinrich Laufenberg. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 193–219. Kraß, Andreas: Spielräume mittelalterlichen Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz Stabat mater dolorosa. In: Wolfram-Studien 14 (1996), S. 87–108. März, Christoph: Ein dreistimmiger Satz des Mönchs von Salzburg. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 1 (1980–1981), S. 161–173. März, Christoph: Pange lingua per omnia verba et melodia. Zu den Anfängen poetischer Hymnennachdichtung in deutscher Sprache. In: Der lateinische Hymnus im Mittelalter. Überlieferung – Ästhetik – Ausstrahlung. Hg. von Andreas Haug, Christoph März, Laurenz Welker. Kassel u. a. 2004 (Monumeta Monodica Medii Aevi. Subsidia 4), S. 279–299. Misset, Eugène, Pierre Aubrey: Les Proses d’Adam de Saint-Victor, texte et musique, précédées d’une étude critique. Paris 1900. Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich. Hg. von Reinhard Strohm u. a. http://www.musical-life.net (1. April 2018). Praßl, Franz Karl: Psallat Ecclesia Mater: Studien zu Repertoire und Verwendung von Sequenzen in der Liturgie österreichischer Augustinerchorherren vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Diss. Masch. Graz 1987. Quast, Bruno: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes im Mittelalter und früher Neuzeit. Tübingen 2005 (Bibliotheca Germanica 48). Raby, Frederic James Edward: A History of Christian-Latin Poetry from the Beginnings to the Close of the Middle Ages. Oxford 1927. Reiffenstein, Ingo: Deutsch und Latein im Spätmittelalter: Zur Übersetzungstheorie des 14. und 15. Jahrhunderts. In: Fs. Siegfried Grosse zum 60. Geburtstag. Hg. von Werner Besch u. a. Göppingen 1948 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 423), S. 195–208. Rosmer, Stefan: Der Mönch von Salzburg und das lateinische Lied. Studien zu den Liedern in stolligen Strophen im Korpus Mönch von Salzburg und zur Tradition lateinischer gottesdienstlicher Lieder im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert. Diss. Masch. Basel 2012.  







Die Übersetzungen des Mönchs von Salzburg als Lieder

221

Spanke, Hans: Das Mosburger Graduale. In: Zeitschrift für romanische Philologie 50 (1930), S. 582–595. Spechtler, Franz Viktor: Der Mönch von Salzburg: Untersuchungen über Handschriften, Geschichte, Gestalt und Werk des Dichters und Komponisten als Grundlegung einer textkritischen Ausgabe. Diss. Masch. Innsbruck 1963. Wachinger, Burghart: Der Mönch von Salzburg. In: 2VL 6 (1987), Sp. 658–670. Wachinger, Burghart: Der Mönch von Salzburg. Zur Überlieferung geistlicher Lieder im späten Mittelalter. Tübingen 1989 (Hermaea N.F. 57). Wachinger, Burghart: ‚Salve mater salvatoris‘ (deutsch). In: 2VL 8 (1992), Sp. 551 f. Wachinger, Burghart: Textgattungen und Musikgattungen beim Mönch von Salzburg und Oswald von Wolkenstein. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 132 (2010), S. 385–406. Waechter, Hans: Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Melodien. Göppingen 2005 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 724).  

Abteilung III: Antiphonen

Lydia Wegener

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina in spätmittelalterlichen Gebet- und Andachtsbüchern 1. Einprägsamkeit und Dignität – Vorbemerkungen zur Omnipräsenz des Salve regina in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur Das gemain kirchlich vnd gewonlich gesang – mit diesen Worten charakterisiert der Lutheranhänger Johann Freysleben in einer im Jahre 1523 erschienenen Flugschrift das Salve regina,1 die möglicherweise älteste der vier traditionellen marianischen Schlussantiphonen.2 Diese Äußerung steht zwar in einem spezifischen polemischen Kontext – der aggressiv ausgetragenen Salve regina-Debatte des sechzehnten Jahrhunderts ‒,3 angesichts der Allgegenwart der Antiphon in der religiösen Kultur des Spätmittelalters scheint Freyslebens Urteil jedoch auch aus heutiger Perspektive durchaus berechtigt.4 Für die Popularität des Salve regina, dessen Rezeption den strikt liturgischen Rahmen im fünfzehnten Jahrhundert längst gesprengt hat,5 dürften zwei Aspekte entscheidend gewesen sein: seine sprachliche Gestaltung und seine inhaltliche Fokussierung. Zunächst sei der Text gemäß seiner poetischen Struktur wiedergegeben:6 1 Freysleben, Aijr. 2 Bereits in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts etablierte sich der liturgische Brauch, das Tagesoffizium mit einem Mariengruß zu beschließen. Im Wechsel mit dem Salve regina wurden am Ende der Komplet die Antiphonen Alma redemptoris mater, Ave regina caelorum und Regina caeli angestimmt. Vgl. Heinz, S. 115‒117. Nach Heinz, S. 126, handelt es sich beim Salve regina wohl um die älteste der vier traditionellen Schlussantiphonen; Micus, S. 218, hält es dagegen für die zweitälteste. 3 Vgl. dazu Wegener, Lallinger, Cano, S. 395‒399, 432‒440 sowie Wegener. 4 Siehe Wegener, Lallinger, Cano, S. 396 f. 5 Vgl. Rettelbach, S. 42. 6 Der Wortlaut entspricht AH 50, S. 318 f., Nr. 245. Dort ist die Einteilung des Textes jedoch eine andere. Siehe zur poetischen Struktur des Salve regina Maier, S. 28 f.; Büttner, S. 259 f.; Berschin, S. 97–99.  







Dr. Lydia Wegener, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Projekt ‚Otto von Passau‘.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-009

226

Lydia Wegener

Salve, regina misericordiae, Vita, dulcedo et spes nostra, salve. Ad te clamamus exsules filii Evae, Ad te suspiramus gementes et flentes in hac lacrimarum valle. Eia ergo, advocata nostra, illos tuos misericordes oculos ad nos converte Et Iesum, benedictum fructum ventris tui, nobis post hoc exsilium ostende, O clemens, o pia, O dulcis Maria.7

Hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung des Salve regina ist es dem bisher nicht eindeutig identifizierbaren Verfasser gelungen,8 künstlerische Virtuosität und leichte Einprägsamkeit miteinander zu verbinden. Der durch Formen der Wiederholung und Steigerung gekennzeichnete Text ist aufgrund seiner Knappheit nicht nur relativ problemlos memorierbar,9 er lässt sich auch ohne großen Aufwand niederschreiben. Diese einfache Verfügbarkeit des Salve regina war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit den elementaren Glaubenstexten – hierzu zählen vor allem das Paternoster, das Ave Maria und das Symbolum Apostolicum – ergänzend zur Seite treten konnte.10 Für die Erhebung der Antiphon zu einem Grundtext christlichen Selbstverständnisses dürfte, wie bereits erwähnt, außerdem ihre inhaltliche Ausrichtung eine zentrale Rolle gespielt haben. Wie in einem Brennglas fokussiert das Salve regina die transzendente Erhabenheit Marias und die damit kontrastierende Verbannung des Menschen in die Niederungen der Sünde. Diesem Gegensatz korrespondiert die am Rechtsbrauch des clamor orientierte Anrufung Marias als regina

7 In der Übersetzung von Berschin, S. 97, lautet der Text: „Gegrüßet seist du Königin der Barmherzigkeit, | unser Leben, unsere Süßigkeit, unsere Hoffnung, sei gegrüßt. | Zu dir rufen wir elende Kinder Evas; | zu dir flehen wir seufzend und weinend in diesem Tal der Tränen. | Wohlan denn, unsere Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen zu uns | und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes, zeige uns nach diesem Elend. | O milde, o gütige, | o süße Maria.“ Abweichend von Berschin ist hier die Wortstellung der sechsten Zeile derjenigen des lateinischen Textes angeglichen (Berschin übersetzt „und zeige uns nach diesem Elend Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes“). 8 In der neueren Forschung werden als mögliche Autoren Hermannus Contractus (Delius, S. 250, Sp. a; Kraß: Stabat mater, S. 350) und Bernhard von Clairvaux (Heinz, S. 127 f.) vorgeschlagen. Die altgläubigen Salve regina-Verteidiger der 1520er Jahre legen sich im Anschluss an Johannes Trithemius auf Hermann als renommierten Urheber fest. Vgl. z. B. Georg Hauer, Dijr. Siehe dazu auch Wegener, S. 374 f. Die mittelalterliche Überlieferung macht außerdem Adhemar von Monteil und Petrus von Compostella als Verfasser der Antiphon geltend. Vgl. Maier, S. 3; Bauerreiß, S. 30‒33; Berschin, S. 103; Heinz, S. 127. 9 Siehe dazu ausführlicher Wegener, Lallinger, Cano, S. 401 f. 10 Vgl. Ochsenbein: Frömmigkeit, S. 295.  







Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

227

misericordiae.11 Die ausschließliche Perspektivierung der Gottesmutter als Befreierin des Menschen aus seiner existentiellen Notsituation resultiert in einer inhaltlichen Verdichtung des Salve regina, die von zeitgenössischen Kommentatoren wie dem Dominikaner Albert von Weissenstein als Ausweis seiner besonderen Dignität geltend gemacht wird.12 Zugleich erwächst aus dieser einseitigen Konzeptualisierung Marias eine Spannung, die auf die scharfe Debatte der Reformationszeit vorausweist. Zwar lässt die Bezeichnung der Gottesmutter als advocata nostra (Z. 5) auf ihre untergeordnete Position im Heilsgeschehen schließen; gleichwohl inszeniert die Antiphon Maria als alleinige Rettungsinstanz, von deren aktiver Zuwendung das Heil des Menschen abhängig ist. Jesus dagegen wird nur ein passiver Status als vorzuzeigendes Objekt zuerkannt (vgl. Z. 6).13 Mit der reformatorischen Neubestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses verliert die Bezeichnung advocata ihre orthodoxiesichernde Funktion. Martin Luther und seinen Anhängern gilt Christus als einziger advocatus des Menschen; die Benennung Marias als ‚Fürsprecherin‘ wird innerhalb dieses neuen theologischen Wissensrahmens als unzulässige Vergöttlichung einer Kreatur wahrgenommen.14 Aus der Perspektive spätmittelalterlicher Rezipienten, deren kulturelles Wissen über die Gnadenzuwendung Gottes von Vorstellungen pluraler Vermittlungsinstanzen bestimmt wird,15 erscheint das Salve regina jedoch als adäquater literarischer Ausdruck für die Maria zugesprochene Heilskompetenz. Indem sich die Gläubigen betend oder singend, privat oder in liturgischer Gemeinschaft die Stimme des anrufenden Wir performativ aneignen, bringen sie ein seit der „tiefgreifenden Barmherzigkeitswende“16 des zwölften Jahrhunderts in der christlichen Religiosität verankertes Vertrauen in die Hilfsbereitschaft der Gottesmutter zum Ausdruck.

11 Vgl. dazu Bauerreiß, bes. S. 30‒32. 12 Albert zufolge bringt das Salve regina das Lob Marias „erhabener und ausdrucksvoller“ (excellentius et expressius) zur Geltung als andere marianische Gesänge. Außerdem werde die Notlage des Menschen hier „geballter zusammengefasst“ (convolvitur et commassatur). Siehe WehrliJohns, Stotz, S. 305, Sp. a, Z. 243 f., 246. Zur Übersetzung siehe ebd., Sp. b. Vgl. außerdem Wegener, Lallinger, Cano, S. 400 f. 13 Die an Maria gerichtete Bitte des kollektiven Wir, ihm „nach diesem Elend“ Jesus zu zeigen, bezieht sich auf den jenseitigen Erlösungsstatus des Menschen. Die Präsenz Christi wird dadurch in eine Zukunft verlagert, in der das Erlösungsgeschehen bereits abgeschlossen ist. 14 Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 403, 434‒440; siehe außerdem Wegener, S. 377. 15 Siehe zur Typologie der spätmittelalterlichen Gnaden- und Heilsmedialität Hamm: Die Medialität, bes. S. 34‒48. 16 Hamm: Gottes gnädiges Gericht, S. 434 f.  





228

Lydia Wegener

2. Gestalterische Kreativität versus pragmatische Aneignung? Rezeptionsformen des Salve regina in deutschsprachigen Gebet- und Andachtsbüchern In volkssprachlichen Gebet- und Andachtsbüchern findet sich eine Vielzahl von Salve regina-Adaptationen.17 Auf der einen Seite stehen zahlreiche Versparaphrasen und Glossengedichte sowie vereinzelte Prosaparaphrasen, die in der Mehrzahl im fünfzehnten Jahrhundert entstanden sind.18 Sie zeugen von einer gestalterischen Kreativität, die durch die sprachliche wie inhaltliche Konzeption der Antiphon gleichermaßen angeregt worden sein dürfte. Zwar ist das Salve regina in seiner generellen Aussage unmittelbar verständlich – gerade dieser Verzicht auf eine ‚Verrätselung‘ ermöglichte seine Hinzufügung zum stets verfügbaren Grundinventar christlicher Glaubenstexte ‒;19 gleichwohl bietet die Identifikation Marias mit den Abstrakta ‚Leben‘, ‚Süßigkeit‘ und ‚Hoffnung‘, die in semantisch offener Weise die allgemeine Menschzuwendung Marias indizieren,20 Auslegungsspielräume. Zudem lädt die binäre Struktur der Antiphon, welche die räumliche, zeitliche und hierarchische Distanz zwischen Anrufenden und Ange-

17 Zur Terminologie von Gebet- und Andachtsbuch siehe Lentes, S. 211‒216; Wiederkehr, S. 79‒ 122. 18 Eine vorläufige Auflistung bietet Wachinger 1992, Sp. 554‒559. Eine auf Wachingers Überblick basierende und diese durch Neufunde erweiternde Zusammenstellung aller momentan bekannten deutschsprachigen Aneignungen des Salve regina findet sich in der Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘. Damit ist es erstmals möglich, die Vielfalt volkssprachlicher Adaptationen der Antiphon systematisch zu erforschen. 19 Als Beispiel für einen ‚verrätselten‘ marianischen Text, dessen syntaktische wie semantische Struktur ausgesprochen hohe Anforderungen an Rezipienten und Rezipientinnen stellt, sei hier die Sequenz Ave praeclara maris stella genannt. Mit den volkssprachlichen Aneignungen dieses Textes setzt sich die 2019 innerhalb dieser Buchreihe erschienene Berliner Dissertation von Eva Rothenberger auseinander: ‚Ave praeclara maris stella‘. Poetische und liturgische Transformationen der Mariensequenz im deutschen Mittelalter. 20 Zum semantischen Spektrum von ‚Süßigkeit‘ siehe die umfassende Studie von Ohly. In Bezug auf die Süße Gottes bemerkt Ohly, dass diese Gottes Zugewandtheit zur Welt und den Menschen (statt eines selbstgenügsamen In-sich-Ruhens) bezeichne. Vgl. ebd., S. 7. Die auf Maria bezogenen Begriffe vita, dulcedo und spes bringen in gleicher Weise die Zuwendung der Gottesmutter zur sündenbeladenen Menschheit zum Ausdruck. Das Possessivpronomen nostra (vgl. Z. 2) unterstreicht diese Verbindung, signalisiert aber zugleich, dass es sich um ein kollektives, nicht um ein individuelles Verhältnis handelt. Siehe auch die Ausführungen in der folgenden Anmerkung.

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

229

rufener unterstreicht,21 zu sprachlichen Umgestaltungen ein, um dem Bedürfnis nach ‚persönlicher Nähe‘ zur Gottesmutter entgegenzukommen. Stimulierend wirkt zudem die im Salve regina angelegte Spannung zwischen der fürbittenden und rettenden Funktion Marias. Exemplarisch sei hier die in vierzehn Handschriften erhaltene Versparaphrase Salve gegrüsset seystu aller engel fraw (I) aufgeführt, die den knappen Text des Salve regina in vierundvierzig Verspaaren, die jeweils durch ein Einzelwort der lateinischen Antiphon eingeleitet werden, auslegend begleitet.22 Dabei zeigt sich eine Tendenz zur Konkretisierung, Korrektur und Intensivierung des Vorlagentextes.23 Dass das Salve regina zu einer kritischen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gnadenkonzepten anregen konnte, beweist die in immerhin drei Handschriften bewahrte Prosaparaphrase Bis gegrüsset küngyn der parmhertzigkeit.24

21 Diese Gegensatzpaare werden im Salve regina nicht explizit formuliert, sind ihm jedoch durch die spezifische Gestaltung der Anrufungssituation – die den weltlichen Rechtsbrauch des clamor auf die religiöse Sphäre überträgt ‒ eingeschrieben. In räumlicher Hinsicht stehen einander ‚unten‘ und ‚oben‘, ‚Jammertal‘ und ‚Himmelreich‘ gegenüber; in temporaler Hinsicht ist der zeitenthobenen Transzendenz Marias die Weltimmanenz des anrufenden Wir (die es zu überwinden hofft, vgl. Z. 6) entgegengesetzt. Marias hierarchische Distanz zu den Gläubigen wird durch die Opposition von königlichem Status und Exil, Erhabenheit und Verworfenheit, Gottesnähe und Gottesferne markiert. Die binäre Struktur des Salve regina sichert zwar Marias jenseitige Machtposition als advocata ab, lässt jedoch keine intime Nähe zum einzelnen Menschen zu. Thema der Antiphon ist dementsprechend die conditio humana, nicht die Sündhaftigkeit des Individuums. 22 In Wachingers Zusammenstellung von Glossengedichten und Versparaphrasen handelt es sich um die Nr. 4 (Sp. 555). Zu den vierzehn bislang bekannten Überlieferungszeugen siehe die Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/ 10114 (8. Juni 2018). 23 Eine ausführliche Analyse der Versparaphrase hat Franziska Lallinger durchgeführt. Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 407‒420. Die folgenden Zitate und Stellenangaben sind der Edition der Freiburger Handschrift (Freiburg, Universitätsbibliothek, Hs. 44, Bl. 33r‒35v) entnommen. Siehe Wegener, Lallinger, Cano, S. 440‒443. Zur Konkretisierung vgl. z. B. das Verspaar 6,1/6,2, welches sich auf das Lemma Et spes bezieht: Geding, hoffung han wir zuͦ dir, | hilf vns von vnsern noͤ ten schier. Das Abstraktum spes wird hier durch den Terminus geding (‚Übereinkunft‘, ‚Vertrag‘, ‚Zusage‘) als rechtliche Verpflichtung Marias gegenüber den Gläubigen ausgelegt. Eine Korrektur des Salve regina findet dahingehend statt, dass verschiedene ‚fehlende‘ Aspekte ergänzt oder verstärkt werden. Dies betrifft vor allem Marias Mütterlichkeit (vgl. 3,1; 18,2; 34,2; 38,2; 40,2) und ihre grüßende Zuwendung zu den Gläubigen (vgl. 8,1/8,2), durch die das hierarchische Verhältnis zwar nicht aufgehoben, aber durch Aspekte eines Gegenseitigkeitsverhältnisses modifiziert wird. Die dem Salve regina inhärierende Spannung wird dahingehend intensiviert, dass Maria zugleich zu einer christusähnlichen Figur erhöht und an ihre subordinierte heilsgeschichtliche Funktion zurückgebunden wird. Vgl. dazu Wegener, Lallinger, Cano, S. 412‒417. 24 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4701, Bl. 139r‒148v; Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod Cent. VII, 24, Bl. 67v‒82r; Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Will II, 19.8°, Bl. 48r‒61r. Diese Übersicht über die handschriftliche Tradierung ist der Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘ zu  

230

Lydia Wegener

In diesem dialogisch angelegten Text wird Maria eine eigene Stimme zuerkannt. Entgegen der Erwartung des anrufenden Wir, das mit ihr verbundene Barmherzigkeitsparadigma gemäß ihrer traditionellen Rollenzuschreibung zu erfüllen, weist sie die Gläubigen aufgrund der selbst verschuldeten Defizite ihrer Lebensführung zurück.25 Das insbesondere mit der Figur Marias verbundene Konzept der ‚nahen Gnade‘ wird hier zugunsten der Vorstellung von der ‚fernen‘, hart zu verdienenden Gnade infrage gestellt, allerdings nicht aufgehoben.26 Die andere Seite der volkssprachlichen Rezeption des Salve regina wird durch ‚glossierende Adaptationen‘ repräsentiert.27 Im Unterschied zu den Paraphrasen und Glossengedichten – in die durchaus glossierende Adaptationen als Bezugstext inseriert sein können28 ‒ halten sie sich mehr oder weniger eng an die lateinische Vorlage. Relativ große Gestaltungsspielräume nehmen sich verschiedentlich die glossierenden Versübertragungen heraus,29 deren Verpflichtung auf ein bestimmtes Formprinzip zu inhaltlichen Modifikationen des Ausgangstextes führen kann.30 Der Übergang zur Salve regina-Paraphrase ist hier fließend.31 Nur einen minimalen Spielraum für die eigenständige Gestaltung bieten dagegen glossierende Prosaübertragungen des Salve regina. Hier scheint die Rezep-

verdanken. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/10577 (8. Juni 2018). Die Aussage, dass es sich vermutlich um eine unikal überlieferte Paraphrase des Salve regina handele (vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 420), ist daher zu korrigieren. 25 Eine ausführliche Analyse der Prosaparaphrase stammt von Arrate Cano Martín-Lara. Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 420‒432. 26 Vgl. zur Konkurrenz der beiden Gnadenkonzepte Hamm: Die ‚nahe Gnade‘, bes. S. 548‒550. 27 Der Begriff ist übernommen aus Kraß: Spielräume, S. 104 f. 28 Dies gilt z. B. für die genannte Prosaparaphrase Bis gegrüsset küngyn der parmhertzigkeit. Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 420‒424. Als Alternative wird häufig – wie in der Versparaphrase Salve gegrüsset seystu aller engel fraw – der lateinische Text als Referenz für die deutsche Auslegung mit aufgenommen. Siehe oben, S. 229. 29 Als glossierende Versübertragungen können gelten: Du wis gegruezt mueter chunigin der paremherczichayt (Wachinger, Nr. 1, Sp. 554); Fraw von herczen wir dich grüssen chunigin der parmherczikhayt (Wachinger, Nr. 9, Sp. 556); Gegrusset seystu mayt gemayt künigin der parmhertzigkeyt; Gegruzet von uns ruche sin der erbarmunge kunegin; Gegrüßet systu mit innekeit O konnegyn der barmherczekeit (Wachinger, Nr. 18, Sp. 558); Mein gruß sei dir gesait ein künigin der barmhercikait (aus dem Prolog von Der maget krône; vgl. Zingerle, S. 509,25‒510,42); Mit disem tewschen salve regina Gruß ich dich kungin Maria (Wachinger, Nr. 13, Sp. 557). Alle genannten Paraphrasen sind in der Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘ aufgeführt. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/ browse/hymn/6941 (8. Juni 2018). 30 Die Orientierung am Wortlaut der lateinischen Antiphon bleibt jedoch stets erkennbar. 31 Siehe zu diesem Lavieren zwischen Ausgangstextgebundenheit und eigenständiger inhaltlicher Variation z. B. die von Wackernagel (S. 677, Nr. 867) in drei Strophen edierte Adaptation Salve küngein der barmung schrein. Auch diese ist über die Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘ zugänglich. Vgl. Anm. 29.  





Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

231

tion der Antiphon einem grundsätzlich anderen Interesse zu folgen, als dies bei den bereits erwähnten Aneignungsformen der Fall ist. Weder geht es um die Bewahrung einer spezifisch ästhetischen Qualität noch um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Stattdessen soll dem Leser oder der Leserin ein grundlegender Glaubenstext in seiner durch die kirchliche Tradition legitimierten Form zum alltäglichen Gebrauch verfügbar gemacht werden. Diesem pragmatischen Anliegen tun die glossierenden Prosaübertragungen Genüge. Nach jetzigem Forschungsstand lassen sich zwei Überlieferungsgruppen unterscheiden: Die niederländischen Übertragungen, die der Gruppe Ghegruet sijstu conninginne der barmherticheit angehören, finden sich häufig als „Schlussantiphon zur Komplet der marianischen Tagzeiten in Grootes Getijdenboek“32. Kennzeichen dieser Gruppe ist der Rückgriff auf eine lateinische Version des Salve regina, die in der zweiten Zeile nicht Vita, dulcedo, sondern stattdessen Vitae dulcedo liest.33 Die deutschen Übertragungen, die zur Gruppe Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit zählen, greifen teils auf die ältere, teils auf die jüngere Version des Salve regina zurück. Letztere enthält in der ersten Zeile den Zusatz mater (Salve, regina, mater misericordiae) und in der Schlussanrufung die Hinzufügung virgo (O dulcis virgo Maria).34 Ungeachtet dieser Variation sind die glossierenden Prosaübertragungen einander so ähnlich, dass „erst eine genauere Untersuchung […] darüber Aufschluss geben [könnte], welche internen Übertragungsgruppen sich ggfs. unterscheiden lassen“35. Offen ist die Frage, ob die Entsprechungen im Wortlaut auf einen bestimmten Übersetzer zurückzuführen sind – verschiedentlich findet sich in den Handschriften die Zuweisung an Johann von Neumarkt ‒,36 oder ob sie sich dem bereits erwähnten pragmatischen Aneignungsverfahren verdanken. Der letztere Fall würde voraussetzen, dass für die Terminologie des Aus-

32 Vgl. die Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/ browse/translation/10589 (8. Juni 2018). 33 Diese Version soll von Geert Groote eingeführt worden sein. Vgl. Micus, S. 220, Anm. 12. Als willkürlich ausgewähltes Beispiel sei auf Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 1922, Bl. 54v hingewiesen. Dort lautet die Wendung: des leuens sueticheit. 34 Siehe zu den Zusätzen Büttner, S. 259; Micus, S. 220; Berschin, S. 96, Anm. 32; Heinz, S. 128. Häufig enthalten die deutschen Übertragungen nur eine der beiden Erweiterungen. 35 Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/ translation/10615?_bc=S1.6941.10615 (8. Juni 2018). 36 Vgl. zu dieser Zuweisung Wachinger, Sp. 553 f.; Micus, S. 222. Auf die Notwendigkeit einer Überprüfung der Namensnennung weist die Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘ hin. http:// opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/translation/10615 (8. Juni 2018). Verschiedene Überlieferungszeugen der Gruppe sind inzwischen ediert. Siehe Klapper, S. 17, 351; Micus, S. 222; Wegener, Lallinger, Cano, S. 406, 423.  

232

Lydia Wegener

gangstextes ein bevorzugtes Set von Übersetzungswörtern zur Verfügung stand, das immer wieder Verwendung gefunden hat. Erklärbar wäre dies durch das vergleichbare kulturelle Wissen verschiedener Übersetzer, die mit der Begrifflichkeit geistlicher Literatur im Allgemeinen und marianischer Texte im Besonderen vertraut waren.37 Ebenso besteht die Möglichkeit, dass eine ‚ursprüngliche‘ Übersetzung in der Weitertradierung immer wieder leicht variiert worden ist, ohne die enge Orientierung am Ausgangstext aufzugeben. In jedem Fall scheinen die deutschen Prosaübertragungen des Salve regina der heutigen Forschung wenig Anreiz für eine intensivere Auseinandersetzung mit ihnen zu bieten. Ihre nur in Nuancen variierte Nähe zur lateinischen Vorlage erweist sie jedoch als besonders geeignet für die Erprobung einer rezeptionsorientierten Perspektive, die sich nicht auf den Einzeltext fixiert, sondern nach dessen Zusammenspiel mit anderen Texten fragt. Denn zumindest hinsichtlich ihrer Situierung in den Handschriften unterscheiden sich die glossierenden Adaptationen des Salve regina eklatant voneinander. Diese Art der Varianz ist ein Charakteristikum deutschsprachiger Gebet- und Andachtsbücher, die sich abweichend von den zumindest im Kern stabilen Stundenbüchern38 durch eine hohe Flexibilität der Textarrangements auszeichnen.39 Gerade diese Möglichkeit, aus der zur Verfügung stehenden Fülle relativ kurzer Frömmigkeitstexte eine Auswahl zu treffen,40 um diese in unterschiedlicher Weise miteinander zu kombinieren, dürfte einen wesentlichen Reiz bei der Anlage von Gebetbüchern ausgemacht haben.41 Nicht zu vergessen ist zudem, dass die individuell zusammengestellten Sammelhandschriften eine über persönliche Bedürfnisse hinausgehende kommunikative

37 Zu klären wäre etwa, ob für die Bezeichnung Marias als advocata eher vürsprecherinne als vogetinne das gängige Übersetzungswort ist. Letztere Bezeichnung findet in den Prosaübertragungen nur vereinzelt Verwendung. Siehe z. B. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2745, Bl. 168v. http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/browse/witness/10618?_bc=S1.6941.10615.10618 (8. Juni 2018). Für Martin Luthers Polemik gegen das Salve regina ist jedenfalls Marias Titulierung als ‚Fürsprecherin‘ (die Luther von der Bezeichnung als ‚Fürbitterin‘ abgrenzt) von zentraler Bedeutung. Siehe Wegener, Lallinger, Cano, S. 437 f. Siehe auch Wegener, S. 377. 38 Vgl. Matter: Das Stundenlied, S. 140; ders.: Tagzeitentexte, S. 25. 39 Vgl. Ochsenbein: Handschrift, S. 108 f.; Wiederkehr, S. 79. Allerdings ist der Übergang zwischen Gebet-, Andachts- und Stundenbuch fließend. Siehe Lentes, S. 70 f., 154; Ochsenbein: Handschrift, S. 107; Hamburger, S. 97, 99, 110. 40 Daneben bestand stets die Möglichkeit des Exzerpierens umfassender Vorlagentexte, um einen kontinuierlichen Zugang zu den für die eigenen spirituellen Bedürfnisse relevanten Passagen zu schaffen. 41 Auf diese Form der Kreativität, die darauf zielt, Texte durch ihre Selektion und Zusammenstellung miteinander ins Gespräch zu bringen, macht auch Matter (Das Stundenlied, S. 152) aufmerksam. Siehe zur Bedeutung von Textensembles für die spätmittelalterliche Handschriftenkultur ferner die Studie von Müller.  







Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

233

Funktion erfüllten, sofern sie Eingang in die klösterlichen Bibliotheken fanden.42 Das in der Gebetsauswahl und -zusammenstellung zutage tretende spezifische Profil eines Codex konnte so das geistliche Selbstverständnis einer monastischen Gemeinschaft widerspiegeln bzw. zu seiner Formung beitragen.43 Es ist anzunehmen, dass die unterschiedliche Kontextualisierung der glossierenden Prosaübertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit deren Wahrnehmung durch zeitgenössische Rezipienten und Rezipientinnen in jeweils spezifischer Weise beeinflusst hat. Zwar mag der Wortlaut nahezu identisch sein, die Funktionalisierung und Perspektivierung des deutschsprachigen Salve regina dürfte dennoch von Überlieferungsträger zu Überlieferungsträger variieren.44 Die Kreativität, welche die Glossengedichte, Paraphrasen und glossierenden Versübertragungen auszeichnet, ist dann aber nicht zugunsten einer rein pragmatischen Aneignung des Salve regina aufgegeben, sondern nur auf eine andere Ebene verlagert. Die folgenden Ausführungen werden anhand eines signifikanten Beispiels herausarbeiten, in welcher Weise das Zusammenspiel der glossierenden Prosaübertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit mit anderen geistlichen Texten ein spezifisches Sinnangebot generiert, das eine bestimmte Rezeption dieser Adaptation stimuliert. Bei dem ausgewählten Überlieferungsträger handelt es sich um ein spätmittelalterliches Mariengebetbuch der Universitätsbibliothek Frankfurt (Ms. germ. oct. 45).45 Nach einer knappen Vorstellung des Codex wird zunächst die dort enthaltene Prosaübertragung des Salve regina eingeführt. Die

42 Auf die Vielzahl von Gebetbüchern in den spätmittelalterlichen Bibliotheken reformierter Klöster weist z. B. Ochsenbein: Handschrift, S. 107 f. hin. Der von Ochsenbein geprägte, in der Forschung etablierte Terminus ‚Deutschsprachiges Privatgebetbuch‘ erscheint angesichts der Uneindeutigkeit des Terminus ‚privat‘ (private Zusammenstellung, privater Gebrauch, privater Besitz) und der fluktuierenden Grenze zwischen ‚privater Zugehörigkeit‘ und ‚Bibliothekszugehörigkeit‘ in den Klöstern problematisch. Daher wird im Folgenden nur von ‚Gebet‘ bzw. ‚Gebetbuch‘ gesprochen. 43 Am Beispiel der Mainzer Kartause zeigt Aris auf, wie sich die monastische Lektürepraxis des Spätmittelalters – die exzerpierende Aneignung von Texten und ihre Mitteilung durch das „Medium der Bibliothek“ – auf die Erweiterung der Textbestände auswirkt. Vgl. Aris, S. 296‒301. An dieser Entwicklung partizipieren auch volkssprachliche Handschriften, deren Anzahl im Zuge der monastischen Reformbewegungen des fünfzehnten Jahrhunderts enorm steigt. Siehe dazu z. B. Willing, S. 25‒30. 44 Dies trifft selbstverständlich auch auf die glossierenden Adaptationen anderer geistlicher Lieder zu. Die deutsche Prosaübertragung des Salve regina erweist sich aufgrund der äußerst geringen Variation ihres Wortlauts bei gleichzeitig weiter Verbreitung jedoch als besonders geeignet dafür, als fester Bezugspunkt bei der Analyse verschiedener geistlicher Textensembles zu dienen. 45 http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/msma/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-14297 (23. Juni 2018).  





234

Lydia Wegener

zentrale Frage lautet, ob der Text im Vergleich zur lateinischen Vorlage nuancierende Variationen aufweist, die eine bestimmte Perspektivierung der Antiphon andeuten. Danach werden die semantischen Bezüge des Salve regina zu seinem unmittelbaren Umfeld analysiert. Abschließend folgt eine Ausweitung der Perspektive auf die gesamte Handschrift.

3. Die Kontextualisierung der glossierenden Prosaübertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit im Frankfurter Mariengebetbuch Ms. germ. oct. 45 3.1 Kurzbeschreibung des Codex Bei der Handschrift handelt es sich um ein äußerst kleinformatiges Gebetbuch aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert,46 das mit Ausnahme des Schlusses nur Mariengebete enthält.47 Die Herkunft ist unbekannt;48 da der gesamte Codex von nur einer Hand geschrieben wurde, erscheint eine bewusste Textauswahl und -zusammenstellung wahrscheinlich. Auffallend ist der hohe ästhetische Anspruch der Handschrift: Die Abschnittseinteilung erfolgt durch Rubriken sowie durch rote Lombarden und mehrfarbige Initialen. Letztere sind mit figürlichem oder ornamentalem Schmuck ausgestattet. Im Rosenkranzgebet auf Bl. 138r‒148r werden die Zehnerabschnitte durch die Randzeichnung einer am Nagel baumelnden Gebetsschnur und einer Rosenblüte markiert. Verschiedentlich finden sich am unteren Blattrand Blumenranken. Außerdem enthält die Handschrift fünfundzwanzig ganzseitige kolorierte Federzeichnungen mit marianischen Themen, die auf zeitgenössischer Druckgraphik basieren.49 Hinzu kommt eine Randminiatur, die Maria mit zwei Schwertern im Herzen zeigt (Bl. 109r).

46 In der Miniatur auf Bl. 30r findet sich die Datierung auf das Jahr 1503. 47 Die folgenden knappen Informationen basieren auf den ausführlichen Beschreibungen in den Handschriftenkatalogen (Weimann, S. 139‒143; Cermann, S. 294‒300). 48 Aufgrund der Mundart dürfte es aus dem bairisch-ostschwäbischen Raum stammen. 49 Vgl. Cermann, S. 299.

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

235

3.2 Das Salue regina Die glossierende Prosaübertragung des Salve regina befindet sich auf Bl. 43v‒44r. Angekündigt wird sie durch die Rubrik Das Salue regina. Der Text lautet:50 Gegruͤ st seyeſt du, künigin der barmherczigkait, das leben, suͤ ssikait vnd vnser hoffenung, pis gegrüsset. Zů dir ruͤ ffen wir ellenden kinder Eue, zuͦ dir seünfftzen wir traurige vnd waynend in disem tal der trehern. Eya darvmb, vnser fürsprecherin, dein barmhertzige augen kere zuͦ vns vnd Jhesum, die gesegnetenn frucht deines leibs, nach disem ellend erzaige vns. O guͤ ttige, o milte, o suͤ sse Maria.

In der Handschrift ist der Text durchgängig geschrieben. Allerdings findet eine Abschnittseinteilung durch rote Strichelung statt. Auf diese Weise markiert sind die Anfänge der ersten,51 dritten und fünften Zeile. Ebenfalls rot gestrichelt sind die drei vokativen ‚O‘ der Schlussanrufung, so dass deren Emphase auch in visueller Hinsicht besonders hervorgehoben wird. Die inhaltliche Variation im Vergleich zum lateinischen Salve regina ist so minimal, dass sie nicht ins Gewicht zu fallen scheint. Im Gesamtkontext der Handschrift gewinnen jedoch zwei sehr dezente Änderungen der Wortstellung an Gewicht, durch die sich diese glossierende Adaptation von anderen Übertragungen derselben Gruppe unterscheidet.52 In den Zeilen fünf und sechs wird jeweils das Personalpronomen vns an die Schlussposition versetzt. Dadurch akzentuiert das anrufende Wir die Aktivität Marias (dein barmhertzige augen kere zuͦ vns; nach disem ellend erzaige vns), während andere Übertragungen das Personalpronomen nach vorne ziehen und dadurch die Menschzuwendung der Gottesmutter stärker fokussieren.53

50 Hier und im Folgenden werden Zitate weitgehend handschriftengetreu wiedergegeben. Allerdings erfolgt eine Regulierung der Groß-/Kleinschreibung dahingehend, dass Satzanfänge und Namen groß-, alle anderen Wörter kleingeschrieben werden. Außerdem entspricht die Interpunktion heutigen Konventionen, und Abbreviaturen – auch Namenskürzel – sind grundsätzlich aufgelöst. Schaft-s wird als rundes s wiedergegeben, andere Variationen der graphischen Zeichen finden ebenfalls keine Berücksichtigung. 51 Dort ist im Einleitungswort Gegruͤ st statt des ersten der zweite Buchstabe gestrichelt. Das G ist als Lombarde gestaltet. Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten. 52 Vgl. z. B. die Textwiedergaben in Wegener, Lallinger, Cano, S. 406 und 423. 53 Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 406.  

236

Lydia Wegener

3.3 Die Prosaübertragung des Salve regina in ihrem unmittelbaren Textumfeld Aus moderner, die ursprüngliche Gattungszugehörigkeit als Kriterium anwendender Perspektive steht das Salve regina innerhalb einer Gruppe von fünf marianischen Antiphonen, in der auch die drei weiteren traditionellen Schlussantiphonen vertreten sind.54 Fraglich erscheint dieses Kriterium jedoch, wenn die gleichartige typographische Markierung der Texte als Zusammengehörigkeitssignal verstanden wird, zumal der Schreiber oder die Schreiberin Lombarden bzw. Initialen zur visuellen Hierarchisierung genutzt hat.55 Aufgrund seiner mit den geistlichen Liedern übereinstimmenden Ausgestaltung dürfte das auf die letzte Antiphon ‒ Regina caeli ‒ folgende Gebet ebenfalls zu der genannten Gruppe gehören, so dass diese aus sechs Texten besteht.56 Im Fall von drei Antiphonen treten außerdem Versikel und Kollekte hinzu.57 Jeder der sechs ‚Haupttexte‘ wird durch eine einfache rote Lombarde eingeleitet, Gleiches gilt für die Kollektengebete.58 Dagegen beginnt der vor der Gruppe stehende Text – das Guldin Aue Maria – mit einer durch Goldgrund hervorgehobenen Lombarde.59 Der auf das gruppenabschließende Gebet folgende Text – ein explizit Bernhard zugeschriebenes Ablassgebet60 ‒ ist noch weitaus deutlicher hervorgehoben. Nicht nur geht ihm eine besonders umfangreiche Rubrik voraus; die ersten vier Zeilen des Gebetes sind eingerückt, um Platz für eine aus Rosenzweigen geformte O-Initiale zu schaffen. Zwischen der Rubrik und dem Textbeginn befindet sich zudem eine Bildseite.61 Die Texte der ‚Salve regina-Gruppe‘ fügen sich mit ihrer unprätentiösen Prosa unauffällig in den Gesamtduktus des Gebetbuchs als eines Zeugnisses ‚persönlicher‘ Frömmigkeit ein. Dementsprechend wird die erste der fünf Antiphonen, Ave

54 Die Antiphonen befinden sich auf Bl. 41r‒45v. Es handelt sich um Ave beatissima civitas, Alma redemptoris mater, Ave regina caelorum, Salve regina und Regina caeli. Zu den traditionellen marianischen Schlussantiphonen siehe oben, Anm. 2. 55 Vgl. Kraß: ‚Ave maris stella‘, S. 190 f. 56 Das Gebet, das Marias Beistand in der Todesstunde thematisiert, befindet sich auf Bl. 45v‒47r. Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten, S. 239. 57 Dies betrifft Alma redemptoris mater, Salve regina und Regina caeli. 58 Die Versikel und Kollekten werden jeweils durch die Rubrik Versickel bzw. Collecta angekündigt. Bei den Versikeln wird jedoch auf eine einleitende Lombarde verzichtet. 59 Vgl. Bl. 40r. 60 Auch beim Guldin Aue Maria handelt es sich um einen Text des Ps.-Bernhard von Clairvaux. Vgl. Weimann, S. 140. In der Handschrift findet sich jedoch keine Autornennung. 61 Das Gebet befindet sich auf Bl. 47r‒51v. Zur eingeschobenen Bildseite siehe Bl. 47v.  

