Homo homini summum bonum. Der zweifache Humanismus des F.C.S. Schiller

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Homo homini summum bonum. Der zweifache Humanismus des F.C.S. Schiller

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Guido K. Tamponi

Homo homini summum bonum Der zweifache Humanismus des F.C.S. Schiller

ACADEMIC RESEARCH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: © Dahesh Museum of Art, New York. 2001.3

Gedruckt auf alterungsbeständigem,

C-iDDIN V / 0 - 3 - 0 3 J -U O U U l-U ^t-DUUKJ

DOI 10.3726/978-3-653-06001-0 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2016 Alle Rechte Vorbehalten. PL Academic Research ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang - Frankfurt am Main ■Bern ■Bruxelles ■New York ■ Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Gewidmet Patrick Tavassoli, der wie kein zweiter für die besten Seiten des Geistes des Pragmatismus stand und steht: für hoffnungsvollen Mut in allen Lebenslagen ohne Blindheit für die Übel, für anarchische Skepsis gegenüber einer jeden sich als solche zelebrierenden Autorität, für einen unbestechlichen Freiheitsdrang, nicht vor allem für sich, sondern in Form des Drangs nach Freiheit überhaupt und damit vor allem für die anderen all dies eingelassen in einen ihm eigenen Willen zur Verbesserung, sodass es das gesamte Arsenal der bösartigsten Waffen der Natur benötigte, um ihn darin aufzuhalten und niederzustrecken. Sein ethisches Exempel bleibt davon aber nicht nur unberührt, im Gegenteil, es wird durch sein bis zum Ende verkörpertes Ja zu all dem Genannten und damit zur Menschlichkeit nur noch mehr verstärkt.

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„Wahrheit ist der Mensch, nicht die Vernunft in abstracto, das Leben, nicht der Gedanke, der auf dem Papier bleibt, auf dem Papier seine volle, entsprechende Existenz findet. Gedanken daher, die unmittelbar aus der Feder in das Blut, aus der Vernunft in den Menschen übergehen, sind keine wissenschaftlichen Wahrheiten mehr.“ Ludwig Feuerbach - Das Wesen des Christentums1

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Feuerbach (1841), S. 16

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Danksagung Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine um eine stark erweiterte Fassung der Masterarbeit, die ich im September 2013 am philosophischen Insti­ tut der Universität Potsdam eingereicht habe. Vor diesem Hintergrund und auch für die konstruktive Begutachtung der ursprünglichen Fassung gilt mein Dank zuallererst meinen beiden Gutachtern Prof. Dr. Hans-Peter Krüger und Prof. Dr. Logi Gunnarsson. Über diese Rolle hinaus sei vor allem Ersterem herzlich ge­ dankt: als meinem langjährigen akademischen Lehrer im umfänglichsten Sinne, nicht nur, weil er es gewesen ist, der mir die Gedankenwelt des amerikanischen Pragmatismus eröffnet und zugänglich gemacht hat und ich seiner Unterstüt­ zung und seinem Interesse immer gewiss sein konnte, sondern weil er dem Den­ ken in all seiner Pluralität den Freiraum gewährt, den es nötig hat, um langsam aus sich selbst heraus zu reifen. Unvergleichlicher Dank gebührt meinen Eltern: Meinem Vater, Mario Tamponi, ohne den ich wohl den Weg eines Philosophiestudiums nicht eingeschla­ gen hätte, und meiner Mutter, Evalouise Panzner-Tamponi, die den Großteil der Korrekturen dieser Arbeit bewältigt hat. Von substanzieller Bedeutung sind auch Cary und Nico Roesler, ohne deren Unterstützung dieses Buch sich materi­ ell nicht hätte verwirklichen lassen. Desweiteren sind Kinga Behm, Johanna Diercks, Elisa Dieß, Alexis Dirakis, Sebastian Edinger, Melinda Erdmann, Julia Heuer, David Hugo, Andrea Kloß, Julia Kupilas, Elisabeth Rudolph, Anne Schiller, Julian Malte Schindele, Matthias Schloßberger, Christian Schölzel und Christian Ziron zu nennen, denen ich für die unzähligen Gespräche über Geist oder auch nur felliniesk im Geist sowie für die unterschiedlichen Antworten, die sie auf die „Frage der Sphinx“ geben, in Dank und damit auch jenseits dieser Arbeit verbunden bin. Gewidmet ist die Arbeit meinem Freund Patrick Tavassoli, der Anfang des Jahres viel zu früh verstorben ist. Rom, November 2015

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Inhaltsverzeichnis 1. Ü b e r flu g ....................................................................................................................... 13

2. D e r p h ilo so p h isch au sgew iesene W eg zu m A b g ru n d ......................... 35 2.1 Agnostizismus.......................................................................................................35 2.2 Skeptizismus..........................................................................................................40 2.3 Pessimismus..........................................................................................................42

3. D e r m e t h o d is c h e H u m a n is m u s als P ossib ilism u s D ie U m stellu n g v o m Sch ick sa ls- zu m M ö g lic h k e itsd e n k e n ............51 3.1 Im Vorzimmer der Praxis.................................................................................. 51 3.2 Exkurs: William James’ Konzept des „Will to Believe“.............................. 58 3.3 „Alles Gewordene hat Geschichte“................................................................. 70 3.4 Die ethische Demaskierung der Erkenntnis.................................................85 3.5 Exkurs: Die Pragmatismus-Kritik von Bertrand Russell Die Aufwertung des Menschen durch seine Abwertung.......................108 3.6 Die Problems o f B e lie fVon der Vielschichtigkeit der Personalität.................................................. 128 3.7 Die bilokale Bestimmung der Philosophie zwischen öffentlichem Dienst und privater Poesie...................................147 3.8 Auf halber Strecke - Rückblick und Ausblick............................................176

4. D e r p r o p h e t is c h e H u m a n is m u s zw isch en p e rso n a listis ch e r S p ek u latio n u nd g en etisc h e r M a n ip u la tio n ............................................ 185 4.1

Der spekulative Humanismus........................................................................185 4.1.1 Die Naturalisierung des Menschen als Vermenschlichung der Natur........................................................ 185 4.1.2 Exkurs: Der „personale Idealismus“ von George Holmes Howison..............................................................199

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4.1.3 4.2

Schillers Theatrum Mundi - Die Welt als Erziehungsstück zwischen Gott und den Menschen................................................... 213

Der eugenische Humanismus..................................................................... 229 4.2.1 Vom Kopf auf die Füße - Schillers politische Zeitdiagnose..... 229 4.2.2 Der eugenisch-reformistische Marsch durch die Institutionen......................................................................... 250 4.2.3 Exkurs: Die humanistische Mobilisierung religiöser Reserven bei John Dewey................................................. 268

5. Ein Ausläufer...............................................................................................279 Literaturverzeichnis....................................................................................................287 Verwendete Monographien/Aufsätze/Rezensionen von Ferdinand Canning Scott Schiller................................................................. 287 Verwendete Schriften anderer Autoren............................................................... 289

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1. Überflug Wenn dem britischen Philosophen Ferdinand Canning Scott Schiller (18641937) heute noch das Privileg zukommt, in kanonischen Betrachtungen oder Reflexionen des Werts des klassischen Pragmatismus interpretativen Raum zu­ gebilligt zu werden2, so meist deswegen, um ihn entweder als bloß epigonalen Schattenwurf seines monolithisch emporragenden amerikanischen Freundes William James auf Europa zu marginalisieren oder aber ihn produktiver, weil für den Rezeptionsdiskurs destruktiver darzustellen. In diesem Fall wird Schil­ ler nicht zu einem blassen Echo eines transatlantisch fernen, allein dort dem kulturellen Kontext entsprechend vitalen und wirksamen Spektakels, sondern vielmehr zum kontinentalen Ausläufer eines Tsunamis, der je weiter vom Epi­ zentrum des Bebens entfernt umso stärker und gewaltiger wird. Doch im Unter­ schied zum Reich des Materiellen stellt sich die Gewinnung an Kraft im Reich der Kultur, Literarität und des Geistes eher als Übersteigerung, Verzerrung und Vereinfachung dar, sodass Schiller, in diesem Rezeptionsnarrativ gefangen, zu

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Obwohl dies auch da, wo es auf den ersten Blick so zu sein scheint, nicht überall der Fall ist: Verbergen sich hinter den Referenzseiten im Personenindex unter „F.C.S. Schiller“ des Öfteren nur Erwähnungen des deutschen Dramatikers Friedrich Schiller: bspw. Flower (1976), S. 472; oder gar: Dewey (1979), S. 289 u. 318. Wenn auch einem editorischen Lapsus geschuldet, so sind diese dennoch bezeichnend für den fraglos tiefen Fall einer einst öffentlichen Figur, die zu Lebzeiten vom populären W issen­ schaftsjournalisten Edwin Slosson (1917) neben fünf weiteren Intellektuellen wie G.K. Chesterton oder H.G. Wells zum „major Prophet“ geadelt wurde; der Fall jedenfalls war noch tiefer, als es bereits H.S. Thayer einschätzte, der die Verwechslungen der beiden Schiller nur aufseiten der Leser lokalisiert sah: Thayer (1981), S. 273 Dabei setzt dieses plötzliche Verschwinden Schillers aus der philosophischen Öffent­ lichkeit schon früh, kurz nach seinem Tod ein, verkündete doch Winetrout bereits 1964 zum 100. Geburtstag Schillers und damit 27 Jahre nach dessen Ableben: „To others, fate has been so unkind that it becomes necessary to remind the world that that man has lived; he is never mentioned; his books gather dust, not readers; and if he ever had any disciples or admirers, they too have long since died or have shifted their loyalties. [...] Schiller [...] belongs to this [...] category.“ Winetrout (1964), S. 158.

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demjenigen mit einer „extreme view“3 wird, zum „tempter“4 der Bewegung, von dem gilt, dass sich „die gängigen Vorurteile gegenüber dem Pragmatismus [...] am ehesten an seinen Anschauungen verifizieren“5 lassen, indem er James phi­ losophischen Wurf, jede Vorsicht hinter sich lassend, „in seinen Konsequenzen aufs Äußerste getrieben“67hat. Während Schiller historisch dabei mindestens im­ plizit für einen Teil der Begründung herhalten muss, warum die europäische Rezeption des Pragmatismus, den von Joas (1992) für die deutsche Rezeption gebrauchten Begriff generalisierend, sich als ein Jahrzehnte andauerndes „M iß­ verständnis“ vollzog, wird Schiller systematisch im Rahmen einer positiven Re­ konstruktion zu dem Grenzfall, der als negative Ausgrenzung des Äußersten zur Bestimmung des denkerisch maßvolleren, aktualisierbaren Zentrums der pragmatistischen Bewegung dient. Doch auch die an zwei Händen abzählbaren Versuche, dieses negative Alea iacta est der Rezeption zu revidieren und Schillers philosophische Leistung zu rehabilitieren, konzentrieren sich dabei zum Großteil auf die Schriften, die im Zeitraum seiner größten Popularität, also während der heißen Phase des Kampfes um die Etablierung des Pragmatismus als einer eigenständigen wie vollwertigen philosophischen Unternehmung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ent­ standen sind, oder aber auf die dort inhaltlich am stärksten wechselseitig von Schiller und seinen Kritikern in den Vordergrund gerückten Themen, um dann auch die chronologisch vor- wie nachgängigen Schriften diesen rasterfahn­ dungsartig inhaltlich anzupassen.

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So lautet das Schiller als „Fellow Traveller“ zukommende Kapitel Misaks (2013): „The Extreme View o f F.C.S. Schiller“, in dem sie, gemessen am ansonsten umfassenden, viele zu Unrecht Ignorierte (Chauncey Wright, Oliver Wendell Holmes Jr.) inkorporie­ renden Überblick, den sie über die pragmatistische Szenerie gewährt, eine kurzsichtige, selber extrem einseitige Darstellung von Schillers Position unternimmt.

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Savery (1951), S. 496 Martens ( 1975), S. 46 - Eine ins andere Extrem getriebene Einordnung Schillers, wenn auch gar mit noch weniger, nämlich keinen Gründen unterlegt, findet sich bei Loenhoff, der von Schiller als dem ,,herausragendste[n] Vertreter des angelsächsischen Pragmatismus“ spricht. Loenhoff (1992), S. 173

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Stachowiak (1973), S. 21 Die them atische Inhaftierung, die aus diesem Zeitraum her denkt und der freilich Schiller auch selbst in seinem Schreiben zuarbeitet, findet sich in zwei der drei bisher existenten Schiller-Monographien wieder: Abel (1955) u. Winetrout (1967). Entfal­ tet sich diese Begrenzung Schillers nun über Inhaltspunkte wie: „Basically, however, Schillers Humanism was restricted to theory of knowledge” [Yolton (1950), S. 40] oder den Zeitraum: „Schiller’s most significant period was, it can hardly be doubted the

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Die vorliegende Arbeit schlägt einen anderen Weg ein. Statt eine Neube­ wertung des Beitrags Schillers zu den nach James8 den Pragmatismus hinrei­ chend charakterisierenden Topoi - die Schein und Sein in (philosophischen) Theorien aufzeigende Methode durch Folgewirkungsbezug sowie die genetische Wahrheitstheorie - vorzunehmen, wird hier versucht, einen grundsätzlicheren Zugang zu finden, der sich unabhängig von einem vermeintlichen Wesenszu­ sammenhang des Pragmatismus präfiguriert zu ergeben hat. Wie keiner der diese „Bewegung“ repräsentierenden Köpfe - Charles S. Peirce, William James, John Dewey, George H. Mead - sich in toto hierunter subsumieren lassen wollte9, will ich dieses Recht hier auch Schiller zukommen lassen und ihn nicht prim är aus diesem für den Pragmatismus „wilden Jahrzehnt“ um die Jahrhundertwende heraus oder durch die in diesem in den Fokus genommenen Themen, sondern umgekehrt diese sekundär als eine Facette eines Gesamtwerks interpretieren. Für den Diskurs um den Pragmatismus innerhalb der Philosophiewissenschaft be­ deutet dies wiederum umgekehrt: ein mehr als bewusst in Kauf genommener Kollateralschaden dieser Untersuchung soll der sein, den klassischen Pragma­ tismus in sich wieder ein Stück komplizierter und spannungsreicher zu machen,

epoch-breaking decade which ended with the outbreak of the first World War” [ Harvey (1957), S. 79], bleibt es diese Begrenzung, die die vorliegende Arbeit als zentrales Moment gerade durch ihre eigene Berücksichtigung des Früh- wie Spätwerks eben

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doch in Zweifel zieht. Fast absurde Blüten zeitigt dieses Vorurteil bei Oelkers, wenn die­ ser „dem Logiker Schiller“ unterstellt, ihm müsse der Sinn für das Pädagogische in der Philosophie Deweys quasi qua philosophischer Geburt als reiner Logiker abgehen. Tat­ sächlich aber ist dem Humanisten Schiller kaum etwas naher als der erzieherische Blick auf den Menschen, und dies bereits von seinem ersten Werk, den Riddles, an. Oelkers (2009), S. 101 Zwecks Komplettierung sei das darüber hinaus auch noch handwerklich dubiose Verfahren von Waschkuhn erwähnt, der zwar in seinem Literaturverzeichnis sämtliche Hauptwerke Schillers annotiert, in dem diesem gewidmeten Kapitel jedoch ausschließlich aus der Übersetzung des fünfzehnseitigen „Humanismus“-Aufsatz, wie er in der bereits erwähnten Pragmatismus-Anthologie enthalten ist, zitiert und durch Zauberhand dennoch zu folgendem Universalfazit gelangt: „Jedoch kommt Schiller über diese Invektiven und seine obigen Behauptungen nicht mehr sonderlich weit hinaus.“ Waschkuhn (2001 ), S. 61 James (1907), S. 4 1 -6 2 Selbst James, der den Pragmatismus ja gerade als eine Lehre mit den genannten beiden tragenden Säulen im öffentlichen Bewusstsein zur Geltung brachte, sah sich durch seinen „radical empiricism“, den er in „no logical connexion“ mit dem Pragmatismus wissen wollte, ipso fa c to als mehr an denn als reiner Pragmatist: Ebd., S. 14

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als er bisher zumeist konzipiert wurde, dafür aber auch gleichzeitig mehr auf der Höhe des real vorhandenen primären Textkorpus in seiner Epoche.10 Diese Arbeit handelt also von einem doppelt Unbekannten. Neben dem bekann­ terweise unbekannten, richtiger: unbekannt gewordenen Schiller, ein Tatbestand, der sich auch in der gegenwärtigen editorischen Lage seiner Schriften widerspie­ gelt11, gibt es noch einen zweiten, unbekannterweise unbekannten Schiller, der am deutlichsten in seinem Frühwerk, den „Riddles of the Sphinx“ (1891), mindes­ tens latent auch in den mittleren (1902-1929) und wieder zentraler in seinen Spätschriften (1930-1939) zu finden ist. Der philosophischen Intuition Bergsons über die philosophische Intuition folgend, nach der im Kern eines jeden philo­ sophischen Werks ein zentrales Motiv, eine zentrale Idee lauert, die etwas so „un­ endlich“ und „außergewöhnlich Einfaches [ist], daß es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszudrücken“, und er aus diesem Grund „sein ganzes Leben lang darüber gesprochen hat“12, schlage ich für Schiller vor, dieses synthetisierende

10 In voller Bejahung von Manders Aussage: „A loose doctrine held in different forms by different figures, pragmatism is much harder to capture than its various caricatures (truth is utility, truth is cash-value) imply.“ Mander (2011 ), S. 449. Dass die Wahrneh­ mung der inneren Komplexität der Bewegung, ja bis zum Zerbersten der Bezeichnung einer Bewegung in eine Wolke von Uneindeutigkeit gerade in der Frühphase deutlicher gesehen wurde als zum Großteil heute, zeigt A. O. Lovejoys (1908) kritische Diagnose von den „Thirteen Pragmatisms“. Eine Lesart, der Schiller, berüchtigt für seinen bissigen Witz, einige Jahre später eine der unheilbaren Ambiguitäten der Idealismen „zufälli­ gerweise“ entgegenhält: „there are a round dozen o f ,idealisms1 which can be or are maintained." Schiller (1939), S. 110 11 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Ausgabe irgendeiner Schrift Schillers, die nicht vergriffen ist, ganz zu schweigen von einer kritischen Edition einzelner Bände oder gar einer Gesamtausgabe. Das letzte und bisher einzige Mal eines zeitlich disper­ sen Neudrucks des Gros seiner Schriften wurde in der Reihe „Philosophy o f America“ (AMS Press) bzw. die beiden Hauptbücher zur Eugenik, Eugenics & Politics und Social Decay & Eugenical Reform , in der Reihe „The History o f Hereditarian Though" in den 80ern veröffentlicht. Zuletzt erschien lediglich eine, wenn auch umfassende und hervorragend kompilierte Textanthologie: Schiller (2008). 12 Alle vorgängigen Zitate: Bergson (1911), S. 147 - Zu einer das Gesamtwerk konstitu­ ierenden Idee zu gelangen, geht nicht über die Chronologie, sondern eher durch den Sprung in einen Zirkel von Annahme und Aufdeckung zugleich, eine Herangehens­ weise, die mancherorts den Charakter einer Unterstellung annehmen muss, weil sie die Idee als zugrundeliegende auch dort denken muss, wo sie sogar der betreffende Autor selbst nicht mehr wahrnimmt oder sich auch nur terminologisch gewandelt scheinbar davon entfernt hat. Ein hermeneutisches Wagnis, das am besten als m it Schiller gegen Schiller fü r Schiller beschrieben werden und sich letztlich nur dadurch rechtfertigen

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Moment im zu lösenden Problem des Pessimismus als Problem des Menschen in seiner Freiheitlichkeit im Allgemeinen, vor allem aber als Folgewirkung mo­ derner Entwicklungen im Speziellen zu sehen, die philosophisch - für Schiller entscheidend - im sich von den tradierten Erkenntnisansprüchen zurückziehen­ den Agnostizismus ihren Ausgang nehmen, insofern in ihm der Pakt der Koope­ ration zwischen Mensch und Kosmos zu bröckeln beginnt.13 Dass die Realität dieses bedrohlichen Phänomens, „the Demon of Despair, that besets the souls of many“14, einem Juggernaut gleich, keineswegs eine Kopfgeburt Schillers darstellt, sodass seine Auseinandersetzung von vornherein als ein Schattengefecht abgetan werden könnte, soll auch die leicht eklektizistisch anmutende, diese flankieren­ de Autorenauswahl im ersten Hauptkapitel (Kap. 2.1.-2.3.) bekräftigen, in dem der von Schiller idealtypisch durchdachte Weg in den Pessimismus als Hinter­ grund all dessen, was folgt, nachgezeichnet wird. Schillers Ausgangsproblem ist, ins Gesellschaftspolitische übersetzt, die Not der Neuorientierung in einer Zeit, die sich in einem von vielen als solchen wahrgenommenen Abbau bis hin zur Destruktion des A nden Régime manifestiert und deren psychologisches Ender­ gebnis auch in der durch den Neurologen George M. Beard bekannt gemachten Neurasthenie, der „nervous exhaustion“ erblickt werden kann. Eine Destruktion, die einst für unverrückbar gehaltene objektive Ordnungsrahnien hinter sich lässt und den Einzelnen bei aller Emanzipation, in der Formulierung von J. Royce, vor die Frage stellt:

kann, dass es am Ende ein systematisch relativ kohärentes Bild unabhängig von den biographischen Stadien und Entwicklungen zu zeichnen vermag. Weswegen hier auch die dritte und jüngste Monographie: Porrovecchio (2011) nicht maßgeblich ist. In dieser nähert sich der Autor dem Phänomen Schiller kaum vermittels dessen Haupt­ werken an, sondern über kleinere, diskurs-eingreifende Artikel Schillers sowie dessen Wahrnehmung durch Dritte in Rezensionen, Briefen etc., um dadurch die rhetorische Selbstkonstituierung Schillers im damaligen akademischen Diskurs zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit dagegen versteht sich als rein philosophiew issenschaftliche, d.h. interessiert an der Abarbeitung der von ihm vertretenen Positionen wie an den diese stützenden oder, wenn auch randständiger, infrage stellenden Argumentationslinien. 13 Weit davon entfernt, hinreichendes Indiz für die Richtigkeit der These der vorlie­ genden Arbeit zu sein, soll doch nicht unerwähnt bleiben, dass der Freigeist Ludwig Marcuse einer der wenigen außerhalb des Zuständigkeitsdistrikts des Akademischen in der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. gewesen ist, der Schiller mehrfach in seiner Schrift zum Pessimismus ins Spiel gebracht und damit wohl den zentralen Punkt erspürt hat: Marcuse (1953), S. 45 u. 156 14 Schiller ( 1903), S. 165

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„How may mankind live the harmonious emotional life, when men are driven for their ideals back upon themselves, when traditional faith is removed, when the age is full of wretchedness and of blind striving, when the very strength of poetic emotion implies that it is transient and changeable?”1516

Eine Not, die immer auch die intransitive Orientierungslosigkeit als eines ihrer möglichen Endergebnisse, als „living option“ kennt, samt des Selbstmords als ihrer radikalsten End-Äußerung. Die Arbeit ist damit grundsätzlich der These verpflichtet, die historisch von Diggins (1994) und systematisch von Krüger (2009) entwickelt wird1'’, sowie selbst Versuch, eine diese wiederum festigende, weitere Stütze zu errichten, dass es sich beim „Pragmatismus“ - hier nun in einem ganzheitlichen Sinn, nach dem er schlicht als alle genannten Köpfe umfassend konzipiert werden muss - um eine ideengeschichtliche Konstellation progressiver „Moderne-Kritik“ (Krüger)

15 Royce (1881), S. 168 16 Auch wenn beide zu diametral entgegengesetzten Schlüssen kommen: Während Krü­ ger im Pragmatismus ein wirksames Entkommen vom dualistischen Frontverlauf zwi­ schen einfacher Restauration und blind affirmativem Modernismus sieht, ist Diggins skeptisch, dass der Pragmatismus sein „promise“ einhalten kann, und zwar gerade praxisbezogen: eine vollwertige und damit stabilisierende Antwort auf die durch die Modernisierungsschübe abgebauten Daseinsgewissheiten wieder offenen Fragen der Sinnstiftung und anthropologischer Reflexion zu liefern. Diggins plädiert zur Beant­ wortung dagegen für ein Ernstnehmen einer (theologischen) Anthropologie, wie sie R. Niebuhr vorgeschlagen hat und die im Unterschied zum Pragmatismus das Böse als das dem Produktiven, dem Guten im Menschen Ebenbürtige in der menschlichen Natur selbst, statt nur in der manipulierbaren sozioökonomischen Umwelt verankert. (Eine Kritik, die jedoch, wie die Arbeit zeigen wird, vor allem den soziologischeren Pragmatismus eines Dewey trifft, weiß doch gerade Schiller in seinem prophetischen H um anism us und insbesondere nach seiner „realpolitischen Wende“ hin zum eugenischen H um anism us der Existenz des „Bösen“ im Menschen Tribut zu zollen.) Dies mit der Folge, durch eine Politik der Demut der latenten und in der Moderne radikalisierten Hybris des Menschen eher Einhalt gebieten zu können und zu verhindern, dass die moderne „Crisis of Knowledge and Authority“ (die Gewissheit, dass es keine Gewissheit mehr gibt), vom pragmatistischen Geist beseelt, den Menschen immer wieder dazu verführt, das Fehlen von Absoluta durch eigene in Form von unbegrenzten Macht- und Souveränitätsbestrebungen zu substituieren. Eine Kritik, die sich jedoch, solange sie im Hinblick auf das „Böse“ formuliert wird, nur primär gegen den jeden Puritanismus fliehenden Pragmatismus Deweys richten kann, weniger gegen den Schillers, findet die Negativität des Menschen in seinem prophetischen H um anism us und insbesondere in seinem eugenischen H um anism us durchaus einen angestammten Platz in der menschlichen Natur.

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handelt, die entgegen dem restaurativen Eintauschversuch der gesamten Moder­ ne an deren Freisetzung von Individualität, Pluralität, Autonomie, „geöffneter“ Öffentlichkeit und am Pochen auf prinzipiell für alle einsichtigen Beweisver­ fahren innerhalb der Gerichtsbarkeit bis hin zur Wissenschaft festhält. Dabei versucht sie gleichzeitig, den negativen Folgewirkungen, die sich aus der Krise von Tradition und Autorität im Verlust des Maßstabs und der Orientierung er­ geben, reflexiv und nicht sentimental oder intuitiv abwehrend entgegenzutre­ ten. Inwieweit dies als geglückt gelten kann, soll hier - in einer Arbeit, die sich weitestgehend der immanenten Rekonstruktion des Denkens eines Pragmatisten verschrieben hat - nicht beantwortet werden, auch wenn die Einfügung der frü­ hen und seitens der bisherigen Rezeption en gros verkannten, weil rein an der technischen Oberfläche entlang ausgewerteten und damit vorschnell abgetanenen Kritik eines Bertrand Russell (Kap. 3.5), der repräsentativ für ein pragmatis­ muskritisches Dispositiv und damit für eine Legion weiterer, verwandt kritischer Autoren zu verstehen ist, dem Leser bewusst die Komplexität einer möglichen Antwort vor Augen führen will.17 Die philosophische Position, welche Schiller dem einen vollen Lebensvollzug entkernenden Pessimismus entgegenhält, so die positive Kehrseite der Haupt­ these der Arbeit, ist ein Humanismus, der in zwei Versionen als strukturell

17 Es ist verwunderlich, dass trotz der in Anbetracht der Publikationen, Tagungen und Gesellschaftsgründungen wohl nicht zu Unrecht ausgerufenen „Renaissance des Prag­ matismus“ im europäischen und vor allem deutschen akademischen Raum, welche angetreten ist, die aus deutsch-provinziellem Dünkel heraus aufgesetzten Scheu­ klappen gegenüber dem Denken jenseits des Atlantiks - deren Vorhandensein bspw. Joas (1992) zweifelsfrei aufgezeigt hat (wobei es neben vor allem W. Jerusalem und G. Jacoby auch noch andere, dort untheinatisiert gebliebene vorurteilsfreie Rezipien­ ten wie Edgar Wind gegeben hat) - abzulegen und eine ernsthafte, wenn auch späte Auseinandersetzung mit dem klassischen US-amerikanischen Pragmatismus zu er­ möglichen, diese Renaissance es bisher versäumt hat, die nicht minder klassische wie vielfältige Pragmatismus-Kritik mitzureflektieren. Eine Kritik, die nicht mit einem Verweis auf einen plumpen „Antiamerikanismus“ beiseitegeschoben werden kann, handelt es sich dabei doch nicht selten auch um eine inländisch amerikanische oder zumindest englischsprachige. Ironischerweise scheint damit die deutschsprachige Pragmatismus-Welle die frühere historische Fahrlässigkeit und unkritische Blindheit mit umgekehrten Vorzeichen fortzuschreiben und dem transatlantischen Diskurs so erneut einen Schritt hinterherzuhinken. Als nur ein Beispiel von vielen hierfür mag die von J. Shook edierte, fünfbändige Reihe „Early Critics o f Pragmatism“ (2001) dienen. S. auch die von ihm geleitete „Pragmatism Cybrary“, die, neben anderen unzähligen für die Forschung unentbehrlichen Informationen, auch mit der umfassendsten Bib­ liographie Schillers aufwartet: http://www.pragmatism.org

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unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Ebenen sein in zahlreichen M o­ nographien und Aufsätzen vorliegendes Werk, das sich über vier Jahrzehnte erstreckt, zusammenhält und in dieser Arbeit als m ethodischer einerseits und prophetischer andererseits terminologisch fixiert wird und gleichzeitig exege­ tisch leitend ist. Während der m ethodische Humanismus als Signifikant für den Part Schillers von mir gebraucht wird, der als Kritiker und Reformer der for­ malen Logik und ihrer Ansprüche des Absoluten, kurz: als Exorzist jeglicher Letztgewissheit zugunsten des irreduziblen Horizonts der persönlichen Wahl von Möglichkeiten in Erscheinung getreten ist, dient der prophetische H um a­ nismus als Signifikant für den Part Schillers, der die Explikation seiner eigenen positiven Wahl enthüllt und die damit auf der Grundlage seines m ethodischen Humanismus steht: einer Sicht auf die Welt, Geschichte und vor allem Zukunft, in der dem Menschen, wie der hierfür von mir der jüdisch-christlichen Tradi­ tion entnommene Begriff des Prophetischen deutlich machen soll, ein aktiver Anteil sowie ein kreativer Gestaltungsspielraum bei der Verwirklichung des Gu­ ten zukommt, ja diese Verwirklichung hier im Unterschied zum Pessimismus überhaupt als reale und nicht bloß fiktive Möglichkeit gedacht wird. Spiegelt der m ethodische Humanismus die affirmative Adjutanz des Kontingenzschubs der Moderne wider, so spiegelt sich im prophetischen Humanismus die therapeuti­ sche Skepsis gegenüber der potentiellen Grenzenlosigkeit derselben wider, samt dem extremen wie die initiale Emanzipation verkehrenden Ergebnis totaler me­ taphysischer Obdachlosigkeit und der individuellen, sozialen wie kosmischen Irrelevanz jeglicher Wahl überhaupt. Der prophetische Humanismus ist Wille zur durchdachten Eindämmung der destruktiven Möglichkeiten hin zu solchen, die der menschlichen Entwicklung dienen. Diese können sich dem Menschen zwar nicht mehr im Gewand vormoderner Gewissheit anpreisen, dafür aber - dies zumindest der Anspruch - im Hinblick auf ihre gewonnenen Potentiale zur ef­ fektiven Kultivierung eines in allen Bereichen gelingenden Lebens, sei dies in­ dividuell oder kollektiv. Nicht nur, dass dieser prophetische Humanismus von einer jeden das philosophische Gesamtwerk Schillers interpretierenden Lesart mit in den Blick genommen werden muss, darüber hinaus wirft das von ihm darin praktizierte Exempel einer metaphysischen wie sozialpolitischen Vision umgekehrt auch Licht auf die Tragweite und Bedeutung dessen, was der vom methodischen Humanismus ontologisch aufgeschlossene Raum der Möglichkei­ ten konkret beinhalten kann, indem er neben der Subversion von Notwendigkeit als Folge der Idee des Absoluten und dem darin impliziten Werben für Toleranz auch den Weg zur progressiven und utopiegeleiteten Kritik weiterhin oder ge­ rade zulässt.

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Der prophetische Part liegt nun konkret, so der weitergehende Vorschlag zur Aufschlüsselung bei gleichzeitig größtmöglicher Bindung der vielfältigen Teile der Philosophie Schillers, wiederum in zwei Fassungen vor, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten: als spekulativer und als eugenischer Humanismus. Eine Janusköpfigkeit, die, wie sich im Verlaufe der Arbeit zeigen wird, dennoch beide von dem einen Grundbestreben der Prophetie i.S. ihres jüdisch-christlichen Ursprungs geleitet sind, der Sicht auf die Geschichte durch Apokalyptiker und ihrem, in den Worten Martin Bubers, defätistischen, die Ohn­ macht hypostasierenden „Hinnehmen und .Enthüllen von Geschicken, die vom Menschen völlig unabhängig ihn überwältigen“1819,eine positive wie mögliche Geschichts- und Gesellschaftsvision entgegenzuhalten, in der eine Chance auf von Menschenhand mitgestaltete Veränderung des Weltverlaufs eingeräumt wird.11* Das der Arbeit den Titel gebende H omo hom ini summum bonum - der Mensch als des Menschen höchstes Gut - ist damit für den methodischen Humanismus mehr deskriptiv zu lesen: der Mensch ist und bleibt irreduzibel Dreh- und An­ gelpunkt als Weltwahl - kein Weg zur Welt, der nicht über den „Umweg“ Mensch führt. Für den prophetischen Humanismus insgesamt dagegen wird das Motto normativ gewendet: Der Mensch wird hier auf seine perfektibilisierenden Poten­ tiale hin von Kosmos, Welt und damit - gemäß des methodischen Humanismus vor allem von sich selbst in den Blick genommen. Der spekulative Humanismus wird systematisch vor allem in Schillers Früh­ werk, den Riddles, als Antwort einer anthropozentrischen Kosmologie auf die Frage nach der Stellung und Aufgabe des Menschen im Kosmos konzipiert: ein mit breitem wie expressivem metaphysischen Pinselstrich gemaltes kosmogonisches Gemälde, das die Geschichte der Welt als pädagogisches Lehrstück zur Läuterung und Besserung der Menschen zeichnet und versucht, darin eine Harmonie zwischen Gott und den anderen, ebenso ewigen und unsterblichen Personen, die die Menschen jenseits ihrer empirischen Vergänglichkeit sind, als

18 Buber (1984), S. 255 19 De Waal schreibt zwar richtigerweise, dass „it could be argued, however, that Schillers proactive stance toward eugenics is at least in part a logical outcome o f his humanism“ [de Waal (2005), S. 52], führt dies aber in der Folge nirgendwo weiter aus. Dieses Fehlen von Gründen scheint m ir selber einen Grund zu haben: die Absenz der ge­ samten kosmologischen, geschichtsphilosophischen Perspektive Schillers, die es erst erlauben würde, seine Kampagne für eugenische Reformen als spätere, realpolitische Rekonzeptualisierung ebendieser einzuordnen, will man über die bloße Betonung hinausgehen, dass es bei allen „Darwinisten“ zumindest ein latentes Moment gibt, das den Übergang zur Eugenik nicht völlig unwahrscheinlich macht.

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möglichen eschatologischen Endzustand zu antizipieren. Der pessimistischen Metaphysik, deren Endzustand umgekehrt das letzte Scheitern und Zersetzen aller Aspirationen bildet, soll so ein melioristisches Bild entgegengesetzt werden, das jedoch nicht blind Übel und Unvernunft - in den Begriffen seiner beiden Antworten hierauf: dysteleologische (spekulativer Humanism us) bzw. dysgenische (eugenischer Humanismus) (Un-)Ordnungen - der Welt übergeht, sondern diese als in der Zeit überwindbare produktiv integriert. Ein reformierter, kom­ plexer Optimismus, der erst dadurch zu einem vollen wird, dass er sich nicht, wie der Pessimismus, dem Luxus der Notwendigkeit verschreiben kann, muss er doch dem fundamentalen Gut des Menschen, seiner Freiheit und damit der stetig zu ergreifenden Möglichkeit wie dem latent über ihm hängenden Damok­ lesschwert des Scheiterns, gerecht werden. Gerade in Bezug auf die Verbindung des in der Literatur gänzlich ignorierten Wurfs eines solch spekulativen Humanism us20 soll hier jenseits der für eine Re­ konstruktion des mehrere Apartments beinhaltenden Ideengebäudes von Schil­ ler unumgänglichen Erschließung, von denen nach der Gesamtschau klar wird, dass nur auf Kosten tektonischer Verschiebungen einzelne Bereiche weggelassen werden können, da ihnen allen Eckpfeilercharakter zukommt2021, darüber hinaus noch zweierlei deutlich gemacht werden.

20 Paradigmatisch hierfür die ansonsten in vielerlei Hinsicht exzellente biographisch ausgerichtete Studie von Porrovecchio, in der er ähnlich lamentiert, um dem Frühwerk Schillers dann in der Folge nicht mehr als eine Seite zu widmen. Ähnlich De Waal, der in seinem Kapitel zu Schiller zwar die genealogische Unabhängigkeit Schillers von James durch dessen Riddles erwähnt, in der Folge jedoch ihn mehr aus den James nahen, späteren Schriften rekonstruiert und sich dadurch zu dem Fehlurteil verleiten lässt, der von Schiller eröffnete Raum einer absoluten, i.S. die zentralen menschlichen Belange des Menschen ansprechenden „Wahrheit“ „plays little or no role in Schillers humanistic outlook“ [De Waal (2005), S. 63]. Dabei ist dies doch genau das, was das Visionäre seines prophetischen H um anism us vorzuschlagen sucht, wenn auch im W is­ sen um die Endlichkeit seines Vorschlags mit der Klausel der „ironischen“ Brechung desselben. 21 Das Anliegen des spekulativen H um anism us, dem Pessimismus einen (kritischen) O p­ timismus entgegenzusetzen, führt, wenn auch in stark abgemagerter Form, bspw. in den folgenden Jahrzehnten in der minimalistischeren Frage nach dem Überwinden des menschlichen Hauptübels, der Frage nach dem Leben nach dem Tod, bei Schil­ ler ein eigenes Nachleben. Ein immer wiederkehrender Topos, der, ohne Würdigung dieser werkimmanenten Genealogie, nur unsystematisch in den restlichen Schriften umherzugeistern scheint.

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(1) Nicht nur, dass der spekulative Humanismus die These von Murphey be­ stätigt, die dieser im Hinblick auf die agapistische Vision einer sich sukzessi­ ve durchsetzenden Vernunftdurchdringung des Kosmos des Ko-Pragmatisten Ch. S. Peirce geäußert hat, dass die Beziehungen zwischen dem vermeintlich auf „handfesten“ Realismus bedachten Pragmatismus und dem sich jeglicher Gra­ vitationskraft entziehenden, „luftigen“ Idealismus „are closer than is sometimes thought“22. Ja, er stärkt diese These und sprengt die heutige Engführung des Bildes vom Pragmatismus als einer bloß vom Common Sense und „Alltags-Realismus“ geleiteten Strömung zugunsten der realen ideengeschichtlichen Komplexität und betont damit den tiefen Bruch zum Gegenwartspragmatismus, für den diese Be­ schreibung weitaus mehr gilt.23 Unter Einbeziehung dieses spekulativen Eckpfei­ lers seines Gesamtwerks wird aber auch, rein Schiller immanent, erst deutlich, dass die meisten Urteile über ihn - negative wie positive - auf Grundlage von künstlichen Fragmenten und mangelnden Beweislagen gefällt sind und dadurch, dass sie diese Ausschnitte mit dem Ganzen gleichsetzen, diese zwangsläufig missinterpretieren müssen.2425Dies zeigt sich dann auch darin, dass jenseits der biographisch fraglos größten Nähe zu William James Schillers Einordnung in den pragmatistischen Autorenkreis, bei Berücksichtigung beider Humanismen, weitaus komplexer ausfallen muss als üblicherweise geleistet, ja, in der Bünde­ lung von Tendenzen der anderen Autoren einzigartig ist: Das Individuum als Fundament (James) wird aus einer naturphilosophisch-kosmologischen Weit­ winkelperspektive ausgeleuchtet (Peirce), um es in seiner gesamtgesellschaft­ lichen Mission (Dewey) mit einem Motivations- und Legitimationsschub zu versehen.23 Wahrend den philosophischen Beziehungen zu James und Dewey

22 Murphey (1968), S. 19 23 S. exemplarisch das von Esfeld (2001) skizzierte Bild des metaphysisch geläuterten gegenwärtigen Pragmatismus. 24 Durch die alleinige Betrachtung dessen, was in dieser Arbeit als m eth od isch er H um anism us firmiert, entsteht in der Folge das seit Ralph Barton Perry, einem Schüler von James, festgesetzte, die pragmatistischen Akteure klassifizierende Fehlurteil, das auch der Schiller-Exeget W inetrout affirmativ rezitiert: „Schillers universe is the smallest, .being essentially a psychological one.* Dewey’s is the widest having a panorama quality. Somewhat in between James would place his philosophical uni­ verse.“ Winetrout (1960), 58f. 25 Eine Einzigartigkeit der kreuz und quer um sich greifenden Tendenz-Bündelung, die sich umgekehrt auch bei jedem anderen der Genannten ausmachen ließe, sodass konzeptionelle Zuweisungen eindimensionaler Rollen zur Anordnung „des Pragma­ tismus“ wie bei Savery zwar einen anschaulichen hermeneutischen Appetizer ausma­ chen, der sich aber bei genauerer Betrachtung der jeweiligen schon gar nicht von einer

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hier durch Exkurse (Kap. 3.2. bzw. 4.2.3.) näher nachgegangen wird, wird die Verbindung zu Peirce’ synechistischer und agapistischer Kosmologie2* zwar an entsprechender Stelle rudimentär angedeutet, ein durchgeführter Vergleich aber muss zugunsten einer anderen Referenz ausbleiben. (2) Statt zu Peirce folgt in dieser Arbeit ein Brückenschlag zum „Personal Idealism“ von George H. Howison (Kap. 4.1.2.), und zwar nicht nur, weil es sich biographisch bei diesem im Unterschied zum amerikanischen Urgestein des Pragmatismus für Schiller um einen „old friend“2627 handelt, sondern vor allem, weil die in der beidseitigen Rezeption bisher nicht wahrgenommene, aber noch viel frappantere philosophische Nähe zum „American Personalism“, für den die­ ser neben Borden Parker Bowne als Protagonist steht, herausgearbeitet werden soll. Eine Kongruenz in Anliegen und Durchführung, die beide zumindest eine Zeitlang auch selber als solche erkannt hatten.28 Chronologisch betrachtet kann Schiller damit gar als Vordenker von Positionen eben dieser Strömung gelten, die aus dem zeitgeschichtlich gesehen nicht nur akademisch so omnipräsenten Konflikt zwischen Darwinismus und christlichem Erbe entstanden und, auch hierin Schiller artverwandt, zwischenzeitlich selber zum Großteil unter den Tisch, genauer: den akademischen Katheder gefallen ist. Und dies, obwohl im Rahmen der heutigen Culture Wars zwischen christlichen und atheistischen Fundamentalisten ein Blick genau in diese geistig exzessive, geradezu laszive Epoche unter dem Aspekt einer Entspannungspolitik keineswegs von Schaden, sondern der Gelassenheit förderlich wäre, erscheinen die Debatten von heute doch, zumindest ideengeschichtlich betrachtet, kaum mehr als ein Déjà-vu zu sein und ein farbloses noch dazu.

Reihenfolge her entfaltbaren Projekte schnell als Schall und Rauch erweist: „Peirce was the forerunner, James the creator, and Dewey the developer and the preserver.“ Savery (1951), S. 496 26 Eine Ähnlichkeit, die von Schiller selbst in einem B rief an Peirce erahnt wird: „synechism (which, I take it, stands to your pragmaticism much as my .humanism' does to my .pragmatism')“, zit. n. Scott (1973), S. 369. Eine Ahnung, der jedoch in der Folge von keinem der beiden systematischer nachgegangen wird. 27 Schiller (1934) [„Theory and Practice“], S. 164 28 Dass diese Nähe dennoch bis heute zum Großteil im Verborgenen geblieben ist, ist beiden Seiten anzulasten: sowohl, wie zu Beginn des entsprechenden Kapitel gezeigt wird, Howison als auch den Pragmatisten, allen voran James, der in seiner Vorlesung zum Pragmatismus den Personalismus (allerdings den von B.P. Bowne) unter die „tender-minded“ Philosophien der Gegenwart rubriziert hat, die der Pragmatismus zusammen mit ihren „tough-minded“ Gegenparts als Strömungen der Vergangenheit zu überwinden trachtet. James (1907), S. 25

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Die wohl für die bisherige Wahrnehmung Schillers entscheidendste Posi­ tionierung seinerseits findet sich aber in der zweiten Version seines propheti­ schen Humanism us, bei dem nun auch chronologisch gesehen immer mehr die metaphysisch-spekulativen Visionen durch ein realpolitischeres Engagement abgelöst und ersetzt werden: in seinem Einsatz für eine eugenische Reform der „dysgenischen“ Ordnungen in den westlichen Gesellschaften. Diesen eugenischen Humanismus Schillers werde ich im letzten rekonstruktiven Kapitel der Arbeit (Kap. 4.2.1.-2.) untersuchen, doch sei auf diesen bereits hier etwas genauer eingegangen - zum einen wegen der erweiternden Relation zur These der Arbeit vom Pessimismus-Problem als negativem Gravitationszentrum des Schiller’schen Denkens auch im Hinblick auf diesen Problemkomplex, zum anderen wegen seiner grundsätzlichen, möglicherweise gar abschreckenden Brisanz: Denn für das anwesend Abwesende, das Schiller in den PragmatismusDebatten auszeichnet, ist dies, sein eugenisches Engagement - vom Mitwirken in der britischen Eugenics Education Society bis zum Publizieren mehrerer für die Sache werbender Monographien, Artikel und Rezensionen - nicht zu über­ schätzen. Wird er dadurch doch zu einem anrüchigen Kuriosum stilisierbar, das an dieser Stelle seines Werks exemplarisch seine zur Geisterfahrt fähige Urteils­ kraft derart deutlich zur Schau gestellt hat, dass eine umfassende wie detaillier­ tere Beschäftigung mit Schiller im Gesamten wie seinen eugenischen Motiven im Speziellen kaum noch Not tut oder, mehr noch, schon immer unter dem Verdacht eines brandgefährlichen Revisionismus stehen würde. Wo Schiller also bisher als unterscheidbares Element und nicht nur als verstärkendes, d.h. verflachendes Echo von James im Kanon des Pragmatismus bewusst wahrge­ nommen wird, ist es vor allem in dieser Hinsicht: als eine antidemokratische Ausnahmeerscheinung, die das ansonsten als gültig angenommene Kommu­ tativgesetz von Pragmatismus und Demokratie auszuhebeln droht und der so die Fama von den „cracks in the pragmatic facade“ (M . Porrovecchio) anhaftet. Sein hervorstechendes Proprium, seine individuelle Leistung? Sein eugenischer Fehltritt! Genauer: nicht nur ein, sondern bei aller Apotheose „der Demokratie“ im Pragmatismus- wie allgemeinen Diskurs besonders heute der Fehltritt über­ haupt, der folgerichtig nur mit der Kapitalstrafe der Rezeptionsexekution, vulgo: -ignoranz bestraft werden kann. Ich werde für einen anderen exegetischen Zugang zum eugenischen Vor­ haben optieren und zeigen, warum auch dieser Abschnitt seines Werkes trotz des reflexartigen und vermeintlichen „Verstehens“, richtiger: gerade deswegen, ebenso wie der spekulative Humanismus tatsächlich zum unbekannterweise un­ bekannten Schiller gezählt werden muss. Der Schwerpunkt wird dazu nicht auf

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die rasterfahndungsartige Suche nach antidemokratischen Vorbehalten gelegt mit dem Ziel, Schiller aus der politischen Koalition der Pragmatisten - einer Ko­ alition, die sich je nachdem, was man nun unter Demokratie und Liberalismus genauer verstehen will, niemals gänzlich geschlossen dargestellt hat2930- oder der ehrenwerten Autoren überhaupt zu lösen, sondern auf die Erschließung auch dieser Ebene seines Werks primär aus dem Kampf gegen den Pessimismus und aus derselben Grundintention heraus, wie sie auch in den anderen „philosophi­ scheren“ Verästelungen am Werk ist. Denn keineswegs muss es sich beim Pes­ simismus um ein rein individuelles, persönliches Problem handeln, kann dieser sich doch auch ganzer Gesellschaften vorbewusst und strukturell bemächtigen, sogar dann, wenn diese durch Stärkung eines exklusiven Nationalismus dem Nihilismus gerade zu entkommen meinen, tatsächlich Letzteren aber eben da­ durch gänzlich affirmieren, dass sie in der Folge auf nichts anderes zusteuern als ihren bellizistisch vollzogenen kollektiven Selbstmord. Ein drohender Ausblick auf die ungezügelte Entfaltung des Todestriebs, den Schiller spätestens nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs nicht müde wird an die Wand zu malen und von dem wir inzwischen wissen, dass er sich bewahrheitet hat.'0 Seinerzeit und auch noch später vermochten viele in der noch im Vorpädagogischen und

29 Man denke insbesondere an den für den PR-Slogan des Pragmatismus als „Philoso­ phie der Demokratie“ als Kronzeugen dienenden Dewey und seine Faszination für das Social-Engineering-Vorhaben einer „intelligenten“ Neuschöpfung und -anordnung der Gesellschaft im frühen Sowjet-Russland und seine Begeisterung für das sei­ nem Instrumentalismus und Experimentalismus gegenüber als verwandtschaftlich empfundene Projekt eines Fünf-Jahres-Plans: s. Dewey (1931), und zur historischen Einordnung von Deweys Haltung innerhalb einer über diese allein hinausgehende Romantisierungswelle in der Beobachtung des nachrevolutionären Russlands seitens US-amerikanischer Intellektueller: Engerman (2004). Für die umgekehrte Faszination des liberalen, pragmatismusnahen US-amerikanischen Milieus für den Faschismus und besonders dessen „Charismatiker“ Mussolini: s. Diggins (1972). Überhaupt ist es fragwürdig, einen Philosophen, der sich zur Demokratie bekennt, quasi-parteipolitisch zum Anwalt dieser oder anderer verwirklichter Demokratien heranzuzitieren, haben die demokratischen Visionen jenseits ihrer nominellen Fassade doch selten etwas mit den verwirklichten Realitäten gemein, sodass auch in dieser Hin­ sicht jemand wie Dewey - oder jeder andere große Theoretiker der Demokratie - als einer der schärfsten Kritiker der „Demokratie“ i.S. ihrer verbalpolitisch deklamierten, bereits verwirklichten Wirklichkeit gewertet werden muss. 30 Dass die Welt untergehen kann, ohne aufzuhören, „an sich“ weiterzuexistieren, und dies auch schon mehrfach geschehen ist, dürfte jedem Humanisten einleuchten, der als solcher gerade keine bloß distanziert-physikalistische Perspektive auf den Existenz­ tatbestand „Mensch“ hat. So gesehen ist am Ende das Abendland untergegangen - was

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damit radikal genug ansetzenden Eugenik das einzig wissenschaftlich gesicher­ te Kurativum zu erblicken. Eine theoretische wie praktische Ausgangssituati­ on, die bei den sich heute allein schon am Wort entspinnenden dystopischen Assoziationsketten schwer vorstellbar erscheint31 und doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl unterschiedlichster Denker aus den unter­ schiedlichsten politischen Lagern - keineswegs nur nationalsozialistischen oder faschistischen - hervorlockte: Sozialisten wie G. B. Shaw und andere Linke, wie sie in der Fabian Society versammelt waren, klassische Liberale wie G. H. Wells oder J. M. Keynes oder auch so solitäre Freidenker wie J. Huxley.32 Die Situation ihrer Zeit, deren soziale und wirtschaftliche Erosion für Schiller wie für jeden anderen dieser Denker nicht verborgen blieb, bedeutete für sie nicht die Wahl zwischen der Position eines liberalen Demokraten oder der eines Eugenikers, sondern vielmehr die zwischen der des Eugenikers oder der des Kataklystikers, ergo: des Pessimisten. Hinter Schillers Eintreten für eine „eugenical reform“ steckt nicht die Be­ mühung eines Demokratiefeindes, sondern vielmehr eines in Anbetracht der globalen Entwicklungen kritischen Demokraten, der, anders als die übrigen transatlantischen Pragmatisten und deren Adepten, nicht durch den großen Teich vom „europäischen Bürgerkrieg“ getrennt ist. Schiller stellt sich mit dieser

sollten sonst über einhundert Millionen Tote bedeuten? - , selbst wenn es im nackten physikalischen Sinne immer auch noch ein Danach gibt. 31 Kritisch betrachtet mag einem jedoch der Boden, auf dem die heutigen theoretischen Ablehnungen von Eugenik stehen und formuliert werden, als Evidenzcharakter eines Irrwegs eher porös und unecht erscheinen, weil disharmonisch zu vielerlei faktisch in der Gegenwart stattfindenden Entwicklungen. Blickt man über die Scheingefechte, die sich um Worte ranken, hinweg, können einem aber unmöglich die Menetekel einer am Tiefsten bzw. Niedersten ansetzenden biologistischen Zukunft und die Frag­ würdigkeit der Glaubwürdigkeit der sensus com m unis gewordenen Verdammung der höchstens historischen Eugenik verborgen bleiben. So zeigt jeder Blick in die Prospekte von Samenbanken oder die Laboratorien der Embryonalforschung, dass die Eugenik nicht nur weiterhin existiert, sondern dank wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und vor allem kollektiv- und individualpsychologischer Subventionierungen („Selbstver­ wirklichung“, „Enhancement“) eine in ihrer Tragweite nicht ausmalbare Zukunft noch vor sich haben wird. In diesem Sinne ist das Problem der Eugenik tatsächlich kein aus­ schließliches der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und Zukunft - nicht zuletzt vor dem Horizont des ungelösten und „human“ wohl auch kaum lösbaren Problems der Überbevölkerung. 32 S. zur Einordnung der eugenischen Bewegung in geistes- und realgeschichtlicher Hin­ sicht: Lemke (2014) und, mit besonderem Blick auf Großbritannien, Searle (1976).

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Nähe zum Krisenkontinent Europa die Frage „Can Democracy survive?“ quali­ tativ ganz anders: in potenzierter Vehemenz. Eo ipso fällt damit aber auch der Versuch, auf sie noch eine optimistische Antwort zu formulieren, fundamentaler aus und damit gleichermaßen der, das Überleben des Liberalismus durch seine Transformation gegenüber den überall aus dem Boden sprießenden Diktaturen zu sichern. Eine Vehemenz, die sich in der Folge in der fehlgeleiteten, biolo­ gistischen Drastik seiner Antwort als eugenischer Humanismus widerspiegelt, die aber selber nur einen marginalen Teil neben den ebenso hierunter gefassten politisch-euthenischen Reformen der sozialen Umfelder wie der Bildungsstruk­ turen ausmacht, die diese seine politische Philosophie im Ganzen tragen und die durch den spätestens heute ausschließlich biologistisch enggefassten Begriff der Eugenik, den Schiller schon zu seiner Zeit dezidiert als bloße „caricature“ von sich wies, ungesehen verloren zu gehen drohen.33 Schaut man sich die Schriften hierzu vorurteilsfrei an, entdeckt man in ihnen - um es auf einen für uns näheren Begriff zu bringen - eine politische Philosophie des Mittelstands bzw. der Mitte, die der Exzesse der Ränder, seien diese demographisch als untere oder obere Schichten wie innerhalb des ideologischen Spektrums als Wille zum Umsturz oder zur Bewahrung verstanden, ordnungspolitisch Flerr zu werden versucht. Wäre der Kern des eugenischen Humanismus nicht ein solch hoffnungsvol­ ler und darin mit seinem spekulativen Humanismus motivational kongruenter Versuch, Demokratie und liberale Grundwerte zu reformieren, um sie vor den Kapriolen der Weltgeschichte wind- und wetterfester zu machen, als sie es al­ lem Anschein nach bisher gewesen sind, und Letztere umgekehrt durch die­ se Reformen katechontisch zu mindern, wie wäre darüber hinaus zu erklären, dass Schiller sich Zeit seines Lebens immer wieder selber als Inkorporation ge­ schichtspolitischer Wiedergutmachung an der philosophiegeschichtlichen Marginalisierung und Veruntreuung des Erbes des Sophisten Protagoras stilisiert?34 Also desjenigen Philosophen, der in der attischen Polis im Unterschied zu seinem Gegenspieler Platon sich als der „great philosopher of democracy“ durch Lehren und Verteidigen der Rhetorik als Disziplin einer rechtlichen Emanzipation im Sinne der Selbstverteidigung rühmen kann und dessen auch für Schillers gesam­ te Philosophie vorbildhafter Grundsatz vom Menschen als Maß aller Dinge, das

33 Schiller (1926a), S. 66f. 34 Mit diesem seinen derart explizit affirmativen Rekurs auf die Sophisten und insbe­ sondere die protagoreische Lehre hat sich Schiller zu einem engagierten Vorreiter von deren ,,uneingeschränkte[r] Geltung“ im 20. Jahrhundert gemacht. Dies das Urteil von Taureck (1995), S. 141 f. In Bezug auf die daraus folgenden Abschöpfungspotentiale der Schiller’schen Philosophie durch die heutige Rhetorik-Forschung: s. Mailloux (1995).

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Homo-M ensura-Diktum, er selber so auslegt, dass es - insofern es nicht nur den Menschen als Kollektivsubjekt im Hinblick auf den Kosmos, sondern genauso den jeweils einzelnen Menschen im Hinblick auf die anderen, auf die Menschheit meint - als „proclamation of the equal rights o f man in the intellectual sphere“ zu lesen ist?35 Der sich den beiden der „Eugenik“ gewidmeten Unterkapiteln anschließen­ de Exkurs zu Deweys politischer Philosophie (Kap. 4.2.3.), wie er sie speziell in A Common Faith (1934) entwickelt, soll einerseits einen politischen Vergleich beider am strukturell äquivalenten Ort ihrer Werke antizipieren: der Säkularisie­ rung religiös-metaphysischer Inhalte zugunsten einer realpolitisch-progressiven Verwertung im Diesseits. Andererseits soll der Exkurs zeigen, dass Dewey diese Transformation auch im Sinne von Schillers quasi-metaphysischem Egalitaris­ mus als dem uneingeschränkten Letzt-Primat des Individuums (bzw. der Indi­ viduen) konsequenter durchführt als dieser selbst: ein Letzt-Primat, welcher das Ergebnis in seinem methodischen Flumanismus als Zentrum der Wahl und den Ausgangspunkt in seinem spekulativen Humanismus als ungeschöpftes „ultimate Ego“ bildet. Denn Schiller lässt sich durch das biologistische Element seiner Eu­ genik teilweise in Widerspruch zu seinen eigenen Überzeugungen verführen: zur Aufkündigung des universellen Individual-Primats zugunsten der zwar mehr in sozial-utilitaristischer Hinsicht als ontologisch formulierten Unterscheidung in wertvolles und wertloses Leben, während das Ergebnis der politischen Philo­ sophie Deweys die konsequentere Überführung des Egalitarismus in den zwar ebensowenig bereits erreichten und damit gleichermaßen eschatologischen Hafen einer „common brotherhood o f all men“ bedeutet, dies aber im Unter­ schied zum eugenischen Humanismus bar jeden inhumanen Antlitzes. Die erst nach all dem anschließbare, in diesem Sinne ambitioniertere Frage, ob F.C.S. Schiller mit seinem zweifachen Humanismus, dem methodischen wie dem in zwei Variationen vorliegenden prophetischen Humanismus, darüberhinaus ein Platz im Pantheon großer Philosophen zusteht, muss hier offen bleiben - nicht zuletzt, weil sich diese Arbeit (im besten Fall) als eine rein philosophiew is­ senschaftliche und nicht selber philosophische versteht.36 Und auch innerhalb

35 Schiller (1939) [„Burning Questions“], S. 4 36 Die mangelnde Unterscheidung zwischen Philosophie und der Wissenschaft von der Philosophie, der Philosophiewissenschaft, ist verwunderlich, wird sie doch genauso von der Natur der Sache diktiert wie die Unterscheidung zwischen Literatur und Litera­ turwissenschaft: So käme am germanistischen Institut wohl niemand auf die Idee, in einer Arbeit über die „Buddenbrooks“ selber ein zweites „Buddenbrooks“ zu sehen, während aber am philosophischen Institut gerade durch die nominelle Absenz dieser

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dieser moderateren Bestrebung kann sie kaum mehr sein als ein erster Beitrag zu einer sich - v.a. im deutschsprachigen Raum37 - noch im Embryonalzustand befindenden, pragmatistisch gewendet möglicherweise zukünftig in Stadien der

Fundamentalunterscheidung genau dies suggeriert wird, ist hier doch zwangsläufig alles „Philosophie“. Gerade der Philosophiewissenschaft selber aber täte es gut, diese Unterscheidung anzuerkennen, überführt sie doch nicht nur zwei disparate Formen des Denkens bzw. des Berechnens und miteinander Verrechnens - in eine term ino­ logisch adäquate Prägung, sie würde darüber hinaus dem asymmetrischen Verhältnis beider zueinander Rechnung tragen. Zur Kenntlichkeit entstellt: Während Kant seine an Fußnoten arme „Kritik der reinen Vernunft“ oder Nietzsche seine aphoristische „Fröhliche Wissenschaft“ höchstwahrscheinlich an keinem Institut als Doktor- oder Habilitationsarbeit - zumindest heute - hätten einreichen können, dienen diese umge­ kehrt für Abertausende als Grundlage ihrer „wissenschaftlichen Qualifikation“. Ohne den fundamentalen Gewalt- und Befreiungsakt des Denkens gegenüber dem, was institutionalisiert, zeitgemäß gemacht worden ist, geht dem Berechnen sukzessive der Stoff aus, den er vom Exzess durch sein scholastisches, archivierendes, durchspie­ lendes Prozedere (Vergleich von X mit Y) in eine neue, zu Prüfungen gereichende Normalität überführen kann. Anders ausgedrückt: Die Philosophiewissenschaft zehrt von Voraussetzungen, die sie selber nicht bereitstellen oder auch nur sichern kann, weshalb gerade ihr die Betonung der Unterscheidung zur Philosophie besonders am Herzen liegen sollte, um so zumindest indirekt in der Gesellschaft den Raum zum Denken selbst offen zu halten, statt zu suggerieren, diesen bereits in sich dauerhaft institutionalisiert zu haben. Bei Nichtanerkennung der Differenz bliebe wohl allein die „analytische Philosophie“ ihr letzter Ausweg: Kommt in dieser doch die, akademisch gesehen, schmeichelhafte Überzeugung zum Ausdruck, dass Philosophiewissenschaft selber prima philosophia ist. In dieser Selbstreferentialisierung der Philosophiewissen­ schaft par excellence ist wohl auch die Hauptingredienz ihres universitären Erfolgs in den letzten Jahzehnten zu suchen. Genauso, wie betont werden muss, dass es sich um eine strukturelle und nicht perso­ nengebundene Unterscheidung handelt (der Philosophiewissenschaftler kann natürlich auch Philosoph und vice versa sein), sei auch konzediert, dass die Philosophie umge­ kehrt niemals restlos heimisch in einem Universitätsbetrieb werden kann, dessen End­ ziel der zertifizierte Abschluss ist. Die Philosophiewissenschaft bleibt somit institutionell gesehen immer unumgänglich, denn: „Je größer die Bedeutung einer intellektuellen Tätigkeit, desto lächerlicher die Anmaßung, die Fähigkeit dessen, der sie ausübt, zu garantieren. Ein Zahnarztdiplom ist respektabel, das des Philosophen [lies: nicht des Philosophiewissenschaftlers] grotesk.“ Dâvila (2007), S. 107 - Herv. d. G.K.T. 37 Neben der überall anzutreffenden Simpiifizierung, Schiller lediglich in einer „Kopula“ mit James, d.h. ihn von James her zu bewerten, kann man als das deutsche Spezifikum der Schiller-Lektüre durch die hier ansässige Nietzsche-Rezeptionsindustrie ausma­ chen, in ihm lediglich einen instrumentalistisch verflachten Nietzsche-Epigonen zu sehen. S. bspw. Hingst (1998) und Hahn (2005).

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gestandenen Reife übergehenden Schiller- und einer sich ihm gegenüber öffnen­ den Pragmatismus-Forschung. In einem kurzen Ausläufer (5. Kap.) unternehme ich zwar annäherungsweise den Versuch der Aufnahme eines zentralen Motivs des prophetischen, besonders des spekulativen Humanismus - der pädagogischen Differenz: die Zweiteilung des Menschen in Realität und Idealität zwecks mora­ lischer Erweckung des einen durch das andere3* - im Hinblick auf den Kontext, dem diese Arbeit als genius loci ihren Ursprung verdankt und den sie gleich­ zeitig als Hauptadressaten benennt: das „Philosophicum“ innerhalb des akade­ mischen Feldes. Doch im Ganzen begnügt sich die Arbeit mit der vorgängigen Aufgabe der Kärrnerarbeit der Grundlagenforschung, das Terrain Schillers so­ wie die Interessenkonstellationen „befreundeter“ wie „befeindeter“ philosophi­ scher Nachbarn im Großen wie im Groben und damit keineswegs erschöpfend einzuschätzen und abzustecken.311 Ein Terrain, das eine letzte Annahme oder389

38 Dass zum Abschluss der Arbeit ein pädagogischer Ausläufer gewählt wurde, liegt nicht nur, wie hier angeführt, an dem Milieu, in dem die Arbeit entstanden ist, sondern auch in Schiller selber begründet, der nicht nur ein leidenschaftlicher Lehrer gewesen ist, sondern sich, wie im Verlauf der Arbeit deutlich werden wird, um die Philosophie in ihrem akademischen Gewand sowie um die Rolle der Universität in gesamtgesell­ schaftlicher Hinsicht immer wieder Gedanken gemacht hat. S. dazu v.a. Kapitel 3.7. So ist es auch bezeichnend, dass als akademisches Überbleibsel Schillers der von sei­ ner Ehefrau Louise S. Schiller 1933 an der Universität Berkeley gestiftete „Ferdinand Canning Scott Schiller Essay Prize in Philosophy“ bis heute weiterhin regelmäßig aus­ gerufen wird, und zwar für Studentinnen säm tlicher Fachrichtungen. Der Förderpreis ist auch Ausdruck seines Werbens für die demokratische Öffnung der Universitäten bei gleichzeitigem Eintreten für eine Steigerung des innerakdemischen Wettbewerbs („Education could be made much more competitive. You could develop a system o f scholarships and prizes [ ...] “, Schiller (1934) [„Some problems of Mass Education“], S. 35) sowohl gegen die ererbten starren, hohepriesterlichen und meritokratischen Strukturen der Universität als auch gegen die latente Gefahr einer Herrschaft der M it­ telmäßigkeit an den Universitäten durch die antizipierte demokratische Öffnung, die dem Ausscherenden nur noch mit Verachtung zu begegnen vermag. 39 So sind einige der im Laufe der Arbeit - während deren Entstehung immer deutlicher wurde, dass es sich bei der Erforschung des relativ unerforschten Schiller auch des­ wegen um ein Rumstochern in einem Wespennest handelte, weil über diesen hinaus, aber doch gleichwohl mit ihm verbunden, immer mehr Unerforschtes oder in Ver­ gessenheit Geratenes zutage trat - bestenfalls nur angeschnittene ideengeschichtliche Komplexe, die damit als offene Forschungsdesiderate Zurückbleiben: Die Rolle, die die Leibniz’sche Monadologie für das personalistische Konzept des „ultimate spirit“ im spekulativen H um anism us spielt - ein ungeklärter Einfluss, der auch für den Prag­ matismus im Allgemeinen gilt, blickt man auf die Rezeption von Ch. Renouviers „La

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Ablehnung Schillers argumentativ, dann jedoch schon im Wissen um die Größe des Gebiets souveräner abzuwandern hätte, will sie denn in Angriff genommen werden. Nichtsdestotrotz sollte schon dieser Überflug über die Arbeit und die ver­ schachtelte Philosophie Schillers deutlich gemacht haben, dass es sich lohnt, die Frage nach dessen Wert und Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhun­ derts und darüber hinaus zu stellen, zeigt doch die bereits angeklungene Art der Selbstsituierung Schillers in den unterschiedlichsten Konfliktgebieten den Geist eines Unorthodoxen innerhalb eines Regimes von vorgefertigten Polen, welches suggeriert, es könne immer nur zwischen diesen gewählt werden. Im Namen der ganzheitlichen Humanitas, die jeden absoluten Widerspruch derart aufheben muss, insofern sie es ist, in der dieser stattfindet und die ihn damit auch in ihr relationiert und bündelt, konstituiert sich Schillers Philosophie sowohl in ihrem methodischen wie in ihrem prophetischen Teil als genau eine solche Alternative zu Alternativen - eine Philosophie, die sich damit wider der oben zitierten rezeptionsgeschichtlichen Fixierung nicht als extremistisch begreift,

Nouvelle Monadologie“ (1899) durch Peirce, Dewey und auch wiederum Schiller; die frühe gegenseitige Wahrnehmung und mögliche Beeinflussung von Peirce und dem spekulativen Schiller der Riddles, spricht doch Ersterer von der „aid“, die er durch Letzteren erhalten hat: zit. n. Scott (1973), S. 364; die nicht nur räumlich naheliegende Beziehung der beiden in Oxford Lehrenden Schiller und Alfred Sidgwick, wobei das Dass der gegenseitigen Befruchtung, v.a. im Hinblick auf die gleichgeartete Kritik der formalen Logik teststeht; die Stellung, die der hierzulande zwischenzeitlich höchstens noch in der Soziologie bekannte H. Spencer einnimmt, der wohl, dies als streitbare These, für das Bild, das sich die pragmatistische Theoriebildung von der „Evolution“ macht, und für den axiomatischen Wert, den sie ihr bemisst, eine weitaus gewichtigere Rolle spielt als Darwin selber. Zumindest biographisch gibt dies Schiller auch selber zu, wenn er das Erwachen aus dem idealistischen Schlummer seiner Umgebung in Oxford als begleitet durch Spencer darstellt; s. Schiller (1934) [„Herbert Spencer as a Moralist“]; sowie zuletzt, wohl gleichzeitig aber auch als die gewichtigste Lücke: der Einfluss, den F.H. Bradley auf Schiller ausübte - positiv, vor allem aber negativ i.S. der absolutistischen Abgrenzungsfolie und der Frage, inwieweit es sich hierbei potentiell um ein fruchtbares Streitgespräch handelte oder um ein aneinander Vorbeireden eines angriffslustigen sophistischen Geistes und eines der realen Welt enthobenen rationalen Mystikers, wie es das Bild nahelegt, das der Bradley zugeneigte B. Blanshard gezeichnet hat: „Schiller infuriated hint with the quiverful of arrows he discharged from Corpus across the lane; the old lion would wait in contemptuous silence so long as he could, and then burst out wdth a roar, intimating that nothing proceeding from Dr. Schiller was wTorth further notice.” zit. n. Moser (1989), S. 28

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sondern gerade als m oderat in einem „Zeitalter der Extreme“ (E. Hobsbawm),u: jenseits von Naturalismus und Spekulation, von Rationalismus und Idealismus, von anarchischem Individualismus und bevormundendem Kollektivismus, von irdisch-immanentem Atheismus und einem auf absolute Transzendenz bedach­ ten Theismus, von experimenteller Wissenschaft und bloß spekulativem Glau­ ben, von Determinismus und Indeterminismus, von passivem Fatalismus und revolutionärem Utopismus - sowie vor allem von Pessimismus und blindem Optimismus. Ein solcher Störenfried innerhalb der kommoden Navigationsdaten der „Nor­ malität“, wodurch er als genau ein solcher Insurgent der geographischen Absei­ tigkeit zum Trotz mitten im Zentrum der pragmatistischen Bewegung steht,40

40 Schiller selbst ist sich des paradoxen Affrontpotentials einer solch philosophischen Suche nach der synthetisierenden Mitte der Moderation, die er im allinklusiv konzeptualisierten „Menschen“ ausmacht, bewusst: „The truth is rather that Humanism gives offence, not because it leaves out, but because it leaves in. [...] The dislike of Humanism, therefore, is psychological in origin. It arises from the nature of certain human minds who have become too enamoured of the artificial simplifications, or too accustumed to the self-inflicted mutilations, and the self-imposed torments, whereby they hope to merit absorption in absolute truth.“ Schiller (1907a), S. 13f. Oder anders: Gerade weil er versucht, einen den konträren Positionen gegenüber gemeinsamen Boden zu stiften, muss wiederum jede Position allein für sich genommen in ihrem Le­ gitimationsanspruch, bereits für das Ganze zu stehen, gestutzt werden. Doch ob dieser Tatbestand der inhaltlichen Polemik der Universalität gegenüber dem universalisierten Partikularen eine Erklärung für das Verschwinden Schillers aus den Augen der philoso­ phischen Öffentlichkeit oder auch für das völlige Ausbleiben von Schülerschaft (bis auf R. Abel (1976)) bietet, ist fraglich. Vielmehr ist dies wohl eher (neben der Eugenik) in dem von W. James als „gaudium certaminis“ diagnostizierten Verhalten gegenüber der restlichen Philosophenschaft und, umgekehrt, in deren Hypochondrie zu suchen. So besteht durchaus eine zum Teil weit über Gebühr strapazierte, letztlich verfremdende Spannung zwischen dem inklusiven Theoriebildungsvorhaben und der bereits in den zitierten Zeilen deutlich werdenden exklusiven Angriffsrhetorik bei Schiller. An dieser Rhetorik liegt es wohl auch, dass Schiller im besten Fall als philosophischer Extremist, als radikaler Voluntarist, Individualist etc. auf die Bühne geholt wird und damit als das genaue Gegenteil dessen, was er der Sache nach zu sein bestrebte: ein vermittelnder Moderater. So moniert er in seinem Werk immer wieder: „There is practically no room for the moderate in politics, for the indifferent, or for the sage, who stands above parties and has the coolness and courage to point out to both sides how wrong, and yet how indispensable, they both are, if ordered progress is to be achieved.“ Schiller (1924a), S. 44

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bereichert diese qualitativ in ihrer pluralen Manifestation quasi p er definitionem bedeutet der ihr wesenhafte Zug der Überwindung des Wiederkäuens von toter Bipolarität41 doch nichts anderes, als einen neuen, kreativen, eigenständigen Weg durch ein „Denken ohne Geländer“ (H. Arendt) zu ebnen, welches als solches in Beschaffenheit und Zielführung erst dann begreifbar wird, wenn man es in seiner Entfaltung individuell begleitet, da sich der Überraschungseffekt des Neuen und Unbekannten doch nur aus einer solchen Nähe heraus einstellen kann. Gerade aufgrund dieser pragmatistischen Prämisse, einen „Dritten Weg“ anzubieten, kann auch Schiller, diese teilend, nicht als einer von unzähligen Abzügen altbekannter Negative von vornherein als ebenso altbekannt beiseitegelegt werden. Wie nicht nur der Schiller eigene Kampfgeist Zeit seines Lebens in p rax i mit Aufrichtigkeit gezeigt hat, sondern auch ganz im Sinne des m ethodischen Hu­ manismus selber, bleiben Zustimmung und Ablehnung, Gefolgschaft, Kreuzung oder Abgang gegenüber dem nach einem solch rekonstruktiven Durchgang ge­ wonnenen Endergebnis des Schiller’schen Denkens immer möglich, sie sollten nur Resultat einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Phä­ nomen sein, um nicht ein weiteres Exempel für den Satz von Jean Paul zu liefern: „Die Menschen widerlegen einander ewig nur Irrtümer, die der Gegner nicht behauptet.“42

41 S. zur Ausarbeitung dieses Zugangs zur pragmatistischen Bewegung v.a. aus der Phi­ losophie Deweys heraus: Krüger (2009), 3. Teil 42 Jean Paul (1803), S. 67

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2. Der philosophisch ausgewiesene Weg zum Abgrund „Jetzt seien sein Gehirn und sein Kopf voreingenommen, befangen, während sie früher nicht voreingenommen, die Unbefangensten gewesen wären, jetzt seien sein Kopf und sein Gehirn in allen Beziehungen, in allen Erscheinungsmöglichkeiten wie Erscheinungsmöglichkeiten befangen und ein solch befangenes Gehirn müsse sich zweifellos aus einem solch befangenen Kopf wie das seinige aus dem seinigen zurückziehen, ein solch befangenes Gehirn und ein solch befangener Kopf aus der Welt zurückziehen, während es doch Tatsache sei, daß Kopf und Gehirn, umgekehrt Gehirn und Kopf sich nur aus der Welt in die Welt zurückziehen könnten und so fort. Man könne sich also und man könne also alles aus allem immer wieder in alles zurückziehen, man könne also gar nicht zurückziehen und so fort. Das verursache den Dauerzustand tödlicher Verzweiflung.“ Thomas Bernhard - Das Kalkwerk4’

2.1 Agnostizismus In seinem epochemachenden Vortrag „Über die Grenzen des Naturerkennens“ (1872) unternimmt der deutsche Physiologe Du Bois-Reymond (1818-1896) den Versuch einer Kritik der Grenzen wissenschaftlich-mechanischen Forschens und Fragens überhaupt. Auch wenn es gerade die These der kategorischen Begren­ zung des wissenschaftlich Erklärbaren ist, die in der Folge den sog. IgnorabimusStreit4344 entfacht hat, ist das eigentliche Anliegen des an der geistigen Avantgarde seiner Zunft festhaltenden Naturwissenschaftlers wie schon im Original, dem kantischen Projekt der transzendentalen Untersuchung der Erkenntnisleistun­ gen, nicht eine Kritik im negativen Sinne, sondern eine kritische Begrenzung der Anwendungsmöglichkeit im Dienst der positiven Selbstvergewisserung des eigenen Machtbereichs der Naturwissenschaft als der „Weltbesiegerin unserer Tage“45. Aufhänger seiner Argumentation ist hierbei die totalpositivistische Grund­ annahme des Laplaceschen Geists, der im Wissen um sämtliche Teilchen des

43 Bernhard (1970), S. 148f. 44 Siehe zu diesem: Bayertz et. al. (2012) 45 Du Bois-Reymond (1872), S. 441 - Er vergleicht sein Vorhaben so auch eher mit der Schau eines ,,Welteroberer[s] der alten Zeit an einem Rasttag inmitten seiner Siegeszü­ ge“ über sein erobertes Reich, um die „wirkliche Schranke seiner Macht zu erkennen“. Ebd.

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Universums samt den sie koordinierenden Naturgesetzen und Energiezuständen die Zeitachse in Richtung Vergangenheit wie Zukunft lückenlos abzulaufen ver­ mag. Dieses nun freilich hypothetische Konstrukt eines absoluten Wissens, von unserer Realität „weit entfernt“4*’, wirft dennoch eine Heuristik zur Ordnung des gegenwärtigen Unwissens ab: Ist ein solcher Geist von den Grunderkenntnis­ leistungen ein uns gleichrangiger, so kommt in diesem Gedankenexperiment die Überzeugung zum Ausdruck, dass unsere heutige Unkenntnis eine bloß re­ lative ist, die durch voranschreitendes Forschen, durch Ausdifferenzierung der Methoden und Versuchsanordnungen, Erheben von mehr empirischen Befun­ den etc. prinzipiell behoben werden kann, sodass gilt, dass das „Naturerken­ nen des Laplaceschen Geistes [...] die höchste denkbare Stufe unseres eigenen Naturerkennens“4647 darstellt. Wir sind noch nicht soweit, wahrscheinlich kom­ men wir auch niemals in diese Lage, weil vorher die Sonne die Erde verschlu­ cken wird, und dennoch könnten wir es prinzipiell sein - kurzum, die Trennung zwischen uns und diesem Wissensmonstrum ist kontingent. Du Bois-Reymonds These lautet nun, dass, selbst wenn dies der Fall sei, dieser selbst, der als Über­ naturwissenschaftler Konstruierte, doppelt begrenzt bliebe und damit in ihm neben Hoffnung auch die Zementierung absoluter Begrenzung des WissenKönnens - Ignorabimus - zum Vorschein komme: einerseits die Unerklärbarkeit der Materie, andererseits die Unerklärbarkeit des Bewusstseins. Werde die „nützliche Fiktion“ des physikalischen Atoms, Inbegriff der Materie, als bloßes relatives Haltmachen der Zerteilung in weitere Teilchen aufgrund der methodologisch-hinreichenden Erklärungskraft durch dieses für ein bestimm­ tes größeres, aus diesen zusammengesetztes Phänomen von ihrer konkreten Untersuchungssituation gelöst und zum „philosophischen Atom“ hypostasiert, entstehe „ein Unding“.48 Solle dann dieses absolute Atom auch noch als passiver Letztträger der die Welt ordnenden und zusammenhaltenden „Zentralkräfte“ verstanden werden, sei unklar, wie es dies für diese Welt jenseits des Raums tun solle. Sei es dagegen Teil des Raums, sei es selber nicht mehr Letztträger, sondern ein aktives Element neben anderen. Weiterhin könne in dem Fall nicht einsichtig gemacht werden, warum es an sich - statt relativ in Bezug auf einen bestimmten Erklärungszusammenhang als eine für diese hinreichende Erklärung - als raum­ einnehmendes Element nicht weiter geteilt werden könne.

46 Ebd., S. 444 47 Ebd., S. 446 48 Ebd., S. 448

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Die Unbegreiflichkeit des Bewusstseins für den nach mechanischen Kausali­ tätsmustern denkenden Geist hegt für Du Bois-Reymond darin, dass diese nichts über die Bedeutung der materiellen Zustände aussagen kann. Nicht erst in Bezug auf die Willensfreiheit, sondern bereits bei den primitivsten Sinneseindrücken will er diese Unauflöslichkeit der Erklärungsunmöglichkeit festmachen: Die Tatsache, dass eine neurologische Atomkonstellation Schmerz und die andere Freude bedeute, könne nicht allein aus der Ebene der Atome erkannt werden, in­ sofern diese qualitativen Unterschiede nicht Teil der quantitativ-nummerischen Methode der mechanischen Beschreibung seien: Die „mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgän­ gen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes.“49 Das Fazit Du Bois-Reymonds lautet damit, dass diese „beiden Grenzen un­ seres Naturerkennens“ nicht nur vorübergehende darstellen, sondern „in der Natur der Dinge“ liegen, „daß wir auch in diesem Punkte nicht zu Klarheit kom­ men, und alles weitere Reden darüber müßig bleibt“, und statt sich dort in der Suche nach Antworten zu verlieren, wo sie zwangsläufig ausbleiben müssen, sich in „männlicher Entsagung“ einzuüben.50 So oder auch in anderen Variationen51 präsentiert sich für F.C.S. Schiller die seinerzeit populäre intellektuelle Haltung des seine eigene Selbstbegrenzung erkennenden und sich darin gleichzeitig auf ein neues Level der geistigen Reife

49 Ebd., S. 458 50 Alle Zitate des vorigen Abschnitts: Ebd., S. 464 51 Aus demselben kantischen Dispositiv der Selbstkritik des Wissens speisend wie auch Du Bois-Reymond ist für das viktorianische England Schillers vor allem Herbert Spencer. Dass ich für den Einstieg Du Bois-Reymond gewählt habe, liegt nicht nur an der Zugespitztheit seiner These, sondern auch daran, dass ich auf die Komplementarität des von mir als spekulativen innerhalb seines prophetischen H umanismus (Kap. 4) bezeichneten Projekts von Schiller der Überwindung letzter Wissensbegrenzungen mit der sieben Jahre nach dem für ihn zentralen Text der „Riddles o f the Sphinx“ (1891) erschienenen, ähnlich titulierten, extrem populären Schrift „Die Welträtsel“ (1899) von Ernst Haeckel hinweisen wollte, die dieser im kritischen Aufgreifen Du Bois-Reymonds geschrieben hat. Beides Gegenprogramme zum Agnostizismus, die hierzu auf das darwinistische Mittel der Verzeitlichung zurückgreifen, wenn dies freilich seitens Haeckel weniger der Therapie des Lebens als einer Purifizierung des Gedankens der Evolution gegen künstlich diesen begrenzende Restbestände von ansonsten vermeintlich obsolet ge­ wordenen Weltanschauungen, vornehmlich der Theologie, dient.

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hebenden Agnostikers, darin angezogen durch ein „feeling“52 zur philosophi­ schen Position „most prevalent among philosophers and cultivated men gener­ ally.“ (53)53 Die den Agnostizismus für Schiller von konkreten Personen bereinigende, inhaltlich definierende Annahme ist die einer „inherent insolubleness of certain questions, or inherent limitations or defects of human mind, which, precluding men from the knowledge of certain departments of existence, leave something unknowable beyond the barriers of possible knowledge.” (16)

Dass sich eine solche Position dauerhaft nur durchhalten lässt, indem sie nicht weiter hinterfragt wird, sich der Agnostiker zum Agnostizismus selber agnostisch verhalten muss, versucht Schiller anhand einer „grave theoretic objection“ zu zeigen: „For unless the assumption of the unknowable is purely gratuitous, and so refutes itself, there must be something in the constitution of the known to lead us to infer an un­ knowable. But such an inference from the known to the unknowable is a contradiction (20 - Herv. d. G.K.T.)

Das Argument lautet damit, dass das Unwissbare, um als solches gewusst werden zu können, aufhören muss, gänzlich unwissbar zu sein. Und so ist auch die als unwissbar deklarierte „Materie“ an sich im Fall Du Bois-Reymonds eine Substanz, die die „physikalischen Atome“ als „nützliche Fiktionen“ ihrer selbst zumindest zulässt, ermöglicht, wenn nicht gar verursacht und damit eben in ihrer Wirkung als ein Aspekt von ihr in Teilen erkannt wird. Kurzum: „That inference must to some extent reveal the nature of the unknowable; it must present us with some hints of its attributes or qualities“ (21), oder noch grundsätzlicher: “If, therefore, the assertion alone of the unknowable implies that it is not wholly unknown, what business have we to call it the unknowable?” (ebd.)

52 Schiller (1891), S. 54. In diesem Kapitel (2.1 bis 2.3) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben. 53 Bei keinem der drei Stadien (Agnostizismus, Skeptizismus, Pessimismus) handelt es sich um westliche oder gar moderne Erfindungen, wie allein schon der Pyrrhonism us oder die gerade Schopenhauer, den europäischen Pessimisten p a r excellence, inspi­ rierende indische Tradition des Hinduismus zeigt. Eine Tatsache, der sich Schiller durchaus bewusst ist (s. bspw. Schiller (1934) [„James Thomson: A Poet of Pessimism“], S. 154), die er jedoch methodisch ausklammert, geht es ihm doch nicht um eine Kul­ turarchäologie, sondern um die kulturmedizinische Diagnose der zeitgenössischen Manifestation samt ihrer ebenso zeitgenössischen Möglichkeit einer Überwindung.

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Doch ist dieses Argument Schillers noch nicht überzeugend, insofern der Ag­ nostiker als solcher dies wohl zugestehen könnte: Das Unwissbare bezeichnete so nicht das absolut-transzendente Unwissbare, was tatsächlich nicht einmal als solches in der Immanenz der Erfahrungswelt als Unerklärliches gewusst werden könnte, sondern drückt als Grenzbegriff die Endlichkeit der Immanenz aus, es wäre eine ins Jenseits des Empirischen - d.h. absolut und überhaupt geltende verlagerte Diagnose über das Empirische selbst als irreduzibles Werden, NichtAbschließen. An dieser Stelle jedoch lässt sich ein weiteres Argument Schillers anführen, dass, nachdem die evolutionäre Perspektive Plausibilitätsdominanz errungen hat, aus dieser radikalen Verendlichung der Gegenwart sich umge­ kehrt auch immer eine unabsehbare Möglichkeit als zukünftige Abänderung der Erkenntnisverhältnisse ergeben könnte. Während sie die Gegenwart als tatsäch­ lich nur eine zeitlich und auf ihre Hic-et-nunc-Möglichkeiten hin begrenzte er­ schließen lässt, eröffnet der absolut gewordene Zeithorizont des Evolutionismus als ontologisierte Innovationspotenz aufs Ganze gesehen einen Raum völliger Veränderungen und Neukonstellationen jenseits heutiger Standards, sodass gilt: „For a fin ite unknown can never grow into an infinite unknowable“ (23 - Herv. d. G.K.T.), oder bei Du Bois-Reymond, dass vom endlichen Tatbestand „Igno­ ramus“ zum unendlichen Verdikt des „Ignorabimus“ unmöglich geschlossen werden kann.54 Wenn nicht vom momentan Gewussten bzw. Ungewussten auf das ewig Un­ wissbare zu schließen ist, vom sich bisher wandelbar zeigenden Reich des Phä­ nomenalen auf ein hinter ihm liegendes, ewig verborgen bleibendes Reich des Noumenalen, so muss der Agnostiker, will er der ja tatsächlichen Möglichkeit zur Irreführung, Täuschung und Unerklärlichkeit durch die zeitliche Endlichkeit der Erfahrung weiterhin den zentralen Platz als dasjenige Erfahrungsmoment „that makes Agnosticism plausible“ (54) einräumen, diesen Agnostizismus „pass into something profounder and more consistent.“ (55) Dies bereitet den Auftritt des Skeptizismus vor.

54 „An evolutionist must surely be the last to believe that any problems need remain insoluble because they have not hitherto been solved, the last to restrict by a dogmatic prohibition, even in thought, the boundless possibilities of future development.“ Schiller (1891), S. 29 - Eine Lesart, die den zuvor unterstellten Charme der Selbstbegrenzung durch den Agnostiker als „arrogance“ [ebd., S. 53] entlarvt, indem sie aufzeigt, dass dieser sich faktisch dazu ermächtigt, ein Endlichkeits-Urteil über alle Zeiten hinweg zu fällen. Eine Arroganz, die sich ja auch im Bild des „Welteroberers“ zeigt, (s. Fußnote 45)

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2.2 Skeptizismus In Schillers Definition siedelt der Skeptiker nicht mehr ohne gültiges Logik-Visum vom Ungewussten zum Unwissbaren über, er stellt vielmehr das Gewusste und die Methoden der Argumentation zu seiner Eruierung selbst infrage. Statt, um im Bild Du Bois-Reymonds vom Eroberer zu bleiben, die Grenzen des Reichs nach außen zu markieren, wird im Skeptizismus ein Bürgerkrieg gegen die als untertänig ge­ glaubte „whole knowledge“ und innerhalb dieser entfacht. „The mistake of Agnosticism was not in thinking that some things were unknowable, but in implying that there is anything not unknowable, not in clinging to demonstrable absurdities, but in supposing that anything but absurdities were demonstrable.“ (55 Herv. i.O.)

Dies gelingt dem von Schiller archetypisch modellierten Skeptiker am besten dadurch, dass er die Notwendigkeit des Scheiterns im Seinsmodus des Bewusst­ seins des Menschen selbst verortet und darin aufzeigt, dass es nicht erst die Spe­ kulation ist, die ins Leere läuft. Denn im Unterschied zum Agnostizismus, der sich primär aus der „pseudometaphysischen“55 Perspektive der Wissenschaft und ihrer empirisch gemäßigten Methode für eine (scheinbare) metaphysische Ent­ haltsamkeit in Bezug auf die letzten Fragen ausspricht und es in der szientistischen Delegitimierung der Spekulation auf den Bankrott der Philosophie als Bedenken des Gesamtzusammenhangs abgesehen hat, disloziert der Skeptizis­ mus seine Kritik gegenüber einem Punkt der Wissensordnung (wie dem meta­ physischen Fragen der Philosophie) und radikalisiert sie zum Anzweifeln von Erkenntnis überhaupt - und damit auch gegen die Wissenschaft, denn „all science is an interpretation of phenomena by means of thought, in which we substitute thought-symbols for the real things of which we are treating, and suppose that the manipulations of our symbols will hold good of the realities we perceived, and will thus enable us to manage and calculate their course.“ (59)

Dass dies, dass seine Konzeptualisierungen das Innerste der Dinge fassen, jedoch nur Lug und Trug menschlichen Größenwahns ist, dies ist der Kern der skep­ tischen Haltung. Statt eine Harmonie oder mindestens eine inerte Beziehung von menschlicher Sprache und Symbolisierung als Medium seiner kognitiven Leistungen einerseits und den Strukturen außermenschlicher Realität anderer­ seits anzunehmen, geht der Skeptizismus genau vorn anti-realistischen Gegenteil

55 Zur dreigliedrigen Einteilung möglicher Metaphysik bei Schiller, die neben der Pseudoauch noch die abstrakte und die von ihm selbst vertetene konkrete M etaphysik kennt: s. Kap. 4.1.1.

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aus, der Inkommensurabilität beider als „utterly discordant aspects of existence“ (ebd.)· Dies heißt natürlich nicht, dass das Chaos sichtbar waltet, sondern dass die von der Wissenschaft und anderen Perzeptionsmodi aufgedeckte Ordnung der Natur in Wirklichkeit nur eine von Menschenhand aufgetragene ist. Wie Du Bois-Reymond weiter oben bereits im Falle des „physikalischen Atoms“ von einer „nützlichen Fiktion“ sprach, gleichzeitig aber weiterhin an dem Vorhaben der Natur-Erkenntnis festhielt, legt der Skeptiker den Finger in die Wunde die­ ses Paradoxons: In den Fiktionen wird gerade nicht die Natur, sondern allein ihre menschliche Fälschung entdeckt. Wieder grundsätzlicher ausgedrückt: Der Skeptiker „finds that all our knowledge is vitiated by this fu n dam en tal fla w o f its anthropom orphic origin“. (60 - Herv. d. G.K.T.) Von Schiller hier zeitlich unmöglich direkt angesprochen, ließe sich als das Beispiel einer solchen Auffassung, nach der Wahrheit und Erkenntnis nichts anderes sind als die verfälschte Auffassung des andauernden menschlichen Verfälschern von Welt, Nietzsches frühe Schrift „lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (1872, jedoch erst posthum erschienen) anführen, in welcher der menschliche Intellekt, einst Botschafter von Gottes Gnaden, nun nach den säkularisierenden Immanenzschüben („Tode Gottes“), durch die die qua Transzendenzbezug verbürgte Immunität der Hoheitsrechte des Menschen im Kosmos aufgehoben wurde, bei gleichzeitig ausdifferenzierender räumlicher und zeitlicher Expansion innerhalb der weltlichen Immanenz bzgl. des Mensch­ lichen (Historie, Ethnologie), des Irdischen (Geologie) sowie des Kosmischen (Astronomie) in seiner Kontingenz sichtbar wird: „wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt“56. Auch im Hinblick auf seinen Wahrheitstrieb, welcher al­ lein vom biologischen Erhalt bestimmt werde, habe der Intellekt „keine weite­ re Mission, die über das Menschenleben hinausführe“57, mehr noch: er rede nur dem geschmacklich und organisch Zuträglichen nach dem Mund. Objektivität als Fall von Hoch-stapelei und dies weit vor jedem Abflug eines welttheoretischen Geländes bereits beim Bilden der einfachsten sprachlichen Kategorien, ganz im Sinne von Schillers Idee des Übergangs vom Agnostizismus zum das menschliche Denken als solches kritisierenden Skeptizismus: „Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges! Die verschiedenen Sprachen neben 56 Nietzsche (1872), S. 875 - Dass es neben diesem Schiller entgegengesetzten Bezug auf Nietzsche auch einen positiven Bezug auf dessen macht- und lebenslogisches Spätwerk gibt, wird später gezeigt. 57 Ebd., S. 875

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einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen.“58 Sodass das berühmte skeptizistische Fazit nur lauten kann: Die „Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“.59601

2.3 Pessimismus Führt man gegen einen solchen die Wahrheit mit Lüge übersetzenden Skeptizis­ mus ins Felde, dass „the assumptions of our knowledge w ork“ (135 - Herv. i.O.), diese zumindest in vielerlei Hinsicht so erfolgreich sind, dass beispielweise ma­ thematische Kalküle „somehow manage to predict the time of an eclipse within the tenth part of a second“ (91), dann führt die Widerrede hierauf in Schillers Deduktion zum äußersten Schritt: dem des Pessimismus. Hier wird nicht nur die Objektivität der Erkenntnis nivelliert, sondern es werden auch die dennoch möglicherweise praktisch funktionierenden wie verbessernden theoretischen „Lügengebilde“ aufgrund einer „malicious mockery of primordial perversity of things“ (92)“ als das menschlich Gewollte und Ersehnte verfehlend in Zweifel gezogen, das Gute wird als das Schlechte entlarvt, um somit die menschlichen Urteilskategorien gänzlich den Flammen der alles zersetzenden Irrationalität preiszugeben. „The Pessimist admits that knowledge appears to work; but it appears to work only in order to lead us the more surely astray, to complicate the miseries of life by one more illusory aim; it works only to work us woe.” (93 - Herv. i.O.)