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

237

beatissima civitas, in der Rubrik als andechtigs gebet angekündigt.62 Ungeachtet dieser ‚Privatisierung‘ bleibt die Anbindung an die Liturgie erhalten63 – dies nicht nur durch die Ausgangstextnähe der marianischen Antiphonen,64 sondern auch durch die Versikel und Kollekten, die zweimalige Verwendung der Gattungsbezeichnung antiffen und die Beibehaltung der lateinischen Titel für die geistlichen Lieder.65 Die Hinweise auf die Liturgienähe der Gebete und ihre gleichartige typographische Markierung signalisieren, dass es sich hier um rituell abgesicherte Basistexte marianischer Frömmigkeit handelt. Sie gehören zum jederzeit verfügbaren, keine besondere Vorbereitung erfordernden Grundinstrumentarium für die Hinwendung zur Gottesmutter.66 Innerhalb dieser Reihe ist das Salve regina visuell dadurch hervorgehoben, dass es als einziger Text mit einer dreizeiligen statt einer zweizeiligen roten Lombarde eingeleitet wird. Betrachtet man die anderen fünf Gebete als Rahmung des Salve regina, so kommt ihnen in Bezug auf dessen Inhalt eine intensivierende, explizierende und ergänzende Funktion zu. Intensiviert wird vor allem das Motiv des Mariengrußes. Bereits die erste angeführte Antiphon Ave beatissima civitas beginnt mit den Worten Bis gruͤ st, du hailige stat der gothait (Bl. 41v). Der Text von Alma redemptoris mater spielt auf den Englischen Gruß an (Bl. 42v: von Gabrielis mund empfachende den gruͦ sz ‚aue‘), das zugehörige Versikel besteht aus dem Anfangssatz des Ave Maria: Gegruͤ sset seyest Maria, vol genaden, der herr mit dir (Bl. 42v‒43r).67 Der Kulminationspunkt ist mit dem Dreifachgruß Marias in der Antiphon Ave regina caelorum erreicht.68 Die vielfache grüßende Zuwendung des kollektiven Wir ist nicht uneigennützig, sondern soll die Hilfsbereitschaft Marias stimulieren. Deren Wirksamkeit wird

62 Bl. 41r. 63 Diese Spannung zwischen individueller Gnadenaneignung und liturgischer Absicherung ist charakteristisch für die spätmittelalterliche Frömmigkeit. Vgl. z. B. Lentes, S. 163 f. 64 Diese gilt also nicht nur für das Salve regina. 65 Als antiffen werden Alma redemptoris mater (Bl. 42r) und Ave regina caelorum (Bl. 43r) angekündigt. Die lateinischen Titel folgen entweder auf die Rubrik – so im Falle von Ave beatissima civitas (Bl. 41r), Alma redemptoris mater (Bl. 42r) und Ave regina caelorum (Bl. 43r) ‒ oder sie sind Inhalt der Rubrik. Letzteres trifft auf das Salve regina (Bl. 43v) und auf Regina caeli (Bl. 45r) zu. 66 Dementsprechend knapp sind die Rubriken, die keinerlei Gebetsanweisung enthalten. Diese dienen der Steigerung der Heilswirksamkeit, setzen aber eine mentale wie körperliche Einstimmung auf das jeweilige Gebet voraus. Siehe dazu Rothenberger: Performative Heilsaneignung. 67 Im Unterschied zum Englischen Gruß im Lukasevangelium (vgl. Lk 1,28) wird hier der Name ‚Maria‘ hinzugefügt. 68 Bl. 43r‒v: Gegruͤ st seyest du, künigin der himel. Gegruͤ st seiest, ain fraw der engel. Gegruͤ st seiest du, hailige wurtz, ausz der geboren ist das liecht der welt.  



238

Lydia Wegener

in den Rahmentexten mit ihrem Sonderstatus als Gottesgebärerin begründet.69 Zwar bezeichnet auch das Salve regina Jesus als die gesegnete Leibesfrucht Marias, es verzichtet jedoch vollkommen auf eine Terminologie des Gebärens und der Gottesmutterschaft. Den begleitenden Texten kommt insofern eine explizierende Funktion zu. Zitiert sei hier nur das Versikel zum Salve regina: Jn aller vnser truͤ bseligkait vnd angstberlichen noͤ tten vnd an vnsernn leczten zeitten kumm vns zehilff, du raine gottes gebererin Maria (Bl. 44r‒v).70 Eine Korrektur bzw. Ergänzung des Salve regina findet auf mehreren Ebenen statt. Da die glossierende Prosaübertragung auf der älteren Version des lateinischen Textes basiert, fehlt in der Anrufung des kollektiven Wir der Aspekt von Marias Mütterlichkeit gegenüber dem Menschen. Dieses Defizit wird durch Ave beatissima civitas ausgeglichen. Hier ist die Hinwendung der Gläubigen zu ihrer transzendenten Helferin emotional aufgeladen: O liebe muͦ ter, bit vnsern schoͤ pffer […] (Bl. 41v). Verstärkte Aufmerksamkeit erfährt außerdem die – im Salve regina ausgeblendete – Erlöserrolle Christi.71 Zwar wird Marias Rolle als coredemptrix ebenfalls betont;72 daneben aber erscheint sie vor allem als diejenige, deren Bitte die Erlösungstat Christi für die Anrufenden fruchtbar macht. Sowohl die Kollekte zum Salve regina als auch diejenige zu Regina caeli bestimmen Marias Funktion in dieser Weise: Verleihe vnns, deynen dienern, bitten wir, herre, vnser got, mit ewiger der selen vnnd des leibs gesuͮ nthait zuͦ erfrewen vnd durch der erenhafftigen seligen Marie, all wegen junckfrawen, gebet von gegenwirtiger traurikait erloͤ set werden vnd niessen die ewigen freüde durch vnsern herrn Jhesum Cristum. Amen.73

69 Siehe zur Entstehung und Durchsetzung des Titels Theotokos bzw. Deigenitrix Scheffczyk. 70 Vgl. das Versikel zu Regina caeli: Frew dich, du gottes gebererin, alleluia. Wann dein suͮ n erstanden ist, alleluia (Bl. 45v). Als du gepererin gottes wird Maria ferner in Ave beatissima civitas adressiert (Bl. 42r). Explizite Geburtsterminologie findet sich außerdem in Alma redemptoris mater, Ave regina caelorum und Regina caeli (vgl. Bl. 42v, 43v, 45r). In Alma redemptoris mater wird Maria zudem als Gottesmutter angesprochen: du aller hailigiste vnsers erloͤ sers muͦ ter (Bl. 42r‒v). Die Gottesmutterschaft Marias wird auch im Kollektengebet zu Regina caeli thematisiert (vgl. Bl. 45v). 71 So lautet die Kollekte zu Alma redemptoris mater: Dein genad geüß vnserm gemuͤ t ein, bitten wir dich, herr; das wir, die erkennt haben die menschwerdung deines ewigen suͮ ns durch sein pitters leiden vnd creütz, gefordert werden zuͦ der glori seiner klaren vrstend (Bl. 43r). Die ausschließliche Adressierung Marias wird nicht nur hier, sondern auch in den beiden anderen Kollektengebeten aufgebrochen. 72 Vgl. z. B. Ave beatissima civitas, Bl. 42r: O Maria, mach vns rainig mit der hilff Cristi von allen schulden. 73 Kollekte zum Salve regina, Bl. 44v–45r.  

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

239

Almechtiger got, der du durch die erliche vrstende deines ainigen suͮ ns dein allerliebsten erfrewet hast, verleihe vnns, bitten wir, das wir durch sein erwirdig muͦ ter erlangen die freuden des ewigen lebens. Amen.74

Eine weitere Leerstelle im Salve regina, die durch die Begleittexte aufgefüllt wird, ist der Übergang des Menschen vom Diesseits ins Jenseits. Zwar artikuliert das anrufende Wir in der Antiphon seine Erlösungshoffnung, aber der Tod als Schnittstelle von Immanenz und Transzendenz bleibt hier ausgeklammert. Dagegen konkretisiert der Kontext die im Salve regina eingeforderte Menschzuwendung Marias zu ihrem Beistand in der Sterbestunde. Signifikant ist vor allem das gruppenabschließende Gebet, dessen Rubrik bereits auf sein zentrales Anliegen hinweist: Ain andechtigs gepet zuͦ vnser lieben frawen vmb ain seligs end zuͦ erwerbenn (Bl. 45v–46r).75 In diesem Gebet wechselt die kollektive Sprechinstanz der geistlichen Lieder zum persönlich betroffenen Ich, das Marias Beistand für sein individuelles Seelenheil in Anspruch nimmt. Der Text weist insofern über die ‚Salve regina-Gruppe‘ hinaus, als er zumindest implizit die Anlage des Mariengebetbuchs begründet und dessen religiöse Gebrauchsfunktion erläutert. Das anrufende Ich imaginiert sich als Sterbenden,76 der zur Adressierung der Gottesmutter nicht mehr in der Lage ist, und bittet sie darum, sich in dieser zukünftigen Schwellensituation an seine früheren Gebete zurückzuerinnern: Juͮ nckfraw aller junckfrawen vnd guͤ ttige fraw sancta Maria, thuͦ mit mir dein barmhertzigkait in der stund, so sich mein zuͮ ng vor dem aller herttesten tod nit bewegen müg dich anzuͦ ruͤ ffenn, noch meyne auͮ gen kain liecht vernemen vnd auch meinen oren kain stymm offenbar ist, dann so bis ingedenck, fraw, der stuͮ nden, in den ich yetz geüsz gebet zuͦ den oren deiner miltisten guͤ ttigkait vnd komm zehilff mir armen sünder in der letsten stund meiner notturfft […] (Bl. 46r–v).

Im Sinne der für die spätmittelalterliche Frömmigkeit charakteristischen ‚Zweiseitigkeitsformel‘77 erhofft das anrufende Ich also, dass sich Maria für seine zahlreichen Grüße in spezifischer Weise erkenntlich zeigen wird. Diese Erwartungshaltung lässt einen vorsichtigen Rückschluss auf die intendierte Gebrauchsfunktion des Gebetbuches zu: Die vermutlich vielfach variierte performative Aneignung seines Inhalts durch den Besitzer oder die Besitzerin dient der Vorbereitung auf

74 Kollekte zu Regina caeli, Bl. 45v. 75 Vgl. auch das Versikel zum Salve regina. Siehe oben, S. 238. 76 Die Geschlechtsidentität des anrufenden Ich bleibt in diesem Gebet offen. Genauso gut kann es sich also auch um ein weibliches Ich handeln, das sich als Sterbende vorstellt. 77 Vgl. Hamm: Die Medialität, S. 26, 46.

240

Lydia Wegener

die Sterbestunde. Die Gebete sollen rechtzeitig eine innere Verbindung zur Gottesmutter schaffen, damit deren transzendenter Beistand in der Todesstunde unabhängig vom physischen und psychischen Zustand des oder der Sterbenden gesichert ist. Wie gezeigt, wirken die umgebenden Texte so auf das volkssprachliche Salve regina ein, dass dieses im Vergleich zu seiner isolierten Lektüre neue Bedeutungen hinzugewinnt bzw. in seinem ursprünglichen Sinngehalt modifiziert wird. Umgekehrt beeinflusst die Salve regina-Adaptation die Wahrnehmung der Rahmentexte. So beschreiben diese zwar die Rolle Marias, fassen sie jedoch in keinen eingängigen Begriff. Der Terminus fürsprecherin findet sich innerhalb der Gruppe nur im Salve regina.78 Außerdem hebt diese Antiphon die sinnenhafte Zuwendung Marias zu den sie Anrufenden hervor, soll sie ihnen doch ihre barmhertzige augen zukehren (Z. 5). Im Salve regina dürfte damit zwar eher ein ritueller als ein intimer Gestus gemeint sein;79 in der Zusammenschau mit Ave beatissima civitas steigert er jedoch die dort geltend gemachte Mütterlichkeit Marias.80 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die glossierende Prosaübertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit mit den sie umgebenden Gebeten in einem paratextuellen Verhältnis steht. Bei einer kohärenten Lektüre verstärken sich die Gebete gegenseitig und laden sich zugleich wechselseitig mit Bedeutungen auf: Indem sich der Beter oder die Beterin im Duktus des Grußes an Maria wendet, sichert er oder sie sich ihren menschlich-mütterlichen Beistand in der Todesstunde. Fundiert ist Marias Wirksamkeit als Fürsprecherin in ihrem Status als Gottesgebärerin; dieser verleiht ihr die Macht, die Erlösungstat Christi für die Anrufenden wirksam werden zu lassen.

3.4 Die Prosaübertragung des Salve regina im Kontext der gesamten Handschrift Das Geflecht vielfältiger Sinnbezüge, das sich durch das wechselseitige Zusammenspiel der Gebete ergibt, lässt sich auf die gesamte Handschrift ausdehnen. Dieses zu entschlüsseln kann nicht das Ziel der folgenden Ausführungen sein. Vielmehr soll im Rückgriff auf die vorangehenden Überlegungen und unter Ein-

78 Außerhalb der ‚Salve regina-Gruppe‘ findet er allerdings Verwendung. Vgl. z. B. Bl. 38r: Maria, du vnser versprecherin; Bl. 111v: […] vnd mein helfferin vnd fürsprecherin seyest zuͦ deinem auserwelten lieben kinde. Siehe zu den Korrespondenzen zwischen dem Salve regina und der Gesamthandschrift den folgenden Abschnitt. 79 Vgl. Wegener, Lallinger, Cano, S. 404. 80 Siehe oben, S. 238.  

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

241

beziehung einiger neuer Aspekte gezeigt werden, inwiefern die Wechselwirkungen zwischen dem volkssprachlichen Salve regina und den anderen Gebetstexten zum spezifischen Profil der Handschrift beitragen. Nicht nur die besprochene Gebetssequenz, sondern die gesamte Handschrift steht im Zeichen des Mariengrußes. Dementsprechend prominent ist das Ave Maria vertreten,81 das in einem intertextuellen Verhältnis zum Salve regina steht, insofern dieses die Ave-Zeile et benedictus fructus ventris tui, Jesus in leichter Umformung zitiert (vgl. Z. 6). Zentrales Movens für die grüßende Hinwendung zur Gottesmutter ist der Wunsch nach ihrem Beistand in der Todesstunde. Durch die vielfache Repetition dieses auf die Zukunft gerichteten Hilfeersuchens entsteht das dominante Konzept Marias als der letztlich einzig relevanten Sterbehelferin,82 welche die Seele des Menschen sicher vom Diesseits ins Jenseits hinübergeleitet. Die Gesamtanlage des Gebetbuchs ist diesem Grundthema unterworfen;83 jedes Gebet wird durch die Fokussierung auf die Todesstunde zum Bestandteil einer umfassenden Sterbevorbereitung. Dies gilt auch für das Salve regina als liturgisch abgesichertem Grußgebet. Die Inszenierung Marias als Gewährleisterin des Heils in der Todes-

81 Das Gebetbuch enthält nicht nur auf Bl. 137r‒149r ein Rosenkranzgebet in der Grundform des Ave-Fünfzigers (vgl. Dröse, S. 347), sondern fordert immer wieder zum Beten des biblischen Mariengrußes auf. Vgl. z. B. Bl. 13r sowie die Zwischentitel zu den ‚Sieben himmlischen Freuden Marias‘ (Bl. 25v, 27r, 27v, 28v, 29r, 29v), zu den ‚Wochengebeten zu den sieben Schmerzen Marias‘ (Bl. 75r, 76r, 78r, 79v, 81v, 83r) und zu den ‚Sechs Rufen Marias unter dem Kreuz‘ (vgl. Bl. 113r, 113v, 114r). Zudem steht das Ave Maria programmatisch am Beginn der Handschrift (Bl. 2r, voraus gehen eine Verkündigungsdarstellung [Bl. 1v] und das Paternoster [Bl. 1r]). Allerdings fehlt die ursprünglich erste Lage des Codex. Vgl. Cermann, S. 298. Im Mariengebet Bl. 2r‒4r eignet sich das anrufende Ich den Gruß Gabriels an: Ich gruͤ sse dich, du aller hailigiste gottes gepererin, junckfraw Maria, mit dem selben gruͦ sz, da mit dich gegruͤ st hat Gabriel der ertzengel, sprechende: Gegruͤ sset seyestu Maria, vol genaden, der herr ist mit dir (Bl. 2r‒v). Zudem nehmen verschiedene Gebete auf den Englischen Gruß Bezug. Vgl. Bl. 16r, 103v‒104r, 131r‒v. 82 Exemplarisch zitiert seien nur wenige Stellen. Bl. 7v: An meinen letzsten zeitten sey mein gelait in dem himel in gottes thron; Bl. 18r: Du wöllest mich haimsuͦ chen an meinen letsten zeitten vnd mein sel antwurtten dem, der herttiglich darvmb gelitten hat; Bl. 23r: […] vnd beger von dir, das du mein ingedechtig seyest vor dem anplücke gottes, vnd an meinen letsten zeitten mir zehilff woͤ llest kommen; 51v‒52r (Rubrik): Mer ain besonnder andechtigs gebet zuͦ vnnser lieben frawen zuͦ erwerben ain seliges end; 100v‒101r (innerhalb der Rubrik): […] vnnd vnser liebe fraw wirt im erscheynen an seinem letzsten ende vnd wirt sein sele fuͤ ren in die ewigen frewden. Siehe auch das Versikel zum Salve regina. Vgl. oben, S. 238. 83 Vgl. auch Cermann, S. 300: „Vordringliches Anliegen des ganzen Buches ist der Beistand Mariens in der eigenen Sterbestunde und ihre Fürsprache beim Jüngsten Gericht.“ Eher dürfte es sich jedoch um das unmittelbar auf den Tod folgende Partikular- oder Individualgericht handeln. Siehe zu dieser seit dem dreizehnten Jahrhundert bestehenden Gerichtsvorstellung Hamm: Gottes gnädiges Gericht, S. 429‒431.  

242

Lydia Wegener

stunde ist an verschiedene den Gebeten eingeschriebene Begründungen für diese Rollenzuweisung gekoppelt. Sie beziehen sich a) auf den erhabenen Status Marias, b) die existentielle Notlage des Menschen und c) das Verhältnis Marias zu den sie Anrufenden. Die performative Aneignung des Codex im Gebetsvollzug bedeutet zugleich die Anerkennung dieser Begründungen. a) Die herausragende Stellung Marias, die ihre Heilskompetenz gewährleistet, wird formal-theologisch durch ihren Status als Gottesgebärerin,84 emotionalfrömmigkeitsbezogen durch die Nähe zu ihrem Sohn abgesichert. Dieser habe – so formuliert das Gebet zur Himmelfahrt Mariens auf Bl. 24r‒25v – seine Mutter damit beauftragt, dem sündigen Menschen gegen seine göttliche Gerechtigkeit beizustehen.85 Die aus ihrer Mütterlichkeit erwachsende Macht Marias über Christus wird vom anrufenden Ich wiederholt geltend gemacht: Erwirb mir huld hin zuͦ deinem kind (Bl. 7r); Gedenck mein heütt vor deinem lieben kind, wenn er dich nichtz verzeicht (Bl. 9r); […] das du mir verleichest dein lebendig gebet hin zuͦ deinem kind Jhesu Cristo (Bl. 12r); […] vnd erloͤ se mich vor dem zoren deynes kindes vnd vor weltlichen schanden (Bl. 50r). Die Fokussierung auf das Mutter-Kind-Verhältnis spiegelt sich auch in den Illustrationen des Codex wider, die teils Stationen der Heilsgeschichte zeigen, teils Andachtsbilder ohne konkreten historischen Rahmen reproduzieren.86 Von den fünfundzwanzig ganzseitigen Federzeichnungen zeigen sechzehn Maria mit dem Kind.87 Einmal wird eine Mutter-Kind-Darstellung am unteren Bildrand durch den Gekreuzigten ergänzt (vgl. Bl. 154v). In vier Miniaturen ist Maria dem Passionschristus zugeordnet,88 in drei Fällen wird sie ohne Jesus, jedoch mit anderen Begleitfiguren abgebildet.89 Nur eine Zeichnung stellt Maria überhaupt nicht dar.90 Das Bildprogramm blendet die Erlösungstat Christi also nicht aus ‒ ist sie doch die Voraussetzung für die Heilswirksamkeit Marias –, aber sein Schwerpunkt liegt eindeutig auf Marias Bezug zum

84 Vgl. Bl. 2r, 6v, 27r, 32r, 32v, 42r, 44v (Versikel zum Salve regina), 45v (Versikel zu Regina caeli), 51r, 59r, 60r, 62r, 81v, 130v, 155v. Siehe auch oben, S. 237 f. 85 Vgl. Bl. 24v‒25r. 86 Vgl. z. B. Bl. 13v die thronende Gottesmutter mit dem Kind. 87 Vgl. Bl. 4v, 13v, 15v, 17v, 30r, 30v, 39r, 39v, 47v, 54v, 59v, 67v // 124v, 132v, 137v, 149v. Der durch die Doppelvirgel markierte größere Abstand resultiert aus einer Folge von passionsbezogenen Gebeten, deren Illustrationen statt des Jesuskindes den erwachsenen Passionschristus zeigen. Siehe zum Zusammenwirken von Text und Bild in diesem auf das Mitleiden Marias bezogenen Teil des Gebetbuches, dessen Herzstück eine gereimte Übersetzung der Mariensequenz Stabat mater dolorosa ist, Kraß: Räume des Mitleidens. 88 Vgl. Bl. 73v, 85v, 92v, 114v. 89 Vgl. Bl. 1v, 23v, 101v. 90 Vgl. Bl. 163v. Die Illustration zeigt das Erscheinen der Trinität vor den sündigen Seelen im Fegefeuer.  



Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

243

Jesuskind. Das Salve regina ist damit in ein Umfeld eingebunden, das seine Fokussierung auf Maria als entscheidende Rettungsinstanz des Menschen zusätzlich verstärkt. Darauf hingewiesen sei, dass der vom anrufenden Wir imaginierte deiktische Gestus der Gottesmutter – das Vorweisen ihres Kindes91 – auf Bl. 67v ins Bild gesetzt wird. Es zeigt einen knienden Stifter mit Rosenkranz und Stundenglas, dem Maria ihr Kind entgegenneigt. Weiter oben wurde bereits dargestellt, dass die glossierende Prosaübertragung des Salve regina die lateinische Vorlage dahingehend nuanciert, dass sie in den Zeilen fünf und sechs die Aktivität Marias in den Vordergrund stellt.92 Dies entspricht der Grundkonzeption des Gebetbuches, Maria als von ihrem göttlichen Sohn eingesetzte Fürsprecherin des Menschen in seiner Todesstunde zu fokussieren, deren Aufgabe darin besteht, dem Menschen das jenseitige Heil zu erwerben.93 b) Als Begründung für die Notwendigkeit dieser Funktion stellen die Gebete die Sündenverfallenheit des Menschen und damit seine existentielle Notlage heraus. Die Selbstwahrnehmung des anrufenden Ich oder Wir ist weitgehend durch die Erkenntnis seiner Gottesferne bestimmt, die es ohne Beistand Marias nicht überwinden kann. Die Klagen über diese Entfremdung und ihre möglichen Folgen vor dem jenseitigen Gericht durchziehen das Mariengebetbuch.94 In diesen Duktus der Selbstanklage, der durch die Hoffnung auf Marias Hilfestellung motiviert wird, fügt sich auch das Salve regina ein. Dessen Formulierungen finden innerhalb des Codex einen vielfachen Widerhall – entweder, weil sie bewusst aufgegriffen und in andere Gebete inseriert werden, oder weil seine marianische Terminologie zum kulturellen Allgemeingut gehört und daher immer wieder aufgerufen wird. Signifikant ist in diesem Zusammenhang das siebte Gebet innerhalb einer Reihe von Wochengebeten zum Mitleiden Marias. Dessen Anfang lautet: Junckfraw ob allen junckfrawen, die aller barmherczigiste fürsprecherin Maria, durch das wainen, seünfftzen vnd vnaussprechenliche traurikait, alls du gehabt hast, da du sachest deinen lieben suͮ n Jhesum Cristum, deine ainige freüd, begraben: Hilff vnns ellenden kinder Eue, die zuͦ dir seünfftzen vnnd schreyen ausz disem ellenden iamertal. Eya, vnser verspre-

91 Siehe dazu auch oben, S. 227. 92 Vgl. S. 235. 93 Dementsprechend ist das Verb erwerben einer der Leitbegriffe des Codex. Vgl. z. B. Bl. 3r, 4r, 5v, 6v, 7r, 11v, 12r, 14v usw. 94 Nur wenige Beispiele seien zitiert. Bl. 6v: Erwirb mir ablas meiner sünd, wenn ich stand vor deinen muͤ terlichen gnaden alls ain schuldig mensch vnd wais nit, zuͦ wem ich fliehen soll denn zuͦ dir; Bl. 37r: Erhoͤ r mich sündigen menschen in meinem gepet; Bl. 53v‒54r: […] vnd secz dein hailiges verdienen zwischen des zorens deines liebenn kindes vnd meiner grossen sünden.  

244

Lydia Wegener

cherin, ker zuͦ vns deine barmhertzige augen vnd erzaige vnns genediglichen Jhesum Cristum, die gesegnet fruͮ cht deines leibs. O guͤ ttige, o milte, o suͤ sse Maria (Bl. 83v‒84r).

Die Zitation des Salve regina ist hier offensichtlich. Das anrufende Wir beschränkt sich jedoch nicht darauf, den clamor der Antiphon zu wiederholen. Vielmehr gibt es eine Begründung dafür, warum Maria sich dem Menschen zuneigen muss. c) Es ist die von den Gläubigen aktivierte Erinnerung Marias an ihr eigenes menschliches Erleben, die sie dazu bewegen soll, sich aus ihrer transzendenten Position heraus dem irdischen Jammertal zuzuwenden. Das Klagen der sündigen Menschheit im Salve regina wird durch das oben zitierte Wochengebet in ein Korrespondenzverhältnis mit Marias Trauerbekundungen während Christi Passion gesetzt. Die memoria ihres eigenen Schmerzes soll die Gottesmutter für das Leiden jener empfänglich machen, für die ihr Sohn seine Erlösungstat vollbracht hat. Deshalb wird der Schmerz der Gottverlassenheit vom kollektiven Wir ostentativ zur Schau gestellt. In diesem Kontext erhält eine weitere Nuance der Salve regina-Übertragung Relevanz. Die vierte Zeile der lateinischen Antiphon – Ad te suspiramus gementes et flentes in hac lacrimarum valle ‒ wird im Frankfurter Mariengebetbuch folgendermaßen wiedergegeben: Zuͦ dir seünfftzen wir traurige vnd waynend in disem tal der trehern (Bl. 44r). Weinen, Seufzen und Trauer sind genau jene Begriffe, mit denen das Wochengebet Marias Verhalten und Empfinden während der Bestattung Christi beschreibt. Die Korrelation zwischen der Salve reginaAdaptation und dem zitierten Gebetstext entfaltet sich nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf terminologischer Ebene. In ähnlicher Weise fordert auch das Johannes von Indersdorf zugeschriebene Memento-Gebet auf Bl. 93r‒100v Maria dazu auf, sich aufgrund ihrer eigenen irdischen Leidenserfahrung den Gläubigen zuzuwenden. Gleich zu Beginn eignet sich das anrufende Ich eine Formulierung des Salve regina an: Jch ellends kind Eue ruͤ ff dich an vnd beger: hilff meiner armen sel, vnd erman dich deines grossen hertzenlaids, das du hie auff erd gehabt hast (Bl. 93r). Die Maria zugeschriebene Bereitschaft, ihre Funktion als Fürsprecherin anzunehmen, liegt zudem im traditionellen Barmherzigkeitsparadigma begründet. Dieses wird auch in der Salve regina-Übertragung aktiviert, allerdings ohne Anbindung an die Mutterrolle Marias: Gegruͤ st seyeſt du, künigin der barmherczigkait (Bl. 43v). In der Gesamthandschrift ist die Anrufung Marias als ‚Mutter der Barmherzigkeit‘ jedoch programmatisch und kann so in der Rezeption auf die Salve regina-Adaptation ausstrahlen.95 Dies wird dadurch erleichtert, dass die Antiphon

95 Vgl. Bl. 5r, 6r, 11v, 15v (Bildunterschrift), 48r, 49r, 49v, 50r, 50v, 51r, 51v, 77v, 91r, 102r, 108v, 121v, 152v, 158r.

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

245

das Barmherzigkeitsparadigma nicht nur mit Marias Königinnenstatus, sondern auch mit ihrer sinnenhaften Zuwendung zum Menschen verklammert: dein barmhertzige augen kere zuͦ vns (Z. 5).96 Diese Betonung von Marias Körperlichkeit, die sie trotz ihrer Transzendenz als ‚menschlich‘ ausweist, zieht sich als roter Faden durch das Gebetbuch. Im Vordergrund steht dabei allerdings nicht ihr Blick,97 sondern ihr Gehör, mit dem sie das Flehen der Sünder wahrnehmen soll: Naig die oren deiner tugentlichen guͤ tte zuͦ dem vnwirdigen gebette deines armen dieners (Bl. 55r‒v); Naig die oren deiner miltikait meinen vnwirdigen bittuͮ ng (Bl. 62r‒v); Dann, du muͦ ter der barmhertzikait, so bis ingedechtig des gepetz, das ich yetzo schick zuͦ der miltikait deiner oren (Bl. 122r).98 Da das Salve regina als clamor konzipiert ist, steht es in einem semantischen Bezug zu diesen Aussagen, zumal sie die marianischen Attribute seiner Schlussanrufung (o guͤ ttige, o milte, o suͤ sse Maria) aufgreifen.99

4. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Einbindung der glossierenden Prosaübertragung Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit in das Frankfurter Mariengebetbuch Ms. germ. oct. 45 eine spezifische Rezeption dieser Adaptation anregt. Für ihre Gegenüberstellung von sündhaftem Wir und rettender Fürsprecherin ist der Codex ein Resonanzraum, der die Bedeutung ihrer einzelnen Aussagen intensiviert. Außerdem findet eine semantische ‚Aufladung‘ dadurch statt, dass fehlende oder implizit bleibende Aspekte der Übertragung durch den Kontext ergänzt oder verdeutlicht werden. Durch die grundsätzliche Ausrichtung der Handschrift auf die Sterbestunde wird die Salve regina-Übertragung zum Vorbereitungsgebet für einen guten Tod, der in der Konzeption dieses Gebetbuchs von der seelenbegleitenden Funktion Marias abhängig ist. Indem sich der Beter oder die Beterin die Stimme des anrufenden Wir aneignet, erinnert er oder sie die Gottesmutter an ihre eigenen irdischen Leiderfahrungen und stimuliert so ihre Zuwendungsbereitschaft. Diese kontextuelle ‚Anreicherung‘ des volkssprachlichen Salve regina dürfte für den Nutzer oder die Nutzerin des Mariengebetbuchs auch

96 Vgl. auch die Ausführungen oben, S. 240. 97 Dieser spielt allerdings auch eine Rolle. Vgl. z. B. Bl. 119r: Kere deine milte augen zuͦ allen zeitten barmhercziglich zuͦ mir. 98 Vgl. ferner Bl. 34v, 128r, 152r. 99 Alle drei Attribute sind als zum Barmherzigkeitsparadigma gehörende Bestimmungen Marias im Gebetbuch omnipräsent.  

246

Lydia Wegener

dann Bestand gehabt haben, wenn er oder sie den kurzen Text als Grundinventar marianischer Frömmigkeit auswendig kannte.

5. Literaturverzeichnis AH = Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Aris, Marc-Aeilko: Lesen und Erneuern ‒ Kulturelle Implikationen der spätmittelalterlichen Klosterreform. In: Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert. Hg. von Franz Xaver Bischof, Martin Thurner. Berlin 2013 (Münchener Universitätsschriften, KatholischTheologische Fakultät; Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 56), S. 291‒301. Bauerreiß, Romuald: Der ‚Clamor‘, eine verschollene mittelalterliche Gebetsform und das Salve Regina. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 62 (1949), S. 26‒33. Berschin, Walter: Hermann der Lahme als Sequenzdichter. Mit Diskussion der Antiphonen Salve regina und Alma redemptoris mater. In: Hermann der Lahme: Gelehrter und Dichter (1013‒1054). Hg. von Walter Berschin, Martin Hellmann. Heidelberg 2004, S. 73‒109. Büttner, Fred: Zur Geschichte der Marienantiphon ‚Salve regina‘. In: Archiv für Musikwissenschaft 46,4 (1989), S. 257‒270. Cermann, Regina (Bearb.): Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen-Voss†, Norbert H. Ott. Bd. 5/1: Hg. von Ulrike Bodemann, Norbert H. Ott unter Mitwirkung von Kristina Freienhagen-Baumgardt u. a. 43. Gebetbücher A‒F. München 2014 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Delius, Hans-Ulrich: Luther und das ‚Salve regina‘. In: Forschungen und Fortschritte 38,8 (1964), S. 249‒251. Der maget krône. Ein Legendenwerk aus dem 14. Jahrhundert. Hg. von Ignaz V. Zingerle. Wien 1864 (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Classe 47). Wien 1864, S. 489‒564. Dröse, Albrecht: Ein newes Gedicht, das von Marie Psalter spricht. Sixt Buchsbaums Rosenkranzgedicht im Herzog-Ernst-Ton. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 345‒371. Freysleben, Johann: Das Salue regina / nach dem richtscheyt / das da hayst / Graphi theopneustos / ermessen vnnd abgericht [Paul Kohl: Regensburg 1523] (VD 16: F 2631). Hamburger, Jeffrey: Another Perspective: The Book of Hours in Germany. In: Books of Hours Reconsidered. Hg. von Sandra Hindman, James H. Marrow. Turnhout 2013 (Studies in Medieval and Early Renaissance Art History), S. 97–152. Hamm, Berndt: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter. In: Medialität des Heils im späten Mittelalter. Hg. von Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2009 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 21‒59. Hamm, Berndt: Die ‚nahe Gnade‘ ‒ innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit. In: ders.: Religiosität im späten Mittelalter: Spannungspole, Neuaufbrüche,  

Aneignungsformen der Antiphon Salve regina

247

Normierungen. Hg. von Reinhold Friedrich, Wolfgang Simon. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), S. 544‒560. Hamm, Berndt: Gottes gnädiges Gericht. Spätmittelalterliche Bildinschriften als Zeugnisse intensivierter Barmherzigkeitsvorstellungen. In: ders.: Religiosität im späten Mittelalter: Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen. Hg. von Reinhold Friedrich, Wolfgang Simon. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), S. 425‒445. Hauer, Georg: Drey christlich predig vom Salue regina / dem Euangeli vnnd heyligen schrift gemesz [Andreas Lutz: Ingolstadt 1523] (VD 16: H 772). Heinz, Andreas: Christus- und Marienlob in Liturgie und Volksgebet. Trier 2010 (Trierer Theologische Studien 76). Kraß, Andreas: ‚Ave maris stella‘ und ‚Ave praeclara maris stella‘ in einem deutschen Mariengebetbuch. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 140 (2011), S. 190‒199. Kraß, Andreas: Räume des Mitleidens. Text-Bild-Beziehungen in einem spätmittelalterlichen Mariengebetbuch (Frankfurt, UB, Ms. germ. oct. 45). In: Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Hans Aurenhammer, Daniela Bohde. Bern u. a. 2015, S. 311‒332. Kraß, Andreas: Spielräume mittelalterlichen Übersetzens. Zu Bearbeitungen der Mariensequenz ‚Stabat mater dolorosa‘. In: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 1996 (Wolfram-Studien 14), S. 87‒108. Kraß, Andreas: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München 1998. Lentes, Thomas: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in undis zu Straßburg (1350‒1550). Diss. masch. Westfälische Wilhelms-Universität Münster 1996. Maier, Johannes: Studien zur Geschichte der Marienantiphon ‚Salve Regina‘. Regensburg 1939. Matter, Stefan: Das Stundenlied ‚Patris sapientia‘ und seine deutschsprachigen Übertragungen. Zu einem Schlüsseltext der spätmittelalterlichen Gebetbuchliteratur. In: Die Kunst der brevitas. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014. In Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel, Jan Cölln. Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 137‒153. Matter, Stefan: Tagzeitentexte des Mittelalters. Untersuchungen und Texte zur deutschsprachigen Gebetbuchliteratur. Unveröffentlichtes Typoskript 2017. http://www.academia.edu/ 28989157/Tagzeitentexte_des_Mittelalters._Untersuchungen_und_Texte_zur_deutsch sprachigen_Gebetbuchliteratur (10. Juni 2018). Micus, Rosa: Deutsche Bearbeitungen des Salve Regina und die kartausische Tradition. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 36 (1996/1997), S. 218–226. Müller, Diana: Textgemeinschaften. Der ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue in mittelalterlichen Sammelhandschriften. Frankfurt a. M. 2013. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/front door/index/index/docId/30069 (28. Mai 2018). Ochsenbein, Peter: Frömmigkeit eines Laien. Zur Gebetspraxis des Nikolaus von Flüe. In: Historisches Jahrbuch 104 (1984), S. 289–308. Ochsenbein, Peter: Handschrift und Druck in der Gebetbuchliteratur zwischen 1470 und 1520. In: Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Hg. von Gerd Dicke, Klaus Grubmüller. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 16), S. 105‒119.  



248

Lydia Wegener

Ohly, Friedrich: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik. Baden-Baden 1989. Rettelbach, Johannes: Fünfmal Salve Regina. In: Von Heiligen, Rittern und Narren. Mediävistische Studien für Hans-Joachim Behr zum 65. Geburtstag. Hg. von Ingrid Bennewitz, Wiebke Ohlendorf. Wiesbaden 2014, S. 41‒52. Rothenberger, Eva: ‚Ave praeclara maris stella‘. Poetische und liturgische Transformationen der Mariensequenz im deutschen Mittelalter. Berlin, Boston 2019 (Liturgie und Volkssprache 2). Rothenberger, Eva: Performative Heilsaneignung. Eine spätmittelalterliche Adaptation der Mariensequenz Ave praeclara maris stella als Gebet der privaten Frömmigkeit. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 65‒88. Scheffczyk, Leo: ‚Theotokos‘. In: Marienlexikon 6 (1994), Sp. 389‒391. Schriften Johanns von Neumarkt. Vierter Teil: Gebete des Hofkanzlers und des Prager Kulturkreises. Hg. von Joseph Klapper. Berlin 1935. Wachinger, Burkhart: Art. ‚Salve regina‘ (deutsch). In: 2VL 8 (1992), Sp. 552‒559. Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied. Bd. 2: Lieder und Leiche bis auf die Zeit der Reformation, von Otfried bis Hans Sachs einschl. (868‒1518). Leipzig 1867. Wegener, Lydia: Eyn konygin von gnaden. Die Neukonzeption des Marienbildes in altgläubigen Salve regina-Flugschriften des 16. Jahrhunderts. In: Kulturelle Wirkungen der Reformation – Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017. 2 Bde. Hg. von Klaus Fitschen u. a. Leipzig 2019 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 36), S. 371–379. Wegener, Lydia, Franziska Lallinger, Arrate Cano Martín-Lara: Transformation und Destruktion. Formen der volkssprachlichen Aneignung des Salve regina im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. In: Maria in Hymnus und Sequenz. Interdisziplinäre mediävistische Perspektiven. Hg. von Eva Rothenberger, Lydia Wegener. Berlin, Boston 2017 (Liturgie und Volkssprache 1), S. 395‒450. Wehrli-Johns, Martina, Peter Stotz: Der Traktat des Dominikaners Albert von Weissenstein über das Salve regina. In: Päpste, Pilger, Pönitentiarie. Fs. für Ludwig Schmugge. Hg. von Andreas Meyer u. a. Tübingen 2004, S. 283‒313. Weimann, Birgitt (Bearb.): Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Hg. vom Direktor der Bibliothek. Bd. 5: Die Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. IV: Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppe Manuscripta Germanica. Frankfurt a. M. 1980. Wiederkehr, Ruth: Das Hermetschwiler Gebetbuch: Studien zu deutschsprachiger Gebetbuchliteratur der Nord- und Zentralschweiz im Spätmittelalter. Mit einer Edition. Berlin, Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 5). Willing, Antje: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. Münster u. a. 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4).  











Lea Braun

Daz wir in dem tôde sweben Die Antiphon Media vita in morte sumus und Hartmanns von Aue Erzählung Der arme Heinrich Die aus dem elften Jahrhundert stammende Antiphon Media vita in morte sumus benennt, indem sie die Simultaneität von Leben und Tod betont, ein zentrales Merkmal der conditio humana.1 Die Tradition deutscher Bearbeitungen setzt erst im vierzehnten Jahrhundert ein, doch bezieht sich bereits im zwölften Jahrhundert der höfische Dichter Hartmann von Aue in seiner legendenhafte Novelle Der arme Heinrich explizit auf diese Antiphon, um das Schicksal seines Protagonisten theologisch zu überformen. Man könnte seine Erzählung, überspitzt formuliert, als Tropus auf das Media vita deuten. Jedenfalls bietet sie den frühesten volkssprachlichen Reflex auf die lateinische Antiphon. Der folgende Beitrag diskutiert zunächst die lateinische Antiphon, stellt dann ihre spätmittelalterlichen deutschen Übertragungen vor und beleuchtet abschließend Hartmanns Verwendung des Media vita im Armen Heinrich.

1. Die lateinische Antiphon Der Autor der seit dem elften Jahrhundert überlieferten Prozessionsantiphon ist unbekannt;2 die seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts übliche Zuschreibung an Notker I. ist widerlegt.3 Der Text ist zuerst im Reichenauer Tonar um 1070, einem Brevier aus Exeter und einem Antiphonar aus Verona überliefert.4 Walther Lipphardt stellt die von Peter Wagner angenommene gallikanische Herkunft des Gesanges in Frage und vermutet stattdessen eine Entstehung im Kontext der Gor-

1 Vgl. Bruggisser-Lanker, S. 132. 2 Cantus ID 003732; CAO-Index 3732; Chevalier Nr. 11419. 3 Vgl. Lipphardt: Media vita, Sp. 271; Steinen, S. 497. 4 Vgl. Lipphardt: Media vita, Sp. 272; der Reichenauer Textzeuge ist nur in einer Abschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert überliefert (Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1492); bei den übrigen Textzeugen handelt es sich um: London, British Library, MS Add. 30849; Verona, Biblioteca Capitolare, ms. XCVIII. Dr. Lea Braun, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur.

https://doi.org/10.1515/9783110648799-010

250

Lea Braun

zer Reform.5 Die Antiphon fand vielfältige Verwendung in der Liturgie, unter anderem in der Messe zum ersten Sonntag der vorösterlichen Fastenzeit sowie weiteren Anlässen der Fastenzeit und des Osterfestes.6 Außerdem war sie bei Prozessionen (Mainzer Passionale), „als Antiphon der Komplet und bei Begräbnissen“7 sowie in Osterspielen im Gebrauch. Doch auch in außerliturgischen Kontexten ist ihre Verwendung schon im dreizehnten Jahrhundert bezeugt, beispielsweise „zum ‚Schadensingen‘ gegenüber anderen“8 und vor Schlachten. Therese Bruggisser-Lanker bezeichnet die Antiphon treffend als „Memento-mori-Gesang“9 und spricht ihr ein weites Bedeutungsfeld und somit breite Verwendbarkeit in Ritus und Liturgie zu.10 Dem Lied selbst eigne der Status eines heiligen Textes, erkennbar an seiner Verwendung als ein „das Numinose beschwörende[r] Tex[t]“11, der als Zauber im Schadensgesang missbraucht werden könne. Die Antiphon umfasst zehn Verse, doch sind die Verse 7 bis 9, die an das Trishagion der Improperien (Heilandsklagen) erinnern,12 erst seit dem zwölften Jahrhundert bezeugt.13 Die Antiphon wird sowohl mit als auch ohne Melodie wiedergegeben.14 Im Folgenden drucke ich den Text gemäß der kritischen Edition der Analecta hymnica ab (Bd. 49, Nr. 784), die Quellen ab dem vierzehnten Jahrhundert heranzieht. Media vita in morte sumus. Quem quaerimus adiutorem, nisi te, Domine, qui pro peccatus nostris iuste irasceris? Sancte Deus!

Mitten im Leben sind wir im Tod. Welchen Helfer sollen wir suchen als dich, Herr, der du wegen unserer Sünden mit Recht zürnst. Heiliger Gott!

5 Vgl. Lipphardt: Media vita, Sp. 272; vgl. Peter Wagner: Media vita. 6 Vgl. Janota, S. 232 f.; Lipphardt: Lateinische Osterfeiern, S. 248, 261, 276, 339, 344, 412, 421. 7 Zu den Prozessionen vgl. Lipphardt: Mainzer Prozessionale, S. 96; zu Komplet und Begräbnissen vgl. ders.: Media vita, Sp. 272; zu den Osterspielen vgl. ders.: Lateinische Osterfeiern sowie Schmidtke, Hennig, Lipphardt, S. 255 und S. 408–410. 8 Janota, S. 232 f. 9 Bruggisser-Lanker, S. 150. 10 Ebd., S. 150 f. Zu den Verwendungen im liturgischen Kontext vgl. ihre detaillierte Aufstellung (ebd., S. 152 f.) mit detaillierten Diskussionen verschiedener Beispiele. 11 Ebd., S. 151. 12 Dies verbindet wiederum das Media vita mit der Tradition der Adoratio crucis und dem Karfreitagsritual. Vgl. die Diskussion ebd., S. 165–171. 13 Lipphardt: Media vita, Sp. 272. 14 Vgl. zu den Melodien Lipphardt: Mitten; Schuler; Wagner: Einführung.  







Daz wir in dem tôde sweben

Sancte fortis! Sancte et misericors salvator, Amarae morti ne tradas vos.

251

Heiliger Starker! Heiliger und barmherziger Erlöser, dem bitteren Tod liefere uns nicht aus.15

Die Verse der Antiphon sind von unterschiedlicher Länge; sie weisen auch keine Endreime, wohl aber Alliterationen und Anaphern auf. Im Unterschied dazu sind die amplificationes regelmäßig als achtsilbige, paargereimte Verse gestaltet. Trotz ihrer Kürze lässt sich die Antiphon in vier Teile gliedern. Die Verse 1 bis 2 konstatieren die Grundsituation, in der sich das sprechende ‚Wir‘ befindet. Die Verse 3 bis 6 stellen die Frage nach einem möglichen Helfer in dieser Notsituation und beantworten sie sogleich mit dem Verweis auf Gott. Das Trishagion der Verse 7 bis 9 erweitert die Beschreibung Gottes und ruft ihn dreimal an. Der zehnte Vers beschließt die Antiphon mit einer gebettypischen Schutzbitte. Der Text der Antiphon ist dialogisch strukturiert. Der nicht näher definierten, durch Verben in der ersten Person Plural (sumus, quaerimus) markierten Sprechergruppe ‚Wir‘ steht das ‚Du‘ (te) des im Vokativ apostrophierten Herrn (Domine) gegenüber, der als potentieller adiutor der Gläubigen näher bestimmt wird. Der zur Inklusion einladende Gesang der sprechenden Gruppe erweist sich als gemeinschaftsstiftender Akt, auf diese Weise wird die anfängliche Situationsbeschreibung generalisiert. Ergänzt wird die Wir-Du-Beziehung durch die Gegenwart einer dritten, als bedrohlich empfundenen Instanz, nämlich des in den Versen 2 (morte) und 10 (morti) aufgerufenen Todes. Seine schattenhafte Allgegenwart als unerwarteter Tod (mors repentina) wird in der Antiphon nicht nur thematisiert, sondern auch durch die Rahmenstellung des Motivs formal umgesetzt.16 Das ‚Wir‘ – die Gemeinschaft der Christen – wird als ohnmächtige Sprecherposition zwischen zwei übermächtigen Gegenpolen inszeniert. Die Hinwendung zum einen Pol (Gott) erweist sich als Rettung vor dem anderen (Tod). Die von Oppositionen und Antithesen geprägte Struktur des Textes verstärkt diese Dreieckskonstellation. Der Lebensmitte steht der Tod gegenüber, dem gerechten Zorn Gottes die Sündhaftigkeit der Menschen, der Allmacht Gottes die menschliche Hilflosigkeit und der göttlichen Gnade schließlich die Bitterkeit des Todes. Gott als mächtigem Erlöser der Menschen eignen die positiven Zuschreibungen, dem Tod als zentraler Bedrohung der Menschen die negativen Eigenschaften. Die menschliche Sprechergruppe hingegen wird einerseits als diesen beiden Mächten hilflos ausgesetzt, andererseits als potentiell beweglich zwischen

15 Die Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir. Ich danke Ricarda Wagner und Andreas Kraß für ihre Unterstützung. 16 Zur mors repentina vgl. Bruggisser-Lanker, S. 135.

252

Lea Braun

ihnen stehend inszeniert.17 Seine Sündhaftigkeit trennt den Menschen von Gott, bewirkt dessen Zorn und erzeugt die Furcht, dem Tod ausgeliefert zu werden. Die Hoffnung des Menschen liegt somit in der Vermeidung zukünftiger Sünde und der Teilhabe an der Gnade Gottes.18 Die Antiphon präsentiert die menschliche Hinwendung zu Gott als Erlösungsantwort auf die leidvolle conditio humana und führt diese Hinwendung zugleich performativ durch, indem sie mit dem Trishagion und der Fürbitte schließt. Diese Bewegung – weg vom bedrohlichen Tod, hin zum erlösenden Gott – sieht Therese Bruggisser-Lanker auch musikalisch im Media vita umgesetzt, dessen Melodie sich in kontinuierlich aufsteigenden Tonschritten im plagalen phrygischen Modus buchstäblich aus der Tiefe (dem Ton unter dem Grundton e) erhebt und dessen dreimalige Gottes-Anrufungen in beinahe magischer Repetition eines bogenförmig sich bis zum c hinauf spannenden und dann um fast eine Oktave fallenden Melismas (auf Sancte) durch ihre unmittelbare Ausdruckskraft die Eindringlichkeit dieser Bitte um Gehör verdeutlichen.19

Diese Bewegung aus der Tiefe empor zu Gott leitet die Antiphon durch eine rhetorische Frage ein (V. 3: Quem quaerimus),20 deren einzig mögliche Antwort im nächsten Vers sogleich folgt: nisi te, Domine (V. 4). Die Hinwendung zu Gott wird somit als alternativlos dargestellt. Mit der dreischrittigen Abfolge von Krise (ausgelöst durch die Erkenntnis der Allgegenwart des Todes), Suche (ausgedrückt in der in Wir-Form gehaltenen Frage) und Hinwendung zu Gott (als Antwort auf die Krise) enthält die Antiphon einen narrativen Kern, der sie auch für literarische, insbesondere dramatische Zusammenhänge anschlussfähig macht. Dies wird deutlich an der frühen Verwendung der Antiphon im Rahmen von Osterspielen,21 aber auch an der Integration der Antiphon in Hartmanns Prolog des Armen Heinrich. Neben der Tradition der deutschsprachigen Übertragungen des Media vita, die erst im späten Mittelalter einsetzt, steht Hartmanns Erzählung für eine andere, in ihrer Eigenart

17 Vgl. ebd., S. 133–138. 18 Bruggisser-Lanker verweist im Zusammenhang der memento mori-Tradition des dreizehnten Jahrhunderts auf die „enge Verquickung von Sünde, Tod und gerechter Vergeltung, denen das Individuum ausgesetzt ist. Die mit diesem Denkmuster verbundenen Ängste und die im System angelegte Heilsungewissheit gestalteten sich zusehends zur höchstpersönlichen Heilsangst, der nur durch angemessenen Verhalten beizukommen war“ (ebd., S. 129). 19 Ebd., S. 159. 20 Diese Formulierung erinnert zugleich an die Frage des Engels an die Marien vor dem leeren Grab Christi: Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae und spielt so Auferstehung und Erlösungshandeln Christi ein. 21 Vgl. Schmidtke, Hennig, Lipphardt, insbes. S. 255, 408–410.

Daz wir in dem tôde sweben

253

und Reichweite bemerkenswerte Art des volkssprachlichen Zugriffs auf die lateinische Antiphon. Die Antiphon wurde in der Überlieferung vielfach tropiert. In den Analecta hymnica ist ein Tropus Super Media Vita abgedruckt, dessen Text auf zehn Handschriften des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts basiert: Media vita in morte sumus. Quem quaerimus adiutorem nisi te, Domine, qui pro peccatis nostris iuste irasceris? 1

Ach, Homo, perpende, fragilis, Mortalis et instabilis, Quod vitare non poteris Mortem, quocunque ieris; Nam aufert te saepissime, Dum vivis libentissime. Sancte Deus!

Ach, hinfälliger, sterblicher und haltloser Mensch, bedenke, dass du dem Tod nicht entrinnen kannst, wohin du auch gehst. Denn oft, wenn du das Leben am meisten liebst, entreißt er dich.

2

Vae, Calamitatis in die Vermis fremet individiae Dum audit flentem animam: „Mortalis essem utinam, Quam mortis Christi gladius Transfixit; absit gravius.“ Sancte fortis!

Wehe, am Tag des Unglücks knurrt der Wurm vor Missgunst, sobald er eine weinende Seele hört: „Wenn ich, die mich das Schwert des Todes Christi durchbohrt hat, doch nur sterblich wäre; Schlimmeres möge mir erspart bleiben.“

3

Heu, Nihil valet nobilitas Neque sedis sublimitas, Nil generis potentia, Nil rerum adfluentia; Plus pura conscientia Valet mundi scientia. Sancte et misericors salvator, amarae morti ne tradas nos.

Weh, nichts gilt der Adel, nichts die Pracht des Throns, nichts ererbte Macht, nichts der Reichtum; viel mehr als das Wissen der Welt gilt ein reines Gewissen.22

Die erste Strophe bietet eine Paraphrase der ersten Verse des Media vita, allerdings nicht länger gehalten in der ersten Person Plural, sondern in einem mahnenden memento mori-Gestus der direkten Ansprache. In der zweiten Strophe kommt die unter den Qualen des Todes leidende Seele zu Wort, die sich ihre eige-

22 Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 314, Bl. 87v–88r, vom Jahr 1372. Übersetzung mit Korrekturen übernommen aus Bruggisser-Lanker, S. 176 f.  

254

Lea Braun

ne Sterblichkeit wünscht, um weiterem Leiden zu entgehen. Die dritte Strophe entkräftet den Wert weltlicher Güter und des sozialen Status und stellt dagegen die pura conscientia als einzigen Wert. Diese Tropierung konzentriert sich ganz auf die amplificatio der Anfangsverse des Media vita. Gott als möglicher adiutor wird nicht erwähnt, stattdessen ist der Mensch mit dem Verweis auf sein reines Gewissen auf sich selbst zurückgeworfen.

2. Die deutschen Übertragungen Die handschriftliche Überlieferung deutscher Übertragungen der Antiphon Media vita setzt im vierzehnten Jahrhundert ein und hat ihren Schwerpunkt im fünfzehnten und frühen sechzehnten Jahrhundert. Das ‚Verfasserlexikon‘ kennt fünf handschriftliche Prosaübertragungen sowie eine vorreformatorische Liedfassung, die in vier Handschriften und zwei Drucken bezeugt ist. Albrecht Hausmann fügt dieser Liedfassung vier handschriftliche und einen gedruckten Textzeugen hinzu und weist eine zweite vorreformatorische Liedfassung nach, die zwischen der ersten und Luthers Liedfassung steht und unikal in einem handschriftlichen Textzeugen überliefert ist.23 Das Berliner Repertorium verzeichnet insgesamt sechzehn hoch- und niederdeutsche Prosaübertragungen, die in achtzehn handschriftlichen Textzeugen überliefert sind.24 Nach heutigem Kenntnisstand stellt sich die Überlieferungssituation insgesamt wie folgt dar:25 Hochdeutsche Prosaübertragungen des 14., 15. und 16. Jahrhunderts: 14. Jh. 15. Jh.

Ein halb leben si wir an dem tod Breslau, Universitätsbibl., Cod. I F 458; Bl. 135r–v, Lektionarium, 14. Jh.26

1

Mitten in dem leben sey wir in dem tode (… vortume vns nicht) Erlangen, Universitätsbibl., Ms. B 16, Bl. 48r–v; Gebetbuch, v.J. 1418.27

2

23 Vgl. Hausmann. 24 Vgl. die Aufstellung des Berliner Repertoriums: http://opus.ub.hu-berlin.de/repertorium/ browse/hymn/7437 (13. September 2018). 25 Die Kürzel BR und VL bezeichnen respektive das Berliner Repertorium und das ‚Verfasserlexikon‘. Die Zahlen in Klammern hinter den Handschriften dienen der Identifikation der Textzeugen in der anschließenden Diskussion. Das Kürzel ‚HC‘ in den Fußnoten verweist auf die Nummer des Textzeugen im Handschriftencensus. Herzlich danke ich Andreas Kraß für Unterstützung bei dieser Zusammenstellung. 26 BR Nr. 7484; HC Nr. 22413. 27 BR Nr. 7478; HC Nr. 10671.

Daz wir in dem tôde sweben

255

Mittels leben wir sein in dem tod München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 444, Bl. 24r; Sammelhs., 1. Viertel 15. Jh.28 3 Mitten in dem leben sey wir in dem tod (… pittern tod) Augsburg, Universitätsbibl., Cod. III.1.4° 38, Bl. 71v; Gebetbuch, 1. Drittel 15. Jh.29 4 In dem halben leben syen wir in dem tod St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 1164, S. 131; Sammelhs., 15. Jh.30

5

O herre wir sind in unsern halben tagen Hohenfurt, Stiftsbibl. Ms. 15, Bl. 246v; Gebet- und Andachtsbuch; 15. Jh.31

6

In mitt des lebens sei wir im tod Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22930, Bl. 6r–v; Stundenbuch, 15. Jh.32 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22930, Bl. 99v; Stundenbuch, 15. Jh.33 O herr jnmitte des lebens sey wir in dem tode Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 87.10 Aug. 12°, Bl. 53v–54r; Gebetbuch, 15. Jh.34

7a 7b

8

Dieweil wir mitten in dem leben sein Dresden, Sächsische Landesbibl., Mscr. M 288, S. 196; Gebet- und Stundenbuch, 9 Ende 15. Jh.35 16. Jh.

In dem mittel unseres lebens sein wir in dem tod (Seelengärtlein) Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2706, Bl. 157v; Abschrift des Seelengärtlein (Straßburg 1510), um 1520.36 Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schloßbibl., Cod. 345 (2935), Bl. 41v; Gebetbuch, 1. Hälfte 16. Jh.37

10 11

Niederdeutsche Prosaübertragungen des 15. und 16. Jahrhunderts: 15. Jh.

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

God alleweldich in dat middel unses leuendes synt wy na by deme dode Kopenhagen, Königliche Bibl., ms. G.K.S. 8° 3423, Bl. 113v–114r; Gebetbuch, 15. Jh.38

BR Nr. 7433; HC Nr. 6139; VL Nr. I.1. BR Nr. 7494; HC Nr. 11274. BR Nr. 8147; HC Nr. 14609. BR Nr. 7489; HC Nr. 3758. BR Nr. 7487; HC Nr. 21114. BR Nr. 7488; HC Nr. 21114. BR Nr. 8099; HC Nr. 16674. BR Nr. 7479; HC Nr. 5731. BR Nr. 8145; HC Nr. 11093. BR Nr. 7523; HC Nr. 22079. HC Nr. 18475; VL Nr. I.5.

12

256

Lea Braun

Halff syn we an dem levende unde dot Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 1183 Helmst., Bl. 58v–59r; Gebetbuch, 15. Jh.39

13

In dem medel uns leuens so synt wyr yn dem dode Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7010 (W) 68, Bl. 175v–176r; Gebetbuch, 2. Hälfte 15. Jh.40

14

Mydden in dem leuen syn wij yn deme dode Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibl., 8° Cod. Ms. theol. 242 f. 15 Bl. 153v; Gebet- und Andachtsbuch, 2. Hälfte 15. Jh.41  

16. Jh.

Int myddel van vnsen leuende syn wy in den dode Greifswald, Universitätsbibl., nd. Hs. 10, Bl. 113v–114r; Gebet- und Andachtsbuch, 16 Ende 15. / Anfang 16. Jh.42 O Herr eint mydden vnsers lebens synt wyr myt den thoid vmbfangen Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7020 (W*) 72, Bl. 47v; Gebet- und Andachtsbuch, v.J. 1550–1579.43

17

Hochdeutsche Liedfassungen (vor Luther): En mitten jn des lebens czeit sein wir mit tod vmfangen Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, Cod. b IX 28 (10), Bl. 128v; Sammelhs., v.J. 1440–ca. 1470 (mit Noten).44 Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, Cod. a II 9, Bl. 23r–v; Sammelhs., 2. Drittel 15. Jh. (mit Noten).45 Ludwigsburg, Staatsarchiv, Bestand B 70, Nr. 41; ‚Crailsheimer Schulordnung‘, um 1480.46 München, Bayerische Staatsbibl., Clm 6034, Bl. 89r–v; Liederbuch, 15. Jh. (um 1480) (mit Noten).47 München, Bayerische Staatsbibl., Clm 6034, Bl. 90r; Liederbuch, 15. Jh. (um 1480).48 Mainz, Stadtbibl., Hs. I 82, Bl. 27v; Sammlung mystischer Texte, v.J. 1490–1491 (ohne Noten).49

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

BR Nr. 8057; HC Nr. 17175. HSK Heinemann, S. 97, Nr. 1291. BR Nr. 7443; HC Nr. 13055; Nr. VL I.3. BR Nr. 8055; HC Nr. 14498. BR Nr. 7444; HC Nr. 13409; VL Nr. I.4. VL Nr. I.2. BR Nr. 7468; HC Nr. 12463; VL Nr. IIa; Hausmann S1. BR Nr. 8037; HC Nr. 7876; Hausmann S2. HC Nr. 16808; VL Nr. IIc; Hausmann C. BR Nr. 7490; VL IIb; HC Nr. 15946; Hausmann M1. BR Nr. 8019; VL IIb; HC Nr. 15946; Hausmann M1. BR Nr. 7486; HC Nr. 12688, Hausmann Mz.

18 19 20 21a 21b 22

Daz wir in dem tôde sweben

München, Bayerische Staatsbibl., Cgm 857, Bl. 63r–v; Gebetbuch, v.J. 1490/1494 (ohne Noten).50 Michaelbeuern, Stiftsbibl., Man. cart. 1, Bl. 82v; Cantiones, dt., 1. Drittel 16. Jh. (mit Noten).51 Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, Cod. b II 21, Bl. 161v–162r; Sammelhs., v.J. 1550 (ohne Noten).52 Das Plenarium oder Ewangely buoch, Basel: Adam Petri 1514 (Basler Plenarium, 1. Auflage; VD 16 E 4457/4458).53 Das Plenarium oder Ewangely buoch, Basel: Adam Petri 1516 (Basler Plenarium, 2. Auflage; VD 16 E 4460).54 Der Gilgengart, [Augsburg: Johann Schönsperger, um 1520] (VD 16 G 2036).55 Mitten yn dem leben wir seyn mit dem tod vmb fangen Prag, Stadtarchiv, Hs. 8200, Bl. 15r–v; um 1500; Sammelhs. v.J. 1496 (ohne Noten).56

257

23 24 25 26 27 28

29

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das Überlieferungsfeld als erheblich breiter erweist als bislang bekannt. Anders als von Lipphardt festgestellt, findet sich eine Prosaübertragung mit Tendenz zur Versbildung bereits im vierzehnten Jahrhundert (Nr. 1). Interessanterweise ist in zwei Fällen das Media vita in einer Handschrift doppelt abgedruckt (Nr. 7, 21), mit unterschiedlichen Beischriften aber identischem Text. Der Überlieferungskontext ist in fast allen Handschriften ein klar religiös oder liturgisch geprägter; es handelt sich vielfach um Stunden-, Gebet- und Andachtsbücher.57 Das in einigen Handschriften am Ende eingefügte Kyrie eleison (Nr. 7, 22, 29) verstärkt noch den Fürbittencharakter der letzten Verse. Der Text wird wiederholt begleitet von Bei- oder Überschriften, die den lateinischen Titel nennen und/oder den Text als Antiphon kennzeichnen (Nr. 2, 4, 5, 6, 7, 8, 11, 13, 14, 21, 22). Die deutliche Rückbindung an die lateinische Tradition

50 BR Nr. 7477; HC Nr. 10262; Hausmann M2. 51 BR Nr. 7471; HC Nr. 16809; Hausmann Mi. 52 HC Nr. 12400; VL Nr. IIf; Hausmann S3. 53 VL Nr. IId; Hausmann B1. 54 VL Nr. IIe; Hausmann B2. 55 Hausmann A. 56 BR Nr. 8026; HC Nr. 6991, Hausmann Pr. Hier ist das Media vita um eine Litanei ergänzt. Hausmann zufolge handelt es sich um eine Bearbeitung der älteren (‚vorreformatorischen‘) deutschen Übersetzung In mitten unsers lebens zeit. Vielleicht diente sie als Zwischenstufe zwischen älteren Übertragungen und Luthers Übertragung (vgl. Hausmann, S. 106). 57 Ausnahmen sind die Handschriften Nr. 3 (enthält u. a. Cato; Stricker, Freidank; Buch der Rügen; Johannes Künlin; Rezepte), Nr. 5 (Sammelhandschrift mit teilweise medizinischem Inhalt) und Nr. 29 (Sammelhandschrift mit u. a. Freidank, Nordböhmischer Totentanz). Vgl. zu den religiösen Funktionen auch Schoberth.  