Diese Explikation des Pessimismus durch Schiller als das, was Freud Jahrzehn­ te später in seiner dem (verbindenden) Liebestrieb entgegengesetzten Figur des (zersetzenden) Todesstriebs verankert, welcher sich diskursiv in einer me­ phistophelischen „Stimme der pessimistischen Kritik“51 ausdrückt und das „Unbehagen in der Kultur“ schürt, ist nicht nur Leugnung des Erfolgs philoso­ phischer Spekulation (Agnostizismus), des Wissens (Skeptizismus), sondern ei­ nes gelingenden Lebens überhaupt, welches für Schiller an den vier Idealen von Glück („happiness“), dem Guten („goodness“), dem Schönen („beauty“) und dem Wissen („knowledge“) hängt. Es ist diese „Ausweitung der Kampfzone“

58 Ebd., S. 879 59 Ebd., S. 881 60 Siehe zu dieser pessimistischen Strategie der Anerkennung des Erfolgs bei gleichzeitig höherstufiger Entlarvung desselben als Illusion kanonischer dargestellt: Pauen (1997), S. 112-117 61 Freud (1930), S. 54

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durch die Pluralisierung von Quellen möglicher pessimistischer Konversio­ nen durch die Frustration durch ein nicht erfülltes Streben nicht nur nach dem Glück - auch wenn dieses bei ihm als „supreme end“ (98) ausgegeben wird - , sondern ebenso nach dem Guten, Schönen und Wissen, die Schillers Eigenstän­ digkeit in der Behandlung des Topos deutlich macht. Dies vor allem gemessen am wirkmächtigsten Konzeptualisierer und Vertreter des Pessimismus seiner Zeit: dem Schopenhauer-Adepten Eduard v. Elartmann, der das Problem primär von einem „hedonistic calculus“ her entfaltet. So wird dort der Pessimismus zu einem roten Fazit unterm Strich der Lebensführung, insofern diese in einem Überwiegen von Momenten des Leids und der Schmerzen gegenüber Momen­ ten des Glücks und der Lust besteht.6263Doch dieser exklusive Zugriff auf das Phänomen vermittels einer solchen „hedonist basis“ ist für Schiller nicht nur theoretisch unbegründet, er verengt es damit unnötigerweise und nimmt ihm viel von der Belastbarkeit seines theoretisch ganzheitlichen Fundaments. Mehr noch erscheint Schiller der hedonistische Zugriff allein aus seinem Potential po­ pulistischer Überzeugungskraft gewählt worden zu sein: „because Happiness is the one ideal which is universally comprehended, which allures by its elusive glitter even the coarsest and most commonplace o f men.“61 Doch kann diese am ehesten sich allgemeiner Plausibilität gewiss seiende Herleitung des Pessi­ mismus philosophisch gesehen, d.h. dem reinen Durchdenken seiner Komplexi­ tät verpflichtet, kaum die einzig möglich aufdeckbare sein. So lässt das hier nur schwer von der Hand zu weisende methodologische Gegenargument, die Idee der Berechenbarkeit von Lust- und Leidensquanten als undurchführbar zu be­ streiten, die Möglichkeit des Pessimismus durch seine dadurch keineswegs zum Versiegen gebrachten anderen Quellen unberührt: „The condemnation o f life, which Pessimism essays to pronounce, does not necessarily rest on a single basis [...]. It is quite possible to condemn life on various grounds without holding it to be predominantly painful.“64 Für Schiller kann der Pessimismus vielmehr die „emotional reaction“ auf schlichtweg jedes gegenüber der Faktizität der Welt in Stellung gebrachte ethische, ästhetische, eudaimonistische oder gnoseologische Ideal sein, wenn dieses Ideal die Realität zu sich als einer Gegenwelt in eine der­ artig unverbesserliche Ferne rückt, dass das Prinzip Hoffnung, das allein in einem Klima der gegenseitigen Bereicherung und Produktivmachung des Idealen und Realen dauerhaft gedeihen kann, zum Prinzip Hoffnungslosigkeit verkümmern

62 s. dazu v.a. Hartmann (1869), S. 540ff. 63 Schiller (1903) [„The Place of Pessimism in Philosophy“], S. 158 64 Ebd., S. 158

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muss: Das Reale erscheint dann gegenüber dem Idealen als hilflos verloren und minderwertig. Gilt dagegen im Falle des hoffnungsvollen „stimulus to progress“, dass die Trennung zwischen Ideal und Realität eine produktive ist, weil „the deficiencies seem comparatively small and the ideals appear attainable“, so ist der Pessimismus, zumindest seiner Struktur nach, eine unendliche Radikalisierung der Logik des Fortschritts, die nur noch in untröstbarer Enttäuschung zu enden vermag: „if, however, we allow our ideals to outgrow our means of reaching them, the chasm between them and the actual will become too deep to be bridged by hope; we shall despair of attaining our hearts desire and bitterly condemn the inadequacy of the actual.“6566

Wohl in dieser verwandtschaftlichen Nähe zum Fortschritt qua Partizipation an derselben strukturellen Divergenz von Wunsch und Wirklichkeit ist auch ein Grund zu suchen, warum gerade in Zeiten, die in zahlreichen sozialpolitischen Bereichen mit progressiven Reformen einhergehen, umgekehrt der Pessimismus sein Unwesen treiben kann: „Pessimism will ever hover like a cloud over the path of progress, ready to oppress with gloom alike the cowardice that despairs and the temerity that outstrips, prematurely and recklessly, the limitations of the practicable.“60

Es ist kein Zufall, dass Mephistopheles und seine „dire philosophy of negation“67 gerade in Doktor Faust und seinem sprichwörtlich gewordenen faustischen

65 Ebd.,S. 159 66 Schiller (1903) [„The Place o f Pessimism in Philosophy“], S. 159 67 Schiller (1903) [„Concerning Mephistopheles“], S. 168 - Für Schiller ist Goethes Ad­ aption des Faust-Stoffes geradezu „the finest study o f philosophic Pessimism in any language“ (ebd.) und die Figur des Mephisto nicht nur der eigentliche Held des Stücks, sondern derjenige, dem auch am meisten Bewunderung für seine Tiefsinnigkeit, Indi­ vidualität bei gleichzeitiger Wandlungsfähigkeit zukommen sollte: „Mephistopheles, whom every man and most women (other then a sweet innocent like Gretchen) must surely have preferred to Dr. ju ris Faustus“. Ebd., S. 167. Man kann hier, in diesen euphorischen, fast schon apologetischen Bekundungen Schillers zum Teufel (wieder) die Überzeugung herauslesen, dass die Kurierung vom Pessimismus philosophisch würdig nicht durch Abkehr von ihm und Ignoranz ihm gegenüber, sondern nur qua rigorosem Durchgang durch ihn möglich sein kann. Es sei jedoch weiterhin angemerkt, dass sich der Fokus auf Mephisto in Schillers Spätschriften zugunsten von Faust wendet, und zwar im gleichen Maße, wie er seine Lektüre vom Ersten Teil um die vom Zweiten Teil erweitert und dabei feststellt, dass, während der Erste Teil aus faustischer Sicht von einem sentimentaleren „gospel of Salvation by love“ beseelt ist, der Zweite, wenn auch „immensely more than this“, zu

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Drang nach der Erkenntnis von allem und der Sehnsucht nach dem Höchsten seinen willigen Vertragspartner finden. Gehen wir also in der Folge mit Schiller die unterschiedlichen Quellen des Pessimismus aus dessen Sicht durch, wobei die Desavouierung des Ideals des Wissens bereits durch den Skeptizismus geschehen ist und damit hier ausbleiben kann. Um verteidigt oder, wie hier, angegriffen zu werden, bedarf das Glück vor­ gängig einer allgemeinen Definition: Für Schiller bezeichnet es die „fruition of fulfilled desire“ (101) und ist als solches das Ideal einer perfekten Adaption der Bedürfnisse an die Umgebung. Gilt jedoch nun die Umwelt des Menschen nicht als fixe, der sich wenigstens durch Versuch und Irrtum langsam angenähert wer­ den kann, sondern als ewig sich ändernde und in toto unabmessbare, so wird das restlose Anpassen etwas Unmögliches, hinter dem nur ewig, d.h. letzten Endes immer vergebens hinterhergelaufen werden kann. Eine düstere Ahnung, die be­ reits im ambivalenten Naturverständnis der Romantiker antizipiert wird - gerade damit bei denjenigen, die die Natur als Faszinosum philosophiegeschichtlich aus der klassizistischen Klammer stabiler Ordnungs- und Verstandesformen

einem proto-pragmatistischen Manifest „of salvation by work“ wird. Schiller (1939), [„Faustian Way of Salvation“], S. 126 Mephisto erscheint Schiller nun selber nur noch als Erfüller eines „psycho-therapeutic job“ und darin geradezu als „fool“ (135), will dieser doch eigentlich gemäß der initialen Wette mit Gott an Faust, dem von der direkten Macht des Wissens Enttäuschten - Schicksal der „dissatisfied magicians“ (Ebd., 137) - und von der Anerkennung der Masse Getrennten, einem von der Welt Isolierten - all dies hierfür ideale Antezedenzien - einen „case of utter pessimism“ sta­ tuieren. Doch nach der Einnahme des von Mephisto dargereichten Verjüngungstranks wird sich Faust widerplanmäßig des gestalterischen Tatendrangs und des Glaubens an die Möglichkeit einer Verbesserung in und für die Welt bewusst, von der schlussendlich gesagt werden kann: „Verweile doch, du bist so schön!“ Eine Erweckung des Optimis­ mus, indem die „natural instincts [revived in him] which he had to repress in youth in order to become a prodigy oflearning and a paragon of knowledge.“ (Ebd., 133) So erscheint Fausts Erlösung als Personifikation dessen, was Schiller in seinem p r o ­ phetischen H um anism us zu leisten versucht: Faust begreift sich als „active collaborator with God in the shaping of a better world“, nachdem er sich vom Gefängnis seines Habitus der Ohnmacht befreit hat. Sei dieser, die Parallele vorantreibend, bei Schiller: entweder der der akademischen Pedanterie und des Blicks auf die illusionierte und entfernte Welt durch den theoretischen Absolutismus (im spekulativen H um anism us) oder aber der der überkommenen, dysgenischen institutionellen Strukturen der Ge­ sellschaft (im eugenischen H um anism us). Bei einer solchen zu seinem eigenen Projekt konkordanten Lektüre Goethes ist es kein Wunder, dass er in diesem wie in keinem zweiten die (positive) Personifizierung des „Platonic ideal of the philosopher-king“ zu erblicken vermag. Ebd., S. 124

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zu emanzipieren versuchten, mit der Folge, in ihr nach Novalis (auch) „immer eine furchtbare Mühle des Todes“ erkennen zu müssen: „überall ungeheuer Umschwung, unauflösliche Wirbelkette, ein Reich der Gefräßigkeit, des tollsten Übermuts, eine unglücksschwangere Unermeßlichkeit“.68 Doch nicht nur bezogen auf „physical“, sondern auch auf „social environ­ ment“ gibt es unlösbare Anpassungsschwierigkeiten, denn, so argumentiert Schiller für den Pessimisten mithilfe der Soziobiologie, die in der Evolution selbst erworbene oder vererbte Triebstruktur des Menschen verläuft nach einem ande­ ren zeitlichen Maßstab, als es gesellschaftliche Entwicklungen tun, und schafft so - wie im Fall eines malthusianischen Blicks auf Reproduktionstrieb und das Problem der Überbevölkerung - katastrophale Tatsachen im Sozialen, welche selbst wiederum katastrophale Folgewirkungen für sein biologisches Überleben haben. Zivilisation als liberalisierende Kultur der Technik schafft hierbei nicht den Ausweg aus der Krise, sondern wird, wie im Falle der Überbevölkerung exemplarisch zu sehen, durch ihre Fortschritte „in medicine, in material com­ fort, in peaceableness and respect for human life“ (116) zu deren Verursacher. Aber auch bezogen auf einen kleineren Ausschnitt des Sozialen verhindert Zivi­ lisation gleichermaßen den Genuss ihrer eigenen Errungenschaften, indem sie durch die Aufhebung von biologisch und naturwüchsig grober Not die geistige feinkörnige Mitleidsfähigkeit („ever-deepening sensitiveness“ [114]) erhöht und damit gleichzeitig den durch Zivilisationsprozesse ermöglichten positiven Effekt der Mangel- und Leidensminimierung unterwandert und in ein (ohnmächtiges, weil folgenloses) Mitleiden mit dem zurückbleibenden, überwältigenden Rest der Menschen sublimiert, kurz: für diejenigen „supposed to possess the means to happiness“ wird diese Emanzipation von primitiven Nöten auf einem höhe­ ren Level zu „means to new pains“ (113), sodass die gesamte Realität als einzige „City o f Dreadful Night"69 gesehen wird. Weit davon entfernt also, eine Annäherung der Wünsche und ihrer Verwirk­ lichung als Determinanten des Glücks in der Welt sehen zu können, leugnet der Pessimist ebenso den Sinn des Ideals des Guten, für das allein schon ein dauer­ hafter Maßstab fehlt, der jenseits der historisch-empirischen Mannigfaltigkeit etwas anderes als einen Relativismus nahelegt, frei nach Rankes Diktum der Gleichunmittelbarkeit einer jeden Epoche zu Gott, nach dem für den Pessimisten

68 Novalis (1802), S. 83 69 Dies der Titel des Poems von James Thomson (1870), mit dem sich Schiller immer wieder auseinandersetzte: Schiller (1934) [„James Thomson: Poet o f Pessimism], S. 142-155. Schillers schon früher Verweis auf Thomson, dezidiert zur Proportionalität von Empathie und Unglück, findet sich in: Schiller (1897), S. 49.

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das Gute eine Maskerade des bloß zeitgenössisch Opportunen ist und damit zu einer Form des eitlen Genusses und nicht der moralischen Pflicht wird. Um das Ideal des Schönen zu schmälern, genügt es für den Pessimisten, dies als das dem Guten Kontrastierte zu wissen, vorausgesetzt, das Gute wäre mehr als (eitler) Genuss, kurz: vorausgesetzt, es existierte. So würde sich zeigen, dass ein auf Äs­ thetizismus getrimmter Lebensblick, statt zu einer harmonischen Fusion aller Aspekte des menschlichen Geschehens beizutragen, aufgrund seiner aristokra­ tischen Tendenz das Niedere, Schmutzige, Unkultivierte ignoriert, wenn nicht gar in Ekel meidet, mit der unmoralischen Folge, „sympathy with nine-tenths of human life“ (127) zu verlieren und damit auch abseits der Unzuträglichkeit für das moralische Ideal ebenso wenig zur Anpassung des Organismus-Umwelt Verhältnisses im Ganzen, wie es wiederum für das Ideal des Glücks leitend ist, beizutragen. Folglich muss geradezu umgekehrt gesagt werden, dass „the great .reforms' of history have received their impulse, but from the moral enthu­ siasm or party spirit of men whose every step was marked by brutal utilitarianism or unbeautiful fanaticism." (ebd.)

Mit diesem Abschneiden des verbindenden Bezugs zu den Idealen als etwas Er­ reichbarem stürzt das Subjekt ins Bodenlose, und die Aufgabe der Philosophie des Pessimismus wird es allein, Überbringerin der schlechten Nachricht zu sein, Anti-Evangelium des freien Falls. Denn während der Skeptizismus der Versuch gewesen ist, das Wissen selbst fraglich werden zu lassen, dabei jedoch die W irk­ samkeit des Wissens in der Praxis unerklärt lässt, ist der Pessimismus insofern eine philosophische Position, weil sie in der Verneinung universell ist, insofern sie den spekulativen Versuch unternimmt, das G anze als restlos gescheitert zu erklären. Dass die hier dargelegte Hinführung Schillers zum Pessimismus keineswegs in sich zwingend ist70, ist nicht entscheidend - nicht nur, weil es sich nicht um

70 Es genügt, die rigoristische Alles-oder-Nichts-Logik zu verwerfen, nach der das völlige Erreichen der Ideale allein den Menschen vor der Verzweiflung zu retten vermag. Wa­ rum sollten einzelne Momente des Guten, des Schönen, des Glücks wertlos werden, nur weil sie als Momente endlich und nicht dauerhaft sind? Schließlich ist der Mensch ihres Genusses fähig als ein selbst endliches Wesen, das im Fließen der Zeit existiert, wodurch die Endlichkeit dieser Momente selbst noch einmal verendlicht wird, d.h., diese in actu nicht in ihrer Endlichkeit bewusst gegeben sind: Wenn ich mich freue, tue ich dies restlos, obwohl die Freude endlich ist, ein Ende haben wird. Genauso ist es - ironischerweise, eingedenk der Tatsache, dass Schiller Polemiker ge­ gen den Intellektualismus sein will - eine intellektualistische Kopfgeburt anzunehmen, die vorgenommene, geradezu scholastische Deduktionskaskade zum Pessimismus hin

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die von Schiller selbst positiv bezogene Position handelt, sondern weil er hier vor allem das theoretische Klima, Umfeld, Dispositiv schildert, das faktisch für zahlreiche seiner Zeitgenossen attraktiv und wirksam gewesen ist und sich aus der Ambivalenz der Moderne selbst ergibt. Erklärt sich der technologische, wirt­ schaftliche, wissenschaftliche Erfolgsschub in der Moderne durch die Herausbil­ dung von autonomen Teilbereichen von einem ihnen rigide übergeordneten und sie von diesem aus kontrollierenden und in ihren Operationen einschrän­ kenden Systemmonopol (Kirche, absolutistischer Staat), zeitigt dieser Erfolg der Pluralisierung gleichzeitig gerade die strukturelle Konfrontation der Teile als

und dessen Entfaltung träfe den Kern oder sei auch nur eine originalgetreue Überset­ zung der Art, wie der real existente Mensch in seinem Lebensvollzug dem Pessimismus begegnet: Einmal „erwiesen“, könnte er nicht mehr geleugnet, sondern nur noch an­ erkannt werden - als ob die Realität nicht vielmehr in einem beständigen, wenn auch unterschiedlich intensiven, prozessualen Ringen mit diesem bestehen würde. Dieselbe Skepsis ist damit auch gegenüber dem diesem scholastischen Pessimismus entgegen­ gesetzten kritischen Optimismus angeraten, den Schiller vor allem im spekulativen Teil entwickelt und der ebenso einer lebendig ringenden Prozessualität zugunsten einer logischen Plakativität entbehrt: Als ob nach einem derart erbrachten „Beweis“, gleichsam der Auflösung eines Rätsels, eines Riddle, nicht auch nach seiner bewussten „Wahl“ ständig Zweifel in die eine oder andere Richtung möglich wären! Die Präkarität der menschlichen Paradigmen gilt in beide Richtungen: sowohl im Hinblick auf das Positive (des Optimismus) wie auf das Negative (des Pessimismus) - nichts vermag den Menschen im „Normalfall“ völlig und ohne vielfältige Schattierungen auszumachen. Dass Schiller in seinem Blick auf Pessimismus wie Optimismus lieber die Brille der Logik aufsetzt, statt die der Psychologie und sie damit zu Ideen macht, überrascht umso mehr, als der m ethodische H um anism us genau in dieser Pointe besteht: die realen psychologisch-affektiven Prozesse gegenüber den logischen Abstraktionen auf dem Blatt Papier stark zu machen: „Perception is a process, thinking is a process, meaning is a process, attention is a process, an d 'ideas’ a re— a m isinterpretation o f processes. Experience is hardly ever a passive receptiveness towards ‘impressions’; it is nearly always a reaction upon the given.“ Schiller (1912), S. 89 - Herv. d. G.K.T. Darüber hinaus exemplifiziert Schillers eigener Umgang mit seiner „Lösung“ des Rät­ sels der Sphinx diese „unlogische“ Ambivalenz als Fundament des Menschen überdeut­ lich: 1st er doch später selber kaum mehr vom sicheren, idealistischen Impetus seines spekulativen H umanismus getragen, wenn er dessen Hoffnungsgehalt in das eugenische Paradigma überträgt, welcher beständig und deutlich von einem apokalpytischeren, zweifelnderen Ton begleitet wird. S. als Bsp. einer solch hier nur angedeuteten, realistischeren Form des theoretisch konzeptualisierten Umgangs mit unleugbarer Tragik jenseits des einfachen, weil starren Dualismus von Pessimismus und Optimismus in der Gegenwart: C. West, den „blues man in the life o f the mind, a jazzman in the world o f ideas“. West (2011 ).

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ein Zurkenntnisnehmenmüssen von Anderem und bewirkt damit ein Mangel­ bewusstsein von und eine Sehnsucht nach Letztsynthese: Geht doch der an diesen Praktiken teilnehmende Mensch (als Wissenschaftler, Kaufmann, Künst­ ler) in keinem Spezialsystem gänzlich auf, sodass der erfolgreiche, weil sie ins Maximum ausreizende Tunnelblick in den freigesetzten Bereichen immer wieder durch den (nicht zuletzt durch die Begegnung mit Spezialisten anderer Bereiche) hereinbrechenden Weitblick infrage gestellt wird. Diese Not der Neuauffadelung der Teile zu einem stimmigen Ganzen findet komplementär Ausdruck durch den zeitgleich aufkommenden Typus des die Teile transzendierenden Intellektuellen als säkularem Äquivalent zum Priester, ein Typus, der anders als das Genie der Romantik, welches als völliger Solitär eher als säkulares Äquivalent Gottes selber zu beschreiben wäre, sozialimmanenter an eine Fürsorge- und Betroffenheits­ pflicht gegenüber der res publica gebunden ist. Dass sich die Botschaft dieses „neuen Messias“71 gerade im Hinblick auf die zeitliche Nähe zur (hochstilisier­ ten) verlorenen Ordnungs- und Homogenitätskultur des A nden Régimes - vor allem in bürgerlichen Kreisen angesichts des dringlicher Werdens der für diese bedrohlichen „sozialen Frage“ und der Morgendämmerung massendemokrati­ scher, pan-nivellierender Verhältnisse72 - als Verfallsgeschichte im Ganzen, die die Erfolgsgeschichten im Kleinen als kurzfristigen Erfolgstaumel suspendiert, zu erzählen anbot, liegt nahe. Schiller selbst spricht bezogen auf die Attraktivität

71 Charle (1996), S. 69 72 Dabei ist die Nivellierung von starken hierarchischen Unterschieden, die gleichzeitig Ausdruck von qualitativen sind, keineswegs nur materiell oder kulturell zu verste­ hen: Auch der Naturalismus als transzendentaler Forschungsrahmen und mit ihm die Spezialwissenschaften der modernen (Evolutions-)Biologie, der Psychologie oder später der Soziologie können als quantitative Nivellierungsheuristiken ehemals sozial kodifzierter, aristokratisch stratifzierter Naturrechtsunterschiede zwischen Hohem und Niederem im Menschenbild zugunsten des Durchschnittlichen, Normalen oder für die Normalität Nützlichen verstanden werden und wurden dies auch. (s. Kap. 4.1.3.) Selbst von Schiller, der sich des Naturalismus zwar als Grundlage bedient, um den In­ tellektualismus anzugreifen, jedoch immer mit dem Ziel, Letzteren i.S. von Rationalität und der meliorisierenden Macht des Denkens in „der Natur“ unterzubringen: Zwar bildet die realisierte geistige Potenz weder Ursprung noch Lage des gegenwärtigen „Durchschnittsmenschen“, doch dies könnte durchaus zukünftig der Fall sein, solan­ ge man nicht davon ausgeht, dass der Intellekt ein brutum factu m darstellt, wie der Intellektualismus dies in seiner Abstraktheit (implizit) tut, sondern ihn im Rahmen einer gesellschaftlich sukzessiv zu bewältigenden Aufgabe der Implementierung von Vernünftigkeit zu verstehen lernt: dies Schillers prophetische Vision sowohl in speku­ lativer als auch eugenischer Hinsicht.

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r der pessimistischen Verkündungen von deren frappanter „simplicity“ (97), ver­ langt sie doch nichts über die Attestierung der Ohnmacht hinaus.3 Viel entscheidender für die Position Schillers ist aber, dass nach dem zuletzt Gesagten schon deutlich wird, dass es wohl nicht allein die logische Kohärenz ist, die eine Position attraktiv werden lässt, sondern für sie immer auch ein pri­ märer Akt des Glaubens mitbürgt. Denn selbst bei einwandfreier PessimismusDeduktion bleiben die Prämissen, die jeder noch so logischen Notwendigkeit vorausgehen, von der gesetzmäßigen Immunität ausgenommen, ungeschützt, rekurrieren auf den Willen des Einzelnen, der ihnen durch existenzielles Nach­ gehen und Einverleibung das sich darin selbst wiederum aufs Spiel setzende Sein leiht, das sie von bloß wildem, willkürlichem, weil grenzenlos variierbarem Spe­ kulieren, Träumen, Phantasieren unterscheidet. Sie werden so in die Wirklich­ keit als schöpferische Wirksamkeit überführt, als Weltanschauung, die über die alternativen, nicht gewählten und damit über kurz oder lang verschwindenden Prämissen dadurch triumphiert, dass sie sich zum Großteil selbst wahr macht, indem sie in der Folge der Übernahme in Form von Postulaten die Realität nach ihren Prinzipien anordnet. Nur anhand dieser Kompetenz des Menschen zu fun­ damentalen „judgments o f Value“, ist er „capable of framing an ideal of worth, an ideal of something worth striving for and of holding it up to reality as a mirror in which to behold its deficiencies.“ Doch in diesem Reich erster Werturteile gibt es keinen unumstößlichen Goldstandard: „they are primarily relative“.7374 Denn wo Urteile gebildet, gewählt werden müssen, gibt es Alternativen oder pathetischer: „while there is life there is hope. That is a psychological law' from which he [der Pessimist] will find it hard to emancipate himself.“75 Zu zeigen, dass dies das grundlegende Prinzip des methodischen Humanismus von Schiller ist, ist Aufgabe des nächsten Ffauptkapitels.

73 Dem schließt sich auch die neuere Forschung an: „Einer der Gründe für die Attrakti­ vität dieses Vorhabens [Reduktion der mannigfaltigen Wirklichkeit auf ein „finsteres Prinzip“ - G.K.T.] dürfte darin bestehen, daß es den Pessimisten eine zusammenhän­ gende Deutung der Wirklichkeit zu einer Zeit möglich macht, als die traditionelle Metaphysik und Geschichtsphilosophie, die ursprünglich ähnliches leisteten, längst diskreditiert sind.“ Pauen (1997), S. 13. Im Einklang mit seiner allgemeinen Rezep­ tions-Absenz findet Schiller, darauf sei hingewiesen, auch hier keine Erwähnung. 74 Schiller (1903) [„The Place of Pessimism in Philosophy“], S. 159f. 75 Schiller (1934) [„James Thomson: Poet o f Pessimism’’], S. 155

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3. Der m eth o d isch e H u m a n is m u s als Possibilismus - Die Umstellung vom Schicksals- zum Möglichkeitsdenken „[...] und man entweiht den heiligen Namen .Wahrheit1, wenn man ihn nichtigen Dingen beilegt, deren Existenz allen Menschen gleichgültig ist und deren Kenntnis nichts nützt.“ Jean-Jacques Rousseau - Träumereien eines einsamen Spaziergängers76

3.1 Im Vorzimmer der Praxis Nach dieser Anamnese der Teufelsspirale vom Agnostizismus zum Skeptizis­ mus bis hin zum Pessimismus, der in der europäischen Tradition auch als Nihi­ lismus firmierendes Gespenst umherging (und -geht), scheint die Bestimmung für den von dem Geist der Moderne angesteckten Menschen schlecht: „Have we not ourselves destroyed all the hopes or illusions that make life valuable?“7778 Sicherlich gibt es auch den Simulanten, der vom Salto M ortale mehr redet, um mit seinem Effekt in abgesicherten Räumen zu schockieren, statt sich ihm wirk­ lich hinzugeben, von ihm ergriffen zu sein, kurz: ihn zu vollziehen, also um diesen Typus des gespielten Enfant terrible, des Scharlatans, von dem EbnerEschenbach in einem ihrer Aphorismen unvergleichlich schreibt: „Die glückli­ chen Pessimisten! Welch Freude empfinden sie, so oft sie bewiesen haben, daß es keine Freude gibt.“7S

76 Rousseau (1782), S. 61 77 Schiller (1891), S. 133 78 Ebner-Eschenbach (1880), S. 391. Sicherlich würde auch Schiller nicht widersprechen, dass es vielleicht gerade dieser Typus des Profi-Nihilisten ist, der in einer Gesellschaft am häufigsten anzutreffen ist, ist dies doch der leichteste Weg durch die ewige Geste der theoretischen Zertrümmerung in sozial-praktischer Hinsicht sich über die Ange­ griffenen zu erhöhen und darin seine symbolischen Meriten zu genießen und so in der Praxis in einem konservativ-gesicherten Lebensstil gerade das zu leben, was man in der Theorie ständig für naiv, mehr noch: für unmöglich erklärt. Diese scheinbare Relativie­ rung der von Schiller markierten Dringlichkeit des Pessimismus-Problems und damit einer Lösung desselben relativiert diese in Wahrheit jedoch nicht, denn - so könnte man mit Schiller und seiner hohen Meinung des Philosophierens [„That philosophy has not perished out of the land under such treatment testifies with no uncertain voice to its divine destiny and to the glow of ambrosial fire that courses in its veins”, Schiller (1902), S. 126] argumentieren - eine solche Lage einer in das gesellschaftliche Sein eingeschriebenen

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Für den tatsächlich Infizierten dagegen sinkt die Lebenserwartung dras­ tisch79. Zunächst im Sinne einer menschlichen Lebensgestaltung samt ihrer Aspirationen nach Selbstbestimmung, Wachstum und Glück, nach einem aufs

Heuchelei zwischen „institutionalisierter Dauerreflexion“ (H. Schelsky) und in der Praxis billig ausgelebtem Opportunismus ist selbst Zustand eines Struktur-Pessimismus, in dem dieser zwar nicht mehr (zwangsläufig) emotional vom Einzelnen erlitten, aber als Bruch von Geist und Praxis, Kopf und Hand in das Fundament gesellschaftlicher Ganzheitlichkeit einzementiert und normalisiert wird. Gemessen an diesem Philosophiever­ ständnis Schillers erscheinen auch der selbstbewusste Bezug des skeptischen Denkens und Schreibens eines Odo Marquard (2002) und dessen explizit affirmierter Rückzug des Philosophierens („Inkompetenzkompensationskompetenz“) zugunsten der Aufwertung von Einübung in Stilistik nicht m ehr als eine künstliche Insolvenzverschleppung. 79 Jenseits des weicheren, metaphorischeren Verständnisses ist diese Formulierung auch ganz wortwörtlich zu verstehen, wie - neben der für die tschechische Soziologie analog grundlegenden und sogar noch früheren Arbeit von T.G. Masaryk (1881), des später pragmatistisch beeinflussten Intellektuellen und ersten Präsidenten der Tschecho­ slowakei - Dürkheims epochem achende Studie zum „Selbstmord“ zur selben Zeit verdeutlicht, in der dieser, so die zentrale These, die Zeit durch Anomie charakteri­ siert sieht, dies mitbewirkt durch die vollständige Ökonomisierung samt Einebnung früherer quasi-ontologischer Standesunterschiede sowie die sukzessive Verstädterung als ein diesem Strukturmoment räumlich - als fixierter Lebensformen-Eklektizismus Tribut zollendes Faktum. „Die Entstehung dieser großen Denkgebäude ist also Indiz dafür, daß die pessimistische Strömung auf Grund irgendeiner Störung des sozialen Organismus anormal angeschwollen ist. Man weiß aber, in welcher Vielzahl sie heute auftreten. Um sich eine richtige Vorstellung von ihrer Anzahl und ihrer Bedeutung zu machen, genügt es nicht, nur diejenigen philosophischen Lehren heranzuziehen, die diese Eigenschaften sozusagen offiziell haben, wie die von Schopenhauer, von Hart­ mann usw. Man muß auch alle die berücksichtigen, die unter verschiedenen Namen desselben Geistes sind. Anarchisten, Ästheten, Mystiker, Sozialrevolutionäre finden sich, wenn sie schon nicht vollkommen an der Zukunft verzweifeln, mindestens in einem Boot mit den Pessimisten in ihren Haß- und Überdrußgefühlen gegen alles Bestehende, in dem gleichen Bestreben, das Reale entweder zu zerstören oder ihm zu entgehen. Die kollektive M elancholie hätte das Bewußtsein nie soweit durchdringen können, wenn sie nicht eine krankhafte Entwicklung genommen hätte, und daher ist die Entwicklung des Selbstmordes, die daraus resultiert, gleicher Art. Alle Beweise wirken zusammen, um uns in unseren Augen das riesengroße Anwachsen der Selbst­ mordzahlen seit einem Jahrhundert als ein pathologisches Phänomen hinzustellen, das mit jedem Tag drohender wird. Wozu sollen wir unsere Zuflucht nehmen, um die Gefahr zu bannen?“ Dürkheim (1897), S. 437f. Dadurch, dass er sich wie die meisten Kritiker auf bloße Puzzleteile des von mir als m ethodischer H um anism us titulierten Pragmatismus richtete, übersah Durkheim (1913/14) in seinem späteren Angriff auf den Pragmatismus im Allgemeinen wie Schiller im Konkreten völlig, dass dieser

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Ganze - Theorie und Praxis - gehenden richtigen Leben als einem Stück B o­ den, der aus genug rationaler Festigkeit gebaut ist, um Halt zu bieten für prak­ tische Selbst- und Weltverwirklichung, sodass er nicht immer wieder als bloß irrationale Ideologie enteignet werden kann, bis der Angeschlagene dann gänz­ lich an den Weltenrand gedrängt und, nach Spenglers Definition des Pessimis­ mus, keine Aufgabe mehr sieht.*80 Damit bleibt ihm nur noch der Sprung über die Klippe ins Nichts: als ein von humanen Idealen und Hoffnungen entleer­ ter Lebensvollzug, verbunden mit der tragischen Affirmation der gänzlichen Unmöglichkeit seiner Möglichkeiten (oder der Möglichkeit zur Unmöglich­ keit), dem „Bewußtsein als Verhängnis“ (A. Seidel), dem taedium vitae durch den Selbstmord als tragischer Klimax ein Ende zu bereiten. Sei dies im bio­ logischsten Sinn oder im bloßen Fortwesen und Dahinvegetieren in der seit Rousseaus „glücklichen Sklaven“ und Tocquevilles Prophetie eines unter dem Wohlfahrtsstaat zur amorph-plebejischen Masse zusammengesackten Bürger­ tums zahllos porträtierten Figur des „Letzten Menschen“, der, um nicht mehr bei der menschlichen Tragödie mitzuspielen, sein geistiges Auge für immer ver­ schließt, ins Quasi-Tierische hinabsinkt.81

genau einen Antwortversuch auf die von ihm in der zitierten Passage zum Ende in aller Dringlichkeit gestellte Frage darstellt. 80 Spengler (1921), S. 19 81 Vgl. Rousseau (1750), S. 34 bzw. Tocqueville (1835). Für die Wahl jeweils einer der scheinbar einzig verbleibenden Alternativen (im Unterschied zum erwähnten Typus des sich schlicht der Gewalt Entziehenden), die sich aus der kompletten Dissoziation von Geist und Leben ergeben: Aufgabe des Lebens zugunsten des Geistes sowie vice versa Aufgabe des Geistes zugunsten des Lebens, lassen sich Beispiele finden: Für den ersten Fall steht die Biographie von Alfred Seidel, der an der philosophischen „Krankheit“ der Enthüllungssucht suizidal zugrunde ging, nachdem er erkannte, dass die „Formen“, „die der Mensch benutzt, um sich mit seinen Erkenntnissen in eine Welt zu betten, [... ] aus Illusionen über sich selbst und die Umwelt aufgebaut“ sind - Seidel (1927), S. 75. Ein weiterer, noch populärerer auch Schiller bekannter Fall (Schiller (1934) [,,A Philosophie Survey“], S. 245ff.) bildet der von Philipp Mainländer, dessen „Philosophie der Erlösung“ (1876/86) - nach deren Erscheinen er sich erhängte - die kosmische Geschichte als eine absolute Verfallsgeschichte schildert, bei der sich eine ursprünglich göttliche Einheit in die heutige Vielheit hinein selbst zerstört und darin als prolongierender „Wille zum Tode“ sukzessive völlig abstirbt (physikalisches Äqui­ valent: Energieverlust, d.h. Abkühlung des Kosmos). Für den zweiten Weg der dauerhaften Narkotisierung des Geistes mag die an Hegel und Nietzsche anschließende europäische Deutung des „American way o f life“ von Alexandre Kojève dienen, ein Lebensstil im Namen des „Sabbat des Menschen“ als weltliche Antwort auf die rein biologischen Befriedigungstendenzen des Menschen als

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Bleibt man im Wortfeld des Pathologischen und Medizinischen, das Schiller selbst nicht grundlos immer wieder bemüht*2, ist der erste Schritt der Behand­ lung, die Beschreibungen der klassischen, konventionellen „Philosophiemedi­ zin“ fallen- oder zumindest erst einmal ruhenzulassen und sich auf eine gänzlich neue, alternative Sichtweise auf das Problem und seine möglichen Ursachen einzulassen. Die Methode Schillers besteht also nicht darin, dem Pessimisten konfrontativ, direkt zu begegnen, sondern sich ihm indirekt zu nähern: Die Rolle des Advocatus D iaboli8283, ja gar des Radikalisierers, die er als Verkünder

Tier. Darin erhält diese Menschendämmerung ihre aufs Kausale (statt auf Gründe), d.h. Sprach- und Geistlosigkeit reduzierte, verführerische Rechtfertigung, die Kojève in einem Akt, in dem zwischen Zynismus und Realismus nicht mehr geschieden werden kann, mangels realer Alternativen als einzige Form selbst dem Weisen anempfiehlt. Siehe hierzu: Kojève (1952/56) Schiller selbst nimmt die verachtende Bewertung der Masse - aber auch der sie (un ) kultivierenden Elite, die nur reziprok zu haben ist - im Rahmen seines eugenischen H um anism us und auch der philosophischen Schriften zu der Zeit ernster. 82 Siehe hierzu bspw. Schiller (1907b), wo dieser Bertrand Russell, den PragmatismusKontrahenten der ersten Stunde, als Therapieverweigerer im Rahmen einer „pragmatic cure of doubt“ (d.h. des Skeptizismus), darstellt: „He [Russell] only complains that he is not driven on this [des Pragmatismus - G.K.T.] standpoint. But how can he be cured by a specific he declines to take?” Oder allgemeiner: „The saving o f souls [...] is a ticklish business and one requiring a certain cooperation on the patient’s part.“ Ebd., S. 236 Für dieses Aufkommen der therapeutisch-medizinisch sprachlichen Anologien können mehrere Gründe genannt werden. Wohl einer der wichtigsten ist, dass in der „Logik“ des Medizinischen im Unterschied zur instantanen Logik des Rationalistischen, in der mit dem Q.E.D. alles gesagt ist, die sukzessive wie dynamische Wirkung im Medium der Zeit ausschlaggebend ist und sich darin das post-rationalistische Paradigma leicht selber erkennen konnte. Und es ist diese Logik, die Schiller in der Tradition der antiken Sophisten zu erkennen meint und in die er sich selber gegen die die depersonalisierte Schau betonenden Platoniker einreihen will: „Thus the sophist’s task is practical like the doctor’s: but his ministrations use words, instead o f drugs, to produce a better state of mind. [...] [W]hereas a soul in bad condition opines badly, a good one produces good thoughts. [...] Wise men, therefore, are they who like the physicians o f bodies, or the cultivators of plants, train men to perceive aright.“ Drückt dies vor allem seine therapeutische Intervention auf der Ebene der Individuen und dem zeitgenössisch virulenten Problem des Pessimismus aus, antizipiert der darauf folgende Satz sein eugenisches Engagement in sozialpolitischer Hinsicht: „And the sage o r ,sophist1performs a similar service also for cities“ Schiller ( 1908b), S. 15f. 83 Eine Rolle, derer er sich auch in humoristischer Hinsicht bedient, um sich in der von ihm geschriebenen Satire-Version einer „Mind!“-Ausgabe (sic!) - Glanzleistung in der Geschichte des philosophischen Humors - in zahlreichen Artikeln unter karikaturesken

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des Pessimismus im ersten Kapitel eingenommen hat, sollte gerade dazu dienen zu betonen, dass die Position sich mit einer (vermeintlichen) immunen Folge­ notwendigkeit zur Verschlimmerung entfaltet, sodass verordnete Gegenme­ dikamente, die aus Laboratorien derselben Prämissen dieser Logik entwickelt wurden, nicht mehr als Placebos sein können: „The demonstration of Scepticism depended on the discrepancy between thought and reality, between things as we think them, and as they appear to us, on the impossibility of representing the whole by the part. And it is denied the correspondence of the elements which constitute knowledge, it cannot be directly refuted. For any argument which assumes such correspondence begs the question, while any argument which proceeds by only one of the factors, is ex hypothesi incapable of proving the existence of truth, i.e. of the harmony of both.”*'1

In dieser Hinsicht ist der Begriff des Advocatus D iaboli vorschnell gewählt, zeich­ net die Würde des Pessimismus für Schiller doch gerade die größere Nähe zum Denken selber aus, als dies ein einfacher Optimismus tut, drückt sich in diesem in seiner unreflektierten Form nichts anderes aus als der ins Geistige hinein sub­ limierte, von der Natur als Mitgift gespendete Lebenswille: ,,[0]ptim ism s always are initially unreflective, and frequently remain so to the end.“*85 Eine einfache Rolle rückwärts oder ein infantil Augen zuhaltendes „Trotzdem!“ ist Schillers Ziel als Philosoph (und nicht Psychotherapeut) nicht. Vielmehr geht es um eine positive Lebensoption, die durch die Schule des Pessimismus hindurchgegangen ist und sich seiner Argumente und lebensweltlichen Quellen bis zur äußersten Konsequenz bewusst sein will in der Absicht, ihnen etwas heuristisch mindes­ tens Äquivalentes entgegenhalten zu können. Die angestrebte alternative Sicht, die den Konflikt zwischen Mensch und Re­ alität, der man bspw. im Falle der Täuschung und der Unerklärlichkeit habhaft werden kann, zwar nicht ignoriert, aber unterwandert, degradiert ihn zu einem

Pseudonymen wie „G.W. Flegel“, „I. Cant“, „T.H. Grin“ oder „F.H. Badley“ über die Positionen der realen Philosophen Hegel, Kant, Green und Bradley, besonders aber über die Idee des Absoluten, an der alle hängen, lustig zu machen: „So we [„die Edi­ toren der Ausgabe“ = Schiller - G.K.T.] advertised for representative Aspects o f the Absolute, thinking to compile therefrom a composite photo which should be an absolutely authentic image of the Absolute. They came in shoals. Doctors, Philosophers o f every description, and all its valiant supporters. But when our m odus operandi was explained to them a terrific tumult arose. Each declared that the rest were phenomenal impostors, and that he alone was adequate to represent the Whole.“ Schiller ( 1901 ), S. 1 84 Schiller (1891), S. 135 - Herv. i.O. 85 Schiller ( 1908b), S. 12f.

sekundären Fall einer primär funktionierenden Vermittlung zwischen Mensch und Welt als Zusammenwirken der gestalterischen Fähigkeit des Menschen und der offenen Plastizität der Welt, nach der das darin Unerklärliche zu einem sol­ chen immer auch gemacht wurde, insofern es relativ zu den funktionierenden Verstehensleistungen als gewählter Akt definiert wird. Diese weite Therapie fin­ det sich in Schillers Schriften perfektioniert ab seinem Essay „Axioms as Postu­ lates“ (1902), von dem der zeitgenössische Philosoph Henry Cecil Sturt schrieb, mit ihm und seiner Behauptung der Irreduzibilität individueller Personalität gegen die idealistische Allmacht des Absoluten hätte „a new chapter in British thought“86 begonnen. Aus dieser Perspektive erscheint der Pessimist bzw. der auf die letzte Inkompatibilität von Mensch und Kosmos Pochende als derjenige, der sich den Möglichkeiten des Werdens und Gestaltens, der hervorbringenden und hervorgebrachten Zukunft zugunsten einer reinen Gegenwartsverkramp­ fung - sei diese, wie im vorigen Unterkapitel geschildert, auch gerade realisiert als dogmatisches Anbindung an ein Ideal, an dem die Realität scheitern muss verweigert, wie es in einem Gedicht Robert Lowells gemünzt auf den Nihilisten heißt: „A nihilist wants to live in the world as is“.87 Doch zuerst soll ein Exkurs zu William James, von dem Schiller nicht grund­ los als dem „last great liberator of the human spirit“88 spricht, und dessen für Schiller entscheidendes Konzept des „Will to Believe“ eingeschoben werden, das James in der ihn gleichermaßen bedrückenden Frage - „Is Life Worth Living?“ als Ansatz einer Beantwortung entwickelt. Dieser Einschub geschieht jedoch nicht mit der Absicht, Schiller als chronologisch abgeleiteten Fall zu behandeln schlichtweg, weil dies nicht den Tatsachen entspräche89 - , sondern allein, um

86 Sturt (1906), S. 4 87 Lowell (1982) [„The Nihilist as Hero“], S. 94 - In der Übersetzung von M. Pfister: „Ein Nihilist will in der Welt leben, die ist“. Dies im Gegensatz zu der Einsicht einige Zeilen zuvor: „Life by definition breeds on change“ 88 Schiller (1912), S .V 89 Auch wenn die das Denken im wollenden und glaubenden Lebensvollzug verwur­ zelnde Kritik der Selbstgenügsamkeit des Wissens und damit seiner nicht-humanen Neutralität erst mit dem James’schen Terminus des Will to B elieve eine prägnante Kurzformel erhalten hat, so hat doch auch Schiller bereits in seinen Riddles (1891) diesen Gedanken in Unkenntnis von James Vorarbeiten (wie dessen „Sentiment of Rationality“, 1879/1882) eigenständig entwickelt, wenn er zu Beginn wie zum Ende Sätze schreibt (und damit sein gesamtes Projekt von diesem Gedanken getragen dar­ stellt) wie: „The faith in the rationality o f things, in the light of which we must read the ambiguous indications o f reality, is to be acquired by no reasoning. [...] And it is this incompleteness o f mere thought which philosophy recognizes when it leaves us with

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an alternative. This guards us against the delusion that intellectual assent is sufficent for life. [...] to understand a p r o o f is not to believe it. [...] For it is keenly conscious that without faith knowledge edifies not [ ...] “ Schiller (1891), S. 457f. - Herv. d. G.K.T. Letztlich muss man das Verhältnis von James und Schiller im Hinblick auf das, was im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts als Pragmatismus debattiert wurde, wohl schlicht als ein symbiontisches fassen. Diese Brüderlichkeit im Geiste ist jedoch keine zwillingshafte, wie sich gerade anhand der Beschäftigung mit dem philosophischen Problem des Pessimismus aufzeigen lässt. So ist James hierbei weniger als Schiller an der Entwicklung einer theoretisch durchde­ klinierten Kontrastideologie eines kritischen Optimismus interessiert, also an dem, was Letzterer mit seinem spekulativen H um anism us zu leisten versucht, stattdessen - und darin mehr dem Blick des Arztes treu, der er als Psychologe ebenso und vielleicht vor allem war u nd der auf die Selbst hei Iungsk rä fte des Patienten vertraut - begnügt er sich damit, die universelle Kontingenz und damit eben auch die Nichtnotwendigkeit des Pessimismus als Weltanschauung zu betonen: „there is no outward evidence - nothing but conceptions o f the possible.“ James (1875), S. 17. Dieses ärztliche Primat bei James zeigt sich nicht nur darin, dass er das Problem vor allem völkerpsychologisch (und amerikanisch) als geistiges Symptom der Alten Welt, präziser: als deutsche Lebensun­ tauglichkeit eingrenzt (und damit „far more o f an ethnic than a philosophic interest for us“ hat - ebd., S. 19), sondern auch in dem Vorwurf, den er an die philosophischen Pessimisten adressiert, gerade diese zeigten im reflexiven Eintreten für den Pessimis­ mus einen „astounding lack of genuine sense for the tragic“ und einen rein scholastisch gespeisten „perfectly morbid appetite for dogmatic forms o f thought“ (ebd., S. 18). Grundsätzlich schimmert hier die latent pejorative Konnotation des philosophischen Theoretisierens bei James durch (im Hinblick auf religiöse und künstlerische Extre­ misten, vulgo Genies, ist seine Wertung anders gelagert) - ein Theoretisieren, das den an sich immer schon gesunden, weil maßvollen Com mon Sense vor allem zu defor­ mieren vermag. Der philosophische Pessimismus ist für ihn damit auch genau das: Illustration einer „overweening tendency to theorize“ (Ebd., S. 13), die den Common Sense einseitig und extremistisch aus der Bahn zu werfen droht, einer Bahn, die doch an sich, dem Rousseau’schen Naturzustand nicht unähnlich, schon immer maßvoll auszutarieren und mit den Hürden und Hindernissen des Lebens umzugehen weiß: „Common-sense contents itself with the unreconciled contradiction, laughs when it can, and weeps when it must, and makes, in short, a practical compromise, without trying a theoretical solution.“ (Ebd., S. 17) Weit davon entfernt, damit sagen zu wollen, dass sich bei Schiller keinerlei Invektiven gegenüber dem fntellektualisieren finden würden, das Gegenteil ist der Fall, so ori­ entieren sich diese bei ihm jedoch nicht an der ärztlichen Logik pharmakologischer Dosierung i.S. des „Zuviel“, sondern, darin der klassisch philosophischen Perspekti­ ve treu, des richtigen und falschen Denkens. Dies zeigt sich auch interbiographisch: Während Schiller über Jahre hinweg nicht müde wurde, kritisch auf die Publikationen seiner philosophischen Gegner - allen voran Bradley - immer wieder in Artikeln und

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von vornherein in Assoziation wie Dissoziation zu James’ Version arbeiten zu können, wobei die vermeintliche Dissozation richtigerweise eher als eine me­ thodische Expansion des Gedankens durch Schiller zu lesen ist.

3.2 Exkurs: William James’ Konzept des „Will to Believe“ Mit dem unter dem Titel „The Will to Believe“ in den „Philosophical Clubs“ der Universitäten von Yale und Brown im Jahre 1896 gehaltenen Vortrag errichtet William James (1842-1910) das Einfallstor seiner eigenmächtigen Variation der von Charles Sanders Peirce unter dem Namen des „Pragmatismus“ positionierten Neubestimmung der nun primären Rolle des Praktischen zur Bedeutungs- und Funktionsbestimmung in den Angelegenheiten des Geistes - eine Eigenvariation von James und Schiller911- , die zwar in den darauffolgenden Jahren zum Abrücken*S .

Rezensionen einzugehen, hält James dies für ein müßiges Unterfangen. Im Briefwechsel zwischen beiden bereitet dieser Unterschied James spürbar Unbehagen und Sorge, denn genau darin ist Schiller gemessen an James’ rousseauistischerer Version tatsäch­ lich ein intellektualistischerer Pragmatist: ,,[Y]ou, for the pure please o f the operation, chase him [Bradley] up and down his windings, flog him into and out of his corners, stop him and cross-reference him and counter on him, as if required to do so by your office. [...] Refutations o f error should be left to the rationalists alon e.“ James (1907), S. 2 8 If. Herv. d. G.K.T. Diese Differenz in der Haltung zeigt sich auch in den Sätzen, die ihm James zum philosophisch-spekulativen Teil der Riddles in einer für ihn typischen, freundschaftlichdiplomatischen Art schreibt: sie sind „foreign to my range - I am too timid [ ...] “. Zit. n. Porrovecchio (2011), S. 28. James’ Glaube an die soteriologische Kraft des Common Sense jenseits kontaminierenden Denkens lässt sich als Differenz zwischen beiden auch in seiner soziologischen, auf die gesellschaftliche Stratifikation hin gewendeten Version verdeutlichen: Verbirgt James über weite Strecken kaum seine Thoreau’sche Verehrung des „simple man“, des Arbeiters, der den Sinn des Lebens in seiner Verbundenheit mit seiner Tätigkeit immer schon gefunden hat [vgl. dazu bspw. seine Aufsätze „On a certain Blindess in Human Beings" u. „What Makes A Life Significant?“ in: James (1899)], und damit eines Typus, von dem er selber qua Geburt in das Hause Jam es getrennt bleiben musste, so findet sich bei Schiller für einen solch aristokratischen „Selbsthass“ kein Äquivalent. Vielmehr sind bei diesem, vor allem in den Schriften rund um und nach dem Ersten Weltkrieg, geradezu gegenläufige Tendenzen feststellbar: ein explizites Herabschauen auf die Masse und ihre autoamouröse Reform-Inkompetenz bei gleichzeitigem Schaf-Verhalten gegenüber den „Eliten“, s. dazu Kap. 4.2.1-2. 90 Gab es seitens Peirce anfänglich noch eine Sympathie gegenüber Schiller und dies auch gerade in Absetzung von James’ Pragmatismus - „I was much tempted to write to him [James] that your [Schillers] notion of pragmatism was more in harmony with mine than his.“ [zit. n. Scott (1973), S. 3 7 1 ]-, so folgte nach einem mehrere Briefe

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des Gründers und zur Zuflucht in den Begriff des P ra g m a tiz ism u s führte („ugly enough to be safe from kidnappers“91), diesen gleichzeitig aber auch aus der von der Öffentlichkeit unausgeleuchteten Ecke, in der Peirce biographisch bis zuletzt sein Leben fristete, herausholte. Kurzum: ironischerweise war es die Häresie von James, die den Siegeszug des Pragmatismus zu einer länderübergreifenden Be­ wegung92 eingeläutet und damit auch Peirce’s Erbe ins öffentliche Bewusstsein rettend überführt hat. Bei Peirce findet sich noch ein Festhalten an einem objektiven Wahrheits­ und Weltverständnis, das dieser zwar nicht nur innerweltlich evolutionär verzeitlicht, sondern auch durch Anbindung an die wissenschaftliche Logik und den sie sanktionierenden wie subventionierenden Gerichtshof einer idealisierten scientific community experimentell für den prinzipiellen Einbruch der Kategorie des Neuen (Abduktion) öffnet; dem Individuum wird aber nach wie vor eine zu erfüllende Funktion als Gehilfe des gesamtevolutionären Ziels der Vernunftent­ faltung zugeschustert. Eine Einordnung, mit der Peirce der Tradition verhaftet bleibt, wenn man diese so versteht, dass das Individuum in ihr letztlich immer in einem festen Rahmen - sei dieser theologisch, politisch oder geschichtsphiloso­ phisch - konserviert wird. Dagegen ist es James, der sich zum rigorosen Anwalt des Einzelnen als ewige Anomalie und verfemter Dissident gegenüber einem S .

umfassenden, Zustimmung signalisierenden und sie dann wieder einkassierenden Hin und Her der endgültige Bruch durch den laborwissenschaftlich orientierteren Peirce („what we think in the laboratory“) gegenüber dem mundan-reformatorischeren Schil­ ler: „I have no hope o f finding you nearer to me because you want your philosophy to be the quintessence o f the whole man, I want mine to be no such thing. I want it to be scientific, logical and frigid”. Oder: „I for my part, am no Humanist. [...] Candied science offends my esthetic sense. I like it nude and severe.“ zit. n. Scott (1973), S. 372 u. 378. Die „Rache“ seitens Schiller folgte Jahrzehnte später im Artikel „Must Pragmatists Disagree?“, in dem er Peirce aus dem Autorenkreis authentischer Pragmatisten revisionistisch exkommuniziert, hätte dieser doch „completely under the spell o f the old elusive ideal o f mathematics, that of exactness1“ gestanden und damit dem intellektualistischen Ideal zugearbeitet, das der Pragmatismus hauptberuflich zu überwinden trachtet. Schiller (1939) [„Must Pragmatists Disagree?“], S. 63 Eine Demarkationslinie, die heute „selbstbewusst“ auf der anderen Seite nachhallt: In der Unterscheidung zwischen dem humanistisch-konstruktivistischen „pragmatism of the left“ und dem realistisch-objektivistischen „pragmatism o f the right“ durch Nicholas Rescher, dem wohl bedeutendsten Wandler auf Peirce’schen Pfaden der Gegenwart: Rescher (2000), S. 246f. 91 Peirce (1905), S. 335 92 Zur Bewegungsformierung in Frankreich (G. Sorel), Italien (G. Papini/G. Prezzolini) und Deutschland (W. Jerusalem) siehe die Kurzdarstellung von Shook (2006).

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jeden Großnarrativ in Stellung bringt, um ihn aus der Gefangenschaft eines blo­ ßen „Drehorgelstifts“ (Dostojewski) zu befreien und zu einem eigenständigen und vollwertigen Musikinstrument werden zu lassen, ja, mehr noch zu einem ganzen Orchester: der Unterschied zwischen Peirce und James wird derart zu­ gespitzt zu einem zwischen einer experimentellen Laborphilosophie und einem lebensphilosophischen Individualismus.93 In Letzterem versucht James jegliche der genannten monistischen Integrationsmaschinen in einen radikalen Plura­ lismus zu desintegrieren. Ohne diese einschneidende Diskontinuität gegenüber der klassischen Ordnungspolitik hätte der „Pragmatismus“ wohl niemals (von außen) als ein solches Skandalon und (von innen) als ein solcher Avantgardismus empfunden werden können.94 Diese Umkehrung der einzig legitimen Letztreferenz vom Gesamten zum Einzelnen hin zeigt sich im Fall der Entfaltung des Will to Believe als Frage der „justification of faith, a defence of our right to adopt a believing attitude in religious matters“95. Wie Schiller attestiert auch James eine allgemeine Tendenz zur Melancholie und zum Pessimismus, die es nicht nur beim koketten Flirt mit dem Selbstmord belässt, sondern sich zusehends tatsächlich auch mit diesem

93 Siehe hierzu: Martens (1975), S. 12-46 94 Zur Skandalträchtigkeit genügt ein Blick in die Mitschrift der Diskussion auf dem 3 . Internationalen Kongress fü r Philosophie 1908 in Heidelberg, der den Pragmatismus zum Schwerpunkt hatte und den hier in erster Linie zu vertreten Schiller eingeladen war (der Referatsinhalt wird in Kap. 3.4. genauer behandelt), auf dessen Vortrag der wohl deutlichste Aufschrei durch den Philosophen und Verleger Paul Carus erfolgte: „Der Pragmatismus komme zwar aus Amerika, aber, Gott sei Dank, hat die Bewegung noch nicht das ganze Land in Besitz genommen. D er Pragm atism us ist eine Krankheit, hervorgegangen aus der Sucht, etwas Neues und ganz Originelles zu schaffen. Was aber wahr daran ist, ist nicht neu und was neu ist, ist falsch.“ Peirce wird von dieser „Kritik“ explizit ausgenommen: „Peirce ist der einzige unter den Pragmatikern, der wirklich wissenschaftlich und scharf logisch denken kann, die anderen, besonders James, sind recht geniale Leute, Literateure und Feuilletonisten, die wie Novellenschriftsteller sch­ reiben, aber nicht wie wirkliche Philosophen.“ Schiller (1908a), S. 737 - Herv. d. G.K.T. S. zur weiteren Rekonstruktion der für die deutsche und europäische Wahrnehmung des Pragmatismus in der Folge so zentralen Debatten dieser Kongresstage: Oelkers (2009), S. 27ff. 95 James (1896) [„Will to Believe”], S. 1

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einlässt.96 Grund dafür ist eine „religious disease“97, die nicht darin besteht, dass der Mensch glaubt, sondern im Gegenteil darin, dass der Mensch glauben will, gar muss98, aber es in einem Zeitalter erfolgreicher Wissenschaft und durch sie dirigierter industrieller Revolution in ihrer faktischen Evidenz durch Verweis auf „bare facts“99 nicht mehr kann, sodass er in Konsequenz von einem „inner fever and discord“100befallen wird: zwischen einem reduktiven Naturalismus, von dem Gabriel Marcel (1889-1973), ein anderer Kritiker des szientistischen Nihi­ lismus, schreibt, dass er künstlich „große Kontraste einzuebnen“ versucht wie die der moralischen Qualifikation von Gut und Böse, um „eine blasse VortragssaalKlarheit über die Welt zu verbreiten“, eine Einebnung, die bezogen auf den lebensweltlichen Vollzug des Menschen unintegrierbar bleibt, will man „den See­ len [nicht] auch noch die letzten Spuren irdischer Hoffnung“101 rauben. Die einfache Rolle rückwärts in den vormodernen Glauben einer natürlichen Theologie, in der sich die Güte und Vollkommenheit Gottes gleichermaßen als dessen Schöpfung in eine natürliche Ordnung und Harmonie, ungetrübt durch den Druck einer Theodizee, übersetzt vorfindet und als solche nur noch geschaut zu werden braucht, ist für James als Lösung endgültig aus dem Spiel:

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„That life is not worth living the whole army of suicides declare, - an army whose roll-call, like the famous evening gun of the British Army, follows the sun round the world and never terminates. We, too, as we sit here in our comfort, must ‘ponder these things’ also, for we are one substance with these suicides, and their life is the life we share.” James (1896) [Essay: “Is Life W orth Living?”], S. 37. James macht hier mit seiner Betonung der Entprivatisierung des Selbstmords auf einen tatsächlich entscheidenden Punkt aufmerksam, ohne den seine andauernde Verfemung seitens der Gesellschaft nicht verstanden werden kann: Der Selbstmörder (Fälle wirklicher Geisteskrankheit exklusive) ist iMörder der die Gesellschaft tragenden Glücksevidenz und damit grundsätzliche Infragestellung des Lebens aller. Anders ausgedrückt: der Selbstmörder ist auch immer Terrorist. James (1896) [„Is Life Worth Living?”], S. 39 „The mood of levity, o f ,I don’t care1, is for the world’s ills a sovereign and practical anaesthetic. But, no! something deep down in Teufelsdröckh [Hauptfigur in Thomas Carlyles Sartor Resartus - G.K.T.] and in the rest of us tells us there is a Spirit in things to which we owe allegiance, and for whose sake we must keep up the serious mood.” James (1896) [„Is Life Worth Living?”], S. 43 Ebd., S. 41

100 Ebd., S. 43 101

Marcel (1942), S. 32

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„those times are past; and we of the nineteenth century, with our evolutionary theories and our mechanical philosophies, already know nature too impartially and too well to w'orship unreservedly and God whose character she can be an adequate expression.”1021034

Theologisch kann für James statt einer solch passivischen Anbetung des wis­ senschaftlich als amoralisch entlarvten Geschehens des natürlichen Prozesses „[vjisible nature is all plasticity and indifference, a moral multiverse, as one might call it, and not a moral universe“’05 - die Religion sich nur als Widerstand gegen die Hingegebenheit an das Gegebene manifestieren: „If there be a divine Spirit of the universe, nature, such as we know' her, cannot possibly be its ultimate word to man. [...] the initial step towards getting into healthy ultimate relations with the universe is the act of rebellion against the idea that such a God exists.“1“

Die Religion kann sich nicht aus einem Diesseits-, sondern allein aus einem Jenseitsglauben speisen, einem Glauben, der der sichtbaren Welt, dem Natur­ bild, das von der Wissenschaft immer weiter pittoresk ausgemalt und im glei­ chen Maße entzaubert wird, eine unwissenschaftliche ethische Dimension einer unsichtbaren Ordnung gegenüberstellt, in der das Gute als reales Ideal zu über­ leben und den Individuen Leben einzuhauchen vermag als Hoffnung, dass „the best things are the more eternal things, the overlapping things, the things in the universe that throw the last stone, so to speak, and say the final word.“105 Doch jenseits dieser religionsphilosophischen Frage verschafft sich ein an­ deres, für James (wie Schiller) weitaus fundamentaleres Problem Gehör: Im Zeitalter des sich durch Erfolge quasi selbstlegitimierenden Wissenschaftskults, dessen Lobbyvertreter verkünden, dass Wissen und Glauben sich nicht nur ausschließen, sondern dort, wo Wissen nicht hinreichen kann (s. Agnostizismus, Kap. 2.1.), Glaube in den Worten Du Bois-Reymonds nichts anderes als un­ männlich wäre, für den zeitgemäßen Vernunftmenschen so oder so unwürdig sei, sich eines Glaubensaktes, dieses maximal lebendigen Fossils, „heute noch“ zu

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James (1896) [„Is Life Worth Living?”], S. 43 Ebd„ S. 43f. Oder: „It [physical order of nature - G.K.T.] is mere w eather [...], doing and undoing without end.” Ebd., S. 52 Ebd., S. 44 - Herv. d. G.K.T. James (1896) [„Will to Believe“], S. 25. Dass sich James’ Sicht aufden theologischen Inhalt einer zeitgemäß wirksamen Religion ändert und in seinen The Varieties o f Religious Experience (1901/02) die Iherapeutik des Einzelnen derart in den M ittel­ punktgestellt wird, dass keineswegs nur noch rebellierende und den Kampf um eine veränderte Welt aufnehmende Katechismen in den engeren Kreis der Religionsop­ tionen eingemeindet werden, spielt für die hier nachzuzeichnende Argumentation keine Rolle.

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bedienen: Kann, ja darf also überhaupt noch an irgendetwas geglaubt werden?106 Eine Frage, die die nach der Stellung des Individuums zum Allgemeinen variiert, indem sie über den epistemologischen Wert des Einzelnen entscheidet. Denn wenn das System des Wissens tatsächlich ein sich selbsttragendes Ganzes wäre, das, indem es da ist und nur noch erkannt zu werden braucht, das Individuum entweder zu seinem bloß reproduktiven Sprachrohr oder nach Richard Rorty (1979) zu seinem „Spiegel“ werden lässt, dann muss dort, wo der Einzelne ge­ messen an der wirklichen Wirklichkeit etwas anderes ist, dieser als hinderlich wegrationalisiert werden, verdeckt er doch die im Wissen offenbarte Realität durch die Störung, Privation, Idiosynkrasie, die er ist. All dies zieht James in Zweifel, indem er die vermeintliche Autopoiesis von Objektivität und Wahrheit auf ihre Anbindung an vorlogische Strukturen wie Glaube und Wille der indi­ viduellen Menschen abklopft - mit der Einsicht, dass weder Wissen (religiösen) Glauben ablösen noch ihn auch nur delegitimieren kann, weil Wissen selbst auf einem vorgängigen Glauben fußt. Um sich der Frage nach der (Il-)Legitimität der Entscheidung zum Glauben zu nähern, untersucht James den Akt der Entscheidung überhaupt, der immer einer zwischen Möglichkeiten ist. Dabei zeigt sich, dass zwischen allen mögli­ chen offerierten Optionen nicht alle gleich stark wirken, weswegen James diese alternativen Hypothesen in „live“ und „dead“ unterscheidet: „A live hypothesis is one which appeals as a real possibility to him to whom it is proposed. If I ask you to believe in the Mahdi, the notion makes no electric connection with your nature, - it refuses to scintillate with any credibility at all. As an hypothesis it is completely dead!’107

Der Grund, warum manche vorgeschlagenen Optionen rein theoretisch-speku­ lativer Natur sind und dadurch faktisch als Optionen von vornherein wegfallen, während andere als existenziell reale erfahren werden, liegt darin, dass nur Letz­ tere mit der „passional and volitional nature“ (4) des Einzelnen in einem intimen Verhältnis stehen und so, statt nur theoretische Spielereien darzustellen, ihn zu einem Betroffenen und von diesen Angesprochenen werden lassen. Während

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Einen Vertreter der die Frage verneinenden Fraktion findet James vor allem in William Kingdon Clifford, dessen Fazit seiner The Ethics o f B elief (1877) James als Kontrastfolie zur eigenen Argumentation dient: „To sum up: It is wrong always, everywhere, and for every one, to believe anything upon insufficient evidence“. Clifford (1877), S. 175 James (1896) [„The Will to Believe“], S. 2 - Herv. d. G.K.T. In diesem Exkurs (3.2.) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben.

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für die heute Lebenden die Wahl zwischen ptolomäischem oder kopernikanischem Weltbild als künstlich konstruiert an sie herangetragen werden müsste, insofern dem ptolomäischen Weltbild keinerlei Wahrscheinlichkeit zukommt, es heute chancenlos unwahr ist und damit die Wahl sich mangels eines tat­ sächlichen Widerstreitpotentials irrealisiert, hatte sich eine solche Wahl im 16. Jahrhundert dagegen den Menschen als tatsächliche präsentiert, denn beide Hy­ pothesen waren insoweit lebendig, als es bei gefällter Entscheidung eine „ten­ dency to act on it“ (6) gab, es damals innerhalb ihres geschichtlichen Orts in der Tat eine bedeutsame und damit zu leistende („forced“ statt „avoidable“) wie folgenschwere („momentous“ statt „trivial“) Wahlmöglichkeit war. Abstrakter formuliert ist eine solche nicht bloß konstruierte Option - im Fall des religiösen Glaubens dient James als eine solch künstliche und damit unwirksame Options­ szenerie die P ascal’s che Wette (5f.)lul’ - dann gegeben, wenn dafür ein gewisser Plausibilitätsrahmen vorhanden ist: „born of the intellectual climate, that make hypotheses possible or impossible for us, alive or dead.“ (9) Der Zeitgeist und die ihn inkarnierende wie reproduzierende Institutionalisierung als „social system“ (ebd.) entscheidet über den letzten Wahrscheinlichkeitsrahmen und damit über lebendige wie tote Hypothesen, da es den Pool der gesellschaftlich eingeräumten Handlungsformen im Leben der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft - ihrem „scheme of life“ (10) - vorgibt: „As a rule we disbelieve all facts and theories/or which we have no use.“ (ebd.) Dies hat für das Verständnis vom Verstehen zur Folge, dass „our non-intellectual nature does influence our convictions“ (11). Doch jenseits dieser weiten Relativierung einer strikt antinomischen Fassung von Rationalität und Irrationalität (Wille, Glaube und die sie relativ fördernden und unterdrückenden gesellschaftlichen Dispositive"19) geht es James vor allem1089

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James Kritik an der Wette besteht darin, dass es sich bei ihr bloß um ein logisches Szenario handelt, das die Religiosität nicht als lebendige Hypothese begreift, sodass darin nur aus einem souveränen Utilitarismus heraus auf den Glauben gesetzt wer­ den kann, verspricht dieser doch im Unterschied zum Nichtglauben einen absoluten Gewinn (ewiges Heil). Dabei verkennt James jedoch, dass die Wette nur ein Teil von den „Pensées“ Pascals ist, die en bloc als Verlebendigungsversuch des Religiösen zu sehen sind, und übersieht ebenso die in ihr enhaltene Vorwegnahme der von ihm selbst artikulierten Kritik am Agnostizismus als unmöglicher Position: „aber man muß wetten; es steht nicht in unserem Belieben. Sie sind nun einmal im Spiele.“ Pascal (1670), S. 41 - Herv. d. G.K.T. Dass ihn diese Fragen der überindividuellen Ermöglichungsbedingungen von Ur­ teilsfindungen - seien diese anthropologisch oder sozial - an dieser Stelle kaum interessieren, zeigt sich dadurch, dass er schlicht auf die Schriften des Philosophen und späteren Premierministers von Großbritannien Arthur Balfour (1848-1930)

um einen spezielleren Angriff: gegen die aus dem Geist der wissenschaftlichen Methode geborene Haltung der Glaubensrestriktion bei Ermangelung empiri­ scher Evidenz, welche allein Grundlage des zur Kenntnis nehmenden „Wissens“ sei. Der eigentliche Gegenspieler, der einer Rechtfertigung des Glaubens und nach James damit einer Kurierung des am entzaubernden Zeitgeist leidenden Einzelnen im Wege steht, ist nicht der Atheist, insofern dieser an die Nichtexis­ tenz Gottes glaubt, sondern der Lobbyist der Generalisierung der „attitude o f sceptical balance“ (20): der scheinbar nichts aufs Spiel setzende, weil, solange die Beweislage nicht eindeutig ist, sich steril enthaltende Agnostiker, dessen Lebens­ maxime „wait [...] till doomsday, or till such time as our intellect and senses, working together may have raked in evidence enough“ James als „the queerest idol ever manufactured in the philosophic cave“ (29f.) anklagt. Dabei ist es nicht so, dass James einen solchen auf Distanz setzenden Typus des „pure judging mind“ an sich kritisiert, im Gegenteil: In seinen Augen hat er vor allem dort seine Berechtigung, wo Sorgsamkeit möglich und nötig ist wie bei Gericht („law courts“ [20]) und einer von diesem zu leistenden indizienhaften Aufklärung eines Tathergangs im Dienste der Ermittlung und Aufdeckung vergangener Schuld. In Fällen wie diesen gilt: „decisions for the mere sake of deciding promptly and getting on to the next business would be wholly out of place.” (ebd.) James’ Kritik zielt also nur gegen die Entgrenzung dieser Haltung auf alle Lebensbereiche hin, die darin zum wirkungsmächtigsten Veto gegen das Freisetzen empirisch (noch) ungedeckter religiöser Energien wird. Hier wie in den Bereichen der Moral oder zwischenmenschlicher Beziehungen, in Räu­ men also, die aufgrund ihrer prospektiven Ausrichtung auf die Herstellung zu­ kunftsweisender Situationen angelegt sind und mangels Absicherung durch das Präteritum keine richterliche Distanziertheit, die sich immer zu einem bereits Geschehenen verhält, zulassen, stellt eine solch skeptische Maxime der Selbst­ zurücknahme nicht nur ein Hindernis, sondern, wie James mit einer reductio ad absurdum zeigen will, eine törichte Widersinnigkeit, eine „insane logic“ (25) dar, denn hier gilt, dass es erst der Glaube ist, der die Tatsache schafft. Der Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen sowie juristischen Areal einerseits und dem moralischen sowie sozialen andererseits liegt darin begrün­ det, dass Ersteres es auf die Erfahrung des faktisch Gegebenen abgesehen hat,

verweist: „Mr. Balfour gives the name of .authority' to all those influences." James (1896) [„The Will to Believe“], S. 9. Zu dieser sozialen Genese und Kontextualität wird Schiller mehr sagen können.

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während Letzteres auf einen Bereich zielt, in dem die Faktizität normativ, das Sein ein Sollen ist. „A moral question is a question not of what sensibly exists, but of what is good, or would be good if it did exist. [...] If your heart does not want a world of moral reality, your head will assuredly never make you believe in one.“ (22f.) Ebenso gilt für den Sozialakteur: „A social organism of any sort whatever, large or small, is what it is because each member proceeds to his own duty with a trust that the other members simultaneously do theirs.” (24)

In einer späteren, klassisch gewordenen Formulierung zielt die james'sche Kritik schon hier implizit gegen die Idee eines in allen Bereichen menschenunabhän­ gigen und fertigen „block-universe“, das dadurch eine rein passive Perzeption zulässt bzw. unter Objektivitätsstandards geradezu aufklärerisch einfordert.11" Denn es gibt (mindestens) einige Bereiche, von denen gilt, dass sie entweder erst durch Teilnahme mitproduziert oder umgekehrt durch Entzug (potentiell) destruiert werden. Tertium non d atu rest.nl10

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In dieser Hinsicht könnte man James’ Ansatz als eine aktivistische Variation der bereits und gerade von Platon geübten Kritik am Zuschauer beschreiben, der an der bloßen Erscheinung hängen bleibt und niemals zur Wahrheit selbst durchzudringen vermag. Unterschieden durch den Aktivismus seitens James sind die beiden Kritiken dennoch: Fällt doch das, was Platon dem in der kontemplativen Schau der die Er­ scheinungen konstituierenden Ideen entgegenhält, mehr als zweitausend Jahre später als Teil des „Intellektualismus“ unter das, was sich auf eine „world o f generalized objects“ bezieht und sich dadurch von der „world of living individualized feelings“ „without solidity or life“ [James ( 1902), S. 387] unterscheidet und somit nicht mehr als das Andere des bloß passiven Zuschauens, ja als intensivste Aktivität (wie bei Platon) gefasst werden kann. Eine vermittels des empiristischen Paradigmas vollzo­ gene Transformation des semantischen Gehalts von Aktivität, die keineswegs nur den anachronistischen Konflikt zwischen Platon und dem Pragmatismus konstituiert, sondern auch den historisch realen zwischen den Pragmatisten und dem wohl größ­ ten Platoniker des 20. Jahrhunderts: George Santayana. Ein Außenseiter seiner Zeit, auf den ich in Kapitel 3.5 zurückkomme und dem Schiller attestiert - dies sei bereits erwähnt, weil es die hier inhaltlich angesprochene Distanz zu James biographisch erweitert - , dass er, als ,,[t]he one exception to this rule that I observed“, sich von der Persönlichkeit und Aura von James nicht hat einnehmen und zu „confidence as well as admiration“ hinreißen lassen: „He and James seem to have been naturally antagonistic and antipathetic to each other“. Schiller (1934) [„William James“], S. 62

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Durch den nicht ganz glücklich gewählten Aufbau seines Aufsatzes findet diese erst zum Ende hin theoretisch explizierte Einsicht bereits relativ unvermittelt im ersten Drittel ihren sprachlich prägnantesten Ausdruck, hier allerdings noch mehr gegen

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Auf die Beispiele des Sozialen wie der Moral gemünzt: Der sich zurückzie­ hende sozialwissenschaftliche Beobachter kann nur deswegen existieren, weil sich nicht alle zurückziehen. Er nimmt keine neutrale Stellung ein, sondern eine latent desozialisierende, die nur dadurch nicht deutlich zutage tritt, weil die Masse der Leute sich nicht gleichermaßen zurückzieht, sich, weiter an das rezip­ roke Verhalten untereinander glaubend, dementsprechend verhält und dadurch das Vertrauen, das im Unterschied zur Naturbetrachtung nicht einfach wie die Himmelskörper am Firmament menschenindifferent vorgefunden wird, zum Ursprung der sozialen Tatsache werden lässt. Eine Gesellschaft von Beobachtern würde im Umkehrschluss sich selber unmöglich machen, da sie dadurch den Gegenstand ihrer Beobachtung - im Unterschied zur Beziehung des Physikers zur Materie - negierte.*112 Eine ontologische Vorrangstellung der a-moralisierten physikalischen Re­ konstruktion des Universums anzunehmen, d.h. zu behaupten, an sich sei das Universum ein reines Bad des Wechselspiels von atomaren Kontraktionen und Retraktionen und der Mensch würde darauf derivativ moralische Kategorien projizieren, hieße hiernach nicht, eine neutrale Stellung einzunehmen, sondern bereits faktisch Pessimist zu sein, da eine moralische Sicht auf das Universum lebenspraktisch sich niemals als nachträgliche Humanisierung eines an sich un­ wirtlichen und menschenfeindlichen Kosmos verstehen kann; schließlich hieße dies, sich selbst eine bewusste Lüge glauben lassen zu wollen. Was in diesen beiden Bereichen der Moral und Gesellschaft gilt, gilt für James nicht zuletzt auch für den religiösen Glauben: Denn wenn, wie oben angerissen, dieser in der Hoffnung auf Wirksamkeit eines aktiv rebellierenden Optimismus der Verbesserung statt der Anbetung des natürlich Vorgefundenen besteht, so ist dies eine prospektive Affirmation, in der das Universum nicht mehr als eine fixe

die naive Oppositionsstellung von Intellektualität und Nicht-Intellektualität gewen­ det: „Yet if any one should thereupon assume that intellectual insight is what remains after wish and will and sentimental preference have taken wing, or that pure reason is what then settles our opinions, he would fly quite as directly in the teeth of facts.“ 112

James (1896) [„The Will to Believe“], S. 8 Wie diese überspitzende Formulierung schon deutlich macht, handelt es sich hierbei, wie selbst - wenn auch dort weniger - im Fall der Amoralisierung, um eine fiktive Übertreibung zur Verdeutlichung der eigentlichen These, dass es Bereiche gibt, in denen Glaube an X erst X wirklich werden lässt. Denn niemand kann sich ganz und gar auf die Beobachtung zurückziehen, will er nicht durch Vernachlässigung seiner Primärbedürfnisse, die selbst über den Umweg der sozialen Regelung organisiert und befriedigt werden, zur völligen Selbstnihilierung abgleiten.

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Sache erscheint, sondern zum Teil eines sich wandelnden Prozesses der Interak­ tion zwischen Gott und Mensch wird113, die kategorisch nicht nach der sich he­ rausnehmenden Aufdeckung von etwas bereits Realisiertem (Gericht - Straftat) oder sich selbst Realisierendem (Wissenschaft - Naturgesetze) gefasst werden kann, insofern sie praktisch gelebt werden muss, um sich als reale beweisen zu können. Wie im Fall einer Freundschaft zweier Menschen ist eine zum Großteil erfahrungsunbegründete, weil vorgeschossene Aktivität von Freundschaftsbe­ kundungen oder zumindest -annäherungen ursprünglich nötig, um die Erfah­ rung, die wiederum a posteriori die Wahl der Freundschaftsannahme stützt, zu erzeugen.114 Die reine Beobachtung wäre hier geradezu unwissenschaftlich und irrational, weil sie ihre eigene Stellung als „Neutralität“ in einem Bereich des Handlungszwangs, in dem es keine Neutralität geben kann, wider der objektiv auf Teilnahme drängenden Situation verklärt: ,,[W]e m ay wait if we will, [...] but if we do so, we do so at our peril as much as if we believed. In either case we act, taking our life in our hands.“ (30 - Herv. d. G.K.T.) Für James ist damit der Agnostiker ein verkappter Atheist: Da er sich in seinen Handlungen als dem Maßstab des Glaubens nicht von einer religiösen, sondern wissenschaftlichen Überzeugung leiten lässt, nimmt er sich nicht aus dem Spiel des Dafür oder Da­ gegen heraus, sondern macht die Religion für sich lebensweltlich unmöglich, ist sie eben nicht als natürliche Theologie im Sinne eines labor-verifikationistischen Verfahrens erkennbar, geschweige denn beweisbar. Der Agnostiker setzt dem Lebensmodell des Theisten ein anderes Lebensmodell aktiv entgegen - und dies nicht auf Basis von Wissen um die religiöse Sphäre, da diese ja erst betreten wer­ den kann, indem sie durch Glauben real wird, so wie sie umgekehrt durch Un­ glauben irreal wird (und nicht einfach neutral: ist). Es handelt sich für James also um eine Urentscheidung, bei der sich keiner einem Glauben entziehen kann sei es an ein Universum, in dem dem Menschen eine zentrale, schicksalhafte Rolle zukommt, oder an eines, in dem er nichts anderes als eine bloß unbedeu­ tende temporäre Molekülanordnung ist. Ein Glaube, der sich erst in der Fol­ ge tendenziell - Konversionen können in beide Richtungen nie ausgeschlossen werden - selber wahrscheinlicher macht, indem Atheist und Theist der Welt in

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„The more perfect and more eternal aspect o f the universe is represented in our religions as having personal form. The universe is no longer a mere It to us, but a Thou, if we are religious; and any relation that may be possible from person to person might be possible here.” Ebd., S. 27f. Das Bsp. ist ein von James selbst gewähltes: Ebd., S. 23t.

unterschiedlichen Schwerpunkten und Färbungen begegnen und bestimmte Er­ fahrungen als Indizien für die eine wie die andere Seite anordnen. Diese Grundfigur von James, nach der es Bereiche gibt, in denen der Mensch unmöglich seiner Ko-Autorschaft der Realität in ein verantwortungsfreies Ste­ nographen- und Protokollantentum entkommen kann, er nicht dem Universum in all seinen Facetten allein parasitär beiwohnt, sondern darin aktiv seine Ebe­ nen miterzeugend eingelassen ist, ist als Grundfigur auch für den m ethodischen Humanismus Schillers nicht nur leitend, sondern findet sich hier in geradezu maximal expandierter Form wieder11516. Für Schiller gibt es keinen für den M en­ schen erfahrbaren und insofern relevanten Bereich, in dem das menschliche Element nicht konstitutiv an der Hervorbringung der Objektivität partizipiert. Nicht nur im Hinblick auf Moral, Gesellschaft oder Religion - nirgendwo kann für ihn die Suche nach einer von Menschenhand unberührten Wahrheit er­ folgreich verlaufen, im „besten Fall“ wird der Mensch schlicht als Ghostwriter unkenntlich gemacht. So kann Schiller sich noch tiefgreifender gegen den skep­ tischen Bruch zwischen Kosmos und Mensch therapeutisch wenden: Der Kos­ mos kann nicht opak, unintelligibel, ja menschenfremd bis -feindlich sein, ist er doch immer (zumindest in seinen den Menschen tangierenden und für ihn re­ levanten Bereichen) auch Menschenwerk und unterliegt so qua Verbundenheit einer (relativen) Gleichartigkeit und damit Erkennbarkeit durch den Menschen: „We may not, therefore, so treat our knowledge of the self as primary and our knowledge of the world as secondary [...]. It is truer to treat the knowledge of each as defining the other, and to say that the world cannot be known without knowing the self, nor the self without knowing the world.“' 16

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Shook (2006), S. 45. Es ist diese grundsätzliche Weitung der Anklage gegen jegliche menschensubtrahierende Obiektivitätslehre, die auch schon James selber in seinen „Pragmatismus“-Vorlesungen alsprincipium individuationis der Schiller’schen Phi­ losophie hervorhebt. James ( 1907), S. 157-176 Schiller (1907a), S. 470

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3.3 „Alles Gewordene hat Geschichte“11 „Make much of dear old [Harald] Höffding, who is a good pluralist and irrationalist. [...] Lecturing to my class, he told against the Absolutists an anecdote of an .American' child who asked his mother if God made the world in six days. ,Yes.‘ - .The whole of it?' ,Yes.‘ - .Then it is finished, all done?' - ,Yes.‘ - .Then what business now is God?' If he tells it in Oxford you must replay: .Sitting for his portrait to Royce, Bradley and Taylor.’“ W. James in einem Brief an Schiller 1904l,s

Ferdinand C. S. Schiller beginnt seine Argumentation, die, wie in 3.1. beschrie­ ben, nicht in eine festgefahrene philosophische Debatte direkt einsteigen, sondern sie indirekt, von außen reflektierend aushebeln will, mit der metaphilo­ sophischen Frage überhaupt, ob nicht selbst die unterschiedlichsten philosophi­ schen Positionen auf einen gemeinsamen Boden gestellt werden können, wenn dieser auch in äußerster Unspezifikation gefasst werden muss, um als überphi­ losophisch gelten zu können, und kommt dabei zu „two fundamental points of initial agreement“: „The first of these is that the whole world in which we live is experience and built up out of nothing else than experience. The second is that experience, nevertheless, does not, alone and by itself, constitute reality, but, to construct a world, needs certain assump­ tions, connecting principles, or fundamental truths, in order that it may organise its crude material and transmute itself into palatable, manageable, and liveable forms.”117819

Es sind dies die beiden Pole des philosophischen Spektrums, die je nach gestei­ gerter Isolation des einen Aspekts - des Erfahrens - zum „old empiricism“ und des anderen Aspekts - des Ordnens - zum „apriorism“ (Rationalismus) füh­ ren, deren jeweilige axiomatische Einseitigkeiten der Zuspitzung im Hinblick auf eine der Seiten in Aporien in Bezug auf die Ganzheitlichkeit menschlichen Lebens enden und trotz ihres vermeintlichen Antagonismus gerade darin kon­ vergieren, dass sie das menschliche Handeln in der Zeit entweder gar nicht anerkennen oder auf einen erkenntnisindifferenten Rang verweisen. Dieser Be­ fund kulminiert bei Schiller im Vorwurf, dass beide Extreme faktisch auf ein

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Dies der Titel einer Anthologie zur französischen Historiker-Schule der Annales: Middell (1994) James (1920), S. 216 Schiller (1902), S. 51 - Herv. i.O. In diesem Unterkapitel werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben.

und demselben „intellectualism“ (65) fußen, d.h. hier: auf der Annahme einer fixierten Ordnung, aus der sich Erkenntnis und Verstehen ergeben und ablei­ ten lassen, auch wenn diese Ordnung einmal ins Objekt (Empirismus) und das andere Mal ins Subjekt (Rationalismus) eingeschrieben ist. Doch auch wenn ein Wegrationalisieren des zeitlichen Prozesses beiden inhäriert, d.h. „neither the one nor the other leaves room for a real growth in the intrinsic powers of the mind“ (67), ist es vor allem der Apriorismus, auf den es Schiller abgesehen hat: „But to castigate empiricism is to flog a dead horse; to go on an expedition against apriorism is to plunge into an unchanted forest in which it is easy to miss the truth by reason of multitude of .universal and necessary truths' which bar one’s way.” (68)

Während der Empirismus „a purely passive mind“ konstruiert, um diesen in der Folge allein sich prägen zu lassen von einer „already made external world“ (65) mit dem erkenntnistheoretischen Ziel des gleichfrequenzartigen Einschwingens in die menschenunabhängige Frequenz, geht der Apriorismus zwar von der prägenden Aktivität und Leistung der Verstandesform gegenüber dem Material aus, konstruiert die dies leistenden Kategorien wie die der Identität, Substanz oder Kausalität aber als „mere brute facts o f our mental organisations“ (84), die als unableitbare Aprioritäten nur noch so erklärt werden können, dass sie nicht weiter erklärt werden können: auf die Welt gekommen „by a sort of virgin birth“120. So wird dieser scheinbare Primat des Aktiven der „a priori machinery made in Germany“ (75) dadurch erkauft, dass er vom Zeitlichen, Wandelbaren und Werden des realen psychologischen Vollzugs des Menschen formalisierend abstrahiert wird und letzterer Bereich nur noch als obskure, negative Kontrast­ folie, eben als Bereich des Unreinen herhalten kann. Beide Sphären sind „either entirely disconnected or connected only among themselves“ (84) oder anders ausgedrückt: „If [... ] the whole theory of knowledge is treated as a pretty structure which need comply only with logical canons of formal consistency, the actual reality and de facto use of the axioms is thrust down our throats.“ (83)

Die ewige Aktivität der Prägemaschine „transzendentales Subjekt“ bedeutet für Schiller die Passivität des als Organismus in und mit der Welt existierenden und sich entwickelnden Menschen. Es ist diese theoretische Kaltstellung der Praxis als gleichartige Konsequenz von Empirismus wie Apriorismus, die in Schillers Augen immer wieder Öl ins Feuer der skeptizistisch-pessimistischen Grundprämisse der Geschiedenheit von Geist und Realität als „fundamental incommensurability of

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Schiller (1939) [“The Ultra-Gothic Kant”], S. 119 71

man and his experience“ (121) gießen muss. Diese Geschiedenheit wird hier von Schiller in Form einer handlungstheoretischen Übersetzung des Psychologie-Pro­ jekts von James angegriffen, hatte dieser doch dort den „stream of thought“ - wie auch Schiller in der Folge das Geflecht postulatorischer Praktiken - als irreduzib­ les und initiales Minimum des Bewusstseins gegen seine künstliche Atomisierung (Hume) oder Scheidung in Kategorien (Kant) aufgedeckt.121 Der Schlüssel für eine wirkliche Alternative, die den gnostischen Riss zwi­ schen einem unreinen Diesseits und einem jenseitigen Reich der Vernunft kittet, bietet sich für Schiller in der philosophischen Aufnahme der Evolution. Diese, zum Rahmen des Philosophierens erklärt, bedeutet hier vorerst die Annahme eines Integrationsrahmens122123, in dem sämtliche Phänomene und Aspekte des menschlichen und außermenschlichen Lebens und darüber hinaus des Anorga­ nischen ohne kategoriale Unstimmigkeiten sowie Abstufungen der Realitätsgra­ de Platz finden, sodass Mensch wie Stein reale Teile der Wirklichkeit sind, und Letztere wiederum so konzipiert sein muss, dass beide in ihren unterschiedlich ausdifferenzierten Formen als Teil der Wirklichkeit zugelassen werden. ,,[I]t may be boldly laid down that no explanation of the world can be successful which forgets that the world is essentially one and indivisible and that it parts cannot be explained in isolation, but only in conjunction.“12:'

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S. hierzu James (1890), S. 188-223 Wie im nächsten Hauptkapitel gezeigt wird, ermöglicht die evolutionäre Perspek­ tive neben dem für den hier behandelten m ethodischen H um anism us deskriptiven Interaktionismus der Teile als Realitätsbildung auch eine normative Sicht auf die menschliche Aufgabe im Kosmos als Grundlage von Schillers spekulativem H u m a­ nismus. Dass auch der Darwinismus selber und damit von Schillers Instrumentalisierung unabhängig gegen beide - Realism us wie A bstraktionism us - ins Felde zieht und sich damit für das philosophische Vorhaben als Vehikel besonders eignet, wird gerade in heutigen Debatten um die Evolutionstheorie als vermeintlich reines Argument ge­ gen „geistig Abstraktes“ zugunsten eines klischeeisierten wie ideologischen Begriffs des „Handfesten“ und „Greifbaren“ ignoriert. Doch im Darwinismus findet eine zeitliche Streckung von sich manifestierenden Wirkungsweisen von Prinzipien als einer äußerst langsamen, nicht beliebig im Labor reproduzierbaren und auch nicht vorhersagbaren Abänderung von Arten statt, die zu einer Abwertung der „role of empirical evidence“ führen müssen. Kuklick (2001), S. 99. Anders formuliert: Der Darwinismus ist nach Maßgabe des naiven Empirismus ein hochgradig spekulati­ ves Unterfangen - eine Tatsache, die Schiller für die weiten Wege, die er in seinem spekulativen H um anism us beschreitet, auszunutzen weiß. Schiller (1891), S. 150 - Herv. d. G.K.T.

Diese Grundevidenz, dass jede Isolation immer eine Auswahl aus einer grund­ legenden Interaktion aller Erscheinungen untereinander darstellt, die in letzter Instanz Natur genannt werden kann, verbietet, vorgenommene Parzellierungen und Vereinzelungen als an sich einzig bedeutsame Elemente für das Ganze zu nehmen124. Gemünzt auf das bisher behandelte Problem, heißt dies für Schiller, dass die höheren Verstandesleistungen, die der Rationalismus von den restlichen separiert, nicht nur mit den anderen, niederen Zusammenhängen müssen, son­ dern als Teile zum Organismus „Mensch“ gehören und sich mit diesem in seiner für ihn konstitutiven Interaktion mit der Umwelt historisch-genetisch gebildet haben: ,,[T]o bring out seperately the aspects of this central fact which empiri­ cism and apriorism severally misinterpret, we may say that the organism is active and the organism is o n e (84 - Herv. i.O.) Der Empirismus ist es, der verkennt, dass es in diesem responsiven Verhält­ nis von Organismus und Umwelt keine völlige Passivität geben kann, da selbst die größte Ruhe und Stabilität eine ist, die der Organismus mit und gegen seine Umwelt als relativ stabilen Ausgleich aktiv erreichen muss. Hat das Aufdecken der kategorialen Eigenständigkeit des Lebendigen gegenüber der unbelebten Materie durch die Biologie eines gelehrt, so ist es für Schiller, dass das Leben­ dige als Leistung ein Wagnis kreativ-aneignender Beziehung zwischen Organis­ mus und Umwelt ist, das heißt, dass diese zielorientierte Interaktion besser oder schlechter erfüllt werden kann, sie ebenso als Grund des Leistungscharakters der Lebendigkeit permanent der Gefahr unterliegt zu zerreißen, relativ wie absolut „fehl“ zu gehen, wobei die Folge des Letzteren schlicht das Ableben wäre. Der Subjekt-Archetyp, der einer reinen passiven Imprägnierbarkeit wohl am nächs­ ten kommt, ist damit der Leichnam.125

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„Is it not in short an unavoidable methodological defect o f any .epistemological' argument that it must rest on an arbitrary selection of fundamental assumptions?”, Schiller (1902), S. 73 - Herv. i.O. Und einige Seiten weiter heißt es in Bezug auf den Menschen: „Our nature is one, and however we distinguish, we must not be beguilded into forgetting this, and substituting a part for the whole.” Ebd., S. 86 Wobei diese Argumentation zu früh endet, denn selbst das Anorganische besteht in Interaktionen, ist sowohl aktiv wie passiv, auch wenn diese Interaktionen nicht organisch von einer zweiten Ebene her (Bewusstsein/Wille) kontrolliert vollzogen werden: „As it [being - G.K.T.] ceased to affect the rays o f light, it would become invisible: as it ceased to resist penetration it would become intangible; as it ceased to produce vibrations in the air, it would become inaudible; as it ceased to attract other bodies, it would cease to be material, etc, until the cessation o f its last activity, the last quality that distinguished it from nothing, would pass away, and it would 73

Der apriorische Rationalismus dagegen ist es, der verkennt, dass die höheren Verstandesleistungen keine reinen und neutralen Kategorien sind, insofern diese auch zum Organismus gehören und dieser als Ganzer aktiv ist und reagiert: „In the fierce struggle for existence we need all our forces, and require a compact con­ trol of all our resources to survive. The organism, therefore, cannot afford to support a disinterested and passionless intelligence within it, which hovers unconcerned above the bloodstained battlefields of progress, or even sucks a ghoulish and parasitic sustenance from the life-blood of practical striving.” (85) S i c h in d ie k a n t i s c h e A r c h i t e k t o n i k b e g e b e n d , s p r ic h t S c h i l l e r v o n d e r „ s u p r e ­ m a c y o f th e P r a c tic a l o v e r th e T h e o r e tic R e a s o n ” ( 8 8

126

)126, w a s b e d e u t e t ,

d ass d e r

vanish utterly. A nd thus we see that qualities are activities, an d that existence without qualities is im possible”. - Schiller (1891), S. 441 - Herv. d. G.K.T. Über die Beziehung des „klassischen Pragmatismus“, hier als Totum pro p a rte für Schiller, sei angemerkt, dass die von Rorty geprägte Formulierung, der Pragmatis­ mus - hier in der Version von Dewey als dessen für Rorty vorbildlichstem Vertre­ ter - bestehe aus der produktiven Kopplung der naturalistischen Evidenz Darwins mit dem ganzheitlichen Historismus Hegels (Rorty (1994)], den kantischen Einfluss größtenteils verdunkelt: nicht nur bei der Namensgebung des Pragmatismus, son­ dern gerade bezogen auf Einsicht und Widerstreit, dass es bei der praktischen wie theoretischen Vernunft einerseits „doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann“ [Kant (1786), S. 16], gleichzeitig aber diese in einen antinomischen Kon­ trast gebracht wird, wonach „man dem übersinnlichen Gebrauche der Kategorien [Gott, Freiheit, Unsterblichkeit - G.K.T.] in der Spekulation objektive Realität ab­ sprechen“ muss „und ihnen doch, in Ansehung der Objekte der reinen praktischen Vernunft, diese Realität zugestehen könne“ [Kant (1788), S. 109]. Es ist diese paradoxe Frontstellung, die für Schiller, wenn der Pessimismus einer M ensch-W elt-Inkongruenz vermieden werden soll, eine Unlebbarkeit darstellt: „For if the suprasensible and noumenal does not really exist, it is both futile and immoral to tell us to believe in it on moral grounds; the belief in it is an illusion, and will fail us in the hour o f our direst need. [...] We cannot act as i f the existence of God, freedom, and immortality were real, if at the same time we know that it is hopelessly inaccessible and indemonstrable.” [Schiller (1902), S. 89] Letzte Ausfahrt: „the Critique o f Pure Reason must be not merely revised, but re-written. It must be re-written in the light o f the principle o f the Postulate. [...] Kants three Critiques must be combined into one.“ Schiller (1902), S. 90 - Herv. i.O. Es ist kaum zuviel gewagt, wenn man diese allgemeine Formulierung vor allem als eine konkrete Be­ schreibung des eigenen Projekts von Schiller liest, sodass gilt, dass sich die - trotz seiner teilweise aggressiven Kant-Polemiken [s. Schiller (1920) oder: Ders (1891), S. 35-53] - kritische Distanzierung vom kantischen Apriorismus selbst als Teil des von Kant gezeichneten Horizonts von diesem leiten lässt.

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Mensch in seiner konstitutiven Gefährdung und Not nicht erst dann handeln kann, wenn er theoretische Gewissheit erlangt hat, sondern er qua Postulieren von Prinzipien experimentieren muss, ob diese Hypothesen sich durchhalten lassen, um sie gegebenenfalls fallenzulassen, abzuändern und soweit auszubauen, bis die anfängliche Ungewissheit in eine relative Sicherheit überführt ist und diese eine routinisierende Anwendung erlaubt.127 Diese allmähliche Entwicklung von im Ausgang existenziellem Wünschen, Hoffen und Glauben als Keime zu erproben­ der Hypothesen bis hin zu deren Aufblühen als relative Verfestigung zu wirksa­ men Prinzipien bedeutet im Umkehrschluss, dass diese (Erkenntnis-)Prinzipien „were not always such superhuman heroines as they now appear, and that they have arrived at their present degree of serene exaltation from quite simple and lowly origins.“ (80)

Gesehen durch dieses von Schiller vorgeschlagene evolutionäre Modell eines Werdens von unten nach oben128, verstanden als eine zeitlich geronnene Komple­ xitätssteigerung, setzt der Rationalismus bei den obersten, d.h. am längsten wil­ lentlich erprobten sowie nach Anforderungen unterschiedlich ausdifferenzierten und darin zum lebensweltlichen Standard habitualisierten Postulaten an, um die­ se abstrakt zu ersten Axiomen qua Entzeitlichung und Verewigung zu verzaubern und so ex post zu unterstellen, sie seien schon in der Vergangenheit in der Art wirksam gewesen sowie auch in der Zukunft weiterhin in der Art wirksam, wie die Prinzipien in der Gegenwart verwendet werden, sodass ihr Bezug zur Praxis

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Diesem unüberschätzbaren Einfluss Kants auf den Pragmatismus nachgegangen zu sein, ist nach Murphy (1968) neuerdings das Verdienst von Brandom (2011). Doch was hier aufgrund der sprachphilosophischen Verengung übersehen wird, ist, dass der Einfluss noch weitaus größer ist. Auch Kants Versuch einer partiellen Legitima­ tion der teleologischen Beschreibung von Natur in seiner Kritik der Urteilskraft wirkt in Schillers spekulativem H um anism us deutlich nach. „The postulation is the expression o f the motive forces which impel us towards a certain assumption, an outcom e o f every organism s unceasing struggle to transmute its experience into harmonious and acceptable forms. The organism cannot help postulating, because it cannot help trying [...], because it must act o r die”. Schiller (1902), S. 91 - Herv. d. G.K.T. Ein genetisches Modell, das Schiller hauptsächlich im großen evolutionären Rahmen thematisiert, dass er aber auch in der enger gefassten Geschichte und damit als totales Modell erkennt, ohne dies jedoch im Falle der letzteren „kleinen Geschichte“ des Men­ schen an historiografischen Beispielen genauer ausfzuführen: „Should a philosopher be disposed to be too sangune about the capacity o f .facts' to impose themselves on prejudice and to resist misinterpretation, he should be invited to consider how over­ whelming were the .proofs' o f witchcraft until about two hundred years ago." Schiller (1921a), S. 421 75

als ihrem natürlichen O rt verdunkelt wird: Sie postulieren das Nicht-Postuliert­ sein. Während für Schiller Axiome quasi-naturalisierte Postulate sind, „successful survivors in the process of sifting or .selection which has power also over the products of our intellectual striving“ (92), stellt der Intellektualismus diese Ord­ nung auf den Kopf: „it has to pervert the empty schemata of .universal' abstrac­ tions from their legitimate use as means to classification, and erecting them into ends, to substitute them for the living reals“. (127) Die evolutionäre Perspektive Schillers läuft also darauf hinaus, dass Gewiss­ heiten etwas Gewordenes sind, und da eben alles Gewordene Geschichte hat und das Heute das Gestern von Morgen ist, bleiben auch die heutigen Axiome in letzter Instanz flexibel: „For in many cases they retain their hold over our affections anW faute de mieux. They are the best assumptions we can work with, but not the best we can conceive. And some one may some day discover a way to work with what are now unsupported postulates and so raise them to axiomatic rank.” (92f. - Herv. i.O.):M

Ethnologisch gewendet: Sein historisch-genetischer Ansatz besteht in der Krän­ kung der Hybris des „zivilisierten“ Menschen, die darin besteht, sich von der welterschaffenden Urleistung des „primitiven“ Menschen kategorisch getrennt zu denken: „[T]he world [...] is what we and our ancestors have, wisely or foolishly, sought and known to make of our life, under the limitations of our knowledge and our powers.“150 Um über die bisherige bloße Behauptung als ein Postulieren des Postulierens hinauszukommen und zu zeigen, dass die Fundamentalisierung des Postulierens12930

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Doch Schiller ist hierbei nicht gänzlich idealistisch: „wemustvet admit that practically the possibility o f modifiying them is one that may safely be neglected, [...] they are protected by our laziness” Ebd., S. 93 - Herv. d. G.K.T. In seinen späteren Schriften der 20er Jahre, v.a. seinen Beliefs und den eugenischen Schritten und damit nach seiner realistischen, unzählige Differenzierungen und Schattierungen in sein Ver­ ständnis vom Subjekt einbauenden „Kehre“, die in einem Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsschock des Ersten Weltkriegs, des Zukunftsdrucks auf Veränderung hin und damit in Verbindung mit seinem politisch-eugenischen Engagement zu sehen ist, billigt er eine solch grenzenlos volatile Fähigkeit nur noch als Gabe der Natur zu, die, und darin noch restriktiver als hier, allein (religiöse) Genies auszeichnet. Eine Begrenzung der menschlichen Kapazität, mit der dann von objektiver Seite aus gesehen eine „logic o f nature“ korrespondiert, die eine Menschenhand nicht zu verändern mag. s. Kap. 3.6 u. 4.2.1. Schiller (1907a) [„The Making o f Truth“], S. 200

selber ein praktisch erfolgreich arbeitendes Postulat ist und dies vor allem im Ver­ gleich mit dem Abbruch der Erklärung durch Hypostasierung zu Axiomen einer „Urteilstafel“, über die hinaus nicht weiter gegangen werden kann, wendet Schiller seine Theorie - in dieser genetisch-historischen Perspektive auf das in die Zeitlosigkeit von der Welt Isolierte der Vernunftprinzipien durchaus in einer Linie mit den frühesten Kritikern der Konzeption einer Philosophie der reinen Vernunft wie J.G. Hamann (1730-1788) oder J.G. Herder (1744-1803) deutbar - auf ver­ meintliche Axiome an, um deren genetisches Entstehen verständlich zu machen131,

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Dabei ist sich Schiller jedoch der Gefahr einer jeden genetischen Rekonstruktion menschlicher Diskurs-, Urteils- und Habitusformen im Unterschied zu manchen Texten eines Nietzsche und den in seiner Traditionslinie die genealogische Methode als Allheilentlarvungsmittel (vor allem der Moral gegenüber) Verwendenden be­ wusst: nämlich der nur mit einem logischen Fehler überschreitbaren Klippe, die einzige Legitimität der Bedeutung eines Diskurses in der Rückbindung an seine ursprünglichste Funktionsweise starr zu koppeln und jede spätere Verwendung und Neuadaption als bloße ideologische, verkennende Maskerade ihres subkutan weiter­ wirkenden Anfangs zu diskreditieren: „For while it is untrue that the way in which a thing originates decides its value once for all, and insures it, absolutely and for all time, against the chances and changes of our mortal being, it is fully as untrue that it can emancipate itself from all the conditions that gave rise to it, and can repudiate its past entirely.“ Schiller (1934) [„Theory and Practice“], S. 178. Schillers genetischer Ansatz ist damit in weiten Teilen seines Werks zurückhaltender. Seine Verzeitlichung der Axiome soll nur aufzeigen, dass diese Teil der Naturge­ schichte des Menschen sind, der ursprünglich seine Umwelt in aktiver Erforschung kategorial sukzessive zu (be-)greifen und experimentell zu gestalten bemüht war: Keineswegs hatte er diese immer schon von oben herab parat, vielmehr hatten sie sich von unten aufgrund eines Try-and-Error-Prinzips als erfolgreich funktionierend erwiesen und auf diese Weise sedimentiert. Verschwiegen werden soll jedoch nicht, dass auch Schiller bisweilen durch eine en­ gere, norm ative Fassung des natürlichen Rahmens einem Klippenübertritt gefährlich nahe kommt: „ [I] t is always to be remembered that all the changes and developments that occur take place in accordance with the biological laws that pervade all living nature. It is not possible, therefore, that a Theory should revolt against Practice, and declare itself independent. I f it tries to do so, it will be reduced again to subjection or elim inated, by natural selection.“ Ebd., S. 178 - Herv. d. G.K.T. Doch diese Stelle enger gefasster biologischer Nützlichkeit im Sinne des Kriteriums der biologischen Nichtschädigung als Fundament des Ideellen widerspricht dezidiert dem Schiller, der das Problem des Pessimismus ernst nimmt, und damit auch dem für die Rekon­ struktion des Gesamtwerks essentielleren Schiller. So fragt dieser Letztere: „For if optimists and pessimists can both manage to survive, how can survival-value alone be true?“ Schiller (1924a), S. 184. Pessimismus und Selbstmord sind damit Belege 77

und will damit in der Behandlung des theoretischen Erkennens als v o rth eo retisch es Problem „tiefer graben“132, denn: „‘What a thing really is’ appears from what it does, and so we must study its whole career. We study its past to forecast its future, and to find out what it is really ‘driving at’.” (125 - Herv. i.O.)