258

Lea Braun

und liturgische Funktion bleiben also gegeben. Nr. 15 nennt darüber hinaus noch eine konkrete Gebrauchsanweisung, die den Text mit Notsituationen in Verbindung bringt.58 Die Varianzen der Übertragungen sind insgesamt gering. Neben wechselnden Beischriften weisen die Textzeugen Nr. 5, 6 und 13 eine Vertauschung von Vers 5 und 6 auf; in den Textzeugen Nr. 6 und 13 sind die Verse 1 und 2 zusammengefasst. In den Textzeugen Nr. 18 und 19 und 21 bis 24 ist hinter Vers 3 ein zusätzlicher Vers eingefügt.59 Einige Texte ergänzen außerdem ein Kyrie eleison und/oder Pater noster am Ende des Textes. Die breite Überlieferungslage spricht für die Bekanntheit des lateinischen wie des deutschen Media vita und seine große Bedeutung für vielfältige liturgienahe Kontexte. Mit den Baseler Drucken zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts und der Verwendung im Ablassritus zur gleichen Zeit wird die Verbreitung über den gesamten deutschsprachigen Raum ausgedehnt.60 Die Übersetzung durch Luther im Jahr 1524 und damit die protestantische Verwendung als Kirchenlied sowie die Aufnahme auch in das katholische Gesangbuch im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sichern den volkssprachigen Übertragungen der Antiphon endgültig ihren ubiquitären Status. Im Kontrast zu dieser reichen und recht vorlagengetreuen Übersetzungssituation steht die wohl früheste Aneignung des Media vita in der volkssprachigen Literatur, nämlich im Armen Heinrich Hartmanns von Aue. Dieser Fall unterscheidet sich grundlegend von den volkssprachigen Übertragungen. Einerseits stellt Hartmanns Novelle keinen geistlich-liturgischen, sondern einen höfisch-literarischen Kontext dar. Andererseits zitiert Hartmann das Media vita zunächst wie ein lateinisches incipit an, lässt dann aber nicht den eigentlichen Text folgen, sondern eine Variation auf Thema und Motive der Antiphon.

3. Der arme Heinrich Das Media vita-Zitat steht am Beginn der Erzählung über den Ritter Heinrich, der trotz höfischer Idealität unvermittelt von der miselsuht befallen wird und damit seinen gesellschaftlichen Status verliert.61 Auf der Suche nach Heilung konsultiert er einen meister in Salerno, der ihm als einzige Möglichkeit das willentliche

58 Beischrift: Ite(m) wanner men de letanye lesen wyl vor eyne notsake so salme(n) erst lesen dar hyr na volghet. 59 Nr. 22 z. B. ergänzt das wir gnade erlange(n). 60 Vgl. Lipphardt: Media vita, Sp. 274. 61 Zur Darstellung und Funktion des Aussatzes im Text vgl. Stange.  

Daz wir in dem tôde sweben

259

Blutopfer einer Jungfrau vorschlägt. Heinrich verliert alle Hoffnung und zieht sich auf den Hof eines seiner Bauern zurück. Dessen jüngste Tochter bietet sich freiwillig für die Opferung an, doch in Salerno angekommen, will Heinrich beim Anblick ihres nackten Körpers das Opfer nicht länger annehmen und gibt sich stattdessen ganz in Gottes Hand. Nach dieser Metanoia heiraten Heinrich und das Bauernmädchen. Gott heilt den nun frommen Mann und das Paar führt ein glückliches Leben.62 Der Erzähler stellt diese Geschichte in einen dezidiert theologischen Rahmen, mit Heinrich als exemplum-Figur.63 Als wichtige Markierungen dieser Deutungsebene dienen die biblischen Figuren Hiob und Absalom, denen Heinrich durch zwei als-Vergleiche zugeordnet wird,64 sowie der lateinisch zitierte Beginn des Media vita. Die theologischen Themen und Motive des Armen Heinrich sind in der Forschung breit und wiederholt untersucht worden, mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Funktionen der Absalom- und Hiob-Vergleiche.65 Die Funktion des Media vita-Zitats dagegen wird erstaunlicherweise weitgehend ausgeblendet. Abgesehen von der Diskussion zum autoritären Status der Stelle als pseudo-biblisch wird sie von den wenigen Beiträgen, die genauer auf ihre Bedeutung eingehen, als sentenzhafter Ausspruch gewertet, der die Darstellung von Heinrichs plötzlichem Leiden einleitet und darüber hinaus keine Funktion für den Armen Heinrich aufweist.66 Gegen diese Annahme sprechen verschiedene Indizien. So ist erstens auffällig, dass Hartmann den Beginn der Antiphon lateinisch wiedergibt und eine Quelle nennt: an im [Heinrich, LB] wart erzeiget als ouch an Absalône, daz diu üppige krône wertlîcher süeze

62 Vgl. zum Begriff der ‚Metanoia‘ Buck. Für eine Strukturanalyse des Romans vgl. Kraß. 63 Vgl. für eine ausführliche Analyse des Prologs Crean. 64 an im wart erzeiget | als ouch an Absalône, V. 84 f.; daz in niemen gerne sach, | als ouch Jôbe geschach, V. 127 f. 65 Vgl. zu Hiob Datz; Theisen; Wapnewski. Zum Absalom-Vergleich siehe Fechter. Zu theologischen Themen bei Hartmann allgemein und speziell im Armen Heinrich vgl. Crean; Dahlgrün; Freytag: Ständisches; Hintz; Murdoch: Legends; ders.: heavenly; Schulmeister ab S. 81; Tinsley; Tobin; Veeh; Warning. Wiederholt hat sich die Forschung auch der Frage nach Quellen und Ausgangspunkte der Erzählung gewidmet und damit der Frage, inwiefern es sich um eine Legende oder höfische Legende handelt und welche religiösen Erzählschemata bearbeitet werden (vgl. Ruh; Thomas). 66 Vgl. z. B. Trokhimenko.  





260

Lea Braun

vellet under vüeze ab ir besten werdekeit, als uns diu schrift hât geseit. ez sprichet an einer stat dâ ‚mediâ vîtâ in morte sûmus.‘ (V. 84–93)

Das Lateinische hat hier Signalwirkung, die umso stärker ausfällt, da Hartmann insgesamt selten lateinische Zitate in seine Texte einfügt.67 Im Armen Heinrich findet sich neben dieser Passage nur noch die lateinische Bezeichnung Gottes als cordis speculâtor (V. 1357). Das Media vita teilt sich also den Wechsel ins Lateinische mit dem Gottesnamen. Diese auctoritas wird noch verstärkt durch die Quellennennung diu schrift. In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass damit nicht zwangsläufig die Bibel, wohl aber ein bibeläquivalenter Autoritätsstatus der Passage markiert ist.68 Darüber hinaus übersetzt Hartmann direkt im Anschluss die Anfangsverse der Antiphon frei. Es kommt so zu einer Doppelung des Inhaltes, so dass dieser auch für nicht lateinkundige Laien verständlich ist. Dies entspricht den in den späteren deutschsprachigen Übertragungen gebotenen Beiund Überschriften, die den Text als Media vita identifizieren. Betrachtet man zweitens die Bezüge der Passage genauer, so wird deutlich, dass sowohl Absalom als auch Heinrich als Illustrationen für das Media vita-Zitat angeführt werden, nicht umgekehrt. Auch der Vergleich mit Hiob erfolgt über das tertium comparationis des plötzlichen Lebensumschlags ins Leid.69 Das primäre Gewicht dieser Passage liegt also nicht auf den verwendeten exempla, sondern auf der ihnen zugrundeliegenden, durch die Verwendung des Lateinischen nobilitierten Lebens- und Glaubenswahrheit, die als direktes Zitat auf die im zwölften Jahrhundert breit verwendete Antiphon verweist. Im Folgenden möchte ich der Bedeutung des von Hartmann mit dem Media vita gesetzten Signals nachgehen. Ich schlage vor, die Antiphon in ihrer exponierten Stellung im Prolog ernst zu nehmen und als Programm und Struktur der gesamten Erzählung sowie als Rezeptionsanweisung für Hartmanns Publikum zu verstehen. Wie herausgearbeitet, folgt das Media vita einer dreischrittigen Struktur von Erkenntnis der Bedrohung, Suche nach Erlösung und Hinwendung zu Gott und abschließendem Lob Gottes und Fürbittgebet. Auch Heinrich gerät in eine Krise,

67 Vgl. Caflisch-Einicher, S. 209 f. und S. 82. Dahlgrün, S. 157 identifiziert die Verse als „das einzige wirkliche, bewußt wörtliche Zitat“ im Armen Heinrich. 68 Vgl. zum Status der schrift ebd., S. 116 f. 69 nû sehent wie genæme | er ê der werlde wære, | und wart nû als unmære | […] als ouch Jôbe geschach (V. 124–128).  



Daz wir in dem tôde sweben

261

die mit dem Zitat der Antiphon eingeleitet wird und im Text die Form des Aussatzes annimmt.70 Der Erzähler übersetzt den Beginn des Media vita so: daz bediutet sich alsus, daz wir in dem tôde sweben, so wir aller beste wænen leben. (V. 94–96)

Die Vokabel bediutet bezeichnet hier sowohl das ‚Verdeutschen‘ des lateinischen Textes als auch seine Auslegung,71 denn Hartmann verwendet für den im Media vita formulierten Zustand existenzieller Unsicherheit das Verb sweben, nicht wie im Original esse.72 Hartmann verwendet diese Vokabel auch an anderer Stelle, um liminale Phasen existentieller Unsicherheit zu illustrieren. Als im Gregorius die Titelfigur als Kind auf dem Meer ausgesetzt wird, finden zwei Fischer sweben des kindes barke (Gregorius, V. 955). Die Szene der Meerfahrt wird eingeleitet mit einem Jona-Vergleich (Gregorius, V. 929–935), den Gott ebenso schützte wie nun den jungen Gregorius. In beiden Passagen bezeichnet sweben also eine die eigene Existenz und Identität verunsichernde Phase im Leben der Figuren, die Voraussetzung dafür ist, dass das Schicksal und damit Gottes Wille an ihnen offenbar wird,73 und in beiden Texten wird dies mit biblischen Vergleichen semantisch aufgeladen. Im Armen Heinrich wird der Zustand des swebens in den nachfolgenden Versen mit den Begriffen veste, stæte und grœste magenkraft kontrastiert, die die Stabilität der werlde, also der diesseitigen Existenz suggerieren, sich aber als Illusionen herausstellen: Dirre werlde veste, ir stæte und ir beste und ir grœste magenkraft, diu stât âne meisterschaft. (V. 97–100)

Heinrichs panegyrische Beschreibung zu Beginn der Handlung, so hat die Forschung umfassend herausgearbeitet,74 stellt ihn ausschließlich in den Kontext genau dieser höfischen Welt, die sich als âne meisterschaft erweist und damit Heinrich ohne jeglichen Anker im Zustand des swebens zurücklässt. Narrativiert wird dieser Zustand als Aussatz, der Heinrich in eine liminale Phase zwischen Leben

70 Zur dreischrittigen Struktur des Armen Heinrich vgl. Wapnewski, S. 4 f. 71 Vgl. Crean, S. 61. 72 Dieses Wortfeld wird in der folgenden Beschreibung von Heinrichs Leiden wiederholt aufgegriffen mit Begriffen wie swebendez, swimmendiu, vallen (V. 149–151). 73 Vgl. zum Meer als liminalem Raum der Möglichkeiten Schnyder. 74 Duckworth: godless; ders.: knowledge; ders.: zwîvel.  

262

Lea Braun

(als Teilhabe an der Welt) und Tod versetzt. Diese ontologische Instabilität führt der Erzähler nun mit einer Reihe von Bildern aus, die als Variation auf das Thema der Vergänglichkeit des vermeintlich Sicheren und der simultanen Gegenwart von Freude und Leid dienen.75 Die vanitas alles Irdischen (wir sîn von brœden sachen, V. 105) drückt sich aus in der verbrennenden Kerze, im Wechsel vom Lachen zum Weinen, in der Mischung von Honig mit Galle und dem Fall der Blüte im Moment ihres schönsten Blühens (V. 101–111). Diese Passage dient als amplificatio des Media vita-Zitats. Die histoire- und die discours-Ebene der Erzählung werden durch das uneigentliche Sprechen und die daraus folgenden sprachlichen Verschiebungen und Evokationen zusammengebunden. Biblische Bilder und höfische Erzählung werden verknüpft über die Exempelfunktion Heinrichs, an dem die theologische Grundwahrheit besonders markant sichtbar wird, gerade weil er die höfische, weltliche Idealität in besonderem Maße verkörpert: an hern Heinrîche wart wol schîn: der in dem hœhsten werde lebet ûf dirre erde, derst der versmâhte vor gote. (V. 112–115)

Diese exemplarische Funktion überschreibt meines Erachtens die in der Forschung diskutierte Frage einer möglichen Schuldhaftigkeit Heinrichs zu Beginn des Romans. Wenn alle Christen in dem tôde sweben, dann ist individuelles Fehlverhalten nicht Ziel dieser Aussage. Vielmehr geht es darum, dass es jeden treffen kann, selbst den vermeintlich idealen Ritter.76 Anders sieht es mit seinem anschließenden Verhalten aus, denn die Antwort, die das Media vita direkt anschließend auf die kurz gefasste Frage Quem quaerimus adiutorem bietet – nisi te, Domine –, bleibt im Armen Heinrich für lange Zeit aus. Heinrich, anders als die in der ersten Person Plural figurierende Sprechergruppe der Antiphon, verharrt im Zustand des swebens und Suchens, und er sucht in der falschen, nämlich weltimmanenten Sphäre. Nach erster Verzweiflung erkundet Heinrich Möglichkeiten der Genesung, zunächst bei Ärzten, dann in Montpellier und schließlich in Salerno, wo ihm ein meister die paradoxe Antwort gibt, daz er genislîch wære | und wær doch iemer ungenesen (V. 186 f.). Der meister spielt damit an auf die Unmöglichkeit ein williges Jungfrauenopfer zu finden, doch Heinrich bezieht die Aussage zunächst ganz auf sich und seine Fähigkeiten:  

75 Für eine Detailanalyse dieser Passage vgl. Crean. 76 Vgl. auch Haage, S. 177 f.  

Daz wir in dem tôde sweben

263

‚bin ich genislîch, sô genise ich. und swaz mir vür wirt geleit von guote ode von arbeit, daz trûwe ich volbringen.‘ (V. 190–193)

Die Hinwendung zu Gott als adiutor und Erlöser bleibt aus – stattdessen glaubt Heinrich an seine Fähigkeit, die Heilung selbst herbeizuführen, und zwar mit den durchweg weltlichen Kategorien des guotes und der arbeit. Auch als der meister diese Überzeugung entkräftet und stattdessen auf Gott als einzig möglichen Heiler (got enwelle der arzât wesen, V. 204) verweist, die Antwort des Media vita auf Heinrichs Dilemma also explizit in den Text trägt, verharrt Heinrich in seiner Fixierung auf das Immanente, indem er mit Geld und Zwang den Arzt zur Heilung verpflichten will.77 Erst die Erklärung, eine Jungfrau habe willig ihr Herzblut zu geben, zerstört Heinrichs Glauben an die eigene Handlungsmacht und er verzweifelt: Nû erkande der arme Heinrich daz daz wære unmügelich daz iemen den erwürbe der gerne vür in stürbe. (V. 233–236)

Auf der Ebene der histoire ist Heinrichs Verzweiflung eine logische Konsequenz; die Stelle wird in der Forschung so verstanden, dass Heinrich an dieser Stelle die von Gott gesetzten Grenzen anerkenne und so humilitas zeige.78 Liest man die Passage dagegen mit dem Prätext des Media vita, so illustriert sie vielmehr Heinrichs Ignoranz und hat fast einen komischen Beiklang, denn natürlich ist das Auffinden eines solchen freiwilligen Opfers nicht unmöglich – Gott selbst hat sich ja bereits geopfert, um Heinrich und alle Menschen zu erlösen. Die durch das Media vita-Zitat geweckten Rezeptionserwartungen entlarven Heinrichs immanente Orientierung als defizitären Irrweg. Dies wird besonders deutlich an den verwendeten Pronomina, denn obwohl der meister explizit von einer maget spricht, die sich opfern müsse, verweisen den und der auf ein männliches Opfer.79 Im Text werden Signale gesetzt, die intradiegetisch von Heinrich fehlinterpretiert werden, extradiegetisch aber eindeutig auf die Handlungsanweisung des Prätexts Media vita

77 ‚[…] ir enwellet iuwer meisterschaft | und iuwer reht brechen | und dâ zuo versprechen | beidiu mîn silber und mîn golt, | ich mache iur mir alsô holt | daz ir mich harte gerne nert.‘ (V. 208–213). 78 Vgl. Duckworth: zwîvel. 79 In Heinrichs Erklärung dem meier gegenüber verwendet er die weibliche Form: nû ist genuoc unmügelich | daz ir deheiniu durch mich | gerne lîde den tôt (V. 453–455), was noch einmal die Ahnungslosigkeit der Heinrich-Figur unterstreicht.

264

Lea Braun

verweisen, sich Gott als potentiellem adiutor zuzuwenden. Heinrich dagegen verfällt der Sünde der desperatio und zieht sich auf einem seinem Land zugehörigen Bauernhof zurück. Dem dortigen meier gegenüber, Vater des zukünftigen willigen Jungfrauenopfers, stellt er seine Situation als hoffnungslos dar. Er habe wie alle werlttôren (V. 396) Gott zu wenig berücksichtigt (wan ich in lützel ane sach, V. 401) und seine Gnade nicht zu schätzen gewusst.80 ‚dô des hôhen muotes den hôhen portenær verdrôz, die sælden porte er mir beslôz. dâ kum ich leider niemer in, das verworhte mir mîn tumber sin.‘ (V. 404–408)

In der vom Media vita vorgegebenen und im Armen Heinrich narrativ durch das Aussatzmotiv umgesetzten zweipoligen Struktur von Tod (Bitterkeit) und Gott (Erlösung) hält Heinrich das Tor zu Gott für dauerhaft geschlossen und eine Bewegung hin zu ihm damit für sinnlos. Scheinbar auf sich selbst und seine eigene Hilflosigkeit zurückgeworfen, ergibt er sich freiwillig dem Tod (V. 456–458). Die nun folgende überraschende Bereitwilligkeit der Bauerntochter, sich für Heinrich zu opfern, und die dramatische Inszenierung des Opfermoments in Salerno sollen hier aufgrund der breiten Aufarbeitung durch die Forschung nur kurz erwähnt werden. Auch diese Passage bietet Variationen des Media vita-Themas; auf Heinrichs Seite durch weiteres Irregehen, indem er das Opfer das Mädchens akzeptiert, auf der Seite des Mädchens durch den Versuch, Gottes Erlösung durch eine imitatio Christi umso schneller zu erreichen.81 Das vanitas-Thema des Prologs wird in der Rede des Mädchens aufgegriffen mit den Begriffen brœde (V. 696) nebel, stoup (V. 723) und rouch (V. 726).82 Diesem brœden Leben stellt sie eine Allegorie des Paradieses als idealem Bauernhof gegenüber (V. 775–788), bei dem der swebe-Zustand existentieller Unsicherheit ausgesetzt ist.83 Die Erzählung spitzt Heinrichs Fixierung auf eine diesseitige Heilung zu bis zum Moment der Opferung. Erst angesichts des nackten Mädchenkörpers erkennt

80 Vgl. zu dieser Passage die ausführliche Diskussion in Duckworth: godless; ders.: knowledge. 81 daz ich den jungen lîp mac geben | umbe das êwige leben (V. 609 f.); ich will mich alsus reine | antwürten in gotes gewalt (V. 698 f.). 82 Dass es sich hierbei um Variationen handelt, wird auch deutlich an der wiederholten Verwendung der Begriffe bitter und galle, welche das amarus des Media vita aufgreifen, (Gregorius, V. 109; 152; 380; 711; 1289), sowie an deren Gegenteil süeze, das das Mädchen wiederholt zur Beschreibung des Todes verwendet (V. 711; 1166). 83 Vgl. Freytag: Paradiesesdarstellung.  



Daz wir in dem tôde sweben

265

Heinrich sein Fehlgehen84 und gibt sich ganz in Gottes Hand: swaz dir got hât beschert | daz lâ allez geschehen (V. 1254 f.).85 Anstatt das Opfer der Jungfrau anzunehmen, ehelicht er sie und reist mit ihr nach Hause. Hier geschieht nun endlich der Wiedereintritt in das narrative Schema des Media vita – die bedingungslöse Hinwendung zu Gott als einzigem adiutor: daz liez er allez an got (V. 1352).86 Auch die Fürbitte der Antiphon wird im Armen Heinrich narrativ ausgeführt, denn nun tritt Gott selbst als handelnde Figur in die Erzählung ein und erfüllt die im letzten Vers des Media vita formulierte Hoffnung:  

dô erkande ir triuwe und ir nôt cordis speculâtor, vor dem deheines herzen tor vürnames niht beslozzen ist. (V. 1356–1359)

Der lateinische Gottesname bindet diese Passage an den Prolog rück.87 Gleichzeitig wird mit der wiederholten Erwähnung von bärmde, triuwe und gnâde88 das misericors der Antiphon eingespielt. Interessanterweise werden diese Eigenschaften zunächst Heinrich und dem Mädchen zugesprochen und dann als Tugenden charakterisiert, die dem heilec Krist (V. 1365) besonders lieb sind. Dem vom Mädchen unternommenen Versuch der imitatio Christi durch das Selbstopfer wird hier eine andere, bessere Form der imitatio gegenübergestellt, die Immanenz und Transzendenz verbindet und zur Heilung Heinrichs und dem gemeinsamen Lebensglück führt. Mit den Schlussworten von sowohl Handschrift A als auch B werden diese exemplarischen Leben wieder überführt in die Lebenssituation der Rezipienten und mit einer Fürbitte ganz im Sinne des Media vita abgeschlossen.89

84 Vgl. zu dieser Szene Kraß; Pincikowski; Dahlgrün, S. 183–195. 85 Vgl. auch V. 1276; 1352, die die Unterwerfung unter Gottes Willen bekräftigen. 86 Hintz sieht humilitas und caritas als die zentralen Tugenden, die Heinrich durch sein Leiden erwirbt (vgl. Hintz). 87 Dies einerseits durch die Verwendung des Lateinischen. Theisen weist aber auch darauf hin, cordis speculator greife das Bild von der werltvreude ein spiegelglas (V. 61) auf (vgl. Theisen, S. 84). 88 bärmde und triuwe (V. 11364b; 1366), triuwen (V. 11364d), gnâde (V. 1385). Vgl. hierzu auch Tobin, S. 18 f. 89 A liest: alsô müeze es uns allen | ze jungest gevallen! | den lôn den si dâ nâmen, | des helfe uns got! âmen (V. 1517–1520); B liest: daz lon mvez vns allen | Zv ivngest gevallen | Daz si da genamen | Des helfe vns got amen | Dvrch siner martir ere (V. 1517–1520a). Zu den verschiedenen Erzählschlüssen vgl. Hammer, Kössinger.  