Zwei seiner Entstehungsgeschichten seien hier kurz, aber exemplarisch dargestellt: die Genese des Außenwelt- bzw. Alteritätsprinzips und des Identitätsprinzips.

dafür, dass der Einzelne nicht, wie das obige Zitat zum Ausdruck bringt, als bloße pseudo-individuelle Manifestation abstrakter „biologischer laws that pervade all living nature“ fungiert: Statt passivisch mitgeschwemmt zu werden, sind die Indivi­ duen in ihrer irreduziblen Eigenwilligkeit Co-Schöpfer der Realität: „They no longer figure merely as products o f nature fortuitously thrown up by the cosmic welter, but themselves become factors in determining reality. On a very minute scale, but in a very real sense“. Schiller (1924a), S. 188f. Schiller wendet sich damit lange vor der Popularisierung des Gedankens der einfa­ chen Übertragung des darwinistischen „survival o f the fittest“-Prinzips auf die Welt der Ideen als hinreichendes Erklärungsmuster derselben durch R. Dawkins (1986) und sein Konzept der Reproduktion und Potenzierung ideeller Gene, der M em e, gegen einen solchen „Universal Darwinism“, nach dem die Wahrheit einer Aussage allein in ihrer Selbstbewahrheitung durch quantitatives Ausstechen der Alternati­ ven und ihres fertileren „survival value“ zu sehen ist. Stattdessen macht er gerade die pessimistische Sicht stark, der rein evolutionsbiologisch nur künstlich Vorteile angedichtet werden können, ist sie doch Kristallisation der Lebensfeindlichkeit und

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Todesverehrung. In ihr manifestiert sich für ihn ein Veto gegenüber jedem Versuch, sämtliche von Menschen vertretenen Wahrheitsansprüche von „continued existence“ (Schiller (1924a), S. 153) auf „biological truths“ zu reduzieren, nach welcher Ideen vermittels ihrer präintellektuellen, rein emotionalen „attractiveness“ (ebd., S. 158) schlicht „migrate from mind to mind, as an infectious disease can pass from body to body“ und damit „independent of the individual mind that entertains them“. Schiller (1924a), S. 152f. Insofern ist der altbekannten These, wie sie auch A. Fischer vetritt, beim Pragmatismus im Allgemeinen wie bei Schiller im Besonderen herrsche eine „biologische Erkenntnistheorie“ vor, in letzter Instanz - trotz ihres naturalistischen Rahmens der Evolutionsbiologie - zu widersprechen: Fischer (1967), S. 11. Mit diesen Worten wendet sich der Philosoph und James-Übersetzer Wilhelm Jerusa­ lem in der Diskussion auf dem bereits erwähnten Kongress 1908 gegen die neukantia­ nischen Kritiker: „Wir [Pragmatisten] machen das theoretische Erkennen zum Prob­ lem, während Sie es voraussetzen. Wir gehen hinter Ihre Voraussetzungen zurück und graben tiefer.“ Schiller (1908a), S. 728. Schiller selbst anerkennt Jerusalem umgekehrt auch - bis auf „minor blemishes“, die ihn sich nicht ganz vom Intellektualismus lösen lassen - als „one of the most advanced and notable of the advocates“ der pragmatopsychologistischen Reform der „reinen“ Logik in Deutschland, s. Schiller (1906)

Ist das Prinzip der Außenwelt und des Anderen ein entstandenes, so muss Schiller einen Zustand konstruieren, in dem dieses Prinzip (noch) nicht die Er­ fahrung organisiert, gleichzeitig aber auch aus diesem Zustand heraus prinzipiell möglich sein muss. Da Denken immer ein Denken in Bestimmungen und Diskri­ minierungen, das Identitätsprinzip also „the basis of all thinking, in the strict sense of the term“ (95) ist, muss der dem Prinzip vorgängige Zustand selber einer sein „below the level of what can properly be called thought“. Schiller nennt dieses präreflexive Bewusstsein einen „sentient level of con­ sciousness“, das bisher allein „pleasure and pain“ fühlt, und weiter: „which strives and desires without as yet clear self-consciousness or conception o f objects”, (ebd.) Dieses ursprüngliche, archaische Bewusstsein ist keineswegs ein immobiles, sondern Aktivität und Tatendrang - Schiller spricht von einem Bewusstseinszu­ stand des Menschen, in dem „he wanted to be happy, though he did not know himself nor what his happiness could be“ (104f.) - und stößt in dieser Mobilität alsbald auf Widerstände, die sich einem quasi-willentlichen Zustandebringen nicht fügen und deren Widerstand bei Steigerung zu Schmerzerfahrung führt. Dies ist die Geburtsstunde des Postulats der Außenwelt und damit der Aufspal­ tung in Subjekt und Objekt: „Not of course, that this is at first consciously so argued, or that the segregation of the two poles of the experience-process into Self and Not-Self need to be conceived as arising it is the felt unsatisfactoriness of experience which suggests the differentiation of Subject and Object and postulation of the latter as an alien Other’, causing the unsatisfactoriness.” (105-H erv. i.O.)

Insofern es zum Subjekt gehört, dass es sich nicht schaden will, ist die Außenwelt dasjenige, das sich einer direkten Kontrolle entzieht und sich damit in der Bre­ chung direkter Willenserfüllung als Widerstand anzeigt. Über Schiller hinausge­ hend könnte man sagen, dass sich die Herausbildung der Außen-Innen-Differenz, des absolut Anderen des eigenen wie des anderen Lebendigen: die unbelebte Ma­ terie, als ein sukzessiver „Ernüchterungsprozess“133 einer (frühkindlich) implizit angenommenen Selbstausgebreitetheit und -allmächtigkeit realisiert.

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Plessner (1928), S. 301 - In der Tat wird diese genetische Erklärung der SubjektObjekt-Differenz im 20. Jahrhundert mehrfach vertreten, weiter ausgebaut und unterfüttert: von Scheler (1912/22) über den zitierten Plessner bis hin zu Piaget (1970). Auf den Parallelismus von der Assoziation der Allmacht der eigenen Be­ wusstseinssphäre sowie der animistischen Allbeseelung im Reich des „Primitiven“ auf der einen Seite und der Entwicklung des kindlichen Bewusstseins (sowie des Bewusstseins des Neurotikers) auf der anderen Seite hat vor allem Freud (1913) aufmerksam gemacht. Gerade Schillers Betonung des Widerstandscharakters als 79

Nachdem so das anfänglich reine Totalitätsbewusstsein mit seinen Erschei­ nungsweisen von „continuity, coherence, conativeness, and purposiveness” (96) durch ein die Totalität brechendes Außen einen Schritt weitergehen kann, kann das nun ebenso zum Vorschein kommende Pendant des Außen mit in den „senti­ ent level of consciousness“ aufgenommen werden.134 Die bisherigen Vollzugswei­ sen werden zu gefühlten Aspekten eines „identical seif“, wobei Schiller auf dieser unteren Stufe hierunter nichts als „lofty or metaphysical“ beschrieben wissen will, sondern allein „the im plicit,owning' of all conscious processes“ (97). Dies ist das minimal-erforderliche Präzedens, das Schiller benötigt, um den Gang von diesem niederen Bewusstseinszustand zu höheren Bewusstseinsleistungen anzutreten135: „The self-identity of consciousness, which, however it arises, is a psychical fact, is, I contend, the ultimate psychical basis for raising the great postulate of logical identity, which is the first and greatest of the principles of discoursive thought and introduces order into the chaos of presentations“. (97)

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Begrenzung der Konstruktionskompetenz des Menschen könnte einen fruchtbaren Vergleich mit W. Dilthey ermöglichen, dem „Vater“ all der zuvorgenannten Philo­ sophen einer entwicklungslogischen Perspektive, stellt dieser doch als Erster nicht mehr das Bewusstsein, sondern die Lebendigkeit als fundamentaler ansetzendes Phänomen ins Zentrum, die sich gegenüber der Umwelt nicht in cartesianischem Gefolge kognitivistisch, sondern prärational zwischen „Impuls und Widerstand“ he­ rausbildet und damit die allein rationalistisch sich auftuende Frage nach der Existenz der Außenwelt unterläuft. S. v.a. Dilthey (1890), 98ff. Eingedenk dieser innerpsychischen Plastizitität und ihren Entwicklungsgraden spricht Schiller im Kontext seiner „humanistischen Wahrheitstheorie“ dezidiert als einer „of our own adult minds“. Schiller (1907) [„The Making O f Truth“], S. 184 Die hier vorgelegte Rekonstruktion dieser Passage steht unter dem Vorbehalt einer bereits vorgenommenen Korrektur der Vorgehensweise Schillers: Beginnt dieser mit der Entstehungsgeschichte des Identitätsprinzips, so scheint dies m it der Er­ fahrung eines „identical self' etwas vorauszusetzen, das erst durch die Innen(Self)Außen(Other)-Demarkation herausdestilliert worden sein kann. Dass Schiller hiermit selbst eine Art Apriori annimmt, hinter das nicht zurückge­ gangen werden kann, gibt er freimütig zu („Not, of course, that I propose to derive it [das Identitätsprinzip - G.K.T.] out o f nothing.“), ist es doch für ihn von rein me­ thodologischer Art, an eine spezifische Frage zur Erklärung von etwas Spezifischem gebunden, das jederzeit veränderbar ist, wenn dies anders gefasst oder durch ein anderes methodologisches Apriori rekonstruiert werden könnte: „For I hold that epistemological speculation like every other, must take something factual for granted, if it is not to be vain imagining, and defy those who contest my presuppositions to state the alternatives they are in a position to offer.“ Schiller (1902), S. 95

Dies geschieht - als entscheidende Krux der Argumentation - aber nicht aus theoretischer Notwendigkeit, sondern als Folge des praktischen Begehrens, des Wünschens nach und Einforderns von Identifikation als Extrapolation der „feit sameness of the continuous conscious life“. (98) Zur Illustration greift Schiller auf eine mythologische Urszene einer „primi­ tive idyll“ (99)136 zurück, der Begegnung zwischen den Steinzeitmenschen,Edwin und .Angelina1: „Edwin meets Angelina in her winter furs whom he admired last summer in fig leaves; he recognises her identity in the differences of her primitive attire.“ (98) Zwar bestehen viele Ähnlichkeiten zwischen ihren Erscheinungen vom Vorjahr und von diesem Jahr, die Konstruktion einer über diese Ähn­ lichkeiten hinausgehenden, über die Zeit andauernden Persistenz der Identität aber, die die bloß äußerliche, zusammenaddierte Ähnlichkeit ihrer Erscheinung („recurrrence o f the like“ [ebd.]) von bloßer Kontingenz auf eine wesentliche, gleichbleibende Subjektivität zurückführt („recognition of the same“ [ebd.]) und sie aus dieser heraus erklärt, entsteht für Schiller als praktisches Produkt aus einer von Eigenwünschen gespeisten Hoffnung auf Wiederabrufbarkeit früherer angenehmer Erfahrungen sowie der prinzipiell an einem selbst erfahrbaren Mög­ lichkeit einer solchen Permanenz anhand der eigenen relativen Wunsch- und Willenskontinuität: „That such things as persistence of identity through change should be, and what they mean, he [Edwin - G.K.T.] could learn only from the immediate experience of his own identity. That they are his postulates, a postulate that fills his heart with the delicious hope that Angelina will smile on him as bewitchingly as before.“ (ebd. - Herv. i.O.)

Dieses Entstehen der noch an eine konkrete Person gebundenen Identität ist den­ noch ein Postulat im Sinne eines aktiven Überschreitens des Gegebenen („into a concept that trancendends the given“ [99]) mit der Folge, je nach leitendem Ziel der Überschreitung Teile desselben zu uniformieren und damit Unterschiede in Bezug auf dieses als vernachlässigenswert und indifferent zu suspendieren. Selbst dieses unterste Postulieren ist damit bereits eine Idealisierung des Gegebenen („sublimated and idealised“ [ebd.] ), indem dieses, könnte es jemals rein passivisch

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Zweck dieser Narration ist auch weiterhin, das prinzipielle Wirken des praktischen Postulierens zu zeigen, auch wenn als Verkürzung und Vereinfachung dessen, was als „gradual achievement o f many generations o f mortals” tatsächlich „probably far more complicated, casual, and gradual, and far less conscious than I have represented it” war. „In fact I see little reason to suppose that any of the makers o f the early postulates had any consciousness of the logical import of their procedure or knew why they made them.” Ebd., S. 101 u. 123 81

gegeben sein, keinerlei Identität kennt, insofern alles in ihm sich immer von allem anderen sowie alles sich auch von sich selbst im Vergleich zu vergangenen und zukünftigen „Selbst“-Zuständen unterscheidet, belegt schließlich alles distinkte und weiter distingierende Raum- und Zeitkoordinaten.137138Diese dem Postulat innewohnende aktive Schöpfung als Abzug, Abstrahierung der realen, unendli­ chen Vielfalt kann immer weiter gesteigert werden, d.h. Differenzen werden als bloß akzidentelle Variationen des wesenhaft postulierten Kerns vorangetrieben, bis man die inhaltlichen Leerformen der abstrakten Logik erreicht: So verstanden wird die formale Logik, statt dargereichte himmlische Gabe zu sein, ein histori­ sches Produkt aktiven Trainings im Sinne einer Einübung in die „psychological carelessness which overlooks individual differences". (100)l,fi Besonderen Anteil

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“We need a world o f philosophic quibbling to bring before our eyes the fact that strict identity never yet was found by land or sea, but is always and everywhere a construction o f our mind, m ade by voluntary concentration on the essential and rejection of the irrelevant.” Ebd., S. 99 - Herv. i.O.

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Es ist innerhalb des pragmatistischen Autorenkreises vor allem Dewey, der ein sol­ ches Projekt der genetischen Rekonstruktion logischer Kategorien mehr als drei Jahrzehnte später in seiner „Logic“ (1938) um einiges durchdachter und diffiziler durchführt und gerade deswegen sich demselben Projekt zuschreibt, an dem vor ihm Schiller arbeitete, wie Deweys Nachruf auf Schiller durchaus selbst suggeriert: Dewey (1937). Beide werden grundsätzlich vom selben Anspruch getragen: der Überwindung eines naiven Realismus, vor allem aber einer rationalistischen ZweiWelten-Lehre, die aus ihrer inneren Disharmonie als problematische Folge in den Augen des einen Skeptizismus (Schiller) und des anderen Supranaturalismus (Dewey) heraulbeschwört. (S. hierzu Kap. 4.2.3.) Und dennoch bleibt der Unterschied auch hier zwischen beiden innerhalb des Prag­ matismus in der Art bestehen, dass Deweys Augenmerk in hegelianischer Nachfolge auf die Rekonstruktion einer Öffentlichkeit fokussiert ist und die volle Individualität erst in differenzieller Positionierung in ihr ermöglicht, während Schiller umgekehrt methologisch beim Individuum ansetzt und erst durch intersubjektive Addition der individuellen Wert- und Wahrheitsansprüche Öffentlichkeit und Gesellschaft entstehen lässt. Relativ und nicht absolut verstanden: Schiller ist Individualist, D e­ wey methodischer „Sozialist“ oder etwas weniger kontrovers: der eine argumentiert psychologistisch - nicht umsonst bezeichnet Schiller den m ethodischen Humanismus selber als „logical psychologism“ (Schiller (1907a) [„The Relations o f Logic and Psychology“], S. 71) - , der andere soziologistisch. Gibt es für den ersten immer einen irreduzbilen Bereich des eigenen Willens und seiner autonomen Entscheidungsfä­ higkeit, so sieht Dewey in einem solchen Voluntarismus ein bloßes „futile echo“ [De­ wey (1929), S. 74] des Zeitalters der industriellen Revolution und seiner Freisetzung individualistischer Energien im Ausgang aus der feudalen Organisation. Für Dewey bedarf das Individuum in Anbetracht der neuen sozialen Lage massendemokrati-

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an der Generalisierung der Identifikation hat dabei die Sprache, die selber erst zu einer solchen wird, wenn die ausgestoßenen Laute zu Symbolen geworden sind, regelhaft iterierbar und damit als „identifiable sounds" anwendbar zur aufzei­ genden Klassifizierung einer „indefinite plurality of similar objects" (101) und als verstummende Introjektion des Sprechens zum Denken, welches in absoluter Abkopplung von anwesenden Gegenständen Variationen des Postulierens sich vorstellend erproben kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, eine bis auf seine bio­ logischen Fundamente einwirkende Widerstandserfahrung erleiden zu müssen. Für Schiller sind die damit abstrakten Formeln der Logik nicht nur nicht Teil einer selbstzweckhaften Ewigkeit, deren Sternenhimmel in der Vita contemplativa geschaut werden kann, sondern aus einer primär sozial normalisierenden Funktion der Postulate deriviert. Die eigentliche Funktion besteht darin: „to yield a trustworthy standard of comparison for the purposes of everyday life. If Edwin likes his mammoth steak well done to-day and underdone to-morrow, no woman can live with him. A stable standard of reference in our judgements is an urgent practical need.” (100)

scher Verhältnisse eine organischere, vernetztere Konzeptualisierung, die allein einer solch dynamischeren Konstituierung des Sozialen gerecht zu werden vermag. Auch wenn Schiller dies in seiner Replik auf die genau auf diese Unterschiedung abzielende Rekonstruktion C. W. Morris’ vehement verneint - mit der absurd anmutenden Behauptung, das Einstufen der Wichtigkeit der Rolle des Sozialen könne nicht als ein Unterscheidungskriterium innerhalb der Philosophie und damit auch nicht der Pragmatisten dienen, „because ever since Aristotle declared that man was a social animal it has been the merest commonplace shared by practically all philosophers.“ [Schiller (1939) [„Must Pragmatists Disagree?“!, S. 58] - , so liegt es dennoch nahe, ihn tendenziell, Deweys Terminologie gemäß, dem „old individualism“ zuzordnen. Der Unterschied zwischen Schiller und Dewey lässt sich auch an der für Ersteren gegen den Pessimismus ins Feld geführten Debatte um die Unsterblichkeit des Ein­ zelnen wie der Gattung Menschheit als einer Gattung von Individuen zeigen: Nicht nur diese der abendländischen Geschichte keineswegs fremde Frage erachtet Dewey, genausowenig wie die nach dem Tod, nirgends einer philosophischen Behandlung für wert genug - beides Fragen, die für ihn eher Reflexionshemmnisse gegenüber denen, welche die Öffentlichkeit und ihre Ordnung betreffen, sind. Mehr noch: Diese „privaten“ Fragen und Probleme des eigenen Ablebens und Fortlebens sind für Dewey umgekehrt kompensatorische Symptome einer schlecht realisierten Gesellschaftsord­ nung wie auch die klassischen Religionen überhaupt, sieht er in diesen doch vor allem gesellschaftseskapistisches „opium of the peoples“, [s. Dewey (1935)1 Zur alternativen Sicht, dass Dewey keineswegs der „Tragic Sense o f Life“ fehlt, sondern er gerade von ihm als Kontingenz ausgeht und seine Philosophie damit als durchgeführtes Pro­ gramm der gesellschaftlichen Linderung desselben zu lesen ist: s. Hook (1974). 83

Das Postulat der Identität entpuppt sich so als eine höherstufige Revision der als Innen-Außen-Unterscheidung erfahrenen Kontrollendlichkeit durch Kategorisierung und Fixierung: Eine theoretische Kompensation der praktischen Willensendlichkeit, die dadurch, dass sie - zumindest im Bereich des Zwischen­ menschlichen - reziprok vonstatten geht, da sie, um in Schillers Beispiel zu blei­ ben, ebenso wie Edwin an Angelina auch Angelina an Edwin Ansprüche der Absehbarkeit stellt, praktische Konsequenz in der Art zeitigt, dass sich beide gegenseitig zu Erfüllungsgehilfen der fremden und eigenen Wünschen machen. Auf diese Weise bildet sich die Basis für allgemeine Normen als Sozialordnung heraus, sodass diese Antizipation des Eintretens von bestimmten Verhaltens­ und Handlungsmustern auch über reine Intimbeziehungen hinaus immer mehr gerechtfertigt ist. Die potentielle Verhaltensanarchie wird, qua Normierung vor allem durch Bildungsinstitutionen sowie später durch mehr implizite (symbo­ lisches Kapital) oder explizite (Polizei) Institutionen, auf ein Set endlicher und damit kalkulierbarer intersubjektiver Frage- und Antwortmechanismen do­ mestiziert. Letztlich gibt es so ironischerweise eine Wiederkehr bzw. Wieder­ gewinnung der animistischen Hoffnung einer unterstellten Alllebendigkeit, nun mit dem Schwerpunkt auf Allverständlichkeit, im Rahmen eines technischeren Niveaus der Ausdifferenzierung von quasi-objektiven Sozialpraktiken: Die eins­ tigen, an den archaischen Priester gerichteten Hoffnungen und Wünsche, dieser möge aus den „Eingeweiden des Kosmos“ vorlesen, können jetzt, gemäß dem Plan respektive der Vision des Auguste Comte (1844) für das dem theologischen und metaphysischen nachfolgende, positive wissenschaftliche (End-)Stadium, im Rahmen der sich gegenseitig abstimmenden Integration sämtlicher Prakti­ ken unter eine immer größere Gesellschaftsform an den Soziologen gerichtet werden. Neben solchen bei Schiller eher noch kurz und suggestiv ausfallenden gene­ tischen Rekonstruktionen primär und unabdinglich erscheinender Kategorisierungsmechanismen aus einem aktiv-experimentierenden Erringen über größere Zeitabschnitte hinweg - eine Logik der Plastizität, die im Gewand der Kritik des Fortschritts als Gesetz im Rahmen des eugenischen Humanismus eine zusätzliche Facette erhalten wird: die der dezidierten Präkarität, nach der das Gewordene nicht nur Geschichte hat, sondern sich die Geschichte auch immer wieder zur Zukunft verkehren kann: als Dekadenz (Kap. 4.2.1.) - findet sich eine andere Plausibilisierungsrichtung seines Voluntarismus im Hinblick auf das eigentliche publizistische Corpus Delicti des Tatorts, den der Pragmatismus im ersten Jahr­ zehnt des 20. Jahrhunderts verkörpert hat: die Frage nach der Möglichkeit einer menschenunabhängigen Objektivität bzw. Neutralität von Wahrheit.

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3.4 Die ethische Demaskierung der Erkenntnis Auf dem noch vom Neukantianismus verminten Gelände des Internationalen Kongresses für Philosophie 1908 stellt Schiller die Gretchenfrage des Pragmatis­ mus: Gibt „es überhaupt einen rationalistischen Wahrheitsbegriff? Ist ein solcher überhaupt denkbar? Ist der Wahrheitsbegriff, an den man Jahrhunderte geglaubt hat, wirklich ausführbar und anwendbar?“139 Es scheint gleich mehrere Fassungen von Wahrheit als rationalistische Unwandelbarkeits-Obsessionen zu geben, welche die gestellte Frage in eine bloß rhetorisch-polemische verwandeln. Schließlich kann Wahrheit klassischerweise als „Übereinstimmung des Denkens mit seinem Gegenstand“ verstanden wer­ den. Aufgabe der Wahrheit ist es: „ein Bild der Wirklichkeit entwerfen, sie dar­ stellen, abspiegeln oder nachahmen.“ Weiter: „Die Wahrheit soll das Wesen der Dinge erfassen, wie es an sich ist.“1·"' Delegiert man die Wahrheitsfrage an eine regelhaft-formale Logik, wird sie in der Folge „auf echte logische Denknotwen­ digkeit oder Evidenz“ gegründet.141 Doch keine dieser Bestimmungen hält für Schiller einer genaueren Befragung stand. Denn wie könnte im ersten Fall eine erfolgreiche Übereinstimmung mit den der Erfahrung transzendent gesetzten Gegenständen attestiert werden? Als das Andere der zeitlich-relativen menschli­ chen Erfahrung bleibt eine Deckungsgleichheit mit ebendiesem unverständlich. Das Gleiche hegt im Fall der Abbildtheorie der Wirklichkeit vor: „Ist die Wahrheit ein Abbild einer transzendenten Wirklichkeit, so kann sie niemand mit ihrem Original vergleichen, eben weil es transzendent ist. Es verbürgt daher nichts die Treue dieses Bildes, und sie bleibt reine Glaubenssache.“1'12

Der Appell an die formale Logik und ihre notwendigen Schlüsse kommt allein zu einer formalen und nicht zur „echten Wahrheit“. Der Unterschied, den Schil­ ler zwischen beiden sieht, ist der zwischen einer „formal logic“ und einer „logic for use“. In ersterer ist die Vernunft („reason“) vom faktischen Denken („rea­ soning“) derart abgetrennt, dass sie zu einer dehumanisierten, unweltlichen Rechenmaschine wird und der so ihr „perennial charm“143 erwächst. Der Syllo­ gismus als Beispiel144: Benutzt man die Prämisse „Alle Menschen sind sterblich“

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Schiller (1908a), S. 712 - Vortrag im Original auf Deutsch.

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Ebd. Ebd., S. 713 Ebd., S. 713f. Schiller (1921a), S. 415 Schiller (1934) [“Novelty“], S. 227f., s. zu seiner Kritik am Syllogismus als pars pro toto der formalen Logik auch: Schiller (1917a), S. 240ff. 85

in ihrer Extension undifferenziert, so folgt logisch richtig in bestimmten Fällen auch offenkundig Falsches. Denn für die Menschen in Mythen und Märchen gilt dies nicht. Beugt man dem vor, indem man die Extensionalität des Begriffs „Mensch“ auf (einst) körperleiblich Lebendige und Sterbliche einschränkt, so ist das Endergebnis zwar tatsächlich immer wahr143, aber eben nicht mehr als eine Tautologie. Das heißt für Schiller, dass diese Art formaler Logik entweder logisch korrekte Endresultate produziert, die dennoch jenseits der Unterschei­ dung wahr/falsch liegen, weil sie auch faktisch Falsches als logisch Richtiges ausweisen, oder aber in Tautologien „folgert“, die zwar auch weltlich stimmig sind, aber nur deshalb, weil die „Schlussverfahren“ bereits mit - in der Terminologie des Formalen gesprochen - unreinen, empirisch sich als wirksam erwiesenen Prämissen gefüttert worden sind. Die einzige erkenntniserweiternde Leistung des praktischen Testens von „claims“ auf ihre „validity“ hin findet hier also vor dem eigentlichen Ingangsetzen des Verrechnens statt, und dieses selber ist nicht mehr als ein Nullsummenspiel ohne neue Einsicht, ein bloßes „word-game“11'’, das nicht zuletzt auch deswegen nichts über das tatsächlich in der Welt waltende Wesen der Wahrheit auszusagen vermag, weil es auch nichts jenseits der wie­ derum logizistisch verengten formalen Selbstwidersprüchlichkeit über ihr Ge­ genteil, den „error“, auszusagen vermag, gegenüber dem sich die wahre Aussage überhaupt erst als solche konstituieren kann. Eine derart formallogische Defini­ tion vom „error“ ist deshalb gar keine, zerstört der Selbstwiderspruch doch „the1456

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Schillers zukunftsorientierte wie experimentalistische Austreibung von letzten Ge­ wissheitsansprüchen geht soweit, dass er selbst dies in seinem entsprechend titulier­ ten Aufsatz „Are All Men Mortal?“ mit einem Fragezeichen versieht: „Let us honestly confess that we do not know whether all men will always need to be described as ‘mortal’ and that at any rate no such conclusion can be validly elicited from formal logic.” Schiller (1939), S. 337

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Zur Beschreibung einer bloßen „word-game“-Logik, die er seiner humanistischen entgegenstellt: s. Schiller (1934) [„Two Logics“], S. 39-43. Es ist schon diese Nomen­ klatur, die es lohnend macht, eine Untersuchung zwischen den beiden zeitgleich in Oxford arbeitenden und lehrenden Philosophen Schiller und Alfred Sidgwick durchzuführen, denn es ist Letzterer, auf den nicht nur die Kritik an Syllogismen und anderen formallogischen Schlussverfahren nominell als „little more than a kind of word-game“ [Sidgwick (1910), S. 190] zurückgeht, sondern der diese auch inhaltlich und in der Zielsetzung einer grundsätzlichen Kritik der klassisch-formalen Logik der systematischen Elaboration durch Schiller in seinem Form al Logic (1912) in noch früheren Arbeiten vorwegnimmt, wie dieser auch offen zugibt: „Mr. Alfred Sidgwick, to whose original and penetrating work my extensive indebtedness would be obvious, even if I were not proud to confess it“ Schiller (1912), S. XL

meaning wholly“147, während der eigentliche Irrtum auch nach Gewahrwerden in seinem assertorischen Gehalt durchaus verständlich bleibt. Dadurch, dass die reine „contradiction“ als Nicht-Aussage diesseits des Wahren und Falschen liegt, folgt aus ihrem Aufdecken allein: „it [...] leaves the field clear for a fresh assertion“ mit einer „meaning that can be true or false.“148 Beides, das Wahre wie das Falsche, erhält seinen vollen lebensweltlichen Sinn vielmehr erst, wenn es als eine aktive Form des Experimentierens, als positive oder negative Evalu­ ation des Eintretens von Gewolltem oder Ungewolltem durch Menschen und innerhalb ihrer interessegeleiteten Weltausschnitten verstanden wird: Beide sind somit „nothing intrinsic in the judgement, [...] never to be judged as a purely intellectual thing.“149 Aus derselben kritischen Perspektive, die in der reinen Philosophie in den Worten Lichtenbergs, dem Zeitgenossen Kants, immer schon eine verborgene Liebe zur unreinen zu entdecken vermag15015, schreibt Schiller auch über den Satz, der jedem entgegengehalten wird, der eine solch von der Praxis und Lebenswelt und damit prinzipiell kontextuellen Sicht auf die Logik als einem Unterfangen, das qua des irreduziblen „risk in real reasoning“ des ständigen Muts („Courage“) b ed arf31, stark machen will: dass doch auch ein „praktischer Logiker“ nicht leugnen wolle, dass unabhängig von jeder konkreten Situation zwei plus zwei im ­ m er gleich vier sei. Doch genau dies kann für Schiller als keineswegs absolut, als gänzlich erfahrungsunabhängig ausgemacht gelten, weshalb aus der Sicht seiner situativ-aktivistischen „voluntaristic logic“ negativ folgt, dass „every principle may be misapplied to a case it does not really fit“152, in jeder Übertragung von einer Situation auf eine andere das „risk“153 der In-Validität steckt. „The abstract Statement, e.g. that ,two and two make tour“, is always incomplete. We need to know to what,twos' and .fours' the dictum is applied. It would not be true of lions and lambs, nor of drops of water, nor of pleasure and pain.“154

147 148 149 150

Schiller (1907a) [„The Relations o f Logic and Psychology“], S. 111 Schiller (1939), [„Multi-Valued Logics”], S. 313 Schiller (1908b), S. 28 „Die reine Philosophie pflegt (und kann es nicht vermeiden) noch immer unver­ merkt der Liebe mit der - unreinen. Und so wird es gehen bis an das Ende der Zeit.“ Lichtenberg (1984), S. 477 - Herv. i.O.

151 152 153 154

Schiller Schiller Schiller Schiller

(1921a), S.414f. (1921a), S. 415 (1907a) [„The Making of Truth“], S. 193 (1907a) [„The Definition o f Pragmatism and Humanism“], S. 9 87

Aus dem von der menschlichen Endlichkeit gänzlich unabhängigen Wahr­ heitsbegriff folgt aus Schillers Sicht noch zweierlei: Zum einen, dass „Wert oder Nutzen einer solchen [absoluten] Wahrheit ein ganz zufälliger sein“ muss. Eine solche Wahrheit könnte mit den menschlichen Bestrebungen genauso positiv koinzidieren wie ihnen negativ zuwiderlaufen - Folgewirkungen, die der Wahr­ heit rein äußerlich (d.h. zufällig) sein müssten, da sie ja gerade definitorisch in Indifferenz zum Menschen aufgestellt wurde. Dies führt zum zweiten Punkt, wonach die Wahrheit von unserer Existenz gänzlich, sowohl positiv wie negativ, unaffizierbar bliebe: „Ob wir sie erkennen oder nicht, ändert an der Wahrheit nichts. Sie gewinnt nichts dadurch, daß sie erkannt wird, und verliert nichts da­ durch, daß sie es nicht wird. Sie verhält sich gegen unsere Erkenntnistätigkeit völlig gleichgültig.“155 Das Problem liegt darin, dass, sobald jemand einwirft, „es wäre doch schließlich zu erweisen, daß es solche unabhängige Wahrheiten auch wirklich gäbe“, ein ironischer Umschlag folgt und der Wahrheitspurifikationist in Rechtfertigung seines Konzepts selber zum Pragmatisten werden müsste, denn „bewähren kann sich die Wahrheit nach unserem Ermessen [dem des „Humanisten“ - G.K.T.] nur dadurch, daß ihre Behauptung uns zu wertvol­ len Folgerungen führt“, „ihre Annahme wirklich eine zweckmäßige ist“1561578, d.h. nach Maßstäben des Erfolgs in Bezug auf „Wert und Nutzen der Behauptung für menschliche Zwecke“1:,r. Würde der solchermaßen Argumentierende dagegen ins Feld führen, er könne die Existenz der absoluten Wahrheit deshalb nicht derart rechtfertigen, weil es sich um die absolute Wahrheit handelt, hätte diese argu­ mentative Aushilfsfigur, nach der in der Feststellung der alleinige Beweis liegen kann - ein Kniff, das Laster der Nichtbegründbarkeit in eine Tugend zu verwan­ deln - , nicht nur keinerlei Beweiskraft für den Gegner, denn „der selbe leugnet ja konsequent jegliche Existenz von unerweislichen Wahrheiten“.'58 Schlimmer noch: Für Schiller folgt aus dieser selbstimmunisierenden Situation der völlige Dammbruch zur Willkürlichkeit, zum Obskurantismus und damit, wie das vori­ ge Hauptkapitel gezeigt hat, zum Pessimismus als Leugnung einer tatsächlich die Welt illuminierenden Wirksamkeit von Denken: „Gibt es eine einzige Wahrheit, die nicht bewahrheitet zu werden braucht, deren Wahrheit nicht auf Nützlichkeit und Wert für menschliche Zwecke beruht, so kann es derselben

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offenbar auch viele geben. Ob also irgendeine besondere Wahrheit zu erweisen und zu bewahrheiten ist, wird durchaus zufällig.“

Die reductio ad absurdum ist komplett: Der eiserne Rationalist entpuppt sich am Ende als Irrationalist: „Er darf getrost behaupten, was er will und was ihm paßt. Alles ist wahr, alles ist erlaubt.“159160 Die Kategorien der Wahrheit und des Falschen aus dieser „subjective atmosphere in which they have to live in“161 durch objektive Purifikation zu entführen, wird so nicht nur der „full concreteness“ ihrer von Vorurteilen ungetrübten praktischen Gegebenheitsweise nicht gerecht - bliebe es so doch weiterhin nur ein rein innerphilosophisches, theoretisches Problem ohne größere lebensweltliche Relevanz und damit gerade pragmatistisch nicht der Rede wert. Das Konzept der „absolute truth“ ist vielmehr „positively noxious, actively disruptive of the whole notion of truth, and pregnant with self-destructive consquences”16’. Schillers humanistischer Wahrheitsbegriff, der bisher als Kontrast durch­ schimmerte, will nicht an diesem „Unsinn“163 ansetzen, sondern legt die Quelle desselben still, indem er Wahrheit als der menschlichen Erfahrung, Zeitlichkeit und Praxis immanent situiert und mit dieser Neufassung auch die Idee einer absoluten Realität in eine des Wandels und eine für Neuheit offene überführt. Statt mit der Abstraktion des „reason“ vom Prozess des „reasoning“ zu beginnen, liegt der Primat hier auf „actuality“: Wie wird konkret gedacht, wie wird konkret von Wahrheit(en) gesprochen, wie können Überzeugungen konkret als Irrtümer fallen gelassen werden. Die systematische Universalgrammatik eines metaphysi­ schen Solos weicht hier einer vielstimmigen Kasuistik. Die Pointe des humanistischen Wahrheitsbegriffs liegt darin, Wahrheit und Wert als untrennbar zu konzipieren, insofern menschliches Leben immer zweck­ orientiert organisiert ist: Das sich allein aus menschlicher Perspektive ergeben­ de Für-Wert-Erachten, ob bewusst oder unbewusst, aktiv gewählt oder passiv übernommen, geht „der Wahrheit“ voraus. Mehr noch, sie ergibt sich immer nur aus dem Dreieck zwischen der gewählten „purpose“, den gewählten „instruments“ zum Erreichen derselben und dem „observer“, der das erfolgreiche Erreichen feststellt. Denn selbst das Einstellen oder Ausbleiben des Erfolgs, das Kriterium, wann etwas hinreichend bewiesen oder falsifiziert worden ist, ist „dependent [... ]

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Ebd., S. 717 Ebd., S. 717 Schiller (1907a) [„The Making o f Truth“], S. 189 Schiller (1907a) [„The Making o f Truth“], S. 182 Schiller (1908a), S. 718 89

on human life and ministering to its needs“164165, da doch theoretisch immer mehr variierende Erfahrung gemacht werden kann. Der Mensch entscheidet so selber darüber, wann eine Hypothese „true enough“164 ist, gemessen an den gewählten Zielvorgaben, Umständen und Mitteln: „Every truth is essentially relative to the conditions out of which it sprang and to which it was meant to refer.“166 Niemals ist die Neutralität somit neutral, sondern selbst immer ein Kampf­ begriff zur Deligitimierung von Wertungen, die wiederum anderen Positionen unterliegen, was weiter bedeutet, „daß jeder Wahrheitswert strittig ist, angezweifelt werden kann und verteidigt werden muss.“167 Während James noch an einigen Stellen an einer menschenunabhängigen Objektivität festhält168, sind die Wahrheiten bei Schiller immer relativ auf Zwecke und Bedürfnisse innerhalb von Räumen von Interessen hin abgefasst, Zwecke, die mit ihrer Postulierung erst die Wirklichkeitsräume und -parameter schaffen, innerhalb derer von „rich­ tiger“ und „falscher“, d.h. hier in Bezug auf den Zweck nützlicher und hinderli­ cher oder auch schlichtweg als irrelevant („dead hypothesis“ bei James: Kap. 3.2.) gesprochen werden kann. Eine wirkliche Objektivität, verstanden als Subtrak­ tion alles Menschlichen, führt für Schiller also nicht zu einem luziden Durch­ bruch zum Sein an sich, da allein die Praxis als Interpendenz von Mensch und Umwelt, einem Licht erzeugenden Dynamo gleich, beide Seiten der Gleichung überhaupt erst beleuchten kann. Wenn der Wissenschaftler auf den Wert der Vorhersage und der Manipulati­ on von Umwelt setzt, so heißt dies, dass die Relativitätstheorie wahrer ist als das Newton’sche Modell, da sie wirksamer unter der Zweck-Schirmherrschaft der Prognose arbeitet, mit ihr mehr bzw. gewichtigere Probleme aufgelöst werden können, Probleme, die selbst wieder keineswegs neutral „da“ sind, sondern in Messverfahren nicht minder selektiv „hergestellt“ wurden, weil sie sich zu be­ stimmten Zeiten als von gewähltem und keineswegs ontologisch notwendigem Interesse in einem größeren gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen Kon­ text entwickelt haben. Die Gegenstände und Wahrheiten bspw. der Ästhetik sind dagegen wiederum auf andere Bedürfnisse und praktische Zielsetzungen hin or­ ganisiert, ist hier der Zweck nicht der einer kontrollierenden Naturbeherrschung, sondern eher umgekehrt der von Kreativität, Bildung und Freiheit der Person,

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Schiller (1907a) [„The Making of Truth"), S. 183 Schiller (1929a), S. 151 Schiller (1929a), S. 149 Schiller (1908a), S. 711 Eine Objektivität, von der James schreibt, dass zu ihr manch Wissenschaftler, „absolutly impersonal“, durchdringen kann: James (1896) [„The Will to Believe“], S. 7

der übernommen oder fallengelassen werden kann, je nachdem wie gewollt. Jeder Wahrheit geht so ein voluntaristisches Präfix voran, sind die Zwecke in letzter Instanz praktische Setzungen, Postulate - ist doch selbst die Minimalbe­ jahung des Lebens, wie der Pessimismus (Selbstmord) zeigt, nicht unantastbar. Diese strukturelle Tatsache der volatilen Vorsätzlichkeit der menschlichen Situ­ ation in jeder ihrer Verästelungen kann zwar verdrängt, verdeckt und unkennt­ lich gemacht werden, indem der Konsens über die Ausrichtung von Interessen eine Objektivität suggeriert oder indem sie durch einen autoritativen Alleinig­ keitsimperativ unterdrückt wird und so andere Blickwinkel, Interessen und praktische Interaktionsaneignungen mit der Realität als sekundäre bis patholo­ gisch-illusionäre stigmatisiert werden. Doch beide Formen, den willkürlichen Aspekt zu versachlichen und damit zu anonymisieren, wären selber wiederum nur interessegeleitet und keineswegs an sich notwendig und damit selbst Bestä­ tigung des Aktivischen auf einer höheren Ebene, sei es hier durch einen despoti­ schen Einzelnen oder im gesellschaftlichen Verbund.169

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Es ist diese Weitung der Perspektive von dem im engeren akademischen Sinn des Intellektualismus vorherbestimmten Domizil der Wahrheitsdebatte auf theoretische Aussagen jenseits anderer menschlicher Parzellen hin wie Ästhetik, Religion, Ethik, wo Schiller, zwar nicht nominell durchgängig, den Bereich des Pragmatismus und des Humanismus terminologisch trennen will. Dies wohl auch eine Reaktion auf James Weigerung, auf Schillers Drängen hin den Begriff des „Pragmatismus“ fallen­ zulassen und stattdessen den des „Humanismus“ als weitreichenderen zu adoptieren. Während der Pragmatismus für Schiller mit der Umstellung der Theorie des Wissens und der Wahrheit auf eine instrumentelle wie praktische Bewahrheitung in der Welt (statt einer passiv zu erschauenden Vorhandenheit) beschäftigt ist und damit gerade durch die Gegnerschaft zum intellektualistischen Erbe und seinem Problemfeld des Wissens, kurz: dem „epistemological level“ [Schiller (1907a) [„The Definition o f Pragmatism and Humanism“], S. 16] indirekt verhaftet bleibt, will der m ethodische H um anism us nicht nur der Gegner dieser Ideologie, sondern gleichzeitig Überwin­ der der akademischen Situation sein, die ihr Vorschub leistet. (S. dazu v.a. Kap. 3.7.) Als „spirit o f Pragmatism“ im weitesten Sinn schrumpft damit der Pragmatismus in der humanistischen Perspektive zu einer bloßen „special application of Humanism to the theory of knowledge“. (Ebd., S. 16) Der m ethodische H um anism us wie der Pragmatismus sind für Schiller zwar beide nur „methods“, insofern „neither of them necessitates a metaphysic“ (16), aber nur Ersterer übersteigt auch den Kanon der aka­ demisch vorgegebenen Fragen und öffnet somit das Spektrum des pragmatistischexperimentellen Zugangs, insofern er - „the simplest of philosophic standpoints“ (ebd., 12) - alles mit dem Menschen interagieren und damit von ihm (mit-)abhängig und (mit-)gestaltend sein lässt, was diesem von Relevanz erscheint, und dies so vorurteilsfrei, dass nicht mehr ein Bereich (das Intellektuelle) alle anderen Bereiche 91

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Es ist dies die Einsicht, die für Schiller den Kern der Losung des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge ausmacht, während dessen Gegenspieler Platon in dieser Urszene der abendländischen Philosophie den Vater aller rein rationalistischen Wahrheitstheorien verkörpert. Hat die seit A. N. Whitehead stehende Wendung von der Philosophiegeschichte als einer „series of footnotes to Platon“170 bei anderen eine durchaus positive Konnotation zur Substituierung eines Bildes ewiger geistiger Problemstellungen im Sinne einer philosophia perennis, so kommt für Schiller darin die zwar positivistisch korrekte, aber tragische Diagnose der letzten 2300 fahre andauernden Philosophiegeschichte als einer einzigen fehlgehenden Malaise zum Ausdruck. Jeder den abendländischen Weg pflasternde Stein intellektualistischer und absolutistischer Wahrheitskonzeptio­ nen ist in dieser Hinsicht immer nur eine „washed out replica o f Platonism“171 und

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des Menschen a p riori zu überschatten hat: „It demands that man’s integral nature shall be used as the whole premiss which philosophy must argue from wholeheartedly, that man’s complete satisfaction shall be the conclusion of philosophy must aim at, that philosophy shall not cut itself loose from the real problems of life by making initial abstractions which are false, and would not be admirable, even if they were true.“ (Ebd., 13) Whitehead ( 1929), S. 39 Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 68. In der Formulierung ist gleich­ zeitig Schillers grundsätzliche Sympathie für Platon vernehmbar, die er bei all seiner Kritik an ihm immer wieder in Stellung gegen seine eigenen „platonischen“ Gegen­ spieler bringt: Zwar ist Platon für ihn d er Vordenker des Rationalismus, doch dies auf eine viel tiefgründigere Art als bei all seinen, die „anti-empirical bias“ (ebd., S. 42) schlicht übernehmenden Nachfolgern, die im Unterschied zu ihm nicht die Größe besaßen, die Aporien und letztlich den „logical collapse" (ebd., S. 58) m it­ zuerkennen, die in der ontologischen Zerklüftung von Idealität und Realität, von absolutem Wissen und relativem Meinen stecken. Dennoch ist diese Sympathie, die Schiller für Platon im Unterschied zu sämtlichen Sekundär-Rationalisten hegt, nicht gleichbedeutend mit einem historischen „Freispruch“, denn es wäre „fallacious to argue that, because he recognized these difficulties, he was able or willing to remove them.” (Ebd., 60) Stattdessen sollte die Aufgabe darin bestehen: “Let us go back to Plato, by all means; but let us go back, not with the intention of repeating his mistake and painfully plunging into the ‘chasm’ he has made, but in order to correct his initial error. But to do this we must return from Plato to Protagoras.” Ebd., (69) Zugespitzt lautet damit Schillers geschichtsphilosophisches Programm: Platon zu korrigieren heißt, Protagoras Alternative zu wählen, die, da kaum mehr als das “famous dictum” überliefert ist und selbst von dessen Kontext “we know nothing about” [ebd., S. 12], in der Interpretation Schillers, präziser: in Schillers m ethodischem H um anis­ mus selber besteht.

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dessen Konstruktion eines Ideenhimmels als Ort des zeitlos wahr Erschaubaren, welcher derart über dem in einem Fluss der Veränderung begriffenen und ge­ genteilig konstruierten Empirischen thront, dass eine produktive Überbrückung des „chasm“ und „gap“ zwischen beiden nicht mehr möglich erscheint. Die Fol­ gen dieser, aus Schillers „protagoreischer“ Sicht, intergenerationell monopolis­ tisch weitergereichten Hypothese des Absoluten172 sind nicht nur, dass unter der Knute dieses vermeintlich absoluten Wissens die „reality of the human world“ der philosophischen Unwürdigkeit preisgegeben wird und in ihren realen Pro­ blemen ungelöst wie rational unintelligibel bleibt: als ein „self-directing process which Pure Reason cannot sanction or understand.“173 Gleichzeitig reift in dieser „niederen“ Sphäre der Existenz - weil der Mensch als inkarniertes Wesen eben unmöglich dem Ideenhimmel mehr verhaftet sein kann als seiner endlichen und relativen irdischen Existenz - damit aber auch unausweichlich die Ahnung bis zur Gewissheit von der Unmöglichkeit von Wissen für den Menschen überhaupt (innerhalb des platonischen Paradigmas konzipierbar allein als absolutes) heran und provoziert so allererst die Trias vom Agnostizismus über den Skeptizismus bis zum Pessimismus: „as soon as the breakdown of its impossible demands becomes evident“174 Bei Schillers Protagoras dagegen wird das Problem des Wissens umgekehrt antiintellektualistisch aufgerollt: Statt davon auszugehen, dass die rationalen Konzepte und Ideen in ihrer Zeitlosigkeit und anonymen Absolutheit immer schon bereits existieren und die Frage im Anschluss daran höchstens noch sein kann, wie wir als ausweglos in die Empirie und Zeitlichkeit eingelassene Lebewe­ sen mit ihnen in Kontakt treten können, kehrt das H om o-M ensura-D iktum für Schiller die Entfaltungsrichtung um. Ausgangspunkt ist damit nicht nur die Idee,

Insofern ist, dies sei schon hier vorweggenommen, Russell später wohl recht zu geben, dass Schiller mit seinem Rekurs auf Platon und Protagoras kaum einen Mehrwert gegenüber seiner Philosophie bietet, dieser vielmehr umgekehrt nur his­ torischen Auslauf gewährt, der selber wiederum eher einer vor allem rhetorischen Einbettung in ein größeres, dramatisierbarers Geschichtsszenario dient. Dies ist auch der Grund, warum dieses Szenario in der vorliegenden Arbeit nur versprengt Eingang findet, bietet es doch kaum substantielle Erweiterungen von Schillers philo­ sophischer Positionierung, auch wenn sein Dauerverweis auf Protagoras seit seinem

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„Humanism” (1903) etwas anderes, darin den Sophisten und ihrem Wissen um die Wichtigkeit des aufmerksamkeitserheischenden Effekts konsequenterweise folgend, zu suggerieren scheint. s. hierzu: Schiller (1921a), S. 425f. Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“],, S. 62 Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 69 93

! dass das Wissen eines sein muss, das vom Menschen (als Gattung) verstanden werden und damit nicht absolut anders, zeitlos, ortlos, unpersönlich sein kann, soll es überhaupt von diesem zur Kenntnis genommen werden können. Eben­ so werden innerhalb der Gattung Mensch die Individuen zum Ausgangspunkt der Wahrheitsetablierung gemacht, insofern anerkannt wird, dass jeder zuerst einmal den Anspruch darauf erhebt, dass seine Sicht der Dinge wahr ist. Daraus folgt jedoch kein solipsistischer Relativismus, sondern einzig ein agonaler Wett­ bewerb darum, welche der von den Einzelnen vorgetragenen „truth-claims“ sich am besten pragmatistisch, d.h. gemessen am Lackmustest der sich in der Zeit einstellenden oder ausbleibenden, gewollten oder ungewollten Konsequenzen dieser oder jener Sicht durchhalten lässt und damit eine größere, wenn auch letztlich immer nur temporäre Konsensfähigkeit unter Beweis stellt als die rest­ lichen Ansichten und Behauptungen auf der Agora. Mit dieser protagoreischen Rekonstruktion der „absoluten“, also aufgrund ihres andauernden Funktionierens kaum noch bestrittenen Wahrheiten, im Unterschied zu dem vielfältigen Pulk von möglichen Wahrheitsansprüchen, kann Schiller die menschliche Rea­ lität gerade in ihrer Zeitlichkeit, Endlichkeit und Zweckhaftigeit gegenläufig zum Platonismus als immer schon im Dialog mit „der Wahrheit“ stehend denken, weil diese aus der plastisch-experimentellen Interaktion des Menschen mit der Umwelt wie der Menschen mit den Menschen als ihrer sozialen Umwelt ent­ steht: „In reality we are here on the holy ground where, by continuous revision of values and the rejection o f ,errors,1 Truth is made where knowledge is alive and growing.“175 Die Grunderkenntnis des m ethodischen Humanismus, die für Schiller bei einer alternativ-kontrafaktischen, uchronistischen Geschichtsschreibung seit Protagoras kein Geheimnis mehr hätte sein müssen, wurde erst wieder durch „the working of Science [...] slowly brought to light“176, indem dort erfolgreich und, spätestens seit Francis Bacon (1561-1626)177 auch theoretisch explizit, die

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Schiller (1908b), S. 28 - Gerade diese apriorische Anbindung des menschlichen Le­ bens an Wissensproduktion macht verständlich, wieso für Schiller der protagoreische bzw. humanistische Standpunkt zu einem gegenüber dem Skeptizismus immunen wird: „it [Protagoras Diktum] carries the completest assurance of a possible harmony between man and the world he inhabits. It rules out from human measurement none but realities which are alleged to be unknowable, unmeaning, inoperative, fictitious, or absurd.“ Schiller (1939) [“Is Idealism Incurably Ambiguous?”], S. 105 Studies (1907a) [„From Plato to Protagoras”], S. 64 So hat auch Bacon in seinem „Novum Organon“ (1620) die wissenschaftliche Praxis dezidiert nicht nur als gegen den Rationalismus gewandt konzipiert, sondern ebenso

Bildung von Hypothesen samt anschließendem Falsfizieren wie Verifizieren in Experimenten als Königsweg zur Wahrheitsbildung auserkoren wurde, der nun im Pragmatismus bzw. Humanismus seinen modernen philosophischen Für­ sprecher gefunden hat: Für Protagoras, die empirischen Wissenschaften und den methodischen Humanismus gilt also, so Schiller, der Ausgangspunkt, dass das Theoretische als Form der wert- und interessengeleiteten Praxisbewältigung zu verstehen ist: „concepts must not be conceived as rigid, but as improvable and adjustable to new conditions.”178 Gerade der Blick auf das Funktionieren der Wissenschaften zeigt, dass sie dann am meisten prosperieren, wenn sie den blin­ den Gehorsam gegenüber dem formallogisch definierten Gebrauch vermeintlich fest definierter Begriffe und deren Ein- wie Ausschlussbeziehungen unterein­ ander - ein Gehorsam, der in seinem fast schon magischen Glauben an „words of power“ für Schiller aus evolutionspsychologischer Sicht die „chronic fear“ des Menschen vor Sicherheitsverlust in der Welt oder aus „psychoanalytischer“ die Scham vor der Ganzheitlichkeit und damit auch den niederen Regionen der „human nature“ „camouflaged“ zum Ausdruck bringt179 - zugunsten eines prak­ tisch-kreativen, geradezu blasphemischen Umgangs mit diesen tatsächlich bloß verbalen Grundüberzeugungen ablegen und damit von einer statischen „logic of proof“ zu einer dynamischen „logic of discovery“ übergehen, nach der das Ge­ wusste nicht am Anfang, in den ein für alle Mal definierten Prämissen, sondern am Ende der Untersuchung verortet wird,180 Nicht nur, dass die wissenschaftliche

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gegen einen situativ passiven Empirismus und damit im Grundsatz den Mittelweg zwischen beiden Extremen geebnet, den Schiller hier im Speziellen wie der Pragma­ tismus im Gesamten beschreitet. S. hierzu: Collingwood (1945), S. lOOf. Studies (1907a) [„From Plato to Protagoras"], S. 65 - Herv. i.O. Zum Narrativ von der Furcht vor dem Sicherheitsverlust als psychologische Quelle des Rationalismus s. Schiller (1921a), S. 414f.; zum Narrativ der psychoanalytischeren Deutung, im Rationalismus eine Ur-Scham des Menschen vor sich selber am Werk zu sehen: „We are ashamed o f human nature, and therefore claim for what is reputed best in us, our thoughts, that they soar far above it, and must win the

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absolute approval of intelligence as such. We are ashamed o f ourselves, and therefore cam ouflage our motives and our ends." Schiller (1924b), S. 387 - Herv. i.O. Als Beispiele für einen solch der experimentellen Erkenntnis und nicht der Verbalität verpflichtenden Umgang der Wissenschaften: „Similarly such notions as ‘solid solutions,’ ‘liquid crystals,’ invisible ‘light,’ divisible 'atoms’ unconscious ’mental’ life, seem mere foolishness until we realize that the work o f science is not to avoid verbal contradiction, but to frame conceptions by which we can control the facts.“ Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 39 Als Vertiefung: „The assumption that everything has been named rightly, and is what it is called, will scarcely commend 95

Praxis nicht der Idee der absoluten Wahrheit zuarbeitet, sie zeigt mehr noch, dass „[ijmmutability and immemorial antiquity are only found in the ,truths' of pseudo- sei ences“.181 Ail dies hat Folgen für das Verständnis weiterer klassischer philosophischer Grundbegriffe neben dem der Wahrheit (und dem des nicht ganz so klassischen Irrtums): So wird die Kategorie der Substanz, einst ontologisches Fundament einer an Festigkeit statt zeitlicher Plastizität orientierten Sicht auf Wahrheit, innerhalb dieses operationalistischen Paradigmas Schillers vom Moment des Außerempirischen entschlackt, um zu einer nominellen Abkürzung der als be­ sonders gewichtig erachteten Möglichkeiten des Umgangs mit einem Gegen­ stand, einem Konzept, einer Idee zu werden - zu einer „permanent possibility of activity“182. Die Substantialität bezeichnet nicht mehr als die Gegebenheitswei­ sen von X bei eingespielter Handhabung; zur Ausübung „symbolischer Macht“ (P. Bourdieu) wird sie, wenn diese aktive Transitivität, wie im Fall der rationa­ listischen Entzeitlichung der Kategorien (Kap, 3.3.), durch die „intellectualist bias“183 als intransitive Objektivität eines So-ist-es zur passiven Hinnahme ge­ rinnt und zur disziplinarischen Einschränkung des Feldes des praktischen G e­ brauchs und Nutzens benötigt wird.184

itself to the scientific researcher. He will know from much painful experience that language only embodies the knowledge which has been acquired up to date, and too often is only a compendium of popular errors. Hence in any research which really breaks new ground the existing terminology will always prove inadequate, and new technical terms have usually to be devised in order to embody the new knowledge.“ Schiller ( 1917a), S. 248. S. dort die weitere Ausführung zu den antipodischen LogikParadigmen des „proof“ und der „discovery“. 181 Schiller (1929a), S. 152 182 Schiller (1903) [„Activity and Substance“], S. 225 183 Schiller (1939) [„How far does science need determinism?”], S. 174 184 Dabei ist diese anbindende Beschränkung Schillers von Wissen auf spezielle Teilbe­ reiche keineswegs eine Kritik der Theorieproduktion überhaupt, im Gegenteil: Über­ leben doch viele Theorien oft nur deshalb, weil sie gar keine Expansion von ihrem ursprünglichen Terrain auf benachbarte wagen, da dies allzu oft zu entsprechenden Friktionen führt, die dann nicht mehr in einem esoterischen Bereich stattfinden und dort begrenzt werden können, sondern zwischen Expertenclustern und damit mindestens quasi-öffentlich sind (bspw. die Erweiterung der versprochenen Ergeb­ nisse einer Widerlegung der Willensfreiheit anhand der Libet-Experimente in den Neurowissenschaften auf den Bereich des Strafrechts), nicht selten mit der Folge der Aufdeckung der keineswegs universellen, sondern nur in bestimmten Bereichen und Fragestellungen vorhandenen Legitimität ebendieser Theorien. Die Betonung des Anspruchs auf Universalität funktioniert gerade deswegen umso besser, je weniger 96

Gleiches gilt für das Abstrahieren im Allgemeinen wie zur Bildung ei­ ner Universaltheorie im Speziellen, wird in beiden doch immer entschieden, was im Konkreten vernachlässigenswert zu sein hat: Auch dieses Prozedere ist ein Prozedere der Realitätserzeugung und kann, insofern sie auf Kosten des Verstummenlassens alternativer Stimmen entsteht, als solche niemals sub spe­ cie aeternitatis endgültig sein, denn: „There is nothing .accidental1 and void of significance about the Real, nothing which a com plete theory o f events can afford to ignore.”18’ Diese prometheische Schöpferkraft ist dadurch immer end­ lich, dass ihr Akt der Gründung gleichzeitig ein Akt der (Selbst-)Gefährdung sein muss, weil sie sich nur im Verhältnis von Inklusion und Exklusion kons­ tituieren kann. Dadurch, dass Aspekte als unwesentlich, unbedeutend, illuso­ risch erklärt werden, ist sie just in dem Moment genau diesen ihr nun intrinsisch äußerlichen Aspekten als Alternativen zu ihr preisgegeben. Machtausübung ist allerdings für Schiller nichts Vermeidbares, denn wie beim späten Nietzsche gilt auch hier die Gleichung: Leben ist M acht.185186 Der menschliche Organismus als Teil der ihn übersteigenden Natur muss sich diese durch Manipulation als partikularisierte Umwelten, i.e. Zweck-Mittel-Kontinuen aneignen: „A ,One‘, therefore, which is not thus contrasted with an ,other1 cannot be thought as

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über die eigenen Grenzen hinausgegangen wird. Dieses Paradox drückt Schiller so aus: „To us, at least, it is no paradox that a psychological instability or unwillingness to raise a problem may also be its only logical solution.” Schiller (1907a) [„The Making o f Reality”), 426 - Herv. d. G.K.T. Schiller (1907a) [„The Making of Reality”], S. 424 Schiller selbst rückt Nietzsche bereits 1902 stark in die Nähe seines m ethodischen H um anismus: „Since this was written the recently published remains o f Nietzsche [gemeint ist hier die inzwischen als editorisch fragwürdig geltende Kompilation seines Spätwerks unter dem Titel „Wille zur M acht“ - G.K.T.] have made it manifest that he also conceived our axioms as postulates transformed into ,truths‘ by their usefulness, and that I might have quoted from him some telling phrases to this effect.“ Schiller (1902), S. 85. Nachgeholt hat Schiller dies allerdings erst dreißig Jahre später in einem eigens sich mit Nietzsche beschäftigenden Essay, in dem das Fazit ein positives bleibt: „in his theory of knowledge, as in his theory of morals, Nietzsche is immensely suggestive“. Schiller (1934) [„Nietzsche”], S. 128 Eine ge­ nauere Untersuchung hierzu liegt vor: Stack ( 1982). Falsch ist dagegen die Diagnose von Hahn (2005), Schiller in Opposition zu Nietzsche zu setzen vermittels der Pole des hom o fa b e r - Motivs einerseits (Schiller) und dem des hom o poeta andererseits (Nietzsche), hat doch auch Schiller für die „romantische“ Spekulation einen O rt in seiner Philosophiekonzeption eingeräumt. S. hierzu die methodische Begründung in Kap. 3.7. und seine eigene Durchführung als spekulativer H um anismus in 4.1.3. 97

I

real.“187 Im Unterschied zum Skeptizismus, der diese menschliche Intervention als Fälschung deutet (Kap. 2.2.), ist sie bei Schiller konstitutiver Part der Realität und so unmöglich deren Fälschung, sondern deren Gestaltung. Ohne den Men­ schen wäre diese Realität nicht wahrhaftiger, neutraler oder objektiver, sondern schlicht - anders. Das Anliegen kann somit nicht sein, dieses weitläufige Macht­ verhältnis der Organismus-Umwelt-Interaktion und seiner Grundtendenz zum konservativen Einleben aufzuheben, sondern durch die Einsicht in die unendli­ che Endlichkeit dieser anthropologischen Situation - eine Einsicht, die Schiller später auch die Entwicklung der Relativitätstheorie kaum als revolutionär, son­ dern als bloß astrophysikalische Extension der von ihm beschriebenen Situation der Conditio hum ana zur Kenntnis nehmen lässt188189- vor allem ein anderes Ver­ hältnis zur Endlichkeit zu gewinnen: weniger rigide, dafür kreativer, pluraler, toleranter, aber auch verantwortungsbewusster, denn: „We select the conditions under which reality shall appear to us, but this very selection selects us, and if we cannot contrive to reach a harmony in our intercourse with the real, we perish.“188

Dieses ethische Grundanliegen des m ethodischen Humanismus von Schiller lässt sich an zwei Beispielen aufzeigen und erweitern: anhand (1) der Befreiung der

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Schiller (1907a) [„The Making of Reality”), S. 450 So wertet Schiller das Aufkommen der Relativitätstheorie bloß als weiteren Beleg der Grundannahme seines methodischen Humanismus, bricht sich doch auch in ihr, allein ins Astrophysikalische gewendet, die Einsicht in die Irreduzibilität der Individualität Bahn: „Einsteinian Relativity therefore lays it down that evert' place must have its own time, theoretically incommensurable with that o f every other, and that every time must be local“. Schiller (1934) [„Our Natural Relativity“], S. 162 - Herv. i.O. Darüber hinaus wird hier ebenso, durch die Setzung des Maximums der Lichtgeschwindig­ keit als kosmische Geschwindigkeitsbegrenzung, die Idee des Absoluten vertrieben: „For measurement depends on comparison, and comparison on signalling between different places. But signalling takes time, and the quickest signals we can use, those transmitted with the velocity of light, require one second to traverse 186,00 miles. For ordinary purposes that is quite enough, but it is too slow for the absolute, an d m eans its death. For the time taken up by signalling is indispensable and ineradicable, and utterly precludes exact comparison between the time at one place and at the other.“ Ebd., S. 161 f.- Herv. d. G.K.T Auf die Frage, ob die Relativitätstheorie „must change our whole outlook upon life?“, lautet die Antwort für Schiller, der seinen methodischen H um anism us ja gerade im philosophischen Ernstnehmen alltäglicher, „unreiner“ Praxis sehen will, damit auch folgerichtig: „Not a bit o f it! If we have been living sensibly, it needs make hardly any difference at all.“ S. 162 Schiller (1903) [„The Ethical Basis o f Metaphysics”], S. 14

Natur vom Determinismus und (2) der Befreiung des Menschen vom morali­ schen, jeden persönlichen Grund abstreitenden Rigorismus. Ad 1) Zum Problem der Determiniertheit der Natur: Wäre dies die unbe­ streitbar vorherrschende Situation in der Natur, folgt daraus entweder, dass der Mensch zwar Freiheit besäße, dies aber mit dem Ausschluss aus der Natur be­ zahlen müsste, oder aber Teil derselben bliebe bei gleichzeitiger Irrealisierung der „immediate experience“ von „real alternatives“, „real choices“190 sowie der „responsibility or agency“191192zu illusorischen Epiphänomenen und damit auch hier wieder zum Pessimismus. Abgesehen davon, dass die erste Variante in eine kantische Zweiweltenlehre münden würde, die gerade der evolutionärverzeitlichende Blick überwinden soll (siehe die genetischen Erklärungsversu­ che vermeintlicher Raum-Zeit-transzendenter Kategorien: Kap. 3.3.), und dass im zweiten Fall der voluntaristische Aspekt, von dem weiter oben die Rede war, ebenso sehr als Gepäckstück für die Reise in die reine Phantasterei aufgegeben werden würde - entscheidender ist für Schiller an diesem Punkt der Grund­ satz seines m ethodischen Humanism us: Wenn für den Menschen als ErfahrungM achender und darin Tatsachen-Schaffender jede erlittene Weltkonfrontation immer auch durch die Wahl eines sie evaluierenden Horizonts eine Weltkonst­ ruktion ist und damit eine ursprüngliche Exterioritätsrelation von Idee (Form) und Erfahrungsinhalt (Materie) wegfällt, dann eröffnet ein solcher Humanismus die Möglichkeit eines optimistischen methodologischen Prinzips: „For our ideas should be formed to understand experience, not to confute it.“'91 Hier setzt die zu Beginn angedeutete Therapeutik bei der These des Totaldeterminismus an, welche derart kontraintuitiv gegen menschliche Alltagserfahrungen ausschlägt, diese zum Gebiet einzig einer veralteten Thaumatologie diskreditiert und so, statt etwas zu erklären, alles verklärt und verdunkelt193. Zentrale Aufgabe des

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Schiller (1907a) [„Freedom“], S. 392 u. 394 Ebd., S. 394 Ebd., S. 419f. Siehe auch: Humanismus, „denies that any of the great question of human concern have been irrevocably answered against us. For most ot them have not been asked in the pragmatist manner". Schiller (1903) [„The Ethical Basis of Metaphysics”], S. 14 - Herv. d. G.K.T. Es ist dieser Satz, der das ganze therapeutische Potential des m ethodischen Humanismus Schillers als einen Possibilismus beherbergt und gleichzeitig die Abfahrt zum prophetischen H um anism us in seiner Zweifachheit markiert. Ich komme zum Ende des Kapitels darauf zurück. Gleiche Argumentation richtet sich gegen die „Perfektion der Realität“: Wäre ihr Sein unveränderbar, weil „fertig“, müsste des Werden und Treiben der Menschen eine illusionäre Farce sein. - Schiller (1907a) („The Making of Reality”], S. 450 99

methodischen Humanismus ist damit „to defend and establish the reality of this indétermination“194 - nicht zuletzt auch, weil dieses Postulat vom Menschen selber der Natur als Korsett übergezogen und bis zu deren Erdrosselung zuge­ schnürt wurde.195196 Zur Auflösung dieses jahrhundertealten Konflikts schlägt Schiller vor, den Determinismus zwar als methodisches Postulat der Wissenschaften zuzulassen, sodass weiterhin „by making the determinist assumption we nerve human science to carry on from age to age its heroic struggle against the brute opacity, the bewildering variety, of the presented sequence of events“156

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Schiller (1907a) [„Freedom“), S. 392

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In dieser, wenn auch noch viel radikaleren, individualistischen Weise argumentiert der den Autoren des klassischen Pragmatismus - vor allem [antes und Schiller - nicht unbekannte französische Philosoph Émile Boutroux (1845-1921) (späterer Lehrer von H. Bergson und damit nicht zufällig von dem Autor, von dessen „L’Évolution créatrice“ (1907) James in einem Brief an Schiller als einer „divine apparition“ [James (1920), S. 290] sprach) in seiner Dissertation „Die Kontingenz der Naturgesetze“ (1874). Um das moralische Selbstverständnis des Menschen und das Konzept des Individuums sowie das damit stehende und fallende der Freiheit als nicht allgemein determinierte Expressivität singulärer Eigenart zu bewahren, versucht er, einen universellen Determinismus zugunsten des unmittelbar Manifesten der einzelnen Person auszuhebeln und Ersteren als vermitteltes Abstraktum der Letzteren zu ver­ stehen: „Ausschließlich als Teil des Ganzen existieren, hieße also einem absoluten Verhängnis unterworfen sein. In Wahrheit weist kein Reales dieses mit der Existenz unverträgliche Merkmal auf: man begegnet ihm nur in dem rein idealen Objekt einer durch und durch abstrakten Wissenschaft. [... ] Nun hat aber die menschliche Person mehr als die anderen Wesen eine eigene Existenz; sie ist sich selbst ihre Welt. Mehr als die anderen Wesen kann sie handeln, ohne gezwungen zu sein, ihre Handlung in ein System eingehen zu lassen, welches über sie hinausragt. Das allgemeine G e­ setz der Erhaltung der psychischen Energie zersplittert sich gewissermassen in eine Menge gesonderter Gesetze, von denen jedes einzelne einem einzelnen Individuum eigen ist. Diese individuellen Gesetze sind unmittelbar: das allgemeine Gesetz ist bloß mittelbar. Ja noch mehr: es scheint, dass das Gesetz in bezug auf dasselbe In ­

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dividuum wieder in einzelne Gesetze zerfällt und sich in Einzelgesetze auflöst, die jedem Stadium des psychischen Lebens eigentümlich sind. Das Gesetz strebt danach, sich der Tatsache zu nähern. Somit bestimmt die Erhaltung des Ganzen nicht mehr die Handlungen des Individuums, sie hängt vielmehr von denselben ab. Indem das Individuum die ganze Gattung geworden ist, auf die das Gesetz angewandt wird, ist es der Herr desselben.“ Boutroux (1874), S. 125f. Schiller (1907a) [„Freedom“], S. 396

- ohne jedoch dieses regulative Prinzip wissenschaftlicher Methodik in eine metaphysische Grundtatsache hinein zu steigern. Mehr noch: Die Annahme des Determinismus bleibt auch dann nützlich, wenn sie als letztes Faktum falsch sein sollte bzw. als falsch angenommen werden kann. Denn wenn wir die eiserne Formel der „laws of nature“ in die abgeschwächtere der „habits of things“197 übersetzen, ändert dies nichts an der wissenschaftlichen Praxis, so­ lange diese Gewohnheiten und Durchschnittswerte der Natur soweit konstant bleiben, dass sie nicht jede Kalkulation durch eine pure Inflation des Neuen obsolet werden lassen. Leichtere Variationen fielen unterdessen in gröberen Berechnungsrahmen als praktisch irrelevante Messungsanomalien unter den Tisch oder aber sie fielen so groß aus, dass die Fehlkalkulation schlichtweg auf bisherige Unkenntnis gegenüber dem .wahren dahinterliegenden Gesetz“ ge­ schoben werden müsste, das dann ex p ost wiederum methodisch so rekonstru­ iert wird, als ob es schon immer als Invarianz wirksam gewesen wäre und sich nicht erst jetzt mit dem neuen Dingverhalten gebildet hätte. Dieses Konzept der nachträglichen Determinationskonstruktion nennt Schiller „determinab­ le indétermination“198. Eine W in-W in-Situation, denn die Wissenschaft bleibt intakt bei gleichzeitiger Annäherung des Menschen und der Natur, insofern beide der Freiheit als Variation des Handelns und Verhaltens teilhaftig sind.199 Der Eindruck, dass die Freiheitlichkeit des Menschen in ihrer Radikalität und die hier postulierte dezente Variabilität der Natur im Vergleich dazu ein ungleiches Paar abgeben, entsteht für Schiller umgekehrt aus einer romanti­ schen Überhöhung der menschlichen Möglichkeiten, denn: „human nature is conservative - for good and evil“200. Freiheitsmomente der Variationen, des Wachstums, des Lernens sind auch innerhalb des menschlichen Habitus „comparatively rare events“.201 Nur so scheint ja eine empirische Sozialwissen­ schaft wie die Demoskopie überhaupt erst möglich zu sein. Die für das spätere Unterkapitel 4.1.1. von Marx202 gekaperte titelgebende Formulierung der Doppelbewegung einer Naturalisierung des Menschen als

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Schiller (1907a) [„The Making of Reality”], S. 447 Schiller (1907a) [„Freedom“], S. 392 Eine Ansicht, die er Jahrzehnte später in der von Heisenberg aufgestellten U nschärfe­ relation bestätigt sieht. Schiller (1939) [„How far does science need determinism?”], S. 170 Schiller (1934) [„Novelty”], S. 218 - Herv. d. G.K.T. Schiller (1907a) [„Freedom”], S. 401 Im Original lautet das Paar „Naturalismus des Menschen“ und „Humanismus der Natur“. Dass der Kontext und folglich die Bedeutung bei Marx eine andere ist, spielt für die vorliegende Benutzung keine weitere Rolle. Siehe Marx (1844), S. 391 101

Vermenschlichung der Natur - die Schiller andernorts mit einem „Panpsychis­ mus“, wie ihn zuvor G. T. Fechner (1801-1887) vertreten hatte, sympathisieren lässt20'’ - wird bereits hier deutlich. Die Konsequenz dieser Doppelbewegung lautet hier vorerst, dass die Naturgegebenheit des Neuen die menschliche Kon­ tingenz radikalisiert und verdoppelt: Ist die einfache Kontingenz, wie bereits ge­ schildert, dadurch gegeben, dass die menschliche Situation sich Realitäten in, aus und pari passu gegen das sie übersteigende Reale errichten muss, welches sich wiederum als „conceptual limits“203204205der jeweiligen Systeme anzeigt, wird diese einfache Kontingenz nun zu einer doppelten, indem nicht nur das Gesamte der Welt als Ausgeschlossenes der Umwelten eben diese partiale Umwelt- und Selbstbehauptung des Menschen bedroht, sondern auch in Bezug auf sich sel­ ber ein (vielfaches) Eigenleben führt. Es ist diese Doppelkontingenz, die hinter Schillers einfacher Formel des „the world is plastic“ steckt2"5 und Grund dafür

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Schiller (1907a) [„The Making o f Reality”], S. 443f. - Eine Überzeugung, die in ihrer abgeschwächten Form der Geschöpftheit von Realität, die sich in der Möglichkeit einer teleologischen Dechiffrierung derselben bekunden lässt, das Fundament des spekulativen H um anism us als seiner Replik auf den umgekehrten, völligen Sinnent­ zug von allem in Form des Pessimismus bildet. Ebd., S. 432 Schiller (1902), S. 61. Diese Kreativitätsübertragung vom Menschen auf die Natur selbst, welche hiernach nie mehr meinen kann als den Grenzbegriff dessen, womit der Mensch experimentierend immer schon diese zulassend oder behindernd in Verbindung steht, und der im Rahmen der Evolutionstheorie und ihrer VariationsLogik wissenschaftlich plausibel geworden ist, treibt Schiller auf die Spitze, wenn er auch Gott in die Rolle des Experimentators rückt: „VVe may therefore plausibly contend that if a superhuman intelligence is active in the forming o f the cosmos, its methods and its nature are the same as ours; it also proceeds by experiment, and adapts means to ends, and learns from experience.“ Schiller (1902), S. 58. Schillers Radikalisierung der schöpferischen Ader des Kosmos nivelliert nicht nur nicht die Wissenschaft, indem er die kosmischen Variationen ja weiterhin als Modifikatio­ nen von relativ stabilen habits denkt, sondern befreit die wissenschaftliche Praxis sowohl von der Furcht vor ihrem Ende bzw. Abschluss und stärkt sie andererseits in der Betonung des Kreativitätsprinzips in der Hypothesenbildung, die damit den hier entfalteten metaphysisch-kosmologischen Tatbestand der „unceasing process of creation“ allein gerecht zu werden vermag, welcher „is continuosly manifested in the all-pervasive creativeness which engenders more or less momentous novelities in every region o f the universe“. Schiller (1924a), S. 189. Wissenschaftsmethodologisch gewendet bedeutet dies, dass es „unwise“ ist, „to limit the freedom o f the scientists in framing their hypotheses.“ Schiller ( 1939) |„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 88. Das Ideal wissenschaftlicher Praxis lautet damit für Schiller: „Tire

ist, „that Rationalism is not rational“*206. Die rheumatische Dogmatisierung des Weltwissens im Rationalismus kann so nur als ein Akt der Weltabkehr oder gar der erkenntnistheoretischen Gegenaufklärung interpretiert werden, ist die Rea­ lität doch „like an ancient oracle, and does not respond until it is questioned.”207 Der Rationalismus erscheint so praktisch reformuliert als ein konservierendes Postulat eines Praxis-Regimes und damit für Schiller allein involviert in „sham .deductions1 of the rational necessity o f the actual, while no provision for the possibilities o f future development.“208209Mit dem Aphoristiker Stanislaw J. Lee kann man diese von Schiller gemeinte aktive Passivität treffend auf den Punkt bringen: „Wegweiser stehen auf der Stelle“200.

actual method o f science would appear to be the freest possible use o f imaginative hypothesis, followed up by the most scrupulous and persevering experimentation.“ Schiller ( 1934), [„Some Problems o f Mass Education”], S. 91. Schiller kann damit durchaus als Vorkämpfer des progressiv-anarchischen W issen­ schaftsmodells eines Paul Feyerabend und dessen pluralisierend-öffnender (Anti-) Methode des anything goes gesehen werden: „It is clear, then, that the idea o f a fixed method, or of a fixed theory o f rationality, rests on too naive a view o f man and his social surroundings. To those who look at the rich material provided by history, and who are not intent on impoverishing it in order to please their lower instincts, their

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craving for intellectual security in the form o f clarity, precision, ‘objectivity’, ‘truth’, it will become dear that there is only one principle that can be defended under all circumstances and in all stages of human development. It is the principle: anything goes." Feyerabend (1975), S. 18f. - Herv. i.O. Schiller (1907a) [„Preface”], S. XVI Schiller (1907a) [„The Making of Truth“], S. 185 Schiller (1902), S. 94 Lee (1982), S. 31 - Das Abdriften in das Verbalrepertoire der Systemtheorie von N. Luhmann mit Begriffen wie mehrfache Kontingenz oder differenzlogische Kon­ stituierung von Welt durch einschließenden Ausschluss von Umwelt(en) im letzten Absatz bzw. diesem Areal der Philosophie Schillers will mehr sein als rein nomineller, spielerischer Art. Denn nicht nur, dass sich tatsächlich systematische Überlappungen dieser beiden konstruktivistischen Perspektiven aufzeigen lassen, die Kongruenz mit Schiller ist vielmehr Luhmann selber bereits beim Aufbau seines Theoriegebäudes bewusst gewesen, bezieht er sich doch in seinen „Sozialen Systemen“ (Luhmann [1984], S. 57) auf den amerikanischen Soziologen R. K. M erton und dessen mit Zustimmung versehenden Verweis auf den Pragmatismus im Allgemeinen wie explizit und exklusiv unter Bezugnahme auf die Studies in H um anism - auf Schiller im Besonderen, die Idee des Faktums als rein gegebenes Datum zugunsten der Pers­ pektive von Selektion überwunden zu haben: Der Pragmatismus „has amply justified its contentions by forcing us to realize that every ,fact‘ in a naturalistic system is a 103

Ad 2) Die von Schiller dagegen verordnete Bewegungstherapie oder vorsich­ tiger: sein Hinweis, dass Bewegung immer möglich ist, wird von ihm auch im Bereich des Moralischen fruchtbar gemacht, der analog zum Bereich des Theo­ retischen aufgrund derselben inteilektualistischen Vorentscheidungen von The­ oremen belagert wird, die für Schiller „meaningless and practically useless“2“' sind. Den Grund hierfür sieht Schiller darin, dass seit dem 18. Jahrhundert, ge­ tragen vom protestantischen Korruptionsverdacht gegenüber Gefühlen, Trieben, kurz: der Vorgefundenen menschlichen Natur, die Moralphilosophie zu einem Höhenflug aufgebrochen ist, der sie hat untergehen lassen: zu einem formalen, aller spezifischen Situationen entledigten Abstraktionismus mit dem Verspre­ chen, das universell Gebotene in einem jeden speziellen Fall immer schon als konkrete Anwendung eines allgemeinen Gesetzes zu kennen und damit auch keinen Platz mehr für moralische Zweideutigkeit zu lassen. Der damit anvisierte Kategorische Imperativ Kants scheitert für Schiller aber genau mit dieser konstru­ ierten Apriorität: „it cannot really be applied at all to any case of human action. It is so completely purified and purged that it is totally devoid of content.“2“ Denn wovon genau bei Anwendung in situ abstrahiert werden darf, kann gerade nicht bereits vor jeder Erfahrung bestimmt sein: Ein völliges Abstreifen des Konkreten würde nichts mehr für einen Fall erklären, sondern das gesetzte Gebot für alle Zeiten schlicht dekretieren und damit die zugeteilte Aufgabe - „guiding moral action“2102212 - nicht mehr erfüllen. Wird dagegen nicht alles vom konkreten Fall abgezogen, könnte ein Dostojewski’scher Mörder wie Raskolnikow das Universalisierungsprinzip umgekehrt dazu nutzen, seinen Mord zu rechtfertigen: Jeder, der in diesen seinen Umständen der Armut und Aussichtslosigkeit, gewappnet mit dieser seinen Ideologie gewesen wäre, hätte diese Pfandleiherin erschlagen. Würde man dem entgegnen, dass es auch andere arme Menschen gibt, die nicht gleich zu Mördern werden, so könnte Raskolnikow, da es tatsächlich keine Situa­ tion gibt, die einer anderen absolut gleicht, endlos in dem variieren, was zur all­ gemeinen Typisierung seiner Situation entscheidend dazugehören soll: Es geht nicht um den Mord an sich, sondern einen Mord von der Art wie diesen, an solch einem Tag, an solch einem Typus von Person wie dieser Pfandleiherin. Wie schon bei der Kritik des rationalistischen Wahrheitsbegriffs endet auch diese in einer reductio ad absurdum : Der absolut singuläre Einzelfall, der praktisch für

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selection from the unorganized whole of .reality1 and a rejection of the .irrelevant1 on the basis o f implicit or avowed human criteria“. Merton (1938), S. 588 Schiller (1939) [„Ethics, Casuistry and Life’’], S. 198 Ebd. Ebd.

niemanden ein (zweites) Mal erlebbar ist, und damit eben jeder Fall kann sich theoretisch als universeller immunisieren.2'3 Schillers Vorschlag ist es nun, die Suche nach „moral ideals“213214, die jede mora­ lisch entscheidende Situation mit einem rigiden Richtig/Falsch überziehen will, fallen zu lassen, denn um fündig werden zu können, müsste man: „consider in the abstract all the possibilities of human conduct. You had to foresee, therefore, all the possibilities of human depravity you could think of and to discuss them, in order to decide under which of your major rules they should be condemned and to determine the exact amount of their guilt.”215

Statt sich diesem Projekt der Installation eines solch geschichtslosen „code law” zu verpflichten, das außerdem suggeriert, alle in der Menschheitsgeschichte ent­ wickelten „moral habits” bedürften ohne Not einer wirklich widerständigen, d.h. lebensweltlich in größeren Sozialmaßstäben erfahrenen Irritation einer refle­ xiven Infragestellung - statt dieser abstrakten Logik gegenüber der konkreten

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Insofern der m ethodische H um anism us eine grundsätzliche, d.h. in alle Bereiche des menschlichen Lebens ausstrahlende Kritik der Behauptungen des Absoluten, des vom endlichen Menschen kategorisch Getrennten ist, findet sich genau dieselbe Argumentation nicht nur in Bezug auf den moralischen Universalismus, sondern ebenso auf den theoretischen: „it is practically impossible, therefore, to convict any one of self-contradiction against his will: if he chooses to dispute the charge, and to say that, when all the circumstances o f the case are taken into account, the .contra­ diction disappears, nothing can be proved against him.“ Schiller (1924a), S. 100 Denn auch im Reich des Theoretischen gilt, dass, sobald der tru th-claim er einen relevanten Unterschied zwischen den sich vermeintlich widersprechenden Parts be­ hauptet, der Widerspruch aufhört, einer zu sein, da er keine - und damit auch keine sich widersprechende - Verbindung zwischen beiden zulassen will und muss, denn im einen wie anderen Fall handelt es sich ja, wenn gewollt, denn immer sophistisch ex p ost begründbar, „um etwas völlig anderes“. Die abschließende Definition von Begriffen und das endgültige Fixieren des Sinns von Aussagen, welche allein in der Folge immanente Widersprüche in der Handhabung derselben an sich aufdeckbar machen ließen, setzt immer schon voraus, dass sich die ihrer Bedienenden darin einig sind und im Sinne Schillers: sein wollen - ansonsten sind die semantischen Extensionen infinitesimal frei manipulierbar. Die reine, absolutistische Logikkommt für Schiller damit hüben (Erkenntnistheorie) wie drüben (Ethik) zu demselben paradoxen Ergebnis: Gerade sie wird zu dem Theorieansatz, der dem Solipsismus Tür und Tor öffnet und in einem nächsten Schritt - da für den Common Sense der Solipsismus nicht wahr sein darf - pessimistisch konzedieren muss, dass Erkenntnis wie Moral im absoluten und damit für sie einzigen Sinne überhaupt unmöglich sind.

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Ebd. Ebd., S. 197f. 105

Geschichte, darin einem moralischen Cartesianismus und dessen Credo des De omnibus dubitandum est gleich, zu folgen, setzt Schiller einer solch hypothetisch völligen Neubegründung bei vorgängiger hypothetischer Suspension - wie schon im Fall der Wissenstheorie (reasoning statt reason) - auch hier das Vorhandene und täglich Wirksame entgegen216217: „We examine the situation in the light of our moral experience and according to the moral habits we have formed, dealing with it according to the best of our knowledge and belief. Then we act. If our habits were good, our experience of similar situations adequate, and our intelligence sound, we shall have decided aright; we shall have done what we ought and have won the approval of right-thinking men who understood our case.’” 1"

Die Praxis einer solch moralischen Vivisektion, die an konkreten „hard cases” zur Debatte über Für und Wider, Richtig und Falsch ansetzt, sieht Schiller in der Kasuistik vorgezeichnet, wie sie noch vor dem 17. Jahrhundert im Katholizis­ mus, speziell bei den Jesuiten üblich war, wirklich veritabel aber erst umgesetzt, weil gänzlich von einem Glauben an ein apriorisches Gesetz befreit, in dem (bis heute) vorherrschenden Rechtsverständnis Englands und Nordamerikas: dem „common law“. Ziel ist bei diesem nicht, wie in einer abstrakten Nomokratie mit pastoralem Ewigkeitsanspruch die richterliche Aufgabe in einer schablonisierenden Entkonkretisierung der Fälle zu sehen, um diese dann passgenau von den sattelfesten Paragraphen absorbieren zu lassen, sondern liegt in der Ausrichtung auf Evaluation vergangener Entscheidungen im Hinblick auf den gegenwärtigen Fall und seine wiederum zukünftigen Implikationen:

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Es ist bereits John Stuart Mül, der in seiner Utilitarismus-Schrift auf gleiche Art sol­ che sich aller kulturellen und der Tradition entledigten ex m'/n/o-Totalbegründungen angreift. Mill (1861), S. 71 ff. Die Zukunftsgewandtheit des m ethodischen H u m a­ nismus von Schiller und des Pragmatismus als solchem zeigt sich im Licht dieser empiristischen Strömung, die mindestens bis auf Thomas Reids und seine CommonSense-Philosophie, wenn nicht sogar bis zum 15. Jhdt. auf den Humanisten Lorenzo Valla zurückreicht, und impliziert keineswegs notwendigerweise die Miss- oder gar Verachtung der Vergangenheit, wie sie sich bspw. im Pragmatismus-Abkömmling des italienischen Futurismus eines Marinetti manifestiert. Im Gegensatz zu diesem weiß die reflexive Strömung des Empirismus, dass es Fortschritt nicht im Vakuum, sondern nur in einer individualbiographischen wie menschheitsgeschichtlichen Dia­ chronie geben kann, in der die antizipierten Zukünfte selber zu Vergangenheiten werden und damit wiederum Böden für neue Zukunftsmodelle abgeben. Ebd„ S. 199f.

„Its sole assumption is that right decisions have been rendered in the past and that from them principles may be extracted which will apply to and decide aright analogues cases in the future.“21*

Es ist eine reflexive Rechtsfindung im Endlichen, die nicht von hypostasierten Idealfallen, sondern konkreten Streitfällen ausgeht, die sich auch in ihrer Nomen­ klatur („Smith vs. Robinson“, „Richard vs. United States“) durchsetzen und als Referenz bleiben, mit all den Konsequenzen, die bereits weiter oben in der pragmatistischen Theorie des Wissens aufgezeigt worden sind - personaler, flexibler, pluraler und explizit zeitlich: „It yields a very plastic law which can develop further and be adjusted to new circumstances without recourse to further legislation.“218219

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Ebd. Dass eine solche Rechtsauffassung tatsächlich wirksam ist, zeigt neben einem Blick auf Kelsens „Rechtspositivismus“, der sich sogar von derselben Kritik am kantischen Universalismus aus entspinnt [Kelsen ( 1 9 5 3 ) , S. 4 1 ff.], noch näherliegend, da im englischsprachigen Raum beheimatet, ein Blick auf Oliver Wendeil Holmes Jr. ( 1 8 4 1 - 1 9 3 5 ) , einem der einflussreichsten Richter am Supreme Court in der Geschich­ te der USA und hierzulande eher unbekannter Mitbegründer des „Rechtsrealismus“, der zuvor in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts neben den Pragmatisten Peirce und James den M etaphysical Club, Geburtsort wie Treibhaus des frühen Pragma­ tismus, mit ins Leben rief. Dieser praktische Pragmatist, der exemplarisch für den Drang des Pragmatismus nach gesellschaftlicher Wirkung stehen kann, beschreibt den Gesetzesbegriff, die Rechtsprechung und damit in m ice auch Schillers Sicht des m ethodischen H um anism us auf den Seinsgrund des Menschen, seiner Wissens- und Moralentwicklung: „When I think thus of the law, I see a princess mightier than she who once wrought at Bayeux, eternally weaving into her web dim figures o f the ever-lengthening past". Holmes ( 1 8 9 6 ) , S. 18 - Herv. d. G.K.T. 107

3.5 Exkurs: Die Pragmatismus-Kritik von Bertrand Russell Die Aufwertung des Menschen durch seine Abwertung „Pragmatism is a matter of human needs; and one of the first of human needs is to be something more than a pragmatist. Extreme pragmatism is [... ] inhuman“. G.K. Chesterton - Orthodoxy’2“

Die Kritik vor allem in der Frühphase des Werks von Bertrand Russell (18721970) gehört zu den frühesten wie profiliertesten Kritiken des Pragmatismus.22021 Doch im Gegensatz zur logisch und technisch sezierenderen und auf dieser Ebe­ ne nicht minder kritischen Auseinandersetzung seines Kollegen in Cambridge George E. Moore (1907/08) scheint die Evaluierung Russells gerade wegen ihres vor-logisch zu begreifenden und in der Rezeption seiner Kritik mehrheitlich unter den logisch zum Teil tatsächlich hinlänglich bekannten, hinfälligen Punkten all­ zu oft verschüttgegangenen Vetos gegen den Pragmatismus hervorhebenswerter.

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Chesterton (1908), S. 62 Ich werde mich dabei im Folgenden auf die zwei entscheidenden Aufsätze „William James’s Conception o f Truth“ (1908) und „Pragmatism" (1909) konzentrieren. Dass Russell jedoch im Grundsatz dieselbe kritische Haltung auch darüber hinaus beibehalten hat, zeigen seine Einlassungen zum Pragmatismus als reine „power philosophy" in seinem Buch über M acht [Russell (1938), S. 210ff] oder seine B e­ wertung der Philosophie Deweys, in der er ebenso wie in der von James und Schil­ ler einen vorphilosophischen, U S-am erikanischen Merkantilismus walten sieht: „Dr. Dewey has an outlook which, where it is distinctive, is in harmony with the age of industrialism and collective enterprise. It is natural that his strongest appeal should be to Americans“. Russell (1951a), S. 137 Deweys Replik hierauf: „I [...] believe that Mr. Russell’s confirmed habit of connecting the pragmatic theory o f knowing with obnoxious aspects o f Am erican industrialism, instead o f with the experimental method o f attaining knowledge, is much as if I were to link his philosophy to the interests of English landed aristocracy instead o f with dominant interest in mathematics." Dewey (1951), S. 527f. Diese Zurückweisung scheint mir jedoch eine künstliche zu sein, da für einen - wie noch deutlich wird - nicht nur biographischen, sondern metaphysischen Aristokraten wie Russell die vermeintlich außerphilosophischen Tendenzen des Merkantilismus mit denen der alleinigen Fokussierung auf die experimentelle Methode konvergieren, so wie umgekehrt der Blick auf die M athematik mit einer aristokratischen Logik der Evidenzen. Die von Dewey intendierte Trennung von lebenswirklicher Umgebung (Industrialismus) und abstrakten inhaltlichen Tätigkeitsfeldern (experimentelle Methode) ist immer schon Teil des „democratic temper“, das personale Selbstverortung und -kultivierung und Verjobbung austauschbarer Tätigkeiten getrennt hat.

Regt sich doch in ihm ein radikalerer, tiefer ansetzender Vorbehalt, der letztlich weniger auf dem Aufweis argumentativ-immanenter Fehlschlüsse des Pragmatis­ mus beruht als auf einer weltanschaulich konträren Sichtweise zu dessen liberal­ demokratischer Heuristik, die andererseits erst durch eine solche Gegenpers­ pektive vollends decouvriert wird: im Gewand der Generalisierung der Fallibilität, insofern alle Gewiss- und Absolutheit in Bezug auf sämtliche Aussagen und „Wahrheiten“ in lediglich provisorische, wählbare Behauptungen transformiert werden. Eine unhintergehbare, absolut gesetzte Endlichkeit, die sich speziell bei Schiller durch deren Anbindung an das allen anderen und dem Ganzen und ebenso sich selbst in der Zeit gegenüber immer nur relativ positionierte und pos­ tulierende Individuum als dem Letztfundament ergibt. Jenseits der technischen Fragestellungen innerhalb der Pragmatismus-Debatte wird dieser Schub erkennt­ nistheoretischer Verendlichung bei Russell, wenn auch explizit mehr randständig, so doch implizit durchgängig leitend, als ein philosophisch-politischer Reflex des Zeitgeistes gewertet und damit selber relativiert: als Spiegel des langsamen Zerbröckelns alter, auf aristokratisch-stabilen So-Ist-Es-Prinzipien fußenden Gesell­ schaftsordnungen unter dem Gewicht eines „democratic temper“222, welcher in seinen dynamischen Infragestellungen überkommener Autoritäten jedoch selber in die dialektische Gefahr gerät, sein eigenes Gegenteil heraufzubeschwören. Für Russell birgt der Pragmatismus und sein Ansatz, den individiuellen wie kollek­ tiv begriffenen Menschen vom anzunehmenden Diktum einer (wie auch immer genau verstandenen) Ordnung an sich zu emanzipieren und ihn zum einzigen, konstruktivistischen Agens zu erklären, die wenn auch ungewollte Vorbereitung auf ein ebenso dynamisches wie grenzenloses dezisionistisches Einsetzen, ein von jeglicher Demut befreites Postulieren von Prinzipien durch den Menschen, das qua Fehlen einer letzten Ordnung und Hierarchie gleichzeitig die Gewalt als ori­ entierungslosen Exzess in ihrer Mitte birgt und vermittels des Fetischs des ewig umstürzenden wie selbstschöpferischen Jungen und Agilen, der „succesful men of action“ als personifizierter „worship of force“223, realisiert wird. So bildet die Innovationskraft des Pragmatismus, die Russell diesem gerade als Kritiker zubilligt, den ersten gewollten Affront gegen James und Schiller, ver­ suchen doch beide, ihre Philosophien als bloßes Re-Explizieren darzustellen: Im Fall von James, wenn er unspezifisch von seinem Pragmatismus als einem „new name for some old ways of thinking“ - dies bekanntermaßen der Untertitel sei­ ner Pragmatismus-Vorlesungen (1907) - spricht, oder bei Schiller, wenn dieser

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Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 121 Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 122 109

? seinen „Humanismus“, wie im vorigen Kapitel geschildert, als Wiederaufnahme der antiken Lehren des Protagoras inszeniert. Für Russell jedoch sind die beiden Selbstantiquierungen kaum mehr als eine geschickte rhetorische Maßnahme, „mainly due to the desire to produce an ancestry which has acquired respect­ ability by the lapse of time“224, geleitet vom Bestreben des Vortäuschens von „modesty“, was dazu dienen soll, die radikale „novelty“, die sich hinter beiden Konzepten verbirgt, unsichtbarer und verdaubarer zu machen. Dabei handelt es sich bei dem, was in Russells Augen der Pragmatismus tatsächlich als „genuinely new philosophy“225 auffischt, auch nicht um das, wofür ihn James und Schil­ ler wiederum emphatisch feiern: Artikulation einer Philosophie „in love with human life“ zu sein, Botschafter auf dem akademischen Campus für das „crude common living“, und dies einzig mit dem Ziel „to help and to please“.226 Vielmehr geht es beim Pragmatismus für Russell, wie schon angedeutet, viel konkreter um eine philosophische Übersetzung des „prevailing temper of the age“227, wodurch er gerade an derselben katastrophalen Tendenz wie der moderne Zeitgeist par­ tizipiert, mehr noch: ihn theoretisch adelt und darin wiederum potenziert.228 Denn was hier auf ein theoretisches Niveau gehoben wird, ist die sich in eine äußerliche Geste der relativistisch-endlichen Demut hüllende, tatsächlich aber megaloman überschätzende Einengung der Perspektive auf das bloß Humane als das Zentrum hin. In den Worten von Russells Bekanntem, George Santayana (1863-1952)229, ist der Pragmatismus damit eine methodische Forcierung des sich in der Moderne - philosophisch gesehen spätestens mit Kant und seiner „kopernikanischen Wende“ - bahnbrechenden Egotismus sowohl in Hinsicht auf die Gattung insgesamt als auch auf einzelne, sich selbst für Kosmos und Gesell­ schaft als unentbehrlich wahrnehmende Subjekte. Rückübersetzt in die Sphäre des Politischen leistet der Pragmatismus/Humanismus einem Modell von unge­ bundener Souveränität Vorschub, welches nicht als sein einziges Telos die sich erst Jahrzehnte später ausbreitenden europäischen Diktaturen kennt, sondern

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Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 88 Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 87 Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1934) [„Tribulations of Truth“], S. 183f. Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 87 Dass für Russell mikrokosmisch der plebejisch-aufwieglerische Umsturz der durch Tradition sanktionierten Ordnung sich auch im akademischen Treiben Schillers auftat, weiß Misak zu berichten: „He [Russell - G.K.T.] was, for instance, put into ,a state of fury' over Schillers ,impertinence' in writing a piece on logic when ,he neither knows nor respects the subject'.“ Misak (2013), S. 101 S. zu ihrer Beziehung Russells „Portrait from Memory“ zu Santayana: Russell (1951b)

ebenso, wenn auch pluraler, in der Demokratie zu finden ist, wenn diese vorgibt, dass alles eine Frage der ständigen Abstimmung und damit der schließbaren wie aufkündbaren Verabredung zwischen Menschen ist.210 Gerade in dieser Hinsicht ist und bleibt die Kritik Russells exemplarisch für eine ganze Riege fundamenta­ ler Pragmatismus-Kritiker, auch jenseits der heißen Diskussionsphase im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: eine Kritik der gnoseologischen, politischen, ethischen Überhöhung des Subjekts gegenüber dem Objekt.230231 Das bisher Referierte bildet bei Russell jedoch den quantitativ randständigen Teil seiner Kritik, auch wenn es qualitativ die Hauptschlagader seiner Opposi­ tion gegen den Pragmatismus darstellt und gleichzeitig den Grund dafür bildet, dass er in den Versuchen der immanenten Kritik seiner philosophischen Gegner

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Dass es tatsächlich inhaltlich wie biographisch vom Liberalen ins Faschistische Um­ schlagendes innerhalb der pragmatistischen Bewegung gab, hat im deutschspra­ chigen Raum besonders Vogt (2002) herausgearbeitet. Im Unterschied zu Georges Sorel, Eduard Baumgarten und den italienischen Pragmatisten Papini und Prezzolini taucht Schiller überraschenderweise nicht als weiterer, eigenständiger Fall auf, obwohl seine Beziehung zum Nationalsozialismus durch die sich mit dem Ersten Weltkrieg verstärkende propagandistische Begeisterung für die Eugenik zumindest ambivalent war, auch wenn dezidiert nicht im Hinblick auf den Antisemitismus, den er überdeutlich als „barbarism“ wertet. Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 260. S. zu diesem Komplex ausführlicher: Kap. 4.2.1.-2. Als Beispiele derselben Schlagrichtung seien hier genannt: Santayana (1913), Mumford (1926) und Lippmann (1929), aber auch das spätere Monieren der Diffamierung und des Verlusts der politisch-weltlichen Grundstruktur der Autorität bei Arendt (1954) (man lese dies zusammen mit ihrer dezidierten Pragm atismus-Kritik in: Arendt ( 1946)), eine Erosion, die mit dem massenweise antipolitisch politischen Ver­ greifen an Vernunftwahrheiten einhergeht und auch bei den Zuvorgenannten (und, wie gezeigt, bei Russell) als das zentrale Defizit eines „reality-making“-Pragmatismus ausgemacht wird. Gleichzeitig ist bei keinem von ihnen, wie ein Pragmatist dies vielleicht gerne wenden würde, die Kategorie der Autorität mit dem Autoritarismus autoritärer Regime zu verwechseln, ermöglicht die „Autorität“ dort gerade nicht den Raum des Politischen, sondern verschließt ihn für immer und sollte damit als Kategorie auch nicht zwischen diesem Pol und dem des entgegengesetzten „AntiAutoritären“ zerrieben werden. Überhaupt sollte klar sein, dass all die genannten Skeptiker der „(Massen-)Demokratie“ umgekehrt keineswegs Freunde eines Despo­ tismus und der Diktatur waren: Das Farbspektrum sowohl der politischen Organi­ sationsformen als Ganze wie der Ausgestaltung von demokratischen Verhältnissen im Speziellen ist weitaus vielschichtiger, wenn auch heute der politische Diskurs seine Farbblindheit durch den simplifizierenden Dualismus von Demokratie und Diktatur allzu oft und gerne kundtut - nicht zuletzt mit den bekannten desaströsen Folgen außenpolitischer (Fehl-)Beurteilungen und entsprechender Interventionen. 111

genau an der von ihnen selber bezogenen Position fehlgeht - was sowohl James als auch Schiller in ihren Repliken treffsicher betonen, wobei auch sie wiederum nicht zu erkennen scheinen, woher ein solches Fehlgehen Russells rühren könn­ te.23-’ Kurzum: Es handelt sich bei dieser Konfrontation um einen klassischen

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So lautet das einstimmige Urteil beider: ,,[H]e [Russell - G.K.T.] has totally' missed the essential point of the conception he is contesting“ (Schiller (1934) [“Tribulations ot Truth”], S. 185), bzvv.: „It [Russells Kritik - G.K.T.] entirely fails to hit the right point of view for apprehending our position.“ James (1909) [„Two English Critics“], S. 272. Ebenso unisono übersehen aber auch beide die konträre Weltanschauung ihrer Opponenten oder lassen sie zumindest unkommentiert. Exemplarisch hierfür die Rezension, die Schiller zu Santayanas „Egotism in German Philosophy“ (1916) verfasste und in welcher er, statt die stoizistische Kritik Santaya­ nas als eine grundsätzlich an jeglicher sowohl subjektivistischen wie intersubjektiven Willens- und Machbarkeitsmetaphysik zu verstehen, diesem vor warf, im Begriff des „Egotismus“ zu unterschiedliche Aspekte („subjectivism, egotism, egoism, and solip­ sism“) synthetisieren zu wollen. So kommt es bei Schiller gar nicht erst zum Versuch, den von Santayana antizipierten gemeinsamen, konstruktivistischen Nenner dieser Phänomene, für die Santayana die „deutsche Philosophie“ nur als pars pro toto der Moderne verwendet, in den Blick zu bekommen: Für Schiller ist dies dagegen einfach ein bloß Theorie-degeneriertes, konstruiertes „monster“. Vgl. Schiller (1917b). Das gegenseitige Nichtverstehen erscheint dabei jedoch zumindest retrospektiv ver­ ständlich, handelt es sich beim pragmatistischen Humanismus eines Schiller und dem aristokratischen Platonismus eines Santayana tatsächlich um absolute Gegensät­ ze innerhalb des philosophischen Spektrums: Setzt der erste auf die reformatorische Transformation des kulturellen Erbes zugunsten eines gesellschaftlichen Mobilisierens in die Zukunft hinein, verkörpert der zweite eine Verächtlichkeit gegenüber den soteriologischen Versprechungen eines innerweltlichen Reformismus, die sich positiv im Ethos einer rein individuell zu vollziehenden, auf Phantasie und Geistig­ keit zielenden Lebenskunst ausdrückt, eine temporäre Exit-Option aus dem nackten, endlichen, redundanten, bloß zeitlichen Lebensvollzug in der profan-merkantilistischen Welt. Zwar persönlich aus der gemeinsamen Zeit in Oxford miteinander bekannt findet Santayana in seiner Autobiographie gegenüber Schiller, „a professed and shameless sophist“, nur mitleidige, herablassende Worte: Santayana (1953), S. 127f. Eine antagonistische Beziehung, die sich inhaltlich auch in der Frage nach der Un­ sterblichkeit des Menschen zeigt, die für beide von eminenter Bedeutung ist, wenn auch unter entgegengesetzten Vorzeichen: Ist für Schiller ohne eine solche keine normative Personalität denkbar, ist für Santayana dies der zentralste Mythos, der sich vom Egotismus des Menschen nährt und einem an der Endlichkeit erwachsen gewordenen, d.h. vom Anthropomorphismus und -zentrismus befreiten Leben ent­ gegensteht. Dies ergäbe sich umgekehrt selbst aus der Perspektive Gottes - für San­ tayana ein äqui-poetisches Mythologem, welches dennoch, mehr als bei Russell, den

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Widerstreit nicht vermittelbarer Weltanschauungen, wodurch gerade der Ge­ brauch derselben Terminologie, der Rückgriff auf dieselbe Sprache die Konfusion und das gegenseitige Nichtverstehen des Nichtverstehens des jeweils anderen nur noch mehr verstärkt.*233 Russells immanente Kritik hat nun die pragmatistische Wahrheitstheorie zum Ziel: „a belief is to be judged true in so far as the practical criterion of truth.“234 Für ihn ist in dieser Definition die Misere des Pragmatismus in theoretischer Hinsicht vorgeebnet, die darin besteht, gar nicht erst von Wahrheit sprechen zu können, sondern allein von „beliefs“, dem Für-W ahr-H alten, nicht aber dem Wahr-Sein. Schon direkt hier könnte man jedoch einhaken und mit James und Schiller einwenden, Russell verkenne damit ab initio, dass die Quintessenz des Pragmatismus doch darin besteht, sämtliches (vermeintlich) absolutes, selbst­ gegebenes Wahr-Sein als bloß minder umkämpfte, als unwahrscheinlicherweise unwahrscheinliche Hypothesen - im Vorgriff auf das nächste Unterkapitel: als „debatable beliefs“ - zu dechiffrieren und damit die Unterscheidung zwischen „truths“ und „truth-claims“ gerade unterwandern zu wollen, indem es innerhalb dieses Paradigmas ausschließlich „truth-claims“ gibt, jeweils unterschiedlich gestaffelt nach ihrer größeren oder geringeren Akzeptabilität und Wahrschein­ lichkeit gegenüber anderen „truth-claims“. Tatsächlich scheint sich Russell die­ ser Einsicht nicht durchgängig bewusst zu sein oder er verpackt seinen Angriff zumindest ungeschickt, wenn er mit der pragmatistischen Wahrheitsauffassung meint schlussfolgern zu können, dass sie das Wahre mit dem Erhofften und Ge­ wünschten statt mit dem Faktischen in Verbindung bringt: „the truth ,A exists,' if it is a truth, is concerned with A, who in that case is a fact; and to say that ,A exists' may be true even if A does not exist is to give a meaning to .truth' which robs it of all interest.“235

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aristokratischen, anti-humanistischen Kern decouvriert: „If I were the playwright, I confess I should hope soon to find or produce a better set of characters than any that have yet appeared. Not a single man or woman has ever existed whom I should wish to engage to play forever, rather than fill my theatre from age to age with fresh faces, and new accents o f nature." Santayana (1909), S. 369f. Dass Schiller dies im Rahmen sämtlicher Kontroversen rund um den Pragmatismus nicht gänzlich übersehen hat, sondern ihm eine Lektion gewesen ist, die für sein Verständnis von Philosophie und dem, was sie zu leisten vermag, tragend wird, wobei u.a. die Frage leitend sein wird: „Must Philosophers disagree?“, zeige ich in Kap. 3.7. Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 132 Russell (1910) [„William James’s Conception o f Truth“], S. 140 113

Dass der Pragmatismus nicht durch eine solch simple reductio ad absurdum vom Spielfeld geräumt werden kann, liegt daran, dass hier die Setzung der Behaup­ tung „A existiert“ für den Pragmatisten nur dann valide ist, wenn es nicht ein­ deutige Indizien dafür gibt, die dagegen sprechen. Die die Absurdität bei Russell zeitigende Setzung der faktischen Nicht-Existenz von A ist dabei aus pragmatistischer Sicht eine äußerliche, hinzuaddierte, die nicht in der Immanenz der Situation, in der der Pragmatist die Existenz von A postuliert, vorkommt. War­ um würde er sonst das Gegenteil für wahr halten, wenn die Wahrheit, im Sinne einer unangefochtenen Behauptung, so fraglos vor ihm läge? Dies wäre inner­ halb der pragmatistischen Logik trotz der im Feld ihrer Wahrheitstheorie und ihrer Betonung von Nutzen und Hoffnung auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass man erklärt, der Pragmatismus erlaube es jedem, alles für wahr zu halten, was ihm gefällt und darin nützlich erscheint. J. v. Kempski hat in seiner Disserta­ tion zu Peirce, einem der frühesten Versuche, dem Pragmatismus - auch explizit dem Schiller’schen - im deutschsprachigen Raum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, äußerst plausibel dafür plädiert, die für den abendländischen Geschmack profanierenden Begriffe wie „nützlich“ oder „brauchbar“ cum grano salis zu le­ sen und in Anbetracht des ,,angelsächsische[n] Hang[s] zum Understatement“ eher mit „wertvoll“ oder „bedeutungsvoll“ zu übersetzen.236237Und tatsächlich ist es nur bei oberflächlicher Lektüre überzeugend, im Pragmatismus den Einzug des Lustprinzips in die Arena der Philosophie als ihr oberstes Prinzip zu sehen, geht es doch vielmehr um die Reaktivierung der - im Kleinen oder Großen - vorhan­ denen Pluralität von „truth-claims“ hin zu einem agonalen Ausfechten um die besten und standhaftesten, wie im letzten Unterkapitel ausgeführt. Auch lässt sich mit Schiller gegen die Lesart des Pragmatismus als bon a-fide-Philosophie einwenden, dass er genau das Gegenteil eines naiven, privaten Glauben-Wollens ermöglicht: die Publikation der bisher esoterisch verborgenen und gerade da­ durch wild sprießenden, aus unterschiedlichen, vermeintlich autoritativen Quel­ len sich ergebenden Überzeugungen der Philosophenschaft zwecks öffentlicher Deliberation. Die pragmatistische Methode „insists that every truth, whatever its origin and whatever its daim, shall be tested by the value of its consequences. It will not accept a mere will to believe as a sufficient authentication of any dogma, philosophic or religious. [...] For the first time in its his­ tory philosophy is summoned to have an audit of its accounts“637

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Kempski (1952), S. 194

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Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 315. Freilich könnte man auch auf diesem technischen Niveau des „Auge in Auge“ hier für Russell und gegen die pragmatistische iMaxime einwenden, dass ungeklärt bleibt, in welcher

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Kurzum: Würde sich die gesamte Kritik Russells also tatsächlich in der Be­ hauptung erschöpfen, mit der Annahme des Pragmatismus könne man sämtli­ che Behauptungen aufgrund ihres Gewünschtwerdens rechtfertigen, auch wenn diese in derselben Situation sich als faktisch falsch präsentieren, so hätte James mit seiner Replik recht, diese Kritik als reinen Trick zu durchschauen: ,,[M]ost anti-pragmatist critics take the word .truth' as something absolute, and easily play on their readers readiness to treat his own truths as the absolute ones. If the reader whom they address believes that A does not exist, while we pragmatists show that those for whom the belief that it exists works satisfactorily will always call it true, he easily sneers at the naivete of our contention, for is not then the belief in question 'true,' tho what it declares as fact has, as the reader so well knows, no existence?“258

Russell selbst befeuert in der Tat eine solche Lektüre seiner Kritik, wenn er, um die vermeintlich widersinnigen Konsequenzen der Wahrheitstheorie des Pragmatis­ mus zu beschreiben, die Analogie der Unterscheidung eines Bibliothekskatalogs des Buchbestands und der tatsächlich greifbaren Bücher bemüht: „If you wish to know whether a certain book is in a library, you consult the catalogue: books mentioned in the catalogue are presumably in the library, books not mentioned in it are presumably not in the library. Thus the catalogue affords a criterion of whether a book is in the library or not. But even supposing the catalogue perfect, it is obvious that when you say the book is in the library you do not mean that it is mentioned in the catalogue. You mean that the actual book is to be found somewhere in the shelves.“" 8

Aufgezeigt werden soll hiermit, dass die pragmatistische Maxime, nach der eine Theorie dann wahr ist, wenn sie sich als nützlich erweist, alleine bedeuten kann, man hat hierin ein Kriterium für Wahrheit, nicht aber, dass Wahrheit selber in der*

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Hinsicht, für wen, in welcher Größenordnung die praktischen Folgen einer Ü ber­ zeugung betrachtet werden sollen. W enn Schiller bspw. über den Test religiöser Dogmen schreibt: „If a religious doctrine has bad consequences, it will suggest that it may be inspired by the devil rather than the deity“ [Schiller (1934) [„Pragma­ tism, Humanism, and Religion“], S. 315], so wird immer schon vorausgesetzt oder auch nur suggeriert, dass Fragen wie: „Für wen?“ - Die Öffentlichkeit? Bestimmte Einzelne? - oder: „In welcher Hinsicht?“ - Was, wenn schlecht und gut zugleich, nur in unterschiedlichen Perspektiven? - bereits beantwortet sind. S. dazu auch das Zentrum der Kritik Bradleys am Pragmatismus: „The gospel of practice for the sake of practice, and everything else for the sake of practice, makes, I doubt not, a good cry. But it will satisfy in the end only those who have not asked what practice is.“ Bradley (1914), S. 85 James (1909) [„Two English Critics“], S. 274f. Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 137 115

r erwiesenen Nützlichkeit liegen kann und diese damit ihre Bedeutung ausmacht. Ansonsten würde sich, um in der Analogie zu bleiben, der Katalog als Selbstzweck erweisen, der auf nichts außerhalb seiner selbst mehr verweist, obwohl dies seinen eigentlichen Sinn als Ordnungsformation von etwas, das er logischerweise nicht selber ist, bildet. Wäre die Konsequenz doch sonst: „Indeed, if you consider the matter with an open mind, you will see that the catalogue is the library, for it tells you everything you can possibly wish to know about the library. Let us, then, save the taxpayers’ money by destroying the books: allow free access to the catalogue, but condemn the desire to read as involving an exploded dogmatic realism.“240241

Wie auch schon in der vorangegangenen Rekonstruktion der Schillerschen Wahr­ heitstheorie geht diese Analogie jedoch aus der Perspektive des Pragmatismus fehl, denn wie Schiller richtigerweise betont, sind Katalog und physischer Bestand zwei tatsächlich unterschiedliche Dinge, sodass unmöglich der eine Part zuguns­ ten des anderen annihiliert werden kann, während umgekehrt die Begriffe von „Wahrheit“, „Wirkung“ und „Nutzen“ im Pragmatismus von vornherein als Fusion definiert werden: „A library and its catalogue always remain physically distinct objects: they cannot be fused together as are truth and use in the humanist conception, once we realise that nothing can attain the rank of truth except through its use and in virtue of its value.“211

Auch Russells Kritik der Konzeption des „Will to Believe“, nach der Handeln mit Wahrheitsansprüchen verknüpft ist (weswegen der Agnostiker für James ein faktischer Atheist ist: s. hierzu Kap. 3.2.), funktioniert äquivalent zur vorange­ gangenen immanenten Kritik: „To infer belief from action [... ] is to ignore the plain fact that our actions are constantly based upon probabilities, and that in all such cases, we neither accept a truth nor go without it, but entertain it as an hypothesis.“212

Gleichsam muss auch die Zurückweisung des Vorwurfs seitens des Pragmatismus dieselbe bleiben: Die absolute Unterscheidung zwischen Wahrheit und bloßer Wahrscheinlichkeit ist hier zugunsten von mehr oder weniger wahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten logisch zu einer bloß graduellen eingeebnet, sodass der Ein­ wand, es handele sich bei den Überzeugungsgrundlagen des Handelns lediglich um Wahrscheinlichkeitsannahmen und nicht um Wahrheiten, ins Leere zielt.

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Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 138 Schiller (1934) [„Tribulations o f Truth“], S. 191 Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 93

Mit den Worten des bereits zitierten Santayana könnte man die Kritik Russells bisher so zusammenfassen, dass es sich bei der pragmatistischen Wahrheitsthe­ orie schlicht um gar keine Theorie der Wahrheit handelt: „pragmatism is not a theory of truth at all, but a theory of theory, when theory is instrumental“243 Der Pragmatismus dringt somit (im Verständnis von Russell) niemals zu Wahrheit oder Fakten durch, sondern kommt auf dem Weg dorthin nicht über den sub­ jektiven Vorraum, nämlich den der Wahrscheinlichkeiten und Überzeugungen, hinaus. Umgekehrt wäre die bisherige die Replik von James und Schiller so zu­ sammenzufassen, dass der Pragmatismus als Prämisse genau diese Unterschei­ dung nicht übersieht, sondern auf der Grundlage der Kritik der Abbildtheorie (Kap. 3.4.) bewusst hinter sich lässt und die Wahrheit zwingt, in den Vorraum umzuziehen, und diesen damit zum einzigen werden lässt, sodass nur noch Gra­ de von festeren und lockereren Überzeugungen überhaupt denkbar sind und die ehemaligen „an sich“ geltenden Wahrheiten und Fakten eben als besonders festsitzende, aber keineswegs unumstößliche Überzeugungen rückübersetzt werden. Doch mit diesem „Scheitern“ seiner immanenten Kritik des Pragmatismus ist Russells Kritik im Ganzen noch nicht beendet. Denn, so ließe sich grundsätzli­ cher fragen, warum er auch in seiner Rekonstruktion von James und Schiller an dem von diesen gescholtenen „intellektualistischen“, „absoluten“ Wahrheitsbegriff und seiner Trennung von beliefs und facts festhält, was ihn in der Folge niemals den Pragmatismus aus der pragmatistischen Sicht korrekt nachbilden lässt. Schil­ ler rät, die Antwort hierauf in einem bloß idiosynkratisch auf Bestandsbewah­ rung ausgerichteten Konservatismus der situierten Professorenschaft von „sedate philosophers“244 zu suchen. Eine Professorenschaft, die nun - aufgescheucht und alarmiert durch die Ankündigung des Pragmatismus, die Philosophie wieder gesellschaftlich und damit öffentlich zu machen, wodurch der bequeme „peace of this indifference“245 zunichtegemacht würde, welcher die Beziehung von Phi­ losophen und Nichtphilosophen bisher auszeichnet - bereit ist, zu jedweden cheap shots zu greifen, um den Pragmatismus zu diskreditieren und die eigene gewollte Isolation zu schützen. Doch ist diese Replik mindestens im Fall des Frei­ denkers Russell nicht nur ad hom inem betrachtet ungerecht und von dem rein polemischen Niveau, das er umgekehrt Russell unterstellt, sondern auch allein im Hinblick auf die beiden hier verwendeten pragmatismuskritischen Texte falsch

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Santayana (1913), S. 136 Schiller (1934) [„Tribulations of Truth“], S. 184 Schiller (1934) [„Tribulations of Truth“!, S. 182 117

oder zumindest (pragmatistisch) unnötig, bieten sie doch selber eine sachlichere Erklärung an. Der Beginn des Wegs zu dieser Erklärung muss in einem Satz wie dem fol­ genden von Russell gesucht werden: „Is it not obvious that there is a transition in my mind from seeing that the belief is useful to actually holding that the belief is true?“246247Das Festhalten an der Trennung von absoluter Wahrheit und Fak­ ten gegenüber relativen Meinungen und Wahrscheinlichkeiten wird demnach deswegen beibehalten, weil Russell hierin einen Moment sieht, der von der le­ benspraktischen Realität selber sanktioniert wird und dem der Pragmatismus damit umgekehrt durch seine Einebnung der Differenz von „true“ und „useful to believe“ der von ihm hochgehaltenen Praxis lebendiger Gegebenheit künstlich einen Begriff von „Wahrheit“ aufzwingt, welcher gerade vom Common Sense in dieser semantischen E/n-fachheit nicht geteilt wird: ,,[T]he pragmatic definition oftruth ignores, without destroying, the meaning commonly given to the word .true', which meaning, in my opinion, is of fundamental importance, and can only be ignored at the cost of hopeless inadequacy.“242

Was Russell damit genau im Blick hat, wird deutlicher, wenn er sich der pragmatistischen Antwort auf die „Gretchenfrage“ zuwendet: Wird der Glaube an Gott hier nach seiner operationalistischen Praktikabilität bewertet und damit immer mit dem Augenmerk auf das glaubende Subjekt und nicht auf das Objekt, also das, woran geglaubt wird, geht genau dies an einer Beschreibung der Glauben­ spraxis, wie sie sich phänomenologisch als Situation für die Teilnehmer ergibt, grundsätzlich vorbei und setzt selber, ganz entgegen der anfänglichen Intention wie schlussendlichen Motivation des „Will to Belief“ - nämlich das Abtauchen in die Praxis gegen ein intellektualistisches Abstinenzlertum zu rehabilitieren - , paradoxerweise gerade die distanzierte Beobachterperspektive über den mitma­ chenden Vollzug der Ersten-Person-Perspektive.248 Durch seinen instrumentalis­ tischen Zugang zur menschlichen Praxis und ihren Glaubensinhalten, durch den diese auf den formalen, d.h. für jede materielle Situation gleichen, gemeinsamen Nenner eines vom Subjekt ausgehenden Postulierens als transzendentaler Logik

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Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 136 Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 137 Der Vorwurf, den der Psychologist Schiller der Beschreibung des Seelenlebens von H. Spencer macht, ließe sich damit an diesem entscheidenden Punkt (und in der Folge) i.S. Russells gegen Schiller selber richten: „For I cannot myself trace any identity between the alleged elements and the finished product.“ Schiller (1934) [„Herbert Spencer as a Moralist“], S. 140

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von Praxis überhaupt heruntergebrochen werden können, erweckt der m etho­ dische Humanismus Schillers die Suggestion, der Mensch könne sich bei jedem Thema eigenmächtig einen Entscheidungsraum zubilligen: In dieser Grundfigur der Selbstermächtigung des Subjekts wird der Pragmatismus und damit vor allem der Schiller’scher Provinienz für Russell zum philosophischen Echo des eingangs zitierten „democratic temper“ und dem Glauben an das Recht auf universelle (Mit-)Bestimmung. Hat James seine Fassung des „Will to belief“ noch vorsichtig auf bestimmte Momente restringiert, bei denen, wie im Fall der religiösen Inter­ pretation der Welt, von objektiver Seite her genügend Ambiguität gelassen wird und von der Seite des Subjekts her Beantwortungsdruck herrscht („forced“ und „momentous“ - s. Kap. 3.2.), so ist es erst, zumindest in aller Überdeutlichkeit, Schiller, der diese Logik zur universellen Grammatik menschlichen Lebens er­ weitert und damit die Inhalte und Bezugspunkte in ihrer volatilen Handhabbar­ keit prinzipiell gleichschaltet: Es ist diese Tendenz bzw. Version, auf die es Russell abgesehen hat. Hätte der Humanismus Schillers nicht nur in jeder praktischen Äußerung des Menschen den „primacy o f the Will“249 versucht zu entdecken, sondern sich auf die Innenperspektive des Handelnden eingelassen, hätte er für Russell durch eine phänomenologische Aufdeckung des Vollzugs des Gläubigen (im weitesten, nicht theologischen Sinn) erkennen müssen, dass die Inhalte der Setzung, die Objekte des Glaubens und Postulierens selber, ihrerseits eine Differenzierung erforderlich machen, die aufgezeigt hätte, dass nur für einen geringen Teil der Praxis das Konzept von Schillers „reality making“ eine der phänomenologischen Beschreibung gegenüber adäquate ist. Also dort, wo das Leben mit vorläufigen Hypothesen, mit möglichen Hilfskonstruktionen zur Bewältigung sich stellen­ der Probleme kein Problem hat, d.h. vor allem im Bereich des auf Experimente ausgerichteten Forschers und der „general scientific hypotheses“, bei denen „no sensible man believes that they are true as they stand.“250 Für diesen wissen­ schaftlichen Bereich also, wo der Blick nicht auf die Wahrheit, die Attestierung letzter Fakten, sondern auf das andauernde und damit immer nur vorläufige Prozessieren von Verifikation und Falsifikation gerichtet ist, ist die pragmatistische Sicht, wie Russell konzediert, nicht deplatziert, wäre dort doch die abso­ lute Wahrheit geradezu ein Forschungshindernis, mehr noch: sie würde einen willkürlichen Abbruch der Forschung darstellen, sodass die allgemeine Revi­ sionsfähigkeit aller Behauptungen als produktive Methode hier richtigerweise

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Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 115 Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 139 119

zu betonen ist. Dennoch gilt es für Russell, ein Veto dagegen einzulegen, diese regionale Sicht des Umgangs mit „Wahrheit“ auf sämtliche Bereiche des Mensch­ seins hin zu generalisieren: „when this method is extended to cases in which the proposition in question has an em otional interest on its own account, apart from its working, the pragmatic account becomes less satisfactory.“251

Stellt die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Hypothesen für den Forscher kein Problem dar, im Gegenteil, ermächtigt sie ihn hier sogar zu einer zumindest rela­ tiv voluntaristisch-kreativen Eigenständigkeit bei der Konstruktion alternativer Hypothesen, die vielleicht besser funktionieren könnten, so ist die Übertragung schon auf den Bereich des religiösen Glaubens für Russell „misleading“: ,,[I]t should be observed that these useful consequences flow from the hypothesis that the Absolute is a fact, not from the hypothesis that useful consequences flow from the belief in the Absolute.“252253In der Gottesfrage, aber auch in jeder ande­ ren, die davon lebt, dass die suprahumane Perspektive des Gegebenen und zu Akzeptierenden in ihr die konstitutive Rolle spielt, kann man damit bei pragmatistischer „Beantwortung“ niemals über „purely mundane arguments“255 hinaus­ kommen, sodass solche Fragen in diesem Sinne auch nicht beantwortet, sondern durch die fundamentale Relativierung der Sicht auf die Folgen des menschlichen Lebens als dem Maßstab, um den sich alles dreht, derart transformiert werden, dass die Antwort ex post eine Frage kreiiert, die zu Beginn nicht gestellt wurde.254 In diesem, sei es individuellen oder auch kollektiven Subjektivismus gefangen, der das Objekt der Setzung anti-realistisch immer nur im Akt des Postulierens zur Sprache bringen kann und damit jedweder realistischen Existenzannahme

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Russell (1910) [„William James’s Conception o f Truth“), S. 139 - Herv. d. G.K.T. Russell (1910) [„William James’s Conception of Truth“], S. 141 f. Russell (1910) [„William James’s Conception o f Truth“], S. 143 In dieselbe Kerbe schlägt die Kritik von Dickinson S. Miller, einem Schüler von James, wenn er schreibt: „[Fjaith or belief means regarding a thing as real or probably real, regarding a proposition as true or probably true. [...] A hypothesis, on the other hand, is a mere temporary supposition, a tentative conception of the matter, deliberately made up for the sake o f experiment.“ Und etwas später, angewendet speziell auf die Frage der Religion: „Religious belief or faith, vve see, is not hypothesis; equally true is it that a working-hypothesis could never constitute religion in its thoroughgoing form. The soul o f religion involves a sense o f security in the divine. It must feel an unfailing and unthreatened support. It involves an escape from insecurity, a refuge from the changes and chances, the dissatisfactions and disappointments of life. It rises into a region above all these.“ Miller (1942), S. 287 u. 289

gegenüber verschlossen bleiben muss, kann der m ethodische Humanismus, dies die entscheidende ironische Pointe des Russellschen Angriffs, gerade dem sub­ jektiven Erleben und dessen realem „working“ nicht mehr Rechnung tragen. In vielen - außerwissenschaftlichen - Bereichen kann das Subjekt niemals etwas anderes als ein nicht-konstruktivistischer und nicht-voluntaristischer Realist sein, der von ihm unabhängigen Evidenzen geleitet wird, die gegeben und darin allein erschaubar und anzuerkennen sind - ob der Einzelne oder die Menschheit als Ganze dies nun wollen oder nicht.255 Der von Schiller vorgenommene pragmatistische Einordnungsversuch dieser dem vorhandenen Lebensvollzug eines jeden entnommenen Form von Eviden­ zerfahrung, wonach es sich auch bei diesen Manifestationen des Absoluten als rein Gegebenes ebenso nur um Hypothesen handelt - einzig mit dem relati­ ven Unterschied zu anderen Behauptungen, „already settled“256 zu sein, woraus sich in der klassischen Philosophie, vor allem durch das Reich der Mathematik als heuristisch tonangebend, der allein psychologisch bedingte Trugschluss von „An-sich-heit“ ergebe.257 Nur so wird dem Glaubensbekenntnis des Pragmatis­ mus, es gebe ausnahmslos Postulate, bis zum Letzten die Treue erwiesen, wo­ durch in letzter Konsequenz auch diese „Evidenzen“ zumindest der Möglichkeit nach (zukünftig/hypothetisch) vernünftigerweise angezweifelt werden können. Ein Schachzug, der für Russell nur für die Wenigen möglich ist, „who have had a long training in philosophy.“258 Anders formuliert: für die mit ausreichend so­ phistischer Phantasie. Genau in diesem absoluten Inabredestellen des absolut Gegebenen gleicht der Geist des Pragmatismus dem eines grenzenlosen Demo­ kratismus, welcher den Fingerzeig auf ein nacktes Faktum, „whether you like it or not“, kategorisch als Attavismus autokratischer Logik abtut und auch ansons­ ten beseelt ist von einer „impatience of authority, an unwillingness to condemn widespread prejudices, a tendency to decide philosophical questions by putting them to vote“.259

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Wobei natürlich auch die Abwendung von diesen „Fakten“ nichts anderes wäre als die negativ sich äußernde Anerkennung derselben. Schiller (1934) [„The Tribulations of Truth“], S. 188 „Just because the mathematical sciences were very ancient, their origins had been for­ gotten, and with them the tentative gropings which had first selected, and subsequently confirmed, their principles. They had become immediately certain and .self-evident1, and no one was disposed to dispute them. On this psychological fact the whole theory of logical proof was erected.“ Schiller ( 1917a), S. 239 Russell (1910) [„William James’s Conception o f Truth“], S. 145 Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 121 121

Dass Schiller verkennt, worin sich Russells Kritik gründet, von der die tech­ nisch-immanente selber nur ein vordergründiges Symptom bildet, wird deut­ lich, wenn er ihm in seiner Antwort einen Vorwurf machen will, der tatsächlich aber von Lord Russell selber so durchaus affirmativ hätte unterschrieben werden können: „He lavishes his whole ennobling love of truth on the aristocratic few, the first-class truths of uncontested eminence that have won their way to eternal fame, and ignores the insecurity and struggles of the common herd.“'"'

Denn es ist ja gerade so, dass Russell dem Pragmatismus zum Hauptvorwurf macht, dass dieser in seinen Augen von den niedersten, weil ungewissesten wie auch für den praktischen Lebensvollzug belanglosesten Ebenen des „Wissens“ ausgeht, wo mit Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten problemlos herumge­ spielt werden kann, um mit dieser einen Logik bewaffnet alle anderen Sphären menschlicher Überzeugungen zu nivellieren.260261 So ist die Pointe, dass gerade der

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Schiller (1934) [„Tribulations o f Truth“], S. 188 Die Kritik, die der logische Positivist Moritz Schlick explizit an Schillers m ethodi­ schem H um anism us übt, ist dagegen von grundsätzlich anderer Art, auch wenn sie in Teilen kongruent zu der von Russell zu sein scheint, fordert doch auch Schlick eine Beibehaltung des Absoluten. Doch tut er dies im Unterschied zu Russell gera­ de umgekehrt - mit dem alleinigen Blick auf das wissenschaftlich-methdologische Funktionieren hin, und damit dort, wo Russell selber mit der pragmatistischen Logik des Fallibilismus und der Hypothesenhaftigkeit mitgehen würde. So lautet das Argu­ ment Schlicks: „Ohne das geringste Zögern weisen wir die [...] Ansicht [Schillers] zurück, denn Logik und Wissenschaft haben zu allen Zeiten anerkannt, daß niemals den Wahrheiten, sondern nur den Wahrscheinlichkeiten verschiedene Grade zukom­ men. Wer die Wahrheit so definiert, daß sie diesem Postulat nicht entspricht, der hat nicht wirklich den Begriff definiert, den man in Wissenschaft [...] immer meinte, wenn man von Wahrheit sprach, und den man auch fürder meinen wird.“ Schlick (1 9 1 0 ),S .61. Tatsächlich ist darin weniger ein Argument als vielmehr eine petitio principii zu se­ hen, die von vornherein die Richtigkeit der Ansichten dessen annimmt, was Schiller als „formale Logik“ und deren Sicht auf die wissenschaftliche Praxis beschreibt. Gleichermaßen verläuft die Schlicksche Kritik am metaphysischen Indeterminismus im Pragmatismus: „Daß übrigens eine Lehre, die die Wahrheit in nicht geringem Maße auf individuelles Belieben gründet, den .Naturalismus“ für einen verderbli­ chen Irrtum halten muß, ist nicht verwunderlich; ist sie doch mit keiner Ansicht vereinbar, welche die strenge Gesetzmäßigkeit des Universums zur Grundlage aller Weltanschauung und alles Philosophierens macht. So verteidigt auch James den meines Erachtens ganz unwissenschaftlichen Indeterminismus“. Ebd., S. 63.

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Pragmatismus ein Monismus ist, während umgekehrt der in Teilen absolutistische Russell - wenn auch nur andeutungsweise - dafür plädiert, mit dem Pluralis­ mus Ernst zu machen und verschiedene, kategorial getrennte wie stratifizierte Ebenen des Wissens, die wir praktisch sowieso ständig unterstellen (müssen), auch theoretisch zuzulassen: von absoluter „obviousness“ bis zu Überzeugungen „believed less firmly“. Spiegelverkehrt zum pragmatistischen All-Fallibilismus, der hier, überspitzt formuliert, als Ansturm des universell halbgebildeten demo­ kratischen Plebs gewertet wird, der nicht nur seine Unkenntnis der Sachlage zum obersten Erkenntnisregulativ - es gibt allein Postulate und Hypothesen - erhebt, sondern der sich ebenso aus seiner narzisstischen Selbstreferentialität heraus zum Maßstab der Dinge erklärt, was entgegen der demokratischen Proklamation auf die Einebnung von (qualitativer) Pluralität hinausläuft, wird von Russell und sei­ nem gnoseologischen Pluralismus ganz bewusst die aristokratische Sichtweise des „educated man“ verteidigt: Denn diesem Gebildeten-Typus entspricht die Ausrichtung auf Ausbildung von überdauernden Gewissheiten und nicht die Ak­ kumulation bloß provisorischer Meinungen. „The more a man has organised his knowledge, the more his beliefs will be inter­ dependent, and the more will obvious truths be reinforced by their connection with other obvious truths. In spite of this fact, however, obviousness remains always the ultimate source of our beliefs.“ 262

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Unabhängig von der Frage, warum Naturalismus so und nicht anders verstanden werden kann, ist es ja gerade das Anliegen des Schiller’schen pragmatistischen Indeterminismus, den Naturalismus als einen Kohärenzrahmen von Kosmos und Mensch so konzipieren zu können, dass beim Denken des einen nicht jeweils das andere verdunkelt und in seiner Phänomenalität unerklärlich wird. Ein Schicksal der „Unerklärlichkeit“, wie es im Fall des strikten Determinismus den Menschen und nicht zuletzt damit auch die wissenschaftliche Forschung des Menschen selber ereilen würde als (ohne performativen Selbstwiderspruch) nicht blind determiniert begreifbar. In diesem Sinn lässt der Indeterminismus, der ja kein Chaos, sondern statt Gesetzen minimal-dynamische „habits of things“ postuliert, weniger Mysterien zurück und ist damit naturalistischer, ermöglicht er doch ein Naturverständnis, das sowohl Kosmos als auch Mensch zu inkludieren vermag, ohne der Erfahrung beider zuwiderzulaufen: im Labor wie im Alltag, s. hierzu: Kap. 3.4. Alle vorgängigen Zitate: Russell (1910) [„William James’s Conception o f Truth“], S. 145f. Hier lässt sich die artverwandte und bereits als Eingangszitat vorgebrachte Kritik von Chesterton ergänzen, auch wenn dieser im Unterschied zum auf das Klassenbewusstsein zielenden Russell - wie der Begriff des „educated Man“ unver­ blümt andeutet - von der katholischen Warte aus diesen existenziellen Tatbestand des Absoluten im relativen Leben des Menschen für jeden überhaupt generalisiert 123

Im Unterschied zu Schillers eher beiläufiger Interpretation der „obviousness“ bei Russell, die dieser zugegebenermaßen auch selber kaum erläutert, sollte man, entgegen Schillers Lesart von ihr’6’, darin jedoch weder einzig noch vor allem die Inhalte unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung bezeichnet sehen, sondern sämtliche Überzeugungen höchster Zentralität für die ihrer habhaft gewordenen Personen und damit auch für ganze Weltanschauungsformationen, die, obwohl sie in einem langwierigen Prozess der menschlichen, individual-biographischen wie intergenerationellen Geschichte tatsächlich erst errungen wurden, dennoch, sobald sie einmal zur vollen Einsicht gebracht worden sind, als immer schon gül­ tig, als eben absolut, wenn auch dies bis dato unerkannterweise gedacht werden müssen. Im Fall Russells wäre diese seine „obviousness“ und damit die absolut gültige Weltanschauung, die ihn auch gegen den Demokratismus und Pragma­ tismus opponieren lässt, die metaphysische Einsicht in die exthronisierte Stel­ lung des Menschen in einem ihm indifferent bis feindlich gesinnten Kosmos, wie er sie zum Ende eines seiner beiden Pragmatismus-Aufsätze in negativer Form durchschimmern lässt: ,,[T]o men who do not find Man an adequate object of their worship, the pragmatists world will seem narrow and petty, robbing life of all that gives it value, and making Man himself smaller by depriving the universe which he contemplates of all its splendour.“264

Positive und systematischere Entfaltung findet diese Sicht Russells auf den Men­ schen als einer Melange aus Tragik und Heroismus in dem einige Jahre zuvor verfassten Aufsatz „The Free Mans Worship“ (1903), wo er die Größe des Homo *

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und einfordert: „I agree with the pragmatists that apparent objective truth is not the whole matter; that there is an authoritative need to believe the things that are necessary to the human mind. But I say that one o f those necessities precisely is a belief in objective truth. The pragmatist tells a man to think what he must think and never mind the Absolute. But precisely one o f the things that he must think is the Absolute.“ Da für Chestertons christliche Anthropologie der Mensch eben das Wesen ist, dessen Immanenz von der Transzendenz betroffen ist, folgt tatsächlich logisch, dass der Appell des Pragmatismus, sich der Immanenz der praktischen Lebenswelt zu widmen, konsquent zur selben menschlichen Situation kommen muss und da­ her vom Pragmatismus gilt, wenn er etwas anderes behauptet: „This philosophy, indeed, is a kind of verbal paradox.“ Chesterton (1908), S. 62. Tatsächlich herrscht aber auch hier wie bei Russell oder Santayana ein Verhältnis des Widerstreits zum Pragmatismus, muss dieser den Menschen - oder, im Sinne Chestertons, das, was dann noch von ihm, nach diesem „suicide of thought", übrig bleibt - doch nicht notwendigerweise im selben Sinn konzipieren. Schiller (1934) [„Tribulations of Truth“], S. 192 Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 126

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sapiens gerade daran bindet, dass die Natur - „alien and inhuman“, „omnipotent but blind“ - mit dem Menschen „has brought forth at last a child, subject still to her power, but gifted with sight, with knowledge of good and evil, with the capacity of judging all the works of his unthinking Mother“. Es liegt genau in dieser widernatürlichen Natur des Menschen, die sich in Geist und Intelligenz gegenüber dem ihn umzingelnden, belagernden und letztlich in Kraft und Aus­ dauer unendlich übersteigenden Kosmos manifestiert und die ihn gerade das er­ kennen lässt, was gegen ihn und seine innigsten Hoffnungen von Geborgenheit und anderen Wünsche spricht: „his impotence before the powers o f Nature“.265 Es ist diese kosmische Grundeinsicht, von der Russells aristokratisches Ethos und dessen „Stoic freedom“ als erkennendem Aushalten dieser antihumanen Einsicht, „in which wisdom consists“266, zehrt, ohne in angenehmere, anthropo­ zentrische oder anthropomorphe Scheinwelten zu fliehen, wie es Demokratis­ mus und Pragmatismus durch jeweils subjektivistische Regressionen tun. Egal, wie angenehm diese auch sein mögen, sie veruntreuen doch letztlich nur die Größe und Stärke der „free men“, die darin besteht, das zu akzeptieren, was ge­ rade gegen sie spricht: „the strength of those who refuse that false .recognition of facts“ which fails to recognise that facts are often bad.“267 Mehr noch: es sind gerade die harmonisierenden Verklärungen der Mensch-Natur-Beziehung, die den Wert des vom Menschen für den Menschen Errungenen - allen voran die „priceless heritage of liberty“268- durch Marginalisierung bis Annihilierung der faktisch irreduziblen Feindlichkeit oder sei es auch nur durch Indifferenz sei­ ner Umgebung ihm gegenüber scheinbar paradox unendlich schmälern; denn erst durch die Bewusstheit ultimativer Machtlosigkeit des Menschen in der Natur und die Einsicht, dass „on him and all his race the slow, sure doom falls pitiless and dark“269, gewinnt das menschliche Schicksal und sein sisyphusianischheroisches Aufbegehren eine „beauty of Tragedy“.270

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Alle vorgängigen Zitate: Russell (1910) [„The Free Man’s Worship“], S. 61 Russell (1910) [„The Free Man’s Worship“], S. 64

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Russell (1910) [„The Free Man’s Worship“], S. 63 Russell (1910) [„The Free Man’s Worship“], S. 67 Russell (1910) [„The Free Man’s Worship“], S. 70 Russell (1910) [„The Free Man's Worship“], S. 67. Es ist frappierend, wie sehr hier Rus­ sells Sicht Albert Camus’ „Philosophie des Absurden“ vorwegnimmt oder zumindest unübersehbar in ihrer Elementarform entwickelt. Mehr noch: In diesem unverblümt aristokratischen Stoizismus Russells liegt gar noch viel offener zutage, was Camus’ Bruch mit f.-P. Sartre und den „Kommunisten“ unleugbar offenbarte: die Untröstbarkeit des „freien“ bzw. „absurden“ Menschen durch eine jede letztversöhnliche, durch 125

Einerlei, wie man sich wiederum zu dieser Weltanschauung Russells verhal­ ten mag, ist sie es, die die Urquelle seiner Aversionen und auch der anderer - al­ len voran von Santayana271 - gegenüber dem Pragmatismus im Allgemeinen wie dem m ethodischen Humanismus Schillers im Speziellen bildet und die James und Schiller in ihren Repliken auf Russell beide nicht als solche zu erkennen vermö­ gen. Der Kontrast zwischen beiden Perspektiven wird noch deutlicher, wenn es zum zweiten Part des Humanismus von Schiller - dem prophetischen - kommt, der zumindest in seiner frühen spekulativen Variante einen derartig metaphysi­ schen Höhenflug eines kosmologischen Optimismus darstellt, dass man nicht erst Russells Sicht einnehmen muss, um das Gefühl zu bekommen, Schiller dro­ he sich dabei die Flügel zu versengen, indem er in die paradoxe Gefahr gerät, je ­ den menschlichen Plausbilitätsrahmen zu sprengen, um die Hoffnung auf einen realen, zukünftigen, diese in jed er Hinsicht erfüllenden Zustand herbeischreiben zu können. Dies ist die Rolle, die Russells Metaphysik innerhalb der Philosophie Schillers als skeptische Gegenfrage einnehmen kann272, entfaltet Schiller seinen Spekulativen Humanismus doch als ausnahmslos spiegelbildlichen Antagonismus zur geschilderten (vermeintlich) deduktiven Kaskade vom Agnostizismus bis zum Pessimismus, weshalb er auch keinerlei Elemente, an denen sich Tragik und

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Menschenhand vollstreckbare Utopie. Im Fall Russells war es der Pragmatismus, der für ihn keine diesbezügliche Option sein konnte, während es fünfzig Jahre später bei Camus nicht der Kommunismus sein konnte. Für beide gilt - der reine Selbstbezug des Menschen zum Menschen ohne Umweg über die Anerkennung der Transzendenz durch die „Natur“, die allererst den Menschen und sein Glück maßvoll einordbar macht, wäre gerade ein „life in prison“ (Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 126), ohne Außen. Bei Camus: die „deutschen Träume“ vs. das „mittelmeerische Denken“ bzw. einerseits die „Gewalt des ewigen Jünglings und der männlichen Stärke, der Sehn­ sucht“ und andererseits der „im Laufe des Lebens erhelltet] und erhärtete[] Mut, der Geschichte schließlich und der Natur.“ Camus (1951 ), S. 32 lf. Der umgekehrten und sich dieser komparatistischen Ideengeschichte fügenden Ver­ wandtschaft zwischen dem Pragmatismus von Schiller (und James) mit dem von Sartre wird später nachgegangen: s. Kap. 3.8. S. dazu am kompaktesten Santayanas durch und durch affirmative Rekonstruktion (und eigene Überformung) von Russells Kritik: Santayana (1913), S. 124ff. Wobei diese Frage auch für den Pragmatismus als Ganzem und seinen zumindest in vorderster Front fehlenden expliziten Sinn für das Tragische erweiterbar wäre. Für einen dem Pragmatismus gegenüber selbst wohlgesonnenen Versuch einer Relati­ vierung seiner Prämissen und der in ihnen zumindest latent angelegten Fortschrittsgläubigkeit s. Lachs (2012).

Ambivalenz eines endlosen und unaufhebbaren Kampfes manifestieren könn­ ten, als ultimative, unaufhebbare mehr zulassen kann. Ein Blick auf Russell und dessen Weltbild, das nur aus einer solch ultimativ optimistischen Perspektive als pessimistisch diskreditiert werden kann, legt umgekehrt den Verdacht nahe, dass der Dualismus von Tragik und Leid als ausschließliche Blutsverwand­ te des Pessimismus einerseits und die völlige Überwindung durch den, wenn auch kritischen Optimismus andererseits als zu schablonenartig und manichäisch seitens Schiller konzipiert wird: ist in Russells Kosmos doch keineswegs Menschsein überhaupt unmöglich. Ja, man könnte sogar noch weitergehen und zum Schluss kommen, dass es vielmehr Russells Sicht ist, die mit all dem das Kernanliegen einer jeden humanistischen Philosophie eher trifft, nämlich den Menschen als Menschen zu denken und nicht als unsterblichen Quasi-Gott, wie Schiller dies zusammen mit dem „Personalismus“ Howisons (Kap. 4.1.2.) tut: „In spite o f Death, the mark and seal o f the parental control, Man is yet free, during his brief years, to examine, to criticise, to know, and in imagination to create.“273274 Unabhängig von dieser Fragestellung nach dem „richtigen“ Humanismus und der Unterschiedenheit beider Perspektiven, einer Differenz, die daher eine irre­ duzible bleiben muss, weil sie bar jeder gemeinsamen Minimalbasis nicht logisch ausgeräumt werden kann, erweist sich zumindest die Kritik Russells am zu ho­ mogenen und unzureichend ausdifferenzierten Begriff des „belief“, wonach dieser nicht nur als ein Tatbestand vorliegt, sondern in unterschiedlichen Formen und Qualitäten, je nachdem, an welche Propositionalität, an welche Inhalte oder Ob­ jekttypen er gekoppelt ist, auch innerhalb des Pragmatismus selber als duchaus positiv. Eine Kritik, die sich auf den Satz des Earl of Kent in Shakespeares King Lear „I’ll teach you differences“ zuspitzen lässt und die sich tatsächlich auch historisch als produktiv bewiesen hat: Denn es ist genau diese, auch ohne Russell dabei ein einziges Mal zu erwähnen, der gerecht zu werden sich Schiller Jahre später in sei­ nen „Problems of Belief“ als Unternehmen zur phänomenologisch-deskripitiven Klassifikation distinkter Glaubens-Typen auf die Fahnen geschrieben hat.2'·4

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Russell (1910) [„The Free iMan’s Worship“], S. 61 In anderer Hinsicht sind sich Russell und Schiller später durchaus einig: im Hinblick auf die dysgenische Ordnung der westlichen Zivilisation und das Programm der Eugenik als Lösung - eine Lösung, die damit auch dem linksliberalen-sozialreformatorischen Lager der Fabian Society, der Russell angehörte, plausibel erschien: s. hierzu Niemann-Findeisen (2004). Da jedoch die Plausibilität der eugenischen Reform am Ende für Russell (und dies wiederum doch im Unterschied zu Schiller) nur eine hypothetische, prinzipielle bleibt, insofern er pessimistisch ob ihrer Durch­ setzung in massendemokratischen Gesellschaften ist, die, statt eine aristokratische 127

3.6 Die Problem s o f B e lie f Von der Vielschichtigkeit der Personalität Es ist wohl Schillers das James sehe Erbe der Rolle des Glaubens vermehren­ de „The Problems of Belief“ (1924), das als das am wenigsten polemische seit dem frühen, systematischsten Werk, den Riddles (s. Kap. 4.1.1. u. 4.1.3.), und nach dem hitzigen Debattendezennium der Nullerjahre um die Morgenröte des Pragmatismus am ehesten als wissenschaftlich „neutrale“ Untersuchung seines Gegenstands gelten kann: die Rolle des Glaubens und die Überzeugungen im menschlichen Leben im Allgemeinen wie die Lebensführung des Einzelnen im Speziellen. Eine Sonderstellung innerhalb des Schiller’schen Oeuvres, die sich auch in der über den engen (anti-)pragmatistischen Kreis seiner üblichen Rezep­ tion hinaus sogar bis in die Gegenwart aufzeigen lässt.275 In den Problems finden sich kondensiert die Früchte des Zeit seines Lebens andauernden Interesses an

Rigidität der Wahrheit und Wahrhaftigkeit an den Tag zu legen, sich dadurch aus­ zeichnen, zu vielen massetauglichen - teilweise religiös und moralphilosophisch tradierten - Irrationalitäten Platz einzuräumen und damit der Eugenik wissenschaft­ lich künstliche, aber sozialpolitisch wirkungsmächtige Steine in den Weg zu legen, endet er mit einem dystopischen Zukunftsblick: „For a while, the old machinery will survive, just as Roman aqueducts survived in the sixth and seventh centuries; but gradually there will be an increasing collapse, until the skyscrapers become as strange as Maya ruins in Yucatan”. Russell (1928), 81. In diesem Debattenfeld ist auch die Anerkennung des (positiv gestimmteren) Eugenikers Schiller gegenüber Russell eine ganz andere als die gegenüber dessen Kritik am Pragmatismus: „I can only congratulate the cause of eugenics on so distinguished a convert, and Mr. Russell on the unabated progressiveness o f his mind.“ Schiller spricht hier sogar von einer kooperativen Zusammenführung Russells mit seinem eigenen Denken als Bewahrheitung einer früheren Hoffnung seinerseits, dass sie beide, obwohl beide „[have] been repelled from Hegelianism in diametrically opposite directions“ zu Beginn ihres Schaffens, bei nur lang genug durchgehaltenem Weg „should one day meet face to face because the indellectual universe also was round“. Schiller (1929b), S. 269.

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Zu Schillers an dieser allgemeinen Zustimmung unter dem Gesang eines „Nunc dimittis“ (ebd.) bemessenen, regionaleren Kritik an Russells Defätismus im Hinblick auf die Machbarkeit einer eugenischen Reform: s. Schiller (1932), S. 160ff. In diesem Charakter der eher deskriptiven Untersuchung wurde es auch von der Kritik gesehen wie gewürdigt: „deserves to be widely read, and that not merely by philosophers but by the intelligent public“. Galloway (1924), S. 443. Bezeichnender­ weise sind es auch gerade die Beliefs, die damals wie heute als solide Untersuchung ihres Gegenstands - den Formationen des Glaubens - anerkennende Erwähnung finden: s. bspw. Cole (1931), S. 331 u. Bolz (2008), S. 90.

der Psychologie, das sich biographisch vor allem in seinem Engagement in der „Society of Psychical Research“ manifestiert, deren Vorsitzender er 1914 in der Nachfolge von )ames, der den Vorsitz 1894-95 innehatte, wurde.276 Dennoch wäre es kein Werk Schillers, wenn nicht auch hier als allesverzerrender Schreckens-Hintergrund der Rationalismus und Intellektualismus dienen würde, der für Schiller das Problem des Glaubens innerphilosophisch immer schon zu nivellieren trachtet, insofern er die philosophische Perspektive dahingehend beschneidet, dass sie alles als „wholly an affair to the intellect“ zu reflektieren hat, „in which desires and volitions play no part“277, und damit die Logik, wie es der „Psychologismus-Streit“ in der deutschen Philosophie um die Jahrhundertwende historisch illustriert278, von den Ergebnissen der Psychologie kategorisch trennen will. Sei dies der Fall, um alle Phänomene, welche unter Letztere fallen, entweder von einer Idee der Reinheit getragen als „pernicious and immoral“ mit gerümpfter Nase ignorieren zu können oder immer nur von der unterstellten Suprematie reiner Denkprozesse her einseitig und verformend zu betrachten: „any exercise of selection or choice, any preference or bias, was bound to vitiate a cognitive process“. (107) Diese Über-Würdigung des Rati­ onalen soll damit auch in diesem Werk Schillers seine Nemesis finden, aller­ dings indirekter in einem kontrafaktischen Beweisverfahren, indem ein ganzer

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Die SPR, eine Organisation, die heute noch mit Sitz in London existiert, bietet auch weiterhin einen vorzüglichen Fingerzeig für sein Interesse an Parallelwelten mit Ausblick auf ein Leben nach dem Tod, das v.a. für seinen spekulativen H um anism us zentral ist und neben der psychologistischen Reform der Logik wohl seine Haupt­ motivation für seine Andockung an die psychologische Forschung darstellt: So kann man noch immer auf der offiziellen Internetseite seine „paranormal experiences" mit der „scientific community“ teilen. Zu Schillers entgegen dem heutigen „esoterischen” Touch selbst dargelegter, durchweg wissenschaftlichen Offenheit und damit auch seiner Suspension von apriorischen Vorbehalten gegenüber „spiritistischen” M ög­ lichkeiten in der Natur, s. seine „Presidential Address”: Schiller ( 1934) [„Philosophy, Science and Psychical Research”!. Statt in diesem Bereich wie viele andere schlicht dem massendemokratischen Ausläufer der Romantik als „Philosophie“ des Ekstati­ schen, des Transzendenten, des Nichtmechanischen zu frönen, votiert er dafür, die Parapsychologie methodisch konsequent an die experimentell ausgerichtete wissen­ schaftliche Praxis zu binden und nicht einzelne, unmöglich zu reproduzierende Fälle ins Zentrum zu rücken und sich gerade dadurch wissenschaftlich zu disqualifizieren. Schiller (1934) [„Philosophy, Science and Psychical Research“], S. 330 Schiller (1924), S. 107. In diesem Unterkapitel (3.6.) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben. s. hierzu Rath (1994) 129

Phänomenbezirk samt seiner inneren Ordnung vermittels einer deskriptiven Psychologie zur Sprache gebracht wird, welcher auf dem Radar des Logizismus unentdeckt und unerforschbar bleiben muss und dennoch vom Common Sense kaum geleugnet werden kann.279 Die Ordnung der unterschiedlichen Formen von „beliefs“, die Schiller phäno­ menologisch destilliert, wird von ihm dabei nicht zu einer fixen Anthropologie hypostasiert, womit er den Rationalismus und dessen starre Kategorien nur in einem komplexeren Gewand neu entstehen ließe, sondern wird der evolutionistisch-genetischen Methode gemäß als eine Explikation von Idealtypen verstan­ den, die, insofern alles im Werden ist, sich in Praktiken experimentell langsam in der Zeit entfaltet hat und weiterhin zu entfalten und zu verändern verspricht. Sie lässt Widersprüche, Überlappungen und Grauzonen untereinander nicht nur zu, sondern macht sie überhaupt erst durch ihr rubrizierendes Vorschlä­ gen qua Sezieren und Auftrennen zu Typen in dem ansonsten in Unschärfe des vorbeirasenden Lebensvollzugs Verbleibenden intelligibel. Es geht Schiller dar­ um, gegenüber dem selbstproklamierten Monopolismus auf Theoriebildung des Rationalismus einen alternativen, methodischen Vorschlag zu unterbreiten und damit sich auch selbst von dem sich aus diesem Monopol speisenden Vorwurf zu befreien, er fröne einer irrationalen Huldigung wirrer und obskurer Praxis, solange er sich nicht unter das Protektorat des klassischen Rationalismus begebe. Nicht nur, dass sich Schiller nicht als Zerstörer der Philosophie verstanden hat, sondern gerade als authentischer Philosoph (s. dazu das nächste Unterkapitel), noch viel mehr gilt für ihn, dass erst ein solch post-rationalistischer Zugang den

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Ironischerweise verläuft die Kritik am Pragmatismus durch den „intellektualistischen“ Philosophen zu Schillers Zeit - F.H. Bradley - spiegelverkehrt statt in Bezug auf die Ratio auf die Praxis: „Practice is a necessary aspect o f human nature and of the whole things, but practice is not the whole things nor is it the entirety o f human nature. [...] Our nature is complex, and on the other hand our nature has and ought to have a unity, but its unity is not to be found by setting up one element as absolute, and by turning all the rest into mere external means.“ Bradley (1914), S. 99. Es stellt sich somit erneut und auch später wieder (Kap. 4.1.3.) die bereits im „Überflug“ die­ ser Arbeit aufgeworfene Frage, wie sich die Beziehung zwischen beiden jenseits der lebensgeschichtlichen Animositäten philosophisch-inhaltlich darstellt und ob nicht beide - wie im Fall Bradley ausgemachterweise, ist der Pragmatismus, wie auch die vorliegende Arbeit darzulegen bemüht ist, jenseits seiner PR-Fassade doch immer schon etwas anderes gewesen als die Verabsolutierung der „Praxis“ - zumindest in Teilen aneinander vorbeireden. Wie zu Beginn „versprochen“, kann diese Frage hier nur aufgeworfen, nicht aber beantwortet werden.

Titel des „Rationalen“ verdient, wenn „rationalistisch“ dem Anspruch nachzu­ gehen bedeutet, der Realität im vollen Umfange erkennend gegenüberzutreten, sodass nicht von vornherein heuristische Verzerrungen und Verengungen des Denkenden diese nach Gusto beschränken. Ein solch offenerer Zugang ist jenseits seiner höheren theoretischen Ratio­ nalität auch höherwertig im Hinblick auf die praktische, wenn dieser an einer positiven Veränderung der Art des Lebens, ob individuell oder gesellschaftlich, gelegen sein soll. Und für Schiller muss ihr an einem solch prophetischen Akti­ vismus gelegen sein, denn die offensichtlichen Imperfektionen der menschlichen Situation - exemplifizierbar durch Phänomene der Widersprüchlichkeit, der Halbwirksamkeiten, der Unehrlichkeiten und des prärationalen Triebhaften würden bei Unfähigkeit des Rationalismus, diese lebenswirklich zu verbessen oder gar zu überwinden, wozu die Anerkennung dieser „irrationalen“ Bereiche notwendige Voraussetzung wäre, in apokalyptischer Passivität verharrend über kurz oder lang die pessimistische Maschinerie in Gang setzen. Grundsatz des Rationalismus humanistischer Fassung ist damit gerade die Anerkennung, dass „rationality [... ] not an original endowment, but an achievement and acquisition“ ist, die im besten Fall aus der Perspektive evolutionär noch nicht geschriebener Zukünftigkeit heraus als „presage of a greater efflorescence“ (127) gesehen wer­ den kann und von Schiller als prophetischer Humanismus durchgeführt wird. Diese Standard-Opposition zum klassischen Rationalismus wird in den Pro­ blems um die Kritik eines weiteren, verstellenden Blicks ergänzt: den der Theo­ logie.280 Die „theological domination“ (10) zeigt bei der Frage nach dem Wesen des Glaubens für Schiller ein anderes Defizit als der Rationalismus auf, welcher Glauben entweder als solchen aufhebt, insofern er ihn mit Logik und deren Ge­ setzen koinzidieren sieht, oder als irrelevant bis schädlich setzt, insofern er der Logik widerspricht oder diese mit Kontingenz verunreinigt. Die Theologie da­ gegen nimmt zwar den Glauben in den Blick, jedoch nur einen aus der Vielzahl seiner Modi, den „religious belief“, und präpariert diesen dann als monolithi­ schen heraus, den sie gleichzeitig mit der gesetzten Existenz Gottes im Rücken allein durch die Brille einer „strong bias in favour o f positive belief as against disbelief, which it decried as ,unbelief“ (10) thematisiert und damit gleicher­ maßen, wenn auch auf anderen Wegen als der Rationalismus, die „study of the psychological facts of belief and their critical evaluation“ (10) verhindert, wenn 280

Konkret dürfte Schiller hiermit wohl auf die Untersuchung „The Foundation of B elief“ (1895) von A. Balfour zielen, in dem dieser den Glauben ausschließlich im Hinblick auf den religiösen und damit in Opposition zu einer bereits vorurteilshaft definierten Rationalität behandelt. Schiller (1924a), S. 9f. 131

nicht gar als häretisch tabuisiert. Mindestens aber verdunkelt der theologische Kardinal-Dualismus von Glaube und Unglaube das bunte Reich der Mitte, die „vast region occupied by the various intensities and shades of belief“ (15), und sorgt damit ebenso für eine realitätsflüchtige Theorie. So, wie der Theist nicht die Legitimation besitzt, die Reflexion auf Glauben für sich gepachtet zu haben, weil der religiöse Glaube nur eine Form eines psychologisch viel weltumspan­ nenderen Phänomenbezirks ist, kann auch umgekehrt der Atheist sich nur als „non-believer“ in dieser einen Hinsicht ausweisen, denn einen im umfassenden Sinne Nichtgläubigen kann es für Schiller unter den Lebenden nicht geben.>l Erst bei Suspension dieser beiden heuristischen Vorurteile von Rationalis­ mus und "Theologie als „undue simplifications“ (11) kann für Schiller, Skylla und Charybdis hinter sich lassend, auf das weite Meer der beliefs zugesteuert und dies mit offenen Augen erkundet werden: als ein komplexes Netz von Verbindungen, „vital not only to logic and religion, but to action as such, and to every aspect of human life and acitvity“ (11), und damit als „centre from which radiate the routes to almost all the interesting problems of philosophy“ (12). In der Folge fächert Schiller das Phänomen des Glaubens in fünf Typen auf und beginnt mit den implicit beliefs. Diese sind in zweierlei Hinsicht implizit: Sie sind weder benannt („stated“) noch werden sie bezweifelt („doubted“). Die Rolle des Subrationalen würdigend, attestiert er, dass „there is no understanding human nature without them“ (30). Denn im Gegensatz zum rational verhandel­ baren wie offenliegenden Bereich sind diese, verwachsen mit der Tiefenschicht der „emotions, instincts, intuitions, and cravings“ (31), „much more primitive and powerful“ und „apt to determine our actions directly, and not circuitously by a process of reflection" (31). Doch es sind nicht vor allem die „ideals of rationalism“ (95) in Form der exklusiven Anerkennung höherer Fakultäten des Menschen wie das von blinden Automatismen suspendierte, bewusst begrün­ dende wie ordnende Raisonnieren der Grund, warum die „implicit beliefs“ un­ verstanden und gerade dadurch auch theoretisch implizite sind und bleiben. Ihr Explizitmachen wird in vielerlei Fällen durch eine soziale Zensur sowie die indi­ viduelle Scham unterdrückt, die bewirken, dass wir dieses Reich unserer „firmest281

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Ironischerweise spielt der „handelsübliche“ Atheist von heute im Rahmen der New A theist-Bew egung und seiner militanten Verbalablehnung des „faith“ zugunsten der „scientific facts" dem Paradigma des Religiösen in die Karten, stabilisiert ex negativo dessen Monopolanspruch auf Glauben und arbeitet damit ebenso einer unterkom­ plexen Anthropologie zu, die mit der Realität, der gegenüber der Atheismus sich in polemischer Selbstattribuierung im Besonderen - im Unterschied zu Mythen und Märchen - verpflichtet sieht, nichts zu tun hat.

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beliefs” (32) paradoxerweise „not avow [...] to others, or even to ourselves, but try to repress them, or at least our awareness o f them.” (31) Falsch wäre es, diese von Schiller attestierte Unterdrückung ausschließlich und vor allem in praktischer Hinsicht als negative Kritik, als Appell zur Entsublimierung zu werten. Eher ist, wie er während seines parallel verlaufenden En­ gagements für einen eugenischen Humanismus beschreibt, das Umgekehrte der Fall, denn was Schiller in den beliefs zumindest in Teilen latent brodeln sieht, ist das gesellschaftlich zersetzende Potential des Menschen, sein „hedonism and egotism“ (31), sodass die „social tabus“ praktisch notwendig sind, auch wenn sie nicht zu einer theoretischen Leugnung führen dürfen. Doch nicht nur aus der Perspektive der zumindest einen gemeinsamen Boden bereitstellenden sozialen Konformität ist das Absenken dieser Überzeugungen hinter eine vorbewusste Bewusstseinsschwelle erforderlich, sondern ebenso, um trotz der Irrationalität in der Überschätzung des Eigenen, die in ihnen zum Ausdruck kommt, dauerhaft daran festhalten zu können. Denn gerade durch ihre Entzogenheit gegenüber den Augen der Öffentlichkeit ist dieser Bereich des Glaubens „exempted from the assaults of criticism, and men feel free to believe just what they like about the subject." (33) Dieses Glauben-Können des faktisch unter der Lupe rationaler Kritik in vielen Fällen Verdorrenden, weil Falschen oder Illusionären bietet selber wieder den Boden für eine routinierte Alltäglichkeit, die die Gesellschaft stabili­ siert und trägt, indem sie dem Alltagsmenschen die Überzeugung lässt, „to be an efficient member of society“ (35), und ihm dadurch als Partikel einer Gemein­ schaft von sich selbst Überzeugter ermöglicht, darin tatsächlich eine produktive Gesellschaft als Ganze zu bilden. Nur durch dieses lukrative Selbstverkennungs­ potential kann auch der noch so „civilized man“ mit sich ins Reine kommen, den trotz bemühter Selbstrationalisierung und Selbstanklage vor dem Gericht der Ver­ nunft weiterhin Urängste und Ressentiments seiner individual-kindlichen oder gattungsgeschichtlich-primitiven Vergangenheit heimsuchen. Die Selbstwahrung eines personalen Identitätsbildes wird gerade durch den impliziten Charakter inkonsistenter Überzeugungen möglich und geschützt, die „self-deception“ ketzerische Pointe gegen jeden klassischen Rationalismus282 - damit „universal

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Schiller wertet daher an zumindest einer - nicht umsonst zeitgleichen - Stelle in seinem Werk den Rationalismus (in Wechselwirkung mit seinem akademischen Habitat) psychologisch begründet als „sublimating’ human nature“, insofern in ihm das „best in us, our thoughts" zur Totalität des Menschen idealisiert werden, um die niederen Regionen des Menschseins aus Scham unthematisiert zu lassen und sie ewiglich verdunkeln zu können: „Academic decorum therefore demands that many o f its parts should be ignored and decently hidden away.“ Schiller (1924b), S. 387f. 133

and salutary“, „an essential requisite of human life.“ (124) Umgekehrt würde die hyperreflexive, selbstkritische Dauerentlarvung in Schillers Augen eher zu gra­ vierenden, antisozialen Folgen führen, indem der Einzelne, seiner „self-esteem“ verlustig gegangen, in Ohnmacht fällt: „désorienté and ,lost“‘ (35 - Herv. i.O.). Doch jenseits dieser von den Moralisten gern ins Visier genommenen Über­ zeugungen beherbergt die Ebene des impliziten Glaubens auch eine Fülle von noch grundsätzlicheren, so „vitally necessary“ (33), dass ihr kritisches Reflek­ tieren nicht nur aus Gründen individueller Gesichtswahrung kaum möglich ist. Gemeint sind damit solche wie die „veracity of our senses and our memory, and in the routine o f nature“ (36) sowie die Annahme der „goodness and value of life itself“ (39) - also beliefs von einer Fundamentalität, dass sie sich erst dann ex­ plizit zeigen, wenn sie in praxi in Momenten des Schocks vor den Kopf gestoßen werden: Sei es in Form der Erfahrung, dass sich die eigene Erinnerung oder Sin­ neswahrnehmung wider der unmittelbaren Evidenz als falsch herausteilt, oder in Form der Erfahrung eines Suizids, der die geradezu unverrückbar erscheinen­ de Lebensbejahung als ein „product of aeons o f unremitting affirmation of the will to live and o f heoric persistence in the struggle of existence“ (39) einer situa­ tiven Kontingenz preisgibt. Hier wie auch in den anderen Beispielen der implicit beliefs wird vor allem deutlich: „whoever demands real rationality of his beliefs must look elsewhere“, denn fast keine der hier waltenden Annahmen ist aus der bewussten Erwägung „guter Gründe“ heraus übernommen worden, sondern ist höchstens spielerisch phantastisch hintergehbarer „animal faith“283 und damit umgekehrt Quell dessen, was wir als erwägungsfähige Überlegungskette anzu­ erkennen bereit sind. Davon Abweichendes erscheint vice versa auch nicht als falsch, sondern als direkter Weg in die Richtung, „in which madness lies“ (34). Dass Schiller diese Überzeugungen dennoch unter die Gattung der beliefs subsumiert und nicht, wie Russell zuvor oder Wittgenstein später, in diesen ein andersartiges, weil grundsätzlich anders funktionierendes Phänomen, nämlich der obviousness (Russell) bzw. Gewissheit (Wittgenstein284) am Werk sehen will,

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Hier rekurriert Schiller explizit auf das Konzept von George Santayana, das dieser in seinem „Scepticism and Animal Faith“ (1923) gegen einen theoretisch konsequent durchführbaren Skeptizismus als „solipsism of the present m om ent“, in dem nur noch das instantan Aktuale der Bewusstseinsimmanenz gelten gelassen wird, prak­ tisch in Stellung bringt.

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Gerade Wittgenstein hat in seinem Manuskript „Über Gewissheit“ der phänomenolo­ gischen Betrachtung des Menschen eherGenüge getan, wenn er den Unterschied zwi­ schen Wissen und Hypothesen einerseits und dem „Weltbild“ anderer seits betont: Ist ersterer Bereich auf Gründe verwiesen, sodass allein in ihm von Irrtümern gesprochen

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überrascht umso mehr, als er selber die nachfolgenden, explizit verhandelten und verhandelbaren debatable beliefs als diejenigen bezeichnet, „what we really mean by .beliefs1“ (41). Und doch zeigt sich hier der ungebrochene Wille einer­ seits zur Durchsetzung der pragmatistischen Methode, die das Endliche und Hy­ pothesenhafte unendlich und absolut durchsetzen will, wie Russell dies in seiner Kritik zugespitzt hat, und andererseits zur moralisch motivierten Bewahrung eines Horizonts der Plastizität, um einen Begriff von Freiheit zu ermöglichen, welcher sich als der einer individuellen Wahl von Möglichkeiten darstellt, los­ gelöst von jeder „external necessity“ (112) als einer Vorhut des Pessimismus, in dem nichts mehr möglich oder wertvoll ist. Wie gezeigt, ist er genau hierin Russell und dessen „free man“ mit seinem aristokratischen Stoizismus diametral entgegengesetzt, welcher seine Freiheit gerade in der Akzeptanzkapazität gegen­ über dem Notwendigen und Unabänderbaren bemisst. Dieser so zweifach gespeiste Durchsetzungswille, die implicit beliefs als be­ liefs und damit, wie sämtliche beliefs per Definiton, als „relative and fallible and corrigible“ (97) zu werten, führt Schiller bis zu der Konsequenz durch, die hier adoptierte Methode psychologischer Deskription zu verbiegen und zu entwer­ ten - bis hin zur ironischen Verkehrung seiner selbst vom gnadenlosen Kritiker des Rationalismus zum Verteidiger der reinen, von Erfahrung getrennten Lo­ gik. Zur Begründung bedient er sich dabei selber gerade der Trennung, die er ansonsten überall zugunsten der Kooperation bis gar zur Fusion angreift: der von Logik und Psychologie. Nur so kann er auch in diesem Bereich den Gewiss­ heitscharakter der Überzeugungen zu einem bloßen „feeling o f certainty“ (21) herabwürdigen, welches gegenüber einer rein logischen und hier höherwertigen Betrachtung zu keinerlei wirklichen Gewissheit gereichen kann, da auch diese Überzeugungen, in logische Formen gegossen, in konditional-inferentieller

werden kann, so ist letzterer Bereich der des Horizonts, der allererst plausible und unplausible Gründe zu trennen vermag, gerade weil er nicht von Gründen, sondern von unthematisierter Gewissheit gespeist ist. Freilich ist dieser, mindestens von außen, aber auch biographisch diachron betrachtet, durch Gewissheiten kon­ stituierte Bereich des Weltbildes keineswegs „unfehlbar“, frei von Plastizität oder a priori absolut wahr, doch würde, mit Wittgenstein gesprochen, eine Veränderung seinerseits nicht als „Irrtum“, sondern eher als eine „Bekehrung besonderer A rt“ [Wittgenstein (1950/51), S. 139] erfahren werden. Schließlich wird nicht eine Ansicht neben anderen fallengelassen oder modifiziert, sondern es würde, insofern es sich bei ihm um den Hintergrund sämtlicher konkreten Ansichten handelt, die Bewertung, Einordnung, Hierarchisierung, das Antlitz von allem ändern, denn: es hieße, dass man die Welt anders betrachten würde. 135

Abhängigkeit von Annahmen bleiben, denen keine selbstgenügsame Notwen­ digkeit zukommt. Mehr noch, es kann logisch überhaupt keine Gewissheit ge­ ben, weil es überall nur im besten Fall ein sich gegenseitig stützendes Netz von Annahmen, Postulaten gibt (s. zur detallierten Kritik des logisch Absoluten: Kap 3.4.). Auch für die noch so als evident, absolut, unmittelbar gefühlten im ­ plicit beliefs gilt, dass sich diese als Gewissheiten gebärenden Überzeugungen, egal wie psychologisch einer thetischen Reversion oder auch nur Infragestellung gegenüber widerspenstig, logisch nur als vorläufige Annahmen, als evolutionär gestreckte Hypothesen eingeordnet werden können. Doch man muss Schiller - zumindest theorieimmanent - zugutehalten, dass er jenseits des Appells an die formallogische Kritik des psychologischen Gefühls der Gewissheit für diese ultimative Hypothesenhaftigkeit aller „Notwendigkei­ ten“ als Grundlage einer Lebensgestaltung in optimistischer Hinsicht, nach der die Handlungen des Einzelnen nicht nur möglich sind, weil es keine absoluten Sachzwänge gibt, sondern einen Unterschied zum Guten bedeuten können, eine noch grundsätzlichere Rechtfertigungsmöglichkeit liefert. Denn die Rolle der Kontingenz, die in seinem m ethodischen Humanismus als „Gesetz“ der Gesetze des Kosmos und seiner Zukunft extrapoliert wird, legitimiert seine Annah­ me, dass auch empirisch jede noch so als unumstößlich geschaute Gewissheit sich in Anbetracht nicht nur der Entwicklung der Wissenschaften, sondern der menschlichen Natur wie des Universums im Ganzen tatsächlich als bloß vorläu­ fige Hypothese herausstellen kann. Jenseits dieses Konflikts um Gewissheiten und Hypothesen durchläuft Schil­ lers in den Axiom s noch abstrakt entfalteter Voluntarismus gerade in Anbetracht dieser vorbewussten Ebene der implicit beliefs eine sozial-empirische Läuterung, Ausdifferenzierung und mäßigende Relativierung. Erschien das postulierende Subjekt dort mindestens latent als Souverän seiner Weltschöpfung21**5, konstatiert

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Auch wenn Schiller trotz seines expliziten Eintretens für eine „Promethean revolt“ (Schiller (1903) [„The Ethical Basis of Metaphysics“], S. 14) gegen das als unumstöß­ lich stilisierte Diktat eines Absoluten (in Form der Naturgesetze oder der ontolo­ gischen Einheit i.S. des Monismus bzw., religiös gewendet, des Pantheismus) wohl zu keiner Zeit den Menschen ernsthaft als völlig unbestimmten Schöpfergott seiner eigenen Welt betrachtet hat, wie auch sein spekulativer H um anism us zeigen wird, kommt es nicht von ungefähr und ist keineswegs so wundersam (wie Vogt (2002), S. 151 attestiert), dass die italienische Dependance des Pragmatismus, hier vor allem G. Prezzolini (1903) (die Nähe zu Schiller auch in seinem Pseudonym kenntlich machend: „Giuliano il Sofista“) nach der Lektüre von Schillers A xiom s, in kreati­ ver Übersteigerung genau dies, eine Theomorphisierung des Menschen euphorisch

er nun: „For anything deeply rooted in our nature may be impossible to eradi­ cate, because it would cost too great and too painful an effort.“ (34) An einer späteren Stelle wird er noch deutlicher:

erblickt haben will: L’uom o dio - der Mensch als Gott. Nicht nur, dass sich abstrakt betrachtet die Erscheinung des Voluntarismus als Fokussierung auf die ungebändigte Macht des individuellen und später im Faschismus des kollektiven Willens um die Jahrhundertwende als Säkularisat der Souveränitätskonzeption des m onotheisti­ schen Gottes deuten lassen kann, auch ganz konkret ist schließlich Schillers erklärtes Ziel in den A xiom s, sämtlich vermeintlich objektiv Gegebenes aus der subjektiven wie intersubjektiven, immer aber rein menschlichen Praxis genetisch herzuleiten und damit in seiner ontologischen Eigenständigkeit zu entmachten. Wie noch zu zeigen sein wird, läuft darüber hinaus Schillers spekulativer Humanismus auf eine asymmetrische Ebenbürtigkeit zwischen Gott und den Menschen hinaus, insofern alle Personen sind und damit in Pluralität und Endlichkeit untereinander existierend gedacht werden müssen: So beantwortet Schiller die Frage: „Man’s Lim i­ tations or God’s?“ durch Aushebelung einer relativen Autonomie aller Beteiligten. Denn wäre Gott ultimative Omnipotenz, käme dies mit der Zerstörung nicht nur der Autonomie der menschlichen Personen, sondern auch der Gottes gleich: in einem amorphen Alles, das nichts verstehbar macht, außer dass nichts verstanden werden kann. S. Schiller (1934) [„Man’s Limitations or God’s?“]. Eine Argumentation, die er mit dem Personalismus Howisons teilt (Kap. 4.1.2.) und die den spitzfindigen und eigenwilligen Katholiken Chesterton, zumindest in Anbetracht von Tendenzen wie dieser, wohl nicht unberechtigt zur Kritik des Individual- und W illens-Primats als Nexus des Pragmatismus verleitet: „The worship o f will is the negation o f will. To admire mere choice is to refuse to choose. If Mr. Bernard Shaw comes up to me and says, ‘Will something’, that is tantamount to saying, ‘I do not mind what you will’, and that is tantamount to saying, ‘I have no will in the matter.’ You cannot admire will in general, because the essence o f will is that it is particular.” Chesterton (1908), S. 67f. Dass es sich damit bei der italienischen Pragmatismus-Adaption nicht um ein diesem gegenüber an sich fremdkörperliches Phänomen handelt, legt auch die durchweg positive Einschätzung der italienischen Pragmatisten und ihres Publikati­ onsorgans Leon ardo (1903-08; hrsg. zus. mit. G. Papini) seitens James (1906) nahe. S. zum „Pragmatism in Florence“ bes. De Waal (2005), S. 67-87. Zu der ansonsten äußerst wertvollen ideengeschichtlichen Studie von Vogt sei noch angemerkt, dass es gerade in Anbetracht der dort letztlich gerechtfertigten Inschutz­ nahme Schillers vor einem einseitig ins Unendliche sich steigernden, jugendlich m o­ tivierten, präpotenten Aktionismus mindestens überraschend ist, wenn trotz ihres Themas - die historischen Kreuzungs- und Überleitungsversuche von Pragmatismus und Faschismus - eine Aufarbeitung der Positionierung Schillers zur Eugenik (und in diesem Zusammenhang seiner kritischen Neugier für Hitlerdeutschland) und zur Dekadenzthese westlicher Zivilisation als ihrem Problemhorizont gänzlich ausbleibt.

„It does not follow, of course, that our beliefs are wholly volitional and that we can believe what we will by sheer force of will; still less that we can change our beliefs instantaneously and at will.” ( I l l )

Eine solche Fähigkeit voluntaristischer Omnipotenz wird explizit jetzt nur noch als „mastered only by few“ eingeschätzt, „as the fruit o f severe discipline, an elaborate technique and much practice” (111), während der „ordinary man” sich mehr oder weniger in rigiden, kaum verrückbaren Verhaltensformen wieder­ findet, auch wenn deren „present involuntariness“ für Schiller eine „secondary consequence“ (112) bleibt, insofern diese zumindest im individual- oder gat­ tungsgenetischen Ursprung aktiven Entscheidungen entsprungen sind, die sich mit der Zeit aufgrund ihres Nutzens besonders zementiert haben.286 In dieser Unterscheidung eines gewöhnlichen und eines außergewöhnlichen Menschen­ typs klingt, wie bereits weiter oben, sein eugenisches Engagement für einen hierarchisierenden Blick auf den Menschen an, der dem formalen Subjektmodell der Axioms wie auch des noch früheren spekulativen Humanismus (Kap. 4.1.1. u. 4.1.3.) fremd ist. Die explizite Fallibilität ist es dagegen, die Schillers bereits erwähnten zweiten Glaubens-Typus als debatable beliefs wesentlich bestimmt. Diese gedeihen in ei­ ner „atmosphere of controversy, doubt and denial“ (43) und sind daher anders als die immer schon gesetzten und kaum aufbrechbaren implicit beliefs von klas­ sisch rationalem Charakter. Das Paradebeispiel für debatable beliefs sind für ihn „scientific beliefs“ (46): „A scientific ,truth“ must ,work‘ [...] A scientific believer, therefore, always has [...] in principle a rational belief, grounded on evidence that can be produced and tested - for that is only another way of calling it debatable.“ (48) Im Unterschied zu den implicit beliefs sind diese damit öffentlich und bezo­ gen auf einen weltlichen, d.h. für die intersubjektive Community zugänglichen

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Gerade in diesem Kontext weiterhin von Entscheidungen zu sprechen, erscheint umso dubioser, ja deplatzierter, als Schiller folgendes Beispiel zur Konkretion an­ führt: „We must say, for example, that we have eyes and see colours, and cannot but see them as we do, because we did not choose to live like moles or cave-fish.” (112 - Herv. d. G.K.T.) Der Versuch, die Evolutionsgeschichte tatsächlich derart voluntaristisch zu schildern, findet im spekulativen H um anism us seine metaphy­ sische Großvision, indem er hier mit einer Zweiteilung argumentiert, nach der die eigentlich wirkende Kraft des Evolvierens etwas der Evolution gegenüber Trans­ zendentes ist (die „ultimate spirits“), wodurch diese tatsächlich als teleologisch sinnvoll konzipiert werden kann, weil die Entwicklungen in ihr so zu rationalen, entscheidungsbasierten werden und damit sie selber zu einem „moralischen Lehr­ stück“ (ausführlicher in Kap. 4.1.3.).

wie relevanten (problematischen) Gehalt: Hypothesen und Vorschläge, die nur in einem pluralen Raum von Alternativen existieren können, ja sie notwendig ma­ chen, da ansonsten keinerlei Raum oder Notwendigkeit zum agonalen Reflektie­ ren gegeben wäre. In diesem Sinne ist für den Rebellen Schiller auch die gesamte Philosophie durchzogen von debattierbaren Meinungen, selbst wenn diesen im Unterschied zu denen der Wissenschaften (bisher) sozial „little importance“ zu­ kommt, „because philosophers prefer the security of obscurity to the perils of social influence.“ (49) Dass dies in seinen Augen keineswegs notwendigerweise die Philosophie ausmachen muss, sondern ein selbstverschuldeter, ja, wie hier schon angedeutet, gewollt protektionistischer Zustand der Philosophenzunff sei­ ner Zeit ist, wird im nächsten Unterkapitel ausgeführt, das sich seiner „Refor­ mation“ widmet: der Neuschöpfung der Philosophie als einem kooperativen wie kritisch-evaluativen Partner der Naturwissenschaften. Im Unterschied zum vorangegangenen muss am nächsten, dritten GlaubensTypus, den half-beliefs, das rationalistische Paradigma erneut scheitern oder, mehr noch, es weiß diesen gar nicht zu lokalisieren: Sind die debatable beliefs diejenigen, nach denen sich jede „intellectualist theory of human belief“ (109) blaupausenartig richtet, insofern sie explizit und in einem Raum von Argumen­ ten Konturen der Schlüssigkeit annehmen, bewahren oder wieder verlieren, sind auch die implicit beliefs noch in dem Sinne rational, als sie zwar unbewusst sind, aber doch voll und ganz wirken und zumeist die Perlokutionen zeitigen, die ihrem Überzeugungsinhalt entsprechen. Die half-beliefs dagegen sind Hy­ bride: weder gänzlich unbewusst noch bewusst, weder wirklich wirksam noch wirkungslos. Von der „reinen Logik“ und ihrem Entweder-Oder in ihrem anti­ nomischen Charakter nicht greifbar, sind sie es, bei denen sich die psychologi­ sche Perspektive, „scrapped“ von den „rationalistic prejudices“ (95), durch ihre Wahrnehmungsfähigkeit auch der Grauzonen der Realität besonders als Trumpf erweisen kann. Anthropologisch gewendet sind sie für Schiller das andauernde Echo evolutionärer Vergangenheit des Menschen als einem „Tier“, das sich in un­ terschiedlichen Situationen vorgefunden hat und sich in ihnen unterschiedlich zurechtflnden musste und dessen Rationalität als harmonisierendes Ordnungs­ prinzip aufs Ganze der Erfahrungen hin, egal welche ontologische Sonderstel­ lung man dieser meint zubilligen zu können, genetisch ein spätes Produkt ist, welches keineswegs die Alleinverfügungsgewalt über den geronnenen mentalen wie habituellen Haushalt des Menschen besitzt: „No combination of incongruous interests seems incredible in actual life. The explana­ tion of such anomalies doubtless is that the human intelligence, like the animal, has developed out of a series of responses to a variety of situations, and finds itself compelled to a systematic co-ordination of its beliefs only at a late stage of development.“ (55) 139

Als exemplarische half-beliefs dienen Schiller damit frühere full beliefs, erworben und wirksam durch entsprechende okkasionelle Erfahrungssettings, die mit der Zeit immer seltener oder belangloser werden und dadurch einladen, das Interes­ se an den in und mit ihnen gebildeten Überzeugungen abebben zu lassen, sodass es zu einer „diversion of mental energy in other directions“ (54) kommt: Aus einer wirksamen Überzeugung wird so ein „three-quarter belief, a half-belief, a quarter belief, and, finally, a shadow and ghost of its former self.“ (53) Und dies auch dort, wo Überzeugungen nicht gebildet, sondern schlicht übernom­ men werden, also „accepted on authority, and not acquired by the believer’s own efforts“ (56), weshalb für Schiller im Besonderen die Religion als eine jenseits des Sonntags freischwebende, Orthodoxie indoktrinierende Priesterkasteninsti­ tution dazu prädestiniert ist, half-beliefs bei den Gläubigen zu erzeugen. Das he­ rausstechendste Exemplar für ein solches Walten von „monstrous irrationality“ (58) macht er im „belief in immortality“ aus, müsste der Mensch doch nicht nur aus religiösen Gründen, sondern aus profanstem Selbstinteresse, von der Frage eines Lebens nach dem Tod umgetrieben sein, da dies keine unbedeu­ tende Facette der Urfrage des Menschen „about his place in the cosmos and his future fate“ (59) und nach einer Lebensführung ist, die nicht unter der schwar­ zen Sonne der Depression und des Pessimismus steht, sondern von einem Glau­ ben an Welt und Kosmos zehrt, welche nach einer „moral order“ gestrickt sind (s. Kap. 4.1.3). Zwar attestiert Schiller, dass das Gros der Menschen nicht zuletzt aus dem Wunsch nach einer „continuance of his being after death“ mehr intuitiv und selbstgefällig an ein postmortales Leben glaubt, dies aber weder in theo­ retischer noch praktischer Hinsicht wirklich als „assured belief“ ernst zu mei­ nen scheint: Zum einen wird trotz des Glaubens an ein Jenseits das Leben völlig diesseitsfixiert und darin überdies so egozentrisch bestritten (s. Kap. 4.2.1.), als würde es keine transzendente Belohnung geben, „‘like the beasts that perish’“ (59) ; zum anderen scheint es keinen kollektiven Willen zur Untersuchung samt Möglichkeit der Verifikation zu geben: „Most remarkable of all, they do not seem to wish to know.“ (60 - Herv. i.O.) Statt unter dem „combined pressure“ aus religiösen wie wissenschaftlichen Motiven den möglichen „activities o f .ghosts' and .spirits“ oder anderen übernatürlichen, noumenalen Phänomenen nachzu­ gehen, wird all dies von vornherein als „‘too sacred’ to be recorded properly“ (61) erklärt und so die Kluft zwischen Wissenschaft und Religion (i.S. humanster Interessen) vertieft. Die Wissenschaft verliert sich in Untersuchungen, die für die Lebensführung irrelevant sind, während die Kernfragen der Lebensführung frei vom öffentlich-experimentellen Blick mangels Alternative in den Bereich der Esoterik abdriften (s. dagegen zu seinem Vorschlag einer Versöhnung von Wissenschaft und Religion das Ende v. Kap. 3.7.). 140

Dass im Fall des Unsterblichkeitsglaubens kein Interesse besteht, diesen vom Status des half-belief zu befreien, indem man ihm in die Sphäre der debatable beliefs verhilft, sieht Schiller vor allem im „black shadow of a great tabu“ begrün­ det: dem Tabu des Todes. Das Erklären des Ausbleibens der Suche nach Belegen für ein Leben im Jenseits führt ihn letztlich zu einer Thematisierung der sozial marginalisierten Position des Sterbenden im Diesseits. Denn erst im Akt des sich empirisch manifestierenden und damit nicht mehr zu leugnenden Sterbeprozes­ ses beginnt die Sehnsucht nach einem „direct proof“, der die „distant ,hope of immortality'“ in eine Nahgewissheit zu überführen vermag, dies jedoch in der überwältigenden Ohnmacht des Sterbens zu spät, um in allgemeiner Überzeu­ gungskraft über den Einzelfall hinaus wirksam zu werden, weil sich in einem Stadium doppelter Distanz ereignend: wo sowohl der Sterbende vom Alltag der Überlebenden getrennt ist als auch diese den Sterbenden von sich entfernen, sodass „the bereavement interest is essentially personal, emotional, and transitory, and not scientific." (65) Auch der vierte Glaubens-Typus, der dishonest b elief ist für Schiller mit der strikten Departementalisierung des Geistes, derer sich der Rationalismus be­ dient, nur als widersinnig zu bezeichnen, ist danach Unehrlichkeit doch ein rein „moral defect“, wohingegen der von diesem zugelassene b elief selber bestenfalls als eine „wholly intellectual affair“ (74) apart gedacht wird. Doch im Unterschied zur „dishonest assertation“, übersetzt: zum Lügen, welches auch vom „intellectual standpoint“ aus gedacht werden kann - handelt es sich hierbei um nichts anderes als eine „perversion, a misuse o f assertion for an improper purpose“ (76) - , ist der dishonest b elief dadurch gekennzeichnet, dass ihm ein intellek­ tueller und moralischer „defect“ innewohnt. Dies wird von ihm so verstanden, dass der Betrug nicht nur wie im Fall der Lüge in einem machiavellistischen Machtkalkül nach außen, sondern in seiner illusionierenden Kraft ebenso nach innen gekehrt ist: „to deceive the believer him self“ (75). In einer anderen Theorietradition stehend, könnte man diesen be!ie/-Typus als artverwandt mit dem der Ideologie betrachten. So werden auch die Beispiele, die er dafür bemüht, fast ausschließlich aus dem Bereich manipulativer Machtverhältnisse, der „arts of propaganda and suggestion“ (79), rekrutiert: aus Szenen zwischen einer Elite der „manufacturers of the masses of dishonest belief“ und der sie ernst neh­ menden, einverleibenden und darin selber kolportierenden wie verstärkenden Masse - von den angeblich prophetischen Auguren zu Zeiten eines Cicero (77) bis hin zum Schlachtruf Woodrow Wilsons zum Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg: „The world must be made safe for democracy”, während in diesem letzten Fall die Wirklichkeit einzig nahelegt, dass „even the pretence of democracy is being dropped in many important countries, while the world has 141

never been safer for the masters o f the machine-gun or so safe for the princes of the powers o f the air.“ (80) Spätestens bei diesem Typus kommt die Doppeldeu­ tigkeit des Buchtitels zum Tragen: Die „Problems of Belief“ zeigen hier wort­ wörtlich sozialpolitische Probleme an (s. dazu detailliert: Kap. 4.2.1.). Nicht nur, dass der Rationalismus, indem er dazu nichts Kritisches zu sagen vermag, indirekt zur Potenzierung ebendieser gesellschaftlichen Irrationalitäten beiträgt, Schiller beschreibt diese die dishonest beliefs ausmachende Ambition zur Verschleierung und Verstellung der Tatsachen zwecks eines massentaugli­ chen Lebens in Falschheit gerade als eine „legitimate application to practice of the traditional theories of knowledge” (78). Denn in diesen intellektualistischen Zugängen zur Wahrheit ist die Trennung zwischen dieser und dem Guten, dem theoretisch Wahren und dem praktisch Moralischen axiomatisch derart mitge­ geben, sodass bspw. eine Überzeugung, die gut ist resp. agendakonform zu sein scheint, umgekehrt auch mit intellektuell unredlichen und falschen Gründen herbeigelogen werden kann resp. muss. Wie bei den implicit beliefs gesehen und per Verweis auf das „Biegen und Brechen“ der gewählten deskriptiv-psychologischen Methode beantwortet, drängt sich auch im Fall der dishonest beliefs die Frage nach der Kohärenz zu den anderen Eckpfeilern von Schillers m ethodischem Humnanismus und seinem voluntaristischen Zentrum auf. Offensichtlich sind diese selbst angenommenen, selbst- wie fremdverblendenden Unehrlichkeiten nur in einer Welt möglich, in der es so etwas wie eine objektiv (inter-)subjektive Fehleinschätzung von Tatsa­ chen und Sachverhalten an sich oder in seinen eigenen Worten: ein ideologisch verbrämtes Fehlgehen gegenüber der wirklichen „logic of events“ (81) geben kann. Doch innerhalb seines Konzeptes eines konstruktivistischen wie plura­ listischen „reality-making“ der Subjekte und Subjektzusammenschlüsse (Kap. 3.4.), welches an keinerlei formgebende Kausalität seitens der Objekte gebunden ist, wirkt diese für die Annahme von dishonest beliefs notwendige Bifurkation der Wirklichkeit in den ontologisch höherwertigen Bereich objektiver Tatsa­ chen einerseits und den an diesen gemessen irrenden Bereich der Meinungsbil­ dung andererseits wie die selbstwidersprüchliche Heimsuchung vom ansonsten fulminant bekämpften, anti-konstruktivistischen, korrespondenztheoretischen, realistischen Paradigma. Schiller selber scheint sich der darin für sein Denken auftuenden Friktionen nicht bewusst zu sein, wird ein Versuch der Glättung doch nirgendwo unternommen. Man könnte dennoch versucht sein, eine Aufhebung der Selbstwidersprüch­ lichkeit in Schillers Theorie dadurch zu erreichen, dass man den für diesen vierten belief-Typus in Anspruch genommenen Rahmen der Objektivität - die „logic of events“, anhand derer eine objektive Unehrlichkeit als eine defizitäre 142

Ideologie und eben nicht nur als eine normativ neutrale, quantitativ additive Alternative gemessen und herausgestellt werden kann (wie könnte eine solche für sich genommen dishonest sein?) - nicht wirklich als Tatsachenevidenz deutet. Analog zur Apologie universeller Fallibilität auch im Angesicht des psychologi­ schen Faktums von Gewissheitserfahrung bei den implicit beliefs als dennoch, logisch betrachtet, nur vermeintliche „Gewissheiten“ ließen sich die hier wieder­ um benötigten „objektiven Tatsachen“, die den dishonest beliefs gegenübergestellt sind, als schlicht plausiblere, quasi unleugbare Flypothesen dechiffrieren offeriert von „exceptional men“ jenseits der „indifferent majority“.287 (63) Wie schon zuvor in diesem Kapitel könnte man hier somit entegalitarisierende Ten­ denzen ausmachen, die sich mit der Phase seines eugenischen Werbens nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich kreuzen würden. Eine Phase, die Porrovecchio überspitzt - denn der universelle Individualismus seines m ethodischen Humanismus wird bis zum Ende nie fallengelassen - , aber in der Sache richtig eingeschätzt hat: „the measure o f Protagoras is being replaced with the philoso­ pher king o f Plato“.288 Als den fünften und letzten belief-Typus arbeitet Schiller das m ake-believe bzw. die fiction heraus. Statt die Fiktion nur als Qualität der menschlichen Vor­ stellungskraft zu sehen, stellt er das Glaubenmachen als wesentliche Grundlage zahlreicher Bereiche des „social intercourse“ (88) dar. Ins Sprachliche übersetzt, ließe sich das Funktionieren dieses Typus als ein „let’s pretend“ einfangen, ohne das soziale Konventionen niemals Realität werden könnten. Nur derart kann bspw. ein einzelner Mensch zu einer konkreten Manifestation des Staates bzw. der Verfassung werden - als Polizist, der als solcher nicht mehr Privatmann ist, sondern konkretisierter Vollzug des allgemeinen Willens, wie er sich in der Ge­ setzeslage idealerweise ausdrückt. Hat dieses soziale Unterstellen und Vorgeben („pretend“) in der Welt der Kinder noch den Charakter des Spiels wie in dem von „Räuber und Gendarm“, wird die Zuschreibung von Rollen und Funktionen im Licht abstrakter Institutionen im Erwachsenenalter zum „serious business of life“ (89). Nicht nur hier zeigt sich, dass keine einfache Opposition zwischen Fiktion und Realität auszumachen ist, schafft doch gerade die intersubjektiv ge­ teilte, postulierte Fiktion eine unleugbare Realität, die auch - um im Beispiel

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Unbeantwortet bliebe dabei die epistemische Frage, wie sich diese „Tatsachen“ in den von ihm illustrativ genannten Szenen politischer Propagandakunst als so „plausibel“ erweisen sollen, denn weder die Übereinkunft der Mehrheit, wo die Masse ja ge­ rade als verblendet charakterisiert wird, noch ein diese Hypothesen „beweisendes“ Experiment kann hierfür den Weg vorgeben.

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Porrovecchio (2009), S. 6 143

zu bleiben - reale disziplinarische Konsequenzen für den Polizisten zur Folge haben kann, wenn er, vom Bild idiosynkratisch abweichend, sich als bloßer Pri­ vatmann in Uniform verhält. Gerade ein Blick in die Wissenschaft macht für Schiller die Aufweichung dieser von intellektualistischer, praxisferner Hand gezogenen linearen Frontstel­ lung von Wahrheit und Fiktion noch deutlicher, insofern hier gar die Annahme unterwandert wird, dass das „pretending“ sich nur auf solche Inhalte bezieht, von denen derjenige, der sie vorgibt, bereits weiß, dass es sich um bloße Irrea­ litäten handelt und er sie eben deswegen Vortäuschen muss. Das Prozedere der Wissenschaften verdeutlicht gerade umgekehrt, dass postulierte „Fiktionen“ von Modellen und Entitäten (wie dem Atom) als heuristischer Vorschuss, als Frage des Experiments dazu gebraucht werden, um sie (möglicherweise) als Realität ausmachen zu können: „the purpose o f the pretending may precisely be to find out whether the object is real or not“ (90).289 Es ist also die Wissenschaft, so die Pointe, die ein intensiveres, ernsteres Verhältnis zur Fiktion hat als die Literatur, insofern Letztere es dabei bewenden lassen kann, den Umgang mit dem Fiktiven als ein Spiel im Reich des Bewusstseins oder auf dem Blatt Papier zu betrach­ ten. Der Wissenschaftler aber nimmt die Fiktion als Grundlage weitreichender Experimental- und Forschungsanordnungen, sodass hier noch viel mehr gilt: „Fictions [...] must be treated in all seriousness“. (91) Mit dieser letzten Form von b elief schließt Schiller seine deskriptive Expli­ kation ab und kommt zu einer vertieften Reflexion der Folge dessen, was bisher Präambel der Untersuchung und durchgängig mehr indirekte Kritik innerhalb der bisher rekonstruierten Teilen der beliefs gewesen ist: die Suspension der ra­ tionalistischen Vorstellung, dass Überzeugungen auf Vernunftgründen beru­ hen („rest on reasons“, 94). Wenn es also nur in den seltensten Fällen kognitive Gründe sind, die die motivationalen Grundlagen für die Annahme von beliefs sind, diese vielmehr oft nur ex post als Rechtfertigungen des bereits präratio­ nal Postulierten herangezogen werden oder auch ganze Überzeugungskomplexe trotz einer Überhand an Gründen der Gegenseite habitualisiert und wirksam bleiben, so stellt sich die Frage nach der sie tatsächlich legitimierenden „logic o f belief“, die nun nicht mehr dem Modell des als desinteressiert, neutral ausge­ malten Terrains scholastischer Arithmetik entsprechen kann. Während dies für die implicit, dishonest und half-beliefs naheliegt, gilt dies für Schiller letztendlich auch für die von intellektualistischer Warte aus reinrassigen debatable beliefs. Denn obzwar er diese, wie bereits geschildert, in einem Treibhaus von Rede und

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S. dazu Schiller (1921a), S. 417f.