266

Lea Braun

4. Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass es sich beim lateinischen Media vita-Zitat im Prolog keinesfalls lediglich um eine sentenzhafte Aussage handelt, sondern dass man die gesamte Handlung des Armen Heinrich vielmehr als narrativierende Tropenbildung betrachten kann, die die theologische Aussage des Media vita exemplarisch illustriert. Der Zustand des swebens, also der ontologischen Unsicherheit, wird hierbei im Stadium der Suche (quem quaerimus) festgestellt und erheblich ausgedehnt. Das nisi te, Domine des Media vita wird so in der wiederholten Suche und Prüfung von Lösungen, die sich nach und nach allesamt als defizitär herausstellen, zu einer ganzen Novelle auserzählt. Einerseits wird durch dieses in der Immanenz verhaftete Fehlgehen die Unmöglichkeit anderer Lösungen für das formulierte Problem dargestellt und Gottes Alleinstellung als adiutor so bestätigt. Andererseits wird der ‚Wir‘-Sprechergruppe der Antiphon die Darstellung einer Figur gegenübergestellt, die exemplarische Funktion hat und zunächst als höfische Idealfigur dargestellt wird. Mit der Einführung des Media vita als den Rezipienten höchstwahrscheinlich bekanntem Prä- und Bezugstext jedoch werden ein Wissensvorsprung und eine Erwartungshaltung aufgebaut, vor deren Horizont sich Heinrichs Verhalten als defizitär erweist. Das durch das Media vita vermittelte Wissen nimmt die finale Lösung der Erzählung vorweg und erzeugt teilweise sogar komische Effekte. Eine exemplarische und eine negativdidaktische Funktion werden so überblendet. Abschließend kann Hartmanns Vorgehen als stark von den späteren volkssprachlichen Übertragungen der Antiphon abweichend charakterisiert werden. Mit der erheblichen Erweiterung der in den ersten Versen des Media vita ausgedrückten existentiellen Unsicherheit steht er der vorgestellten lateinischen Tropierung der Antiphon näher als den sehr nahe am Original bleibenden volkssprachigen Übertragungen. Hartmann greift den narrativen Kern des Media vita auf und erweitert ihn, indem er eine der Wir-Sprechergruppe gleichzeitig zugehörige und klar von ihr getrennte Figur hinzufügt, deren Irrwege das Media vita tropieren und gleichzeitig seine zentralen theologischen Aussagen in den Kontext einer höfischen Wertediskussion überführen.

5. Literaturverzeichnis Analecta hymnica medii aevi. Hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume. 55 Bde. Leipzig 1886–1922. Bruggisser-Lanker, Therese: Musik und Tod im Mittelalter. Imaginationsräume der Tranzendenz. Göttingen 2010.

Daz wir in dem tôde sweben

267

Buck, Timothy: Heinrich’s Metanoia. Intention and Practice in Der Arme Heinrich. In: Modern Language Review 60 (1965), S. 391–394. Caflisch-Einicher, Emma: Die lateinischen Elemente in der mittelhochdeutschen Epik des 13. Jahrhunderts. Reichenberg 1936. Nachdruck Hildesheim 1974 (Prager Deutsche Studien 47). Cantus Index: Online Catalogue for Mass and Office Chants. http://cantusindex.org/id/003732 (7. August 2018). CAO = René-Jean Hesbert: Corpus antiphonalium officii. Bd. 3: Invitatoria et antiphoniae. Rom 1968. Chevalier, Ulysse: Repertorium Hymnologicum. Catalogues de chants, hymnes, proses, sequences, tropes en usage de l’église latines depuis l’origins jusqu’a nos jours. Bd. 11. Louvain 1897. Crean, John E.: Rhetoric and Religion in ‚Der arme Heinrich‘. In: Sprachkunst 2 (1971), S. 59–80. Dahlgrün, Corinna: Hoc fac, et vives (Lk 10,28) – vor allen dingen minne got. Theologische Reflexionen eines Laien im ‚Gregorius‘ und in ‚Der arme Heinrich‘ Hartmanns von Aue. Frankfurt a. M. u. a. 1991 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 14). Datz, Günther: Die Gestalt Hiobs in der kirchlichen Exegese und der „Arme Heinrich“ Hartmanns von Aue. Göppingen 1973 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 108). Duckworth, David: Heinrich and the Godless Life in Hartmann’s Poem. In: Mediaevistik 3 (1990), S. 71–90. Duckworth, David: Heinrich and the Knowledge of God in Hartmann’s Poem. In: Mediaevistik 5 (1992), S. 57–70. Duckworth, David: Heinrich’s „zwîvel“ in Hartmann’s Poem. In: Mediaevistik 11 (1998), S. 11–31. Fechter, Werner: Absalom als Vergleichs- und Beispielfigur im mittelhochdeutschen Schrifttum. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 83 (1961), S. 302–316. Freytag, Hartmut: Ständisches, Theologisches, Poetologisches. Zu Hartmanns Konzeption des ‚Armen Heinrich‘. In: Euphorion 81 (1987), S. 240–261. Freytag, Hartmut: Zur Paradiesesdarstellung im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue (Vers 773812). Eine Skizze. In: Swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch. Festschrift für András Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hg. von Márta Nagy, László Jónácsik. Piliscsaba, Budapest 2001, S. 77–86. Haage, Bernhard D.: Der Harmoniegedanke in mittelalterlicher Dichtung und Diätetik als Therapeutikum. Das mystische Leben in der Welt ohne die Welt im ‚Armen Heinrich‘ Hartmann von Aue’s. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hg. von Jürgen Kühnel u. a. Göppingen 1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 431), S. 171–196. Hahn, Gerhard, Martin Rößler: Mitten wir im Leben sind. In: wort unde wise – singen unde sagen. Festschrift für Ulrich Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Ingrid Bennewitz-Behr. Göppingen 2007 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 741), S. 145–158. Hammer, Andreas, Norbert Kössinger: Die drei Erzählschlüsse des ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 141– 163. Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2008 (DKV). Hausmann, Albrecht: Mitten wyr ym leben sind. Ein Neufund zur Vorgeschichte eines Kirchenliedes von Martin Luther. In: Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich Schmidtke. Hg. von Freimut Löser, Ralf G. Päsler. Hamburg 2005 (Schriften zur Mediävistik 4), S. 103–122.  







268

Lea Braun

Hintz, Ernst Ralf: Descensus as Spiritual Realignment and Divine Legitimation in Hartmann’s Later Works. In: Text Analyses and Interpretations. In Memory of Joachim Bumke. Hg. von Sibylle Jefferis. Göppingen 2013 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 776), S. 265–274. Janota, Johannes: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter. München 1968 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 23). Kraß, Andreas: Bluthochzeit. Sadomasochistische Konstellationen im Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: Ästhetik des Opfers. Zeichen/Handlungen in Ritual und Spiel. Hg. von Alexander Honold, Anton Bierl, Valentina Luppi. Paderborn u. a. 2012, S. 163–181. Lipphardt, Walther: Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. Bd. 4: Nachträge, Handschriftenverzeichnis, Bibliographie. Berlin, New York 1981 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, Reihe Drama 5). Lipphardt, Walther: Ein Mainzer Prozessionale (um 1400) als Quelle deutscher geistlicher Lieder. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 9 (1963), S. 95–121. Lipphardt, Walther: ‚Media vita in morte sumus‘ (deutsch). In: 2VL 6 (1987), Sp. 271–275. Lipphardt, Walther: Mitten wir im Leben sind. Zur Geschichte des Liedes und seiner Weise. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 8 (1962), S. 99–118. Murdoch, Brian: Hartmann’s Legends and the Bible. In: A Companion to the Works of Hartmann von Aue. Hg. von Francis G. Gentry. Rochester 2005, S. 141–159. Murdoch, Brian: Two Heavenly Crowns. Hartmann’s ‚Der arme Heinrich‘ and the Middle English ‚Pearl‘. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 53 (2000), S. 145–166. Pincikowski, Scott E.: The Body in Pain in the Works of Hartmann von Aue. In: A Companion to the Works of Hartmann von Aue. Hg. von Francis G. Gentry. Rochester 2005, S. 105–123. Ruh, Kurt: Hartmanns ‚Armer Heinrich‘. Erzählmodell und theologische Implikationen. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hg. von Ursula Hennig, Herbert Kolb. München 1971, S. 315–329. Schmidtke, Dietrich, Ursula Hennig, Walther Lipphardt: Füssener Osterspiel und Füssener Marienklage. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 98 (1976), S. 231– 288, 395–432, 408–410. Schnyder, Mireille: Räume der Kontingenz. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 174–185. Schoberth, Wolfgang: „Mitten im Leben ...“. Systematisch-theologische Bemerkungen zur Wahrnehmung des Todes im Mittelalter. In: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Hg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann. Berlin u. a. 2011 (Bayreuther Forum Transit 10), S. 291–308. Schuler, Ernst August: Die Musik der Osterfeiern, Osterspiele und Passionen des Mittelalters. Kassel 1951. Schulmeister, Rolf: Aedificatio und imitatio. Studien zur intentionalen Poetik der Legende und Kunstlegende. Hamburg 1971 (Geistes- und Sozialwissenschaftliche Dissertationen 16). Stange, Carmen: Galle, lîbes smerzen und leit. Aussatz und Melancholie bei Hartmann von Aue und Konrad von Würzburg. In: Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Andrea Sieber, Antje Wittstock. Göttingen 2009 (Aventiuren 4), S. 41–74. Steinen, Wolfram von den: Notker der Dichter und seine geistige Welt. Darstellungsband. Bern 1948.  



Daz wir in dem tôde sweben

269

Theisen, Joachim: Typologie und Individualität. Zur Rezeption des Buches Ijob im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Spuren. Festschrift für Theo Schumacher. Hg. von Heidrun Colberg, Doris Petersen. Stuttgart 1986 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 184), S. 81–106. Thomas, Neil: Hartmann’s Der arme Heinrich. Narrative Model and Ethical Implication. In: The Modern Language Review 90,4 (1995), S. 935–943. Tinsley, David F.: Reflections of Childhood in Medieval Hagiographical Writing. The Case of Hartmann von Aue’s Der arme Heinrich. In: Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality. Hg. von Albrecht Classen. Berlin, New York 2005, S. 229–246. Tobin, Frank: Hartmann’s Theological Milieu. In: A Companion to the Works of Hartmann von Aue. Hg. von Francis G. Gentry. Rochester 2005, S. 9–20. Trokhimenko, Olga V.: daz guot und weltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen. Sprichwörter in Hartmanns von Aue ‚Der arme Heinrich‘. In: Proverbium 17 (2000), S. 387–408. Veeh, Michael: Das Religiöse im Armen Heinrich bei Hartmann von Aue, den Brüdern Grimm, Gustav Schwaab und Adelbert von Chamisso. Zur Säkularisierung und nationalpatriotischen Neuentdeckung eines mittelalterlichen Erzähltextes im Geiste der Romantik. In: Historisches Verstehen als Reminiszenz und Vision. Hg. von Lu Jiang, Michael Neecke. Berlin 2015 (Schriftstücke 1), S. 106–135. Wagner, Peter: Das Media Vita. In: Schweizerisches Jahrbuch für Musikwissenschaft 1 (1924), S. 18–40. Wagner, Peter: Einführung in die gregorianischen Melodien. Ein Handbuch der Choralwissenschaft. Teil 1: Ursprung und Entwicklung der liturgischen Gesangsformen bis zum Ausgange des Mittelalters. Leipzig 1911. Wapnewski, Peter: Poor Henry – Poor Job. A Contribution to the Discussion of Hartmann’s von Aue So-Called „Conversion to an Anti-Courtly Attitude“. In. Ders.: Zuschreibungen. Gesammelte Schriften. Hg. von Fritz Wagner, Wolfgang Maaz. Hildesheim, Zürich 1994 (Spolia Berolinensia 4), S. 3–11. Warning, Rainer: Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival). In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 19–33.

Index Hinweis: Die ID-Nummern verweisen auf die Datenbank des ‚Berliner Repertoriums‘ (Stand Juli 2019) A solis ortus cardine (Hymnus) (ID 6276) 125 Anm. 2 Aarau, Kantonsbibliothek, MsBN 49, Bl. 93r– 94v (ID 8151) 151–153 Ad cenam agni providi (Hymnus) (ID 7104) 129 Anm. 13 Adam von St. Viktor 5, 7, 130, 173–174, 178, 196–197 Adoro te devote (Hymnus) 129 Anm. 14 Aeterne rex altissime (Hymnus) (ID 7115) 130 Allerheiligen (Omnium Sanctorum) (Fest) 126 Anm. 6 Alma redemptoris mater (Antiphon) (ID 7121) 8, 225 Anm. 2, 236 Anm. 54 und 57 – O Du aller hailigiste vnsers erloesers muoter (ID 11412) 237 Ambrosius von Mailand 2, 16, 18, 21 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.3.8° 10, Bl. 97r–99r (ID 8749) 80 – Cod. III.1.4° 38, Bl. 71v (ID 7494) 255, 257 – Cod. III.1.8° 39, Bl. 106r–112r (ID 8447) 50 Augustinus von Hippo 20 Ave beatissima civitas (Antiphon) (ID 7111) 236–237 mit Anm. 54 – Bis gruest du hailige stat der gothait (ID 13190) 237 Ave maris stella (Hymnus) (ID 6860) 1–2, 4–5, 94, 105, 125 Anm. 2 Ave praeclara maris stella (Sequenz) (ID 6261) 5–6, 125 Anm. 2, 149–150 – siehe auch Laufenberg, Heinrich; Mariensequenz aus Muri; Mariensequenz aus Seckau Ave regina caelorum (Antiphon) (ID 7139) 1, 4, 8, 94, 100, 225, 236 Anm. 54 – siehe auch Laufenberg, Heinrich Ave virginalis forma (Hymnus) 125 Anm. 2 Ave vivens hostia (Hymnus) (ID 6658) 1–4, 65–93, 125 Anm. 2 – Gegruest seiest edle hostia (ID 8956) 79–85

https://doi.org/10.1515/9783110648799-010

– Pist gegruest du lebntige speiß (ID 8960) 86–91 Basel, Universitätsbibliothek, AN II 46, Bl. 9r (ID 8787) 26–27 – B XI 8, Bl. 1r–v (ID 8445) 50 Basler Plenarium (Basel 1514/1516) (ID 12778) 257 Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, mgf 1107, Bl. 526v–528v (ID 8411) 46 – mgo 6, Bl. 45v–63v (ID 9541) 48 – mgo 7, Bl. 44v–64v (ID 9542) 48, 57 – mgo 8, Bl. 72v–89v (ID 9545) 48 – mgo 185, S. 61–65 (ID 8407) 45 – mgo 194, Bl. 288v–293v (ID 8414) 47 – mgo 324, Bl. 33v–53v (ID 9543) 48 – mgo 451, Bl. 34v–35r (ID 9546) 48 – mgo 451, Bl. 228r–246v (ID 11330) 173–174, 179–189 – mgo 471, Bl. 152v–169v (ID 9547) 48 – mgo 499, Bl. 122v–138r (ID 11351) 173–174, 179–189 – mgo 568, Bl. 26r–27v (ID 8200) 151–153 – mgo 585, Bl. 13r–24r (ID 11353) 173–174, 179–189, 192 Bernhard von Clairvaux 2, 47, 176, 236 Brant, Sebastian 150 Breslau, Universitätsbibliothek, Cod. I F 458, Bl. 135r–v (ID 7484) 254 Breviarium Romanum 39 Brigham Young University, Harold B. Lee Library, Special Collections, Vault 091 R263 1343 129 Anm. 12 Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, ms. 139 129 Anm. 12 – ms. 21953, Bl. 78r–80v (ID 8417) 47, 54 Caeli enarrant gloriam (Sequenz) (ID 7150) 125 Anm. 2

Index

Christe qui lux est et dies (Hymnus) (ID 6637) 125 Anm. 2 Christi Himmelfahrt (Ascensio Domini) (Fest) 37, 39, 130 Crailsheimer Schulordnung 69, 256 Crux fidelis inter omnis (Hymnus) (ID 9684) 125 Anm. 2, 129 Anm. 19 Curs vom Sakrament Basel 1497, Bl. 26v–27r (ID 9791) 26–27 Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 230, Bl. 109v–127r (ID 8443) 48 Den Haag, Königliche Bibliothek der Niederlande, KB 70.E.4 129 Anm. 12 Der guldin Spiegel des Sünders, Basel 1497, Bl. 26v–27r 26–27 Deventersche Liederhandschrift 45 Die sieben Zeiten unserer lieben Frau, Urach 1482, Bl. 103v–104v (ID 10179) 23–25 Dies irae (Sequenz) 6, 149 Dreikönig (Epiphania) (Fest) 126 Anm. 6 Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. M 288, S. 196 (ID 7479) 255 Durham, Cathedral Library, B.III.32 17 Edinburgh, Universitätsbibliothek, MS 211.IV (Incholm Antiphonary) 129 Anm. 12 Einsiedeln, Stiftsbibliothek, cod. misc. 266 16 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 314, Bl. 87v– 88r 253 Erlangen, Universitätsbibliothek, Ms. B 16, Bl. 48r–v (ID 7478) 254, 257 Festum nunc celebre (Hymnus) (ID 7192) 125 Anm. 2 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Conv. sup. 524 16 Anm. 3 Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek, Ms. germ. oct. 45 (ID 6540) 9, 234–246 Freysleben, Johann 225 Fronleichnam (Corporis Christi) (Fest) 4–6, 65–93, 126 Anm. 6, 127–130 Gaude Sion quod egressus (Sequenz) 125 Anm. 2 Gerson, Jean 186 Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 878, Bl. 124r–125r (ID 6828) 23–25 Gilgengart (Augsburg 1520) 257 Gloria in excelsis deo (Hymnus) 1 Goldene Tagzeiten 7, 172–192

271

Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. B 940, Bl. 214r–215v 3, 15, 32–34 Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. theol. 242f., Bl. 153v (ID 8055) 256, 258 Graz, Universitätsbibliothek, MS 134 129 Anm. 12 Gregor der Große 18, 184 Greifswald, Universitätsbibliothek, nd. Hs. 10, Bl. 113v–114r (ID 7444) 256 Groote, Gert 173, 179 Gründonnerstag (Fest) 8 Guldin Ave Maria 236 Hadewijch 180 Hartmann von Aue 9, 94 – Der arme Heinrich 9, 249, 258–269 Heidelberg, Privatsammlung Eis, Hs. 142, Bl. 1r–v (ID 8957) 79–80 – Bl. 2r–v (ID 11060) 137 Heinrich von Morungen 94 Hermann von Reichenau 6 Hic est verus (Hymnus) (ID 7213) 21 Hohenfurt, Stiftsbibliothek, Ms. 15, Bl. 155r– 157v (ID 7388) 151–153 – Bl. 246v (ID 7489) 255, 257–258 Hrabanus Maurus 2, 18–19, 129 Hugo von St. Viktor 186 Inventor rutili (Hymnus) 125 Anm. 2 Jacopone da Todi 6 Jesu dulcis memoria (Hymnus) (ID 6654) 1–3, 37–64 – Der süzz gedanch an ihesum christ (ID 8398) 42, 51–52, 62–64 – Die süß gedechtnüß Ihesu (ID 8446) 50–52, 62–64 – Har gesus gat in paradis (ID 8444) 49–52, 62–64 – Jesu gedechtnüs suezz du pist (ID 8410) 46, 51–52, 62–64 – Jhesu wan ich gedencke an dich (ID 8401) 43, 51–52, 62–64 – Jhesus is suet in onser memorien (ID 8416) 47, 51–55, 62–64 – Jhesus soite betrachtinge (ID 8421) 44, 48, 57–60, 62–64 – Jhesus suess dein gedachtnus (ID 8408) 45, 51–52, 62–64

272

Index

– Jhesus suite betrachtinge (ID 8404) 43, 44, 53–55, 62–64 – Nie wart gesungen süzer gesanc (ID 8396) 42, 51–52, 62–64 – O Jhesu soete gedechtnysse (ID 8418) 47– 48, 51–52, 62–64 – O Jhesus eyne suesße gedechteniß (ID 8413) 46–47, 51–53, 62–64 – O Jhesus suete andachticheit (ID 8406) 45, 51–52, 62–64 Jesu nostra redemptio (Hymnus) (ID 7239) 50 Johann von Neumarkt 231 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 48, Bl. 108v–109v (ID 10894) 23–25 – Cod. St. Blasien 77, Bl. 57r (ID 8783) 25–26 – Cod. St. Peter pap. 9, Bl. 30v–37r (ID 8419) 48–49, 57 Kemptener Hymnenbuch 21 Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Hs. 533, Bl. 3r–4r (ID 11056) 137 Köln, Historisches Archiv der Stadt, Best. 7002 (GB 2°) 47, Bl. 92r–93v (ID 8402) 43 – Best. 7010 (W) 68, Bl. 175v–176r (ID 7443) 256–257 – Best. 7020 (W*) 72, Bl. 47v 256 – Best. 7020 (W*) 141, Bl. 149v–155r (ID 8403) 43 Kopenhagen, Königliche Bibliothek, ms. G.K. S. 8° 3423, Bl. 113v–114r 255 Lauda Sion salvatorem (Sequenz) (ID 7246) 1, 5–6, 69 Anm. 7, 125–136 – Deynen haylant lobe Syon (ID 11046) 143– 149 Laudes crucis attollamus (Sequenz) 130 Laufenberg, Heinrich 2, 4, 6, 94–122, 150 – Ave maris stella, bis gruest ein stern im mer (ID 8274) 4, 99, 105–113, 119–122 – Ave, bis gruest, du himels port 4, 99–105, 112–113, 116–119 Laureata plebs fidelis (Sequenz) 129 Anm. 13 Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1492 249 Anm. 4 London, British Library, MS Add. 30849 249 Anm. 4 Luther, Martin 34–35