Gegenrede gedeihen sieht, sind auch sie nur gültig innerhalb eines a-rational abgesteckten, andere Gründe von vornherein als Nicht-Gründe deklassierenden Meta-Plausibilitätsrahmens. Das erläuternde Beispiel, auf das er hierbei zurück­ greift, ist die Frage nach der Richtigkeit des Solipsismus innerhalb der Philo­ sophie, welcher keineswegs deswegen in Sekundenschnelle als „repulsive and absurd“ beiseitegelegt und daher „never seriously argued“ (159) wird, weil er durch logisch in ihrer Stringenz unkritisierbare Beweisketten für alle Ewigkeit widerlegt worden ist, sondern allein weil „we are all much too social to wish to be solipsists; we believe in the reality of others, because it is a belief congenial with our nature” (159).290 Rein rationalistisch und damit jenseits einer solch prak­ tischen, sozialen, geschichtlichen und biologischen Eingebettetheit von beliefs gilt; „[rjationally the controversy seems as insoluble as it is interminable.“ (160) Die „culminative crux“ (150) der Untersuchung Schillers wird damit die sie transformierende Einordnung von Wahrheit überhaupt in dieses praktische Kontextgeflecht als ein Wert („value“) - als „positive value properly aimed at in the cognitive operations of the mind“ (169). Damit steht die Wahrheit auf dieser Ebene neben anderen, ebenso evaluierenden und nach Befriedigung suchenden Werten (positiv i.S. von „approval“ und negativ i.S. von „disapproval“, 153); von „beauty„pleasure“ bis „goodness“. Wie in diesen ist auch die Wahrheitssuche ein aktiver Wunsch, „desire“, welcher vernetzt mit anderen Werten konkurriert und sich niemals in der gelebten Wirklichkeit als alleiniger Sieger durchzusetzen vermag, sodass für ihn gar die verkopftest scheinenden „philosophic principles“ in praxi durch das jeweils individuelle Prisma der „idiosyncrasies of their advo­ cates“ (172) gebrochen wirken und nie „really pure, but always adulterated with infiltrations and infusions from other values“ (174) zur Anwendung kommen, ebenso wie andere „desires“ dies immer nur im Hinblick auf relative „aims and purposes“ tun. Denn wie sollte sonst erklärt werden, so seine Kernfrage an die Fraktion universeller und absolutistischer Konzeptionen, dass selbst - oder auch gerade - im Gewerbe des nackten und reinen Denkens und seiner fast dreitau­ sendjährigen Geschichte kaum irgendwo dauerhaft Einklang in den Antworten, ja nicht einmal in den zu stellenden Fragen besteht? Die Bildung selbst des ab­ straktesten Denksystems dagegen ist für ihn nicht anders als ein polyvalentes Eingehen zu verstehen, als „compromise“ (174) gegenüber der Vielschichtigkeit der Wertbestrebungen: „A system of beliefs, as actually propounded to us, will 290

S. hierzu das ein Jahr zuvor erschienene Werk von Santayana, das bereits weiter oben im Kontext des „animal faith“ Erwähnung fand und das Schiller hier im Gang seiner Argumentation zur theoretischen Möglichkeit des Solipsismus im Schnelldurchlauf paraphrasiert, ohne dies explizit kenntlich zu machen: Santayana (1923). 145

embody much truth, some goodness, and a tinge of beauty, or, alternatively, ideal justice, great beauty, and a little truth.” (175) Oder variiert: „Even among (and perhaps especially!) among philosophers the .rationality' of a theory, when honestly examined, is found to consist largerly in the appeal it makes to their taste, their sense of fitness and harmony, and in its consonance with their convictions about the non-cognitive values“ (171 - Herv. i.O.)

wie ästhetische Motive der „elegance“ oder „simplicity“. Erst dieses Ergebnis macht wirklich deutlich, was Schiller mit der zu Beginn von ihm geäußerten und auch im vorliegenden Text zitierten Überzeugung meint, dass b elief immer Aus­ druck der „whole nature“, also der gesamten Natur des Menschen ist, und zwar nicht mit dem Ziel der irrationalistischen, weil völligen Unkenntlichmachung in einem Brei aus vernünftigen, ästhetischen oder moralischen Interessen, sondern mit der Freisetzung der pluralen Aspekte, die diese menschliche Natur als Ganze ausmachen. Damit wird die radikale Frage, weil den durch eine heuristische bias noch nicht verzerrten Menschen betreffend, angehbar: „Why should we not follow the guidance rather of our passion for justice, or of our love for beauty, in the selection of our belief?“ (174). Eine Frage, die keineswegs, wie noch unter dem Regime des Rationalismus bestenfalls, eine bloß rhetorische ist, sondern hier zu einer fundmantalanthropologischen wird. Eine Frage, die in Bezug zum regionaleren Rückgang auf die Volatilität der Prämissen in der Dekonstruktion der Logik (Kap. 3.4.) diesen auf die unterschiedlichen Ausrichtungs- und Kultivierungsmöglichkeiten in der Le­ bensführung überhaupt weitet und damit eine mit konstitutiv offenem Ausgang bleibt, weil sie sich immer wieder an den Einzelnen als eigentliches Schlacht­ feld unterschiedlicher Präferenzausrichtungen zu wenden hat, kann sie damit doch weder an sich noch ein für alle Mal beantwortet werden.:vl Freigesetzt von dem einen, über alle Köpfe hinweggehenden Anspruch, in der theoretischen Vernunft etwas ganz anderes, unendlich Höheres zu sehen als in den anderen Potentialen des Menschen, ist es nun allein dieser Einzelne selber, der in letzter Instanz mündig genug ist, darauf eine Antwort geben zu können. Für sich, seiner eigenen Natur gemäß.291

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Durch diese Erkenntnis des an sich Nichterkennbaren rückt Schiller nahe an den Topos der „Unergründlichkeit“ des Menschen, wie er in der philosophischen Anthropologie und dort insbesondere von H. Plessner zur anthropologischen „Wesensbestimmung“ und damit der Mensch zum „homo absconditus“ erklärt wird: s. hierzu exemplarisch Krüger (2011)

Was dies für ein Selbst wie dem von Schiller bedeutet, für einen, der sich innerhalb der humanistisch-pluralen Betrachtung der menschlichen Potentialitäten als Philosoph für die „guidance“ des Intellekts entschieden hat, wird im nächsten Kapitel rekapituliert. Darin wird es demnach um den Vorschlag gehen müssen, wie die Philosophie sich auch nach dem Verlust ihres apriorischen Su­ prematieanspruches, verliehen durch die heilige Absolutheit ihres Gegenstands: der Wahrheit, in einer sich der Pluralität menschlicher Facetten hin öffnenden Gesellschaft innerhalb der Moderne weiterhin produktiv zu positionieren und gewinnbringend für den Menschen einzubringen vermag, um nicht in bloßer Trauer um das Verlorene, auch wenn diesem realiter nie Wirklichkeit zukam, oder im blinden wie anachronistischen Stück für Stück Weitermachen ganz von der agonalen Szenerie der unterschiedlichen „desires“, die die Gesellschaft bil­ den, zu verschwinden.

3.7 Die bilokale Bestimmung der Philosophie zwischen öffentlichem Dienst und privater Poesie „The state of society is one in which the members have suffered amputation from the trunk, and strut about so many walking monsters - a good finger, a neck, a stomach, an elbow, but never a man. Man is thus metamorphosed into a thing, into many things. [...] In this distribution of functions the scholar is the delegated intellect. In the right state he is Man Thinking. In the degenerate state, when the victim of society, he tends to become a mere thinker, or still worse, the parrot of other men’s thinking.” Ralph Waldo Emerson - The American Scholar"2

Die Frage nach dem Sinn der Philosophie als die nach dem Fundament, auf dem sie sich als von anderen Disziplinen unterschieden zu denken und zu entfalten vermag, wird zumindest stillschweigend von jedem beantwortet, der meint sich ihrer zu bedienen oder in ihr zu bewegen. Seit den Riddles (1891) und der ent­ scheidenden Aufgabelung in den Axioms (1902) der sich zuvor noch in einer Melange befindenden beiden Hauptpfeiler seines Denkens: des methodischen Hu­ manismus und des prophetischen bzw. hier: des spekulativen Humanismus, geben auch sämtliche Schriften Schillers derart fundamental Auskunft darüber, worin die Charakterzüge von Philosophie und Philosophieren für ihn bestehen. Dies gilt umso mehr, als Schiller niemand war, der sich seinem Denken in reinster Selbstbezogen- und Zurückgezogenheit hingegeben oder fremdes Denken als ein solch privatistisches Unterfangen zugelassen hätte, sondern, Heraklits Diktum29

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Emerson (1837), S. 83f. 147

folgend, im Krieg seinen Vater fand: in der aktiven, auf dem Niveau öffentlicher debatable beliefs ablaufender Auseinandersetzung mit konkurrierenden idealisti­ schen wie naturalistischen Philosophen seiner Zeit und damit ebenso in explizi­ ter Ablehnung alternativer Philosophieverständnisse. Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass Schiller sich erst in den 30er Jahren und damit in der Spätphase reflexiver und ausführlicher293 der Frage zugewandt hat, was Philosophie ausmacht oder der pragmatistischen Ausrich­ tung auf die Zukunft gemäß: ausmachen sollte. Erst in den dort veröffentlichten Artikeln unternimmt er es, gezielt einen metaphilosophischen Rahmen heraus­ zuarbeiten, in dem seine eigene Aktivität als Denker Einordnung findet, der aber gleichzeitig als überindividueller Panoramablick Raum für alternative philoso­ phische Fragen und Positionierungen zulassen will - ja muss, könnte doch eine kleinlichere, nur auf die Selbstablichtung fokussierte Antwort auf die Frage nach dem „Wesen der Philosophie“ kaum die Legitimität beanspruchen, eine ernst zu nehmende Antwort zu sein, erlaubte sie, Hybris zur Methode erklärend, allein noch das eigene Schaffen als philosophisches zu denken. Wie schon am Ende des letzten Unterkapitels angedeutet, legt die von Schiller eingenommene individu­ alistische Perspektive auf die idiosynkratischen Urgründe metaphysischer Ver­ kündung - durchaus realistisch - nahe, dass eine solche, sich allein nach dem sich diese Frage Stellenden richtende Konzeption „wahrer“ Philosophie spätes­ tens mit der nächsten Generation aber bloß wieder zu einer weiteren Facette im Widerstreit unterschiedlichster Typen des Denkens innerhalb der Philoso­ phiegeschichte regredieren und damit das Problem der Fraglichkeit eines ge­ meinsamen Wesenszugs vergangener wie zukünftiger Philosophie allein noch mehr befeuern würde, statt es einer Lösung im Sinne eines intersubjektiven und intergenerationellen Fundaments zuzuführen. Dass Schiller sich jedoch erst in der letzten Phase seines Denkens um ein aus­ giebigeres Thematisieren dieser Frage bemüht, kann biographisch damit quer­ gelesen werden, dass der zu diesem Zeitpunkt schon weit über Sechzigjährige nach jahrzehntelanger Tätigkeit lediglich als Tutor in Oxford zum Professor an der University of Southern California ernannt worden war. Das professionelle wie habituelle Upgrade, nun erstmals selber Repräsentant der obersten Spitze der Lehrkörperschaft des Faches Philosophie gegenüber der außerakademischen

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Mit Betonung auf dem Komparativ, denn vereinzelt finden sich Überlegungen zur Beziehung von Philosophie als „critical m ethodology o f a science" [Schiller (1903) [„Philosophy and the Scientific Investigation of a Future Life“], S. 270] auch schon in früheren Texten.

Welt zu sein, institutionalisierter Botschafter des Denkens und dadurch schon ei­ nem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, kommt darin wohl ebenso zum Ausdruck wie die nicht zu unterschätzende Erfahrung der Differenz zwischen europäischer und nordamerikanischer universitärer Praxis:294 Die europäische verströmt für Schiller den Nimbus säkularisierter Priesterhaffigkeit, odoriert mit „flavour o f exclusiveness and class-destinction“, samt dem damit verbunde­ nen Elitarismus der Abschottung gegenüber dem Außerakademischen als Reich des Profanen: „directed toward the exaltation of the few rather than toward the elevation of the many.“295 Die nordamerikanische Bildungspraxis und -vision hingegen kennt spätestens seit Emersons „American Scholar“ (1837) und seinem In-die-Pflicht-Nehmen des Intellektuellen zur kulturpolitischen Identitätsbil­ dung der (einst) jungen Nation gegen die als atavistischer Ballast und Lähmung empfundene europäische Tradition eine Perspektive gegenüber dem Gelehrten als einem der öffentlichen Bewusstseinsbildung nicht bloß univok Entronnenen, sondern reziprok Zuarbeitenden: „He is a servant, not a master, of the Public now, as of princes formerly.“296297 Bezeichnenderweise entstammen die meisten Texte Schillers, in der er der Fra­ ge nach der Eigenart der Philosophie nachgeht, gerade den in den Vereinigten Staaten gehaltenen „popular lectures“, die an einen nicht-akademischen Adressa­ tenkreis gerichtet waren.29 Hier findet Schiller (idealtypisch) institutionell genau

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Schillers erster Aufenthalt in den USA, bei dem er auch William James zum ersten Mal persönlich traf, lag zwar bereits in den Jahren 1893 bis 1897, doch war er wäh­ renddessen nur als einfacher Dozent an der Cornell University tätig und machte damit eine freilich andere Erfahrung als die eines auf einen Lehrtstuhl berufenen Professors mit einem viel größeren Erfahrungsschatz der universitären Situation in der „old world“. Zur autobiographischen Bewertung hierzu: Schiller (1934) [„William James“], S. 62; zur sekundärliterarischen Aufarbeitung: Porrovecchio (2011), S. 19ff.

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Schiller (1934) [„Some Problems of Mass Education”], S. 33 Schiller (1934) [„Some Problems of Mass Education”], S. 34 S. hierzu die Bemerkungen im „Preface“ von Schiller (1934), S. Vff. - Schiller nimmt jedoch nicht nur die amerikanisch-akademische Ideologie auf, sondern belehrt die dortige Öffentlichkeit umgekehrt über die akademischen M ores der europäischen, vor allem britischen Universitäten, welche für ihn „enslaved to an Examiniation Sys­ tem“ [Schiller (1934) [„The Psychology o f Examination“], S. 15) i.S. einer besonders leidenschaftlichen „Liebe“ zu Prüfungen und Benotungen sind als leidenschaftsloser Bemessung der Qualität von Arbeiten und Studentinnen. Dass es sich dabei nur um eine vermeintliche, depersonalisierte Objektivierung handelt, ist die Quintessenz dieses Aufsatzes: Gerade die Zahlenfreude verbirgt auf besonders perfide oder auch für den es gut meinenden Lehrenden auf intellektuell schwierig zu durchschauende 149

das verankert, was dem selbstreferentiellen Akademismus und seinem inerten Entfremdungspotential Vorbeugen soll: Der Fehlschluss, dem eine gesellschaft­ liche Kaste einer spezialisierten und privilegierten Lebensform anheimfällt, die, indem sie sich ausschließlich den intellektuellen Fakultäten des Menschseins widmet, in der Folge die Realität als Ganze nur noch nach und von diesen her deutet und dabei nicht nur die Relativität der Eigenperspektive verkennt, sondern gleichzeitig, dass die intellektuelle Tätigkeit, die für sie Alltag und damit Realität darstellt, in Bezug auf andere Milieus höchstens ein Ideal, eine Möglichkeit zu­ künftiger Erziehung bedeuten kann.298 Somit ist für Schiller das nordamerikani­ sche Bild institutionalisierte Reflexion seines genetischen Credos, dass Vernunft kein „original datum“, sondern höchstens ein „(incomplete) achievement“29930ist. Die europäische Konstellation hingegen ist für Schiller der Nährboden, aus dem Rationalismus und Intellektualismus als „congenial philosophy which is true to the academic life“2110pathogenetisch geradezu entwachsen und so umgekehrt sei­ nen methodischen Humanismus als philosophische Apostasie inkriminieren müs­ sen. Insofern stilisiert er seinen Rückgang zu Protagoras auch zu einem Griff nach einem Rettungsanker aus einer vergangenen Zeit, in der die heutige Universität nicht existierte. Erst dieses zeitliche und strukturelle Exil ermögliche es, humanis­ tisch umfassend zu denken:

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Art die psychologischen Motivationen, die auch dieses Universitätssystem in praxi durchdringen und formen - seien es die personellen Konflikte zwischen Prüfer und Tutor oder die durch kollektive Vereinfachung von Prüfungen zwecks Erreichen eines bestimmten, verpflichtenden Durchschnitts, also bei gleichzeitigem Beibe­ halt der Noten als nicht relativem Spiegel der Klassenqualität, oder ganz allgemein dem Prestigedrang geschuldeten, die Beurteilungen verzerrenden Rivalitäten oder Sympathien innerhalb des Lehrkörpers (und damit bei Prüfungen untereinander) oder die gegenüber Einzelnen innerhalb der Studentenschaft. Schillers einziger kon­ kreter Reformvorschlag zielt damit auf die Anonymisierung der Prüfungen, sodass die Beurteilungen in Unkenntnis darüber ablaufen, wer gerade beurteilt wird. Das allgemeinere Fazit gerade in Bezug auf dieses auf “Objektivität” fixierte Bildungssys­ tem lautet damit für Schiller: „(OJne might add that examiners will not cease to do injustice, and examinations to be evil, until teachers are taught to teach, and taught a good psychology." Ebd., S. 31 Zwecks Illustration der auch hier vorzufindenden inneren Ambivalenz im Denken Schillers soll nicht verschwiegen werden, dass er im Rahmen seiner auf eine Aristo­ kratie getrimmten Schriften zur Eugenik gerade die institutionalisierte Kritik gegen jede elitäre Esoterik im amerikanischen Bildungssystem diesem als (anti-agonale) „weakness“ vorwirft: s. hierzu Schiller (1932), S. 91ff. Schiller (1924a), S. 130 Schiller (1907a) [„The Definition ofPragm atism and Humanism”], S. 15

„If Protagoras had been a university professor, he would hardly have discovered Human­ ism [...]. Fortunately he lived before universities had been invented to regulate, and quench, the thirst for knowledge; he had to earn his living by the voluntary gratitude for instructions which could justify themselves only in his pupils’ lives; and so he had to be human and practical, and to take the chill of pedantry off his discourses.“'01

In dem geschilderten Intellektualismus der akademischen Sphäre liegt für Schiller auch ein struktureller, individualkognitiv unkenntlich gemachter Pessimismus, der sich darin zeigt, dass der gesellschaftlich grassierende Pessimismus seitens der akademischen Institute kaum zur Kenntnis genommen wurde und dort sel­ ten mehr Reaktionen in Form von Therapieentwicklungen veranlasste als weniger dramatische Gesellschaftstrends. In diesem Sinne spricht er vom akademischen Intellektualismus schon früh auch aus normativer Sicht vom „most diabolical thing we can conceive“301302, steigert dieser sich in ein Modell der Lebensbetrachtung hinein, das „souverän“ über jeder moralischen Regung zu thronen dünkt. Ein

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Schiller (1907a) [„The Definition ofPragmatism and Humanism”], S. 15. So, wie damit der Rationalismus die natürliche, d.h. naive und damit letztlich unphilosophische Ema­ nation des akademischen Habitus darstellt, ist der Humanismus für Schiller auf dem Campus die unnatürliche, d.h. reflexive und damit - gerade den innerakademischen Unkenrufen zum Trotz - philosophische Überwindung der eigenen Partialität genau durch schmerzhafte Einsicht in diese: „Just because Humanism, then, is true to the larger life of man it must be in some measure false to the artificially secluded studies of a ,seat of learning1; and its acceptance by an academic personage must always mean a triumph over the obvious temptation to idealize and adore the narrownesses o f his actual life. However much it exalts the function of man in general, it may always be taken to hint a certain disparagement of the academic man. It needs a certain mag­ nanimity, in short, in a professor to avow himself a Humanist. Thorough Humanists, therefore, will always be somewhat rare in academic circles.“ Denn dazu wäre es nötig, „to overcome the intellectualistic influences of their nature and their mode of life.“

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Schiller (1907a) [„The Definition ofPragmatism and Humanism”], S. 15 Schiller (1903) [„Concerning Mephistopheles“], S. 173. Zu dieser Verbindung von Intellektualismus und einem gereiften Pessimismus im Hinblick auf deren gemein­ same distanzierte Einstellung zum Moralischen in Schillers Wortlaut ebenda: „For to evil-doing, as to all other carnal pleasures, cometh satiety at the last. But not so to intellectual contemplation. To its idle curiosity nothing is good, nothing evil, nothing sacred, nothing shocking, but everything is food for a reflection, cold and unending and unsparing. It peeps and pries upon a m others grave; it is equally at home in Heaven and in Hell. Once therefore it has judged and passed its condemnation, there is no obvious reason why any recrudescence o f feeling should lead it to reverse its verdict.“ Ebd., S. 173 151

freilich selber normativer, weil nicht logisch notwendiger Trend zur kategorialen Trennung von theoretischer Objektivität und lebensweltlicher Normativität, an deren Ende die reine Logik eines homogen einverleibenden Verrechnens und Archivierens steht, die keine personale Autorschaft mehr kennt noch duldet und sich damit so weit wie nur menschenmöglich vom Menschsein im Namen einer inhumanen Neutralität getrennt hat. Mit der ironischen Folge, sich genau durch ein solches Modell solch lebensweltlichen Regungen gegenüber in eine Position der Ohnmacht zu bringen, insofern die Akademiker als Klasse der Gesellschaft an deren Affekthaushalt gleichermßen teilhaben.’03 Ein Tatbestand, der Schiller auch im Rahmen seiner „realpolitischeren“ Explikation einer eugenischen Reform der Gesellschaft den philosophisch-ethischen Diskurs der Akademie als Referenz­ punkt ausblenden, ja mitunter als Kollaborateur des Bestehenden zu einem gesell­ schaftspolitischen Feind erklären lässt, denn: „Theoretic ethics is a broken reed. No intelligent man can live long in any academic atmosphere without becoming aware that academic ethics has no positive moral value. Indeed, on the whole its value is strongly negative. It is often positively demoralizing.“ ’:"1

Umgekehrt würde damit eine Beschäftigung mit dem Pessimismus für Schiller die Philosophie von ihrer Jenseitigkeit vom Leben und der Gesellschaft befreien und sie erden.3034305 Diese Kritik am selbstgenügsamen Professorentypus nach Art „book-worm type“ und seiner „apotheosis of pedantry“, der sich weit von der etymologischen Bedeutung seines Namens als einem öffentlich Bekennenden

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Auch in dieser Frage zeigt die akademische Rezeption Schopenhauers und mit ihr die des Pessimismus-Problems in den USA eine Offenheit, die quer steht zu der hier von Schiller vor allem im Hinblick auf die britischen und europäischen Universitäts­ verhältnisse geäußerten Kritik an gesellschaftspolitischer Abschottung: Buschendorf (2008). Schiller (1932), S. 32 „To assume responsibility is potentially to acquire power, and no question is better calculated than this of Pessimism to make Philosophy a power in human life, for none can bring it into closer contact with the actual problems of men’s lives. And does not the whole history of its past show that Philosophy has never been more flourishing and influential than in periods when it has seemed to make some response to the outcry of the human soul, to the question — What shall I do to be saved? If, then, Philosophy takes courage to do its duty, if it addresses itself to the question o f the Value of Life and grapples with the Demon of Despair that besets the souls o f many, who shall say that there is not still in store for it a career o f unprecedented splendour among the forces that may mould the destinies o f man?“ Schiller (1903) [„The Place of Pessimism in Philosophy”), S. 164f.

und Gestehenden entfernt hat, lässt ihn zumindest mit einem gewissen Gefal­ len die Politisierung der Professorenschaft zu Beginn von Nazideutschland als ein „experiment“ beobachten und darin die Gleichschaltung verkennen, die sie tatsächlich bedeutete und an deren Ende der Professor nicht nur Gelehrter, son­ dern ebenso „intellectual leader“ wird, „something of a politician“ mit einem eisernen Bezug zum „social and industrial value“ der Forschung, statt dem „pro­ fessorial desire to spin round himself a secure cocoon which no hostile criticism can penetrate“106 zu frönen. Eines jedoch lässt sich aus diesem losen Textkorpus zum Thema, dem ich hier in der Folge eine Systematik zu entnehmen und zu geben versuche, folgern: Pazifiziert oder sediert ist ihr Autor auch nach seiner Berufung nicht gewesen, sodass sein geradezu notorisches Häretikertum gegenüber zunftgemäßen Kodizes, das sein Schaffen inhaltlich wie stilistisch seit Anbeginn durchdringt und von dem James schreibt, es sei in Teilen „like a criminal conviction in tone or temper“306307, nur schwerlich als Regung eines Ressentiments des gekränkten Nichtarrivierten, als Neid des Progressiven gegenüber den festen Strukturen, an denen er nicht teilhaben kann, erklärt und damit pathologisch wegreduziert werden kann. Stattdessen sollte es wohl eher als das gesehen werden, was es war: die irreduzible Begeisterung des Präsidenten der Aristotelean Society ( 1921) sowie Mitglied und Schatzmeister der Mind Association für die „vital value o f Philosophy“308jenseits einer schematisierenden und darin frigidisierenden Domestikation: Sei diese in­ tellektueller Art durch starre logische Formgebungen oder andere Versuche der Trockenlegung des Denkens durch fixe Systematisierung und ein zuchtmeister­ liches Nur-so-und-nicht-anders oder sozialer Art: zum einen durch innerakade­ misch das Denken verharmlosende Schulbildungen, die für sich und unter- bzw. gegeneinander institutionalisiert nicht mehr im Hinblick auf ihre fundamentale Grenzziehung in Skepsis abklopfbar, geschweige denn revidierbar sind, zum an­ deren durch die durch eine „mere perversion of academic pedantry“309 gespeiste außerakademische Abgrenzung des der Philosophie Würdigen gegenüber den Problemen und Realitäten jenseits der Campusmauern.

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Schiller (1939) [„Goethe and the Faustian Way o f Salvation“], S. 138f. - Als hätte Schiller sie gekannt, lässt sich als prototypische Illustration einer solchen Romantisierung der Verhältnisse vor Ort hierzu fast schon deckungsgleich die „Rektoratsrede“ Heideggers heranziehen: Heidegger (1933). Hier bezieht sich James v.a. auf Schillers philosophische Philippiken gegen Bradley: zit. n. Seigfried (1990), S. 182 Schiller (1934) [„Some Problems of Mass Education“], S. 36 Schiller (1934) [„Some Problems of Mass Education“], S. 37 153

Der Fragenstrauß, mit dem Schiller seine Reflexion zu Wesen und Wert der Philosophie eröffnet, lautet den zentralen Aufsatztiteln entsprechend: „Has Philo­ sophy any Message for the World?“, „Must Philosophers Disagree?“ und „Must Philosophy be Dull?“. Eine Triade rhetorischer Fragen, die sein Unbehagen an der Gegenwart mehr als unzweideutig zum Ausdruck bringen, die aber nun in der Spätphase seines Schaffens und damit auch nach realpolitischen Bestrebungen um eine weitere, geradezu blasphemische erweitert wird: Welche Rechtfertigung gibt es „in the eyes of the world“ überhaupt noch fur die akademische Philosophie in Anbetracht des sozialisierbaren Erfolgs naturwissenschaftlicher Forschung?31“ Diese Frage nach der Legitimation der Philosophie, ihrem „valuable social ser­ vice" oder gar nach ihrem Beitrag zur „enlightenment o f mankind“, ist es, der sich in Schillers Augen das Gros der professionellen Philosophen in einer falschen, ja suizidalen Würde in „indifference“ meint entziehen zu können. Und das, ob­ wohl eine gute Antwort auf die Frage nicht zuletzt auch ihre eigene finanzielle Ermöglichungsbedingung argumentativ rechtfertigen würde, ist es doch die Öf­ fentlichkeit, die die Mittel des „institutional care“310311312alimentierend gewährleistet. In diesem Sinne ist das Zulassen der Frage und die Suche nach einer Antwort, in der sich die Philosophie als „socially useful“313 erweisen kann, gerade kein Sakri­ leg, sondern umgekehrt Willensbekundung zu ihrer längerfristigen Absicherung.

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Schiller bleibt mit diesem seinem am wirkungsmächtigen Erfolg der Naturwissen­ schaften orientierten Denken damit die vielleicht im ersten Moment ironisch klin­ gende und dennoch sozialpsychologisch durchaus vertretbare, in einem gewissen Sinne konservative Position zu Sinn und Unsinn der institutionalisierten Geistes­ wissenschaften verborgen, die John Williams in seinem Roman „Stoner“, der im akademischen Milieu situiert ist, die Figur des David Masters als „true nature o f University“ verkünden lässt: „It is an asylum or [...] a rest home, for the infirm, the aged, the discontent, and the otherwise incompetent.“ Williams ( 1965), S. 30. Anders formuliert: Möglicherweise liegt auch in der sozialen Nutzlosigkeit universitärer geisteswissenschaftlicher Praxis ein Nutzen, nämlich den „dispossessed o f the world“ einen Ort in ihr zu geben, gerade um die Welt vor den ansonsten möglichen Wirkun­ gen der der Welt Unzugehörigen zu schützen. Denn wie hätte das 20. Jahrhundert ausgesehen, wenn manche, die es „gestaltet“ haben, stattdessen ihre Energie in eine Bücherwurm-Existenz sublimiert hätten, oder umgekehrt, u-chronisch, solche Figu­ ren nicht zuhauf auch auf dem Campus eine dauerhafte, vom Rest distanzierte Bleibe gefunden hätten? Manches Mal, so die Einsicht, die sich dem hier aktivistischen Ethos der Pädagogik Schillers in den Weg stellen könnte, ist die beste Wirkung, die einer erzielen kann, eben die, gesellschaftlich folgenlos zu bleiben. Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 84 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 85

In gleichem Sinne würdigt Schiller entgegen der Aufteilung des akademischen Felds der „Philosophie“ durch das „regime of professional professors“’11 die ei­ gentlich philosophische Leistung der kleinen Gruppe von „remnant of philos­ ophers“, „detested by their more professional colleagues“, die sich aber gerade dadurch gegenüber dem Denken verdient machen, dass sie alle fachimmanent gezogenen Grenzen zu überwinden gedenken. Und dies nicht, um der Disziplin zu schaden und diese ins willkürliche Chaos zu stürzen, sondern weil sie beseelt sind von „belief enough in the value of philosophy to desire to express themselves intelligibly and to endeavour to make philosophy a factor in the general culture of their age.“1H Bei den Ersteren, den „puren“ Professoren, dagegen erblickt Schiller vor allem den Charakter, der, vom Wunsch nach Sicherheit und Eindruckschin­ den geleitet, zur „dullness“ als finale Konvergenz beider Bestrebungen als deren kontraproduktivem Ergebnis gelangen muss: sowohl in der Lehre, die es nicht wagt „ [to] arouse and inflame the minds of the young“111, als auch im eigentlich agonalen Bereich des Untereinander der Professorenschaft. Das gegenseitige, leerlaufende Imponieren sieht Schiller dagegen durch „obscurity, technicality, and the invention of a new terminology“ erreicht: „For what one cannot be sure he understands he cannot confute and does not dare to critize.“116 Von der Ge­ sellschaft für die sich so einstellende, rabulistische „dullness“ kritisiert, mag diese in der Folge seitens ihrer Lobbyisten apologetisch und immunisierend gar zum

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Schiller (1939) [„Burning Questions”], S. 7 Schiller (1934) [„Preface”), S. VI: „Philosophers o f this type can trace their pedigree to Plato, and can point to such personages as Locke, Berkeley and Hume, Schopen­ hauer and Nietzsche, Voltaire and Bergson, Russell, Santayana and William James, as their masters and models.“ Schiller illustriert hier aufseine Art die Unterscheidung, die der Differenz von Philosophie/Philosophiew issenschaft gleichkommt. (S. „Über­ flug” zu Beginn dieser Arbeit) Schiller (1939) [„Must Philosophy be Dull?”], S. 100 Schiller (1939) [„Must Philosophy be Dull?”], S. 101 - Es ist dieser anklagende Kon­ text, aus dem das bereits in der Hinführung erwähnte Diktum entstammt, das am Anfang jeden Bandes der Reihe „Library o f Living Philosophers“ zitiert wird und dem diese ganz in Schillers Geiste entgegenwirken will: „A further bar to fruitful disussion in philosophy is the curious etiquette which apparently taboos the asking o f questions about a philosopher’s meaning while he is alive." Schiller (1934) [„Must Philosophers Disagree?“], S. 13. Dabei ist die Anklage bei Schiller komplex und richtet sich nicht allein einseitig gegen den Nebelkerzen zündenden Autor, sondern genauso auf die bloß passiv oder in Ehrfurcht Rezipierenden: „Very often its our own fault. The philosophic public is not inquisitive enough.“ Schiller (1934) [„Must Philosophers Disagree?“], S. 10. 155

entscheidenden Qualitätsmerkmal der Wahrheit verklärt werden: „the duller philosophy was the better its chances of attaining truth.“317

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Schiller (1939) [„Must Philosophy be Dull?”], S. 93 - Dass für Schiller Missver­ ständnisse und Scheindebatten nicht nur durch rein verbales und damit überflüs­ siges Innovationspotential, sondern auch gerade dadurch perpetuiert und geschürt werden können, dass kein neues Vokabular vorgeschlagen wird, behandelt er in seinem Aufsatz „Truth-Seekers and Sooth-Sayers“. Stein des Anstoßes bildet hier die Ambiguität des Begriffs der Wahrheit, welcher aus der Perspektive des Pragmatismus de fa c to substantiell anders gefasst ist als für den sich an unumstößlicher Gewissheit orientierenden metaphysischen Absolutsten: Ein Problem, das in Kap. 3.5. tatsäch­ lich als ein Dialoghindernis dient. Um den Mehrdeutigkeiten Rechnung zu tragen, schlägt Schiller vor, für den aktivistischen, fallibilistischen wie an Untersuchungen gebundenen Wahrheits-Begriff des Pragmatisten das Wort „truth“ beizubehalten, denn mit Blick auf ein Zitat von James ,,[e]tymologically ,truth’ is ,what a man troweth‘, and perhaps what he can trust. ( ... ] Thus the very derivation o f ,truth suggests that it is a matter o f opinion and that opinions need to be tested.“ Schiller (1939) [„Truth-Seekers and SoothSayers“], S. 52, Herv. i.O. Der absolutistische WahrheitsbegrifFaber, der an Starrheit und ewiger Gültigkeit für alle interessiert ist, sollte umgetauft werden in „sooth“: „the implications o f ,sooth seem very different. [...] In the first place it comes from a root which also m eans,being’ and so exemplifies the distracting confusion o f truth and reality which has haunted the topic of truth so persistently. Secondly, ‘sooth’ is connected with ‘soothe’ and so seems very appropriate to designate one of the most important functions of truth. [...] Sooth-saying [...] appeals rather to the synoptic eye that can roam over the whole cosmic landscape“. Schiller ( 1939) [„Truth-Seekers and Sooth-Sayers“], S. 53ff. Dass aber weder die truth-seekers (Pragmatisten) noch, weniger überraschend, die zu Orakelgläubigen etikettierten so o th sa y ers (Absolutisten) sich diesem terminolo­ gischen Vorschlag gegenüber offen gezeigt haben, ja Schiller selbst diesen nirgendwo über diesen Aufsatz hinaus aufgriff, macht ihn selber nur zu einer kurzlebigen „blo­ ßen Idee“ innerhalb seines Denkens und zu einer reinen Fußnote in der Geschichte des klassischen Pragmatismus. Aus ideengeschichtlicher Perspektive lässt sich darüber hinaus auch hier wieder zeigen, dass er mit seinem Oxforder Kollegen A. Sidgwick, wie im Fall der Kritik der formalen Logik und der Bildung einer „applied logic“, übereinstimmt (s. Kap. 3.4.), wenn hier nicht gar folgt, hatte dieser bereits Jahrzehnte zuvor, wenn auch in die spiegelverkehrte Richtung argumentierend, das Problem der Ambiguität und Klarheit in Sprache und akademischen Diskursen betont. So lautet bei ihm die Kritik, dass zahllose Debatten durch eine „unreal distinctness“ der Positionen am Leben erhalten werden, weil eine „narrowness or hardness of view“ das Scheinkonflikthafte oder zumindest nur relativ Verschiedene verkennen lässt, indem die Unterscheidung dualistisch radikalisiert und verabsolutiert wird, sodass weder ein produktiver Dialog

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Genau diese aus institutioneller Binnenperspektive positive Wertung der „Trägheit“ und „Langeweile“ legt nahe, dass diese dort keinesfalls als solche ti­ tuliert werden würden. Vielmehr wäre die selbstgewählte Repräsentation des Charakteristikums des akademischen Guts, auf das es Schiller hier in seiner Po­ lemik abgesehen hat, wohl am ehesten in der seit der Antike hochgehaltenen Tradition von der „uselessness of knowledge“ zu suchen: als die dem praktischen Wissen, das die gemeinen Ausbildungsberufe konstituiert, enthobene, arkane Wissenssphäre, die gerade dadurch ultimative Superiorität genießt, insofern sie für nichts anderes zu gebrauchen ist, kurzum: nichts Drittem gegenüber die­ nend, sondern reiner Selbstzweck. Eine strukturelle Gewaltenteilung zwischen Kopf- und Geistesarbeit, in der genealogisch die politische Szenerie des antiken Griechenlands als Geburtsort der Akademie nachhallt, denn in „a slave-holding society, however, anything savouring of manual training is despised as illiberal and ,banausic‘.“3is Doch in diesem seitens der „liberal education“ propagierten Bild - ganz konkret verweist der damals selber noch in Oxford Lehrende auf den dortigen Literae H um aniores-Kurs für „undergraduate students“, in dem die „Greats“, die Klassiker, „in a merely historical spirit“, in einem „‘disinterested’ interest“ behandelt werden sollen - steckt, wie schon im vorigen Kapitel be­ schrieben, für ihn nicht allein ideologiebildender dishonest belief, ist doch gerade die Absolvierung dieser „reinen“ Bildungsetappen unumgängliches und damit*318

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noch eine Einigung zumindest der Tendenz nach denkbar erscheinen: „the difference between opponents is exaggerated, and how the truth which is confusedly seen by each is hidden from the other, by the artificiality o f much o f the opposition between them.” Sidgwick [1892], S. 98 Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 30 - Eine nahezu identische Kritik an der intellektualistischen und elitaristischen bias der Akademie gegenüber der restlichen Gesellschaft findet sich innerhalb der pragmatistischen Bewegung in den immer auch sozialreformatorisch motivierten Schriften John Deweys: Ein Vorurteil, das für Dewey ebenso wüe für Schiller nicht nur bedeutet, die geistige Tätigkeit vom Rest der Gesellschaft zu trennen, sondern p a ri passu ebendiesen geistlos werden bzw. in Geistlosigkeit verharren zu lassen und damit die Grundlage des Vorurteils als vermeintlich nicht selbst mitverschuldete empirische Tatsache (und damit nur noch Urteil) selber zu produzieren: ,,[I]t is of the nature of any class-interest to generate and confirm other class-interests, since division and isolation in a world o f continuities are always reciprocal. The institution o f an interest labelled ideal and idealistic in isolation tends of necessity to evoke and strengthen other interests lacking ideal quality.“ Dewey (1925), S 165 157

höchst nützliches Fundament einer „honourable career for life“.311' Im Bild der profanen „Verwertungslosigkeit“ der Bildung als Zeichen ihrer Tiefe bzw. Höhe verbirgt sich vielmehr die generalisierende Unkenntlichmachung des Eigeninte­ resses der Spezialisten in einem im Wissensdiskurs hochgradig ausdifferenzierten Betrieb, die den Rückverweis ihrer latent selbstreferentiellen Forschung auf etwas der Allgemeinheit gegenüber Nützliches allein als drohende Unterminie­ rung, als Zwangsräumung aus ihrer Nische im ruhigen Vorort der Gesellschaft verstehen. Eine interessengeleitete Ausrichtung zugunsten der wenigen an der Universität mit in seinen Augen desaströsen Folgen für die Mehrheitsgesell­ schaft, die, von einem falschen Bild der Nutzlosigkeit des Wissens vertrieben, bereit ist, mit der eigenen Geistlosigkeit vorliebzunehmen: „It is probably bythis senseless policy of insisting (falsely) on the uselessness of knowledge in order to arouse intellectual interests in the young, that these same sages have fostered the ‘deficient interest in the things of the mind,' which they are wont to deplore. Human indolence does indeed naturally shrink from the labour of learning, but there would probably be far less ground for complaint, if the victims of their educational prejudices were allowed to learn how knowledge is the most useful and salutary of all things, and shoum the uses even of the staple methods.“'2'1

Jenseits dieses allgemeineren Blicks auf die Lage der institutionalisierten Phi­ losophie wird für Schiller die Gegenwart nicht nur durch drei geographisch unterschiedliche Zentren dominiert, sondern ebenso durch deren defizitäre Phi­ losophiekonzeptionen: Oxford, Cambridge und Moskau. Oxford steht dabei für den Reflexions-Primat, der, wenn nicht zu idealisti­ schen Gebilden kanalisiert, sich als Feld der Beschäftigung der eigenen, der Phi­ losophiegeschichte zuwendet, die sich jedoch nicht als Aneinanderreihung von Wahrheiten entpuppt, sondern vielmehr als Sukzession von Positionen, „all of which have undergone or are in process of undergoing refutation.“31932021 Die Folge dieser unproduktiven Betrachtungen von vergangenen Positionen, die von ei­ nem Klima des „spiritual conservatism“ leben, besteht darin, ebendiesem und der rückwärtsgewandten, passivischen Saturiertheit der Gesellschaft sowie der

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Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 24. S. dazu auch seine Kritik an der „liberal education“ als scheinbar ewiglich an der konkreten Gegenwart desin­ teressierter (i.S. „useless“), faktisch aber (als ihrer „essential function“) den Weg zu einem mondän-elitären Club bereitender Erziehung und damit als dishonest belief: „Great as is the vogue of humbug in politics, it is even greater in education." Schiller (1924a), S. 81ff. - Herv. i.O.

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Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 23 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 82

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daraus folgenden reflexhalten Ablehnung von Reformen jeder Art zuzuarbeiten. Mehr noch: Sie potenziert den gefährlichen Zustand der Selbstzufriedenheit der Gesellschaft („insufferably conceited“322), da sie historische Positionen hagiographisch kanonisiert, die zwar jenseits des theoretischen Diskurses keiner mehr bereit ist zu vertreten, gleichzeitig jedoch den Willen zur Innovation als Blas­ phemie inkriminiert und diesen für unnötig erklärt (s. Kap. 4.2.1., wo Schiller dieses „dysgenische“ Ergebnis zeitdiagnostisch einordnet). „Oxford“ bedeutet damit die Selbststilisierung zu einem „asylum for lost causes“'23, sodass er für diesen Typus der Philosophie nicht nur, aber auch immanent betrachtet allein das folgende unattraktive Fazit bereit hält: ,,[l]t is not a reflexion upon any sta­ ble or progressive truths, but only reflexion upon errors.“324 Etwas vorsichtiger formuliert: Steigt der Philosophiehistoriker derart in sein Sujet ein, dass er die Theorien exklusiv aus ihrer Zeit heraus zu begreifen trachtet, suspendiert er ge­ rade die Frage nach ihrem „present value“325 und vermag damit nichts zur Be­ antwortung beizutragen.326

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Schiller 1926a), S. 190f. Schiller (1924c), S. 33 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 82 Um an dieser Stelle ein Beispiel für seine ihm nicht zu Unrecht nachgesagte „inveterate love o f pun" (Russell (1910) [„Pragmatism“], S. 117) zu zitieren: ,,[T]hey leave behind them litter, but not literature.“ Schiller (1939) [„Must Philosophy be Dull?”], S. 100 Schiller ( 1934) [„Some Problems of Mass Education“], S. 37 Es würde hier nicht nur den Platz sprengen, sondern wäre in der philosophiewis­ senschaftlichen Rekonstruktion von Schillers Denken fehl am Platz, das Dargestellte immer auch mit einer Grundsatzkritik zu konfrontieren - wie in diesem Fall das positivistisch-chronologisch gefasste „Geschichtsbild“ Schillers und des Pragmatis­ mus insgesamt. Beide müssen mit ihrem der wissenschaftlichen Innovationsfahigkeit entnommenen Alleinprimat auf Zukunft als O rt zu entwickelnder Problemlösungs ­ verfahren die bereits passierte Geschichte -analog zu den Naturwissenschaften - als verbrannte Erde zurücklassen, erzeugen sie doch heuristisch gerade mit ihrer Kon­ zeption des Neuen und der Erneuerung gleichzeitig die des Alten und des Veraltens und unterminieren damit zwangsläufig den diese Dualität suspendierenden Blick der Ewigkeit, sub specie aeternitas, von dem die Tradition der ph 'üosophia perennis lebt und in der das „Perennierende“ sich gerade dadurch auszeichnet, das immer neu sich problematisch auftuende Alte zu sein. Eine Fixiertheit auf den horizontalen Chronologismus, der sich auch in Schillers Suche nach Argumenten für die Unsterb­ lichkeit als Substituierung eines lebensaffirmativen Optimismus zeigt, gilt für den an Handlungen und Pro jekten orientierten Pragmatisten doch: „So the quality o f vital activities depends upon the time-scale o f the life.“ Schiller ( 1939) [„Goethe and the Faustian Way o f Salvation“], S. 132. 159

Sicherlich, gerade Schillers im klassischen Pragmatismus einzigartiger Rekurs auf die Antike und vor allem Protagoras als Urahn seines „Neo-Protagorean Human­ ism“ (Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 36) und dessen Konflikt mit Platon als archetypischem Urkonflikt zwischen Humanismus und Absolutismus scheinen dieses Verdikt der Geschichtslosigkeit Lügen zu strafen. Und dennoch hat er eben nur hierzu etwas zu sagen und bleibt darin unter den Pragmatisten, deren gemeinsamer Gestus der der Neuschöpfung als philosophische Resonanz naturwissenschaftlich erfolgreicher Revolutionen ist, die, darin gleichermaßen vor­ bildlich, mit den alten naturwissenschaftlichen „Erkenntnissen“ gebrochen haben, eine Ausnahme. Die mehr als zweitausend weiteren Jahre finden darüber hinaus in seinen Schriften quasi nirgends Niederschlag, kranken sie doch für Schiller allesamt strukturell ähnlich dem heideggerianischen Universalverdikt einer Seinsvergessen­ heit des Abendlandes seit Platon - unter dem gemeinsam angetretenen Erbe von Platons Intellektualismus. Auch der nicht in der Antike, sondern der Renaissance geprägte Begriff seiner Philosophie - des Humanismus - findet bei Schiller (einzige Ausnahme: Schiller (1939) [„Humanisms and Humanism“]) keinerlei historische Einordnung oder gewinnbringende Abschöpfung, und dies begründet mit dem Verweis, dass es sich bei dem Humanismus des Protagoras um den in seiner Be­ freiung konsequentesten - „the greatest o f the humanistic eras“ [Schiller (1908b), S. 8] - handelte, weil dieser die Hiimanitas, zu der die Welt in Bezug gesetzt wird, erkenntnistheoretisch so formal und damit normativ vorurteilsfrei denkt, wie da­ nach zu ihm selber, Schiller, keiner mehr. Die Humanisten der Renaissance engen sie dagegen immer schon auf nur eine Idealisierung, die Humaniora, hin ein und verleihen darin allein den Bildungspräferenzen einer bestimmten wie kontingenten, relativen Klasse eines geistigen Adeltums Ausdruck, während sie dieses Unterfangen in Schillers Augen dadurch vernebeln, dass sie diese Verengung als Bestimmung des M enschen überhaupt beschreiben. Es ist damit dieselbe Fundamentalkritik, die Schiller dem Rationalismus wie Idealismus anträgt: „All the later revivals o f Humanism have been subsequent to the institution o f a learned caste whose aca­ demic spirit is always largely occupied with ritual observances for giving his due (and not infrequently a good deal more) to the Demon o f Pedantry; [...] [TJhey [speziell die Humanisten der Renaissance - G.K.T.] soon fell lamentably short of their noble design and o f the proud name they had assumed. Total humanity cannot be identified with any one o f its functions and so 'humaner letters’ are neither the ‘whole duty of man nor even more than comparatively humane.“ Schiller ( 1908b), S. 7f. - Herv. d. G.K.T. Ein weiterer Beleg für den explizit szientistischen Blick auf die Ideengeschichte zeigt sich bei Schiller, wenn er von der „rarity o f really important novelties in the history of thought“ spricht und diese gar dahingehend konkretisiert, dass es für ihn genau neun spiegelstrichartig auflistbare „discoveries“ bzw. inzwischen zum Großteil zu ver­ werfende Antiquitäten im Laufe der letzten Jahrtausende gab: das Absolute/Eine, der reine Geist, die Universalien, die formale Logik, das Selbst, die kritische Wende, das 160

Nicht minder geringe Aussichten auf Erfolg der dauerhaften Substituierung des öffentlichen Ansehens der Philosophie offeriert der Typus Cam bridge, der vor allem eine Reaktion auf das erspürte Eigendefizit gegenüber der „exactness“ der Naturwissenschaften ist, insofern er für das andere Extrem völliger „subser­ vience to the science“ votiert. Rein auf die sprachlogische Analyse vornehmlich derjenigen Begriffe kapriziert, deren sich die Wissenschaften bedient, stellt sich Schiller mit Blick auf den hier angesprochenen Positivismus und dessen Anhäu­ fen homöo-technischen Vokabulars die Frage, ob dieser verbale wie strukturelle Parasitismus wirklich als Grundlage zur Sicherung der Philosophie zu dienen vermag. Denn dass die Naturwissenschaften die letzten Jahrhunderte sich gerade ohne die hier umworbenen Begriffsklärungen erfolgreich entwickelten, gilt in der Prämisse ihrer Vorbildlichkeit für die Philosophie ja gerade als gesetzt. So zieht Schiller auch hier ein unattraktives Fazit: „for the .analysis' on which it prides

Wertproblem, der Darwinismus und als die letzte der Pragmatismus selber. Schiller (1934) [„William James and The iMaking o f Pragmatism“), S. 93f. Nicht zuletzt ließe sich das positivistische Desinteresse an Geschichte seitens des Pragmatismus generell - welcher explizit keine „retrospective theory“ sein will, bestimmt er doch die „explanation o f the past“ allein durch ihre „present attitude towards the future", da die Vergangenheit für sich genommen „dead and done with“ ist [Schiller (1907a) [„The iMaking o f Truth“], S. 198] - als Grund ausweisen, warum viele Aspekte der Geschichte des Pragmatismus selber kaum untersucht worden sind: von den Einflüssen proto-pragmatistischer Franzosen wie Ch. Renouvoir oder E. Boutroux über die von der Bewegung selbst losgelösten Pragmatisten wie der Logi­ ker A. Sidgwick, die gehaltvolleren Kritiker und Gegner (z.B. Santayana, Mumford, Niebuhr), die philosophischen Kosmologien eines Ch. S. Peirce oder der Einstein verabeitende Versuch von G.H. iMead, der österreichische Frühpragmatist W. Jeru­ salem, der afroamerikanische Pragmatismus eines W.E.B. Du Bois oder A. Locke, die sich stark vor dem Hintergrund der Weltblockbildung wandelnde dritte Generation in Person eines H. Kallen, S. Hooks oder Ch. W. Mills bis hin, und dies vor allem, zu ihrem eigenen abrupten Verschwindens als stark diskursprägende Formation mit dem Tode Deweys Anfang der 50er Jahre. Nicht zuletzt ist die Geschichtsvergessen­ heit des Pragmatismus Grundlage auch der vorliegenden Arbeit: die perpetuierte anwesende Abwesenheit Schillers im Kartendeck der pragmatistischen Klassiker. Der Pragmatismus hierin O pfer seiner selbst? Zumindest aus einer nicht-pragmatistischen, Ideengeschichte an sich wertschätzenden Perspektive - ja. Es ist damit kaum überraschend, dass zwei der tiefgründigsten Untersuchungen historischer Art von Thayer (1981) und Diggins (1994), zwei dem Pragmatismus kritisch Gegenüberste­ hende, geschrieben worden sind. 161

itself seems to be a wholly verbal and ephemeral thing, liable to be superseded at any moment by the discoveries of the sciences.”327 Das Modell Moskau hingegen funktioniert gänzlich anders, insofern die „So­ viet philosophers“, wie überhaupt die Wissenschaftler aller Disziplinen, durch die staatliche Hyperregulierung vom „pure research for its own sake“ befreit und zu liturgisch abgerichteten Priestern des dialektischen Materialismus als integra­ lem Bestandteil der „State religion“ herauspräpariert werden. Derart an die Kan­ dare genommen kann für Schiller kaum noch von Philosophie als einer Praxis der „free inquiry into the ultimate problems of life“328 gesprochen werden. Viel­ mehr handelt es sich um die Erfüllung einer Auftragsarbeit, die darüber hinaus nur im größeren Kontext des kommunistischen Projekts begriffen werden kann und damit in einem politischen Ideal, dessen Attraktivität für die westliche Welt mehrheitlich eine begrenzte ist.329 Von keinem der drei Gegenwarts-Vorschläge zufriedengestellt, macht Schiller nun einen eigenen zur Situierung der Philosophie vor dem Horizont des sozi­ alen Nutzens, in dem sich bisher vor allem die Naturwissenschaften als glän­ zend erweisen konnten. So schlägt er einerseits vor, statt sich wie „Oxford“ in der eigenen Geschichte zu verlieren, die Nabelschau zu überwinden, „to treat the history of philosophy as a speciality, and to leave it as an inexhaustible re­ servoir of Ph.D.-thesis subjects“330. Gleichzeitig aber auch, gegen das Modell „Cambridge“, die Wissenschaften nicht als das Maß aller Dinge zu betrachten, sondern in ihnen realistisch zuallererst das zu entdecken, was sie so erfolgreich, weil operational praktikabel macht: „Now the sciences are all, without exception, special sciences, that is, devoted to the special study o f some aspects o f the real or to some special way o f regarding it.“ So, wie sich die Geometrie exklusiv dem räumlichen Aspekt der Realität widmet, ihn isoliert und ihm bis in die äußersten Konsequenzen hinein nachgeht, betrachtet auch die Biologie nur den Aspekt des Lebendigen. Kurzum: „every science must be based upon an abstraction“, inso­ fern sie gerade im Herausschälen der einen sie definierenden Sphäre aus der Ge­ samtrealität die anderen Perspektiven in den Hintergrund drängt und gerade in dieser methodologischen „Ignoranz“ als Disziplin ihre „autonomy“ gewinnt. Es ist diese für die Naturwissenschaften konstitutive Partialität, die der Philosophie einen „definite place in the field o f knowledge“ eröffnet, „without either coming

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Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 82 Schiller (1939) [„Must Philosophy be Dull?”], S. 100

329

Als „Replik“ auf Schiller aus dem damals sozialistischen Land Rumänien s. Negut (1969).

330

Schiller (1934) [„Some Problems o f Mass Education“], S. 38.

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into conflict with the sciences, or duplicating their work more feebly or more vague.“331 Denn eine Aufgabe der Philosophie könnte demnach darin bestehen, dem Pathos „concerned with the whole” ihrer Tradition im modernen Gewand die Treue haltend, sich um eine „comprehensive or synoptic treatment“332 zu bemühen und zu versuchen, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften als Frag­ mente und Puzzleteile aufnehmend zusammenzusetzen und untereinander zu harmonisieren - gewissermaßen als Spezialwissenschaft der Realität als Ganzer. Damit käme der Philosophie, in einer völligen Umkehrung zu der für Schiller real vorfindlichen, eskapistischen philosophischen Praxis, die Aufgabe zu, der „complete departmentalizing of academic subjects“ im Namen des zwar kom­ plex ausdifferenzierten, doch letztlich immer noch einheitlichen oder zumindest potentiell gemeinsamen menschlichen Erfahrungshorizonts (wie wäre Verstän­ digung sonst möglich?) entgegenzuwirken und damit gerade die Wissenschaften in ihrer aus der Vergessenheit des Ganzen heraus latent drohenden, absoluten Selbstreferenz untereinander zu relativieren und versuchsweise zu verbinden: also immer wieder die „nature of things“ als ihrer aller Konstituens - sowohl i.S. ihrer genetischen als auch ihrer teleologischen Ermöglichungsbedingung als letztes Explanandum - über die demgegenüber künstlichen und stets nur pro­ visorisch gültigen Differenzen untereinander zu stellen, die nicht mehr als das unreflektierte Hineintragen von „academic organization“ in das Sein der Realität bedeuten.333 Da jedoch der Weg zu einer solchen „synthesis and unifaction“ keineswegs vorgeebnet ist, weil die Teildisziplinen mit Scheuklappen untereinander arbei­ ten und darin eher der Weg zum Widerstreit unterschiedlicher Prinzipien wie die einer rigideren Kausalitätskonzeption innerhalb der physikalischen oder die einer flexibleren innerhalb der biologischen Weltauffassung angelegt ist, könn­ te es eine Aufgabe der Philosophie sein, ein Meta-Paradigma zu entwickeln, in dem die starren Antagonismen zu relativen Extremisierungen flexibilisiert wer­ den und somit ein ultimativer Widerstreit von Prinzipien als in der Natur gege­ ben überwunden werden kann, ohne dabei das Funktionieren einer der beiden Disziplinen zu desavouieren. Wie der Ausweg aus dem Dualismus im Fall der „conflicting principles“ von Determinismus und Indeterminismus für Schiller aussieht, wurde bereits beschrieben: Beide Prinzipien werden hierbei derart

331 332 333

Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 86 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 87 Schiller (1934) [„Some Problems of Mass Education”], S. 38 163

transformiert, dass sie nicht „metaphysically or as descriptive of ultimate fact“33'1 verstanden, sondern vom Niveau des Ontologischen auf das bloßer „methodo­ logical assumptions“ degradiert werden sollten, (s. Kap. 3.4) Doch nicht nur in Bezug auf variablere Fälle wie diesen, wo unterschiedliche Prinzipien auf ein ge­ meinsames Fundament gestellt werden wollen, ist die Philosophie in „amicable co-operation“ gegenüber den Wissenschaften aufstellbar. Keineswegs will sie Schiller in die Position des restriktiven Zuchtmeisters oder besseren Vollenders der Wissenschaften erheben, als sei der Philosoph der vollkommenere Natur­ wissenschaftler. Vielmehr steckt in der Explikation der in den Wissenschaften zumeist implizit waltenden Prinzipien neben der Harmonisierungspotentialität auch die Möglichkeit qua Bewusstmachung, diese nun intelligent zu variieren, statt sie wie bisher nur unbewusst und darin mehr unverrückbar arbeiten zu lassen. Es geht also auch um die Befruchtung der Wissenschaften von außen, um sie darin auf (zukünftige) Forschungsfragen aufmerksam zu machen, zu denen hin die Wissenschaften (momentan noch) meinen, keinen Zugang zu haben, und damit desinteressiert übergangen werden.334335 Für Schiller gibt es neben den methodischen Prinzipien der jeweiligen Einzelwissenschaften noch viel grundsätzlichere Phänomene, welche gerade „systematically ignored and excluded from scientific considerations“ werden müssen und derer sich die Philosophie als Anwalt im besonderen Maße an­ nehmen kann. Bei diesen „victims of neglect“ handelt es sich um drei zentrale Momente, die einem auch an anderen Orten innerhalb seiner Philosophie be­ gegnen: (1) Dass die Wissenschaft als einer Praxis des Menschen keineswegs ein objektiv-neutrales Unternehmen, sondern wie jede menschliche Praxis von relativen „purposive structures“ durchdrungen ist und damit keineswegs als un­ widerlegbares Faktum gegen jede Teleologie ins Feld geführt werden kann (zu Wert und Folge dieser Überlegung, dazu in Kap. 4.1.1. mehr). (2) Dass auch der wissenschaftliche Gestus, auf allgemeinste und darin universelle Gesetze zu rekurrieren, eine ideologische Abstraktion der Tatsache ist, dass auch dieser in erster und letzter Instanz methodisch als Ort der Verifikation an die Überwin­ dung konkreter problematischer Situationen gebunden ist, wie sie sich für den Menschen in situ und keineswegs an sich stellen (s. Schillers Kritik des kantischen Universalismus zugunsten des Case-Law-Prinzips in Kap. 3.4.). (3) Und

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Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 88

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Abgesehen hat es hier Schiller wohl vor allem auf die für ihn auch gerade in Be­ kämpfung des Pessimismus fundamentale Frage nach dem postmortalen Leben: s. Schiller (1903) [„Philosophy and the scientific Investigation of a Future Life“]. Ich komme hierauf in Kap. 4.1.3. zurück.

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als der eigentliche Grund der beiden vorgängigen Punkte, dass die Rückbin­ dung an die Genese von Wissen an den „personal context“, an das forschende Selbst erfolgt, wovon sich die Wissenschaften methodisch so weit wie möglich zugunsten eines intersubjektiv geteilten Minimums abzusehen bemühen, um eine größtmögliche Unabhängigkeit gegenüber den konkret, nur hic et nunc beteiligten Personen zu erzielen, welche idealerweise in eine Universalität im Sinne all-umfassender Einsichtigkeit mündet: „Where there is control enough to experiment, there is always a possibility in theory, and usually in fact, of indefinitely repeating and multiplying the evidence, on which the truths of science must rest.“’36

Man könnte meinen, diese Aufgaben seien so definiert, dass sie der m ethodische Humanismus als Re-Anthropomorphisierung des Universellen geradezu beispiel­ haft erfüllt - und dies nicht zu Unrecht. Schiller votiert hier, die Philosophie nicht nur durch Anbindung an die Wissenschaften selbst zu verendlichen, sondern zum aktiven Mahner vor jeglicher Vanitas umzuschulen, welcher immer wieder auf die konstitutive Rahmung menschlicher Zwecke verweist, die auch hinter den mit den Fliehkräften ihres Erfolgs selbstreferentiell drohenden Konzepten von Wissen, Wahrheit und damit letztlich auch Welt wirksam bleibt, wenn auch vorübergehend unsichtbar.336337

336

Schiller (1934) [„Philosophy, Science, and Psychical Research“], S. 327 - Die Psy­ chologie ist durch ihren Gegenstand: die Psyche, die für ihn als „Humanisten“ hinter allem Wissen und jeder Weltkonstituierung steht, insofern sie immer von Menschen angestoßene und erarbeitete ist, hier die Fundamentalwissenschaft. Gerade in dieser Superiorität der Psychologie, die Schiller ihr einräumt und die sich in seiner Affinität zur psychologischen Untersuchung der Phänomene des Lebens nach dem Tod und anderer, „supranaturaler“ Realitäten zeigt, liegt die Distanz begründet, die ihn wider der selbst diagnostizierten Homogenität der Pragmatisten untereinander (in: Schiller (1939) [„Must pragmatists disagree?“]) - vom Pragmatismus der soziolo­ gisch orientierten Chicagoer Schule von Dewey und Mead trennt, vgl. hierzu W hite (1940), S. 58. So beschreibt Schiller die Psychologie als die Wissenschaft, die gerade keine Abstraktion zur Grundlage hat, weil sie an der Quelle von allem Humanen ansetzt: „ Psychology [... ] is not thus restricted to a selected aspect of reality: it rests on a special attitude toward its objects and is concerned with an all-pervasive feature of the real“. Schiller (1934) [„Has Philosophy any Message for the World?“], S. 86. Zum Problem des Selbst als „burning question“ s. v.a. Schiller (1939) [„Burning

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Questions“], S. lOff. ,,[T]he experts, if left to themselves, tend to develop professional ideals and standards of value of their own, which grow independent of considerations of social welfare, and frequently run counter to them .“ Schiller (1926a), S. 103f. 165

Die Aufgabe, die der Philosophie damit bisher zukommt, ist negativ, insofern sie die Betonung darauf legt, dass über den Menschen gnoseologisch nicht hin­ ausgedacht werden kann: Philosophie „should keep us mindful of the essential human purposes we aim at in the pursuit of truth.“338 Dieser Aspekt der Mission der Philosophie in öffentlicher Hinsicht - neben dem mehr wissenschaftsimma­ nenten Aufdecken und Integrieren von Prinzipien - als einer, ja d er Veto-Macht in Projekten übermenschlicher Selbstvergessenheit liefert für Schiller eine Antwort auf eine der drei Ausgangsfragen: „Must philosophers disagree?“ So besteht zu­ mindest durch diese Neufundierung der Philosophie die Möglichkeit einer Einig­ keit innerhalb der Philosophenzunft aufgrund der für ihn unleugbaren Tatsache der objektiven Fundamentalität des subjektiv Menschlichen und Individuellen in allem - dies Schillers überraschende Hoffnung, sieht er sich doch eigentlich um­ zingelt von empiristischen und rationalistischen Philosophen, die es anders beur­ teilen. Denn ,,[i]t is indisputably am ong the prim ary facts to be taken into account, and the fact that in the past it has not been taken into account is only a further reason for doing so now.”339340Wäre dieser in Schillers Vision konsensuelle und da­ mit latent anonyme Raum der einzige Aufenthaltsort philosophischer Betätigung, bliebe ein merkwürdig ironischer bis geradezu unehrlicher Nachgeschmack, wird er doch aus der Feder des inkarnierten Polemos verkündet, der sich für kaum eine Auseinandersetzung und Widerrede zu schade war.140 Doch teilt Schiller der Phi­ losophie jenseits dieser öffentlichen, dem gesellschaftlichen Nutzen dienenden Aufgabe, den Wissenschaften reflexiv zuzuarbeiten, und wovon Schiller - als das philosophisch kämpferische Individuum, das er ist - als eigentlich „pretty sterile“

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Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 92 Schiller (1934) [„Must Philosophers Disagree?“!, S. 10 - Herv. d. G.K.T. Porrovecchio beschreibt bspw. das endlose Nachhaken bis Nachtreten Schillers ge­ genüber kritischen Stimmen seiner Schriften, womit dieser, wohl ungewollt und damit psychologisch eher „unclever”, die (Vor-)Urteile seiner Kritiker wie das, dass seine Art „distasteful" und er voll „self-conscious swagger” sei, gerade bestärkt. Por­ rovecchio (2011), S. 143flf. Primärliterarisch kann hierfür eines seiner berühmteren „Opfer” zitiert werden, nämlich der spätere Schriftsteller Max Eastman, der nach seiner Rezension von Schillers „Formal Logic” und dessen entsprechender Reaktion in einer letzten Erwiderung schreibt: „Mr. Schillers idea that I meant to say value is more valuable than truth, is not flattering to me. But then, neither is the rest of his reply. He seems to have discovered in some way or other that I am not very well educated, and while I have no feelings about the matter and do not resent his making it public in this way at all, I do think it is a little off the main line o f the argument.” Eastman (1912), S. 692

}41 spricht, noch eine weitere zu: die humanistisch transformierte Revitalisierung der Metaphysik. Ermöglicht wird diese durch das Verstehen der Funktionsweise der Wissenschaft selbst, nach der diese sich in einem immer nur vorläufigen und revidierbaren Zustand sowohl bzgl. ihrer Methoden als auch vor allem ihrer Er­ gebnisse und Theorien befindet, sodass man gerade dem Philosophen, wenn man ihn als sozialnützliches Vorbild nimmt, das Spekulieren nicht verbieten kann: Beim Akt des zusammenfügenden Umgangs mit ihren Disziplinen zu einem Bild des Menschen (als ihrem Fundament) im Kosmos (als ihrem Erkenntnisziel) darf und soll er die aktuelle Forschung supplementierend überschreiten, solange er sich bei der Spekulation selber ihrer Endlichkeit bewusst bleibt. „Knowing that the sciences are progressive and are continually adding to their stores of knowledge, he (the philosopher - G.K.T.] need not be arrested by their present limitations; he may postulate suitable filling for their gaps and thereby suggest to them lines of research.”142

Es ist dies die Lücke, die die Wissenschaft lässt und die nun proaktiv mit meta­ physischer Verve gefüllt werden kann. So entsteht ein zweiter Bereich des Philosophierens als einem von den Wissenschaften autonomeren, erlaubt Schiller doch hier, dass sich die privaten Hoffnungen, Ambitionen und Stilvorlieben des Einzelnen zu einer Metaphysik des Ganzen verdichten. Statt sich mit seiner eige­ nen Persönlichkeit nicht nur nolens volens mit einzubringen, soll der Philosoph dies hier legitimerweise und selbstbewusst tun. Insofern benennt er dieses zwei­ te, metaphysische Areal der Philosophie, das die Selbstverwirklichung der phi­ losophierenden Person in den Vordergrund rückt, „a sort of poetry, and often of lyrical poetry at that!”’43 Wie zum Ende des vorigen Unterkapitels angesprochen, war dies freilich für Schiller immer und bei jedem metaphysischen Gesamtentwurf implizit auch vor der Aufdeckung des humanistischen Grundes des Denkens schon der Fall.34132344

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Schiller (1934) [„Has Philosophy any Message for the World?“], S. 87 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?”], S. 88f. Schiller (1934) |„Must Philosophers Disagree?”], S. 11 Dass dies, die personal-idiosynkratische Basis des Philosophierens, effektiv über fast die gesamte Strecke der Philosophiegeschichte verkannt worden ist, liegt für Schiller am Blick, der immer schon nur auf das Werk oder einzelne Schriften gerichtet war und nicht auf die ganzheitliche Situation, zu der auch die Person des Autors selber zählt, die erst, mit ins Boot der Interpretation gehievt, das verschriftlichte Denken verständlich machen würde: „Unfortunately this cam ouflage too often succeeds in deceiving even ourselves: hence there are many philosophies w'hich are, and wäll ever be, more or less unintelligible, simply because we do not know enough about the 167

Doch erst in humanistischer Durchleuchtung wird deutlich, dass der Rückblick auf die Geschichte der Metaphysik nur dann als die ihres Scheiterns und als philosophiegeschichtliches Argument für einen Skeptizismus zu betrachten ist, wenn man willentlich an der Idee der absoluten Wahrheit festhält, die allein frei von Kontroversen erschaut werden müsste und damit keinen Boden böte für eine solche Geschichte des ewigen Bürgerkriegs im Philosophenstaat. Humanis­ tisch betrachtet wird dagegen die Vielfalt der vergangenen metaphysischen Wür­ fe entzifferbar als „an eloquent paean o f the triumph of personality.”345 Nicht nur, dass die Endlichkeit aller philosophischen Systeme, seien diese extern definiert durch eine keineswegs alternativlose Wahl des Ausgangs und der Implikations­ masse oder intern durch Inkohärenzen innerhalb des eigenen, sich in der Zeit langsam entwickelnden Werks, ein schlicht zu akzeptierendes Echo der Tatsache ist, dass immer jem an d philosophiert, so wertet Schiller dies, befreit vom abso­ lutistischen Kontrast, der darauf nur ein Klagelied des Scheiterns am eigenen Anspruch anstimmen kann, dass gerade diese Imperfektion Grund für die zur eigenen denkerischen Größe gereichende Inspiration philosophischer Systeme ist, würde doch umgekehrt gelten: „A perfectly consistent and clean-cut system would not challenge emendation. [... ] You must take it or leave it: for it leads to nothing beyond itself.”346 Die Endlichkeit schafft allererst Platz für die autonome Perfektibilität aller und ermöglicht im Hinblick auf die Philosophiegeschichte, diese als eine bunte Ahnengalerie der persönlichen Extrapolation in spekulative

men who made them, and so cannot grasp the central idiosyncrasy that held together what to an outside observer seems their incongruous contents.“ Schiller (1924b), S. 387 345

Schiller (1939) [„The Relativity o f Metaphysics”], S. 179 - Dass aus dieser formalen Relation von Person und Denksystem für Schiller jedoch nichts über die inhaltliche Größe gesagt ist, zeigt sich, wenn er andernorts schreibt, dass die Ideengeschichte we­ der viel mehr als eine Handvoll großer Neuerungen aufweist noch umgekehrt es auch kaum leichter wäre, „to count up as many great personalities among philosophers, and even these seem to get not com m oner but scarcer as time goes on.” Direkt im Anschluss schm älert er auch dies, wenn er das Ansehen der „philosophers o f antiquity”, auf das er zuvor anspielte, als „inflated by a strong infusion o f myth” relativiert. Schiller (1934) [„William James”], S. 61

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Schiller (1939), [„The Ultra-Gothic Kant”] S. 121f. Während er dort in seiner Lob­ rede für Inkohärenz und Ambiguität als Grundlage für Einfluss und Inspiration Sokrates, Platon, Hegel und Kant anführt, sind seine Beispiele für „systems which have been relatively consistent” und damit gleichzeitig „poor in developments” eher überraschend: „Who can remember the disciples of Hobbes or o f Schopenhauer or of Nietzsche and the developments they effected?” Ebd., S. 122

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Größenordnungen hinein zu entziffern, welcher auch keineswegs nach dieser humanistischen Entlarvung - in vermeintlicher Metaphysikfeindlichkeit - ein Ende zu bereiten ist, solange sie eben aus dem Bewusstsein ihrer personalen Endlichkeit heraus betrieben tvird und in diesem Sinne der Poesie ähnlicher als der Wissenschaft ist, welche durch ihr intersubjektives Prozedere das Abstreifen von Idiosynkrasien der Beteiligten viel weitreichender praktiziert.3473489 Doch diese von Schiller hier und dort gewählte proto-neopragmatistische Wortwahl, die auch in ihrer bewussten, ironischen Selbstverendlichung bei gleichzeitigem Beibehalt romantischer Vision die Poetisierung der Philosophie eines Richard Rorty vorwegzuehmen scheint, ist mit Vorsicht zu genießen. Zwar lässt sich hier eine grundsätzliche Parallele zwischen beiden im Hinblick auf die strukturelle Division in öffentlichen Dienst und privates Selbstschöpfen aufmachen - Schiller zugespitzt über Letzteres im Hinblick auf den Philosophierenden: „His conclusions were his starting-point“344 - , doch erst bei Rorty wird diese Un­ terscheidung bis zur Zerklüftung radikalisiert. Schiller dagegen denkt auch das zweite, idiosynkratischere Standbein des Philosophierenden am Ende als einem intersubjektiven Adressatenkreis von Denkenden verpflichtet und damit nur in seinem Ursprung als privat, sodass bei aller „Poesie“ der metaphysischen Schöp­ fung Grenzen gesetzt sind und diese damit nicht derart spielerisch konzipiert wird, wie es sich bei Rorty hinter der Formel der „self-creation“ verbirgt.344 Die

347

Insofern hier das Endlichkeitspostulat des m ethodischen H um anism us also auch für die „metaphysischen“ Entwürfe des Guten gilt, sie erst einmal ebenso individuell, relativ und dem zeitlichen Werden geerdet sind und im besten Fall Aussicht auf Universalisierung haben, ergibt sich auch kein Widerspruch zwischen der pragmatistischen Methode und dem humanistischen Anliegen auf ein Gutes hin, wie Krämer dies annimmt: „Dieser metaphysische Großbegriff [gemeint: „die Idee der höchsten Realität eines schlechthin Guten, das der Humanismus Schillers gebraucht - G.K.T.] ist jedoch mit der pragmatistischen Konzeption von Realität als dem relativ W irksa­ men und Nützlichen kaum mehr vereinbar.“ Krämer (2006), S. 251

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Schiller ( 1924b), S. 387 S. Rorty (1989), S. 73ff. Bei Rorty selber finden sich zu Schiller wenige Anmerkungen, die darüber hinaus allesamt in der für ihn typischen Art gehalten sind, nach denen er diejenigen, denen er - wie im Fall von Dewey, Wittgenstein und Heidegger - gegenüber positiv eingestellt ist, epigonal das verkünden lässt, was seine eigene Position ist: „That is why carrying through on F. C. S. Schillers humanism - his attempt to rehabilitate Protagoras’ claim that man is the measure of all things - would mean giving up the idea that there is a special sort of activity called ‘philosophizing’ that has a distinc­ tive cultural role.“ Rorty (2007), S. 85. Diese hermeneutische Magie entzaubert er 169

private Metaphysik, die auf dem Grund des methodischen Humanismus aufge­ baut werden kann, wird zwar von vornherein nicht den Anspruch erheben kön­ nen, für sämtliche Menschen, einer „perfect and complete metaphysic“ gleich, zu gelten, weil sie das Urmoment des Autobiographischen gerade produktiv und selbstbewusst reflexiv miteinbezieht, jedoch sollte sie auch hierbei methodisch weiterhin so weit wie möglich dem Experimentalismus als effektivster Form des Einsichtigmachens gegenüber Dritten verpflichtet bleiben, zielt sie doch auf eine Sicht der Welt und mit ihr eines Verständnis des Menschen, d.h. auch der ande­ ren in der Welt und - sollte dies nicht völlig solipsistisch begriffen werden - auch fü r diese: „It will have to verify its conjectures by propounding doctrines which can be acted on, and tested by their consequences. For subjective value any philosophy must of course have for its inventor. But a valid metaphysic must make good its claims by greater usefulness than that. It need not show itself,cogent“to all, but it must make itself acceptable to rea­ sonable men, willing to give a trial to its general principles.“5“"

Die metaphysische Spekulation über die letzten Dinge350351 wird also nur so weit von der Leine gelassen, insofern sie dem Wissen, das der (humanistisch aufgeklärten)

andernorts selber, wenn er ehrlicher schreibt: „ Vermutlich wollte Schiller darauf hinaus [...] “, Rorty (2000), S. 80, Herv. d G.K.T

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Der einzige m ir bekannte philosophiewissenschaftliche Vergleichs- und Annähe­ rungsversuch zwischen Rorty und Schiller findet sich in M cDermid (2006), doch ist auch dieser wie die meisten anderen gegenwärtigen Schiller-Rekurse von vornherein verengt durch den exegetischen Blick allein auf das Wahrheitsproblem, hier in Form der Kritik der Korrespondenztheorie: s. McDermid (2006), S. 15fF. Man könnte auch versuchen, eine zumindest ähnlich gesinnte Doppelstruktur wie die, die den Humanismus Schillers zweiteilig strukturiert, in der Philosophie M. Foucaults ausfindig zu machen: zwischen der methodisch allgemeinen M acht­ entlarvungsstrategie hinter allen abstrakten, rechtlichen Diskursen (parallel zum methodischen Humanismus) und der individuellen Rekapitulation auf die private Kultivierung in Form der „Selbstsorge“ (parallel zum ethischen Kernanliegen des prophetischen Humanismus: der Selbstkultivierung). Schiller (1907) [„The Definition of Pragmatism and Humanism“], S. 20 In seinem Vortrag über die „Burning Questions“, deren sich die Philosophie anneh­ men sollte, präsentiert Schiller (unsystematisch) eine Vielzahl an Fragen, die sich wohl am ehesten an den zweiten, metaphysischen Ort seiner Philosophiekonzeption richten. Eine Einordnung, die auch dadurch nahegelegt wird, dass es genau diese Fra­ gen sind, auf die er fast ausschließlich in seinem prophetischen Humanismus als seiner „privaten“ Metaphysik versucht, eine Antwort zu finden: „What should we mean by God? How are the various ‘Gods’ related? And how proved? What is the problem

Naturwissenschaft Vorbehalten bleibt, nicht nur nicht widerspricht, sondern statt bodenlose Fantasy - als kritische Spekulation das soweit wie möglich verfizierbare Wissen von morgen zu sein erhofft. Umgekehrt heißt dies, dass sie dadurch auch dem wissenschaftlichen Funktionsprinzip des Meliorismus in Form des Fallibilismus untergeordnet bleibt: “But of course he [der spekulierende Philosoph - G.K.T.] should always remain acutely conscious of the difference between speculation and knowledge: he should not get conceited or dogmatic and should always remain willing to accept from the sciences whatever corrections his speculations may require.”352

Schwer bis unmöglich ist diese Beschreibung einer „konkreten Metaphysik“ - um den Begriff vorwegzunehmen, den er in den Riddles in seiner im Vergleich zum Späterwerk viel ausdifferenzierteren Betrachtung der Metaphysik für seine Posi­ tion gebraucht (s. Kap. 4.1.1.) - bei Schiller noch zu unterscheiden von seinem pragmatistisch reformierten Religionsverständnis. Beides scheint miteinander zu koinzidieren und deckungsgleich zu werden, weswegen der zweite Teil der Arbeit unter die Bezeichnung des philosophisch-religiösen Amalgam eines prophetischen Humanismus gestellt ist. Denn auch die Religion wird, parallel zur Reformation der Metaphysik, von der selbstreferentiellen Ebene der dogmatischen Exegese von Schriften aus der Vergangenheit als Ort der letzten Wahrheiten re-existenzialisiert: als Antwort auf ein Bedürfnis der Explikation des Selbst und zu seiner die menschliche Situation über das Hier-und-Jetzt hinaus idealisierenden Projektion: „The religious question for each of us becomes - ,In what belief shall 1 find the overbelief, the supplementation and transfiguration of my workaday beliefs, which will interpret my experience for me and set at rest my soul?“353

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of evil? And why is it so difficult? Is life worth living; is death worth dying? What about a future life? How is progress possible? Can the human race be improved? Can happiness be attained, or is it an illusion?“ Schiller (1939) („Burning Questions”], S. 17 Schiller (1939) [„Has Philosophy any Message for the World?“], S. 88f. Das in dieser Arbeit ausgesparte, aber dennoch, wie bereits im „Überflug“ angesprochen, lohnenswerte Projekt eines Vergleichs der kosmologischen Metaphysiken von Peirce und Schiller erfährt neben der inhaltlichen Größenordnung damit auch eine von Kant derivierte methodische Gleichartigkeit, bindet Peirce doch ebenso die Spekulation in optimistischer Hinsicht an das sie erdende Gegengewicht der Erfahrung: „Where hope is unchecked by any experience, it is likely that our optimism is extravagant.“ Peirce (1877), S. 112 Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 310 171

Schiller holt, wie später auch Dewey (Kap. 4.2.3.)354, die Religion vom arkanen Theologenhimmel durch eine „revolution in apologetic“355356herab, um eine „genuine religion“, die insofern ehrlich und wahrhaftig ist, als sie einer „genuine demand“ entspricht, gegenüber der Hypostase einer „stationary religion“ nach dem iModell der Theologie starkzumachen, die ausschließlich auf die Autorität von etwas vermeintlich „self-evident“, in der Vergangenheit Offenbartem setzt und sich damit veränderungsresistent durch eine gewisse, sich dem gesellschaft­ lichen Wandel entziehende Kaste hindurch tradiert, während alles Religiöse für die Allgemeinheit - analog zur Professorenschaft als Usurpator der Philosophie gegenüber der Öffentlichkeit - immer ferner, künstlicher und bedeutungsloser wird und zu einer Ansammlung von „half-beliefs“ (Kap. 3.6.) regrediert.355 Dem

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Im Exkurs zu Dewey wird deutlich werden, wie sehr sich beide in diesem entsubstantialisierten Religionsverständnis als einem transzendierenden Überschreiten des So-Seins der Welt einig sind. Wohl nicht zufällig stehen sie beide hierin letztlich in der „Schuld“ von James (1902), der innerhalb des Pragmatismus zuerst von der exklusiven Anbindung an Inhalte zu bestimmten Erfahrungstypen hin umgeschaltet hat, um das Phänomen vitaler Religiosität zu verstehen. So könnten folgende Sätze ebenso aus der Feder von Dewey stammen: „Whoever [...] has an ideal, and can conceive a better than his actual experience, is fundamentally religious. [...] But let us not confound religion with theology. Theology has mostly been a fruit o f priestly leisure rather than of spiritual experience. [...] Genuine Religion cannot be stereo­ typed or fossilized, as theolog}’ always tends to be.“ Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 31 Iff. Streng genommen gibt es im Hinblick auf das metaphysische bzw. religiöse Spekulieren damit auch kaum einen Nicht-Philosophen wie auch kaum einen Nicht-Religionsstifter. Spricht Schiller hier in der Folge bei beiden von einer exklusiven Gruppe, so kann dies nur relativ verstanden werden: von Personenkreisen, die sich besonders intensiv der idealisierenden Praxis hingeben, die jedoch der conditio hum ana generell mitgegeben ist. So spricht er von den religiösen Schöpfern als von denen, die sich am weitesten vom Common-Sense-Realismus, der, weil er auf das bereits Funktionierende setzt, das Reale als das Ideale denkt, zu entfernen trauen und dabei umgekehrt das Ideale als das Reale denken: „Religions are created by exceptional men for whom spiritual things are intensely real; but they soon get watered down, discounted, and adapted to the needs and outlook of the ordinary man for whom the spiritual w'orld is normally a half-belief.“ Schiller (1924a), S. 64

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Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 315

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Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 312. Hier deutet sich der Antiklerikalismus Schillers an, den er darüber hinaus mit Dew’ey teilt und der gänzlich in seinem eugenischen Humanismus deutlich wird (Kap. 4.1.3.) als ein in seinen Augen effektiverer Umsetzungsversuch christlicher Werte, der sich gerade darin nicht der Unterstützung des selbstreferentiell institutionalisierten Apparats des Christentums

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entgegen setzt er, seinem methodischen Humanismus gemäß und identisch zu seinem Gegenentwurf zum Verständnis der kleinen bis großen metaphysischen Wahrheitsansprüche357358, als Ausgangspunkt die radikale Egalitarisierung und Individualisierung der religiösen Sichtweisen, die sich im Sinne ihrer Bewahr­ heitung im intersubjektiven Raum gegenüber anderen behaupten müssen: als besserer Lebensentwurf in die Zukunft hinein, der die Wissenschaft durch ein die gegenwärtige Forschung übersteigendes Meta-Narrativ humanisierend supplementiert, welches diese als reflexiv gewordene selber einfbrdert, bedeutet sie doch nichts anderes als die erfahrungsrobuste Verständlichmachung des Men­ schen und seiner Welt für den Menschen selbst.'58 So enden bei Schiller sowohl Wissenschaft und Metaphysik wie Religion in derselben Mission in Hinsicht auf

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gewiss sein kann: „Besides, the proposal to put Christian principles into practice would be bitterly opposed by all the Churches in Christendom.“ Schiller ( 1924c), S. 56; s. dazu auch: Schiller (1932), S. 133ff. Diese Kritik an der Vorhandenheit einer absoluten Wahrheit mit dem Ziel, sie zu einem experimentellen Ideal zu transformieren, findet sich bei Schiller auch in der Kritik an der Überzeugung wieder, es gäbe in der Lebenswelt einen reinen Monotheis­ mus. Stattdessen kann ein solcher gegenüber dem tatsächlich vorherrschenden Poly­ theismus bestenfalls als Ideal einer harmonisierten Zukunft pragmatistisch gewendet und gerettet werden kann: „We may premise that, socially speaking, every difference in the conception of God entertained by different person, or by the same person at different times, functions as a different ,God‘: for this reason the normal condition of every society that is not completely atheistic - and probably no such society has ever existed - is necessarily polytheistic.“ Schiller (1934) [„Man’s Limitations or God’s?“], S. 297 Auch hier findet sich damit eine weitere Parallele zur Kritik der Konzeption der absoluten Wahrheit, die faktisch dem Agnostizismus und seinen Folgen Vorschub leistet, indem die Absolutheit als das der menschlich-endlichen Welt Entrückte in unerreichbarer Ferne zu erscheinen droht: Ebensowenig soll Gott in einer unüber­ brückbaren Transzendenz gesucht werden - wird hier doch wiederum nur dem Atheismus als unendliche Gottesferne Vorschub geleistet, wie der Deismus des 17. und 18. Jahrhunderts historisch gezeigt hat - , sondern gerade in seinem weltlichen Wirken, insofern sich die Welt teleologisch, d.h. als intentionales W irken einer „divine intelligence“ mit „divine purposes“ konsistent beschreiben lässt. Der Gewinn für die Religion bestünde für Schiller dann darin, „logically on par with the scientific [attitude]“ gestellt zu werden: „What could be better calculated to restore its selfrespect to Religion?“ - Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 315. Wie so etwas genauer aussehen könnte, zeigt sein spekulativer H um am ism us, der somit sowohl Religions- als auch Metaphysikentwurf ist. 173

ihr optimistisches Ziel: das Durchdringen und damit Verbinden des Menschen mit dem, was ihn umschließt und umgibt, für ihn und mit seinen Mitteln359: „All ultimately aim at alleviating the crushing burden of this unintelligible world. All strive to make it intelligible by making it inhabitable. All are justified in what they do by their success, and would eliminate themselves by failing in their aim.“iWl

Dieser humanistische Angriff auf die Religion in absolutistischer Fassung (wie auf die Wissenschaft und die Metaphysik) ist für Schiller also dezidiert keiner auf jede ihrer Formen, sondern allein auf die „merely intellectual view o f reli­ gion“, sodass das Ziel in der Befreiung von restringierendem Theologen-Ballast besteht, welcher lebendige Religiosität nur in diesen oder jenen Orten, Bildern und Sprachformen zulassen will, indem er eine und darin für das Phänomen als Ganzes gesehen kontingente Tradition zum ontologischen Inquisitor von Religi­ on an sich erklärt: Positiv gewendet geht es Schiller auch hier um eine vorurteils­ freie Pluralisierung, sodass die religiöse, idealbildende Flaltung „may appreciate the richness and variety of human nature.“361 Und wie beim metaphysischen Entwurf des Philosophen geht es beim religiösen Streben des dem gegenüber der real vorhandenen Erfahrung der Menschen geläuterten „spiritual adviser“362 ebensowenig um ein opiathaftes Abdriften, sondern um eine empirisch orien­ tierte, sukzessive Verwirklichung des Ideals: um ein wirksames Bereichern und Verbessern der irdischen Realität, das die Validität des Ideals reziprok immer einsichtiger werden lässt und bestärkt. Dies gilt nicht minder für das humanis­ tisch gestimmte Organon der Metaphysik, welches, im Unterschied zum Status quo der Wissenschaften und ihrer sepzifischen Erklärungen innerhalb einzel­ ner Bereiche, eine prophetische Vision aufs Ganze gehend entwickeln kann und muss, will es ein unparzelliertes Bild des einen, harmonisch menschlichen Le­ bens zeichnen, das, wie ein Blick in die Welt offenbart, (noch) nicht realisiert ist und sich dennoch genau dort, in der Welt als Gerichtshof religiöser bzw. me­ taphysischer „truth-claims“, stellen muss363: Denn nur hier, im allumfassenden*S o

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Darin völlig anders als dem nicht minder, eher mehr an Religion gelegenen James, dem die Brücke zur natürlichen Theologie unwiderbringlich zerstört zu sein schien: Kap. 3.2. Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 316 Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 312 Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 310 So ist die logische Gleichstellung von Wissenschaft und Religion - und eben auch Metaphysik - zu verstehen: „The effect o f this is to put the religious attitude toward the world logically on par with the scientific, by proving the essential identity of their methods.“ Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 315

Raum der Menschheit, gibt es die „versuchsanordnende“ Kapazität zur prakti­ schen Beurteilung universeller, d.h. auf die Ganzheit des Menschen und seiner Stellung im Kosmos hin formulierter Perspektiven. Diese Spekulationen müssen für Schiller als kritische, experimentelle, zwecks „duty to test beliefs“364 jenseits einer bloß papiernen Widerspruchsfreiheit idealiter darauf zielen, das Leben der Menschen für jeden Einzelnen wie für das Gemeinwesen so zu verbessern, dass daraus ein „agreement“365 ihnen gegenüber entsteht: „For a perfect and complete metaphysic is an ideal defined only by approximation, and attainable only by the perfecting of life. For it would be the theory of such a perfect life, which no one as yet is contriving to live.“366

Eine Ambition, deren schierem utopischen Gigantismus sich Schiller durchaus bewusst ist, wie der zweite Satz des Zitats verdeutlicht, und die dennoch nicht nur immer wieder angegangen wird, sondern der auch immer wieder nachge­ gangen werden sollte: Zum einen, weil metaphysisch-religiöse Übersteigerung schlicht „rooted in the human heart“ ist und „one of the most important of our psychological instincts“367 formt. Zum anderen, weil die unmöglich anmuten­ de Aufgabe der Verbesserung hin zu einem Optimum, einem summum bonum , das gerade nicht alles absolutistisch verschluckt, sondern die Pluralität bewahrt, indem es sie ordnend zusammenklammert und so verhindert, dass sie sich in ein Chaos disseminiert, nur um den Preis gänzlich aufgegeben werden kann, dass die am Horizont immer schon gescheitert wirkende Ambition sehenden Auges in die dankbaren Hände des Pessimisten fällt, der aus der approximativen Unmöglichkeit eine notwendige, absolute werden lässt und sie von daher in die umgekehrte, katastrophische Richtung auf ein summum malum als absolute Ir­ relevanz des Einzelnen wie des Menschen überhaupt umlenkt (s. Kap. 2.1-3.). Es ist dies der Versuch einer vollwertigen, optimistischen Antwort auf das Rätsel der Sphinx, das Schiller, wie viele seiner Zeitgenossen, als die Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos, nach der synthetisierenden Schau, der „ultimate unity of life“368 versteht, die dem Leben eine Aufgabe, ein Ziel, einen

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Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 315 Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 319 Schiller (1907a) [„The Definition of Pragmatism and Humanism”], S. 21 - In Bezug auf die Religion schreibt er äquivok: „Religions will set themselves to establish their truth, not by doctrines and dogmas, but by confirming and ministering to the good life.“ Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 317 Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion“], S. 310

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Schiller (1891), S. 9 175

Sinn gibt - in einer Zeit des vielschichtigen sozialen, politischen, wissenschaft­ lichen Aufbruchs wie des zentrifugalen Ausbruchs ebendieser vielen Schichten aus einem einheitlichen Ordnungsparadigma heraus. Eine Frage, auf die der Mensch nach bestem Wissen und Gewissen antworten muss, droht ihm doch sonst im Hinblick auf sich selber wie über kurz oder lang auf die Entwicklung des Menschengeschlechts und dies nicht nur im antiken Mythos - der Untergang.3®

3.8 Auf halber Strecke - Rückblick und Ausblick Die Rekonstruktion des methodischen Humanismus Schillers kann hier abge­ schlossen werden, denn das Wesentliche ist markiert: das Aufdecken des mensch­ lichen Fingerabdrucks, richtiger: der Fingerabdrücke sämtlicher volatiler Ebenen des Menschen, seien diese ästhetische, ethische, kognitive oder eudämonistische, als Konstitutionselemente in allem, was dem Menschen an Welterfahrung da­ durch, dass er sie macht, zuteilwird. Dabei ist auch dies synchrone „Machen“ in diachroner, kultur- bis evolutionärgeschichtlicher Perspektive qua Habitualisierung von ihm (gattungsgeschichtlich) selbst erzeugt. Die vermenschlichenden Axiome sind einst selber menschliche Postulate gewesen. Die menschliche Pra­ xis ist hiernach für Schiller doppelt entscheidend: Makroskopisch bezogen auf den Weg des tastenden Versuchs der Chaosminimierung des Menschen hin zu verfestigten Kategorien seines Denkens, die sich kaum noch abändern lassen, weil369

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Neben den zahlreichen Schriften seiner Zeit, die wie auch Schiller auf die Fragestel­ lung der Sphinx anspielen, von Ch. S. Peirce (1887-88) bis E. Haeckel (1899), ist wohl im Hinblick auf die Rekonstruktion Schillers die theosophische Zeitschrift „Sphinx“ (1886-1896) zu nennen, nicht nur, weil er selber sich in seinem spekulativen H um a­ nismus spiritistischer Elemente bedient, sondern auch durch dezidierte Lobpreisung seinerseits [Schiller (1894)] des Werks von Carl Du Prel (1839-1899), einem der Hauptautoren der Zeitschrift sowie Verfasser mystisch-okkultistischer Schriften. Ein geistesgeschichtlicher Schulterschluss Schillers mit den selbsternannten „Geheim­ wissenschaften“, deren genauere Untersuchung zur Aufdeckung seiner Quellen und Einflüsse nicht nur gänzlich aussteht, sondern diese auch vielversprechend machen würde. Einzig Porrovecchio berichtet - und dies rein anekdotisch - über Schillers schon frühe Aufgeschlossenheit gegenüber der Esoterik in Form eines Besuchs einer Séance: Porrovecchio (2011), S. 9. Zur Geschichte des als Urfrage wirkungsmächtigen Symbols der Sphinx: s. Regier (2004). Eine kulturgeschichtliche Revue, in der auch Schillers Interpretation mehr­ fach Erwähnung findet als einer „spiritual Sphinx“, die die Menschheit seit jeher begleitet und damit auch die „material Sphinx“ von Gizeh zum geistigen Archetypen transzendiert: „it is as old as reflection, as old as knowledge, and, we maybe assured, will last as long.“ Schiller (1891), S. 9

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sie in die die Generationen überdauernden und diese prägenden Institutionen übergegangen sind und sich so als natürliche, apriorische maskieren, indem sie sich als von allen „gesunden“ Menschen habituell geteilte Wissensarrangements geben.370 Sowie mikroskopisch bezogen auf die persönlichere Ebene, auf der Ent­ scheidungen, die einen Unterschied machen, eher aufkommen können, weil die vorgängigen Globalkategorien von Substanz, Identität, der DifFerenz zwischen Innen- und Außenwelt derart weit und abstrakt gefasst sind, dass sie unterhalb ihrer selbst der Stellung, die jeder Mensch als autonomes Wesen einnimmt und diesem einen jeweils einzigartigen biographischen Erfahrungsschatz ermöghcht, weiterhin Luft zum Atmen lassen, wodurch der Einzelne eigene Weltanschauun­ gen durch die Wahl von „living hypothesis", die ihm als singulärem Individuum entsprechen, herausbilden kann. Auf beiden Ebenen des Menschen als Kollektiv- wie Individualwesen ist der Schiller’sche Elumanismus bisher ein methodologisch negativer, insofern er vor allem dazu dient, Monopolisierungen, die mit der Immunität eines So-ist-es auftreten, dadurch in die Schranken zu weisen, dass gezeigt werden soll, dass jedes So-ist-es letztlich niemals mehr als ein So-soll-es-sein '1 ist, dessen Fakten anordnender und sie darin erst aussagekräftig machender Wertmaßstab immer eine komplex sich gegenseitig stützende Wahl neben anderen ist: eines Kultur­ kreises, eines Berufsstandes, vor allem aber eines Menschen.372

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„Society exercises almost as severe a control over the intellectual as over the moral eccentricities and nonconformities of its members; indeed it often so organizes itself as to render the recognition o f new truth nearly impossible.“ Schiller (1907a) [“The Ambiguity of Truth”], S. 153. Und andernorts zur Gesellschaft als Wahrmacherin: “It is obvious, for example, that delicate questions may arise out of the fact that not only does what works receive social recognition, but also that what receives social recognition for this very reason largely works.” Schiller (1903) [“Truth”], S. 59f. - Herv. d. G.K.T. In negativer Variante, dass der Wille der Tatsachenanordnung vorausgeht und so auch willentliche Notwendigkeit konstruieren kann, drückt dies Schiller so aus: „But behind the ,can’t' there always lurks a .won’t’: the mind cannot stultify itself, because it will not renounce the conceptions it needs to order its experiences. The feeling of necessity, therefore, is at bottom an emotional accompaniment of the purposive search for the means to realise our ends“. Schiller (1902), S. 70 In dieser Letztfundierung der Realität in der ethischen Weitperspektive des IndividualIchs statt des Klassen-Ichs liegt eine der wenigen Differenzen zum Anliegen der frü­ hen Frankfurter Schule, die sich zwar - historisch-faktisch - reichlich polemisch (mit Ausnahme des Undogmatischsten bzw. theoretisch Frivolsten unter ihnen: Herbert Marcuse) gegen den Pragmatismus in Stellung gebracht hatte [s. hierzu: Dahms (1994), 177

Dass bei Schiller dem Menschen nichts ohne des Menschen Aktivität gegeben ist, dass damit hinter der Welt, so wie sie sich vermeintlich von selbst gibt, Wah­ len zwischen alternativen Wertungen und bestimmten zweckorientierten Inter­ essen, kurzum: „values“ stehen, die in der Lebensspanne durch das Individuum gebildet werden, so wie diese wiederum das Individuum spezifizieren, Wertun­ gen „not only facts themselves, but the ultimate determinants of all the ,facts' we recognize" - dies alles bedeutet, dass der letzte Horizont der Analyse die nicht mehr hintergehbare Freiheit im Sinne der Unmöglichkeit einer abstrakt-gesetz­ lichen Kodifizierung ist. ,,[D]ifferences in valuations are irreducible, and not amenable to coercion by logic or by fact. They attest man’s ultimate control over his experience: whatever it may be, he has the last word”.:ri*37

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S. 191-225], tatsächlich jedoch sowohl in der Grundeinsicht, dass sich Gesellschaft in Verklärung des sie eigentlich fundierenden Wertsetzungshorizonts als „Objektivität“ und „Sachzwangsverhältnis“ präsentiert - s. dazu v.a. Schillers Kapitel „The Social Effects of Formal Logic“, in: Ders. (1912), S. 394-409 - , als auch in der Zielvorstellung dem Schiller sehen Humanismus gleicht. Ein Ziel, das Horkheimer in der Anstrengung sieht, „eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt.“ Die Kritische Theorie ziele „nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen.“ Horkheimer (1937), S. 263 Schiller (1934) [„Novelty“], S. 234 - Wie bereits zuvor eine Verwandtschaft zwischen dem existenzphilosophischen Stoizismus von Camus und Russells „free man“ auf­ gedeckt wurde, wird spätestens hier umgekehrt deutlich, wie nah Jean-Paul Sartres Existenzialismus den Philosophien von Schiller und von James ist, wobei Sartre Letzteren tatsächlich nachweislich gelesen hatte [bspw. Sartre (1943), S. 218]: „Die Wahl dagegen [...] gibt, eben weil sie Wahl ist, über ihre ursprüngliche Kontingenz Aufschluß, denn die Kontingenz der Wahl ist die Kehrseite der Freiheit.“ Sartre ( 1943), S. 980. Besonders deutlich wird dieses existenzialistische Dispositiv bei Schil­ ler an Stellen wie diesen: „Deep down in the heart of man lives a chronic Fear of the weird world in which he finds himself so inexplicably plunged [...]. This Fear is usually kept under by the fabricated order of the social life, and kept drugged by the traditions, conventions, creeds, and mechanisms of a social routine. But under ab­ normal conditions it breaks out“. Diese Stillung der Angst führt dann entweder zum „mauvaise-toi“ (Sartre) der Konstruktion absoluter Sicherheit durch Ewigkeitsfiktio­ nen, wie die Formale Logik sie darstellt, oder aber zur authentischen Annahme der freiheitlichen Grundsituation durch couragierte, sukzessive Bewältigung derselben: Der Mensch „must react, must show initiative, must attack the problems of his life, must experim ent boldly, and manipulate and alter the given conditions, speculating'

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Homo hom ini summum bonum - der Mensch als des Menschen höchstes Gut ist in diesem Teil deskriptiv zu verstehen: Er bleibt irreduzibel Dreh- und An­ gelpunkt als Weltwahl. Kein Weg zur Welt, der nicht über den Umweg Mensch führt. Mischt man die beiden komplementären Ingredienzien zusammen - nichts ist an sich gegeben, weil alles, was gegeben ist, wähl-, interesse-, wertrelativ ist und es der Mensch ist, der wählt und selektiert - erhält man das Medikament, das der m ethodische Humanism us Schillers dem Pessimisten zu verabreichen vermag: Die Erkenntnis des Pessimismus ist kein von außen auf den Einzelnen herniederfahrender Schicksalsschlag, sondern er wird zu einer selbst mit hervor­ gebrachten Realität. Sein Gehalt ist keine naturwüchsige fatal-letale Externalität, sondern vielmehr eine Extremität der eigenen Wahl, kein hinzugekommener Fremdkörper, sondern verbunden mit der gesamten Welteinlassung, dem ge­ samten Glaubensbekenntnis des Individuums und von diesem stetig durchblutet und mit Leben erfüllt: eine Haltung, die somit über Willenstransformationen umgekehrt auch verändert werden kann. So ist die deskriptive Aussage - als Selbstanwendung der Perspektive der Priorisierung des Ethischen über das Kon­ zept des Objektiven als Vorgefundenem - nur quasi-deskriptiv, weil selbst ein­ gelassen in das normative Projekt eines therapeutischen Antifatalismus-,'4: Wenn

and running risks. And, if he is defeated, as he always is at first, he must never say die, but must try again, more intelligently.“ Schiller (1921a), S. 414 - Herv. i.O. Doch wie der obige Absatz zur Befreiung der Natur gezeigt hat, wird die Formel Sartres und des Existenzialismus überhaupt von der Vorgängigkeit der Existenz gegenüber der Essenz bei Schiller (und in James’ radikalem Empirismus) sogar radikalisiert, insofern dieser, den anthropozentrischen Fokus Sartres sprengend, nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Natur gilt. Dennoch bleibt die Fundamentalisierung der Freiheit als Wahl die Gemeinsamkeit, die darüber hin­ aus als gemeinsames Erbe von Fichtes Versuch einer Überwindung des kantischen Dualismus durch Primärsetzung der praktischen Vernunft gelten kann. Insofern ist, Schiller spezifisch, hier weniger „a clear expression o f the Kantian thread in pragmatism“ (Pihlström [2011 ], S. 15) als eine Fichteanische „Bedrohung“ zu sehen. Nicht nur entspricht dies Schillers eigenem Vorhaben, er verweist explizit auf Fichte als dem einzigen vorbildlichen Post- Kantianer: Schiller ( 1902), S. 89, hierzu ebenso: Sturt (1906), S. 142. Egal, wie weit man nun dieses Individualitäts- und Freiheitsfundament genealo­ gisch zurückverfolgen will, im Fall des m ethodischen H um anism us (und James) liegt Winetrout richtig, wenn er von einem „existential thrust“ spricht: Winetrout 374

(1967), S. 10. Diese Selbsteinholung der Ethik als prim a philosophia bei Schiller, die, so ja die zentrale These der vorliegenden Arbeit, selbst aus ethischen Motiven gegen den Pessimismus 179

jede Weltanschauung eine gewollte ist, dann hört der Pessimismus auf, das onto­ logische Gefüge an sich zu bezeichnen: Er ist nicht notwendig, sondern möglich, selbst wenn deutlich wurde, dass Schiller den faktischen Spielraum hierzu in seinen späteren Schriften immer mehr verkleinert (s. v.a. Kap. 3.6. im Rahmen der implicit beliefs). Und dennoch: Der Pessimist bleibt „of course, free to be determined, if he is not determined to be free. But he maybe enabled to perceive how arbitrary his procedure is, if it is pointed out to him that similar alter­ natives and occasions for real choices occur all over the philosophic field. Thus [...] the choice between the optimistic and the pessimistic interpretation of experience is an open one, and confirms itself when made, though no man can be forced to adopt either in its integrity’.’373*37568

Besteht das biologische Spezifikum des Menschen darin, dass er sich als Gat­ tung in eine Gattung der Individuen ausdifferenziert und damit zugegeben wer­ den muss, dass „men are different, and differ in their experience“ und „the data which have to be valued, nor the standards by which they are valued, can really be the same“176, liegt hierin auch die Begründung für die im vorigen Unterkapitel thematisierte Buntheit der „extent, variety, and persistence of the divergences of opinion“. 177 Es ist das Ziel dieses m ethodischen Humanismus, die hinter jeder vermeintlichen Evidenz existierende, nivellierte Urwahl zum Vorschein zu brin­ gen und damit die Pluralität der Alternativen als Konstituens einer von jedem Einzelnen zu treffenden Wahl sowie die Unhintergehbarkeit der eigenen Verant­ wortung zu betonen, mit dem die Vielfalt anerkennenden Ergebnis: „It behoves the true philosopher therefore, to be tolerant“178. Der m ethodische Humanismus in ethischer Hinsicht: das Relaxans des Urteils- und vor allem Verurteilungs­ muskels, der anabolisch auf ein Maximum durch die absolutistische Wahrheits­ theorie des Intellektualismus trainiert wird, die für Schiller mit ihrem „An-sich“ die „theoretic justfication“ des „demon of intolerance“ und von dessen „atroci­ ties“ bildet, bei gleichzeitiger Diskreditierung der „toleration“ als „despicable act

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formuliert wird, verkennt der Aufsatz von McDonald (2003) und provoziert damit beim Leser zwangsläufig das (eben unbegründete) Gegenargument der Selbstwider­ sprüchlichkeit Schillers, nach der die Priorisierung der Ethik über die Metaphysik selbst eine metaphysische Position ist. Schiller (1907b), S. 237. Herv. d. G.K.T. - Die Rede ist hier zwar von Russell, Schiller benutzt diesen jedoch als pars p ro toto für den Skeptizismus. Schiller (1902), S. 50 - Herv. i.O Ebd. Schiller (1902), S. 51 - Herv. d. G.K.T.

of cowardice“.379 Zeigt der Absolutismus darin sein geradezu vor modern provin­ zielles Antlitz, bedeutet die Betonung von Individualität, Pluralität und Diffe­ renz das Anerkennen von Tatsachen und Werten „only a bigot or a pedant can ignore“380. Und doch können sie ignoriert werden. In der Hinsicht ist es konsequent, dass auch die Toleranz kein Automatismus, keine notwendige Folge innerhalb des Schiller sehen, jegliche Notwendigkeit in letzter (theoretischer) Konsequenz aussetzenden Voluntarismus ist, sondern nur durch die initiale Kontingenz der Wahl nahegelegt wird: Es kann schon al­ lein deswegen keine unumstößliche Notwendigkeit nach sich ziehen, wenn der m ethodische Humanismus eine universelle Theorie der menschlichen Situati­ on sein will und damit die Positionen rationalistischer Couleur als mögliche mitumfassen muss, selbst wenn diesen dann aus seiner Perspektive das volatile, nicht-notwendige Gewähltsein innewohnt und die Person ihren fundamentalen Träger ausmacht. Dem m ethodischen Humanisten erscheint das Absolute so le­ diglich noch als „my Absolute“.381 Die Vielheit der philosophischen Systeme und Theorien wie jeder Lebens­ anschauung besteht für den methodischen Humanismus also darin, dass ,,[t]hey testify that in our final attitude towards life our whole personality must be con­ cerned, and tend to form the decisive factor in adoption of a metaphysic.“382 Diese Ganzheit des Menschen im emphatischen Sinne (im Unterschied zu sei­ ner bloß daseienden Komplexität) liegt für Schiller aber keineswegs (schon) romantisch-harmonisch perfekt vor noch lässt sie sich leichterhand realisieren,

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Schiller (1934) [„Pragmatism, Humanism, and Religion”], S. 308f.

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Schiller (1934) [„Our Natural Relativity”], S. 163 Zwar wird diese Formulierung in satirischer Absicht von Schiller gebraucht, dennoch ist sie aus der humanistischen Logik heraus richtig: Schiller (1901), S. 6. In seinen Beliefs widmet sich Schiller eingehender der Frage, wie das Fortexistieren derjeni­ gen philosophischen Positionen erklärt werden kann, die pragmatistisch betrach­ tet fruchtlos und damit sinnlos sind - aber eben doch nicht zur Gänze, denn wie könnte sonst ihr Wirken und Vertretenwerden in der Vergangenheit und Gegenwart pragmatistisch verstanden werden? Konkret geht es dabei um den kategorischen Imperativ (praktischer Attraktvitätsgrund: als „conveniently vague, attitude of moral enthusiams, and a refusal to be trouble by the sordid details o f moral problems“), die Konzeption absoluter Wahrheit und die Unterscheidung zwischen „knowledge“ und „opinion“, epistem e und d oxa (praktischer Attraktivitätsgrund für beides: Ab­ sicherung gegen „ever-changing [...] truth“) sowie den Pantheismus (praktischer Attraktivitätsgrund: als „equating of the totality o f reality with ,God“‘ Ausdruck des „secret craving“ nach Einheit). Schiller (1924a), S. 137ff.

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Ebd. 181

befindet sie sich doch durch ihre evolutionäre Herkunft und, wie im zweiten Teil der Arbeit deutlich werden wird, bedingt vor allem durch soziale Unordnungen (noch) in einem extrem dynamischen Widerstreit ästhetischer, ethischer, kogni­ tiver und eudämonistischer Präferenzen, denen die Welt und die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht - von der Mortalität des eigenen Lebens ganz zu schweigen schlicht und ergreifend (noch) nicht gerecht zu werden vermag und die damit wider der theoretischen Einsicht der Freiheit des Menschen praktisch weiterhin der Letargie des Pessimismus zuarbeiten. (Kap. 2.3.) Bei der bisherigen Negation eigener wie fremder Allmachtsansprüche durch den methodischen Humanismus muss es aber nicht bleiben, bezeichnet sie doch im Umkehrschluss die Möglichkeit, die eigene Option positiv wählen zu können. Denn obzwar aus dieser weiten Perspektive des methodischen Humanismus ent­ deckt werden kann, dass alle Bauten auf ein und demselben sie tragenden Funda­ ment der mehr oder weniger freiheitlichen Wahl stehen, folgt daraus nicht, dass jedes Haus gleich gemütlich wie prachtvoll oder jedes für jede Gegend gleichartig geeignet ist. Zwar leuchtet schnell ein, dass der Skeptizismus im Theoretischen wie der Pessimismus im Praktischen nicht die angenehmsten Lebensformen darstellen, doch ist das bloß formal-allgemeine Pochen darauf, dass jeder seinen Wohnort frei wählt, da er ja auch umziehen kann, nur schwerlich motivierend383,

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Zwar kann der m ethodische H um anism us als Angriff auf Positionen eines dehumanisierten Denkens selbstgenügsam vetreten werden, um dann (bestenfalls) einem Schiedsrichter gleich für die Pluralität d er anderen zu sorgen. Schiller ist sicherlich nicht ganz unschuldig, wenn seine Kritiker und mit ihnen seine sowieso schon spär­ liche Rezeption ihn genau auf diesen Aspekt des polemischen - selbsttitulierten „desperado“ [Schiller (1934) [„Novelty“], S. 214] reduziert haben, hat er doch mit Ausnahme seines ersten Buchs, den Riddles, allzu oft auf das Aufdecken von Aporien seiner „absolutistischen Gegner“ abgezielt, anstatt deutlicher das eingeforderte Fundament der Vielheit gerade dadurch zu würdigen, dass er die Palette um seine eigene Metaphysik bereichert. So schreibt Durkheim sicherlich nicht ganz unbe­ gründet in seinen bereits zitierten Vorlesungen zum Pragmatismus über Schiller: „Zurückhaltung bei der Darlegung seiner Gedanken ist ihm fremd, ja, er neigt gar zu Übertreibungen und sucht den Zuhörer in Erstaunen zu versetzen“, er sei geleitet von „Schroffheit und Kompromißlosigkeit“. Durkheim (1913/14), S. 25. Dieses Aussparen seines eigenen, positiven Metaphysikentwurfs hat auch Schiller in einem seiner späteren Aufsätze selbstkritisch (oder -ironisch?) gesehen, in dem er vierzig Jahre nach seinem Erstlingswerk versucht, dessen Metaphysik des Opti­ mismus oder besser: Meliorismus, wenn auch um manche metaphysischen Extra­ vaganzen ebenso wie um ausführliche Erläuterungen erleichtert, neu zu erzählen: „Thus I find I am suspected in some quarters o f being incapable of metaphysics, a suspicion which seems to prove at least that I have lived down the indiscretions of

bleiben Habitualisierungen „protected by our laziness”384385- dies zumal im Fall des Pessimismus, wo das Tragische, die Ohnmacht und Unabänderbarkeit feierlich in die Mitte gerückt sind. Es ist damit wohl erst der geschichtsphilosophisch und po­ litisch visionäre Architekt Schiller - der unbekannterweise unbekannte (s. hierzu den „Überflug“) - , der nicht wie ein davon selber Nichtbetroffener einfach meta­ philosophisch die Optionalität preist, sondern mit der Enthüllung seiner Option als einer expliziten Alternative einen wirksameren Grund liefern will, wieder vor die Tür zu treten. Es ist diese auf Augenhöhe zum Pessimismus errichtete, bezieh­ bare Alternative - die nur mit Vorsicht spiegelbildlich als Optimismus deklariert werden sollte, räumt sie doch auch den negativen Elementen der Erfahrung Platz ein - , die hier unter dem Begriff des prophetischen Humanismus gefasst wird, da in ihm der Mensch mit einer geschichts- wie gesellschaftsphilosophischen Mission zur harmonischen Entwicklung von Personalität und gesellschaftlicher Organisa­ tion ausgestattet ist. Ziel ist, seine gegenwärtigen intrapersonalen wie interperso­ nalen385 und auch irdischen Widrigkeiten (der Sterblichkeit), kurzgefasst: die dem Menschen, gemessen an den Idealen des Schönen, Guten, des Wissens und des Glücks, evidentermaßen begegnenden „Dysteleologien“ (spekulativer Humanis­ mus) und „Dysgeniken“ (eugenischer Humanismus) überwindbar erscheinen zu lassen, ohne blind optimistisch geleugnet werden zu müssen.386 Eine Mission da­ mit von nicht nur weltpolitischer, sondern kosmologischer Dimension. Der gegen den Pessimismus und sein Durchtrennen der Beziehung von Geist und Welt formulierte Ausgangs- und Zielpunkt seines zweiten Humanismus lau­ tet für Schiller demnach:

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my youth and the memory of my early encounter with the Riddles o f the Sphinx.“ Schiller (1934) [„A Philosophic Survey“], S. 236 Schiller (1902), S. 91 S. zu den intrapersonalen Widrigkeiten: Kap. 3.6., der Widerstreit in der eigenen Prä­ ferenzordnung; und zu den interpersonalen Widrigkeiten: Kap. 3.7., der Widerstreit in der akademischen und, Kap. 3.6., der durch zahlreiche belief-Typen verzerrten politischen Öffentlichkeit. „The world, as we know it, is full [...] of heart-rending failures, deep-seated evils, and stubborn frustrations.“ Diese „widespread dysteleology“ vorerst zu akzeptieren, um sie dann untersuchen zu können, bietet für Schiller die einzige Grundlage einer realistischen Amelioration: „ [I] t would be better to study these obstructions to what we take to be the good; we may be able to deduce from them what is the nature of the limitations under which the Deity is working, the difficulties to be overcome, and the means whereby this is gradually accomplished.“ Schiller (1934) [„Man’s Limitation or God’s?“], S. 302 - Herv. i.O. 183

„to assume provisionally the unproved hypothesis of the real validity of the principles of our thought, of the substantial parallelism of our thought and reality, on condition of thereby solving all the problems of life.”38738

Gelingt dies tatsächlich, besteht die Chance, die Sogkraft des Pessimismus auf ein Minimum zu reduzieren, denn „it would be absurd to deny that we can know, if our knowledge can solve, or show the way to the solution of all the problems of the world. And this concession must and should satisfy us”3m

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Mit einer solch dem Pessimismus entgegengestellten Hypothese des Guten wäre Schiller für C. Wests (1989) Genealogie des Pragmatismus aus dem Geist der Selbst­ erweckungsphilosophie von Ralph Waldo Emerson ein perfektes Beispiel gewesen, beschreibt Emerson seine Hoffnung quasi identisch: „Undoubtedly we have no ques­ tion to ask which are unanswerable. We must trust the perfection o f the creation so far, as to believe that whatever curiosity' the order of things has awakened in our minds, the order o f things can satisfy. Every man’s condition is a solution in hieroglyphic to those inquiries he would put.” Emerson (1836), S. 7 Schiller (1891), S. 136 - Herv. d. G.K.T.

4. Der p ro p h e tis c h e H u m a n is m u s zwischen personalistischer Spekulation und genetischer Manipulation „Weder die Welt noch der Mensch hat bis jetzt wirklich existiert.“ Eric Gutkind - The Absolute Collective385

4.1 Der spekulative Humanismus 4.1.1 Die Naturalisierung des Menschen als Vermenschlichung der Natur Will man die These des methodischen Humanismus Schillers auf einen Punkt bringen, so lautet dieser bereits in seinem Erstling, den „Riddles of the Sphinx“ (1891): ,,[T]he prohibition of anthropomorphic reasoning is the prohibition of all reasoning in the supposed interests of a fiction of un-anthropomorphic thought [...] which can never be known to exist, and which, if it existed, would be utterly inconceivable to us.”’9C

Denn wenn Anthropomorphismus schlicht „partaking of the nature of man” (144f.) heißt, dann gilt in der Tat, dass „all our thought and all our feeling must be anthropomorphic. The proposal to avoid anthropomorphism is as absurd as the suggestion that we should take an unbiassed [sic!] outside view of ourselves by jumping out of our skin.” (145 - Herv. i.O.)

Doch wie im vorigen Interimskapitel angesprochen wurde, heißt diese Infek­ tion aller weltlich begegnenden Tatbestände durch den Menschen, gegen die es keine Impfung gibt, nicht, dass es nicht immer noch sinnvoll ist, zwischen zwei verschiedenen Anthropomorphismen zu unterscheiden - einem guten und einem schlechten, wobei Schiller Letzteren noch einmal in einen falschen und einen irregeleiteten („confused“) auffächert: Während der schlicht „false anthropomorphism“ darin besteht, „specific human qualities“ (ebd.) aus ihren legitimen Sphären auf unter- oder übermenschliche, d.h. anorganische, pflanz­ liche, tierische bzw. göttliche Bereiche zu expandieren, versucht der „confused3890

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zit. n. Miller (1962), S. 17 Schiller (1891 ),S . 145. In diesem Unterkapitel (4.1.) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben. 185

anthropomorphism“ durch einfache Negation menschlich festgestellter Quali­ täten (Endlichkeit des Menschen), die anderen Sphären zu konstituieren (Un­ endlichkeit Gottes). Es ist vor allem dieser Anthropomorphismus, der durch einfache Negation menschlicher Realitäten sich gleichzeitig von diesen her kontrastartig bildet, gegen den sich Schillers „guter“, „consistent and conscious anthropomorphism“ (146) wendet, insofern er durch das Einschreiben radika­ ler Brüche - sei es zwischen dem Sein der Materie und dem Bewusstsein oder dem von Mensch und Gott - immer wieder Bereiche des dem Menschen abso­ lut Jenseitigen aufstellt, die, insofern sie sich gerade in negierender Opposition einer harmonisierenden Vermittlung zwangsläufig in den Weg stellen müssen, hierin nolens volens in den Agnostizismus führen oder gar der Wegbereitung einer pessimistischen Ontologie letzter manichäisch-widerstreitender Prinzi­ pien dienen. Diese beiden Extreme, von Einebnung aller Unterschiede als „false anthro­ pomorphism“ einerseits und ihrer Zementierung oder gar ihrem Ausbau als „confused anthropomorphism“ andererseits, und Schillers Vorschlag einer ver­ mittelnden Position dazu werden deutlicher, wenn er sich der grundsätzlichen Frage der Methodenwahl für die zu bildende Metaphysik nähert, wobei hier un­ ter Metaphysik vorerst jedes Bestreben nach oder auch nur implizites Annehmen von einer ganzheitlichen, alle Teilwissensordnungen in einen größeren Rahmen integrierenden (un)sinnhaften Weltanschauung verstanden werden soll.-91 Wie im Fall des Anthropomorphismus stehen auch hier drei Wege zur Auswahl: die Pseudo-Metaphysik, die abstrakte und die konkrete Metaphysik. Die Pseudo-M etaphysik behauptet die Unnötigkeit eines spezifisch meta-phy­ sikalischen Fragens und Wissens und vertritt damit die These eines physikali­ schen Naturalismus: „it attempts to extend the method o f the physical sciences to the solution of ultimate questions“. (150) Sie ebnet gemäß der Logik des fal­ schen Anthropomorphismus die Unterschiede in der Richtung ein, dass es die menschlichen Spezifika sind, die durch aus den untermenschlich arbeitenden Prinzipien generalisierte Modelle (bspw. einen kausalen Materialismus, der nach seiner logischen Arbeitsweise hin analysiert nichts anderes ist als ein einfach negierter animistischer [falscher] Anthropomorphismus) wegrationalisiert wer­ den sollen. Hier wird das Höhere auf das Niedere hin reduziert.

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„For metaphysics is simply the science o f fundamental principles o f all knowing and being, and it is impossible to act or think without assuming and implying some such principles.“ Parallel zum Anthropomorphismus gilt somit auch hier: „the choice is only between good and bad metaphysics as between good and bad prose.“ Ebd., S. 170

Die abstrakte M etaphysik dagegen arbeitet spiegelbildlich. Statt vom Kon­ kreten auszugehen, deduziert sie das Spezifische aus allgemeinen Prinzipien: „whether it is dubbed the Absolute, or the Unknowable, or the Idea, or the Will, or the Unconscious, or Matter, or Reason, the Good or the Infinite.” (161) Diese Abstrakta werden als der menschlichen Ratio als der Fakultät des Menschen, die mit überempirischen Kategorien und Schemata hantiert, am nächsten stehend zu den eigentlichen Konkreta pervertiert, während von diesen her das sinnlich, sprachlos, widerständig Begegnende Puzzleteilen gleich rekonstruiert werden soll oder schlicht als bloße „appearances“ (F. H. Bradley’s „Crypto-Buddhism“'92) am Wegesrand des Geistes liegen gelassen wird.593 Oder aber in einer pantheistischen Variation des „Gottes Wege sind unerklärlich“ wird die Alleinheit in Gott proklamiert, womit die Unterschiede des Konkreten untereinander selber letzten Endes als illusionär, menschlich-privativ entlarvt werden sollen.594 Hier wird das Niedere auf das Höhere hin reduziert:3924

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Schiller (1907a) [„Truth andM r. Bradley“], S. 136 Die Hauptvertreter dieser philosophischsten aller philosophischen Tendenzen, den Geist als das auf ihn zugeschneiderte Arbeitsfeld zur obersten und selbstgenügsamen Instanz zu erklären, sieht Schiller in der griechischen Philosophie bei den Eleaten, die der argumentativ durchgezogenen Leugnung von Bewegung mehr Evidenzkraft zu­ billigen wollten als der sichtbar erfahrenen Evidenz der Realität von Bewegung und darin ihre „practical refutation“ übersahen, die spätestens dann auftrat, wenn sie mit­ hilfe der Bewegung der Zunge darüber sprachen. [Schiller (1934), [„A Philosophical Survey“], S. 240], Vor allem aber will Schiller einen solchen Typ des Denkens eines rationalistischen Absolutismus in Hegel und der zu Schillers Zeiten einflussreichsten Inkarnation dieser Tradition, dem neohegelianischen Bradley - wohl dem Lieblings­ gegner sowohl von Schiller als auch von James - , gesehen haben. Das Hauptwerk des Letzteren - „Appearance and Reality“ - tauft Schiller in seiner bereits erwähnten satirischen „Mind!“-Ausgabe in seiner Kritik richtungsweisend in „Disappearance of Reality“ um. Schiller (1901), S. 5. Es ist ein solcher Pantheismus, gegen den Schiller im Bereich des Religiösen nicht minder wettert als gegen den Wahrheitsabsolutismus im Bereich des Philosophi­ schen: Während Letzterer sich für die sinnliche Welt unzuständig erklärt, ist auch der Pantheismus für Schiller ein quietistischer Bremsklotz der Kultivierung der mensch­ lichen Realität und der Lösung ihrer Probleme, ist diese doch immer gleicherma­ ßen Manifestation Gottes, die nicht nur die Pluralität der Personen untereinander aufhebt, sondern qualitative Unterschiede zwischen einzelnen Stadien undenkbar V erd en lässt: Gott bleibt immer Gott und göttlich. In einer kurzen geschichtsphilosophischen Notiz erklärt sich Schiller gerade durch die besondere Konstellation der Abwesenheit eines Pantheismus zugunsten eines vorherrschenden dezentralen und pluralen Polytheism us im antiken Griechenland, 187

„It [das hegelianische System als eine solche Reduktion nach oben - G.K.T.] pretends to deal with the realities of life, but it talks of abstractions throughout. It pretends to explain all things, and then ascribes inconvenient facts to the .contingency of matter1, i.e. it pretends to be a rational explanation of the world, and then admits an element of irrationality.” (160)

Schillers Methode der konkreten M etaphysik will dagegen, wie schon im hall des Konflikts zwischen Empirismus und Rationalismus - Anerkennung der formenden Macht des Subjekts (Rationalismus), dessen Kategorien aber in ge­ schichtlicher Interaktion geworden sind (Empirismus) (Kap. 3.3.) - einen M it­ telweg einschlagen, der als solcher dem optimistischen Drang nach Fortschritt bis hin zur Harmonie allein gerecht zu werden vermag: Er versucht der Gefahr zu entgehen, von dem nicht gänzlich durch die materialistischen Prinzipien der Naturwissenschaften oder die vernunftmäßigen Prinzipien der Geisteswissen­ schaften verständlich zu machenden Rest trotz der Suche nach einem dualis­ tischen Endlager, wo dieser Rest als das Andere des waltenden Prinzips fernab möglicher verstehender Belichtung untergebracht und versteckt werden kann, heimgesucht zu werden. Die konkrete M etaphysik will beide Stärken (die Be­ tonung eines jeweils tatsächlich wirksamen Prinzips) aufnehmen, ohne den Schwächen (die Reduktion des jeweils anderen) zu verfallen, und zwar durch „basing our metaphysics on our science“, sodass gewährleistet ist, „they [metaphysics] must be the inquiry into the ultimate nature of concrete realities and not of thought abstractions. In other words, they must proceed from the phenom enally real to the ultimately real, from science to metaphysics.” ( 163 - Herv. i.O.)

Weder laufen die abstrahierten Prinzipien hierbei Gefahr, eine Gegenwelt zum Konkreten zu bilden, sind sie doch als dessen ursprüngliche Teile und Vor­ läufer daran gebunden, noch gibt sich das Konkrete hier als unmittelbar und selbstverständlich, da es umgekehrt aus dem durch das von ihm Bewirkte als seinem allgemeinen Gesamthorizont in seiner Momenthaftigkeit erst voll und ganz verständlich wird. Wert und „konkretes“ Ergebnis eines solchen, hier bisher nur lehrformelhaft skizzierten Vorgehens, das dem Rätsel der „winged Sphinx“W5 als der Frage395

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dass hier die Wiege der Wissenschaften liegt, wurde sie doch nicht von einer religiö­ sen All-Einheitslehre, die nichts Konkretes als Konkretes mehr für erldärungsbedürftig erachten kann, ct priori blockiert oder als blasphemisch sanktioniert. S. Schiller (1907a) [„From Plato to Protagoras“], S. 26ff. „The one [Naturwissenschaftsprimat) is of use only on earth, and the other [Geistpri­ mat] only in the air, whereas the winged Sphinx is equally at home in either element.” Ebd., S. 162

nach dem Menschen nicht in Teilen, sondern gerade in seiner Ganzheit allein gerecht werden soll, werden deutlich, wenn man betrachtet, was Schiller in sei­ nem spekulativen Humanismus im Besonderen im Blick hat: eine Metaphysik der Evolution. Grund ist nicht nur, dass es sich hierbei um die Wissenschaft handelt, um deren durchschlagende Methode wie Ergebnisse sich in Schillers Augen nur herumwinden kann, wer bewusst einem „anti-scientific'-Affekt als „general attitude of abstract metaphysics“ (162) frönen will, sondern weil, dies der überraschende Kniff, es gerade die Grundprinzipien der Evolutionstheorie sind, die für ihn eine mikroteleologische Einbettung des Menschen in eine Ma­ kroteleologie des belebten wie unbelebten Naturprozesses im Ganzen ermögli­ chen können. Und dies in einer perfektibilistischen Grundintonierung, nach der die den Pessimismus schürenden Aspekte der „widerspread dysteleology“396 der Welt, kurzum: des Täuschens, Versagens, Unerklärlichen als zu überwindende angesehen werden und so die menschliche Sinnbeheimatungssehnsucht stillen können397: „the hope of finding in the rest of nature that action for the sake of

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Schiller (1934) [„Man’s Limitation or God’s?“], S. 302 Dies ist in der Tat auch - oder gerade (s. „New Atheists“-Bewegung) - heute noch randständige Lesart der Entdeckung Darwins, wird diese doch sowohl damals wie heute gerade als die wissenschaftlich endgültige Eniteleologisierung präsentiert: „Die natürliche Auslese ist der blinde Uhrmacher; blind, weil sie nicht voraussieht, weil sie keine Konsequenzen plant, keinen Zweck im Sinn hat.“ Dawkins (1986), S. 33. Diese orthodoxe Exegese des Darwinismus ist Schiller keineswegs entgan­ gen, wirft er doch gerade den Theologen in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Darwin mangelnde Einsicht in das Potential seiner Theorie für ihre Zwecke vor: „Thus they could, and should, have said: .Thank you very much. Evolution is very important, and very welcome. It reveals to us what we have long sought to know, namely, the method of creation. And it finally refutes the profoundly atheistic notion of an immutable, mechanical universe.” Schiller (1934) [“A Philosophical Survey”], S. 249f. Wie bei seinem, was dieses Vorhaben betrifft, wirkungsmächtigen Vorläufer H. Spencer geht es Schiller hier um einen Versöhnungsversuch von Moral und evo­ lutionärem Naturalismus, eine Versöhnung, die von beiden prinzipiell, d.h. ohne sie in ihren Grundaussagen zu verdrehen, zugelassen wird. Zu Spencers Vision einer gradualistisch-sukzessiven Aussöhnung: s. Spencer (1879), Kap. XIV Als Randbemerkung sei erwähnt, dass Schillers Grundparameter des spekulativen Humanismus - die philosophisch gesehen eher ins Umfeld eines Scheler (1912/22), de Chardin (1955) oder heute Spaemann (1978), va. auch Jonas (1979), S. 136ff. ge' hören - in den letzten Jahren einer eher unrühmlichen Rezeption in den USA im Kreise der evangelikalen Christen zum Opfer gefallen sind, für deren reaktionären Kulturkampfer den Begriff des „intelligent designs“ gleich mitgeprägt hat. Zwar geht seine Position in der Tat in eine ähnliche Richtung, aber die sie tragende Geisteshaltung

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rational ends which is so prominent in that section of nature represented by intelligence.“ (180) Diente die Evolution seinem methodischen Humanismus im Rahmen seiner genetischen Erkenntnistheorie (Kap. 3.3.) und der menschlichen Verendlichung von Geltungsansprüchen (Kap. 3.4.) nur als letzter Horizont der Verzeitlichung, muss man, um zum positiven Entwurf des spekulativen Humanismus zu gelan­ gen, mit Schiller fragen, was es bedeutet, „that the thing investigated has had a history.“ (173 - Herv. i.O.) Im Ursprung des Gedankens des Evolvierens in der „historical method“ erkennt Schiller die Herangehensweise, dass der gegen­ wärtige Zustand eines betrachteten Gegenstands oder Sachverhalts durch die Inklusion seiner Vergangenheit zwecks Erhellung seiner Gegenwart in einem explikativen Zusammenhang mit ebendieser Vergangenheit steht. Diese zeitli­ che Dezentrierung des historischen Verstehens geht von der Idee eines Anfangs aus, an dem angesetzt ein ihn modifzierendes Werden erst erzählt werden kann. Anders ausgedrückt lebt die erklärende Funktion der Genealogie von ihrer strukturellen Endlichkeit der von ihr zur Sprache gebrachten Zeit. Eine Endlich­ keit, die es überhaupt erst ermöglicht, von einem Erkenntniszuwachs durch Be­ trachtung des Werdens von Geschehnissen zu sprechen, würde doch im Fall der Unendlichkeit des Werdens keine noch so weitreichende Rückwärtsbetrachtung der Geschehnisse eine Aufklärungsleistung erbringen, da sie immer schon zu spät ansetzt. Jeder von der Geschichte gewählte Anfang wäre gleich (unendlich) weit entfernt von dem uneinholbar weit entfernten wirklichen „Anfang“. Eine relative, d.h. endliche Annäherung an eine unendliche Kette von prozessualen

könnte nicht diametral entgegengesetzter sein: Während die Haltung Schillers eine der prosperierend-progressiven Befreiung ist, auf der Suche nach den neuesten Erkennt­ nissen - wie sie sich in der Hinwendung auch zur Eugenik im engeren, biologistischen Sinne als Wissenschaft seiner Zeit zeigt - zum Zwecke des maximalen Ausreizen des Möglichen, kommt in der Haltung der amerikanischen „Kreationisten“ wohl eher die einer wissenschaftlich schlecht maskierten Weltabkehr und defensiven Flucht vor der vermeintlichen Korruption durch den modernen Geist zum Tragen. Siehe zur Rolle von Schillers Argumentation im gegenwärtigen Revisionsdisput um die Schulpläne in den USA: http://www.evolutionnews.org/2006/01/dover_in_review_an_analysis_of_1001826 .html (abgefragt am 06.12.2015) So behält er den Standpunkt des Possibilismus des m etho­ dischen Humanismus bis zum Ende bei: „There is [...] no complete and absolute proof that any course of events however antecedently improbable, is not due to chance.“ Schiller (1934) [“A Philosophical Survey”], S. 263, Herv. i.O. 190

Zuständen ist ein Widerspruch in sich, bleibt sie doch von der Unendlichkeit immer gleich unendlich weit entfernt: „If the Becoming of the world has really be infinite, no amount of history will bring us any nearer to its real origin; it is vain to sound the bottomless abyss of the past with the puny plummet of science. The Historical Method is futile, all theories of Evolution are false, and the nature of things is really unknowable.“ (175)

Die Evolutionstheorie als Vergesetzlichung, ja entgrenzende Universalisierung des historischen Bedenkens „of isolated things” führt nun einen Schritt weiter zur Idee der Ineinandergefädeltheit der partiellen Geschichten zu einer gesamten „history of all things, a world-history“ (179) - sei es im biologischen Rahmen, wo nicht nur der Übergang vom Australopithecus zum hom o sapiens, sondern auch noch von deren Vorläufer bis zur Ursuppe in Betracht gezogen wird, sei es im noch größeren, kosmologischen Rahmen, dessen narrative Endlichkeit durch die Monodirektionalität des Zeitpfeils zum Ausdruck kommt und bis zum Urknall reicht. Die bisherige retrospektive Fokussierung auf den Anfang und Ursprung einer Erzählung, die vor allem in den Naturwissenschaften kultiviert wird, mit dem Ziel, „that they [trace] the genesis of the higher and more differentiated subsequent forms out of earlier forms which were lower and simpler and more homogeneous“ (177), repräsentiert für Schiller jedoch nur eine Betrachtungs­ weise der Diachronie, nach der Gegenwart und Zukunft kausale Produkte in der Vergangenheit wirksam gewesener Antezedenzien sind. Es gibt auch die Möglichkeit, in genau umgekehrter Richtung die Vergangenheit als sinnhaftes Produkt ihrer Zukunft zu beschreiben. Besagt die erste Erklärungsrichtung: „because of A, B had to follow“, so die zweite: „for the sake o f B, A had to be.“39839 Die historisch-evolutionäre Methode ist damit in ihrem Interpretationsspekt­ rum „essentially bilateral”.199 Dabei ist keine der beiden Perspektiven - dem methodischen Humanismus getreu - epistemologisch nicht-menschlich und rein objektiv, denn beide rekur­ rieren auf dieselbe A-B-Sequenz, welche ein „product of human manipulation of the given fact“ ist. „It is fixated by human attention, and lifted out o f the immense flux of happenings.“400 Aber auch über diese Grundtatsache des letzten Hauptka­ pitels hinaus wird allein durch das Aufzeigen der Möglichkeit einer alternativen Betrachtungsweise dieser Sequenz neben der kausalen eben diese selbst nur zu

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S c h ille r ( 1 9 3 4 ) („A P h ilo so p h ic a l S u rv ey “ ], S. 2 5 9

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einer Wahlmöglichkeit in Relation zu unterschiedlichen menschlichen Zwe­ cken und Problemhorizonten. Scheint diese geeigneter zu sein, wenn es um die rein physikalischen und chemischen Aspekte des Menschen geht, so ist für Schiller allein die zweite, die teleologische Erklärung satisfaktionsfähig, wenn es darum geht, die menschlichen Verstandesleistungen und Hoffnungen nicht bloß als Epiphänomene eines kosmisch-mechanischen Werdens zu betrachten, die den Menschen aus der Perspektive des Skeptizismus in die Rolle seines ei­ genen Opiumlieferanten gedrängt hat, süchtig nach den eigenen Sinnrationen, die jedoch niemals mehr sind als Realitätsausflüchte. Wirft man Schiller vor, es bedürfe keiner Vorhersehung und intelligenten Planung, um das Auftreten und Evolvieren von Gattungen zu erklären, es sei eine überflüssige, weil überdeter­ minierende Annahme, die Ockhams Rasiermesser zugunsten des Einfachheits­ prinzips wegzuschneiden habe, so würde dieser darauf mit dem Gegenvorwurf reagieren, dass zur Bemessung, welche Annahmen zu einem Überangebot der Erklärung ein und desselben Phänomens führen, immer schon feststehen muss, welches Problem erklärt werden soll. Ist das Problem die nackte Existenz des hom o sapiens, die rein biologische Tatsächlichkeit seines Vorkommens, so wäre die darwinistische Annahme einer bloß „accidental variation“401 als blindem Würfeln des Zufalls bei Zeugung der Nachkommenschaft tatsächlich genügend. Doch da Schillers Anfangsprämisse darin besteht, nicht nur die biologische, son­ dern die menschliche Realität des Menschen zu begründen, erscheint von diesem Standpunkt aus umgekehrt das Szenario des blinden Gebarens der Mutation als entweder unterkomplex, insofern es die Ebene des Sinns ausklammert, oder als skeptizistisch/pessimistisch, insofern es die für den Menschen konstitutive Sinn­ frage als epiphänomenale Fiktion entlarvt (s. „Pseudo-Metaphysik“).402

401 402

Ebd., S. 257 Freilich behaupten im Theoretischen heute immer mehr Menschen in abgebrühter Manier, ein völlig entteleologisiertes und rein mechanisch ablaufendes Weltbild zu haben, obwohl sie im Alltäglichen unter denselben Sinnschutzschirmen leben, um deren theoretische Behauptung als legitimes Aufspannen es Schiller geht. Ob je ­ doch tatsächlich alle menschlichen Sinnbestrebungen kosmischer Rückendeckung bedürfen, sodass zur Rettung des M enschlichen manch obskure Wege gegangen und Antworten kosmischen Werdens gegeben werden müssen, oder ob es nicht auch im Bereich des Menschlichen Tendenzen geben kann, die weiterhin ins Leere laufen dürfen, ohne dass gleich das Projekt Mensch in toto für gescheitert erklärt werden muss - dies wäre der Ansatzpunkt für eine fundamentale Kritik an Schillers spekulativem H um anismus, der er sich aber auch keineswegs entzogen hätte, ist seine „konkrete Metaphysik“ ja gerade eine, die die Konkurrenz zu Alternativlesarten sucht. Ich komme im „Ausläufer“ kurz darauf zurück.

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f

Auch hier gilt Schillers freiheitliches Diktum des methodischen Humanismus, dass man dies so sehen kann, aber nicht muss, handelt es sich bei beiden Betrach­ tungen als „methodological assumption[s]“ doch um zu behauptende Postulate, wobei die Teleologie keineswegs den evolutionistischen Grundeinsichten der Variation und Selektion widerspricht, sondern Erstere schlicht als „providential“ und nicht in toto als „pure accidents“ wertet.403 Wie bei der Lockerung des D e­ terminismus der Natur (Kap. 3.4.) muss dazu weder die empirische Faktenlage verfälscht noch die wissenschaftliche Methode abgeändert werden, sodass das Ergebnis für Schiller damit wieder eine Win-Win-Situation ist, denn neben der Beibehaltung der wissenschaftlichen Praxis als eine regionale Sicht auf die Na­ turprozesse wird das Naturgeschehen durch die Teleologie „more intelligible [...]. For teleological action is, we feel, more characteristic and worthy of us, [... ] we should feel more at home in the universe.“404 Die konkrete M etaphysik sucht also nicht mehr nach der Möglichkeit der Reduktion des Komplexen auf das Einfachere, des Höheren auf das Niedere (Mensch auf mechanische Prozesse), sondern geht umgekehrt durch die Schau des Menschlichen als das für den Men­ schen evidentermaßen Reale hindurch, um darin die niederen Formen sowie seme höheren Ermöglichungsbedingungen zu entdecken: „ [A] living organism exhibits actions which cannot be formulated by the laws o f physics alone; man is material, but he is also a great deal more.“ (152) Die leitende Frage bildet damit: Wenn der Mensch in all seinen Facetten ein (mindestens) gleichberechtigter Teil der Realität ist, wie muss dann das Nicht-Menschliche der Realität organisiert sein, damit der Mensch in und mit dem Nicht-Menschlichen, d.h. auch unter Beibehaltung der spezifisch menschlichen Existenziale, möglich ist, um so Aus­ blick auf die eine komplexe Gesamtrealität zu gewähren. Doch bevor weiter gefragt wird, um welche menschlichen Spezifika es sich für Schiller vor allem handelt, muss er hier vor seiner teilweise eigenen, stark anthropozentrischen Rhetorik gerettet werden. So grenzt er sich an mindestens einer Stelle in den Riddles deutlich von einer naiven Sicht auf die Teleologie ab: „It does not attempt to explain things anthropocentrically, or regard all creation as existing for the use and benefit of man; it is as far as the scientist from supposing that cork-trees grow in order to supply us with champagne corks.“ (203)

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Ebd., S. 264 Schiller (1934) [„A Philosophic Survey“], S. 259 193

Vielmehr ist Schillers Argument dem Verum-Factum-Prinzips des Giambattista Vico (1668-1744) verwandt*'5: Argumentierte dieser, dass uns gerade die Ge­ schichte begreifbarer ist als die von Descartes i.S. einer heuristischen Leitung emporgehaltenen Gewissheiten der Mathematik, weil sie dem Menschen selber entspringt, Mensch und Geschichte damit einem Wesenskontinuum zugehören, so argumentiert Schiller hier naturgeschichtlich gewendet, dass der Mensch als das Stück Natur, das wir sind, das von uns am ehesten zu entziffernde Phänomen der Naturteleologie ist, aber für diesen Zweck auch das beweiskräftigere, ist der Mensch doch ein späteres und komplexeres Produkt des Weltwerdens als z.R. Amöben.405406 Schillers Metaphysik beinhaltet damit beides: die Vermenschlichung der Natur und die Naturalisierung des Menschen. Eine Doppelbewegung, die Schiller vor einem naiven, einseitigen Anthropomorphismus bewahren soll: „The end to which it supposes all things is to subserve not the good fo r man, and still less fo r any individual man, but the universal End o f the world-process to which all things tend, and which will coincide with the idiocentric end and desires of the sections of the whole just in proportion to their position in the process!’ (203 - Herv. d. G.K..T.)

Um diesen vom Kapitel des gegenwärtigen Menschen her extrapolierten Lek­ türeschlüssel für das gesamte Buch der Natur, sowohl für die bereits von der Zeit passierten wie der noch bevorstehenden Seiten, auffindbar zu machen, geht Schiller von der Frage der anthropologischen Differenz im Vergleich zu ande­ ren, tierischen Lebensweisen aus. Konkret: In der Kontrastierung von der „won­ derful organization of the polities of social insects like the ants and bees“ (216) wird aufgezeigt, dass das Besondere des Menschen in seiner Vermittlung von 405

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Eine solch implizite Adaption von Vicos Gedanken lässt sich auch schon an früherer Stelle in Schillers m ethodischem H um anism us und damit dort nicht in diachroner, sondern synchroner Variation ausfindig machen: Da die Well immer eine vom Men­ schen miterzeugte Welt ist, kann die pessimistische Trennung zwischen Geist und Welt nicht eine derart absolute sein, ist die Welt doch a priori eine menschliche. „For after all, man is the highest of the beings we know, and the most highly evolved, and so the nearest to the end o f things, and hence in a way entitled to regard the other beings he knows, representing lower phases in the process o f Evolution, as means to his ends.” Schiller (1891), S. 204 - Erst wenn man diese Einordnung des Menschen als Advokat des Höheren ( inkl. des über seinen jetzigen Zustand Hinausgehenden) begreift, lässt sich das von Schiller postulierte Regulativ wissenschaftlichen Forschens verstehen: Das Ideal „of true science, would be realized when all our explana­ tions made use of no principles which were not self-evident to human minds, selfexplanatory to human feelings. [... ] a principle is better, other things being equal, the more closely it dings to the analogy of human agency, the more completely parallel its course runs to the course o f the human mind.“ Ebd., S. 147

Individualität und Sozialität liegt. Zwar gelingt es den seit Mandevilles „Bienen­ fabel“ gerne als Matrize des Sozialen bemühten Bienenstaaten, ein Höchstmaß an kollektiver Ordnung zu produzieren, die von einer Natürlichkeit reguliert wird und einem „Abstract Socialism“ (218) gleichkommt, aber gerade in dieser quasi-bürokratischen Perfektion wird für Schiller die entscheidende Bedingung eines jeden Fortschritts und Wachstums unterdrückt: die individuelle Differenz, die über die genetisch-verankerte Aufgabenzuteilung von männlicher und weib­ licher Biene hinaus geht, damit schon immer in ihrem utopischen Letztzustand angekommen ist und von der neuen „Generation“ nur wiederholt werden muss. Dies spiegelt sich biologisch darin wieder, dass es die versorgte und damit pas­ sive Bienenkönigin ist, die einzig für die Fortpflanzung sorgt, während die die „soziale Frage“ in praktisch-intelligenter Aktivität lösenden Arbeiterinnen un­ fruchtbar sind: „This, that the training of the citizens in each generation is wasted, and that, as they leave no descendants of the more intelligent. Each generation is descendend from queens that have no training, and no occasion to exert their intellectual faculties, and hence each generation is as wise as its precedessor.“ (217 - Herv. d. G.K.T.)

Dieser Ausflug in die Insektenwelt dient Schiller zur indirekten Hervorhebung der Handhabung der anders gelagerten Vermittlung von Individuum und Gesellschaft in der Menschenwelt: Hier zeigt sich eine „harmonious development” als „deve­ lopment of the individual in society, and o f society through individuals.” (218) Formelhaft wird hierbei die voranschreitende Entwicklung des Individuums ge­ fasst als Werden „more o f an individual, a fuller and more perfect individual“ und die voranschreitende Entwicklung der Gesellschaft weniger tautologisch als Wer­ den „more o f a society, a fuller and more perfect society, o f which the members are more and more dependent on one another, act und react upon one another with greater and greater intensity.” (ebd.) Manifestation dieser grundsätzlich interdependenten Wirksamkeit ist für Schiller die Arbeitsteilung: Als Organisierung des biologischen Aspekts des Menschen als Naturwesen setzt sie sukzessive die Möglichkeit der „growth of knowledge“ als Geistwesen frei. Indem die Arbeitstei­ lung Muße und darin Freiheit von biologischer Gewalt ist - zumindest für einige „leisured classes“ (220) - , können kreative Potentiale in Form von Übungen in Räumen, die nicht von absoluter, lebensbedrohlicher Dringlichkeit belagert und unter Druck gesetzt werden, spielerisch ausprobiert werden. So sieht Schiller zwar ebenso wie sozialistische Kommentatoren in der Arbeitsteilung die Gefahr einfer Entfremdung, dadurch dass „highly specialized work [...] monotonous and mechanical, and so soul-destroying“ (219) werden kann, die Lösung liegt aber nicht in ihrer Abschaffung, sondern bleibt Grundlage für eine nach anderen als

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den biologischen Prinzipien funktionierende Kultur. Schiller entpuppt sich hier als Vertreter einer Anerkennungstheorie avant la lettre, wenn er die Entfremdung der unteren Schichten einer geistigen Dekadenz der „Eliten“ anlastet, deren sozi­ ales Ideal „put before the masses is one o f ,sport* and merely animal enjoyment“ (220), statt bildend auf die Allgemeinheit einzuwirken und damit einen Zustand zu perpetuieren, in dem „our social sympathies are not yet sufficiently developed for us to take interest in each other’s specialisms.“ (219) Trotz dieser attestierten Sozialpathologien seiner Zeit - die schon insinuieren, dass Schiller nicht einfach blauäugig seine Gegenwart als Perfektion, als „Ende der Geschichte“ sieht und die sich ihm im Rahmen seines eugenischen Humanis­ mus noch intensiviert darstellen werden (Kap. 4.2.1.) - ist dies der Schlüssel zum Spezifikum und zur Veredelung des menschlichen Lebens. Letzteres soll (vorerst inegalitär) dadurch realisiert werden, dass es einigen Wenigen („the great author or the great poet whom we may perhaps take as the type of the highest individualiziation“) möglich ist, Werke von „permanent source of greater wealth“ und „higher culture“ (221 ) zu schaffen, die als Artefakte der Bildung von den „Massen“ angeeignet werden und so die Individuierung ihrerseits anreizen. Den passgenau­ en Mittelweg, den er grundsätzlich im gesellschaftlichen Sein der modernen euro­ päischen Zivilisation als „best guarantee of progress“ (230) vorgeebnet sieht, bildet die weltgeschichtlich avantgardistische Synthesis aus dem Geist des Griechentums als Freiheit des (männlichen, nicht versklavten) Individuums und der Agonalität des Bürgers und dem Geist Roms als Staat der Verfassungs- und Vertragstreue zwischen Bürgern und anderen Ländern. Geht man von hier aus weiter zurück, gilt das Gesetz der zunehmenden Abnahme von „both individuality and sociality'“: vom Kastensystem bis hin zu „primitiveren“ Stammeskulturen, von deren Mitglie­ dern Schiller schreibt, „that even physically one savage looks almost exactly like another.“ (224) Auch im Übergang aufs Tierreich will er zeigen, dass die Interaktion von In­ dividuen als vom Menschen hergeleitete minimale Letztformel „transformed but not destroyed“ ist, „it persists in a lower form“ (231), auch wenn die Trennung zwischen den Individuen immer mehr verwischt und von außen als Zustand intrapoliert werden muss, zumal unterhalb der organischen Ausbildung eines Zentralnervensystems als Ermöglichung eines den Organismus regulierenden Bewusstseins: „Consciousness is not only a variation itself but is the basic principle of all variation in response: that is, a conscious being cannot be trusted to exhibit completely uniform reactions.“4Ü7 Je weiter die Leiter der Ausdifferenzierung vom407

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Schiller (1934) [„A Philosophical Survey“], S. 265 - Herv. d. G.K.T.

Menschen her nach unten hin abgeschritten, desto mehr wird die ausgeprägte Individualität zu einem Ideal, „to which the reality only imperfectly attains, a ca­ tegory of our thought, to which even the highest develpoments of reality only approximate.“ (231) Dennoch ist auch in den einfachsten organischen Verbin­ dungen als Komplexe von Elementen eine „significant suggestion of the social character“ (233 - Herv. i.O.) vorhanden, was sich spätestens dann zeigt, wenn diese Organisation durch äußere Einwirkung (wie extreme Hitze) dissoziiert. Hier wie erst recht im Reich der anorganischen Interaktion von bloßen Atomen untereinander gilt schließlich, dass „their connection is no longer trusted to their own action, but forced upon them from without. Sociality is no longer a moral but a physical necessity.” (232) Und doch können die beiden in menschlichen Gesellschaften ebenso wirksamen Faktoren ausgemacht werden: „the persistence of individual entities combined with others into social systems“. (234)408409 Mit diesem durch die Brille des menschlichen Interaktionsverhältnisses rekonstruktiven Rückgang sollte gezeigt werden, dass dies gemäß Schillers Anspruch der „concrete metaphysics“ nicht im Widerstreit mit naturwissenschaftlichen Erfahrungen liegt, sondern sich als ein mit der Zeit immer wirksamer und realer gewordenes Ideal entpuppt, das in Vorformen als Potentialität anwesend gedacht werden kann, gemäß der teleologischen statt bloß mechanisch-kausalen Lesart: „for the sake of B, A had to be.“4WDoch da sich der Mensch selber noch im Pro­ zess der Evolution befindet, es ja gerade die alltäglich machbare Erfahrung ist, dass „not even the highest existing societies and individuals are perfect, either as societies or as individuals“, die der Pessimismus metaphysisch überhöht, kann und muss (zwecks Therapie) Schiller den heutigen Menschen als Ausblick auf die vollkommenere Personalitätsausprägung der Zukunft proklamieren: „If by a person we mean a conscious and spiritual individual, possessing moral and legal responsibility, who must be treated as an end and never as a means, then the higher phase o f individuality, which we designate by the term personality, is an ideal to which we have very imperfectly attained." (237 - Herv. i.O.)

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Sollte es auch so sein, dass sich nach heutigen Erkenntnissen der Elementarteilchen­ physik die Atome selbst noch einmal in „Strings“ o.Ä. auflösen, ist damit Schillers Argumentation nicht obsolet, denn auch eine solche Auflösung von Teilchen in Wellen muss Formen der Abgrenzung untereinander implizieren, soll nicht das Rät­ sel aufgeworfen werden, wie aus dem Nichts etwas entstehen kann, welches einer 1 absolut amorphen Letzt-Entität im Singular (wobei sie selbst dies nicht mehr wäre, insofern auch der Singular immer noch vor dem Hintergrund des ausgegrenzten

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Plurals existiert) entsprechen würde. Schiller (1934) [„A Philosophical Survey“], S. 259 197

Doch bevor ich auf die prospektive Antwort (Kap. 4.1.3.) weiter eingehe, die Schiller auf die Fundamentalfrage nach dem metaphysischen Ultimum gibt, in­ sofern sie es ist, die als Erhellung des letzten Zwecks des Gesamtunternehmens der Evolution nicht nur die früheren und frühesten vormenschlichen Formen dieser Kette beleuchtet, sondern vor allem den gegenwärtigen Menschen einen die Praxis unterfütternden wie sie leitenden und anspornenden Sinn als Ideal der erst noch zu erfüllenden Perfektion der intersubjektiven Konstitution von Indi­ viduen zu einer „communion o f Saints“ (239) zu stiften vermag - zuvor sei im Folgenden ein Exkurs zu einem ganz ähnlich durchgeführten philosophischen Projekt eingeschoben. Das Projekt des amerikanischen Personalismus, wie er bei George H. Howison vorzufinden ist und der ebenso sowohl die Personalität des Menschen in ein spannungsgeladenes Verhältnis von Aktualität und divinatorischer Potentialität setzt410 als auch diese geschichtsphilosophisch dynamisiert, um die göttlich sanktionierte Aufgabe des Menschen in der Verwirklichung der „Eternal Republic“ auszumachen, deren „eternal order“411 in der freiheitlichen Beziehung sämtlicher Personen - inklusive der Gottes - untereinander besteht.

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Es sei jedoch zugegeben, dass trotz der zentralen Rolle, die dem Konzept der „Person“ bei Schiller zukommt, dieses von ihm keinerlei systematische Behandlung erfährt. Neben der normativen Funktion, die ihr hier primär - der exegetischen Maxime des „Überflugs“ getreu: mit Schiller gegen Schiller für Schiller - als Boden der Erklä­ rung des noch Folgenden zugewiesen wird, scheint Schiller mit ihr - nicht erst im Hinblick auf die verschiedenen Phasen des Gesamtwerk, sondern bereits in seinem Frühwerk - stellenweise nicht mehr das deontische Ideal zur Personalisierung im Sinn zu haben, sondern allein eine deskriptive Bezeichnung der „Vieleinheit“ mul­ tipler Selbstaspekte. [Stern (1918), S. 14-18] Diesen Aspekt seines Werks intensiver zu beleuchten, würde mehr als nur einen Vergleich mit dem amerikanischen Per­ sonalismus benötigen, auch ein Blick in die personalistische Philosophie des schot­ tischen Philosophen und Zeitgenossen A. S. Pringle-Pattison (1856-1931) könnte zur Aufklärung beitragen, den Schiller zumindest an einer Stelle selber namentlich als Repräsentanten der gleichen Anstrengung eines antireduktiven Naturalismus erwähnt: Schiller (1893), S. 590. Im Schlussteil gebe ich einen Ausblick auf eine m ög­ liche Lesart angelehnt an Deweys Humanitätsideal (s. Kap. 4.2.3.), wonach sich die Person als andauernder ethischer Imperativ gegen das gesellschaftlich hergerichtete andere wie eigene Ich richtet. Howison (1901), S. XIV

4.1.2 Exkurs: Der „personale Idealismus“ von George Holmes Howison Auf den ersten Blick könnte die Entfaltung des Personalismus bei G. H. Howison (1834-1916) sowohl dem methodischen wie dem spekulativen Humanismus Schil­ lers nicht nur nicht verwandt, sondern geradezu als entgegengesetzt erschei­ nen. Hatte jener sein gesamtes Denken vor allem in den Dienst eines Angriffs auf den in Großbritannien vorherrschenden hegelianisch beflügelten Idealismus eines T. H. Green oder J. E. McTaggart, vor allem aber von F. H. Bradley und H. H. Joachim gestellt, um mit der naturalistischen und handlungsorientierten Perspektive einer Rekonstruktion des Idealen von unten bewaffnet eine „Philo­ sophy o f Evolution“ - so der Untertitel der ersten zwei von drei Auflagen seines Erstlings (in der dritten: „Philosophy o f Humanism“) - zu entwickeln, bildet bei Howison genau diese den scheinbar initialen Kontrapunkt: Ziel ist es hier umgekehrt, die „Limits o f Evolution“ - so der Titel seines Hauptwerks - aufzu­ zeigen. Dies wäre jedoch ein vorschneller, ja falscher Kontrast zwischen beiden, wie noch deutlich werden wird.412 Denn, dies sei schon jetzt vermerkt: Mit dem

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Zeitgeschichtlich begründen ließe sich diese nominelle Asymmetrie durch die glei­ chermaßen asymmetrische Gefechtslage in Nordamerika gegenüber dem Evoluti­ onsgedanken, wo es einen viel regeren öffentlichen, ablehnenden wie zustimmenden Diskurs dazu gab und damit im Unterschied zu Schillers britisch-europäischem Kampf nicht mehr für eine ernsthafte Wahrnehmung der Evolutionstheorie ange­ sichts des Bollwerks einer akademischen Situation, in der „all the important figures went around in idealist garb“ [Winetrout (1964), S. 158], geworben werden musste. S. hierzu die Darstellung in Bowler (2001), S. 18f., Werkmeister (1949), S. 80-102 und Boiler (1981), S. 2 2 -4 6 sowie die wohl instruktivste Darstellung im deutsch­ sprachigen Raum zur ablehnenden wie zustimmenden Frührezeption von Darwins Ideen in Nordamerika: Schwarz (2012), S. 61-89. Darüber hinaus gibt es aber auch eine inhaltlich relevante Unterscheidung zwischen Schiller und Howison: Versteht sich Letzterer tatsächlich als Apologet eines spezi­ fischen geschichtlichen Erbes, nämlich des christlichen, so ist Ersterer vielmehr ein experimentierfreudiger „Heide“, dem weniger an der Errettung einer bestimmten Tradition gelegen ist als an der Errettung der psychologisch und ethisch für sich erkannten Conditio h u m an a und damit der bspw. für ein vollwertiges Leben unaufgebbaren Hoffnungen wie die auf Unsterblichkeit. Ist also, überspitzt formuliert, der Leitstern Howisons das christliche Erbe, ist es bei Schiller mehr die menschliche Natur, wodurch er sich auch legitimiert sieht, für seinen spekulativen H um anism us andere Traditionen synkretistisch zu verwenden, wenn sie denn dem Anliegen sei­ ner normativen Anthropologie dienlich sein können. Insofern hat Schillers speku­ lativer H um anism us auch mehr den Charakter einer Vision „als ob“, die in ihrem 199

Begriff „Evolution“ meint Howison, nicht nur hier terminologisch eigenwillig, schlichtweg jede zu seiner Zeit die Runde machende monistische Philosophie, die den Menschen von einem Prinzip, einer Realität herkommend einverleiben und ihn darin seiner nur als Paar zu habenden Individualität wie Pluralität be­ rauben will - sei dieser Raub der irreduziblen Personalität unter dem Einfluss von Darwin mit den Waffen der Naturgeschichte oder von Hegel mit denen der Ideengeschichte vollzogen. Dadurch sind nicht nur die beiden Hauptkontrahen­ ten Howisons dieselben, die auch Schiller in den Riddles im Visier hat, nämlich sowohl ein reduktiver, evolutionsbiologischer Naturalismus (Schiller: PseudoM etaphysik) als auch ein ebenso reduktiver, neo-hegelianischer Pantheismus (Schiller: Abstrakte M etaphysik): Auch ihre Zielsetzungen konvergieren in der Vermittlung von Realität und Idealität, Phänomenalität und Noumenalität, Im­ manenz und Transzendenz und kreisen um das an allen Bereichen teilhabende lebendige Zentrum dieser für sich genommen blutleeren und darin destruktiven Abstraktionen - um den, richtiger: die Menschen. Beiden geht es damit im Kern darum, eine normative Anthropologie zu entwickeln, in der der Mensch als We­ sen im Hinblick auf seine moralischen Selbstvervollkommnungsmöglichkeiten unter dem Auspizium Gottes als vollkommener und darin vorbildhafter Person in den Blick genommen wird. Das von Howison (der sich ansonsten besonders, in kohärenter Selbstanwendung seines Ideals der Vertiefung intersubjektiver Beziehungen, wie Schiller als Lehrer an der Universität hervorgetan hat*413) erst mit Ende Sechzig publizierte, philosophisch entscheidende Werk „The Limits of Evolution, and other Essays illustrating the Metaphysical Theory of Personal Idealism“ (1901) besteht zwar aus einem Reigen von Artikeln, die eine große Spannbreite von Themen wie Evolution, Gott oder Freiheit umfassen, doch sind diese letztlich alle „united by a single metaphysical aim“414415:der Darlegung ein er „new idealistic philosophy“, die er „personal Idealism“ tauft.413

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konkreten Wie verhandelbar ist, wenn sich neue wissenschaftliche Erkennntnisse er­ geben, solange eben grundsätzliche Eckpfeiler wie die menschliche Freiheit Bestand haben, während Howison gegenüber seiner Metaphysik weniger spielerisch, „fiktionalistisch“ ist und sie als durch und durch real denkt. Es ist dieser Unterschied, der sich in Howisons Abgrenzung gegenüber dem von Schiller konstruierten Gott als ein neo-heidnischer „finite and pathological ,god“‘ kristallisiert. Howison (1901), S. XII S. hierzu Burrow Jr. (1999), S. 56 Howison (1901), S. 383 - Im Folgenden werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben. Wie in der Folge deutlich werden wird, ist es inhaltlich kaum überraschend, dass Howison in einem zweiten Vorwort auf den unter ebendiesem Titel erschienenen

Sammelband „Personal Idealism“ (1902), in dem auch Schillers „Axioms as Postulates“ veröffentlicht wurde, indigniert reagierte: s. Howison (1901), S. XXXff. Noch in seinem ersten Vorwort zu den Limits sieht er eine produktive Verwandtschaft zu Schillers spekulativem Humanismus, für den er dort, neben der bereits erwähnten kritischen Marginalie zu dessen Gottesbild, nur anerkennende Worte (wenn im Lob auch chrono­ logisch verkehrt, als sei Schiller ihm nachgefolgt) findet und ihn als „versatile author of that striking book, Riddles o f the Sphinx“, beschreibt, worin dieser „advances in support of our common view“. Howison (1901), S. XII. In seinem späteren zweiten Vorwort dagegen ist Howisons Urteil über den Sammelband nicht deswegen vernichtend, weil der Name übernommen worden zu sein scheint, sondern weil hier unter diesem Titel etwas gegenüber seinem Projekt Wesensfremdes firmiert: seinem christlichen Aufruf zur zwischenmenschlichen Perfektibilität gegenüber etwas viel Subjektivistischeres und ethisch Neutraleres, ja Metaethisches. Und auch in dieser Einschätzung liegt er für sich genommen richtig, kommt doch in diesem Band nicht Schillers spekulativer H um anism us ans publizistische Tageslicht, sondern gerade sein m ethodischer, der tatsächlich einen anderen, individualistische­ ren Fokus aufweist: im Unterschied zum Schiller der Riddles sowie - parallel dazu zum Howison des p erson al Idealism . Unklar bleibt jedoch, warum Howison hier wie von einem völlig separaten, dissoziierten Projekt spricht, als ob es sich nicht doch immer noch um den Schiller handelte, den er wenige Jahre zuvor als metaphysischen Komplizen gesehen hat. Verhindert wird damit schon damals die Frage, wie der m ethodische und der spekulative H um anism us (oder „personal idealism“) Zusam­ menhängen könnten, und damit das Aufdecken der Beziehung der Projekte von Schiller und Howison, die nach den A xiom s keineswegs als gänzlich divergierende hätte erscheinen müssen. Dies ist deswegen zu betonen, da es - jenseits der Schiller-Rezeption und der bishe­ rigen drei Monographien zu ihm von Abel, Winetrout und Porrovecchio, die alle­ samt keinerlei inhaltlichen Bezug zwischen beiden aufdecken - wohl diese spätere Einschätzung von Howison mit ausschließlichem Blick auf den Sammelband und die A xiom s war, die für die Rezeption des „American Personalism“, wozu neben ihm v.a. B.P. Bowne (1847-1910) gehört, bis heute richtungsweisend geblieben ist. Zusammen mit dem völligen Ausbleiben einer Neulektüre der Riddles führte dies zu einer institutionalisierten Verkennung bis Ignoranz der möglichen Position Schillers darin und des Personalismus überhaupt: Während Letzterer keinerlei Erwähnung in der Darstellung des Personalismus von Burrow Jr. (1999) findet, ist die Erwähnung in Bengtssons Arbeit eine Variation von Howisons späterer Wahrnehmung, er gehöre nicht dazu: „Schiller [...] although introducing some personalist themes that were in line with the broader movement, falls clearly outside the ambit of the latter by his pragmatist use of them.“ Bengtsson (2006), S. 20. In dieser Fehleinschätzung findet sich, auf zwei Rezpienten dividiert, die Standardwahrnehmung von Schiller wieder: Während seine „private“ Metaphysik unter den Tisch fällt oder als in seinem Werk desintegriert erscheint, wird allein sein m ethodischer H um anism us anerkannt und 201

Zeitdiagnostischer Ausgangspunkt ist wie bei Schiller die Attestierung einer alle Bereiche des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Lebens umfas­ senden Umwälzung zum Ende des 19. Jahrhunderts. Hat Letzterer diese phi­ losophisch abstrakter als Stadien einer Abwärtsspirale von Agnostizismus über Skeptizismus bis hin zum Pessimismus konzeptualisiert, spielt sich die Krise für Howison zugespitzter an der Front zwischen dem Ansturm eines neuen „Evo­ lutionismus“ auf die altehrwürdige Festung des Christentums ab. Dabei ist es selbstredend, dass das Christentum für ihn nicht vornehmlich Praktiken pri­ vater Glaubensrituale bezeichnet, sondern vielmehr das Gravitationszentrum der westlichen Kultur und ihres Menschenbildes in seinen „highest attributes“ ausmacht: „its ideality, its sense of duty, its religion“. All dies wird nun durch ei­ nen zweifachen „current Monism“ bedroht: Zum einen durch einen agnostischen Idealismus, wie er sich bei Herbert Spencer (1864) findet, der die „omnipres­ ent Power that doubtless is immanent in all things, and whose resistless infinity comes forth in the every growing process of evolution“ mit seinem wissenschaft­ lichen Fokus auf die Empirie als das Unerkennbare („the Unknowable“) in die philosophische Debatte eingebracht und gleichzeitig als eben dieses ausgeschlos­ sen hat. Zum anderen durch einen affirm ativen Idealismus neo-hegelianischer Couleur, der die wirkende Kraft des Evolvierens von einem unerkennbaren Prin­ zip mit Gott selbst gleichsetzt und damit zum pantheistischen Schluss gelangt, das „Drama of Evolution“ als sich in Teilaspekten in der Zeit manifestierende Entwicklung des Göttlichen zu begreifen: „All things are accordingly but aspects in the self-vision of the one and only eternal Consciousness“. (Iff.) Zwar ist es für Howison vor allem der erste Monismus-Typ, der um die Jahr­ hundertwende dafür sorgt, dass die anthropologischen und moralischen Inhalte des Christentums (gefühlt) als „inward struggle between the sense o f authority in what seems truth declared by science and the sense of majesty in what is felt to be an ineffable good which the apparent truth seems to put in peril“ (5) ins Wanken geraten, weil er, anders als der affirm ative Idealismus, welcher mehr in

Schiller damit zu kaum mehr als einem europäischen Suffix des Wirkens von James reduziert. Doch so wie Schiller zumindest als akademische Figur eine Ausnahmeerscheinung war, gibt es auch in seiner Rezeption mit deren mehrheitlichen Einschätzungen brechende Ausnahmen. Im Fall der personalistischen (Nicht-)Einordnung ist dies R.T. Flewelling (1938), der wohl größte Personalist des 20. Jahrhunderts außerhalb Deutschlands, der in seinem Nachruf auf Schiller einsam und bis heute folgenlos in ihm genau die Kreuzung der pragmatistischen wie personalistischen Bewegungen erkannt hat. 202

den scholastischen Debatten der Intellektuellenzirkel ausgetragen wird, sich mit seinem naturalistischen Nimbus besonders an die in alle Himmelsrichtungen vordringenden Erfolge der Wissenschaften und ihren technischen Ausläufern anhängen kann. Und dennoch teilen beide monistischen Varianten unabhän­ gig von ihrer ungleichgewichtigen, praktischen Zersetzungskraft gegenüber der Tradition die theoretisch entscheidende strukturelle Gemeinsamkeit: Indem sie die Potenz des evolvierenden Geschehens in Kosmos, Welt und Individuum in einem anderen Prinzip als dem Menschen ansiedeln - sei es im „Unknowable“ oder im „immanent God“ - , äußern sich beide als „destructive of the reality of human persons“. Der Mensch, einst aktiver Protagonist eines individuellen wie kollektiven Heilsgeschehens, wird so in beiden monistischen Drehbüchern zum passiven Statisten degradiert und seine Seele ihrer Autonomie und damit ihrer Würde beraubt.416 Pari passu erweisen sie sich als annihilierend gegenüber der „entire world o f moral good, o f beauty, and o f unqualified truth, which depends on personal reality for its being.“. Denn es ist diese Trias des Guten, Schönen und Wahren, die die Personalität als Mittelpunkt einer „threefold world o f ideal life“ (6), „our metaphysical and scientific, our aesthetic, and our moral consciousness“ (40) konstituiert, wie sie auch umgekehrt nur von dieser her entfaltet werden kann und deren Bedrohung auszusterben auch Schiller sieht (bei ihm: durch den Pessimismus). Doch anstatt einem „Reaktionär“ gleich die „hostility to the principles that are fundamental to the Faith“ (4) und den drohenden Wertraub an der Perso­ nalität durch Auflösung ihrer eigenständigen „dignity“ (7) allein zu beklagen und darin der unterstellten Ohnmacht des Individuums gerade in die Karten zu spielen oder auch taub und blind gegenüber dem Zeitgeist die christliche Sicht mit Wahrheit bzw. die Abwendung von der Tradition mit Lüge dogma­ tisch in eins zu setzen, geht Howison in kantischer Formation in die Offensive, um den so verstandenen „Evolutionismus“ in den „court of rational evidence“ zurückzudrängen und zuallererst zu fragen: „Just how much can the principle of evolution really do?“ (8)417 Oder anders formuliert, ob der Evolutionismus

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Dem entsprechend widmet Howison seine Schrift auch allen, „who feel a deep concern for the dignity o f the soul“. O b er diesem seinem Selbstanspruch tatsächlich Genüge leistet oder nicht doch letzten Endes seine Argumentation nach der Art aufbaut, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, also das als bewahrenswert Gesetzte von vornherein über Richtig und Falsch entscheidet, ist mehr als fraglich. Doch auch wenn Howison hier an seinem objektivistisch verkündeten Ziel scheitern sollte, ist dies für eine komparatistische Lektüre mit Schiller (und indirekt mit dem Pragmatismus) nicht nur nicht hinderlich, 203

naturalistischer wie pantheistischer Prägung als ein allein entscheidender Pro­ zess über die entmündigten Köpfe der Individuen hinweg wirklich keine „limits“ aus sich selbst heraus hat, wie beide Seiten in ihren, so wie Howison sie inter­ pretiert, auf volle Distanz gehenden Kosmologien behaupten. Es ist genau diese „extension of evolution“ durch deren Vertreter, die das Problem - vor allem im Fall des naturalistischen Evolutionismus - von einem rein wissenschaftlichen in ein tiber-wissenschaftliches, philosophisches überführt und verhindert, dass sich umgekehrt Howison dem Vorwurf auszusetzen befürchten müsste, sich als Nichtfachmann auf ein Gebiet zu begeben, zu dem er nichts als Banausentum beizutragen hätte. Denn wie im Folgenden deutlich wird, ist es keineswegs sein Anliegen, das Evolutionskonzept an sich anzugreifen, sondern nur dort, wo es die Grenzen seiner legitimen Anwendungsebenen durchbricht, und dies gerade nicht zu seinen eigenen Gunsten. Um die Pointe vorwegzunehmen: Das Ergeb­ nis ist der Intention nach nicht nur keine Negation der Evolution als solcher, sondern vielmehr ihre bewusste Stärkung durch ein kritisches und so robusteres Fundament, weil es sich nicht gegen die Personalität und ihre moralischen Be­ strebungen, sondern in Konkordanz mit ihnen entwickelt. Howison gliedert sein metaphysisches Verhör dazu in drei Fragen: „( 1) Whether evolution really has no limits at all? (2) Whether it has not limits even within the universe of phenomena, and, if it has, what these limits are? (3) If these limits, though recognizable, can still be passed, what is the only clue to the possibility of making evolution cosmically continuous?“ (9)

sondern geradezu förderlich, ist die Lektion des m ethodischen H umanismus ja gerade der Primat der Ethik über die theoretische, „desinteressierte“ Wahrheit. Dass auch Howison in der Hinsicht „nur“ Pragmatist ist, der antritt, um das Gut des Christen­ tums theoretisch zu rechtfertigen, wird nicht bloß in der bereits zitierten Widmung des Buchs deutlich, sondern auch dort, wo er seinen Personalismus gegenüber an­ deren Positionen dadurch verteidigt, dass er behauptet, allein dieser vermöge den „conditions essential to the existence of a moral order and to the possibility of a moral life in individuals“ gerecht werden. Ob aber Freiheit nur so und nicht anders gefasst werden kann, wie er sie - als eine kantische, die absolut ist, weil sie der Empirie enthoben ist - als einzig mögliche prätendiert, bleibt außen vor. Mindestens an einer Stelle in seinem Werk scheint er dies auch, vielleicht in (falscher) rhetorischer Demut, offenzulegen, wenn er sein Ziel darin definiert, „to leave room for that freedom for w'hich [...] genuine human goodness and a government really divine are, for m e, irreversibly conditioned.“ (3 1 7 -H e rv .d . G.K.T.) 204

Dass die biologischen Evolutionisten um Spencer die erste Frage selber schon ambivalent beantworten, wird durch den bereits erwähnten, hinter dem empi­ rischen Geschehen steckenden Bereich des „Unknowable“ indirekt nahegelegt. Die kantische Distinktion zwischen der empirischen Anschauung und dem Be­ grifflichen wiederholend, beziehen diese den Gedanken des Evolvierens auf Ersteren: „the facts of direct experience“. (13) Dass dieser allein jedoch nicht in der Lage ist, die transzendentale Grundlage für Evolution zu gewährleisten, liegt für Spencer - und darin geht Howison d’accord - daran, dass die Elemente in der Wahrnehmung selber nur das sind, was sie sind. Ohne in sie hineingetragene Prinzipien von Ordnung, (kausaler) Verbindung und Stratifikationsreihen der Komplexität, die von Begriffen wie „Wachstum“ und anderen aus dem Wörter­ buch der Evolutionstheorie vorausgesetzt werden, wiesen die Objekte an sich nicht mehr aus als schlicht ihre jeweils faktische Gegebenheit, und als Ganzes ge­ sehen bliebe nicht mehr als ein undifferenzierter Fluß, eine endlose wie amorphe „transmission“ (39). Hier kommt der Bereich des „Unknowable“ zum Tragen, der die Unfähigkeit des rein in seiner Faktizität Gegebenen, ein evolutionäres Geschehen darzustellen, kompensieren soll: „ [A] higher or profounder reality which reason requires us to assume as the indispensable and sufficient ground for the occurence and the ceaseless changing of the former, and, above all, for those changeless connexions of sequence and position which we observe among them, and which by common consent we designate as the laws of cause and effect, or of the uniformity of Nature.“ (13)

Dass dieser die empirische Realität strukturierende Bereich unerkennbar sein soll, liegt daran, dass innerhalb dieses Evolutionsparadigmas der Mensch ja ge­ rade nicht mehr - und dies im Unterschied zu Kant - als Bewohner zweier Wel­ ten, der phänomenalen und der noumenalen gedacht wird und damit - ebenso im Unterschied zu Kant - die „paramount question“ (17), ob dem Menschen auch ein apriorischer, schematisierender Verstand zukommt, der unabhängig von Erfahrung existiert, verneint wird. Dies nicht zuletzt auch deshalb, um dem höchsten Adel der Naturwissenschaften als Königsdisziplin der Zeit Rechnung zu tragen. Doch der Versuch, in der Folge ihrerseits ordnende Kategorien wie Raum und Zeit als bloß subjektive Kategorien, als sich sukzessive durch „evo­ lution and heredity“ (20) herausbildende zu erklären, scheitert für Howison an einer petitio principii. Denn beide müssen immer schon vorausgesetzt werden, um von einem zweifellos nur zeitlich und räumlich begreifbaren Herausbilden sprechen zu können. Alternativ könnte dann zur Annahme von Formen in der Dingwelt selbst Zuflucht genommen werden: von objektivem Raum und objek­ tiver Zeit, wo sich langsam die subjektiven Wahrnehmungsformen entwickeln

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können. Doch dies hieße für Howison, zu einer „antiquated metaphysics“ zu greifen, „which talks about existence p er se, out of all relation to minds, and which, at any rate in respect to the nature o f Time, received its quietus in Kant’s T ra n scen d en ta l Aesthetic.“ (21)4ls Dass die hier gezogene Demarkationslinie des Agnostizismus, die den Bereich des „Unknowable“ umrandet, darüber hinaus auch noch einen Selbstwiderspruch enthält, gleicht der Kritik, die Schiller, wenn auch als Mephistopheles verkleidet (s. Kap. 2.1.), am Konzept des Unerkenn­ baren übt: Das empirisch Unerkennbare kann nicht derart unerkennbar sein, denn es wird ja als existenter Bereich erkannt, wodurch der zuerst durch und durch naturalisierte Mensch wiederum in ein erkennendes Minimalverhältnis zum Über-Empirischen, Noumenalen gesetzt wird, woraufhin Howison die Fra­ ge stellt, „why should we be smitten with sudden distrust of these supersensible418

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Dass die Debatte um die Frage, wie und ob die modernen Naturwissenschaften im Allgemeinen bzw. die Evolutions- oder Big-Bang-Theorie im Speziellen Raum und Zeit in einer (kantisch gesprochen) „ptolomäischen“, absoluten Form (in den meisten Fällen wohl implizit, sich der Fragwürdigkeit kaum bewusst) konstruieren, richtiger: als erfahrungsunabhängig gegeben annehmen müssen, um von Millionen bis Milliarden Jahre, als es noch keinerlei „Wahrnehmung“ geben konnte, zurücklie­ genden Ereignissen und Entwicklungen in Raum und Zeit sprechen zu können, zeigt das Aufkommen des sog. Neuen bzw. Spekulativen Realismus. So wird genau dieses Problem bspw. von Q. Meillassoux als „Antinomie der Anzestralität“ diskutiert und die Gültigkeit der Erkenntnisse der Wissenschaften, die sich mit Ereignissen „vor der Entstehung von Leben auf der Erde“ befassen, gegen den kantisch induzierten Anti-Realismus, „der die moderne Philosophie beherrscht“, in Stellung gebracht. [Meillassoux (2013), S. 25f.[ Mission dieser Bewegung scheint zu sein, die „kopernikanische Wende“ Kants rückgängig zu machen und zur „Suche nach dem Absoluten“ (ebd., 24) zurückzukehren, auch um Wissenschaften vom Anthropomorphismusvor­ wurf zu befreien und sie darin allererst in ihrer Selbstbeschreibung als Erkenntnisse der Objekte der Forschung (und nicht der Erkenntnisse der Forschungspraktiken) philosophisch zu rehabilitieren. Ob dies den „Realisten“ gelingt und diese tatsäch­ lich so „neu“ sind oder nicht doch die Debatte des „Critical Realism“ der 20er Jahre [s. Drake et. al. (1920)] wiederholen, sei dahingestellt - Wert kommt der Bewegung tatsächlich schon dadurch zu, die Gewichtigkeit dieser Frage (wieder) offen betont zu haben, die in der einmauernden Spezialisierung der Fachbereiche übergangen wird: Ein gegenwärtiger Zustand, der der Form und dem Ethos nach - gerade in der „Philosophie“, insbesondere bei den heutigen „Kantianern“ - durch und durch un-kantisch ist, bezeichnet das „Genie“ Kants auch den Willen zur Synthetisierung der Wissenschaften, die allererst eine Offenheit für ihre (scheinbare) Divergenz nötig macht.

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powers when we come to the problem of knowing the nature of this transcen­ dent Being?“ (24) Die zw eite Frage, ob der Evolutionsgedanke nicht auch bereits innerhalb des Phänomenalen Grenzen kennt, ist die danach, wie das ursprüngliche Gebiet der Evolution, das Reich des Organischen, auf das es umzingelnde Reich des Anorganischen erweitert werden kann. Ist die Evolution der „living beings“ de­ finierbar durch eine „likeness due to descent and birth“, geht bei der unbelebten Materie nämlich genau dies und damit ihr „native meaning“ (26) verloren. Das Fehlen einer empirischen Antwort - denn allein eine solche müsste der agnostische Evolutionismus bei. Selbstanwendung geben, nachdem er die Verbin­ dung zu den erfahrungsunabhängigen, reinen Kategorien gekappt hat - auf die pointiertere Frage, wie der Übergang von lebloser Materie zu Leben (oder vice versa) erklärt werden kann, führt Howison zu der rhetorischen Gegenfrage, die gleichzeitig skeptische Antwort auf die zweite Hauptfrage und damit eine weitere Begrenzung eines totalen Evolutionismus ist: „Why should we believe that such a continuity exists at all?“ (27) Die dritte Frage, wie die bisherigen Schwierigkeiten gelöst werden könnten, führt Howisons kritisches Verhör zu seiner eigenen Position: Sowohl die Schwie­ rigkeit, eine verständliche Verbindung zum Unerkennbaren, eine Verbindung zumal von einem als bloßem Naturwesen definierten Menschen zum Bereich des Übernatürlichen herzustellen, als auch die Schwierigkeit der empirischen Überbrückung vom Belebten zum Unbelebten im Dienst eines Evolutionsge­ schehen lässt ihn den eigentlichen Protagonisten seiner Philosophie auffreten: den qua Verstandesleistung das an sich unintelligible Sein in ein verstehbares Geschehen überführenden Menschen. Dieser ist auch im agnostischen Idealis­ mus zentral am Werk, doch endet dieser deswegen in den genannten Aporien, weil der Mensch dort als Teil des ausschließlich Phänomenalen innerhalb der Theorie - in performativer Selbstwidersprüchlichkeit - nicht die Fähigkeiten zugesprochen bekommt, die der Theoretiker der Evolution selber in Anspruch nimmt, um das Naturgeschehen als Ganzes evolutionär zu entziffern. Letzte­ rer geht über die am Material manifesten Brüche (belebt/unbelebt) durch die transzendentale Unterstellung einer „Continuos Copula“ (30) zwischen beiden hinweg und verharrt so nicht einfach beim rein positivistischen Auflisten der distinkten Aktualitäten der Faktizitität, die, wie gezeigt, an sich noch keine Kon­ zeption einer Gesamtevolution fundieren würden. Howisons Vorwurf ist damit derselbe, der auch schon Schillers m ethodischen Humanismus begründet, näm­ lich die weltschöpferische Leistung des menschlichen Geistes zu verkennen: „This is like settling the nature and reality of the landscape while ignoring the

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nature and existence o f the eye that sees it and in truth gives it being, or helps to give it being.“ (31) Stattdessen wird die Konstituierungsleistung des Menschen vom Evolutionisten fetischisiert, als objektiver Tatbestand der Welt gänzlich un­ abhängig von ihm zugerechnet und ihm als starre und anonymisierte Idolatrie seiner selbst: als die Wahrheit, das Absolute oder das „Unknowable" vorgehalten. Als weitere Beweise im Prozessverfahren gegen eine menschenunabhängige Evolution und für die Rolle des Geistes, präziser: des „mind in man“ (31) als ihre Ermöglichungsbedingung listet er in der Folge sämtliche Anschauungsformen auf, die dieses Konzept immer schon in Anspruch nehmen muss: Raum und Zeit, Veränderung und Fortschritt, Verursachung; logische Einheit, die die empirisch unüberbrückbaren Differenzen wie zwischen Anorganischem und Organischem überbrückt; und vor allem Finalursache bzw. Idealität. Es ist Letztere, die den zentralen Punkt für ihn darstellt, da sich in ihr die Bewahrung der zentralen Ideale von Wahrheit, Schönheit und dem Guten als in der Realität wirksame Ideale anbahnt, und dies nun gerade im Licht der für diese anfänglich als Be­ drohung verstandenen Evolutionstheorie. Wie im Fall Schillers geht es auch hier um die Rehabilitierung der Teleologie, die immer schon den „very vital cord“ (39) des Evolutionsgedankens ausmacht, wenn er von einer Entwicklung von ei­ nem Zustand hin zu einem anderen sprechen können will, wobei der (vorläufige) Letztzustand als ordnende Idealisierung ansonsten bloß selbstgenügsamer und selbstreferenzieller Fakta dient und damit ein Herauspräparieren bestimmter Er­ eignisreihen aus unzähligen einzelnen Ereignissen ermöglicht, um in ihnen erst eine kausale Beziehung im Speziellen, d.h. in Bezug auf diese, nur diese ausma­ chen zu können. Niemals käme man sonst über das Erkenntnisnullum hinaus, dass einfach alles mit allem zusammenhängt. Konkret: Will man die Existenz der menschlichen Physiologie evolutionsbiologisch herleiten, muss man diese als Ideal der Vorstufen begreifen, um sie mit jenen in eine Reihe der sich langsam bahnbrechenden Entwicklung zu stellen und damit Aktualitäten früherer phy­ siologischer Organisationen als deren Vorformen synthetisieren und evolutionistisch deutbar machen zu können. „Throughout Nature, as distinguished from idealising mind, there reigns, in fine, no causation but transmission.“ (39)419 Die „spiritual nature“, den Verstand als „secret Active Nexus“ (41) und stillen Hauptakteur der evolutionären Perspektive aufgedeckt und von einem ominösen wie anonymen „Unknowable“ emanzipiert sowie dieses damit unnötig gemacht

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S. zu dieser bei Schiller analogen Rehabilitierung der Teleologie als einer von der Idee der Kausalität nicht bedrohten, weil ihr gegenüber eigenständigen Interpretation der Realität: Kap. 4.1.1.

zu haben, ist das „negative“ Ergebnis von Howisons Kritik des agnostischen Evolutionismus: „Man the spirit, man the real mind, is not the offspring of Nature, but rather Nature is in a great sense the offspring of this true Human Nature.“ (48) Diese erste, kantische Hälfte des Fundaments seines „personal Idealism“, dem Menschen aus der (Selbst-)Einpflanzung in die Natur herausgeholfen zu haben, indem er transzendentallogisch argumentiert, dass der Mensch diese evo­ lutionäre Natur mit seinem kategorialen Verstandesapparat allererst miterzeugt (die Parallele zu Schillers m ethodischem Humanism us ist kaum zu übersehen), gewinnt in der hieran anschließenden Kritik an der zweiten Form des Evolutio­ nismus - des pantheistischen Idealismus - weitere entscheidende, positive Kon­ turen, die ihn äußerst nahe an Schillers spekulativen Humanismus heranführen. Hatte der agnostische Part die menschlichen Konstitutionsleistungen in einen der Empirie jenseitigen Kontinent exiliert, zu dem gleichzeitig der naturalisierte Mensch keine Hoffnung auf Zugang hegen kann, ist der Pantheismus in dieser Hinsicht ein „step greatly human“, weil er die Kraft hinter dem Werden der Welt zumindest einem intelligiblen, weil vernünftigen Prinzip (Gott) überantwortet und damit, durch Stärkung der „chance for hope that the existence o f no con­ scious beings may fail everlasting continuance and fulfilment“ (43), in Bezug auf die menschliche Aspriation auf Verwirklichung seiner vernunftgemäßen Ideale harmonischere Töne anzuschlagen verspricht. Und dennoch: Auch der Pantheismus wirkt sich zersetzend auf die mensch­ liche Person aus, indem „it decidedly tends to leave all individual minds in the world of mere phenomena [... ] by being parts or modes o f the Sole Noumenon“ (43). Anonymisierte der Agnostizismus die Konstitutionsleistungen des Menschen zu einem abstrakten, über ihm waltenden Prinzip, beschränkt sie nun der Pantheismus allein auf Gott und verkennt dabei, dass die Erfahrung der (evolutionistisch) geordneten Empirie nicht nur durch apriorische, d.h. die rei­ ne Faktizität übersteigende, unabhängige Verstandeskategorien erbracht wird, sondern diese nicht in einem Bewusstsein (Gott), sondern von allen Individuen selber vollzogen werden. Letzteres zu leugnen, hieße jedes Bewusstsein außer dem Gottes zur Illusion zu erklären, denn das einzelne Bewusstsein besteht vor allem in der vermittelnden Synthese der genannten transzendentalen Katego­ rien und der brute facts zur geordneten Anschauung: „It is just in thinking all these elements in an active originating Unit-thought, or an ,Γ, that the essential and characteristic nature of man or any other real intelligence consists.“ (47) Es ist^ also die Annahme einer letzten, irreduziblen Pluralität selbst-aktiver Zentren in Howisons Kosmos, die ihm nicht nur deswegen notwendig erscheint, damit der Mensch sich nicht zur epiphänomenalen Illusion eines anderen, göttlichen

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Bewusstseinstroms erklären muss, sondern auch, damit umgekehrt von Gott als einem personalen Gott gesprochen werden kann. Denn entgegen dem ersten Anschein verbirgt sich hinter dem Pantheismus nicht nur die Aufhebung der In­ dividualität der Menschen zugunsten eines göttlichen Totalitarismus. Vielmehr bedeutet diese Depersonalisierung des Menschen gleichzeitig die Depersonalisierung Gottes, da Personalität allein als reziprokes, relationales Verhält­ nis, also immer nur in einer Vielzahl von Personen, ja, in einer untereinander verschränkten moralischen Gemeinschaft gedacht werden kann: „For it is the essence of a person to stand in relation with beings having autonomy, in whom he recognises rights, toward whom he acknowledges duties.“ (52) Die im Pan­ theismus gedachte unendliche Allmacht Gottes wäre tatsächlich gar keine wir­ kende Macht mehr, da es in einem solchen Kosmos keine auch nur potenziell ontologisch eigenständigen und damit real widerspenstigen, außergöttlichen Elemente mehr gäbe, über die Macht als eine Verbindung zwischen Elementen überhaupt erst ausgeübt und so Realität werden könnte. In diesem zentralen Punkt lässt sich wohl am deutlichsten das Echo \mn Howisons eigener hegeli­ anischer Sozialisation vernehmen, die ihn davor bewahrt, mit dem zuvor be­ nutzten kantischen Vehikel des „transzendentalen Subjekts“ in den Graben eines monadischen Solipsismus zu fallen, und stattdessen dieses von einem geradezu „eternal pluralism“ (289) her denken lässt. Die personale Existenz Gottes macht also eine Vielzahl von Personen nötig.42'1 Von diesen Personen, nachdem sie von Howison als der Natur und der in ihr waltenden Wirkursachen transzendente Subjekte ausgewiesen wurden, spricht er nun nicht mehr als „Menschen“, sondern als „free minds“, welche die Bewoh­ nerschaft einer „City of God“ ausmachen, deren Urgrund die Verbundenheit420

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Die umgekehrte Annahme, dass die personale Existenz der Menschen, ebenso ei­ nen personalen Gott nötig macht, ist auch gegen Howisons eigene Annahme nicht zwingend. Andererseits ist es wohl kaum überraschend, dass es auch ihm nicht ge­ lingt, Gott zu „beweisen“. Es ist zwar durchaus plausibel darauf zu zeigen, dass im „complex of experience“ (48) der Menschen etwas wirkt, das die reine Erfahrung überschreitet und als Ideal diese mitformt, aber warum muss dieser, im Folgenden noch deutlicher werdende ideale Gegenpart der solipsistischen Regression des Indi­ viduums derart externalisiert werden, dass er am besten zu interpretieren ist als eine „limit which points to the cooperation of some other noumenal being with men and other conscious centres“ (49)? Die „free minds“ könnten genauso gut in sich komplex gefasst werden, sodass sich der Widerstreit zwischen dem idealen Anspruch auf per­ sonale Kooperation und dem Bild der empirischen Realität eines allein universellen Egozentrismus aus der komplexen „Natur“ des/der Menschen selber ergäbe - ohne personalen Gott.

untereinander als Personengemeinschaft ist. Gott selber ist damit - der christ­ lichen Imago-Dei-Lehre folgend - nicht von grundsätzlich anderer Art als die menschlichen „minds“, sondern deren Perfektion: die vollkommene Person. Die von Hovvison selber gesehen kontroverseste Implikation, die hierin liegt und die sich aus seinem unbedingten Willen zur Substituierung der moralischen Au­ tonomie des Einzelnen ergibt, ist die Suspension der Vorstellung einer „literal creation“ (394) durch Gott und seiner ursächlichen Schöpferkraft im Sinne eines ersten unbewegten Bewegers. Eine mit weiten Teilen der Orthodoxie brechende „häretische“ Annahme, mit der in Howisons Augen allein das für jeden geltende „principle of moral life, the life o f duty freely followed“ (394) bewahrt werden kann. Denn von Gott geschaffen, ließe sich die Verantwortung immer zurück deligieren an die erste Ursache der gesamten Menschenreihe: sei es als Ursache für ihre Imperfektion oder Determination. Howison dagegen, mit dem fast aus­ schließlichen Augenmerk auf die Bewahrung autonomer Wahlmöglichkeit des Menschen zwischen Alternativen als der Krux der „self-activitv“ (319) von Per­ sonen - eine Priorisierung, wie sie in dieser Stärke wohl sonst nur noch, ironisch genug, vom atheistischen Existenzialismus derart zum ersten Prinzip erkoren wird - , entlastet Gott vom Schöpfungsakt und bringt ihn dadurch aus der Ge­ fahrenzone der Theodizee, für das Böse in der Welt verantwortlich zu sein. Als Konsequenz der personalen Freiheit lastet die Schuld nun auf den Menschen auch wenn Howison nicht nur hier jenseits des eindeutigen, aber abstrakten Be­ kenntnisses beim genaueren Blick auf das Wie reichlich nebulös bleibt: „The evil in the world is the product of the non-divine minds themselves: the natural evil, of their very nature; the moral, the only real evil, of their failure to answer to their reason with their will.“ (392) Gott selber kann so wieder als makellose Lie­ be gefasst werden, die sich universell auf alle Personen bezieht, kann doch auch er als eine weitere, in seiner Vollkommenheit besondere Person nicht nur nicht indifferent gegenüber all den anderen sein, sondern es ist gerade umgekehrt sei­ ne Beziehung zu allen anderen, die seine personale Perfektion ausmacht. Nicht mehr ihr Schöpfer, dafür aber das Ideal aller. Insofern diese selber gotteseben­ bildliche Personen sind, wirkt er nicht mehr direktivistisch und entmündigend von der Warte absoluter „Sovereignity“ (252) wie in den vor- bzw. nichtchrist­ lichen Monotheismen, sondern als „Friend and moral Father of men, who calls every human being, every spirit, to the equality of sharing in that fulness of spiritual powers which constitutes the Divine glory.“ (253f.) \ Dass Gott nicht mehr in einer angenommenen Absolutheit der unendlich Andere ist, sondern die ideelle Perfektion von jedem, ist der entscheidende radikale Schritt, der nach Howison mit dem Christentum gegangen wird. Die

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Menschwerdung Gottes in der Person Jesu als Verwirklichung eines solch gött­ lichen Lebens und gleichzeitig als einsichtsgeleitetes Vorbild für alle anderen Personen, selber ein Leben der Selbst- und Fremdvervollkommnung zu führen, ist deswegen „not simply new, it was absolutely revolutionary“ (251), weil sich hierin die kopernikanische Wende avant la lettre vollzogen, die Autonomie des Einzelnen erstmals Anerkennung gefunden hat: weg von den äußeren Geset­ zen, der „Method of Authority“ und ihrer „External Evidence“ (232), „tested by power alone“ (262) und hin zum Reich der universellen, weil für jeden aus sich selber heraus einsichtig machbaren Vernunft mittels „Method of Conviction“ und ihrer „Internal Evidence“ (232). Dass die leitende Funktion Gottes nicht im Widerspruch zur Freiheit der übrigen Personen steht, liegt daran, dass Howison Freiheit nicht als Ausleben eines anarchischen, sich in alle möglichen Richtun­ gen ausbreitenden Chaos, kurzum: als Willkür denkt. Vielmehr besteht sie für ihn in der durch sich selber, autonom in Angriff genommenen Verwirklichung des inneren Personenkerns als gottgleichem Wesen, der, relational verknüpft mit dem Schicksal der anderen Personen, gerade darin besteht, diesen wiederum zu ihrer Selbstentfaltung zu verhelfen. Dies ist in der universellen, ausnahmslosen Liebesbeziehung Gottes „for every soul alike“ (246), der Agape, als Vorbild für und gleichzeitig in einem jeden Menschen vor- und ausgelebt. Gott ist damit „perfect intelligence or reason“ (327) eines jeden erfüllten personalen Lebens. In diesem ethischen Avantgardismus Gottes lässt Howison dann auch sei­ ne eigene Variation einer göttlichen Schöpfung reüssieren: nicht mehr als ers­ te Ursache, die niemals dazu imstande wäre, etwas von sich selbst Apartes und in diesem Sinne Unabhängiges zu erzeugen, wie es Personen im Hinblick auf deren Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung dafür sind, sondern eine Schöpfung verstanden als teleologischer Horizont des vollkommenen Lebens, als letztes Ziel. Also nicht mehr Bevormundung oder Entmündigung, sondern gerade Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, die darin besteht, die moralische Egalität und die aus ihr erwachsene Verpflichtung untereinan­ der zu verkennen, indem die universelle Verbindung aller mit allen egozent­ risch aufgetrennt wird. Gott wird so als Prinzip der Selbstentgöttlichung durch menschliche Verbrüderung vom Herrn zum Freund: der Dienst am Menschen umgekehrt zum Gottesdienst ebenso wie zur Ausübung der Freiheit der eigenen Person, die nur im Verbund mit der Freiheit aller ihr Wesen verwirklichen kann und darin zu einem Prozess der Überwindung der Übel der Welt wird.421 Die

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Mit dieser radikalen Ethisierung der christlichen Heilsbotschaft ist Howison ein weiterer Kandidat innerhalb der in der Gegenwart von S. Critchley (2007) gegen die

Geschichte der Menschheit, die Evolution selbst wird zum Ort der moralischen Läuterung des Menschen, die gleichzeitig, wenn aktiv in eine positive Richtung als Emanzipation von Unvernunft und Depersonalisierung gegangen, erst seine volle Selbstwerdung bedeutet. Nicht nur ist es damit die Kritik am Pantheismus bzw. am absoluten Idealis­ mus und die am sich an einem (vermeintlich) lediglich an blinden Kausalursa­ chen entlanghangelnden Naturalismus, sondern auch die positive Quintessenz des personalen Idealismus von Howison: die kosmische Evolution als eine Sze­ ne pluraler Personenentfaltung zu enträtseln, von Selbsten, die weder geschöpft worden sind noch in Gott den ganz Anderen, einen deus absconditus erblicken, sondern mit ihm eine perfektible Personalgemeinschaft, eine „Eternal Republic“ bilden - auch diese Quintessenz ist der kosmogonischen und geschichtsphilo­ sophischen Lehre in Schillers spekulativem Humanismus, den dieser jedoch vor seinem „old friend“422 Howison entwickelte und publizierte, wie im folgenden Kapitel herausgearbeitet wird, mehr als artverwandt.