Mainz, Stadtbibliothek, Hs. I 82, Bl. 27v (ID 7486) 256–258 Mainzer Passionale 250 Mariä Empfängnis (Conceptio Mariae) 196 Mariä Geburt (Nativitatis Mariae) (Fest) 126 Anm. 6, 196 Mariä Himmelfahrt (Assumptio Mariae) (Fest) 103, 196 Mariä Lichtmess (Purificatio Mariae) (Fest) 8 Mariä Verkündigung (Annuntiatio Mariae) (Fest) 126 Anm. 6 , 196 Mariensequenz aus Muri (ID 6249) 6 Mariensequenz aus Seckau (ID 7848) 6 Media vita in morte (Antiphon) (ID 7437) 1, 8– 10, 249–258 – Dieweil wir mitten in dem leben sein (ID 8031) 255 – Ein halb leben si wir an dem tod (ID 8032) 254, 257 – En mitten jn des lebens czeit sein wir mit tod vmfangen (ID 8028) 256–258 – God alleweldich in dat middel unses leuendes synt wy na by deme dode 255 – Halff syn we an dem levende unde dot (ID 8168) 256–258 – In dem halben leben syen wir in dem tod (ID 8146) 255, 257–258 – In dem medel uns leuens so synt wyr yn dem dode (ID 11292) 256–257 – In dem mittel unseres lebens sein wir in dem tod (ID 8144) 255 – In mitt des lebens sei wir im tod (ID 8030) 255, 257 – Int myddel van vnsen leuende syn wy in den dode (ID 7466) 256 – Mittels leben wir sein in dem tod (ID 11293) 255 – Mitten in dem leben sey wir in dem tod (ID 8143) 255, 257 – Mitten in dem leben sey wir in dem tode (ID 11295) 254, 257 – Mitten yn dem leben wir seyn mit dem tod vmb fangen (ID 8035) 257 – Mydden in dem leuen syn wij yn deme dode (ID 11291) 256 – O Herr eint mydden vnsers lebens synt wyr myt den thoid vmbfangen 256

Index

– O herr jnmitte des lebens sey wir in dem tode (ID 11294) 255, 257 – O herre wir sind in unsren halben tagen (ID 8033) 255, 257–258 – Tropus Super Media Vita 253 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 808 (813; O 51), Bl. 106v–107r (ID 11058) 80 Anm. 37, 137 Michaelbeuern, Stiftsbibliothek, Man. cart. 1, Bl. 82v (ID 7471) 257–258 Mittit ad virginem (Sequenz) (ID 6656) 125 Anm. 2 Mönch von Salzburg 2, 4, 6–8, 95–96, 98, 125–171, 193–221 – Aller werlde gelegenhait (G 28: Mundi renovatio) 125 Anm. 2, 164 – Allmächtig got herr Jesu Christ (G 42) 126 Anm. 7 , 169 Anm. 125 – Ave Balsams Creatur (Guldein Abc) (G 1) 95, 126 Anm. 4, 168 – Ave grüest pist magtleich forme (G 5: Ave virginalis forma) 125 Anm. 2, 164, 167– 168 – Ave lebendes oblat (G 39: Ave vivens hostia) (ID 8944) 4, 73, 75–79, 125 Anm. 2, 127 Anm. 8, 164 – Ave meres sterne (G 15: Ave maris stella) (ID 8270) 125 Anm. 2, 169 Anm. 125 – Besniten wirdigkleichen (G 45) 126 Anm. 6 – Bey dem krewtz jn iamers dol (G 16: Stabat mater dolorosa) (ID 8150) 151–153, 164 – Christe du bist liecht und der tag (G 43: Christe qui lux es et dies) (ID 7705) 125 Anm. 2 – Christus erstuend mit siges van (G 30: Surgit Christus cum trophaeo) (ID 12962) 125 Anm. 2 – Cristus muter stund in smercz (G 16: Stabat mater dolorosa) (ID 7602) 151–153, 164 – Das hell aufklimmen deiner diener stimmen (G 47: Ut queant laxis) (ID 11972) 125 Anm. 2, 169 Anm. 125, 195 Anm. 6 – Des menschen liebhaber (G 13: Mittit ad virginem) (ID 7596) 125 Anm. 2, 164, 169 Anm. 127 – Die mueter stuend mit jamers dol (G 16: Stabat mater dolorosa) (ID 8167) 151–153, 164

273

– Die nacht wirt schir des himels gast (G 23) 126 Anm. 6 , 169 Anm. 125 – Do got in dem throne sas (G 14) 125 Anm. 3 – Eia der grossen liebe (G 24) 126 Anm. 5 – Eia herre got was mag das gesein (G 46) 126 Anm. 6, 169 Anm. 127, 204 Anm. 24 – Frew dich Sion das ausgangen (G 49: Gaude Sion quod egressus) 125 Anm. 2 – Got grüeß dich mueter unseres herren (G 8: Salve mater salvatoris) (ID 7690) 7–8, 125 Anm. 2, 164–165, 169 Anm. 125, 204, 207–218 – Got in drivaldikait ainvalt (G 37) 126 Anm. 6, 127 Anm. 8, 168 – Gotes muter stund in smerczen (G 16: Stabat mater dolorosa) (ID 7602) 156–164 – Grüest seist heiliger tag (G 31: Salve festa dies) (ID 12756) 125 Anm. 2 , 169 Anm. 125 – Heiligs kreuz ein paum gar aine (G 25: Crux fidelis inter omnis) (ID 8753) 125 Anm. 2, 169 Anm. 125 – Herr got allmechtig drei person (G 36) 126 Anm. 6, 168, 169 Anm. 126 – Ich gruess dich gerne (G 6: Ave praeclara maris stella) (ID 6495) 125 Anm. 2, 164, 169 Anm. 125 – In gotes namen (G 38) 126 Anm. 6, 127 Anm. 8, 168 Anm. 123 – Joseph lieber nefe mein (G 22) 126 Anm. 5 – Kum heiliger geist (G 35: Veni sancte spiritus) (ID 8541) 125 Anm. 2 – Kum herr schepher heiliger geist (G 34: Veni creator spiritus) (ID 8684) 125 Anm. 2, 164 – Kum hochfeierliche zeit (G 32: Festum nunc celebre) (ID 12318) 125 Anm. 2, 169 Anm. 125 – Kum senfter trost heiliger geist (G 33) 126 Anm. 6, 168, 169 Anm. 126 und 127 – Kunig Christe macher aller ding (G 27: Rex Christe factor omnium) (ID 8310) 125 Anm. 2 – Lob o Sion deinen hailer (G 41: Lauda Sion salvatorem) (ID 11045) 125 Anm. 2, 127 Anm. 8, 136–143, 164

274

Index

– Lobt all zungen des ernreichen (G 40: Pange lingua gloriosi corporis mysterium) (ID 6629) 125 Anm. 2, 127 Anm. 8, 169 Anm. 125 und 128 – Magd hochgeporen (G 20) 126 Anm. 6, 169 Anm. 126 und 127 – Maidlich pluem der jungkfrawn kron (G 19: Uterus virgineus) (ID 9323) 125 Anm. 2, 168 Anm. 123 – Maria keusche muter zart (G 10) 126 Anm. 6, 168 Anm. 124, 169 Anm. 126 und 127 – Maria pis gegrüsset (G 12) 97, 126 Anm. 6, 168 mit Anm. 123, 169 Anm. 127 – Maria stuend in swindem smerzen (G 16: Stabat mater dolorosa) (ID 7603) 125 Anm. 2, 151–156, 164, 168, 195 – Mein trost Maria raine mait (G 11) 126 Anm. 6, 168 mit Anm. 122 – Muter guter sach die pest (G 4) 125 Anm. 3, 168 mit Anm. 123 – O du selige drifaltikait (G 44: O lux beata trinitas) (ID 12233) 125 Anm. 2, 169 Anm. 125 – O Maria pia (G 9) 167 – Pluom gezartet ros an doren (G 2) 125 Anm. 3, 166, 168 – Richer schatz der höchsten freuden (G 3) 125 Anm. 3, 166, 168 – Sälig sei der selden zeit (G 17) 125 Anm. 3, 168 Anm. 123, 169 Anm. 126 – Salve grüest pist mueter hailes (G 7: Salve mater salvatoris) (ID 7681) 7–8, 125 Anm. 2, 143, 164, 168 mit Anm. 124, 204–207, 210–218 – Schepher und weiser pist (G 26: Inventor rutili) 125 Anm. 2 – Sig und säld ist zu bedewten (G 29: Victimae paschali laudes) (ID 12918) 125 Anm. 2 – Uns künden all zwelfpoten gar (G 48: Caeli enarrant gloriam) (ID 13228) 125 Anm. 2, 169 Anm. 127 – Von anegeng der sunne klar (G 21: A solis ortus cardine) (ID 6302) 125 Anm. 2, 164 – Wir süllen loben all die raine (G 18) 125 Anm. 3, 143, 169 Anm. 125 Mülheim, Stadtarchiv, 1091/3, Bl. 83v–84r (ID 8422) 49

München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 160, Bl. 32r–43v (ID 8449) 49 – Cgm 444, Bl. 14r (ID 8950) 73 Anm. 22, 74 – Cgm 444, Bl. 24r (ID 7433) 255 – Cgm 715, Bl. 18r–24r (ID 7678) 204 Anm. 22 – Cgm 715, Bl. 24r–27r (ID 7689) 204 Anm. 22 – Cgm 715, Bl. 70r–v, 72r–75v (G 16) (ID 7387) 151–153 – Cgm 715, Bl. 92v–98v (ID 11052) 137 – Cgm 717, Bl. 68v–69r (ID 8397) 42 – Cgm 857, Bl. 63r–v (ID 7477) 257–258 – Cgm 858, Bl. 126r–130v (ID 8409) 46 – Cgm 858, Bl. 153r–155r (ID 8953) 74 – Cgm 1115, Bl. 34v–37r (ID 11053) 137 – Cgm 1115, Bl. 37r–38r (ID 8946) 73 Anm. 22, 75 – Cgm 1122, Bl. 327va–b (ID 8792) 27–28 – Cgm 4688, Bl. 346r–v (ID 8747) 74 – Cgm 4701, Bl. 148v–151r (ID 8750) 85 Anm. 47 – Cgm 5249, Fragment 64, Bl. 6r–v (ID 11059) 137 – Cgm 7364, Bl. 527vb–530vb (ID 8412) 46 – Cgm 8118, Bl. 157r–158v (ID 8748) 86 – Clm 6034, Bl. 83r–84v (ID 8955) 74 – Clm 14528 17 – Clm 17027 16 – Clm 27305 17 München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. 156 (Moosburger Graduale), Bl. 216v– 217v 201 Mundi renovatio (Sequenz) 125 Anm. 2 Müntzer, Thomas 34–35 Murbacher Hymnen 2 Namen-Jesu-Fest (Nominis Jesu) 39 Anm. 12 Neujahr (Fest) 126 Anm. 6 New York, Pierpont Morgan Library, M. 855 138 Notker I. von St. Gallen, Liber Ymnarum 5 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 22930, Bl. 6r–v (ID 7487) 255, 257 – Hs. 22930, Bl. 99v (ID 7488) 255, 257 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 100, Bl. 178r–179r (ID 7399) 151–153 – Cod. Cent. VII, 24, Bl. 123v–125v (ID 7390) 151–153

Index

– Cod. Cent. VII, 24, Bl. 362r–364v (ID 7917) 197 Anm. 16 – Cod. Cent. VII, 38, Bl. 225r–229r (ID 8951) 73 Anm. 22 – Cod. Will II,19.8°, Bl. 12r–15v (ID 8746) 85 Anm. 47 O bone Jesu (Gebet) 49 O lux beata trinitas (Hymnus) (ID 7284) 125 Anm. 2 Osnabrück, Staatsarchiv, Dep. 58 Hs. C IX, Bl. 136v–142v (ID 8405) 43 Ostern (In tempore Paschae) (Fest) 5, 37, 39, 149 Oswald von Wolkenstein 6, 95–96 Ottobeuren, Stiftsbibliothek, Ms. O. 4 (II 314) 69 Pange lingua gloriosi corporis mysterium (Hymnus) (ID 6558) 80, 125 Anm. 2, 127, 129, 195 Anm. 6 Pange lingua gloriosi proelium certaminis (Hymnus) (ID 6623) 129 Paris, Französische Nationalbibliothek, Ms. lat. 1092 16 Anm. 3, 17 – Ms. lat. 1143 129 mit Anm. 12 – Ms. lat. 1235 16 Anm. 3 Peckham, John 65, 127 Anm. 8 Peter von Sachsen, Maria gnuchtig zuchtig 167 Pfingsten (Dominica Pentecostes) (Fest) 5, 16, 39, 126 Anm. 6, 149 Pommersfelden, Gräfliche Schönbornsche Schloßbibliothek, Cod. 345 (2935), Bl. 41v (ID 7523) 255, 257 Prag, Bibliothek des Klosters Strahov, MS D.E. I.7 [Strahov] 129 Anm. 12 Prag, Stadtarchiv, Hs. 8200, Bl. 15r–v (ID 8026) 257 Regina caeli laetare (Antiphon) (ID 6655) 8, 225 Anm. 2, 236 mit Anm. 54 und 57 Rex Christe factor omnium (Hymnus) (ID 6653) 125 Anm. 2 Rom (Vatikanstadt), Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Ott. lat. 145 16 Anm. 3 – Cod. Palat. lat. 5776 16 Anm. 3 – Cod. Palat. lat. 7172 16 Anm. 3 – Cod. Ross. VIII. 144 16 Anm. 3

275

Rom, Biblioteca Nazionale Centrale ‚Vittorio Emanuele‘, Farf. 4 16 Anm. 3, 17 Rom, Biblioteca Vallicelliana, Cod. C 79 16 Anm. 3 Sacris solemniis (Hymnus) (ID 7320) 129 Salve festa dies (Hymnus) (ID 6651) 125 Anm. 2 Salve mater salvatoris (Sequenz) (ID 6854) 1, 7, 125 Anm. 2, 172–192, 193–221 – Gegroit systu moder uns behelders (ID 8248) 181–184 – Gegrußet sistu moder unße behelders (ID 11349) 181–184 – Got gruessen dich moder des behalders (ID 11349) 192 Salve mundi salutare 47 Salve regina misericordiae (Antiphon) (ID 6941) 1, 9, 225–248 – Bis gegrüsset königynne der barmherczikeit (ID 10615) 9 – Bis gegrüsset küngyn der parmhertzigkeit (ID 10577) 229–230 – Biß gruest, du himelfarwer schin (ID 10251) 96 Anm. 12 – Gegruest seyest du künigin der barmherczigkait (ID 8908) 234–246 – Salve gegrüsset seystu aller engel fraw (I) (ID 10114) 229 Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter, Cod. a II 9, Bl. 23r–v 256, 258 – Cod. b I 27 69 – Cod. b II 21, Bl. 161v–162r 257 – Cod. b IX 28 (10), Bl. 128v 256, 258 Sanctorum meritis (Hymnus) 129 Seuse, Heinrich, Cursus von der ewigen Weisheit 44, 47–48, 51, 57 Stabat mater dolorosa (Sequenz) (ID 6719) 1, 5–6, 125 mit Anm. 2, 149, 195 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 1164, S. 131 (ID 8147) 255, 257–258 Stephen Langton 5 Stockholm, Königliche Bibliothek, Cod. A. 192, Bl. 372ra–374ra (ID 8400) 42 Straßburg, Stadtbibliothek, Cod. B 121 4° [verbrannt] (ID 6367) 96–97, 100, 105, 113 Stuttgart, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, J 522 A 282, r–v (ID 9959) 50

276

Index

Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. brev. 25, Bl. 95r–96r (ID 8778) 23–25 – Cod. brev. 48, Bl. 130r–131v (ID 8842) 23–25 Surgit Christus cum trophaeo (Sequenz) (ID 12961) 125 Anm. 2 Te deum laudamus (Hymnus) 1 Tegernseer Hymnen 45–46, 73–74 Thomas von Aquin 6, 80, 127 Anm. 8, 129 mit Anm. 14 Thomas von Celano 6 Trier, Bistumsarchiv (mit Dombibliothek), Abt. 95 Nr. 559, Bl. 140r–145r (ID 9540) 49 Trier, Stadtbibliothek, Hs. 592 17 Ut queant laxis (Hymnus) (ID 7359) 125 Anm. 2 Uterus virgineus (Sequenz) (ID 9316) 125 Anm. 2 Venantius Fortunatus 21, 129 Veni creator spiritus (Hymnus) (ID 6297) 1–3, 15–36, 125 Anm. 2 – Kum schopfer haymsuch haylliger geist (ID 8790) 27–32 – Kvm hailger gaist mit diner gutt (ID 8784) 25–26, 28–31 – Kvm schepfær heiliger geist (ID 8776) 24– 25, 28–31 – Kvm schöpffer gott heiliger geist (ID 8971) 26–32 Veni redemptor gentium (Hymnus) (ID 6855) 16, 21 Veni sancte spiritus (Sequenz) (ID 6869) 5, 16, 20, 125 Anm. 2, 149 Verbum bonum et suave (Sequenz) 97 Verbum supernum prodiens (Hymnus) (ID 7361) 129–130 Verona, Biblioteca Capitolare, Cod. Veronensis CIX [102] 17 – ms. XCVIII 249 Anm. 4 Vexilla regis (Hymnus) (ID 7362) 21 Victimae paschali laudes (Sequenz) (ID 7363) 5, 125 Anm. 2, 149 Walther von der Vogelweide 94 Weihnachten (Nativitatis Domini) (Fest) 8, 16, 39 Anm. 12, 126 Anm. 6 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1828 138 – Cod. 2706, Bl. 157v (ID 8145) 255

– Cod. 2745, Bl. 166v–168r (ID 8780) 23–25 – Cod. 2856, Bl. 221r–222r (ID 8945) 73 Anm. 22, 75 – Cod. 2856, Bl. 229v–232r (ID 7686) 204 Anm. 22 – Cod. 2856, Bl. 237v–240r (ID 11051) 137 – Cod. 2907, Bl. 89va–90ra (ID 11152) 137 – Cod. 2975, Bl. 151r–152r (ID 7688) 204 Anm. 22 – Cod. 2975, Bl. 152r–v (ID 7909) 204 Anm. 22 – Cod. 2975, Bl. 156r–157r (ID 11055) 137 – Cod. 2975, Bl. 157r–158r (ID 8949) 73 Anm. 22 – Cod. 3609, Bl. 283v–285r (ID 11061) 137 – Cod. 3946, Bl. 471v–472v (ID 7691) 204 Anm. 22 – Cod. 4696, Bl. 127r–134r (ID 7687) 204 Anm. 22 – Cod. 4696, Bl. 178v–186v (ID 11054) 137 – Cod. 4696, Bl. 186v–188v (ID 8948) 73 Anm. 22, 75 Wien, Schottenstift, Cod. 295, Bl. 68r–70r (ID 8399) 42 – Cod. 313 (336), Bl. 139r–140v (ID 7402) 151– 153 Wipo von Burgund 5 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 59.1 Aug. 8°, Bl. 55v–73r (ID 8435) 49 – Cod. Guelf. 62.14 Aug. 8°, Bl. 63v–83v (ID 8434) 49 – Cod. Guelf. 65.4 Aug. 8°, Bl. 90r–110v (ID 8436) 49 – Cod. Guelf. 67.10 Aug. 8°, Bl. 40r–55r (ID 8433) 49 – Cod. Guelf. 81.1 Aug. 8°, Bl. 45v–60r (ID 8438) 49 – Cod. Guelf. 85.7 Aug. 12°, Bl .43v–56v (ID 8415) 49 – Cod. Guelf. 85.11 Aug. 12°, Bl. 77r–97v (ID 8441) 49 – Cod. Guelf. 87.10 Aug. 12°, Bl. 53v–54r (ID 8099) 255, 257 – Cod. Guelf. 88.9.2 Aug. 12°, Bl. 136r–146v (ID 8439) 49 – Cod. Guelf. 1025 Novi, Bl. 240v–253v (ID 8440) 49

Index

– Cod. Guelf. 1155 Helmst. Bl. 323r–335v (ID 8442) 49 – Cod. Guelf. 1166 Helmst., Bl. 91r–106r (ID 8437) 49 – Cod. Guelf. 1183 Helmst., Bl. 58v–59r (ID 8057) 256–258

Wolfram von Eschenbach 94 Zürich, Zentralbibliothek, Rh. 83 21

277

Autorenverzeichnis Jessica Ammer Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Abteilung für germanistische Linguistik Lea Braun, Dr. Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur Britta Bußmann, Dr. Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Germanistik Andreas Kraß, Prof. Dr. Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur Pavlina Kulagina Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur Christina Ostermann Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur David Murray, Dr. University of Oxford, Faculty of Music Matthias Standke, Dr. Universität Paderborn, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Lydia Wegener, Dr. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Projekt ‚Otto von Passau‘

https://doi.org/10.1515/9783110648799-011