4.1.3 Schillers Theatrum M undi - Die Welt als Erziehungsstück zwischen Gott und den Menschen Es ist die „reality of the Seif“, die für Schiller die letzte wie erste Evidenz aus­ macht. Sie kann auch von der pessimistischsten Logik nicht über Bord geworfen werden, da sie als von einem sich für die pessimistischen Prämissen „Interes­ sierenden“ und sie Wählenden von einem Selbst abhängt, das auch die Schluss­ folgerungen einer solchen Weltanschauung austrägt und am Leben erhält: die Gesellschaft und ihre Institutionen und Glücksversprechen zum Schein zu er­ klären. Würde diese sinistre Logik jedoch auch das sie vertretende Selbst zum Schein erklären, würde sie, cartesianisch argumentiert, „manifestly cutting away the basis of its own argument“423. Diese Ur-Realität der Bewusstseine also - „it is the Alpha, the startingpoint, and it would not be surprising if it turned out also the Omega, the goal of philosophy” (141) - , derer Schiller als spezielles Präzedens des Postulierens

existenzielle Apathie im Zeitalter des globalen Kapitalismus angestoßenen und vor allem anhand der Schriften von K. Logstrup und E. Levinas aufgefädelten Debatte

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darüber, wie „unendliche Forderungen“ trotz oder gerade wegen ihres Unmöglich­ keitscharakters dennoch gelten, ja Pflichten sind. Oder umgekehrt gefragt: Inwieweit dem „Realismus“ ein ethischer Stellenwert einzuräumen ist. Schiller (1934), S. 164 Schiller (1891), S. 138. In diesem Unterkapitel (4.1.3.) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben. 213

(„sentient level of consciousness“, Kap. 3.3.) vorgängig sowie grundsätzlich als Agenten des Wählens und damit Zentrum des m ethodischen Humanismus be­ nötigte, ist nun im spekulativen Humanismus zweifach entscheidend. Zum ei­ nen als methodische Begrenzung seiner teleologischen Erklärungen, insofern die Menschen, zu denen ja auch der eine solche Vision postulierende Schiller gehört, noch nicht am Ende der Geschichte angekommen sind und damit die (möglichen) Ideale endgültiger, zukünftiger Letztziele, aus und in der konkre­ ten Vergangenheit und Gegenwart destilliert, selber nur aus der Ferne als antizi­ pierte Zukunftshypothesen gegeben sein können: Versprechen und Hoffnungen statt bereits verwirklichte und gelebte Realitäten424, Initiationen zum Anpacken statt Quellen des parasitär-hedonistischen Genießens und Ausruhens. Zum an­ deren sind die menschlichen Bewusstseine hier inhaltlich entscheidend, inso­ fern sie zu Protagonisten eines kosmischen Drehbuchs, in dem die Realität der wählenden Selbste nicht nur deskriptiv aufgedeckt, sondern in einen sinnstif­ tenden geschichtsphilosophischen Horizont gerückt werden, der ihre Hoffnun­ gen nicht nur nicht zum pessimistischen Schein verurteilt, sondern optimistisch die Möglichkeit ihrer Realisierung denkt. In der Möglichkeit, in der kosmischen Evolution eine teleologische Entfal­ tung sehen zu können, nach der nicht einfach B auf A folgt, sondern A ist, damit B werden kann (Kap. 4.1.1.), steckt für Schiller, einen Schritt weitergehend, das Einfallstor für die Annahme Gottes, insofern die Zweck-Mittel-Logik ja gerade aus dem Bereich der Intelligenz des Menschen als einem vorausschauend pla­ nenden Akteur stammt und übertragen wird und somit nicht sinnvollerweise von der intelligente Autorschaft abgetrennt werden kann. Ein solcher „Gottesbe­ weis“ ist aber nur ein aposteriorischer, folgt er doch lediglich aus einer möglichen Annahme einer legitimerweise durchführbaren Interpretation der Erfahrung als teleologischer, die in der Entzifferung des materiellen kosmischen Prozesses

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Um diese Beziehung der leitenden Aufhellung des Nahen durch das Ferne, dessen letzte Erreichung nicht wie eine Negation des Nahen („confused anthropomor­ phism“), sondern vielmehr, und darin eben doch entgegen Schillers Selbstverortung (s. Kap. 4.1.) eher der Idee des „absoluten Geists“ von Hegel verwandt, als dessen höchstmöglicher panoramaartiger Überblick über den zurückgelegten Weg erscheint, greift der passionierte Bergsteiger Schiller [Marett (1938), S. 5] auf ein entsprechendes Bild zurück: “For just as in ascending a mountain the higher peaks are the first to be perceived, the first whose groupings can be understood, just as it is not until we reach the summit that we rise to a free purview of the whole, and that the inter-connection of the lowlands and the direction of the valleys can be made out”. Schiller (1891), S. 164

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einen „disguise of Spirit“ (276) entdecken will und kann (wie in der regionaleren Ausbreitung der Differenz von Individuum und Gesellschaft ins Reich des Vor­ menschlichen vorgeführt, s. Kap. 4.1.1.). So wird die Geschichte eine zwischen Gott und den Bewusstseinen der Men­ schen wirkende Interaktion, in der der „Divine spirit“ (435) vermittels teleolo­ gischer „forces“ und „efforts“ (274) in Beziehung mit den Menschen steht und sich in der Welt und als irdischer wie kosmischer Prozess abspielt, auch wenn das genaue Wie wie schon bei Howison reichlich rätselhaft bleibt. Als materielle Inkarnation bei gleichzeitiger Ko-Produktion des Empirischen im Sinne eines interaktiven Verhältnisses zwischen Gott und den menschlichen „spirits“ ergibt sich zumindest, dass jeder Mensch auch etwas über sein phänomenales Selbst hinaus sein muss: Wie könnte ansonsten das Phänomenale von diesem miter­ zeugt werden? „This distinction may be marked by calling the Self as it appears, the phen om enal self, and the self as the ultimate reality, the Transcendental E go’.’ (279 - Herv. i.O.) Während das phänom enale Seihst nur eine momentan bewusst aktualisierte Realität darstellt, neben der es noch zahlreiche andere mehr oder weniger stark von ihm abgelöste Realitäten gibt, wie sie im Traumbewusstsein oder auch in der Bewusstmachung des Unterbewusstseins durchschimmern, die von der experi­ mentellen Psychologie zu Schillers Zeiten als Phänomen der „double or multi­ fold and alternating consciousness, multiplex personality, and .secondary* selves“ (282) thematisiert worden sind, ist das transzendentale Ego Überschuss gegen­ über jeder einzelnen Realität, weil Letztinklusion aller bewussten Teilaspekte: Sind die empirisch zutage zu fördernden, bewussten Bewusstseinzustände des Menschen nur „portion o f our self which has happened to come to the surface [..] our habitual or normal selves“, gilt vom Ego als dem sie bündelnden Rahmen, dass es „includes them all, and this inclusion justifies us in reckoning these phe­ nomena part o f ourselves.“ (283) Diese Letztsituierung der Menschen jenseits ihrer materiellen und damit entstehenden wie vergänglichen Formen bietet Schiller die Möglichkeit, sie zu ultimativen Realitäten werden zu lassen, d.h. zu „superhuman forces“ (435), Göttern gleich und damit zu Verendlichungen der Omnipotenz Gottes, insofern sie ebenso wie dieser immer schon da waren und auch sein werden, wodurch Schiller - auch hierin mit Howison konkordant - das Problem der Theodizee auflöst: Gottes Güte ist total, während es seine Allmacht nicht ist, weil dem M en­ schen aktive Gestaltungskraft an der Schöpfung zukommt. Die in Kapitel 4.1.1 beschriebene Irreduzibilität einer minimal ausdifferenzierten Pluralität die vor jedem Anfang angenommen werden muss, soll nicht aus dem reinen

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unendlichen Amorphismus eine Geschichte als wandelndes Verhältnis von Tei­ len ex nihilo, d.h. unerklärlicherweise entstehen - wird hier von Schiller mit der Bedeutung einer Vielzahl von „spiritual beings“ (434) als „pre-cosmic state“ mythisch aufgeladen, wenn auch im Grundansatz in Übereinstimmung mit der Berichterstattung der Astronomie vom antezedenten Zustand der kosmischen Entfaltung: „from a metaphysical point of view, it is not true that the atoms in the primitive nebula exist in entire isolation, so long as they coexist: they must have formed some sort of a system in order that their interaction or attraction could be possible either then or afterwards.” (236)

Könnte die empirische Realität nun dadurch eine Bedeutung erhalten, dass sie einen intelligenten Zweck verfolgte, so könnte sich dieser als Spiritualisierung des Daseins und Erhöhung der Harmonie bei gleichzeitiger Erhöhung der Kom­ plexität beschreiben lassen. Sind die frühen Phasen des Kosmos sowie der Evo­ lution noch in den trüben Wässern der blinden Mechanik gefangen, so ist die voranschreitende, vor allem binnenevolutionäre Entwicklung eine der Freiset­ zung höherer Leistungen der Intelligenz, die über ein Versunkensein in bloße Hier- und Jetzt-Szenarien kausaler Direkteinflüsse hinausgehen und vorerst bei den phänomenalen Bewusstseinen des Menschen angelangt sind. Sollen die Menschen in einer solchen Mega-Teleologie nicht nur ein Exkurs, sondern in der Erzählung eine dem Humanismus gemäß zentrale, erklärende Episode vergan­ gener Geschehnisse sein, so lässt sich die Teleologie des physikalischen Kosmos als „process of spiritualization“ (297) beschreiben, oder anders: als eine sukzes­ sive Befreiung aus kausaler Gefangenschaft - sei es im Vergleich von Mensch und Tier oder „zivilisiertem“ und „primitivem“ Menschen - hin zu einer durch intelligente Einsicht und Vernunft geleiteten, der Letztendlichkeit der Bewusst­ seine entsprechenden, mündigen Mittäterschaft an einer harmonisierenden Be­ ziehung in Gesellschaft untereinander wie zur Natur und damit indirekt zu Gott: „The chains that bound us are gradually relaxed, the restrictions that fettered us are one by one removed, as intelligent insight grows strong enough to take the place of physical compulsion.“ (298)

Soll diese moralische Geschichte der kosmischen Entwicklung von der kausa­ len Notwendigkeit hin zur individuellen Einsicht und Verantwortung selber im Ganzen einen Sinn haben und nicht einfach überflüssiges oder zumindest sich dem menschlichen Begreifen entziehendes (s. Agnostizismus, Kap. 2.1.) Spek­ takel sein, lässt sich des Weiteren ex hypothesi annehmen, dass im präkosmi­ schen Zustand ein Defekt vorhanden sein musste, der durch das Ingangsetzen

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des Kosmos überwunden werden soll. Eine narrative Allianz findet Schiller hierfür im iMythos vom Garten Eden, nach der am Anfang weder Nichts noch das Beisammensein jenseits jeden Konflikts noch die Harmonie bereits voll­ kommen gewesen ist, sondern eine Pluralität von „spiritual beings“ (hier figurativ repräsentiert durch Gott, Adam und Eva) unter dem Schatten des Baums der Erkenntnis: „The tree of the knowledge of good and evil demonstrates that even before the Fall evil was potentially existent in the world“. (434) In Schillers Kosmogonie zurückübersetzt ließe sich dieser Baum als „defiant resistance of ultimate spirits“ durch „their selfish and intractable wills“ (435) gegenüber dem Willen zur harmonischen Interaktion mit allen beschreiben. Da Gott, wie beschrieben, bei Schiller nicht den Schöpfer von allem meint, sondern, nachdem die „spirits“ zum ultimativen Sein erklärt werden, Gott sel­ ber nicht mehr als ein solcher Geist ist, nur eben der stärkste, weiseste und die ganzheitliche Harmonie wollende, also der moralisch vorbildlichste, kann dieser „Divine spirit“ die ontologisch Gleichrangigen zwar weder zerstören noch sie walten lassen, verursachen sie doch ob ihrer als Defekt postulierten Widerspens­ tigkeit Disharmonie. Möglich ist ihm aber: „to do the next best thing, viz., to reduce their consciousness to the verge of non-existence. In such a state of torpor it would be possible to induce them to give an all but unconscious assent to the laws of the cosmos, and gradually to accustom them to the order which the divine wisdom had seen to be the best, and the best means to attain a perfectly harmonious co-operation of all existences. And as they grow more harmonized, a higher development of consciousness, and a higher phase of life becomes permissible.” (362)

So wird das Verhalten in der phänomenalen Welt weder zum Schein degradiert noch der Sinnlosigkeit preisgegeben, sondern ein moralisch-pädagogisches Lehr­ stück, „in which the individual passes from the atom to the moral person“ (239) und dessen letztes Ideal im einsichtigen Einklinken in den Willen zur allgemeinen Harmonisierungstendenz als Verwirklichung der (zum Ende von Kapitel 4.1.1. ins Spiel gebrachten) Gemeinschaft d er Heiligen („communion of Saints“) besteht, wodurch die natura lapsa schrittweise durch eine kollektive Ermöglichung von Individualität überwunden wird. Dies ist das vollkommenste Stadium von Au­ tonomie bei gleichzeitiger Aufhebung der aus Egozentrismus gespeisten Indiffe­ renz gegenüber den gleichwertigen, weil anderen, ebenso ultimativen Personen als Anerkennung der Tatsache der Einheit des Gesamt-Kosmos, von dem unser phänomenaler Kosmos - wie im Fall des phänomenalen Selbst - nur eine Re­ alität darstellt, und der daraus resultierenden Unmöglichkeit der Isolation der transzendentalen Egos untereinander: emphatischer Ausdruck des Pluralismus als metaphysisches Ultimum. Der normative Horizont der Harmonisierung der

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Pluralität kann dann nur in der gegenseitigen Anerkennung der unterschiedli­ chen Existenz eines jeden im Hinblick auf das gemeinsame Potential zur ganzheitlich-integrativen Personalität wurzeln. Welches diesseitige Ethos sich aus diesem von Schiller erzählten Mythos als „educational value as a preparation of Heaven“ (386) ergibt, wird deutlich in seiner Kritik am Absolutsetzen der Liebe als leitender zwischenmenschlicher Kategorie. Denn in der Liebe, die von der Romantik zum summum bonum menschlicher Authentizität erhoben wird, steckt für Schiller ein der zuvor geschilderten Ent­ wicklung zum sämtliche Individuen harmonisierenden Fortschritt hinderliches Element der „anti-social force“, verstanden als sie fundierende „exclusive attrac­ tion“ (427). Diese bedeutet eine Retardierung statt Förderung der aufs Ganze zie­ lenden menschlichen Weitsichtigkeit, die sich spätestens in ihrer extremistischsten Form einer alles verzehrenden „madness of passion, which teaches men to forget all other ties, the claims of country friendship, duty, reason“ (427)425 als eine solche

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Diese Kritik der Liebe, welche sich zum Politikum erhebt, findet sich elaborierter bei Hannah Arendt wieder, die größten Wert darauf legt, die Liebe im Privaten zu loka­ lisieren, um die öffentliche Sphäre von Personen zu ermöglichen, zu denen ebenso wie die Gleichartigkeit der Fähigkeit (Sprechen/Handeln) auch die Distanz gehört, in der Gleichartigkeit sich überhaupt erst als durch Handeln und Sprechen mit dem anderen, ebenso des Handelns und Sprechens Fähigen zu bilden vermag, insofern also die Gleichartigkeit gerade nicht Identität meint, aber umgekehrt die Liebe im Sinne Arendts (und Schillers) als Wille zur Fusion drängt: „In der Leidenschaft, mit der die Liebe nur das Wer des Anderen ergreift, geht der weltliche Zwischenraum, durch den wir mit anderen verbunden und zugleich von ihnen getrennt sind, gleich­ sam in Flammen auf. Was die Liebenden von der Mitwelt trennt, ist, daß sie weltlos sind, daß die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist.“ Arendt ( 1958), S. 309 Bei Schiller äquivok: „A pair o f lovers are sufficient for each other; they require no one else, and will not admit others into the intensity o f their mutual feelings.“ Schiller (1891), S. 428 Die Rolle der Liebes-Kritik ermöglicht auch einen Brückenschlag von Schiller zu Max Scheler als jemandem , der noch vor Arendt die Phänomene der Liebe und Freundschaft phänomenologisch und auch zu einer politischen Perspektive hin durchdacht hat. Gerade im Hinblick auf ihre geschichtsphilosophischen Perspektiven oder harmloser formuliert: ihre Konzepte des richtigen Lebens und ihrer Ethiken ließen sich grundsätzliche Ähnlichkeiten zwischen beiden aufdecken und in einen produktiven Dialog überführen; eine Kongruenz, die Scheler, trotz seiner Zurkennt­ nisnahme von Schiller (s. die zwei Erwähnungen in: Scheler (1928), S. 38 u. S. 50), in ebendieser kritischen Schrift zum Pragmatismus und wohl in Unkenntnis von dessen Riddles nicht zu erkennen vermochte. Während Schiller in seinem spekulativen H u­ m anism us auf dem Weg zur „Gemeinschaft der Heiligen“ zwar immer esoterischer

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zu erkennen gibt. Das von Schiller vorgeschlagene Ideal ist dagegen die Freund­ schaft, denn sie allein vermag dem universellen Anspruch „to be friends with all men“ und damit dem „ideal of social harmony“ gerecht zu werden, bei dem das Ineinandergreifen der Individuen leitend ist: als sympathetische Sicht auf die an­ deren und deren Bedürfnisse bei gleichzeitiger Beibehaltung der eigenen Indivi­ dualität wie die der anderen. „The charm of friendship lies in the play of difference, in the free intercourse of spirits who preserve their own centres of activity, in agreement amid diversity, in the sympathy of kindred souls which is desired just because it is the sympathy of others; it aims not at union in the sense of effacement of individuals, but in the sense of harmony; it respects the individuality o f the friend, and values it because o f its very distinctness.“ (428 - Herv. d. G.K.T.)

Kurzum ist allein Freundschaft gelebte Einsicht des „principle of the solidarity of things“ (421 - Herv. i.O.), während die Liebe, im Kern Auswahl von einem oder einer oder wenigen Weiteren, die ethische Opferung sowohl der Nichtge­ wählten wie der individuierenden Fortentwicklung der Ausgewählten impliziert.

wird, in eine leibnizianische Monadologie ultimativer Seelen abzudriften droht, ist es dennoch möglich, diesen Weg mit dem von Scheler propagierten - deutlich klareren und diesseitigeren - zu einem „Zeitalter des Ausgleichs“ aller Intersubjektivitäts-, Gesellschafts-, Wissens- und Wertformen querzulesen, bei dem unter dem Primat der Geisthaftigkeit, von der her alle diese Seinsbereiche geschaut und hierarchisch angeordnet werden können, um die „sittliche Personengemeinschaft“ der Menschen untereinander zu ermöglichen. Ein produktiver und gerade für Schiller diesen er­ denden Vergleich, gegen den auch die Liebes-Kritik seinerseits kein Veto ist, insofern der „Liebesphilosoph“ Scheler eher dasjenige darunter versteht, was Schiller (oder Arendt) als Freundschaft gegen sie in Stellung bringt. D enn es ist gerade der vom letzten Ausgleich her denkende, pädagogisch höchste, weil den Geist als zentrales Moment in Rechnung stellende Blick, der bei Scheler gegen jede nivellierende Ver­ schmelzung mit Liebe gemeint ist und der im Fall Schillers in nuce in dessen Primat der Freundschaft erblickt werden kann. Innerhalb des angelsächsischen und gar pragmatismusnahen Autorenkreises bietet dieses bei Schiller vergleichsweise nur angedeutete ethische Motiv der Freundschaft einen Brückenschlag zu dem hierzulande ebenso unbekannten Josiah Royce und dessen „Philosophy o f Loyalty“ (1908), in der Loyalität das wahrheitsgemäße M e­ dium der Intersubjektivität von Individuen ist, die ein Ideal geschaut haben, das im Unterschied auch hier zur nummerischen Exklusivität der Liebe jeden Einzelnen gleichermaßen übersteigt und damit alle symmetrisch als potent zu einer „higher unity“ setzt. Eine Verbindung über den Freundschaftstopos besteht damit eben­ falls, wenn auch unsystematischer, zu dem bereits im Russell-Exkurs aufgerufenen G. Santayana (1968).

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Eine Sicht auf Liebe und Freundschaft, die sich bei Schiller politisch übersetzt auch in seinem eugenischen Humanismus wiederfindet: sowohl in der Kritik des auf „Liebe“ zu einem homogenen Volkskörper zielenden Nationalismus als auch umgekehrt in seiner Forderung nach Intensivierung „freundschaftlicher“ Bezie­ hungen zwischen den Staaten zwecks Verwirklichung einer weltumspannenden Zivilisation. (Kap. 4.2.1.) Damit die Sterblichkeit des Menschen nicht als Beweis gegen sein Konstrukt ins Feld geführt werden kann, deutet Schiller sie, wie die Differenz von phäno­ menalem und transzendentalem Selbst bereits unterstellte, als Übergang in ein neues Stadium. Mit der Unsterblichkeit der die konkreten Ich-Variationen - im wahrsten Sinne des Wortes - mehr träumenden als in ihnen aufgehenden, über­ steigenden Selbste nimmt er überdies den argumentativen wie existenziellen Druck heraus, die zu erreichende Harmonie müsse bereits in dieser phänome­ nalen Welt verwirklicht werden.426

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Noch vor dem im engeren Sinne pragmatistischen Pakt zwischen James und Schiller greift Ersterer diese Transmissions-Theorie Schillers in der Frage der personalen Unsterblichkeit auf: James (1898), S. 29. Dass der Traum für Schiller die entscheidende empirische Tatsache darstellt, mit der als einzige der Realismus zugunsten eines Idealismus gesprengt werden kann und damit von entscheidendem „philosophic import“ ist, zeigt vor allem einer der längsten Aufsätze seiner Studies: „Dreams and Idealism“. Dort argumentiert er, dass der Unterschied zwischen den Abschnitten des Wach- und Schlaf-Bewusstseins keine Verankerung in den jeweiligen Wahrnehmungen selbst hat, denn zwischen beiden gibt es „no fundamental differences in character [...]. For a dream-world, like that of waking life, runs its course in time and extends itself in space, and contains persons and things that seem .independent“, and sometimes are pleasing, and sometimes the reverse.“ Schiller (1907a) [„Dreams and Idealism“], S. 473. Der vermeintlich onto­ logische Unterschied ward demnach allein durch den pragmatistisch-volatil vollzo­ genen Konsens etabliert, nach dem wir die Tatsachen der „Wachheit“ (konsequent: der einen Wachheits- bzw. Schlafphase) ernster zu nehmen, sie mit mehr Nachdruck zu verfolgen und ihnen damit einen höheren Realitätswert beizumessen haben: „Dream-worlds are of inferior value for our purposes, and are therefore judged .un­ real“.“ (Ebd., S. 473) Kommt man diesem pragmatistischen Reality-M aking, gerade auch in Kombination mit der Einsicht des m ethodischen H umanismus, dass auch die „reality o f .waking“ experience" kein einfacher „primary fact“, sondern ebenso von subjektiven Elementen bepflügt worden ist, „outcome of a long process of differentia­ tion and selection“, auf die Schliche, bergen die Träume nun nicht mehr zwangsläufig allein einen Schatz reinrassiger Fiktionen, sondern liefern, je nach metaphysischem Gusto, einen Ausblick auf eine „immense extension of the possibilities o f existence“ selber. Sei dies als Erfahrung „other worlds“ oder auch nur eines funktionierenden

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Im Gegensatz zu vielen bisherigen Einzelheiten seines spekulativen H um a­ nismus kann die Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit in Schillers gesamter Philosophie gar nicht überschätzt werden.42. Man kann sie als sich durch sein Werk hindurchziehende Frage in der Frage nach einer standfesten Alternative gegenüber der pessimistischen Bedrohung deuten, denn mit ihr steht und fällt für ihn die Möglichkeit, das Universum gestrickt nach dem Mus­ ter einer moralischen Ordnung verstehen zu können und damit das schwarz auf schwarz gemalte Bild des Pessimismus einer Indifferenz-, ja Feindschaftsbezie­ hung zwischen Mensch und Kosmos durch ein schwarz auf weiß gemaltes Bild der Harmonisierung beider zu ersetzen. Auch wenn Vieles in seinem spekulati­ ven Humanismus phantastisch erscheinen mag, so darf nicht vergessen werden, dass dies den Versuch bildet, das Gesehene in ein Licht zu rücken, welches noch*

Übergangs von einer Realitätsebene in eine andere, die einer Lesart des Todes Vor­ schub leisten kann, nach der das hiesige Ableben nichts anderes als ein Erwachen in einer anderen, höheren Realität bedeutet. Eine Realität, die wiederum keineswegs die letzte bleiben muss, ist den Realitäts- bzw. Traum-Ebenen doch kein Ende gesetzt: „it is as possible to have a time within a time, and a dream within a dream, as to have a play within a play“. (Ebd., 478) Auf dieses für ihn als einziges funktionierende „phi­ losophic argument which if it cannot actually prove a future life can at least render it conceivable“ der Unsterblichkeit des Selbst kommt er in seinem Spätwerk immer wieder zurück: s. bspw. Schiller (1939) [„Plato’s Phaedo and the Ancient Hope of Immortality“], S. 152ff. und Schiller (1934) [„Man’s Future on the Earth“], S. 285f. Diese bei Schiller gegen einen Pessimismus der Vergeblichkeit konstruierte U n­ sterblichkeit in Analogie zur Traum-Wachheit-Logik, nach der in melioristischer

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Absicht unsere Realität mit ihrem „evil and irrationality that oppress us“ (ebd., 475) nichts anderes als „spell of a cosmic nightmare which besets us“ (ebd., 476) ist, den wir nicht vor allem durch den Tod, sondern, wie noch deutlich werden wird, durch moralisches Handeln aufbrechen können, versucht er, der methodischen Maxime der humanistischen Metaphysik (Kap. 3.7.) die Treue haltend, immer wieder (Kap. 3.6.) zu einem Thema wissenschaftlicher Erforschung zu machen: und dies vor allem vermittels der experimentellen Psychologie, die ein Eindringen in die Tiefenstruktur der Psyche als Zugang zu anderen Welten und Leben ermöglichen soll. Eine For­ derung, die seinerzeit keineswegs völlig abseits der wissenschaftlichen Forschung lag, wie Blums (1996) ausgiebig historisch unterfütterter Roman „Ghost Hunters“ zeigt, der im Umfeld von James angesiedelt ist und die experimentelle Suche „nach Beweisen für ein Leben nach dem Tod“ belletristisch verarbeitet. Diese Frage ist für ihn auch maßgeblich für sein Interesse an der empirisch ausge­ richteten Arbeit in der bereits erwähnten Society o f Psychical Research, sodass er von sich behauptet: „it is one o f the few subjects on which I may claim to be an authority at first hand“. Schiller (1924a), S. 58. 221

Funken des Positiven und damit eine begründete Hoffnung auf Verbesserung aufflammen lässt. Denn im Vorstadium seiner volatil-spekulativen Läuterung, konkret hier: vor dem Postulieren von Unsterblichkeit, bei dem er sich in seinem prototypischen Konfliktmodell von Platon und Protagoras ausnahmsweise für Ersteren entscheidet, hat Letzterer dazu doch nichts zu sagen,428429ist der faktische Ausgangspunkt Schillers düster, was im Fall seines eugenischen Humanismus noch deutlicher wird: „Whenever Might triumphs over Right; whenever the evildoers succeed and the right­ eous perish; whenever goodness is trampled under foot and wickedness is exalted to high places; nay, whenever the moral development of character is cut short and rendered vain by death,— we are brought face to face with facts which constitute an indictment of cosmic justice, which are inconsistent with the conception of the world as a moral order.“42''

Doch auch schon im kleineren Maßstab ist die Unsterblichkeit für Schiller „ethi­ cal postulate“ sine qua non, soll denn einem moralischen Leben die Suprematie gegenüber einem rein egozentrisch gebundenen zukommen können, „some­ thing worth possessing, an investment more permanent and more decisive of our weal and woe than all the outward goods men set their hearts upon“. Nur durch die idealistische Proklamation eines Jenseits, eines Fortwirkens jenseits der moralischen Endlichkeit im Diesseits, in das hinein die moralische Perfek­ tionierung und Sanktionierung verlängert wird, kann am Ideal der moralischen Perfektibilität realistischerweise festgehalten werden.

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Schiller betrachtet so insbesondere in seinen Spätschriften, in denen seine eigenen spekulativen Bestrebungen zugunsten des eugenischen, realpolitischeren Engage­ ments vor allem auf die M öglichkeit der Unsterblichkeit des Selbst geschrumpft sind, im Hinblick auf seine Platon-Exegese diesen als „one philosopher of the first rank who seems genuinely and perpetually to concern him self with the problem of immortality“ [Schiller (1939) [„Plato’s Republic“], S. 166], Auch wenn dieser in seinen Bestrebungen, einen philosophischen Beleg ausfindig machen zu können, scheitern musste, denn sein abstrakt-absolutistisch metaphysisches Grundsetting ohne eine „conception of personality“ widerspricht dem Milieu, in dem der Glaube an die Unsterblichkeit des jeweiligen Selbst, um die es geht, überhaupt erst plausibel gedeihen könnte: „If we want reasons we should look for them in likely quarters. Now7philosophically the likely quarters are, not monisms for which plurality is only an illusion, but pluralisms, which are willing to entertain the thought o f an ultimate many.“ Schiller (1939) [„Plato’s Phaedo and the Ancient Hope of Immortality“], S. 152. Es ist genau dies die Grundanschauung, die Schillers (chronologisch) früherer spekulativer H um anism us metaphysisch zu entfalten versucht hat. Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 252

Auf die wohl auch heute populärste Version der Transformierung dieses Reichs moralischer Gratifikation in die irdische Generationenfolge hinein und damit auf den Einwand, dass das Postulat eines „future life“ unnötig sei, weil das gute Han­ deln die Verstorbenen überdauert, ein Nachleben führt und ihm überhaupt gerade deswegen Wert zukommt, „that our grandchildren, if we have any, may enjoy the fruits of our self-denial, and that the world may be the better for our effects“430, erwidert Schiller, hierin mehr Personalist als Pragmatist431432:„the good men do may persist and work well or ill, but the good men are surely perishes“, denn: „The character itself is an indefeasible and inalienable possession of the owner, and by no flight of the imagination can it be transferred to others. Whatever worth, therefore, we assign to character, that worth is lost to the world if immortality be denied.”

Darüber hinaus obliegt es auch nicht dem die Taten in die Zukunft Entsenden­ den, ob aus ihnen tatsächlich (weiterhin) Gutes folgt oder sie nicht zum Schlech­ ten verkehrt werden: „For that depends largely on the character of others [...]. Each can assume full responsibility for his own actions and his own character alone: the rest lies largely on the lap of the gods.“433 Und nicht nur dies: Selbst wenn die moralische Perfektibilität sozial in die Generationenfolge hinein ver­ längert wird, so ist doch die Gattung Mensch selber eine nur räumlich margi­ nale wie zeitlich befristete kosmische Erscheinung. Die komplette moralische Annihilation wird damit von der Endlichkeit des Individuums lediglich auf die der Gattung verschoben, keineswegs aber überwunden und ist darin, wenn man meint, mit dieser Transformation das Unsterblichkeits-Postulat überflüssig zu

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Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 253 Zu der (im Unterschied zum Personalismus) pragmatistischen Umstellung vom Intrinsischen wie einem unverrückbaren kantischen Dekalog oder wie hier: einem transtemporalen wie individuellen Personenkern hin zu einer intelligenten Regu­ lierung situativer Umstände s. Schillers dem „Case Law“ entnommene moralische Heuristik in seinem m ethodischen H um anism us (Kap. 3.4.) oder auch, als weite­ ren Kronzeugen, Deweys „Reconstruction“ der Moral in diesem Sinne: „Moralists have always insisted upon the fact that good is universal, objective, not just private, particular. But too often, like Plato, they have been content with a metaphysical universality or, like Kant, with a logical universality. Communication, sharing, joint participation are the only actual ways of universalizing the moral law and end. We insisted at the last hour upon the unique character o f levery intrinsic good. But the counterpart o f this proposition is that the situation in which a good is consciously

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realized is not one of transient sensations or private appetites but one of sharing and communication - public, social.“ Dewey (1920), S. 205f. Schiller ( 1903) [„The Ethical Significance oflm m ortality“), S. 253 Schiller (1903) [„The Ethical Significance of Immortality“], S. 254 223

machen, eine „misconception“.4'4 Solange nämlich dies das letzte Wort der sozial­ orientierten Apologeten der Moral ist, hat der auf volle reflexive Distanz zielen­ de Pessimismus zumindest im Bereich des Theoretischen weiterhin Oberwasser und wird allein praktisch geflohen. „If the view of mechanical Science be the whole truth about the universe, the race is of just as little account as the individual; suns and stars and the hosts of heaven will roll on in their orbits just as steadily and unfeelingly whether we prosper or perish, struggle on or resign ourselves to despair.“ '"

Ein weiterer, noch klassischerer Einwand, auf den Schiller reagiert, ist der, dass der Idee eines sanktionierenden Jenseits gerade etwas Unmoralisches innewohnt, insofern es die moralische Motivation der Menschen an egoistische Belohnung, an die Aussicht auf „their eternal salvation“4345436 zurückbindet. Doch auch diese „objection surely rests on a misconception“, denn keineswegs muss der Horizont eines Jenseits als Grundlage der Motivation herhalten, er kann auch als Resultat des guten Handelns, als „incidents“ verstanden werden, die dennoch morallogisch notwendig sind, insofern sie das moralische Handeln harmonisch komplettieren, statt es mit dem Tod im Zustand der Imperfektion abbrechen und damit letzten Endes scheitern zu lassen. Aber auch wenn „fears and hopes of what may happen hereafter“ gerade im Frühstadium moralischer Entwicklungen für die Umsetzung dieses moralischen Handelns sorgen, obwohl es durch die Brille der „highest mo­ tives to morality“ betrachtet eigentlich aus „intrinsic conviction“ bewirkt werden sollte, ist darin keine grundsätzliche Veruntreuung von Moral zu sehen. Zwar einer „lower stage of ethical development“ entsprechend, korrespondiert dies dennoch mit einer realen Ebene der menschlichen, nicht rationalistisch verfassten Natur, die nur von idealistischen Moralisten und deren „moral enthusiasm“ gerade zum Schaden höherwertigen moralischen Gedeihens geleugnet werden kann: „For, if they [äußerliche Motivationen - G.K.T.] are effective, they at least accustom men to right conduct, and thus form the basis of sound habit, which is the actual foundation of all conduct in any case, and the necessary prerequisite for sound reflection upon conduct and the attainment of any higher view of morality.“437

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Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality'“], S. 254 Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 252 Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 255 - Herv. d. G.K.T. Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 255 - wie auch sämtli­ che Zitate zuvor. Die hier mehr implizit von Schiller suggerierte und nirgends detail­ liert ausgeführte Hierarchisierung moralischer Prinzipien bzw. Motivationen, vom niederen Habituellen bis zum höheren Reflexiv-Universellen, legt - mindestens im Falle der Ethik - eine überraschende Nähe zu Bradley und dessen „Ethical Studies“

Nicht minder klassisch und auch dem pragmatistischen Diskurs selber nicht unbekannt ist der dritte und letzte Einwand gegen die von Schiller eingeräum­ te Gewichtigkeit des Lebens nach dem Tode in moralischer Hinsicht, wonach ein Diesseits nicht moralisch additiv oder multiplikativ, sondern subtraktiv im Diesseits seine Wirkung entfaltet, indem es durch seine Zukünftigkeit von den gegenwärtigen Problemen ablenkt: „The future life dwarfs the present“.*438 Doch dies ist für Schiller nur auf die Formen von Jenseits ein angemessener Einwand, die den Namen „other-worldliness“ tatsächlich verdienen, und zielt ins Leere, wo diese adäquater als „better-worldliness“ beschrieben werden müssen: also dort, wo das Jenseits nicht nach „principles o f conduct“ postuliert wird, die denen des Diesseits völlig fern sind, sondern vielmehr als „completion of mundane moral­ ity“. In diesem Fall wird das Hier und Jetzt gerade nicht trivialisiert, sondern die eigene Existenz in ihm, als in bestimmten charakterlich-moralischen Zügen unsterbliche, einer Ernsthaftigkeit („solemnity“) ausgesetzt, welche „indefinitely deepens the significance o f the present life“, steht das Handeln hier doch nun in strukturell unauflösbarer Verbindung mit dem eigenen Werden in der Zukunft: „Think what is involved in the assertion that character is permanent and indestructible, and passes not from us however the fashion of our outward life may change! Think of it, that we can never escape from ourselves, from the effect of our deeds on our character,

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(1876) [besonders dort in: „Why Should I Be Moral?“] nahe, in denen dieser genau Moral und den für sie responsiven Menschen derart stufenartig stratifiziert. Eine Untersuchung der Beziehung von Schiller und Bradley wäre demnach nicht nur im Hinblick auf das Konfliktuelle, sondern umso mehr, weil uneingestandener auf das Kongruente beider aufschlussreich. Schiller (1903) [„The Ethical Significance of Immortality“], S. 256 - Es ist gerade die­ ses Argument, das vom soziologischeren Pragmatisten Dewey immer wieder gegen die Diesseits-Jenseits-Dualität in Stellung gebracht wird. Überhaupt ließe sich die Bifurkation des klassischen Pragmatismus, also zwischen der individualistischeren Strömung bei James und Schiller und der sozialphilosophischeren bei Dewey und Mead, auch anhand der Rolle des Todes und der damit zusammenhängenden Frage nach einem Afterlife rekonstruieren: Ist diese Frage für das Denken von James wie Schiller derart kardinal, dass Letzterer behauptet, keine Philosophie könne von sich beanspruchen, eine „complete solution“ zu offerieren, solange sie „nothing intelligible, or even brave [...] about the problem of death“ (Schiller (1931) S. 241) zu sagen hat, so wäre dies, folgte man ebendiesem Diktum, ein „Todesurteil“ für die Philosophie Deweys, für den der individuelle Tod durch sein Verhaften in der hegelianischen Tradition politischer Makroperspektive quasi nicht der Rede wert ist. S. zu einer solch kritischen Lesart Dew'eys: Lachs (2012), S. 28ff. 225

and that every deed leaves its mark upon the soul, a mark which may be modified, but can never be undone to all eternity!“4”

Zwar wirkt dieses von Schiller sukzessiv konstruierte Bild des „future life“ ei­ nerseits bewusst als Entlastung vor der endgültigen moralischen Hinfälligkeit, andererseits aber auch, weil es sich eben um eine die Moral legitimierende Um­ rahmung handelt, als existenzielle Belastung unendlicher Inanspruchnahme tellurischer Ergriffenheit in Form nun möglicher und damit nötiger moralischer Perfektibilität, die vom Einzelnen gerade deswegen mehr verlangen kann, als nach rein irdischer Kalkulation Not täte - darin dem ethischen Imperativ, wie er zum Ende des Exkurses bei Howison aufgezeigt wurde, verwandt. Für Schiller ist also dieser dritte Einwand umzukehren. Gerade ohne Jenseits käme es zur Verflachung des moralischen Anspruchdenkens: „For [...] ordinary people are quite good enough for ordinary purposes.“439440 Zurück zum spekulativen Humanismus der Riddles: Auch hier folgt aus der Unsterblichkeit nicht, dass ein ethischer Einsatz im Diesseits überflüssig oder auch nur hinauszögerbar wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Leistung des Menschen im Hier und Jetzt keinen Einfluss auf die Veränderung des alle Realitäten synthetisierenden „ultimate spirit“ hätte. Dies würde darüber hinaus gleichzeitig bedeuten, dass das Selbst dem konkreten „I“ gegenüber äußerlich, indifferent wäre und damit dieses zur „nutzlosen Passion“ (Sartre) trivialisieren würde. Um zu verhindern, so letzten Endes doch in die pessimistische Ontologisierung der Vergeblichkeit abzurutschen, nimmt Schiller dagegen an, dass das ultimative Selbst die abschöpfende Synthesis aus der Erinnerung an geleb­ te Leben zu ziehen vermag, aber nur dann auf einen der Personalitätsbildung würdigen Erinnerungspool zurückgreifen kann, wenn dieser als bewusst darauf gerichteter Lebensvollzug errungen worden ist. Die Unterscheidung zwischen „phenomal Seif“ und „transcendental Ego“ in eine pädagogische Differenz über­ führt, lautet der „kategorische Imperativ“ Schillers damit: Um das kosmische Vorankommen und Herannahen der Vollendung zu beschleunigen, muss die Intensität der geistigen Fähigkeiten und damit auch der moralisch wirksamen Einsicht deswegen gefördert werden, weil sie als das Schwierigste und Höchs­ te, weil Un-Automatisierteste im Menschen gerade dadurch die ihm allein als kosmisch-teleologische Speerspitze der Befreiung aus kausaler Unmündigkeit angemessene Lebensweise ist.

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Schiller (1903) („The Ethical Significance o f Immortality“], S. 256 Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 257

„Those who have trained and habituated themselves to high and noble activities, who have disposed their thoughts towards relations which are enduring, will rise to life everlasting, and will have actions worthy of memory to look back upon.“ (402 - Herv. d. G.K.T.)-"1

Paart man diesen Gedanken eines aristokratischen Trainings der Selbsterhöhung gegen die „Human inertia“441442 mit dem Gedanken der Freundschaft, so resultiert daraus die ethische Vision von Schillers spekulativem Hum anism us: Zum einen ist es Aufgabe des Einzelnen, „Philosophierender“ zu werden, insofern Phi­ losophie Liebe zur Weisheit ist und damit das Erklimmen des geistig höchsten Standpunkts des menschlichen Potentials der menscheneigenen Überwindung biologischer Dringlichkeit in Form von Muße darstellt und das umfassendste harmonische Leben ermöglichen kann, da der philosophische Lebensvollzug auf dem am weitesten um sich greifenden, vorgängig Geschauten, Verstandenen und etwaig zu Adjustierenden fußt. Negativ formuliert: Weisheit, die Seinsbereiche wie Menschengruppen ausblendet, ist keine. Zum anderen ist es gerade zum Philo­ sophieren gehörige Aufgabe, am anderen interessiert zu sein und ihn selber zum

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Hier wie auch andernorts (s. Bedeutung der Freundschaft in diesem Unterkapitel) wird deutlich, wie sehr (und dies keineswegs im Verborgenen) Schiller von der Phi­ losophie des Aristoteles zehrt. Doch nicht nur im Theoretischen - er ist für Schiller die prototypische Figur der richtigen, weil integrativen Lebensweise des „konkreten Metaphysikers“, der Aristoteles sowohl als Naturwissenschaftler wie Philosoph war. Zwar bleibt es für Schiller dabei, dass Aristoteles als Schüler Platons und nicht von Protagoras in seinem ebenso latenten Faible für das höchste W issen als das absolute, menschenunabhängige fehlgeht und damit dieses Wissen von der Kontemplation an­ derweitiger, deklassierter Praxis scheiden und wie auch die anderen Intellektualisten daran scheitern muss, „to rise to a unitary view o f human nature“ [Schiller (1934) [„Theory and Practice“], S. 179] - eine kritische Distanzierung, die sich primär aus seinem gegenüber der Vielzahl menschlicher Praktiken egalitären m ethodischen H u­ m anism us ergibt (s. Ende von 3.6.). Und doch mag an dieser Stelle in Bezug auf die stärkere aristokratische Ethik Schillers, die er in seinem spekulativen H um anism us entfaltet und die auf die Kultivierung des Höchsten im Menschen zielt, als deren Blaupause gerade die N ikom achische Ethik zitiert werden: „Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschli­ ches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollten, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zweck tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben. Denn wenn es auch klein ist an Umfang, so ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst, wenn anders es unser vornehmster und bester Teil ist.“ Aristoteles (1995), S. 250f. - Herv. d. G.K.T. Schiller (1903) [„The Ethical Significance o f Immortality“], S. 257 227

Philosophieren zu animieren, denn ohne die anderen ist der eigene Lebenswandel immer nur Fragment und geht an der vollständigen Harmonisierung vorbei: „For if there remained any portion of the environment, however humble and however remote, excluded from the harmonious adjustment of perfection, there would be no security that it might not enter into active interaction with the rest and destroy the harmony and changeless eternity of the perfected elements.“ (450)

Es ist eine dem Archetyp des Philosophierens verpflichtete Vision, die Schiller hier über einen mythologischen (U m -)W e g als die beste durch den Possibilismus des m ethodischen Humanismus ermöglichte Wahl gegen den Pessimismus reaktualisiert: das Höhlengleichnis Platons. Denn dem Aufstieg aus der Höhle an die Oberfläche zur Schau der wahren Lichtquelle des Wissens folgt, oft ge­ nug in den heutigen Nacherzählungen ignoriert, der erneute Abstieg, um die Zurückgebliebenen zu überzeugen - ein Schritt, der vom Wahrheit Kostenden nur deswegen unternommen wird, weil dessen Erfolg möglich sein muss. Homo hom ini summum bonum - der Mensch als des Menschen höchstes Gut - ist in diesem Teil stark normativ zu verstehen: dass der gegenwärtig normalisierte, in Schillers Terminologie kollektiv postulierte Menschentypus bzgl. des Ideals des menschlichen Menschseins weder als letztes Wort gelten kann noch darf, der Mensch vielmehr für den Optimisten in seiner praktischen Tätigkeit perfektibel, erhöhenswert sein muss mit dem Ziel der Veredlung freiheitlicher Eigen- wie Fremd- Individualität.443

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Dieser spekulative H um anism us Schillers besteht, wie auch in allen großen humanis­ tischen Projekten der Neuzeit von Mirandola bis Sartre, damit im Kern in der Ge wissheit, dass die Höhe des Menschen in seiner Möglichkeit zum Absturz in die Tiefe liegt, er als geistiges Wesen dem Ideal des Menschen als etwas eben nicht Automati­ sches gerecht werden muss, der Mensch als einziger bewusst in der spannungsreichen Trennung seiner Realität von seiner Idealität existiert. Kurzum: In einem solch em ­ phatischen Humanismus ist das Ideal des Menschen wie des Übermenschen immer ein und dasselbe. Die berüchtigte Kritik Heideggers am Humanismus, dieser denke „den Menschen von der animalitas her und [...] nicht zu seiner [des Menschen G.K.T.] humanitas hin“, wodurch gerade der Humanismus, scheinbar paradox, den Menschen als „zu gering“ erachte, läuft ins Leere oder ist allein richtig, wenn der Mensch dann erst adäquat gefasst sein soll, wenn man gar nichts mehr zu ihm sagen darf. [Heidegger (1949), S. 325] Aus diesem Grund der inneren Zwiespältigkeit des Menschen erscheint mir der von mir gewählte Satz des H om o hom ini sum m um b o ­ num angemessener als der protagoreische H om o m ensura-Satz, den Schiller für sich adoptiert, suggeriert dieser doch eher die gerade von Kritikern ihm (Humanismus/ Schiller) vorgeworfene Einfachheit des Menschen als pure Gegebenheit statt eine in Realität und Idealität vollzogene Spannung.

In diesem nötigen Zweischritt des Auf- und Abstiegs könnte die Doppelbe­ gründung liegen, warum Schiller, der immer zwischen seinem selbst bei seinen Kritikern unbestrittenen philosophischen Humor und seiner Passioniertheit444 changieren konnte, die philosophische Bildfläche als Verfasser der Riddles unter dem Pseudonym Höhlenbewohner („Troglodyt“) betrat - selbstironisch als je ­ mand, der gerade die Unterscheidung zwischen Höhle und Oberfläche meinte erkannt zu haben, und gleichzeitig ernst gemeint als jemand, der überzeugt war, dass der endgültige Austritt aus der Höhle als Mensch niemals alleine, sondern nur alle Seinesgleichen mitnehmend geleistet werden kann. Für Schiller ein Zustand in weiter, aber nicht unerreichbarer Ferne, der in seinen Augen dem humanistischen Optimum und damit dem Optimismus des „logical character of heaven“ entsprechen würde, nach dem dieser Zustand allein noch den Wunsch von Faust zuließe „Verweile doch, du bist so schön!“, bekundet dieser doch, dass „oneself [is] completely satisfied, to have attained to utter bliss, which there is no longer any occasion to transcend or change.“445

4.2 Der eugenische Humanismus 4.2.1 Vom Kopf auf die Füße - Schillers politische Zeitdiagnose „Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind.“ Paul Valéry - Die Krise des Geistes446

Zwar reichen Schillers Schriften und Reden zur Eugenik bis auf die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts zurück und schlagen sich in einem Reigen aus Artikeln sowie in der aktiven Mitarbeit bei der Eugenics Education Society nieder, jedoch ist es das öffentlich für jeden unübersehbare Zeichen des „Great War“ auf dem

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Während für Schillers Passioniertheit sein gesamtes Projekt sowie die Bereitschaft zum dem eigenen m ethodischen H um anism us gemäßen Sophismus im ursprüng­ lichen Sinne als einem politisch Gebildeten wie Bildenden, weil Diskussions- und Streitlustigen, für sein Programm Einstehenden [im Unterschied zur ontologisierten Selbstgewissheit und -genügsamkeit eines Universalismus (vermeintlich) der Art Platons: Schiller (1908b)] als Beleg dienen mag, ist es im Fall seines satirischen Talents die von ihm ebenfalls unter dem Pseudonym Troglodyt herausgegebene und verfasste Karikaturausgabe [Schiller (1901)] des noch heute verlegten einflussreichen „Mind“ Journals, von der selbst heutige, eher „kritische“ Kritiker noch anerkennend als „brilliant parody of the philosophical establishment“ sprechen: Misak (2013),

445 446

S. 91 Schiller (1939) [„Goethe and the Faustian Way of Salvation“], S. 136 Valéry (1919), S. 5 229

Thron von Millionen Toten und zerstörten Städten, das als zentrales Moment seines sozialpolitischen Denkens gelten muss: War der im zweiten Hauptkapi­ tel geschilderte, feinsinnig-scholastischere Pessimismus trotz seiner Ausläufer in die Mitte der Gesellschaft hinein vornehmlich eine Gelehrtenangelegenheit, an die Gruppe der H om m e des lettres gebunden, geriet mit dem Ersten Welt­ krieg der weite Teile der Gesellschaft magnetisierende Glaube an den Fortschritt quantitativ wie qualitativ einmalig ins Wanken, der noch bis kurz zuvor in der Industrialisierung und den Erfolgen emanzipatorischer Bewegungen seinen ge­ sellschaftspolitischen und in einer optimistischen Lesart der Evolutionstheorie, nach der Progress das „manifest destiny o f evolving man“447 sei, seinen wissen­ schaftlichen Unterbau hatte. Genauer, der Glaube an den Fortschritt als ein Ge­ setz, das sich, komme, was wolle, unaufhörlich in der Realität Geltung verschafft, hatte sich verflüchtigt. Nimmt man Schillers Kritik am Fortschrittsglaubens als Glauben an ein Ge­ setz zum Ausgangspunkt, zeigt sich, dass er hier wie bereits in seinem spekulati­ ven Humanismus mit einer doppelten Kritik beginnt, um seine eigene Position mittels Mediation auf einen neuen, dritten Weg zu führen: einerseits als Kritik eines von den Realfaktoren des Lebens und der Welt abstrahierenden Idealis­ mus und andererseits als Kritik eines von der weltgestalterischen Potenz des Menschen absehenden Naturalismus. Entspricht dem Idealismus der optimis­ tische Glaube, kritischer: der „comfortable but enervating superstition“ eines unaufhaltsamen Fortschritts, „however foolishly and criminally we may act“448, so entspricht dem Naturalismus die spiegelbildliche Vision eines Prozesses, der notwendigerweise Vergehen auf Entstehen folgen lässt. Ein Gesetz der Zyklizität der Natur im Allgemeinen oder der immanenten Logik von Zivilisationen im Besonderen, wobei hier der Fokus vor allem in pessimistischer Kulturkritik auf die Unabänderbarkeit des nahenden Untergangs gelegt wird.449

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Schiller (1932), S. 1 Schiller (1926a), S. 2

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Der mögliche Eindruck, die Pessimismus-Optimismus-Lesart der Einschätzung Schillers der politischen Entwicklung und seiner angestrebten eugenischen Lösung gegenüber käme von außen und speise sich allein von der leitenden Idee der Arbeit, in seiner Philosophie ein auf allen Ebenen, individuellen wie kollektiven, gegen den Pessimismus sich richtendes Denken sehen zu wollen, sei mit folgendem Zitat ver­ streut, in dem Schiller sich ironisch gegen den Eindruck wendet, seine Diagnose wie Lösung sei ob der Härte und Tiefe pessimistisch: „If it is called ‘pessimism’ to point out the methods by which men may escape destruction, because men do not care to

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Für Schiller ist der Fortschritt hingegen kein Naturgesetz, sondern ein „net result“, welches immer nur das mögliche Resultat eines „interplay o f a multitude of social forces“ darstellt.450 Nötig war und ist dafür eine Anstrengung, ein Ein­ schlag in eine Richtung, welcher immer dann aufhörte und aufhört, Fortschritt zu sein, „whenever effort ceased, or was switched off into different directions.“451 Ist dieser Willensaspekt für ihn bereits innerhalb der Evolution der Natur der Fall - in seinem spekulativen Humanismus bemüht er ja gerade keine mecha­ nisch-kausale Unterfütterung seines Meliorismus, sondern eine teleologische - , gilt dies umso mehr für die intrahumane, zivilisatorische Entwicklung: Funk­ tionierte die natürliche Selektion noch über einen relativ unbarmherzigen wie unkompromitierbaren „apparatus for fool-killing, scavenging and purifying itself“452, hat die Entwicklung innerhalb des Menschengeschlechts diese natür­ liche Auslese durch eine plastischere, von Menschen selbst gesetzte und damit manipulierbare soziale Auslese ersetzt. Gleichzeitig verläuft hier der Fortschritt im Unterschied zur biologischen Evolution hin zum H om o sapiens nicht mehr gattungsintrinsisch, sondern setzt in jeder Generation gleichermaßen bei der von Null ausgehenden, nachgebürtlichen Erziehbarkeit an. Der biologische Fortschritt wird so vom Fortschritt der gesellschaftlichen Institutionen ersetzt, indem diese als „continuous social memory“ die Individuen am akkumulativen Wissenspool teilhaben lassen, der ihre allein für sich machbaren Erfahrungen um ein Vielfaches übersteigt: Ein System, „which relieves the civilized baby of his hereditary ignorance, and renders him potentially the heir to all the wisdom of the ages.”453 Doch dies gilt nur im besten Fall, da die Plastizität in der Auswahl der mög­ lichen Ziele und Mittel, die der Mensch in seinem relativen Freiraum innerhalb der Natur selber zu verantworten hat, insofern hier nicht mehr blind die natür­ liche Selektion waltet, im besonderen Maße auch die Möglichkeit des Irrens und Fehlgehens in der Wahl beider bietet. Das ererbte Wissen der Geschichte ist da­ mit nicht zuletzt ein Wissen vom Scheitern, ein Wissen um das Unwissen, sodass Schiller gegen den auf einen Automatismus vertrauenden Optimisten einwendet: „social decay is quite natural and normal“454. Mehr noch: Mit jeder Generation

adopt them I suppose it must be optimism’ to rush violently and open-eyed down a precipice and to expect to be saved by a miracle.“ Schiller (1924c), S. 5f. 450 451 452 453 454

Schiller (1932), S. 2 Schiller (1924c), S. 35f. Schiller (1926a), S. 36 Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1924c), S. 25 Schiller (1932), S. 3 231

kann bei Versagen der verantwortlichen Institutionen die Zivilisation der letz­ ten Jahrhunderte zusammenbrechen und bis auf ihre materiellen Relikte spurlos verschwinden, wodurch „the Yahoo comes to the front at once“455, geschieht dies nun abrupt oder sukzessive durch „contra-selective“456 Wirkung: „The painful truth is that civilization has not improved Man’s moral nature. His moral habits are still mainly matters of custom, and the effect of moral theories is nugatory everywhere. Thus civilization is not even skin deep; it does not go deeper than the clothes.“457 Die Kontingenzbewegung, die bereits die genetische Rekonstrukti­ on vermeintlich apriorischer Erkenntnisheuristiken innerhalb des methodischen Humanismus ausgemacht hat, wird hier zu einer expliziten Präkarisierungsbewegung verstärkt: Nicht nur ist alles Vorgefundene in der Zeit als seiner Geschichte sukzessiv und durch die Aktivität des Menschen entstanden, es kann ihm genau­ so wieder abhandenkommen, sodass die einst überwundene Vergangenheit sich zu seiner Zukunft verkehrt. Umgekehrt aber legt Schiller ebenso ein Veto gegenüber der nicht minder extremen Option ein, wonach auf Fortschritt, der zwar möglich ist, immer auch Abstieg und Untergang folgen muss. Ein Glaube, der sich aus der ewigen Zy­ klizität des Werdens und Vergehens innerhalb der Natur speist, die, organisch taktangebend, nichts und niemanden von der Bipolarität von Geburt und Tod wie von jener der ständig zwischen Pro- und Regress verlaufenden Menschheits­ geschichte freispricht.458 Gegen Oswald Spengler, den seinerzeit bedeutendsten Vertreter einer solch fatalistischen Sicht auf die weit zurückreichende Geschich­ te von Weltreichen sowie auf die Zukunft der gegenwärtigen westlichen Kultu­ ren in seinem „Untergang des Abendlandes“ (1918/22), wendet Schiller ein, dass dieser und andere seines Schlags, die aus dem Vergehen früherer Zivilisationen

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Schiller (1924c), S. 38 Schiller (1924c), S. 24 Schiller (1924c), S. 39 Hierin durchaus gleichlautend zu der Diagnose, die A. Balfour, Philosoph und früherer konservativer Ministerpräsident Großbritanniens, in seiner „Decadence“Vorlesung (1908) stellt, in der er die Krise der westlichen Moderne zwar als „political and national“ anerkennt, sich aber ebenso, wenn auch aufgrund mangelnder sozio­ logischer Beweise vorsichtiger, gegen jeglichen fatalistischen Automatismus wendet. Möglicherweise liegt auch in diesen Ansichten sowie seiner Präsidentschaft (1893) der Society f o r Psychical Research gut zwei Jahrzehnte vor der Schillers (1914) und seinen Tätigkeiten in der Eugenics E ducation Society - zwei weitere Felder, die er mit Schiller teilte - der Grund, warum Schiller ihn neben James zur einzigen Figur kürt, „who ever at once made upon me an impression o f personal greatness“. Schiller (1934) [„William James“], S. 61

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das heutige geschichtslogisch abzuleiten bereit sind, den geradezu ontologischen Bruch verkennen, der zwischen der zu substantiellen Veränderungen fähigen wissenschaftlichen Moderne und der vorwissenschaftlichen, sich dem Schick­ sal durch einen Mangel an Verständnis passiv ergeben müssenden Vormoderne besteht. Während Antike und Mittelalter für Schiller vor allem durch Ungläu­ bigkeit bis Feindschaft gegenüber der Innovation gekennzeichnet sind, ist es das Signum von Neuzeit und besonders der Moderne, nicht nur faktisch von den Früchten der Erfindungen und Veränderungen zu zehren, sondern diese gera­ dezu aktiv auszusäen. Ging die Antike (hier als geschichtliche und handlungs­ theoretische Variation ihres bereits zuvor attestierten und kritisierten Glaubens an die vorgegebene Gewissheit als Boden der syllogistischen Prozeduren der formalen Logik459460) von einem Vergangenheitsprimat aus, nach dem Wissen und Ordnung bereits vorhanden (gewesen) sind und Gegenwart und Zukunft allein in dekadenter Untreue dazu vergehen, als Exodus aus einem Goldenen Zeitalter, der sich in einem genuinen Gestaltungsunwillen der Zukunft, einem „lack of inventions”450 widerspiegelt, ist die Heimat der Moderne umgekehrt die Zukunft als Ort des noch zu Entdeckenden, für Vergangenheit und Gegenwart Neuen und Unbekannten. Für „den Modernen“ ist die Vergangenheit damit nicht gül­ den, sondern von einer Ignoranz charakterisiert, die umso deutlicher wird, je weiter der Blick zurückschweift. Die hier idealtypisch konstruierte Querelle zwi­ schen nomadischer Moderne und sesshafter Vormoderne ist dabei kein offener Streit, sondern eindeutig entschieden, da der retrospektive Optimismus der An­ tike für ihn nichts anderes ist als eine „great illusion“, die sich für den Psycho­ logen Schiller aus der gesellschaftlich und diskursiv hochgestellten Position der Alten in ihr ergibt461. Der Moderne dagegen vermag tatsächlich umso mehr die

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,,[I]t was covertly assumed that certainty could only be reached by starting from certainty, and that no possibility o f a growth o f assurance in the progress o f the reasoning could be entertained.“ Schiller (1917a), S. 244. s. hierzu v.a. Kap. 3.4. der vorliegenden Arbeit.

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Schiller (1926a), S. 191 Schiller (1932), S. 5. „Now the elder has a natural bias which vitiates his testimony. [... ] His own past appears to him in a roseate light; partly because the kindly falsifications of memory have erased its harsher features, partly because it carries him back to the golden days of his own youth, when he really enjoyed life with a keener zest. It is no wonder, then, that all things past should be transfigured in his report into something better, brighter, and happier, and that the present should appear by contrast dull and sordid.“ Schiller (1932), S. 4f. 233

Welt zu gestalten, je mehr er sich selbst als neugierig strebend und forschend, weil noch unwissend, positioniert. „The ancients did not believe in progress, and did not want to progress: we do both. And, to some extent and in some respects, we do manage to achieve progress, however slowly and imperfectly”462

Zur vollen reflexiven Verwirklichung der in der Moderne angelegten, genuin modernen Motive fehlt für Schiller jedoch bisher die Anwendung der kreativ­ innovativen Intelligenz auf den Bereich des Menschen selber, auf seine ge­ sellschaftliche Ordnung angesichts einer ansonsten fatalen Entwicklung, und genau dieses Defizit zu beheben, ist das, was die Eugenik verspricht: „Intelligent control of social tendencies [...] is however a new thing. The human race has never attempted it before, and it represents a new level o f human intelligence.“46' Ohne diese gilt - wie das freilich inhaltlich anders gewendete Motto B. Latours nominell besagt - , dass wir nie modern gewesen sind, denn ohne die eugenische Selbstermächtigung des Menschen seiner eigenen Ordnung und Wirklichkeit gegenüber macht er sich letztlich doch wieder so ohnmächtig dem Schicksal ge­ genüber wie der Mensch in der Antike: „all the causes of the decay of antiquity are still in full operation to-day“464. Die geschilderte „Legitimität der Neuzeit“ bei Schiller als einer Wirkformation technischer wie ideologischer Gestaltungsmacht bringt jedoch nicht nur Freiheit, sondern mit ihr auch die Verantwortung und die Möglichkeit der Selbstanklage mit sich: So wäre der moderne Vollzug des Untergangs wie die Möglichkeit zur Errettung doch ohne historisches Vorbild, entspräche der Niedergang angesichts der (konkordant mit der Betonung der Wahl im m ethodischen Humanismus) ergreifbaren Möglichkeit der Abwendung einem selbstverschuldeten bzw. -ge­ wollten (und hier im Unterschied zum eher individualistischen PessismismusMahlstrom der Riddles) kollektiven Suizid, wie Schiller immer wieder betont: „It does not follow, of course, that we shall be willing to apply our knowledge intelligently, or to scrap the institutions, like war, which are menacing our future. But we already know enough to justify the prediction that if modern civilization perishes, it will befelo de se. [Selbstmord]“465

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Schiller (1926a), S. 192 Schiller (1932), S. 7 Schiller (1926a), S. 194

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Schiller (1926a), S. 195 - Ein weiteres Argument, das neben dem geschichtlichen Fatalismus gegen das eugenische Grundapriori - ,,[W]e must will to progress, and act intelligently, so that we can progress“ - bei Schiller verhandelt wird, ist ein

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Der Untergang ist also tatsächlich möglich, genaugenommen ist er dies überhaupt erst für den Modernen, weil er für ihn nicht mehr unabwendbar ist und man um­ gekehrt über ihn sagen kann: „If we declare anything impossible a priori, we are very likely to encounter a society in which this impossibility is an accomplished fact.”466 Und gerade dies ist das (Meta-)Problem seiner Zeit: „what is at present lacking is the will.”467 Ein notwendiger Schritt, um diesem Zeitgeist entgegenzuwirken und ge­ nau diese Willensanstrengung zur Gesellschaftsreform zu evozieren, besteht im Rückgriff auf die Rolle des die Weichenstellungen der Gegenwart auf ihre zukünftige Entwicklung hin voraussehenden Propheten. Eine Rolle, die in ver­ schiedenen Versionen eingenommen werden kann: der orakelhaften, der fa ta lis­ tischen und der rationalen. Während die klassischste, orakelhafte Prophetie bereits durch ihren wesent­ lich intuitiv-mystisch erschauenden Zukunftsbezug aus dem modernen, wissen­ schaftlich aufgeklärten Spektrum anachronistisch herausfällt, nicht mehr als ein entlarvter „dishonest belief“ ist (s. Kap. 3.6.) und von Schiller daher auch nicht näher behandelt wird, bleiben für ihn als zeitgemäße Alternativen nur die fata­ listische und die rationale Form übrig, wobei er die erstere gerade an dem Punkt kritisiert, der diese als besonders modern, weil wissenschaftlich präsentiert: ihr Glaube an den Determinismus, an dem jede imaginierte Alternative zur senti­ mentalen Illusion zerschellt:

naturalistischer Fatalismus, der der „pseudo-metaphvsic“ (Kap. 4.1.1.) zuzurechnen ist, wonach allein das Gesetz der natürlichen Selektion gilt und diese jede zivilisa­ torische Weichenstellung zu einer bloß epiphänomenalen werden lässt. Dagegen führt Schiller an, dass die natürliche Selektion, soll sie nicht zum „greatest bogy in the whole field o f social science“ missintepretiert werden, allein die äußersten Grenzen des Handlungsspielraums absteckt, innerhalb derer jedoch eine Vielzahl von Lebensformen realisierbar bleibt: „It does not answer the question how we shall live under it. It leaves us free, therefore, to render the Selection to which we submit intelligent and purposive.” Schiller (1926a), S. 57. Finden sich dagegen bei Schiller Sätze wie: „The social order ultimately rests upon the rigid order of Nature, and man has no power to alter either“ (Schiller (1926a), S. 52), so sind diese vor allem gegen eine vollkommen selbstabsorbierte und darin idealistische Parteipolitik gewendet, die dysgenische - im Hinblick auf die Kongruenz mit seinem spekulativen H u m a­ nismus lies: dysteleologische - Zustände zeitigen, und keineswegs als Bekenntnisse eines reduktiven Naturalisten zu lesen. 466 467

Schiller (1926a), S. 205 Schiller (1926a), S. 206 235

„Fatalistic prediction arises when religion gives way to science and a naive belief in oracles yields to an uncritical belief in scientific determinism. Its essential belief is that what will be, will be and must be, and that nothing we can think or do can alter or avert the predes­ tined process of nature’s necessary march. Ultimately every event is exactly calculable and inevitable, and if only we knew enough we should be forced to realize this.““ 8

Wie schon früher dargelegt (Kap. 3.4.), ist jedoch die Konzeption eines harten Determinismus, der keinerlei Ausnahmen zulässt, keineswegs die, die in den Wissenschaften wirkt, sondern unkritische und damit unwissenschaftliche, vor­ moderne468469 Dogmatisierung von dem, was heuristisch niemals mehr sind als „sta­ tistical averages, and stable habits“, „methodological assumptions“. Es ist allein die rationale Prophetie, die diesem Tatbestand in den Wissenschaften Rechnung trägt und dem Menschen dadurch die Möglichkeit einräumt, als realer Agens in den Verlauf seiner Geschichte einzugreifen. Das in der rationalen Prophetie ge­ zeichnete Zukunftsbild ist damit nie mehr als ein aus gegenwärtigen Tendenzen, also dem Zustand vor möglichen Gegenmaßnahmen verlängertes Bild und damit durch seine spezifischen, keineswegs aber unumstößlichen Bedingungen lediglich „probable“ und „more or less hypothetical“470. Zwar bedeutet dies - im Einklang mit dem pragmatistischen Kodex insgesamt - , die „quest for certainty“ (Dewey) als eine Suche nach absoluter Sicherheit und Bequemlichkeit aufzugeben, gleich­ zeitig ist es aber auch allein diese Anerkennung letzter Ungewissheit, die ein „in­ tolerably restricting or even utterly denying our freedom of action“471 durch den Fatalisten und seinen „predestined process of natures necessary march“472 verhin­ dert: „Thus the future regains the contingency which fatalism had denied it, and man his freedom and responsibility.“473 Überhaupt macht Prophetie vor diesem Horizont der realen Möglichkeit menschlicher Intervention erst einen Sinn, be­ steht dieser doch genau in der Doublette aus düsterer Warnung bei gleichzeitiger Öffnung von Handlungsspielraum: „For what is the use o f foreknowledge if it cannot avert our predestined doom?“474 Diese Funktion des Propheten als der ei­ nes sensibilisierenden wie motivierenden Aktivisten wird im Vergleich zu frühe­ ren Zeiten in der Moderne umso deutlicher, da sie durch eine bis dato unbekannte

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Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 207

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S. Schillers Genese der Annahme einer Determiniertheit des Menschen aus dem Geist der Astrologie: Schiller (1939) |„Prophecy and Destiny“], S. 207 Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 209ff. Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 204 Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 207 Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 212 Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 210

470 471 472 473 474 236

Beschleunigung der in ihr freigesetzten technischen, wirtschaftlichen, medialen, politischen Potentiale ausgezeichnet ist. Konnte der Mahner sich einst in passive Verkündung zurückziehen, da das Eintreffen (oder Ausbleiben) der prognosti­ zierten Entwicklungen leicht die Dauer der eigenen Lebensspanne übertraf, so ist der Prophet der Gegenwart einer, der kaum noch leugnen kann, selber Teil des Schiffes zu sein, dessen Kurs er prophezeit: „Nowadays [...] events move so rapidly and the course of history has acquired such momentum that a modern Cassandra runs real risks of experiencing the truth of her own predictions.“475 Gerade aus dieser Grundsituation der Selbstbetroffenheit und Eigenbeteiligung an der beurteilten Szenerie votiert Schiller hier noch deutlicher, als dies im erst dahingehend zu dechiffrierenden kryptischen spekulativen Humanismus zum Ende hin der Fall war (Kap. 4.1.3.), für einen Typus des engagierten Intellektuel­ len, der sich in die gesellschaftlichen Konflikte mit einzubringen hat, um sie zum Positiven zu verändern.476 Was sind also nun die aus dieser Warte rationaler Prophetie von Schiller selbst erschauten „suicidal possibilities lurking in European civilization”477 im Beson­ deren, die aber auch gleichzeitig „observable all over the civilized world“478 sind, weil sie einer im Wesentlichen vormodernen, antiquierten Fassung der Zivili­ sation entspringen, und die von ihm beschrieben werden in der Hoffnung, sie noch abzuwenden?479

475 476

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Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1939) [„The Crumbling British Empire“], S. 216 Ein weiterer Unterschied zum Propheten der Vergangenheit besteht in der Gegen­ wart für Schiller darin, dass dieser nicht, wie einst Kassandra, sich von Ungläubigen konfrontiert sieht, ist die Diagnose der Gegenwart als einer, die eine katastrophale Zukunft antizipiert, doch nun weitestgehend anerkannt und salonfähig geworden: „Already Cassandra’s difficulty is no longer that of finding someone to believe her prophecies and to heed her warnings; it is rather that o f finding someone who disbelieves her and yet is willing to avert the disasters which are clearly seen to be impending.“ Schiller (1939) [„The Crumbling British Empire“], S. 216 Schiller (1926a), S. 32 Schiller (1926a), S. 19 Aus dieser Doppelsinnigkeit der rationalen Prophetie ergibt sich für Schiller das zen­ trale „paradox]] in prediction“: Je besser die Prophetie, desto wahrscheinlicher, dass seine Zukunftsvision nicht eintritt, denn: „forewarned is forearmed“. Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 212 u. 214. Oder anders: „Its predictions have been falsified, but it is not therefore false.“ Schiller (1926a), S. 5. Im Wissen darum und um die Wichtigkeit der intellektuellen Weitsicht warnt Schiller - exemplifiziert vor allem an Thomas Malthus - davor, aus dem Nichteintreten eine Diskreditierung der Prophetie abzuleiten: „Hence we ought not to discourage prophets too severly. [...] 237

Weit davon entfernt, hierbei besonders in die Tiefe zu gehen oder auch nur eine Gesamtdiagnose der Gegenwart zu liefern, widmet sich Schiller mehr ei­ nem bunten Strauß von Faktoren: Das Problem der Überbevölkerung, das „social problem“ der gerechten Verteilung, die Entfremdung als strukturelle Gewalt eines „industrial system which exploits men as if they were machines“, das „ethical problem“ als der ineffizienten und latent des Ausbruchs harrenden „primitive pre-social instincts“480, welches zusätzlich durch einen „Individualis­ mus“ befeuert wird, der kein wirklicher, ganzheitlicher Individualismus ist und auch die höheren moralisch-geistigen, am Gemeinwohl orientierten Stufen des Menschseins zu würdigen weiß, sondern der sich einzig an einem privatistischen, entlang des Lustprinzips konstruierten Egotismus ergötzt.481 Schließlich das Problem der Überkomplexität der modernen Gesellschaft, die ganz beson­ ders eine Gesamtlenkung dringlich, diese aber gleichzeitig unmöglich macht, insofern sie den Bildungsauftrag auf das Dressieren zur expertokratischen Ni­ schenbildung oder selbstgenügsamen Isolation (s. Kap 3.7.) verengt und damit das individuelle wie kollektive Bewusstsein in ihr zu einem depraviert, das bar jeder Kompetenz zur gesamtgesellschaftlichen Synthesebildung im Licht eines einenden und erstrebenswerten Guts bleibt. Auch in diesem Fall lieferte der Ers­ te Weltkrieg, der „made abundantly manifest the prevalence o f incompetents in

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It may warn us in good times, and even if literally falsified, may serve the purpose for which prediction was needed.“ Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 215 Zu den zuvorgenannten Zitaten und Punkten: Schiller ( 1926a), S. 3f. Schiller (1926a), S. 40. Hier scheint Schiller trotz seiner Kritiker andernorts am Kategorischen Imperativ Kants (Kap. 3.4.) genau diesen als den guten Individualis­ mus gegenüber dem schlechten wiederzubeleben, ist letzterer doch jener, der nicht sieht, dass in seinen Handlungen auch immer soziale Universalität zum Vorschein kommt - sei diese als Vorbild für die anderen oder als Gesellschaftsentwurf, den seine Handlung implizit subventioniert und antizipiert: “[T]he individuals are not taught that by their private choices of what is pleasant or conducive to their per­ sonal purposes they are moulding, and perhaps altering, the nature of the nation which supports them. They have not in consequence any consciousness of social responsibility in the exercise of their tastes. The London business man who prefers Sunday golf to a sermon is not aware that he is thereby contributing to the survival of the caddy as against the preacher, nor does the man who buys a ticket for musical comedy instead of for a play of Shakespeare realize that he is aiding the degradation of artistic taste, nor is the ordinary citizen conscious that by attending race meetings he may accelerate, and by attending meetings of the Eugenics Society he may arrest, the decadence of his country. There is, in short, very little reflection on the social consequences of individual preferences.“ Schiller (1926a), S. 40f.

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high places“482, den Beleg dafür, wie eine derartig institutionell implementierte, kognitive Impotenz nicht in der Lage war, die „engines of destruction“ der Ge­ sellschaft insgesamt noch aufhalten zu können. Dies jedoch nur eine (besonders folgenschweres) Facette des tiefgreifenderen Problems: „the complex mechanisms of modern life, trade, finance, employment, government, and warfare, have already got out of hand, and that the men in charge of them are exhibiting growing incapacity to control them for any good (or indeed for any) purpose.“48·1

Jenseits dieser losen und unsystematischen Auflistungen, die Schillers politische Schriften in ihrer Responsivität gegenüber der Vielstimmigkeit der Zeit kenn­ zeichnen, sind es für ihn vor allem fünf Tendenzen, die als Hauptmanifestationen der „collective insanity which seems to be spreading through the world“484485 fungieren und auf die er wiederholt seinen Fokus richtet. (1) Das Verschwinden des Liberalismus als gestalterischer Kraft, die einem allein an Arretierung interessierten Konservatismus Paroli zu bieten weiß. Dies liegt für Schiller zum einen daran, dass der Liberalismus als Ideologie des 19. Jahrhunderts sich mehr im Hinblick auf „abstract dogmas about the equality and rationality of men“ und weniger mit Rücksicht auf „science and experience“481, allen voran der Biologie, aber auch Soziologie und Psychologie formiert hat, eine Unwissenschaftlichkeit, die sich jetzt dadurch rächt, dass er zu einem abstrak­ ten, dogmatischen, einem „dying liberalism“486 gerinnt und an seine „high-water mark“ des vorangegangen Jahrhunderts in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr­ hunderts nicht mehr herankam: „it has been ebbing at a growing and alarming rate“.487 Zum anderen wirft Schiller den liberalen Politikern vor, dass sie, „unfortunatley for mankind“488, selbst diesem abstrakten Liberalismus nicht gerecht zu werden vermochten, haben doch auch sie sich dem „morbid nationalism, that is devastating Europe“489, unterworfen und damit, statt bspw. für die Überwindung nationalstaatlicher Abschottung einzutreten, deren Intensivierung sowie die He­ rausbildung antagonistischer Konflikte innerhalb von Europa bis zur Entladung in der „catastrophe of 1914“490 mitbewirkt. Ein Weltereignis der Gewalt, das

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Schiller (1924c), S. 47 Schiller (1932), S. 19 Schiller (1939) [„The Crumbling British Empire“], S. 219 Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 257 Schiller (1932), S. 26 Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 257 Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 258 Schiller (1932), S. 101 Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 257 239

überhaupt dadurch dem klassischen Liberalismus den Todesstoß gegeben hat, da dieser doch quintessenziell davon beseelt gewesen ist, „violence for reason as the method of settling international differences“491 zu substituieren.492 (2) Zu den Versäumnissen des Liberalismus gehört für Schiller auch, dass die­ ser sowie die übrigen (vermeintlich) demokratisch gesinnten Politiker das aris­ tokratische Ideal, also ein Gut zu denken, auf das hin die Gesellschaft geordnet werden und an dem gemessen sie sich als eine wachsende begreifen kann, ver­ untreut haben: Statt sich von einer minimalkonsensualen Antwort auf die Frage nach einer Gesellschaftsvision leiten zu lassen, hat man sich in das bequemere, weil nichts tatsächlich anpackende, parteipolitische Kleinklein fallen lassen und damit eine „sort of paralysis“ der „parliamentary politics“ bewirkt. So wurde gerade nach dem Krieg nicht nur eine „triumphant democracy“493 verhindert, sondern diese durch die Art der indirekten Förderung von Ideale aktiv imple­ mentierenden Diktaturen in Teilen sogar abgeschafft. Für Schiller ist klar, dass es keine Gesellschaft auf Dauer geben kann, die den Liberalismus als Modell der Absenz allgemeingültiger Werte meint auslegen zu können, da der Mensch in all seiner Mangelhaftigkeit einer von außen ihn prägenden Formgebung be­ darf: „It is almost a secret de polichinelle [ein offenes Geheimnis - G.K.T.] that modern life stands in great need of new and effective ideals, and that morals are in desperate need of reinforcement“.494495Nur so kann sich der Mensch als Teil einer, gemessen an diesem Gut, zusammengehaltenen Gesellschaft begreifen und sich wechselseitig mit ihr verwirklichen. Dass dieses Plädoyer für die kollektive Normierung der Individuen durch kanonische Werte, welches das Wesentliche des eugenischen Lösungsansatzes bereits antizipiert, für Schiller kein Widerspruch zu seiner individualistischen Philosophie - „I am not ashamed to be called an individualist“ - bedeutet, be­ gründet er damit, dass er dem Individuum zwar weiterhin irreduzibel den Wert als „stimulus and source o f salutary innovation“493 zuspricht, dieser Wert jedoch praktisch bedeutungslos wird, wenn die ihn kanalisierende, sozial-institutio­ nelle Umwelt fehlt. Dies wird umso deutlicher, wenn man die schon aus dem

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Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 257 Im Verlernen der Diplomatie als Anwendung des liberalen Sprachprimats sieht Schiller auch eine Ursache für die kollektive Unfähigkeit, den Krieg vorzeitig beendet zu haben: die Diplomaten „all mismanaged“. Schiller (1939) [„Can Democracy survive?“], S. 229 Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 258 Schiller (1932), S. 19

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Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 267

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spekulativen Humanismus bekannte Einbettung dieser Passagen in seine kate­ gorische Ablehnung des Sozialismus miteinbezieht. Nach dem Ereignis der rus­ sischen Revolution zeigt dieser ganz praktisch sein misanthropisches Gesicht, indem er, wie alle Diktaturen, die gesellschaftlich losen Fäden zwecks Koordi­ nierung und Effizienzsteigerung bündelnd in die Hand nimmt, doch nicht zu­ gunsten einer menschlichen Erhöhung, sondern einer radikaleren Minderung des Humanen nach dem Vorbild eines anonymen Ameisenstaats, welches an­ thropologisch gemünzt den Weg hin zum „Ant-Man“ weist. Das kommunistische Regime habe „so far only deprived Russia of her intelligentsia, re-enslaved her moujiks, and depressed her life to a lower and more bestial level.“496497Es handelt sich hierbei für Schiller um eine bewusste, reflexive Dysgenik, die er bereits zu­ vor in akademischer Hinsicht kritisiert hat (s. das Philosophiemodell „Moskau“ in Kap. 3.7.). Gegen diese Auslöschung der individualistischen Initiative zur Innovation setzt Schiller seine Definition von einem realpolitisch tragfähigen Individualismus, die auch nicht im Widerspruch zu Setzung und Anerkennung eines ideellen Nexus der Gesellschaft steht: „Individualism, as I conceive it, does not involve a denial of society, though it does imply doubts, generated by reflection and experience, as to the practical value of many forms of collective action: it merely believes that individual initiative is socially indispensable and that certain functions are far better left to it.“w7

Darüber hinaus ist die Normierung durch das gesamtgesellschaftlich Gewollte nicht nur eine notwendige Maßnahme zur relativen Domestikation wie För­ derung des ansonsten anarchisch zurück- und waltengelassenen Individuums, sondern gleichzeitig eine, die qua „Checks and Balances” anhand der öffentlich einsichtigen Ideale das Funktionieren der Institutionen selber sicherstellen soll, können doch auch diese der gesellschaftszersetzenden Desorganisiertheit an­ heimfallen: „All institutions are social mechanisms, and all mechanisms need a

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Schüler (1932), S. 3 Schiller (1926a), S. 48.: Dass dies nur dann eine schlüssige Selbstrechtfertigung ist, wenn man davon ausgeht, dass der faktisch viel individualistischere, teilweise tita­ nenhafte Blick auf das Individuum in seinen A xiom s demographisch nur auf eine kleine Gruppe eines besonders „starken“ und „seltenen“, autonomen M enschen­ schlags dechiffriert wird und nicht auf den Menschen generell, wurde bereits an entsprechender Stelle angemerkt (Kap. 3.6.). Freilich taucht zwar auch schon in den Axiom s die Kollektivität auf, doch der Blick ist dort der des schöpferischen Individu­ ums, aus dem heraus das kollektiv Doktrinäre erst emaniert, während hier, nach der „realistischen Wende“ Schillers, der Blick nun der umgekehrte ist: der des Sozialen auf die Normierung des Individuums. 241

modicum of intelligent supervision, in the absence of which they become dange­ rous engines of destruction.“498 Hier zeigt sich die Kritik der Selbstreferentialität der akademischen Philosophie in politisch generalisierter Hinsicht.499 (3) Zu dem den Anforderungen der Welt nicht gerecht werdenden privatistischen Kleinklein der realexistierenden liberalen Demokratien zählt für Schiller besonders die Opferung der politischen Vernunft als einer lösungsorientierten Durchdringung der sich stellenden Probleme auf dem Altar eines diese schein­ bar auf ein geographisches Minimum herunterrechnenden Nationalismus, der suggeriert, man könne sie in einer sich globalisierenden Lage noch regional und mit protektionistischen Mitteln lösen. Gerade mit Blick auf die akutesten Fragen wie die ökonomische der Massenarbeitslosigkeit und Verarmung in der Nach­ kriegszeit schreibt Schiller über den Nationalismus als Scheinlösung, dass „the orgies of nationalism [are] too costly and must cease, and that the attempts of every State to live for and by itself [are] the road, not to safety, but to poverty and ruin.“ Ein couragierter Liberaler und Demokrat müsste daher dafür einstehen und wider den einfachen Populismen verkünden: „that for all the world to try to increase exports by strangling imports [is] a flat impossibility“.500 Aber auch über diese ökonomische Kritik hinaus lässt Schiller am Nationalis­ mus kein gutes Haar, ist er doch als eine sich pandemisch verbreitende Idee ein geradezu „spiritual obstacle“ beim Lösen der politischen Probleme und verstetigt „traditional hatreds, the exasperated feelings, the insane prejudices by which

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Schiller (1924c), S. 34 In Bezug auf die Abkapselung der universitären Forschung von der außerakademi­ schen Realität kritisiert Schiller in diesem Kontext vor allem die Volkswirtschafts­ lehre, die gerade in diesen vor allem von ökonom ischen Problemen durchdrunge­ nen Zeiten nicht nur dahingehend versagte, dass „they ceased to express themselves in plain language“, sondern durch ihre klaffende Absenz mitverschuldete, dass „the world promptly relapsed into its primitive depths o f econom ic ignorance“. Ein Tatbestand, der sich für ihn in dem die europäische Situation verschärfenden „Peace Treaties“ von 1919 und den darin enthaltenen Reparationsforderungen realpolitisch manifestierte. Schiller (1924c), S. 32 Schiller (1939) [„Can Democracy survive?“], S. 237 - Dass eine solch unangenehme, weil die „Feindschaften“ überdenkende Kritik des Nationalismus und ein Einfordern der Stärkung der internationalen Beziehungen nicht nur ausbleibt, sondern umge­ kehrt die Intensivierung des Nationalismus propagiert wird, liegt für Schiller auch in der undemokratischen Geisteshaltung der praktizierenden Demokraten begründet: „The universal assumption of democratic statesmen seems to be that since the people are fools, they must be provided with plenty o f fools’ paradises to live in.“ Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 277

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the peoples o f Europe are at present kept apart and incited to make life a burden to themselves and to others.“501 Schon rein theoretisch besteht die Ideologie des Nationalismus, Kind der napoleonischen Ära, aus zwei Eckpfeilern, die sich ne­ gieren. Zum einen wartet sie mit der Annahme auf, die jeweils eigene Nation sei durch eine besonders hochwertige innere Homogenität mit einem Überlegen­ heitsanspruch gegenüber den davon Ausgeschlossenen gesegnet. Zum anderen wird aus dieser eigenen Superiorität heraus ein Expansions- und Einverleibungs­ anspruch abgeleitet, der jedoch nur dann ohne Verwässerung der Grundlage der Selbstüberhöhung oder, ganz praktisch, nur dann dauerhaft ohne Zusam­ menbruch zu verwirklichen wäre, wenn die ausgezeichnete „Innerlichkeit“ der Nation gerade nicht substantiell-homogen, sondern formal-plural definiert wäre. Dies ist jedoch nur beim von Schiller dem Nationalgedanken entgegengesetzten Konzept des Imperiums der Fall, wonach jeder dazu gehört, solange er bereit ist, ein juristisch formal definiertes Minimum an Gehorsamkeit zu erfüllen. Kurzum: Die Nationalstaaten „have all tried to be at one and the same time national states and empires. Now this is quite a modern absurdity.“502 Doch die Idee des Nationalismus ist für Schiller sogar bereits im ersten Schritt „self-contradictory“ und „self-defeating“503, denn, so die Frage, was definiert die Nation exklusiv? Dass es nicht gemeinsame Herkunft ist, die nötig ist, um einen „vigourous sense of nationality“ zu evozieren, zeigen die USA. Eine gemeinsame „Rasse“ ist ebensowenig Bedingung sine qua non, da ein solches Konzept „in Europe, at any rate, is mainly a myth, because the Europeans are all mixed“. Auch die Religion stiftet keine homogene Basis mehr, wurde diese doch als gemein­ sam geteilte, im Sinne des einen Christentums, seit der Reformation irreversibel „disrupted“, sodass Schiller zum Schluss kommt, dass die „sole functional basis of nationality appears to be language.“ Von der Sprache als Fundament der Nation auszugehen, heißt jedoch, dem darin gesuchten Exklusivitätsanspruch gerade latent zuwiderzulaufen, ja, ihn in letzter Konsequenz zugunsten des von ihm verteufelten Internationalismus zu transzendieren: „for the simple reason that it is possible to acquire more than one language, and so more than one nationality, if language is made the test thereof. [...] [I]f men are permitted to master a plurality of languages, language fails as a test of nationality and becomes rather an instrument of internationalism.“ 504

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Schiller (1939) [„The Possibility of a United States of Europe“], S. 246 Schiller (1939) [„The Possibility of a United States of Europe“], S. 247 Schiller (1939) [„The Possibility of a United States of Europe“], S. 247 Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1939) [„The Possibility of a United States of Europe“], S. 248 243

Aufgrund dieser ethischen Dimension der Sprache als Zugang zu Pluralität und Alterität qua Perspektivwechsel ist es nur folgerichtig, dass Schiller in seiner skiz­ zierten Zukunftsvision der „United States of Europe“, die er der nationalstaatlich parzellierten Gegenwart entgegenhält, auf das Medium Sprache seine Hoffnun­ gen setzt - nach dem Vorbild der pluri-ethnischen Schweiz, dem Land mit den „only wise and sensible people in Europe“.505 Versteht man dieses Eintreten für ein innerstaatliches wie zwischenstaatliches Modell potentiell all-inklusiver Be­ ziehung als politische Übertragung der Logik offen-pluraler Freundschaft und den Nationalismus als die politische Anwendung der Logik exklusiver Liebe, so findet man hier denselben Grundstock an Pro- und Kontra-Argumenten wie­ der, dessen Schiller sich bereits mehr als 40 Jahre zuvor in seinem spekulativen Humanismus im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Freundschafts- bzw. Liebes-Ethik bedient hat. (Kap. 4.1.1.) (4) Dass jedoch weder die Politiker noch die Masse der Menschen eine anti­ nationalistische Gegenvision der Befriedung des Kontinents stark machen oder

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,,[T]he individual Swiss takes pride in mastering all his national languages and so becoming a more educated man, more able to appreciate the point o f view o f others, as well as better able to deal with the Germans, and French and Italians who dwell beyond his borders.“ Dass diese geradezu revolutionäre Sicht auf ein anderes, ge­ schwisterliches Europa hier nur beiläufig erwähnt und scheinbar nicht in seinem Mut gewürdigt wird, liegt daran, dass Schiller dies nur in einem Aufsatz stark macht und es auch nicht in die restlichen Schriften seines eugenischen H um anism us einarbeitet. Dennoch verdient diese Vision, geäußert zur Zeit der ultimativen inner-europäi­ schen Kriegsvorbereitung, eine explizite Erwähnung, und dies umso mehr, als er sie als fast schon unumgängliches Schicksal, „political necessity“, ansieht, auch wenn der Weg dorthin, auch hierin stimmte seine Vorahnung, durch das selbstgelegte Feuer führt: „[Pjerhaps the time is not yet ripe for a United States o f Europe. But if their federal union is delayed or rejected, the peoples o f Europe are doomed to a continu­ ation o f their present sufferings till they grow willing to enter upon the pathway of salvation. For, as the ancient adage says, .Destiny takes the willing by the hand, but drags the unwilling by the hair!1“ Schiller (1939) [„The Possibility of a United States o f Europe“], S. 249f. - Doch der Text beinhaltet mit seinem inhaltlichen Rekurs auf die Schweiz (wie dem nominellen auf die USA) als Vorbild mehr als nur eine sich bewahrheitende Prognose des Zusammenwachsens Europas. Vielmehr steckt darin genau durch dieselben Rekurse das Potential einer Kritik an einem solchen nicht mehr föderalen, durch das Subsidiaritätsprinzip dezentralisierten Zusammenwach­ sen hin zu einem eigenen „Nationalstaat“. Diese grundsätzliche Skepsis Schillers gegenüber der staatlich-zentralen Kontrolle, schon allein in Bezug auf ihre dauerhafte Erfolgsaussicht, wirkt besonders weiter in seiner Aufwertung der Familie, des Klans: s. Kap. 4.2.2.

einfordern, zum Großteil sogar die Kritik an den Hinfälligkeiten und Gefahren des Nationalismus - neben der ökonomischen Dimension für Schiller vor allem in der Beziehung zwischen Deutschland und Polen manifest, „one of the worst of Europe’s political problems“506 - und auch die an anderen „false-beliefs“ (s. Kap 3.6.) so sehr zu ignorieren scheinen, dass Schiller hier eine geradezu organisch bedingte „incapacity to understand“507 unterstellt, führt zur Problemdiagnose, die für die Eugenik, im engen, biologistischen Sinne verstanden, am paradigmatischsten ist. Denn eigentlich ist sie es, die hinter all den zuvorgenannten Entwicklungen als ihren „ominous symptoms“ am Werk ist und die Schiller durch diese, vor allem die Implosion jeder gesellschaftlich, auch die „sexual morality“508, regulierenden Idealität, wiederum verstärkt sieht: die „differential birth-rate“. Hierbei geht es darum, dass die elitäreren, aber auch mittelständi­ schen Schichten weniger Nachwuchs zeugen als die unteren. Mehr noch, die Fertlität verläuft umgekehrt proportional zur sozialen Vertikale. Diese Asym­ metrie der Geburtenraten führt für Schiller - „if there is anything in heredity“509510 und, so müsste man hinzufügen, falls sich denn die „natural nobility“ tatsächlich in der sozialen Stellung widerspiegeln sollte - zwangsläufig zur Abnahme der Intelligenz und auch sämtlicher anderen Fähigkeiten, die für das gesellschaftli­ che Gedeihen unverzichtbar sind: „So society, as at present organized, is always dying off at the top, and proliferating at the bottom, of the social pyramid.”310 Dass sich nun dieser derart angenommene Abbau von Kompetenz gerade in der Politik besonders manifestiert - auch hierfür dient Schiller der Weltkrieg als Symptom - liegt in ihrer Komplexität: „Politics is not a science but an art, or rather many arts.“511 Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Errichtung eines modernen Systems der „social welfare“, das biopolitisch dazu führt, denen ein Leben zu ermöglichen, „who could not have done so by their unaided efforts“512, und das soziopolitisch zur Auflösung des Leistungsprinzip beiträgt: „They [die subventionierten „feeble­ minded“ - G.K.T.] do not look ahead into the future; they do not care whether their children can maintain themselves.“ Es ist „no longer essential for a member

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Schiller Schiller Schiller Schiller Schiller Schiller Schiller

(1939), S. 250 (1939) [“Can Democracy Survive?“], S. 237 (1932), S. 31 (1932), S. 16 (1924c), S. 44 (1926a), S. 1 (1932), S. 21 245

of a society that collectively controls the conditions of existence to develop any high degree of personal capacity”.513 Diese unerbittlich anmutenden sozialdarwinistischen Passagen, die Porrovecchio dazu bewegen, im Schiller der eugenischen Schriften einen nietzscheanischzynischen Neoliberalen vom Kaliber einer Ayn Rand zu sehen514, sind jedoch nicht nur ein Teil des gesamten eugenischen Humanismus, sie werden auch in sich relativiert. Schiller erkennt durchaus das ethische Anliegen hinter dieser so­ zialen Politik an, „to mitigate the harshness o f the struggle for existence“515. Seine eigentliche Kritik besteht vielmehr darin, dass nicht primär oder gar ausschließ­ lich auf die unteren Schichten geblickt werden sollte, während die Förderung der oberen und mittleren Schichten als die eigentlich Ideale realisierenden aus dem Blick gerät. Denn dieses „spoiling of the cream“516 - „If [...] poverty, and not brains, is made the basis of selection”517 - gefährdet auch den Wohlstand, der diese Caritas und die meisten anderen hehren Güter überhaupt erst materiell wie ideell langfristig ermöglicht: „It is true, no doubt, that the world is made fo r the average man; but the average man should never be allowed to forget that it was not made by him, and that if left to his own devices he would rot in the ruts of routine.“518

(5) Das Verlustiggehen von Intelligenz und der damit verbundenen Problemlö­ sungskompetenz, die sich gerade in dieser komplex-globalen Situation in einer

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Schiller (1924c), S. 23 Porrovecchio (2011), S. X - Historisch adäquater, wenn auch als Referenz ebenso libertarianistisch wie Rand, wäre es dagegen auch hier, vor allem auf die Schriften von Herbert Spencer zurückzugreifen, der noch vor Darwins „Origin of Species“ (1859) durch die Übernahme des malthusianischen Paradigmas den „Sozialdarwinismus“ in seinem Erstlingswerk popularisierte und dessen Argumente und Ansichten sich bei Schiller - ohne besondere Ausweisung - hier in weiten Teilen eins zu eins wiederfin­ den: vgl. Spencer (1851) und als sekundärliterarische Aufarbeitung der Entstehung des Sozialdarwinismus ante D arw in: Fleming (1963). Schiller (1932), S. 21 Schiller (1932), S. 20 Schiller (1926a), S. 124 Schiller (1926a), S. 46 - Dies bedeutet für Schiller auch ein aristokratisches Insistieren auf einem qualitativen Lebensbegriff, den er einem bloß quantitativen Verständnis entgegenhält, da ohne einen solchen eine Gesellschaft ihren eigenen, eben ungleich verteilten und dennoch im besten Fall allen zukommenden Stärken gegenüber blind wird: „It is not true that one man’s life is as good as another’s [...]. For some bodies are intrinsically better than others, stronger, fairer, healthier; and some minds are stronger, ampler, and happier than others.“ Schiller (1926a), S. 6

„continuous or far-sighted legislation“519 niederschlagen müsste - denn nicht zuletzt die nicht von der Hand zu weisenden Probleme, die sich aus den „hard economic facts“ ergeben, vermag keine Staatsform dauerhaft zu übergehen - , zu­ gunsten eines privatistischen Opportunismus aufseiten der parlamentarischen Demokratien ermöglicht für Schiller den Weg ihrer eigenen Ablösung durch das „soteriologische“ Aufkommen von Diktaturen: ein „blatantly retrograde step“520, welcher ihn besorgt feststellen lässt: „The cause of free speech has bred no martyrs“.521 Diese Diktaturen, seien sie in Italien, Russland oder Deutschland, sind für Schiller im Unterschied zu früheren Dispotien von einer neuen, besonders ge­ fährlichen Qualität, da sie nicht mehr mit im Grundsatz kleptokratischen, allein sich selbstbereichenden Diktatoren einhergehen, sondern mit solchen selbstlo­ serer Art: „they are animated by ideas“522. Gerade diese fehlende Korruptheit macht sie aber umso maßloser, unkontrollierbarer und fanatisierungsfähiger: „The new dictator is not merely a despotic ruler who has got into the saddle and means to stay there. He is of a different type. He is not merely a strong man with a knack of looting the public treasury. He loves his job, ruling, and power, more than pelf.“52’

Diese ideelle Kernkomponente spiegelt sich auch darin wider, dass alle drei genannten lokalen Variationen in mythologische Gewänder gehüllt sind, statt ausschließlich die nackte Sprache der Macht nach außen zu kehren: Im kommu­ nistischen Russland besteht das doktrinäre Gewand im Narrativ der „equality of man, or rather of the supremacy of the under dog“, im faschistischen Italien in der Revitalisierung der Zeiten des „imperial Rome“ und im nationalsozialisti­ schen Deutschland in der „pseudo-scientifk legend of the biological superiority of the German race“.524

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Schiller (1939) [„Can Democracy Survive?“], S. 244 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 269 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 272 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 270 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 270 Alle vorgängigen Zitate: Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 271 Bezüglich der deutschen, zu diesem Zeitpunkt noch jüngsten Diktatur erweist sich Schillers Gespür als falsch, mutmaßt er doch, dass zwecks des eigenen Überlebens Nazideutschland über kurz oder lang zur Vernunft kommen und mit dem Terror gegen die Juden aufhören werde, könne doch kein Staat, zumal keiner, der im Unter­ schied zur kommunistischen Ideologie die soziale Hierarchisierung, anthropologisch gemünzt: hin zum „Super-Man“ - so Schillers Unterstellung - anerkennt, dauerhaft gegen seine eigene (zu keinem geringen Teil jüdische) „Elite“ feuern, und dies umso 247

In seinem politischen Strukturvergleich kommt Schiller desweiteren zum Ergebnis, dass diese Diktaturen nicht nur in Machterwerb und -erhalt unterei­ nander gleichartig sind, nämlich durch die „use of force“, die das parlamentari­ sche Gespräch, „futile and endless, doing nothing and achieving only delays“323, unter Beifall der davon Enttäuschten endgültig zum Schweigen gebracht hat, sondern auch darin, dass sie diesen Machterwerb vor allem durch die Inklusi­ on der Jugend und ihrer Faszinationsfähigkeit für ungestüme Gewalt, impulsive Emotionalität und dynamische Großereignisse wie Paraden vollzogen haben. Und damit einer Gesellschaftsschicht, die in der langsam arbeitenden, im besten Fall nach meritokratischen Erfolgen selektierenden Demokratie als einer „ge­ rontocracy“ bisher im Abseits blieb. Einmal installiert, verläuft für Schiller die Perpetuierung der Diktaturen im Alltag dann durch einen andauernden Staats­ terrorismus gegen die tatsächlichen oder auch nur potentiellen Oppositionellen; eine Politik des Terrors, die auch dann aktiv ist, wenn sie verschwunden zu sein scheint: sie „lurks always in the background“526. Keineswegs aber stabilisieren sich diese neuartigen Systeme ausschließlich über angedrohte oder ausgeübte körperliche Gewalt. Vielmehr bedienen sie sich dafür nicht zuletzt eines Mittels, das ironischerweise während des Krieges gerade von den westlichen Demokra­ tien zur Einflussnahme auf die Bevölkerung perfektioniert wurde: der massen­ medialen Propaganda (s. die Thematisierung ebendieser als „dishonest beliefs“: Kap. 3.6.). Schiller gelangt damit schon früh zu der Einsicht, dass es sich binnen­ perspektivisch betrachtet hier um einen verewigten Kriegszustand handelt, in dem nicht nur die Aufhebung der relativen Sicherheit zugunsten der absoluten Willkür, sondern auch die Aufhebung des Realitätsprinzips zugunsten der Lüge das Fundament bildet: Die so Beherrschten „have no means of discovering what is really happening beyond their own immediate ken. They have no means of distinguishing between the truth and the official lie.“527 All diese fünf genannten Entwicklungen zeichnen ein düsteres Bild der Ge­ genwart und ein noch düstereres der Zukunft mit einem am Horizont sich ab­ zeichnenden „next Great War (Armageddon III)“, welcher „will wipe out our

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weniger zu einer Zeit, in der „there is too little o f it [fähige Elite] being produced everywhere.“ Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 272f. Eine Irrtums­ möglichkeit, die er jedoch als „rationaler Prophet“, der er zu sein beansprucht, selber einräumt: „To forecast the future of dictatorships needs a gift of prophecy I cannot claim.“ Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 277 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“), S. 272 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 274 Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 275

present civilization altogether“528. Und doch ist Schiller gemäß der rationalen Prophetie und der damit verbundenen, strukturellen M öglichkeit von Fortschritt und Niedergang nicht frei von Hoffnung, eine Kehrtwendung mitzubewirken, und dies nicht zuletzt wegen des Kairos einer jeden Krise, auch immer Chance auf Wandel zu beherbergen - und dies viel eher als die von (sichtbaren) Kon­ flikten ungetrübten „more normal times”, ist dort doch die „conservative inertia which resists even the thought o f anything new [...] usually too strong.”529530124 Dass die eugenische Reform der Gesellschaft als für ihn einzig realistische, katechontische Hoffnung viel weiter gefasst werden muss, als dies ein rein auf biologistische Maßnahmen zentrierter Fokus vermag, sollte durch die von ihm sondierten Probleme seiner Zeit bereits indirekt deutlich geworden sein: Befreit von der materialistisch-reduktiven Lesart oder anderen „caricatures”550, wie sie mit der modernen Begründung seit Francis Galton551, Halbcousin von Ch. Dar­ win, stereotypisch üblich wurden, bedeutet die Eugenik für Schiller vielmehr das, was auch A. Mitscherlich Jahrzehnte später noch als ihre Unumgänglich­ keit herausarbeitet: die „Selbstkontrolle und Selbstgestaltung des Schicksals der Menschheit”.352 Diese weite, fundamentale Konzeption wird bei Schiller schon dadurch nahegelegt, dass für ihn am Anfang des eugenischen Gedankens keines­ wegs ein moderner Biologe oder Genetiker stand, sondern der „most idealistic and ascetic of philosophers”555: Platon und sein Entwurf eines Idealstaats in seiner Politeia. Darin wegweisend, besteht die grundsätzliche Forderung der Eugenik in der Förderung der „highest possible development of all human faculties physical, mental, and moral“524 überhaupt. Es soll um nicht weniger gehen als um das Bahnbrechen eines „higher and nobler scheme of morals than is now in operation anywhere.“535 Sein eugenischer Humanismus wird damit zur Antwort

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Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 214 Schiller (1932), S. VI. Dennoch ist Schiller im Hinblick auf die Realisierung einer Kehrtwende zerrissener, als die obigen Sätze suggerieren. Neben hoffnungsvollen Passagen finden sich bei ihm auch zuhauf solche, die den Untergang als faktisch schon ausgemacht ansehen. So schreibt er bspw.: „On the whole the great dictatorships seem likely to last“, da „no symptoms visible on the political horizon“ sind, „that promise any relief from dictatorships.“ Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 277 Schiller (1926a), S. 66 S. zur Genealogie der modernen Eugenik: Searle (1976), S. 3 -8 Mitscherlich (1962), S. 492 Schiller (1926a), S. 67 Schiller (1932), S. 125 Schiller (1926a), S. 66f. 249

auf die zeitgeschichtlich sich aufdrängende Aufgabe, „to indicate what must be done if democratic forms are not to be superseded as illusory and intolerable.“ '51’ Oder anders formuliert: Es geht um einen „eugenical crusade“557 zur Durchset­ zung eines reformierten „rational liberalism“558, der seine Rationalität darin un­ ter Beweis stellen soll, dass er die Gesellschaften im Unterschied zum klassischen Liberalismus tatsächlich resilient gegen das Bezirzen durch die Gesänge gegen­ wärtiger oder noch zukünftiger, autokratischer Modelle macht. Eine Verlockung für viele, deren Perfidie darin besteht, dass sie eine Verlockung allein aus der noch sicheren vordiktatorischen Distanz heraus ist.

4.2.2 Der eugenisch-reformistische Marsch durch die Institutionen „Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann — und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.“ Friedrich Nietzsche - Die fröhliche Wissenschaft55'1536789

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Schiller (1939) [„Can Democracy Survive?“], S. 230 - In der Formel der „democratic forms“ wird bereits hier deutlich, dass seine Haltung zu der Demokratie eine ambiva­ lente ist: einerseits Kritiker der realexistierenden Demokratien als Scheindemokra­ tien und andererseits Rekonstrukteur zwecks Verwirklichung der zentralen ideellen Forderungen, die den Kern einer realen demokratischen Herrschaft ausmachen und vor allem vom Prinzip individueller Selbstverwirklichung getragen sein sollten, also vom Ziel der Abschaffung von Fremdherrschaft und Unterdrückung (auch des heteronomen „Individuums“ gegenüber sich selber). Ich komme auf diese Spannung zwischen Vorgefundener demokratischer Faktizität und ihrem ideellen Gehalt bei Schiller im nächsten Unterkapitel zurück. Dieser inneren Komplexität nicht gerecht zu werden und von einem einfachen Schwarz-Weiß her zu urteilen, macht die B e­ schreibung, die Waschkuhn vom politischen Denken Schillers gibt, blaupausenartig: „Politisch driftete Schiller schließlich ab, sah die D em okratie als inszenierte Täu­ schung an und gelangte in die Nähe faschistischen Denkens.“ Waschkuhn (2001), S. 60 Schiller (1932), S. 136 Schiller (1939), S. 267 Nietzsche (1882), S. 379f.

Im Zentrum des eugenischen „Kreuzzugs“ von Schiller - und dies schon rein terminologisch durch den Rekurs auf das „Gute“ und „Edle“ - steht die Restituierung allgemein gültiger Ideale, wünschenswerter Güter, auf die die eugenische Gesellschaft als eine verstetigte Annäherungsbewegung, kurz: als eine „inher­ ently progressive civilization“540 verwiesen ist. Das auf dieses formulierte Bestre­ ben schnell gezückte Gegenargument, dass eine liberale Gesellschaft von einer Polyphonie der Werte lebt und diese damit in essentia einer solch eingeforderten Reflexion gesamtgesellschaftlich konsensual akzeptierter Güter immer schon zuwiderlaufen müsse, verwirft Schiller doppelt. Zum einen gibt es für ihn auch in einer pluralen Gesellschaft ein gewisses Minimum an Übereinkunft über das Erstrebenswerte und sozial Gewollte. Pragmatistisch gelesen und damit die ideologischen und rein verbalen Differenzen unterwandernd, attestiert er: „In general there is a great mass of practically universal agreement as to what behaviour is good and what bad. the minorities which approve of the more atrocious forms of anti-social conduct, murder, robbery, dishonesty, profligacy, cruelty, intolerance, are so small and insignificant that universal consent may fairly be said to condemn them.”541

Die initiale Einsicht und Aufforderung seiner Eugenik besteht damit schlichtweg darin zu betonen, diese „accepted ideals can, and should, be made efficient.“ Denn ,,[a]t the present we do not live up even to the light we have.“54-’ Zum anderen ist auch das verbleibende Manko des nicht zur Gänze auflös­ baren Widerstreits über sämtliche Ideale - selbst in der besonders extrem von ihm Vorgefundenen, bröckelnden sozialpolitischen Ausgangssituation maximal loser und in alle Richtungen desorganisiert diffundierender Ideale - bei genau­ erer Betrachtung keineswegs ein Veto gegen die eugenische Umstrukturierung der Gesellschaft. Es könnte hierfür gar förderlich sein, sollten die unterschied­ lichen Positionen „excite a greater zeal and ingenuity in well-considered soci­ al experimentation.“543 Denn wie der Begriff des Experiments andeutet, ist die leitende Heuristik für Schiller auch in seiner politischen Philosophie nicht die einer abstrakt-doktrinären Orthodoxie apriorischer Absoluta, sondern das Pro­ zedere der wissenschaftlichen Vernunft als ein andauernder Prozess, welcher mit der Ungewissheit einer Vielzahl von Möglichkeiten des letztlich Richtigen und Falschen nicht nur produktiv umzugehen und sie sukzessive zu überwinden

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Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 266

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Schiller (1926a), S. 45 Schiller (1926a), S. 45 Schiller (1926a), S. 51 251

weiß, sondern eine solche Situation voraussetzt: Warum sollte sonst überhaupt geforscht und experimentiert werden? Auch daraus folgt für den eugenischen Humanismus zweierlei. Einerseits wird durch die Absenz des Wissens um das ultimative Gute der Wille zu Radikalismus und Fundamentalismus unterminiert, da durch eben­ diese Lücke oder Unschärfe die Vorgefundene Wirklichkeit, die diesem nicht gerecht zu werden vermag, nicht von vornherein als in toto verwerfenswert ab­ gelehnt werden muss. Diese Entlastung der Realität, die hier als reformierbarer Ausgangspunkt zugelassen wird (wie in der wissenschaftlichen Sicht auch das relative Unwissen initial zugelassen und als potentiell behebbar betrachtet wird), hat für Schiller etwas Absolutes zur Folge: den kompletten Traditionsbruch mit der abendländischen politischen Philosophie seit Platon - und hier hört dessen zitierte Ahnenhaftigkeit für die Eugenik Schillers auf - , hat diese doch ihre Re­ flexion auf ideale Gesellschaften hin im luftleeren Raum der reinen Theorie ent­ worfen und gehorchte damit zu keinem Zeitpunkt der weltlichen Komplexität. Anders formuliert: „The truth is that our political philosophy is quite antiquated and unscientific.“544 Die Grundsatzkritik des methodischen Humanismus an der Philosophiegeschichte, die durchgängig vom real existierenden, ganzheitlichen und nicht nur rational verkürzten Menschen absieht, wird hier in Bezug auf die politische Wirklichkeit samt der daraus resultierenden Neuausrichtung geübt: „In short, our legislators and political thinkers will have to think more earnestly and seriously than they have done for the past two thousand years, with a greater disrespect of the traditions and conventions of political philosophy.“^ 5

Anstatt eine Utopie auf einem Blankopapier zu zeichnen, die danach zwangsläu­ fig mit der Realität und der menschlichen Natur in einen unproduktiven oder gefährlichen Widerspruch gerät, verwirft das prozessuale, an der Wissenschaft orientierte Verständnis der politischen Praxis Schillers von vornherein jede Tabula-rasa-Logik und damit auch den Gedanken einer Revolution, eines „radical scheme o f eugenics”546, das davon träumt, alles niederzureißen, um es von Null

544

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Schiller (1926a), S. 22. Dass das Übel der wirklichkeitswidrigen Abstraktheit seit dem Beginn des politischen Denkens in ihm verwurzelt ist, liegt für Schiller darin, dass die politischen Philosophien Platons und Aristoteles keine realistischen Abbildungen real praktizierter, politischer Gebilde in der Antike gewesen sind, sondern Gegenbe wegungen gegen das faktisch Vorgefundene: „Their [Platon u. Aristoteles - G.K.T.] theories represent an indignant protest against Greek practice.“ Schiller (1926a), S. 22 Schiller (1926a), S. 20 Schiller (1926a), S. 104

an neu aufbauen zu können. Gespeist von der wissenschaftlichen Vernunft kann die ernstzunehmende Eugenik niemals mehr verlangen, als vermittels „revision of social status“ die „social position of various services into closer agreement with their present value“5·17 zu bringen. Zusammengebracht mit der eingeforder­ ten Reflexion auf eine Hierarchisierung von Werten für die Gesellschaft, anhand derer sie verbesserungsfähige Ordnungen produziert, hieße dies - besonders plakativ und daher zitierenswert - etwas an dem folgenden Zustand zu ändern, jedoch ohne gleich Sport oder Film zu verbieten: “It is not good for a society that a cricketer or a prize-fighter, a film actor or a dancer, should be esteemed and rewarded more highly than the man who discovers a cure for malaria or cancer.”547548

Dieses Grundmodell einer wertefundierten, adaptiven Sozialprogression steht jedoch nicht nur der Dualität von revolutionärem Gebaren und der aktiv passi­ ven Stagnation entgegen, auch in einer weiteren Hinsicht läuft es einer Entweder-Oder-Blockbildung zuwider: Statt sich auf eine Seite zu schlagen, will der eugenische Humanismus als Mittelweg sowohl liberale wie konservative Tenden­ zen vereinen. Geht er mit dem Konservatismus prinzipiell darin überein, dass es einen differenzierten Wertekanon gibt, der nicht nur besser für eine Gesellschaft ist als ein anderer, sondern auch eine Ungleichheit in Bezug auf den Beitrag, den die Einzelnen zu seiner gesellschaftlichen Realisierung leisten (können), ables­ bar macht, erscheinen dem eugenischen Reformator die realen Konservativen faktisch als „no longer the aristocrats they were“ und vielmehr vom „influence of the industrial potentates“549 vereinnahmt zu sein. Dies zum anti-aristokrati­ schen und damit dysgenischen Schaden der Erhöhung von Mensch und Gesell­ schaft zugunsten kurzsichtiger pekuniärer Gewinnmitnahme und dem Willen zur Konservierung gerade dieses moribunden Status quo. Mit dem Liberalismus hingegen teilt die Eugenik zwar die prinzipielle Offenheit gegenüber wissen­ schaftlich fundierter, innovativer Veränderung der Gesellschaft, jedoch findet diese in ihm durch den Verlust seiner aristokratischen Ursprünge ein Hinder­ nis in Form seines „false humanitarianism which aggravates, and does not cure, social maladjustments”550 vor, wie sie bereits in Schillers Kritik des Sozialstaats angeklungen ist.

547 548 549 550

Schiller Schiller Schiller Schiller

(1926a), (1926a), (1926a), (1926a),

S. S. S. S.

56 56 195 196 253

Die zweite Entlastung, die die Politik durch die Übernahme einer wissen­ schaftlichen Heuristik erfährt, ist die, dass sie sich zu ihrer Endlichkeit beken­ nen kann, und dies zum eigenen Nutzen wie dem der sozialen Partizipation. Diese Endlichkeit ist dabei nicht nur definiert durch das politische Ansetzen am gesellschaftlich Vorgefundenen, sondern ebenso durch die Art und Weise des Versuchens, die eruiierten Güter und Ideale wirksamer und wirklicher werden zu lassen, die sich in einer Förderung der Vielfalt der Mittel im Hinblick auf das Gewollte niederschlägt, da der eugenische Staat wesentlich „aware of its liability to err“551 ist, soll er denn ein wissenschaftlicher sein. „ [W]e must attribute to the Eugenical State a greater measure both of toleration towards a variety of experiments and of docility in accepting their results, than is compatible with the unscientific methods of our present polity.““ 2

Dieser sich selbst evaluierende Prozess der eugenischen Reform kann in „two great branches”553 vorliegen: als positive oder als negative Eugenik. Bezeichnet letztere den Versuch, die für die Verwirklichung der Ideale hinderlichen Fak­ toren zu schmälern oder aufzuheben, bezeichnet erstere den wirkungsvolleren, darin aber auch anspruchsvolleren Versuch der direkten Förderung der mensch­ lichen Potentiale. Die positive Eugenik setzt sich damit zum Ziel „to inquire by what means the human race may be rendered intrinsically better, higher, stron­ ger, healthier, more capable, so that human life may become happier and more worth living.“5545Doch beide Pfade, die positiven wie die negativen eugenischen Versuche, sollen, und dies dezidiert im Unterschied zum laborwissenschalflichen Experiment, welches im Verborgenen arkaner Expertenrunden abläuft, of­ fen und für alle transparent beschritten werden, betreffen sie doch als in Bezug auf die Güter der gesamten Gesellschaft zielende auch sämtliche ihrer Mitglie­ der. Schiller schwebt daher eine Art Dauerdeliberation der Öffentlichkeit vor: „It is really one of the great advantages of eugenics that it cannot proceed upon any cutand-dried scheme, but will have to be guided by the results of experiment and the fruits of experience, each of which will be followed and discussed by an intensely interested public.”5”

Aus diesem Grund bezeichnet er seine eugenische Vision bei aller Kritik am Sozi­ alismus oder richtiger: gerade deswegen als wahren und eigentlichen Sozialismus,

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Schiller (1926a), S. 61

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Schiller Schiller Schiller Schiller

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(1926a), S. 51 (1932), S. 28 (1932), S. 31 (1924c), S. 64f.

kann dieser doch seinem „widest and truest sense“ nach nichts anderes bedeuten als die „common action by all human societies in the interest of all humanity“556. Soweit seine grundlegende Darstellung der Eugenik, die durch ihren Bezug auf die wissenschaftliche Methode gleichzeitig die Begründung dafür liefert, warum seine darüber hinausweisenden Ausführungen gemessen am üblichen Abstraktionsgrad politischer Philosophie stark konkretistisch, situativ, kurz: an­ gebunden an die Vorgefundenen institutionellen Arrangements ausfallen. Ein entscheidender Punkt, nivelliert er doch auch den möglichen Vorwurf, den ihm ein heutiger Leser mit der entsprechenden „Sensibilisierung“ machen könnte, nämlich rein euro- und ethnozentristisch zu denken, wenn er bspw. vom wis­ senschaftlich wie wirtschaftlich gefassten „advantage o f the European“557 spricht. Doch abgesehen davon, dass jeder Vorsprung wie auch Fortschritt für ihn in keiner unerschütterlichen Naturgegebenheit fußt oder anderweitig essentialistisch verbrieft ist, sondern immer vor dem Hintergrund der Präkarität und letzt­ lich des Absturzes aktiv erarbeitet wurde und weiterhin werden muss, ist diese oberflächlich vorhandene exklusive Angebundenheit an die westliche Zivilisati­ on eine bloß praktische, aus dem Primat seines konkreten Reformismus heraus begründet, oder anders: insofern Schiller schlichtweg ein Brite bzw. Europäer und kein Afrikaner, Asiate oder Amerikaner ist. Muss für ihn zwangsläufig in der eigenen Umgebung angesetzt werden, lehnt er die gewaltsame Unterjochung anderer Teile der Welt, um sie zum eigenen Überleben zu nutzen, dezidiert ab, und dies aus einem aristokratischen Ethos der Selbstveredelung heraus.558 Dem eschatologischen Letztziel seines spekulativen Humanismus bleibt er da­ mit auch in seinen späteren Schriften zum eugenischen Humanismus als einem humanistisch-universellen treu: „manifest destiny o f civilization“ ist, „to unify mankind“.559

556 557 558

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Schiller (1932), S. 8 Schiller (1932), S. 102 „It will be safer, easier, and infinitely better for humanity if they will endeavour to maintain themselves, not by oppressing others, but by improving themselves.“ Schiller (1932), S. 110 Schiller (1939) [„The Crumbling British Empire“], S. 227 - Dies ergibt sich auch schon allein durch seinen prioritären Bezug auf die Wissenschaft, welche „has no prejudices, and is international“, aber auch durch die im vorigen Kapitel geschilderten Probleme einer „flachen“ Welt: „The truth is that neither economically, politically, nor racially, is it any longer possible to think in terms o f small communities, or of national states: the problems have become world-wide." Schiller (1921b), S. 415f. Daher ist es auch seine Hoffnung, dass, wenn ein Land eugenische Politik mit dem gewünschten Erfolg umsetzt, dieses zum Vorbild aller anderen wird und sie nachziehen: „Let them 255

Gleichzeitig ergibt sich aus diesem methodischen Situationismus - trotz der theorieimmanenten Folgerichtigekeit - für jeden Leser die Schwierigkeit, die ge­ wollt560 zumeist nur lose miteinander verbundenen Ideen und Reformvorschläge Schillers so zu bündeln, dass sie auch tatsächlich dazu dienen, eine ganzheitli­ che Illustrierung dessen zu liefern, was bei ihm Eugenik i.S. der Verbesserung von Mensch und Gesellschaft bedeutet. Für den philosophiewissenschaftlichen Exegeten wird darüber hinaus die Aufgabe weniger durch die unsystematische Sprunghaftigkeit der konkreten Maßnahmen untereinander als durch die Detailliertheit ihrer Darstellung erschwert, ihn sekundärliterarisch als den Denker begreiflich zu machen, zu dessen Werk nicht nur theoretische Fragen wie die nach dem „Wesen der Wahrheit“ gehören, sondern dem auch ein eminent poli­ tisches Profil zukommt, da jedes Nachzeichnen der Maßnahmen den Rahmen sprengen würde und sie damit bestenfalls, will man diesen nicht ein eigenes Werk widmen, rhapsodisch angedeutet werden können. Einen der zentralen Reformpunkte bildet die Neubewertung der Familie und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Statt diese revolutionär auflösen zu wollen und durch den Staat zu ersetzen, sei es in der theoretischen Vision eines platoni­ schen Staats oder der praktischen Durchführung in kommunistischen Regimen, soll diese in den gesellschaftlichen Mittelpunkt gerückt werden. Und dies nicht allein, weil es sich bei ihr evolutionsbiologisch um eine der ältesten und erprob­ testen Sozialisationsformen handelt561, sondern auch weil Schiller in ihr das

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[die Europäer - G.K.T.] breed better m en, and thereby both preserve their position at the head o f the human race and set a good example o f true - that is, o f eugenica! progressiveness to the whole world.“ Schiller (1932), S. 110. Dass dieser unsystematische Zustand seines Werks zur Eugenik darüber hinaus auch von propagandistisch-taktischer Seite her sinnvoll sein soll, begründet er damit, dass gegenwärtig nur eine solche „lighter literature“ in der Lage sei, „to arouse interest in the subject, and a conviction of its vital import“. Erst wenn dieses Grundinteresse der Allgemeinheit vorhanden ist, „on the distant day“, sei es anempfohlen, sich um eine „systematic treatise on eugenics“ zu bemühen, ohne dann dabei Gefahr zu laufen, die aufstrebenden Reformaspirationen durch den Fetisch zum reinen System zu ersticken, noch bevor sie überhaupt an Fahrt aufgenommen haben. Schiller ( 1926a), S. VIII Schillers evolutionistisches Veto gegen jede die Substituierung der Familien durch den Zentralismus des Staats: „To an evolutionist [...] it will not seem credible that an institution will succumb to such puny attacks which has grown up under the hardships of primitive life and weathered the storms of man’s lurid past, and is now so intimately intertwined with the chief biological, psychological, and social needs of humanity." Schiller (1932), S. 27

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Organisationsfundament früherer zivilisatorischer Blütezeiten zu erkennen meint, sei dies im Römischen Reich oder gegenwärtig mit Blick auf China und Japan: Sie alle „agree in regarding the family as the essential unit of social life“.5"2 Mit der Familie ist damit nicht die privatistische „Kleinfamilie“ gemeint, viel­ mehr der größere Verbund eines Klans, der in seiner perspektivischen Größe einen aristokratischen Stolz der Tradition und der Verantwortung ihm gegen­ über in die Zukunft hinein erlauben soll. In einem solchen Großverbund könnte gleichsam gleichsam ein nach außen gegen andere wie nach innen gegen die eige­ nen Mitglieder gerichteter Wettbewerbsgeist entfacht werden: In der Annahme der Hierarchisierung der familiären Ordnungen und dem meritokratischen An­ stieg des Ansehens in ihr soll es sich bei dem Klan-System der Zukunft nicht um die einfache Neuauflage früherer, despotisch und absolutistisch organisierter Systeme handeln, sondern um eines mit einer „more democratic organization“. Das heißt vor allem, dass die Posten im Klan nicht mehr nach Automatismen wie dem Alter verteilt werden, sondern vermittels von Wahlen und im Hinblick auf Leistung: „There does not seem to be any good biological or social reason why the position of head of the clan should descend by primogeniture or senior­ ity without regard to merit and abilility.“562563 Ganz allgemein hofft Schiller, mit der Wiedererweckung eines „strong family spirit, capable of stimulating, training, disciplining, and in the last resort con­ trolling, their erring members“564 sowohl der Gefahr der im vorigen Unterkapitel angesprochenen anarchistischen und antisozialen, weil egotistischen Indivualität als auch der im gleichen Maße die Zeit charakterisierenden Anonymisierung Herr zu werden, die die Menschen depersonalisiert und zu „amorphous hordes that throng our modern cities“565 degradiert. Letzteres hängt mit einem über­ präsenten Teil der Metaphysik der industrialisierten Moderne zusammen: der Herrschaft des Geldes, der Plutokratie und damit eines Mediums, das essentiell opportunistisch, ja durch eine quasi-ontologische Asozialität ausgezeichnet ist. Hat es doch keinerlei intrinsische Anbindung an die es „besitzenden“ Per­ sonen noch an bestimmte Tätigkeiten und ist gerade deswegen so sehr einer Zeit gemäß, die durch ihre technischen Möglichkeiten die rare, weil schwer zu erringende individuelle Größe durch die reproduzierbare, austauschbare Menge ersetzt: „For money is a power all can understand, an idol all can worship.“566

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Schiller Schüler Schiller Schiller Schiller

(1926a), S. 30 (1932), S. 39 (1932), S. 741. (1932), S. 42 (1932), S. 81 257

Doch genau in dieser absoluten Allgemeinheit liegt gleichermaßen die „curious weakness“ dieses Mediums: „It has [... ] the demonic rather than devine quality of being no respecter of persons. Thanks largely to the occultness of its power, it tends to impersonality, and even to hostility to personality.“567568Somit soil die Agonalität innerhalb der und zwischen den Klans um das verdienstvollste, sozi­ ale Prestige auch durch den Einfluss des Formalismus des Geldes, welcher dem Umsturz wie dem Aufbau der Gesellschaft dienen kann, zugunsten einer allein gesellschaftsprosperierenderen und in diesem Sinne material eingeschränkteren Logik geschmälert werden.368 Im Spezielleren mündet der Vorschlag zur Restituierung des Klan-Denkens in den Reformvorschlag des britischen Oberhauses, des House o f Lords, wel­ ches in seiner aktuellen Form wie der Rest der Gesellschaft „declining in wis­ dom, intelligence and competence“569 ist, wird es doch aus einem blinden und

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Schiller ( 1932), S. 37 - Diese Schwäche wird auch in den klassischen Ressentimentbe­ wegungen innerhalb der westlich-kapitalistischen Gesellschaften deutlich, die einer­ seits von der allgemeinen Hoffnung leben, dass jeder in ihnen zu Wohlstand kommen kann, die aber gleichzeitig Hass und Missgunst gerade dem gegenüber aussäen, der es konkret „geschafft“ hat: Statt in ihm, zumindest der eigenen plutokratischen Logik gemäß, „personal superiority“ und damit einen Vorbildcharakter zu sehen, folgt auf den Erfolg des Einzelnen: „envy arouses hatred and he is treated shockingly.“ Schiller (1932), S. 82. Eine sozialpsychologische Schizophrenie, die für Schiller Inbegriff der Dysgenik ist. Hier wird deutlich, dass Schiller zumindest idealiter nicht dem entgegenstreben will, was Chesterton in seiner in dieser Form solitär gebliebenen frühen Kritik - die nicht umsonst jetzt im Zeitalter der, wenn auch unsichtbareren transhumanistischen Radikalisierung der Eugenik rechtzeitig erstmals ins Deutsche übersetzt wurde - am eugenischen Vorhaben gesehen hat: Den Willen zur Beherrschung der Armen durch

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die den Staat administrierenden und sich dadurch einen genuinen Freiraum schaf­ fenden Reichen und oberen Klassen. Kurzum eine „Anarchy from above“. Chesterton (1922), S. 22ff. Wie auch in seinem sonstigen Oeuvre teilt Schiller dagegen auch hier „gerecht“ in beide Richtungen aus und kommt doch nicht um das Problem der Parteinahme herum, sobald es vom Ideal auf die praktische Anwendung übergeht, wie zum Ende des Kapitels noch deutlich werden wird. Für G.R. Searle ist Schiller geradezu Idealtypus des Eugenikers seiner Zeit und des Bestrebens, einen szientistisch bis expertokratisch fundierten Mittelweg zwischen allen geläufigen Polen gesellschaftlicher Diskursorientierungen zu bilden: „Typical of eugenists was Schiller, who denigrated both upper and working classes in order that the professional man might stand revealed for what he was, the most perfect specimen yet produced by human evolution." Searle (1976), S. 59 Schiller (1932), S. 64

darin gerade unaristokratischen, auf bloße Äußerlichkeiten wie die Ahnenrei­ he setzenden Kalkül eines Kastensystems heraus besetzt. In seiner reformierten Version könnte es sich dagegen aus den Besten und Angesehensten der Klans, einer durch Taten bewiesenen „eugenic nobility“ konstituieren. In Bezug auf das britische Unterhaus, dem House o f Commons, hingegen schlägt Schiller eine Wahlrechtsreform vor, zu der neben der Ausdifferenzierung des Stimmrechts in positiver Hinsicht durch Punktevergabe vor allem die Einführung der negati­ ven Stimmabgabe gehört. Sollte dann, und dies ist für Schiller in Anbetracht der geschilderten negativen Performance der noch verbleibenden demokratischen Regierungen der wohl wahrscheinlichste Fall, eine Regierung allein durch die ne­ gativen Stimmen, die die anderen erhalten haben, an die Macht kommen, so ver­ fällt diese schwerer der jeder Saturierung und Hybris zuarbeitenden „delusion“, das Volk sei bereits auf ihrer Seite, sodass eine solche durch das allgemeine Misstrauen gewählte Regierung im besten Fall den Ansporn verspüren könnte, tatsächlich eine „better government“570 zu verwirklichen und das bekannte Dik­ tum: „.democracy has not failed, because it has never yet been truly tried!1“571 Lügen zu strafen. Auch in diesem Punkt zielt damit die positive Eugenik Schillers auf die sozialpsychologische Subventionierung des Wettbewerbs zwecks Verbes­ serung seiner selbst gerade durch den Dienst an der Gesellschaft, ohne jedoch den egoistischen Aspekt der Ansehenssteigerung zu verleugnen.572 Diese Zielsetzung zeigt sich desweiteren in seinen Vorschlägen zur Reform des Bildungswesens. Statt am „young enthusiasm“ der jugendlichen Seele besonders mit dem retrospektiven Blick der klassischen Bildung vorbeizuerziehen und damit allein „polished sceptics who have never tried to know, and disillusioned cynics who have never tried to do, anything worth while“573 in die Welt zu entsenden, soll auch hier der Trainingsgedanke aktiver Selbsterweiterung des Wissens und

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Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 276 Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 213 Im Gegenteil, bei Schiller findet sich gar eine Apologie des den Briten stereotyp an­ gelasteten Snobismus als (bestenfalls) habitueller Ausdruck des Sinns für die Realität der hierarchischen Distinguiertheit von Gütern und Eigenschaften: ,,[S]nobbishness is by no means an unmitigated evil. It is a great principle o f social cohesion and in some ways a valuable factor in civilization; for the imitation o f the manners o f a superior class by the inferior leads to a general levelling up o f manners. It has there­ fore great aesthetic value, and it is moreover a fact that for many purposes aesthetics can perform the functions o f ethics, and manners take the place o f morals.“ Schiller (1932), S. 65f.

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Schiller (1932), S. 89 259

praktischer Kompetenzen leitend werden. Dies ist gleichzeitig eine Kritik an der bisherigen Verengung desselben auf den Sport und, in Konkordanz mit der weiten Fassung der Eugenik, ein Votum für seine Erweiterung auf sämtliche Bereiche des Menschseins: „They hardly realize that it would be vain to turn man into a better animal, if one did not simultaneously develop in him a better mind and better morals.“574 So will die „eugenic education“ explizit das gerontische Defizit gegen­ überjungen Menschen beheben, das, wie geschildert, ansonsten zum Ansatzpunkt der Verführung durch den Typus der neuen Diktaturen zu werden droht und auch unabhängig als „valuable preparation for so competitive a world as ours“575 dient. „For [...] eugenics is essentially an affair of the future. It looks to the future to redeem the past. It is full of promise. It is an adventure. It is pervasive of all the activities of life. It demands an all-round training of all our powers. It connects up directly and intimately with the most pressing problems in the lives of the young. It must moreover evoke personal pride and the spirit of emulation; yet its ideal is social and not selfish. Its appeal is to any one who feels he is good for anything. What can be better calculated to appeal to the psychology of youth?“5”'

Diese Öffnung der Bildung gegenüber kompetitiveren Vermittlungsformen und neuen Inhalten koinzidiert auch mit den außerschulischen Revolutionen, die die Organisation der Arbeit in der Gesellschaft bereits erfahren hat und noch in­ tensiver erfahren wird: die Verknappung der Arbeit durch das „problem of the machine“577. Doch ist dies für Schiller nur dann ein wirkliches Problem, wenn an den alten Kategorien wie Vollzeitarbeit festgehalten wird, wo doch marktimma­ nent die Arbeit durch eine Ausweitung des Schichtsystems leichter verteilt werden kann und die Phasen des Auf- und Abschwungs besser abgefedert werden könn­ ten.578 Die für alle dadurch über kurz oder lang sich vermehrende Freizeit macht es dann für ihn nötig, dass diese selber als eine „Kunst“ an den Bildungseinrich­ tungen gelehrt werden muss, übersteigt sie doch quantitativ für den Großteil der Bevölkerung immer mehr die rein biologisch notwendige Regenerationszeit, sodass bei fehlender Kultivierungskompetenz die Gefahr besteht, dass die zur freien Verfügung überantwortete, dann jedoch ohne „proper use“ gefüllte Zeit zu dysgenischen Folgeproblemen führt:

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Schiller Schiller Schiller Schiller

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Schiller (1932), S. 146ff.

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(1932), S. 130 (1926a), S. 112 (1932), S. 90 (1932), S. 142

„education for work is not sufficient: the young have to be trained also to become tolerable members of the society in which they are expected to live. Hence moral education also is a crying need.“579

Bei diesen teilweise konkreten, teilweise „kreativen“, aber immer sozialpoliti­ schen Reformvorschlägen, die Schiller unterbreitet, wird dennoch die für jeden pragmatistisch Orientierten zentrale Frage geradezu widersprüchlich von ihm angegangen und bleibt damit bestenfalls unbeantwortet: die nach der Umset­ zung der eugenischen Reform der Gesellschaft. Denn der von ihm ins Spiel gebrachte Aufruf zur Gründung einer eugenischen Partei580581ist bei aller Kritik, die er am Parteiensystem und an der dualistisch und damit an der Komplexität der Realität vorbei agierenden Wahlkampflogik übt5sl, als eine robuste Antwort hierauf mehr als ungenügend, kaum mehr als ein durchsichtiger Notbehelf. Zwar ist seine Sicht auf die konstruktivistische Potenz der gesellschaftlichen Instituti­ onen - eine Sicht, die als sozialphilosophische Transformation seines in seinem methodischen Humanismus auf das Individuum gemünzten Voluntarismus ge­ lesen werden und nach der die Gesellschaft qua ihrer agitatorischen Indoktri­ nationsfähigkeit tendenziell jeden Präferenzzustand ihrer Mitglieder befördern kann - keineswegs unplausibel: „If society desires to have a thing, it can make it desirable; if it desires something else, it is free to change its values.“-82 Plausibel ist sie auch innerhalb der eugenischen Prämissen, sich der Reform zu verpflich­ ten, weil das Ansetzen an institutionell agitatorischen Stellschrauben zugunsten einer eugenischen Propaganda dezidiert keinen revolutionären Umbruch be­ deuten würde, da gesellschaftliche Institutionen über Bildung und Medien schon in ihrer voreugenischen Organisation (wenn auch mit dysgenischen Folgen) in die Habitusbildung der Menschen prägend eingreifen und dies, egal wie liberal sich eine Gesellschaft dünkt, gar nicht anders können.583 Doch es bleibt offen,

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Schiller (1932), S. 154 - Herv. i.O. Gegen die vorhandenen Politiker gemünzt schreibt Schiller: „We [die Eugeniker G.K.T.] may therefore find ourselves preaching to deaf ears all round, in which case there is nothing for it but to scrap them all, and to found a new party of eugenical reform.“ Schiller (1926a), S. 196 Schiller (1939) [„Can Democracy Survive?“], S. 240 Schiller (1926a), S. 54 - Von den Diktaturen seiner Zeit lernend, spricht er davon, die Eugenik als Unterfangen mythologisch und quasi-religiös zu verankern: „elevated into a sort of biological religion and equipped with appropriate ritual and myths“. Schiller (1939) [„Ant-Men or Super-Men?“], S. 266 Was das Argument Chestertons in seiner bereits zitierten Anti-Eugenik-Schrift be­ trifft, wonach der Staat sich prinzipiell nicht derart in private Präferenzbildung, die 261

wer diesen ideologischen Umbildungsprozess hin zur eugenischen Organisation induziert und zumindest in den Anfangsstadien in administrierender Funktion koordiniert, soll er doch einer sein, der sich vehement den faktisch eingeschlage­ nen Tendenzen widersetzen muss und sich damit keineswegs einfach von alleine einstellen und ergeben wird. Erschwert wird die Antwort auf diese Frage durch den selbst in den Augen Schillers berechtigten Einwand, den Russell im Hinblick auf genau das Problem der Implementierung macht: Könne, ja dürfe doch hierzu kaum auf die real existierende „Elite“ als Administration zurückgegriffen wer­ den, da diese, in ihrer allseitig attestierten Unproduktivität und Selbstfokussie­ rung, einen solchen Auftrag bestenfalls dazu nutze, ihre Widersacher - zu denen die sie an die Kandarre eines sozialverträglichen und die Gesellschaft im Ganzen bereichernden Wertekanons nehmenden Eugeniker selber gehören - unter die Rubrik sozialer Faktoren zu subsumieren, die es sozialpolitisch als dysgenisch zu marginalisieren bis auszumerzen gilt.58458 Das sich hier auftuende Paradox der Anwendung des eugenischen Humanis­ mus, zugespitzt: dass er bereits umgesetzt worden sein muss, um die „Dekadenz“ so sehr minimiert zu haben, dass er besonnen angewandt werden kann583, wird

sich auch in der Eheschließung und Fortpflanzungsbereitschaft widerspiegelt, einzu­ mischen hat, ist es umgekehrt Schiller, der hier die Realität auf seiner Seite hat, wenn er darauf verweist, dass es jenseits der idealtypischen Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit in einem medial durchdrungenen Staatsgebilde faktisch niemals keine Einmischung gegeben hat noch jemals geben kann: „They [members of society] have never perceived how continuously they are being deluded, cajoled, bullied, tricked, and trained, until they fully accept the current social standards and valuations, and conform their choice to them. [...] It never occurs to them that they live in the grip o f a caste-system only a little less rigid than the Indian, which prescribes, in general terms, whom it is proper and possible to marry, and whom not. Nor do they realize that in ninety-nine cases out o f a hundred they themselves fully approve, accept, and endorse the verdicts o f their caste, and never dream o f revolting against them.“ Schiller (1926a), S. 214f. Die implementierte Eugenik wäre demnach nicht die Er­ finderin der Intervention, sondern nur die Transformation der Maßregelungen, die jede Gesellschaft auf ihre Mitglieder ausübt, in eine andere, „intelligentere“ Richtung. 584 Zu Russells skeptischem Einwand: s. Russell (1924) und zu Schillers Replik: Schiller 585

262

(1924c), S. 57ff. In anderer, moralischer Hinsicht findet sich ein ähnliches, jedoch bewusst angeführ­ tes Paradox bei Chesterton in seiner bereits zitierten Schrift gegen die Eugenik: Soll­ ten die „strong and healthy men“ der eugenischen Maschinerie tatsächlich moralisch höhere Einsichtsfähigkeit haben, wären diese die ersten, die die von unmoralischer Menschenklassifizierung geleiteten M aßnahmen zerschlagen w'ürden. Mit einem

noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass sich Schiller nach dem Zu­ vorgesagten über die Elite und angesichts des existenziellen Umfangs, den eine solche Reform mit sich bringen würde, auf die Seite der Masse der Menschen als Substrat der Reform und des „infusing of a eugenical spirit”586 schlägt. Dies wohl auch und gerade, um jedem Anschein einer gewalttätigen Durchsetzung und an­ deren „clumsy methods of coercion”58' entgegenzuwirken, soll mit ihr doch ein „reformed liberalism“ entstehen und die Überwindung der Gewalt als politisches Mittel dauerhaft ermöglicht werden, zumal es sich bei den zu verwirklichenden Idealen und Gütern um praktisch geteilte und affirmierte handeln soll. Statt sich auf den Staat zu verlassen, „which is both stupid and corrupt“588, muss die „euge­ nical initiative“ von den Bürgern her erwirkt werden, nur so kann sie sich auf ein „powerful, enthusiastic, and intelligent public sentiment“ stützen.589 Dass er aber gleichzeitig dem Weg mittels der Mehrheit zum Aufbau eines eugenischen Bewusstseins andernorts kategorisch misstraut, zeigt sich, wenn er gegenüber seiner Diagnose der Dysgenik der Gegenwart konsequenter ora­ kelt, dass es von sich aus zu keinem plebiszitären Umdenken kommen wird, weil es gerade der Massenmensch ist, der der Eugenik bedarf: „For it is one of the most distressing features o f the situation that such considerations will not occur to those who need them most. [...] Being incapable o f exercising selfcontrol, they will have to be controlled by other means.“59" Und selbst wenn es wie durch Wunderhand zu einer autonomen Umorientierung käme, attestiert er in Anbetracht der fortgeschrittenen rückschrittlichen Lage, dass „it would be highly desirable if some means could be found to accelerate the change of heart required.”591592Als mögliches Mittel zur nötigen Akzeleration diskutiert er gar eine pharmakologische Beeinflussung, verwirft diese dann aber angesichts des Koka­ in-Booms, der seinerzeit kontraproduktiv wirkte, insofern er allein „new vices“ entstehen ließ.595 Stattdessen optiert er zwecks intendierter Manipulation, auf die Erkenntnisse der psychologischen Forschung zurückzugreifen und mit den ih­ nen pragmatistisch extrahierbaren Möglichkeiten auf die „seelischen Anlage [n]

586

Wort: Der Erfolg der Eugenik hätte ihren Abbruch zur Folge. Chesterton (1905), S. 77 Schiller (1926a), S. 124

587 588 589 590 591

Schiller Schiller Schiller Schiller Schiller

592

Schiller (1924c), S. 67

(1926a), S. 217 (1921b), S. 415 (1924c), S. 59 (1932), S. 36 ( 1924c), S. 67

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des Menschen“ einzuwirken - all dies nicht nur reichlich diffus und abstrakt, sondern wieder problematisch mit Blick auf den kritisierten Zustand der Eliten, denen diese Mittel folglich nicht an die Hand gegeben werden sollten. In diesem Zwiespalt kann man durchaus eine Parallele zur in denselben Jahr­ zehnten geführten Debatte innerhalb der kommunistischen Theoriebildung zwischen Luxemburg und Lenin entdecken: einerseits im Vertrauen auf die Spon­ taneität des Proletariats von unten her und andererseits im Glauben an in eine Parteiform gegossene, effiziente Avantgarde, die die Weichen für die Massen von oben her zuerst stellt, sodass diese dann in einem zweiten Schritt auch „frei“ wer­ den kann. Doch im Unterschied zu dieser historischen Analogie ist der Wider­ spruch im eugenischen Humanismus bis zur Unlösbarkeit dadurch intensiviert, dass der Konflikt nicht auf zwei Köpfe verteilt ist, sondern in Personalunion exis­ tiert, Schiller durch die ernüchternde Sicht auf beide Pole - die Elite wie die Masse - letztendlich keinem vertrauen noch auf sie hoffen kann, ohne in Widerspruch zu seiner Gegenwartsdiagnose zu geraten. Ein weiteres Problem, das zwar mit diesem immanenteren teilweise zusam­ menhängt, bildet die Tatsache, dass Schiller trotz der fast ausschließlich sozi­ alpolitischen Verhandlung der eugenischen Maßnahmen dennoch, wie bereits mit seiner kritischen Aufdeckung der „differential birth-rate“ im vorigen Un­ terkapitel deutlich wurde, ein biologistisches Fundament der gesellschaftlichen Malaise zu erblicken meint: „at bottom, it is largely a biological phenomenon.“591 Durch diese Ambivalenz zwischen Sozial- und Biopolitik schwankt in der Folge seine Zielvorgabe einer sozialanthropologischen Kehrtwende, an deren Ende ein „Super-Man“ stehen soll, zwischen dem Bild eines bloß flexibleren, der Selbst­ vervollkommnung seiner inneren Möglichkeiten nachstrebenden Jetztmen­ schen394 und dem Bild eines Post-Homo-Sapiens-Typus, der durch evolutionäres Fortspinnen biologisch geschaffen rverden soll. Wie jedoch diese zweite Form gezielt und im Besonderen, d.h. jenseits der geschilderten sozialpolitischen Transformationen verwirklicht werden soll, bleibt bei ihm so gut wie kom­ plett im Dunkeln.59354595 So findet sich einzig der positiv-eugenische Vorschlag zur

593

Schiller (1926a), S. 17

594

„Every one would feel [in der eugenisch reformierten Gesellschaft - G.K.T.] that whatever his endowment, he could make himself fitter than he was, and that it was worth while to do so in some direction in which his ability and bent indicated”. Schiller (1926a), S. 125

595

Zum Positiven wenden kann man diesen inhärenten Malus bei Schiller dahingehend, dass man den biologistischen Part seiner Eugenik als Überdetermination seines Anliegens und seiner Vorschläge begreift, da aus diesem rein pragmatistisch quasi

264

Etablierung einer „eugenical baby show“, die im Unterschied zur „vulgar baby show“ die „history of the family“ miteinbeziehen und deren „Höherwertigkeit“ in Prestige und zukünftigem Erfolg der Ausgezeichneten in der Folge der ge­ samtgesellschaftlichen Rücksichtnahme auf den eigenen Stammbaum bei Ehe­ schließungen und Fortpflanzung Vorschub leisten soll.*596 Im Unterschied zu den Maßnahmen schimmern die Begründungen für die­ sen biologistischen Schwenk seines eugenischen Humanismus dagegen deutlicher und vielzähliger in seinen Schriften hindurch. Negativ betrachtet erscheinen die sozialpolitischen Reformmaßnahmen für ihn die Grenzen mancher Menschen zu überschreiten: ,,[N]o system of education can ,make a silk purse out o f a sows ear1, or turn a feeble-minded fool into a genius.“597 Noch tiefer angesetzt und im Hinblick auf die ruinöse Ausgangsszenerie sowie mögliche Vermeidungen zukünftig ähnlicher Krisen bringt er, wie schon im spekulativen Humanismus, das Problem der Erbsünde ins Spiel, das er jedoch hier naturwissenschaftlich verstanden wissen will: „We are suffering from what used to be called original sin, but what in the light of modern science is seen to consist chiefly of weaknesses acquired in the course of biological history by inattention to its trends and by lack of efforts to correct them.“598

Eine substantielle Besserung des Menschen hin zu einer „superior creature“ kann damit nur durch eine Weiterentwicklung auf dieser biologischen Ebene vollbracht werden. In einer technisch hochgerüsteten Zivilisation kann es der Mensch umso weniger dabei bewenden lassen, seine biologische Mitgift früherer Jahrtausende

nichts folgt, außer dass der eugenische H um anism us neben dem soziologischen und politisch-philosophischen mit einem weiteren Narrativ angereichert wird, welches man aber ebenso gut wegfallen lassen kann, ohne dass sich an den bisher rekonstru­ ierten Kritiken und M aßnahmen etwas substantiell ändert, sind diese doch keines­ wegs erst dann verständlich, wenn man sie als Teil eines biologischen Fortschreibens der evolutionären Entwicklung begreift. Mehr noch ist sich Schiller selbst bei der vermeintlichen Aufdeckung biologischer Ursachen des gesellschaftlichen Verfalls

596 597

598

unsicherer als bei sozialen: „When we pass from the quasi-biological to the social and economic causes of decay, we get on to firmer ground. There can be no doubt that they are adequate.” Schiller (1926a), S. 189 Schiller (1932), S. 44ff. Schiller (1926a), S. 122. Dass es ihm andererseits gar nicht daran gelegen ist oderauch nur realistischer weise gelegen sein kann, dass jeder ein „Genie“ ist, sondern vielmehr daran, jeden nach seiner Potentialitätsspanne perfektibel zu machen, wird hier von ihm selber, den Primat des Moderaten zurücklassend, zugunsten des Dualismus von „Schwachköpf“ und „Genie“ rhetorisch ignoriert. Schiller (1932), S. VI 265

einfach weiterhin mit sich zu führen, da hier der „fighting instinct ceases to be an antiquated foible, like the hunting instinct, and becomes a deadly danger.“’46 Dies mündet in seinem positiven Begründungsstrang zur biologistischen Unter­ mauerung, wonach es fast schon aus dem Naturgeschehen abgeleitete moralische Pflicht des Menschen als Geschöpf der Evolution ist, „to carry on the upward urge of evolution”59600. Andernfalls würde der Mensch einzig seine Minderwertigkeit ge­ genüber diesem Geschehen und seinen Ahnen unter Beweis stellen: „For us to despair of carrying on the evolution of man would be to confess ourselves traitors to the cause of progress and essentially inferior to our ape-like ancestors who aspired to better things and attained them!“601602

Diese von Schiller streckenweise naturgeschichtlich attestierte „final duty” des Menschen „to re-make him self”600 konvergiert, wenn auch auf den ersten Blick überraschend, bei ihm mit der zweiten positiven Begründung: Ohne eine solche radikale Erneuerung des Menschen bliebe die Demokratie weiterhin ein rein realpolitisch missbrauchtes ideologisches Konstrukt, „meaning thereby the de­ magogic eyewash of our present politicians“603604,das nicht der allgemeinen Eman­ zipation, sondern plutokratisch den Portemonnaies einer der Allgemeinheit schadenden „sham nobility” zuarbeitet. Zu diesem Schluss kommt er, weil die ethischen Prämissen der Demokratie für ihn das vorhandene „human material“ bei Weitem überfordern. Nicht nur, dass das demokratische Ideal Politiker nötig macht, die unkorrumpierbar sind, es setzt gleichermaßen beim Bürger voraus, „to be interested, honest, and intelligent beyond the standards requisite in less exacting constitutions.“ Stattdessen sind jedoch Erstere wesentlich korrupt und desinteressiert an der Volksbefragung und -repräsentation, während Letztere, statt altruistisch, informiert und engagiert an der Öffentlichkeitsbildung teilzu­ nehmen, „ignorant“, stupid“, „lazy“, „amusable“, „easily diverted“ sind.61’4 Die einzige Alternative zu einer sich daraus ergebenden Mission der biologi­ schen Neuschöpfung des Menschen sieht Schiller theoretisch in der inhaltlich nicht näher erfassten, christlichen Ethik: Sie würde nicht nur die „Erbsünde“ bannen, indem sie ihn die niederen, egozentrischen Impulse überwinden ließe: „If the Yahoo could be really christianized, he would at any rate cease to cut

599 600 601 602 603 604 266

Schiller (1924c), S. 41 Schiller (1926a), S. 206 Schiller (1932), S. 31 - Herv. i.O. Schiller (1926a), S. 51 Schiller (1939) [„Prophecy and Destiny“], S. 213 Schiller (1939) [„Can Democracy Survive?“], S. 235

his own throat in cutting his neighbour’s.“60560Außerdem würde sie ihn primär zu einem M itmenschen machen, der sich nicht nur vermehrt der Öffentlichkeit als dem Verhandlungsraum der Probleme aller zuwendet, er wäre auch eher geneigt, die anderen zuvorgenannten demokratischen Tugenden wie die Unbe­ stechlichkeit zu achten. Kurzum: „Intrinsically, therefore, Christian ethics might be well worth trying.“6110 Doch dies ist für Schiller reine Theorie, die durch die Geschichte des M en­ schen pragmatistisch als Wunschtraum entzaubert wurde, sodass allein noch die biologistische Eugenik als „safer though slower way“607 übrig bleibt: ,,[T]he palaeolithic Yahoo has been dosed with Christian ethics for two thousand years, and they have never either impressed or improved him. Their paradoxes give him a moral shock, and he has not brains enough to grasp their rationality.”“’’8

Es ist dagegen zeitgleich innerhalb des Pragmatismus John Dewey, der in seinem „A Common Faith” (1934) dem christlich-religiösen Erbe nicht nur eine größere Chance auf Verwirklichung zubilligt, sondern es fruchtbarer zu machen weiß, als Schiller dies hier tut, und mit diesen säkular freigesetzten Mobilisierungsreserven auf ein eschatologisches Ziel der „brotherhood of all men” hin gleichzeitig das ge­ schichtsphilosophische Telos des spekulativen Humanismus: der „communion of Saints” einzubeziehen vermag. Mit dem Ergebnis einer frei von biologistischen As­ pekten auskommenden demokratischen Vision, die damit auch und gerade dem Anspruch des ethischen Kerns der Schiller’schen Philosophie, wie er sich in al­ len übrigen Teilen seines Werkes - inklusive des nicht-biologistischen Teils seines eugenischen Humanismus - findet, gerechter zu werden vermag: dem Fokus auf den Menschen - als Gattung wie als Individuum - als einzigem Maßstab seiner selbst. Dieser wird von Schiller dort veruntreut, wo er den absoluten Eigenwert des Individuums biologistisch zugunsten der Perspektive von „great differences in the intrinsic value”609 des Menschen aufkündigt und es allein noch vermittels der sozialutilitaristischen Perspektive auf dessen Eltern und seine Abstammung bewertet.610 Ein Zugriff, der die sonst bei ihm eingenommene Perspektive auf den

605 606 607 608 609 610

Schiller (1924c), S. 54 Schiller (1924c), S. 55 Schiller (1924c), S. 57 Schiller (1924c), S. 55f. Schiller (1926a), S. 122 - Herv. d. G.K.T. „We can argue, therefore, from tested ability in the parents to probable ability in the children, with some confidence. [...] For the probability7 o f getting able children is vastly greater, if they spring from able parents.“ Schiller (1926a), S. 122f. 267

Menschen von dessen irreduzibler subjektiv-plastischer Potenz her - gewillt, die­ sen aus sich selber heraus als autonome Person, als „ultimate spirit“ zu begreifen vergessen zu haben scheint.

4.2.3 Exkurs: Die humanistische Mobilisierung religiöser Reserven bei John Dewey Während William James (s. Kap. 3.2.) die strukturelle Depression seiner Zeit als eine religiöse Krise beschreibt, welche zu einem Großteil durch die monopoli­ sierende Hoheitsmacht eines Naturalismus zusammen mit einem allein durch (vermeintlich) empirische Evidenz zu befriedigenden Szientismus verursacht wird, diagnostiziert John Dewey (1859-1952) eine Krise der Religion, eingeläutet durch eben die moderne Errungenschaft von kollektiver Forschungspraxis und kritischem Bewusstsein gegenüber althergebrachten Traditionsbeständen und Autoritäten im Allgemeinen. Diese Krise ist für ihn vom religiösen Bodenper­ sonal selbstverursacht durch das einfache Fortwesen einst die soziale Ordnung konstituierender und damit aktiv einflussreicher Wissensregime, die in einer Zeitenwende hin zum prozessual-dynamisch Offenen, „open and public“611, in ihrer orthodoxen Starrheit, „limited and private“ (39) besonders als „weight of historic encumbrances“ (9) zutage treten. Mit der Folge, nicht nur selbst als le­ bende Fossilien in naher Zukunft vom endgültigen Aussterben bedroht zu sein, sondern schlimmer: die für die übrige Gesellschaft essentiellen Teile in ihnen durch Institutionalisierung des Desintegriertseins der Religionen dieser vorzu­ enthalten, indem die Potentiale des Religiösen immer schon von einer dogmati­ schen Heuristik eingefangen, unattraktiv und wirkungslos gemacht werden, da sie zu fest abgegrenzten Positionen wie „Theist“ oder „Atheist“ erstarren. Statt einem Entdecken und Erleben neuer Erfahrung, die abgeleitete Begritfskorsette sprengt, zuzuarbeiten, wird jedwede Erfahrungsmöglichkeit bereits durch apri­ orische Interpretationen - gelenkt durch einen „doctrinal apparatus into which a person has been inducted“ (13) - im Keim erstickt und lässt so die Einfachheit des Totseins über die Komplexität des Lebendigseins triumphieren. Der Schaden ist für Dewey also ein zweifacher: zum einen für die auf religiö­ sen Entzug gesetzten „large numbers of cultivated men and women“ (31), abge­ stoßen von den Religionen und ihren „intellectual and moral implications“ (9), zum anderen für die Glaubensgemeinschaften, die durch reziproke Isolierung das

611

268

Dewey (1934), S. 39. In diesem Exkurs (Kap. 4.2.3.) werden die Seitenangaben dieser Ausgabe direkt im Text in Klammern angegeben.

Religiöse, mindestens nominell und dem eigenen Anspruch nach, quasi-monopolisieren, aber nur um den Preis der gesellschaftlichen Ohnmacht oder, mehr noch, der daraus - „becoming more dubious“ (44) - resultierenden, latenten Gefahr des Fanatismus und reaktionären Aktionismus. Dementsprechend ist Deweys Vorha­ ben der gesellschaftlichen Integration des Religiösen auch das einer zweifachen Rehabilitierung: intellektuelle Auflösung institutionalisierter Religionen und da­ mit der auf die Verwaltung zugeschnittenen Trennung von (personell) Anhänger/Nicht-Anhänger bzw. (materiell) heilig/profan zugunsten der Dislozierung des Kernbestands der Religion von einem bestimmten „intellectual content“ (59) hin zu einer inhaltsflexibleren Erfahrungsqualität, die, da sie keinem esoterischen Zirkel gehört, die reüssierende Ausbreitung des Religiösen für jeden Menschen bedeuten kann. Diese Unterscheidung, ja Frontstellung - „Religion versus the Religious“ - bildet damit den Schlüssel für die lebendige, weil zu allen Zeiten machbare religiöse Qualität der Erfahrung, auf die in Deweys Augen auch die Tra­ dition wesentlich abhob. Es geht ihm um einen konservierenden Progressismus, dessen Zweck nicht die Destruktion (allein) ist, sondern vor allem das Bestreben, der religiösen Erfahrung die Chance zu geben, „to express itself free from all historic encumbrances.“ (6) Den Umbruch, der die Moderne charakterisiert - die Revolution des „’seat of intellectual authority’“, nach der das Gewusste nicht mehr zur ewigen Gewissheit erklärt wird und nur als sich maximal ausdifferenzierender Wissenskorpus scho­ lastisch verteidigt werden muss - beschreibt Dewey wie folgt: „The mind of man is being habituated to a new method and ideal: There is but one sure road of access to truth - the road of patient, cooperative inquiry operating by means of observation, experiment, record and controlled reflection.“ (31f.)

Was früher als häretisches Abweichlertum und Gefahr verfemt und unterdrückt wurde, wird nun in der wissenschaftlichen Praxis als fragile Vorläufigkeit nicht nur zum konstitutiven Element eines jeden (zukünftigen) Wissens, sondern ge­ radezu zum Quell der Tugend des forschenden Innovationsgeists erklärt: „It is its glory, not its condemnation, that its subject-matter develops as the method is improved.“ (39) Dies mag für die „religionists“, welche „care more for force than for ideal values“ (44), eine Gefahr darstellen, insofern diese sich als Hüter und Bewahrer von Glaubensgegenständen präsentieren, die noch nicht oder ver­ meintlich nie erklärt werden können. Für Dewey dagegen bildet dieser Umbruch die Chance, zum ersten Mal die religiöse Funktion zu destillieren und darin eine neue „ökomenische“ Allgemeinheit der Frage nach dem Wesen von Religion, jenseits der unwahrscheinlichen Hoffnung auf einen Konsens im Hinblick auf bestimmte Dogmen, zu erreichen:

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„the issue does not concern this and that piecemeal item of belief, but centers in the question of the method by which any and every item of intellectual belief is to be arrived at and justified.“ (32 - Herv. d. G.K.T.)

Grundüberzeugung ist hier, wie auch bei Schiller, dass es im Theoretischen vor allem das evolutionäre Paradigma und dessen regulative Idee eines totalintegrativen Naturgeschehens gewesen ist, wobei - nach der doppeltgerichteten Formel der Naturalisierung des Menschen als Vermenschlichung der Natur (s. Kap. 3.4.) - Leben nicht nur zu einer Tatsache des Kosmos und der Mensch zu einer Tatsache des biologischen Lebens wird, sondern p ari passu der Kosmos zu etwas das Leben Beherbergendes sowie das biologische Leben die menschli­ chen Realitäten Ermöglichendes.612 Nimmt man im Politischen zusätzlich das Hervorbrechen diesseitiger Verteilungskämpfe durch „positive social interests“ (70) hinzu, wird deutlich, warum es dieser Horizont ist, der den Supranatura­ lismus und seine Proklamation einer zweiten, gänzlich äußerlichen und unab­ hängig existierenden anderen „Welt“ und mit ihm die organisierte Religion samt exklusiver „priesthood“ (59) als Verwalter des „special and isolated channel to the access to the truths they hold“ (29) (durch kanonische Texte oder Riten) von ebendiesem Reich unplausibel und unattraktiv gemacht hat. Dewey interpretiert dagegen die religiöse Erfahrungsfunktion als eine aktivierende Einstellung unter der Ägide eines gewählten oder passivischer: sich ereignenden Ideals zur prak­ tischen Modifikation Vorgefundener Realität mit dem Ziel der Annäherung der Verhältnisse an das postulierte Gut. Ist die Einstellung holistisch auf die gesamte Schnittstelle zwischen Person und Welt und nicht nur auf partikulare Aspekte bezogen, handelt es sich um eine Erfahrung religiöser Dimension: Sie ist nicht lexikalisches Wissen um Fakten, sondern handelnde Hoffnung auf Leben inten­ sivierenden wie verbessernden Effekt. Sowohl die Person als auch die Welt, in die sie eingebettet ist, werden - wie schon bei Schiller im spekulativen wie im eugenischen Humanismus - im Zeichen des zu erreichenden vereinigenden Ideals in dieser „spirituality of possibility“613 als Provisorium enthüllt: ,,[W]henever this change takes place there is a definitely religious attitude.“ (17) Die produktive Idealbildung614 findet dabei nicht im luftleeren Raum statt, sondern wird als ersehnte Möglichkeit mittels einer sowohl die Fähigkeiten des

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270

In Deweys Worten: „The less mechanical [...] physical nature is found to be, the closer is man to nature.“ Ebd., S. 55 Alexander (2013), Kap. 15 Zur bloßen Existenzgrundlage von Idealen verweist Dewey auf die Güter, die bspw. von den Werten „of art in all its forms, of knowledge, of effort and of rest after striving, of education and fellowship, o f friendship and love, o f growth in mind and body“

Menschen wie das Gebende und Zulassende der Natur berücksichtigenden Sicht entwickelt, in der die wissenschaftliche Methodik nicht mehr als Feind erblickt wird, sondern als Bedingung sine qua non für das gelingende Austragen der re­ ligiösen Funktion i.S. der Annäherung von erkannt-kontrollierter Realität und ersehnter Idealität. Die Entstehung der Religion als Supranaturalismus erklärt sich Dewey demnach so, dass hier Ideale unwissenschaftlich und damit unpro­ duktiv zu sehr gewollt und zu isoliert von der Lage des Menschen wie der Natur gebildet worden sind, eine Spannung, die dadurch abgebaut wird, dass die Idea­ litäten zu Realitäten andernorts hypostasiert werden. Wie beim „Idealismus“ in der Philosophie (oder dem Pessimismus in Schillers Interpretation: s. Kap. 2.3.) gilt bei Dewey für die Religionen: „ [T] hey convert the idealism of action into a system of beliefs about antecedent reality.“ „The character assigned this reality is so different from that which observation and reflection lead to and support that these schemes inevitably glide into alliance with the supernatural.” (23f.)

Kurzum: Das regelkodifizierte Glaubenssystem der überlieferten Religionen manifestiert für Dewey die Ohnmacht der Realisierung ihrer Ideale in vergan­ genen Zeiten. Religiosität dagegen bezeichnet nicht nur die Überwindung des Selbstermächtigungsanspruchs des Menschen in einem „militant atheism“ (53), sondern auch des supranaturalistischen Gottes, der als Habitant des Jenseits

zehren. Dewey (1934), S. 51. Allerdings fragt sich, warum neben diesen Wertenderwa­ chen Vernunft nicht auch realistischerweise die Existenz von Werten der schlafenden Vernunft wie die B ataille’s cher Selbst- und Kollektivopferung und -verzehrung dazu zählen, von deren Existenz das letzte Jahrhundert genügend Zeugnis ablegt, sodass schwerlich einfach behauptet werden kann, es handele sich dabei um ein bloß résidu­ elles Fortleben immer inaktiver werdender Atavismen. Der Grund dieser tendenziellen Abwesenheit der strukturellen Partizipation des Bösen in der menschlichen Natur ist wohl darin auszumachen, dass sich Dewey primär aus der auf Emerson zurückreichen­ den romantischen Fokussierung der Dompteursleistung des Menschen gegenüber der Natur und weniger auf den intrahumanen Konflikt Mensch(en) gegen Mensch(en) herleitet. Auch wenn Dewey hierauf vermutlich antworten würde, dies liege daran, weil seine Philosophie ja der Vorschlag sei, vom Erfolg des ersten Falls (Mensch/Natur) auf die Möglichkeit der Inangriffnahme der Aufgabe des zweiten (Mensch/Mensch) überzuwechseln - und dies gerade in „A Common Faith“: Auch hier bleibt die m i­ nimaloptimistische Unterstellung, die Konflikte - technische/pädagogische - seien allein schon von derselben, reform ierbaren Art. S. zu einer solchen Kritik Deweys und seiner organologisch fundierten Vision von Harmonie, in der „absolute“ Brüche in sämtlichen Bereichen (sozialen, pädagogischen, religiösen etc.) getilgt sein sollen: Hohr (2009), S. 122ff. 271

den Menschen von den realen Umständen ablenkt oder sie diese als Sünde oder Schein, „accursed or negligible“ (ebd.), verklären lässt. In beiden Extremen wird die interdependente Beziehung von Mensch und Natur zugunsten der „exclusive preoccupation [...] with man in isolation" (ebd.) zerschnitten und die Würde des Menschen wie die Pietät der Natur als gegenseitige Verendlichungsbeziehung nivelliert.615 Die religiöse Sicht bringt diese Extreme als „a just perspective“ (26) ins angemessene Verhältnis. In diesem wird die Sehnsucht nach ultimativer „attainment“ durch den Wert des zu erkämpfenden „growth“ mit der Hoffnung eines Meliorismus eingetauscht, der in seiner Zeitlichkeit und Offenheit in Ver­ bindung bleibt mit „discovery, learning, and knowledge, to creation in the arts, to furtherance of ties that hold men together in mutual aid and affection.“ (56) Doch damit zielt diese Beschreibung des gegen einseitige Isolierungen gerich­ teten Vermittlungsverhältnisses zwischen Mensch und Natur auf ein sekundä­ res Phänomen, denn als Wesen, das nicht als „fertiger“ Erwachsener zur Welt kommt, sondern immer erst die gesellschaftlichen Geburtskanäle der Erziehung durchläuft, ist die primäre Umwelt des Menschen - der Mensch. Er existiert nicht nur nicht in Isolation zur außermenschlichen Natur, sondern auch nicht in Bezug zu den anderen Menschen im Sinne seiner unaufhebbaren gesellschaft­ lichen Assoziation. Diese ist deswegen primär, weil erst in dieser Bedeutungen und Symbolisierungen generiert und tradiert werden, die dann den Naturkon­ takt zuallererst als stabil vermitteln und als die Natur (statt als bloß fluktuierende Gefahrenereignisse) erscheinen lassen, sodass Dewey davon sprechen kann, dass „ [u]pon the whole, collective modes of practice either come first or are of greater importance.“ (59) Diese „conditions under which human beings associate with another“ (62) fächert Dewey in geschichtsphilosophischer Perspektive in drei Stadien auf: Im ersten Stadium (Mittelalter) organisieren sich die innermenschlichen Konditio­ nen so, dass sie ob der Ohnmacht der Abänderungsmöglichkeiten und -einsichten diese mythologisch dahingehend sublimieren, dass das Irdische, „infected with the evils o f corrupt human nature“, wenn überhaupt, nur durch einen Ein­ griff „from external and supernatural sources“ (72) gelingen kann. Im zweiten Stadium (Renaissance und später im amerikanischen Transzendentalismus) werden die sich langsam jenseits der sozialen Macht kirchlicher Orthodoxie

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„[...] dignity of human nature [... ) rests upon a sense of human nature as a cooperating part of a larger whole. Natural piety [...] may rest upon a just sense of nature as the whole of which we are parts, while it also recognizes that we are parts that marked by intelligence and purpose, having the capacity to strive by their aid to bring conditions into greater consonance with what is humanly desirable.” Ebd., S. 25

herausbildenden Disziplinen der experimentierenden Wissenschaften durch das Starkmachen der Idee einer von äußeren Institutionen unabhängigen Ver­ nunft dazu führen, dass sie Glaubensinhalte als Teil einer „natürlichen Religion“ aus sich heraus begründen: „theism and immortality on the basis o f the natu­ ral reason of the individual“ (54). Das dritte Stadium ist dasjenige, in dem die Bewegung der Säkularisierung, die bereits im zweiten Stadium ihren Anfang findet, insofern die frühere Selbstverständlichkeit des Supranaturalen nun einer Begründung bedurfte, zu Ende geführt und das Supranaturale als in den Him­ mel gerichtete, chiffrierte Extrapolation irdischer Verhältnisse zum Zweck der „safe-keeping and sanction“ (73) entlarvt wird. Was als langsames Anwachsen der „voluntary choice o f individuals“ (61f.) begann, wird hier radikalisiert bis hin zur genuin modernen Gefahr der Unterdrückung der individuellen Entfaltung durch ein Chaos unvernetzter Pluralität als „unstable equilibrium“, welches nicht nur zur „general disorder of the Great War“ führte und durch diesen wiederum weiter potenziert wurde, sondern auch zu „jealousy, and fear that dominate the relations o f national states to one another“. (74) Doch statt in den Chor der Restituierung des Supranaturalen als zeitlosem Kompass einzustimmen, sieht Dewey die soziale Therapie der Moderne als ei­ nem „distracted age“ (51 ) in ihrer Mäßigung durch die auf Interpendenz zielen­ de „religious function“ - nun allerdings nicht mehr zwischen Mensch, richtiger: Menschheit und einer ihr äußerlichen Natur, sondern innerhalb des Menschli­ chen selbst als Beziehung zwischen dem Menschen und der Menschheit, an der jeder partizipiert. In dieser humanistischen Eingemeindung des religiösen Po­ tentials mit dem Ziel, die latente Isolation durch ein ständiges Inbeziehungset­ zen zu sprengen, wird jedem sozialkulturell imprägnierten Bürger eines Landes, Vertreter einer Klasse etc. mehr an Sein (nämlich das sozialempirische Be­ stimmungen transzendierende Mensch-Sein) zugesprochen: Jeder ist mehr, als die Summe der endlichen, sozialtypologischen Inkarnierungen unterm Strich ergibt. Dies kann der positive Ausgang des dritten Stadiums des Wachstums der Selbsterkenntnis als eines Zu-sich-selbst-Kommens des Menschen sein: Vom einstigen Manipuliertsein durch äußere Faktoren (erstes Stadium) wird der Mensch immer mehr selber zum Agens (zweites Stadium), was in letzter Instanz zur äußersten Unterwanderung der Trennung zwischen den eingeweihten „Au­ toritäten“ und den nichteingeweihten „Banausen“ führt, wodurch jedem Einzel­ nen gleichermaßen Aktivitätspotential zugeordnet, jeder also ein koexistentes Zentrum wird. Eine Radikalisierung des Gedankens der Würde des Einzelnen, ohne zu einem Monadentum zu führen, denn in ihr ist gerade eine symmetrische

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Beziehung der Individuen untereinander allererst möglich, insofern die Indi­ vidualität eine universelle, d.h. kollektive Kategorie wird. Dies beschreibt keine Vorgefundene „Realität“, denn niemand existiert konkret und vor allem in dieser Grenzkategorie des Menschlichen, bewohnt jeder doch durch Kollektive (Nati­ onen, Klassen etc.) allozierte zeitliche wie räumliche Situationen. Was Deweys Philosophie vorschlägt, ist nur der heuristische Rahmen, in dem die konkreten Beziehungen normativ als Oberflächen eines Pan-Individualismus zu lesen sind. Gerichtet ist dies damit gegen einen jeden „framework of existence“ (85), der soziale Unterschiede zu primären, anthropologischen machen will, mit der Fol­ ge, die Egalität der Menschen zu verbergen und an ihre Stelle die Inegalität von an sich „wertvollen“ und „wertlosen“ Menschen - wie im Fall der Religion von Mitgliedern (Erlösten) und Nichtmitgliedern (Verdammten) einer Eleilsgemeinschaft oder im Fall von Schillers eugenischem Humanismus von Nützlichen und Nutzlosen - zu setzen. Deweys Vorschlag eines Beziehungssystems des Menschlichen/der Menschheit dagegen ist permanente Subversion einer solchen Idee, ist doch jeder davon als Mensch gleichermaßen betroffenes Konstituens und damit gleichwertig gemeint. Die Methode kollektiver Forschungspraxis, für die Dewey in keiner seiner Schriften müde wird zu werben, entspricht genau diesem an­ dauernden gesamt-humanisierenden Gedanken. Als die Empirie verendlichende, weil verändernde und gestaltende wie als öffentlich aufdeckende ist sie eine an alle gerichtete Methode und arbeitet so gegen die tribalistische Retardierung zu bloßen Expertencliquen an, um Aktions- wie Erleidenspotential, gesamtge­ sellschaftlich verhandelt, gerecht aufteilen zu können, statt schlicht eine „Power Elite“ (C. Wright Mills) mit direkt wie indirekt problematischen Folgen für die Außenvorgelassenen zu produzieren: Wie Dewey die wissenschaftliche Methode versteht, ist sie Gleichheitsantizipation in actu.bW' Es ist diese geschichtsphilosophische Menschwerdung des Menschen unter Menschen, die er als „democratic ideal“ beschreibt und deren Erfüllung über die reine Empirie, die von Differenzen als Koordination lebt, zur ethisch sie suspen­ dierenden Einsicht in das „common brotherhood of all men“ (84) führt oder in einer abgeschwächteren Form - über die Erfahrung, dass „we are at least all in the same boat traversing the same turbulent ocean“ (ebd.). In dieser Einsicht des der Eigenaktivität fähigen Individuums, das dennoch vom tradierten der ihm vorgängigen „community of beings“ her kommt und umgekehrt durch seine61

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Siehe grundsätzlich zu diesem Kerngehalt des Dewey’schen Anliegens der Ermöglichungs- wie Lastenverteilung zukunftsorientierter Gesellschaftsentscheidung: Krü­ ger (2009), 3. Teil, Kap. 13 u. 14

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Individualisierung im Nachklang seines Lebens die Idee der Menschheit um eine weitere Facette bereichert und so deren durch ihre auch zukünftigen Individuen gesicherte bloße Vorläufigkeit anzeigt, besteht das Beziehungsgeflecht, das seinen religiösen Humanismus ausmacht - der titelgebende „common faith o f man­ kind“ (87), ein Glaube an die schon immer wirksame individuelle Teilhabe und Expansion der Menschheit, den, um ihn bewusst zu verwirklichen, „it remains to make it explicit and militant.“ (Ebd.) Mit Dewey in spekulativer Hinsicht nicht nur die gesellschafts- und ge­ schichtsphilosophische Weitsicht teilend, sondern auch über deren Gehalt - als „brotherhood of all men“ (Dewey) oder „communion o f Saints“ (Schiller) - bis zu einem gewissen Grad einig, bleibt Schiller im Unterschied zu Dewey bei der Rekonstruktion der Fernperspektiven in seinem spekulativen Humanismus als archimedischem Punkt dem Individuum verhaftet. Holzschnittartig und in diesem Sinne in letzter Instanz teilweise ungerecht, ließen sich beide Ansätze dennoch so zuspitzen: Liegt das Augenmerk des Ersteren auf dem Primat des Sozialen (der Institutionen, der Kultur, der Bildung - letztlich und vor allem aber: der Menschheit), von der her das Individuum als idiosynkratische Vari­ ation deriviert, liegt das Augenmerk des Letzteren auf dem Primat des Indivi­ duums, von dessen Defiziten und Wünschen die gegenwärtige, vor allem aber zukünftige Interaktionsordnung gesehen wird.617 Will man nicht einfach auf den unterschiedlichen Geschmack philosophischer Stile verweisen, über den nicht

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Eine Unterscheidung, die sich auch im realpolitischen Interesse beider kundtut: Während Dewey vor allem auf das sowjetkommunistische Experiment mit seiner vermeintlich durch Lenkung der Intelligenz von ansonsten chaotisch und unpro­ duktiv ablaufenden Sozialprozessen einer groß angelegt-organisierenden Fünf- oder Zehn-Jahresplanung anspielt [s. hierzu: Dewey (1931), S. 319], findet sich bei Schil­ ler vor allem eine Faszination für den (italienischen) Faschismus, zumindest für dessen selbstpropagierte „Ideale“, die er gegen die kommunistische „Legende“ von der „supremacy of the under dog“ [Schiller (1939) [„Fascisms and Dictatorships“], S. 271] stellt: das Ideal der Individualerhöhung gegen die „Ant-Men“ hin zu den „Super-Men“. Dennoch muss betont werden, dass weder Dewey „Sozialist“ noch Schiller „Faschist“ waren, beide hier vielmehr eine unterschiedlich gelagerte Kritik an der von ihnen Vorgefundenen demokratischen Realität anbringen, zu der sie sich als Ideal bekannten, auch wenn deren Zukunftschancen sich eben dadurch minimie­ ren, dass sie als unorganisiertes Chaos zu keiner intelligent gelenkten gemeinsamen Anstrengung mehr fähig ist (Dewey) oder sie sich normativ in eine Herrschaft der Mittelmäßigkeit entwickelt (Schiller) und in dieser Unterforderung geradezu die Sehnsucht nach einem heroischen „Führertum“, das die Demokratie abschafft, be­ schwört. 275

mehr gestritten bzw. richtiger: nur noch gestritten werden kann, könnte man hiermit verständlich machen, warum Schiller in seiner teleologischen Beschrei­ bung seines quasi erträumten spekulativen Humanismus weniger zurückhaltend bzw. deutlicher wird, da sie als „lyrical poetry“ (s. hierzu Kap. 3.7.), simpel aus­ gedrückt, mehr einem individuelleren Wünsch-Dir-Was Raum bietet, während es Dewey bei formalen Bestimmungen zukünftiger Entwicklungen belassen muss und so, um zu überzeugen, schneller auf konsequentialistische Klugheits­ argumente zugreift.*618 Im Unterschied zum (spekulativen) Schiller und seiner Ambition, dem Pessimismus ein optimistisches Gemälde entgegenzuhalten, denkt Dewey die Eigenperspektive immer als eine hin zu einem größeren Kol­ lektiv, zu dessen angestrebter egalitärer Logik es gerade gehören muss, dass nicht gänzlich abzusehen ist, wie sich etwas entwickeln wird, sind doch immer meh­ rere Individuen oder gar Kollektive mithandelnd, statt bloß mitausführend, ein Kooperationismus, dessen Synergie-Effekte aus der Perspektive des Einzelnen letztlich „incalculable“619 bleiben müssen - wie auch der von ihm vorgeschlagene Rahmen eines religiösen, d.h. hier strukturell auf Interpendenz bedachten Rah­ men, der sie davor bewahrt, sich extremistisch zu totalisieren, zwangsläufig ein formaler und darin ein vor der praktischen Anwendung unbestimmter bleiben muss, will er nicht selber nur eine Position innerhalb eines inhaltlichen Streits sein, sondern diesen als progressiven erst ermöglichen. Trotz dieser unterschiedlichen Gewichtungen ist es dennoch die von Dewey in den Mittelpunkt gerückte emanzipatorische Beziehung zwischen einem jeden konkreten Menschen und allinklusiver Menschheit als Letzthorizont, die das eschatologische Ziel auch und gerade im Sinne des prophetischen Humanismus von Schiller im Ganzen besser denken lässt, als dieser es gerade mit Blick auf seinen eugenischen Humanismus und dessen biologistische Ränder vermag, galt doch

Vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr eindeutig zu sagen, was das Ideal der D e­ mokratie ist, sodass man es sich mit dem Label von „Counter-Democratic Tendenci­ es“ [Porrovecchio (2010)] für die Causa Schiller zu einfach macht, (s. Kap. 4.2.1-2.) Schillers kritische Tendenz gegenüber der Realdemokratie ist - und dies tatsächlich dezidiert im Unterschied zu Dewey - grob mit James Kritik verwandt, die dieser im Rahmen des Aufkommens des Naturalismus an der künstlich eng gefassten Kategorie des Normalen und Natürlichen, welche die Pathologisierung des Besonderen und 618

619 276

Genialischen als Perversionen zur Folge hat, übt: James (1895). Von der Art wie: „But if it be once admitted that human relations are charged with values that are religious in function, why not rest the case upon what is verifiable and concentrate thought and energy upon its full realization?“ Dewey (1934), S. 72 Dewey (1934), S. 50

für ihn nicht nur zu Zeiten seines frühen spekulativen Humanismus, sondern bis zuletzt und trotz aller Widersprüche, dass es das „manifest destiny of civiliza­ tion“ ist, „to unify mankind“.620 Umgekehrt aber liegt es nahe, die hier, wenn auch nur grob skizzierte politische Philosophie Deweys mit dem dem eugenischen Humanismus zugrundeliegenden aristokratischen Moment zu supplementieren, womit der „amerikanische“ Primat der Gleichheit mit dem des „europäischen“ Distinktionsbewusstseins flankiert werden kann. Scheint doch allein Letzterer das angemessene Vehikel zu sein, das die permanente Verwirklichung des von Dewey intendierten summum bonum der Egalität als dem Anspruchsvollsten und Anstrengendsten überhaupt realistischerweise anzugehen vermag - durch die mindestens spannungsreiche Notwendigkeit einer auf Autorität gründenden Gestaltung des Ideals. Denn nur im Durchgang durch die Inegalität: die An­ erkennung des (relativ) Höheren gegenüber dem (relativ) Niederen, kann die eschatologisch gedachte Egalität als das Höchste im Unterschied zu allem ande­ ren mehr beanspruchen, als eine rein sentimentale Ideologie zu sein. Ansonsten würde sie wider ihrem eigenen ideellen Anliegen faktisch nur dazu dienen, die Durchsetzungsfähigkeit des Guten zu depotenzieren und es gerade dadurch zu verunmöglichen, indem sie verfrüht dazu verführt, die Gleichheit der Ansprü­ che, Lebensentwürfe und Gesellschaftsmodelle als bereits gleich - und damit letztlich gut - zu proklamieren. Die „Liebe“ zum Nächsten als Seinesgleichen zeigt sich vielmehr in der aristokratischen Kritik am Nächsten, solange diese im Hinblick auf seinen eigenen selbstaristokratisierenden Möglichkeitsspielraum geübt wird, also auf seine Würde und damit auf die Würde aller anderen hin, der er aktual (noch) nicht gerecht wird. Christlich-urszenisch rückgebunden an den Narrativitätspool, der hier für beide, Schiller wie Dewey, zentral ist: Der Raus­ wurf der Pharisäer aus dem Tempel ist Agape in Aktion, und dies vornehmlich ihnen selbst gegenüber. Der einzig ernst zu nehmende Egalitarismus ist damit derjenige, der mit dem inegalitären Einspruch beginnt: Es ist nicht alles gleich.

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Schiller (1939) [„The Crumbling British Empire“], S. 227 277

5. Ein Ausläufer „Wollte man sich ein Haus ausdenken, aus Keller, Erdgeschoß und erstem Stock bestehend, so gebaut oder so eingerichtet, daß dieses oder jenes auf einen Standesunterschied zwischen den Bewohnern in jeder Etage berechnet ist und wollte man das Wesen des Menschen mit einem solchen Haus vergleichen: so trifft bei den meisten Menschen das Traurige und Lächerliche zu, daß sie in ihrem eigenen Haus vorziehen, im Keller zu wohnen. [...] Und er [der Mensch] zieht es nicht nur vor, im Keller zu wohnen, nein, er liebt das in solchem Maße, daß er erbittert wird, wenn ihm jemand Vorschlä­ gen wollte, in die Bel-Etage zu ziehen, die frei zu seiner Disposition steht denn es ist ja sein eigenes Haus, das er bewohnt.“ Sören Kierkegaard - Die Krankheit zum Tode621 „Was den wissenschaftlichen Fortschritt angeht, so erkennt man nur schwer den Nutzen einer weiteren Anhäufung von Kenntnissen, die schon jetzt das Denken der Spezialisten nicht mehr zu erfassen vermag. Und die Erfahrung beweist, daß unsere Vorfahren sich im Glauben an die Verbreitung der Aufklärung getäuscht haben, weil man den Massen nur eine erbärmliche Karikatur der modernen Wissenschaftskultur anbietet, die, ohne ihre Urteilskraft zu bilden, sie zur Leichtgläubigkeit erzieht.“ Simone Weil - Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung622

Als optimistische Antwort auf einen Pessimismus erscheint nicht nur der eugenische Humanismus Schillers - zusätzlich zu den dargelegten Aporien in seiner Anwendung - durch die biologistischen Referenzen für unsere Zeit beschädigt, auch die kosmologisch hohen Wogen des spekulativen Humanismus haben ne­ ben möglichen argumentations-internen Problemen623 für einen vom Will-toB elieve-G eleiteten ernsthafter, argumentations-extern an Überzeugungskraft

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Kierkegaard (1849), S. 68 Weil (1934), S. 151 f.

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Dazu zählt woM vor allem die Zwei- bzw. Mehrteilung der Welt in ein Diesseits und x Jenseits - trotz der in Kapitel 4.1.3. vorgeschlagenen versöhnlichen Lesart, nach der zu diesseitiger Aktivitäts-Intensität zugunsten des resultierenden Mitnahmeeffekts für das Leben danach angespornt wird. Eine Abwertung des Diesseits gemessen an der antizipierten totalen Erfüllung im Jenseits bleibt und drängt in seinen nacheugenischen Spätschriften die politischen Ambitionen an den Rand. Dies wird bspw. an einer Stelle wie der deutlich, wo er eigentlich über „Man’s Future on the Earth" spricht, um dann jedoch angesichts der irdischen Endlichkeit überhaupt zu resü­ mieren: „The physical universe is, and seems destined to remain, a disappointment.“ Schiller (1934) [„A Philosophical Survey“], S. 285 279

eingebüßt. Unabhängig vom Aussterben der gleichermaßen metaphysisch ex­ travaganten Gegner (bspw. Ph. Mainländer: Kap. 3.1.), an deren Bauplänen sich Schiller bei der Errichtung seiner anti-pessimistischen Bastion orientiert hatte, erscheint sein Wille zum großen Ganzen, in dem alles begründet und rational verquickt werden soll - von geträumten Welten bis zum Leben nach dem Tod heute geradezu irrational.624 Und dennoch muss nicht alles als verloren archi­ viert, kann durchaus wieder in eine „living option“ verwandelt werden, doch dazu muss zum Gravitationszentrum des Anliegens des Schiller’schen p rop h e­ tischen Humanismus durchgedrungen werden, das die barocke Ausstaffierung im spekulativen Humanismus zusammenhält und im eugenischen Humanismus durch die biologistischen Facetten verloren zu gehen droht: Es ist die Diskri­ minierung von phän om en alem Selbst und transzendentalem Ego als Personali­ tät (Kap. 4.1.3.), die als Spannung und Herausforderung des Realen durch das Ideale auch im eugenischen Humanism us und in seiner Betonung der aristo­ kratischen Selbstveredelung leitgebend ist und zum Stachel im Fleisch pessi­ mistischer Lethargie wird, deren Nein tatsächlich nur ein Ja zum Bestehenden ist. Es ist im Kern dieser Durchbruch zu vitalen Selbst- wie Fremdbeziehun­ gen als gleichwertige „ultimate beings“ als „die Moral von der Geschichte“, die Schiller den gesamten Kosmos märchenhaft inszenieren lässt.62" Die Phantasie hingegen, mit der diese pädagogische D ifferenz der humanistischen Tradition metaphysisch eingekleidet wird, ist im Laufe des letzten Jahrhunderts verlernt worden und heute allenfalls noch in esoterischer und fantastischer Literatur oder - ironisch genug - in physikalischen Theorien vorzufinden.626

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Umgekehrt gibt es jedoch gegenwärtig Neuauflagen pessimistischer Philosophien: bspw. bei Dienstag (2006) oder auch bei Brassier (2007), wo die kosmologische De­ kadenztheorie bis zur totalen Annihilation durchgespielt wird. Einer der zahlreichen Sätze, die ein solch ethisches Zentrum bei Schiller nahelegen, von dem her alles andere zum Zwecke der Fokussierung auf dieses hin konstruiert wird: Der als prop h etisch er H um anism us verhandelte Part „is a possibility which should not only en han ce ou r responsibilities, but also encourage us to play a p a rt that seem s no longer negligible. Once we realize that our own action is an essential fa c to r in our future, we can proceed to devise means for grappling with the evils

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which beset human life.” Schiller (1934) [„A Philosophic Survey“], S. 277 - Herv. d. G.K.T. Siehe zum aktuellen Stand der physikalischen Viel-Welten-Theorien beispielhaft: Zeh (2012). Diese ironische Wendung, die genaugenommen schlicht die Rückkehr des Phantastischen innerhalb des inzwischen akademisch kaum noch angefoch­ tenen und damit ernsthaft alternativlosen Paradigmas des Naturalismus, wie es die Naturwissenschaften voraussetzen und festigen, zeigen auch die Vertreter des

Dies kann beklagt werden, steckt in dieser Abkehr vom „großen Ganzen“ als semi-terroristischer Großerzählung doch die Möglichkeit, das Spezialistentum und mit ihm den anthropologischen Typus des „Letzten Menschen“ für das Heu­ te als alternativlos und damit quasi-naturrechtlich sakrosankt zu erklären, u.a. mit der katastrophalen Folge, Probleme, die die Menschheit in ihrer Ganzheit betreffen, wenn nicht unsichtbar, so doch unlösbar werden zu lassen, da sich nach der Aufwertung des Partikularen niemand mehr dafür zuständig fühlt eine Möglichkeit, die heute leicht als verwirklichte Realität aufgezeigt werden kann. Und dennoch ist es mindestens ein Grund für das Absterben des speku­ lativen Eros, der ein reaktionäres Wiedereinfordern zumindest problematisch werden lässt: Das mehrbändige Lehrbuch der Grausamkeit des Menschen, das das letzte Jahrhundert mit philologisch höchster Professionalität ediert hat, trägt unabweislich mit dazu bei, dass das Weitschweifige selbst als Indifferenz, als Grausamkeit gegenüber der Grausamkeit im Nahen erlebt und entlarvt wurde. Mit diesem vorerst bloß moralistischen wie negativen Veto ist es jedoch nicht getan, denn wenn das letzte Jahrhundert Grausamkeit durch ein ungekanntes Aufzwingen gelehrt hat - eine Lektion, die freilich auch davor schon einsehen konnte, wer sehen wollte - , so enthüllt sich hier ex negativo gleichzeitig der po­ sitive Maßstab, der zur Beurteilung ebendieser Lektion implizit mitgegeben ist und der über die ansonsten leere Liturgie eines Nein zum Ganzen hinausgeht: die Würde eines jeden Einzelnen, zu allen Zeiten und Orten und damit qua­ si-jenseitig zu jedem Hier und Jetzt wie Dort und Dann. Gemessen an diesem ethischen Nullpunkt bricht die zeitliche Diachronie tatsächlich zusammen, die

Transhumanismus und damit gerade einer techno-avantgardistischen Strömung wie Ray Kurzweil. Sie glaubt an die Wissenschaften und ihre praktischen Amvendungsmöglichkeiten in der ameliorierenden Modifikation des „Alten Adam“ mehr als jede andere Gruppe, darunter wohl auch nicht wenige Wissenschaftler selber, und das so sehr, dass gerade sie sich zur Festigung ihrer Aspirationen einer M ytho­ logie bedienen muss, wie sie die deutschen Romantiker kaum inbrünstiger hätten ersinnen können, übersteigen die Visionen doch (noch) um ein Vielfaches die bis­ herigen realen Früchte der Wissenschaft. So zeichnet Kurzweil die Zukunft einer „Mensch-Maschinen-Zivilisation“, die sich durch die Synergieeffekte der Fusion von biologischen und nichtbiologischen Elementen im ganzen Universum auszubreiten vermag und dieses dadurch bewusst macht, es „erwachen“ lässt und damit gar das energetische Absterben des Kosmos durch eine intelligente wie willentliche Entschei­ dung abwenden können soll: „Meine Sicht [...] ist es, dass das gesamte Universum innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne von Intelligenz durchdrungen wird und wir eine intelligente Entscheidung treffen werden, so dass das Schicksal des Universums nicht diesen bewusstlosen Kräften obliegt.“ Kurzweil (2010), S. 26 281

Schiller in kosmischen Maßstäben vom Urknall bis zur Gegenwart und darü­ ber hinaus streckt und die ihn im eugenischen Humanismus dazu verleitet, vom ethischen Primat der Individuen zum Primat der Gattung als geschichtliches Subjekt überzugehen, das gerade dann besser voranschreitet, wenn einige seiner es konstituierenden realen Subjekte verschwinden würden oder erst gar nicht geboren wären. Handelt es sich doch beim eugenischen Humanismus um die realpolitische Transformation des spekulativen Humanismus, dessen Verweltli­ chung des Blicks bedeutet, die (chronologische) Endlichkeit des individuellen Menschenlebens anerkennen zu müssen, um durch das Festhalten an der un­ endlichen (chronologischen) Fortschrittshoffnung ein neues, sie tragendes und verwirklichendes Substrat zu benötigen, das einzig das den individuellen Tod überdauernde Kollektiv sein kann. Doch gerade hier wird offenkundig: Nicht nur widerspricht, wie Arendt schreibt6’7, die Würde der Idee des absoluten Fort­ schritts, da die Würde als Unteilbarkeit nicht in Abstufungen vorliegen kann, sondern sie widerspricht der Idee der Zeit als chronologischer überhaupt. Diese Delegitimierung einer „realistischen“ Interpretation der Zeit als horizontaler Li­ nie am jederzeit Würdevollen gereicht jedoch nicht zum Schaden im Hinblick auf Schillers geschildertes Motiv einer Emerson’schen Erweckung des je indivi­ duellen, perfektibilistischen Weisheitsbestrebens, sondern umgekehrt geradezu durch instantané Intensivierung zu dessen Vorteil. Zur Verdeutlichung sei ein Absatz des frühen Benjamin angeführt: „Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den immanenten Zustand der Vollkommenheit rein zum absoluten zu gestalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, ist die geschichtliche Aufgabe.“Kfi

Das von mir vorgeschlagene Zentrum besonders des spekulativen, aber auch des prophetischen Humanismus insgesamt als Grundintuition der gesellschaftlich durch Parzellierung sich an Außeres anbiedernden Maske und des autarken, der vollen ethischen Größe seiner selbst als des Allgemeinen und damit auch der Anderen als seinesgleichen einsichtig gewordenen Selbst ist in dieser Lesart kei­ neswegs veraltet, im Gegenteil, es ist so aktuell, wie es immer aktuell gewesen ist und sein wird. Was heutzutage verloren geht, ist die Idee, eine solch „freund­ schaftliche“, menschliche Konstellation bedürfe eines besonderen Punkts in der Zukunft, dem es sich zu nähern gilt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber6278

627 628 282

Arendt (1977), S. 226 Benjamin (1915), S. 75

gar nicht um einen Verlust, sondern um einen vielfach größeren Gewinn: vom „Vorwärtsdenken“ zum „Aufwärtsdenken“629 in einer durch die Unteilbarkeit der Würde entdeckten, ewigen Gegenwart, an der alle Menschen immer partizipiert haben, partizipieren und, solange sie sich nicht selbst transhumanistisch ver­ nichten, partizipieren werden. Anders ausgedrückt, wird eine Überwindung des individuellen wie kollektiven Blicks nach vorne durch den Blick zur Seite, den Blick aufeinander möglich. Diese Möglichkeits- und Dringlichkeitserhöhung des eschatologischen Endes, das von einer fernen potentia potentialis zu einer potentia actualis einer ewigen Gegenwart wird, artikuliert einen Zustand, der sowohl immer gegeben und als verdeckter immer gefordert ist, gleichzeitig aber auch als kollektiv-strukturelles Unterfangen eine Unmöglichkeit bleiben muss, insofern er p er definitionem nie endgültig erreicht und abgeschlossen werden kann und nur noch als Tradition passivisch empfangen oder mimetisch-regelhaft wiederholt werden muss. Was schon deswegen nicht sein kann, zielt er doch, wie das Schlusskapitel zum spe­ kulativen Humanismus deutlich gemacht hat (Kap. 4.1.3.), auf eine Lebensfüh­ rung in Weisheit ab, die als das Jenseits der Automatik deswegen jeden betrifft, weil sie nur von jedem selber verwirklicht werden kann. Doch hat auch diese strikt individuelle Einsicht ihre zwischenmenschliche Anstiftungsbasis qua Bil­ dung. Es ist dieser Topos, auf den Schiller Zeit seines Schreibens eingeht und im Hinblick auf deren höchste Verweltlichung, der Universität, er nicht müde wird, den sie konstituierenden „defect“ zu kritisieren, den er darin ausmacht, dass der Lehrende die Schüler zu Erfüllungsgehilfen des Spezialismus von „his subject“ macht, „using his seminar to teach each of them the way he should go“, mit dem Ergebnis, eine „apotheosis of pedantry“630 zu bewirken. Derart mutieren gerade die „educators” tatsächlich zu den „worst foes to education”631. Doch wird auch der Lehrkörper gerade in dieser vermeintlich freiheitlichen Praktizierung der Forschungswahl auf einem höheren gesamtgesellschaftlichen

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Dies die Worte, die E. R. Curtius wählt, um die Andersartigkeit eines den „ewigen Tag“ fokussierenden Emerson gegenüber Zukunftsdenkern - fragwürdigerweise dient ihm hierzu Nietzsche - zu charakterisieren: Curtius (1950), S. 135 Schiller (1939) [„The Faustian Way of Salvation“], S. 138. Vgl. dazu: Ebd. [“Must Philosophy be Dull?”], S. 9 3-103. Grundsätzlich lassen sich diese Absagen an Insti­ tutionskonformismus in allen seinen Werken aufzeigen, s. bereits in: Schiller (1981), S. Vllff. Es sind wohl auch diese Auslassungen, die Schiller dazu verurteilten, erst spät (1929) und dies auch nur in der Ferne Amerikas auf einen eigenen Lehrstuhl berufen zu werden. Schiller (1926a), S. 103 283

Level unfrei, weil immer schon eingerechneter und eingemeindeter Teil eines Ganzen, insofern auf dieser Ebene die Parzellierung, das Teilhafte, das NichtGanze Lingua fra n ca der Macht ist. Diese Unfreiheit des undialektisch Spezifi­ schen, in dem nicht immer schon das Allgemeine mitreflektiert wird, besteht also darin, unmöglich einen Unterschied über das bereits Bilanzierte hinaus zu machen und dem andauernden Fortsetzen oder gar Verschärfen des Ausspielens einzelner Teile des gesellschaftlichen Gefüges untereinander nolens volens zuzu­ arbeiten, ein Ausspielen, das seinen Ausdruck nicht erst in der offensichtlichsten Konstellation von Krieg und Internierung, sondern bereits in der hierarchischen Aufteilung von absolut Wertvollem und Wertlosem, Sichtbarem und Unsichtba­ rem findet. Ein Ideal der Universität und damit von Bildung, das sich im Unterschied zu machtvoller Wissensanreicherung zwecks darwinistischen Ausspielens gegen­ über Exkludierten konstituiert, lässt sich auch als ihr Philosophisch-Werden be­ schreiben, wird doch in der Erfahrung des Denkens, das nicht das Rechenkalkül der Logik meint, das absolut Allgemeine des Menschseins als kategorische Gren­ ze eines jeden auf bestimmte gesellschaftliche Räume durch Habitusbildung verteilten und herauspräparierten, Realitätslobbyismen dienenden Arbeitneh­ mersubjekts entdeckt. Während das Chemie-Lehrbuch die Chemiker betrifft, betrifft „Philosophie“ den Menschen: nicht als Curriculum neben anderen inner­ halb des „Taylorismus des Geistes“632, der die Universität nicht erst heute zu einer „educational machinery”633 macht, sondern als Wagnis und Gefahr des Denkens, als Grenze zur Ohnmacht der Unerlernbarkeit, zu dem Bereich also, der als Ver­ lernen des Habens, als Exorzismus der Souvernität p er se gesellschaftlich un­ möglich auf einen von einer begrenzten Personengruppe elitär besessenen Teil reduziert werden kann, weil er nichts anderes ist als der Horizont der Freiheit überhaupt und damit aller. Erst im Erreichen dieser All-Betroffenheit wird die partikulare Intelligenz zum grenzenlosen Denken hin überschritten, zu einem nie an ein Ende kommenden Ansturm auf die immer wieder sich nicht erst in der Generationenfolge, sondern intrabiographisch hochziehenden Mauern der Indifferenz dem Ganzen und damit auch dem Partikularen gegenüber, das sel­ ber nur Partikel zu sein vermag, wenn es auf ein horizonthaftes Ganzes hin in den Blick genommen wird. Eine kategorisch anti-regressive, der Selbstverfallenheit entgegengesetzte Bewegung, in der daher auch kein ressentimentgeladener Plebejismus erblickt werden kann, sondern ausschließlich ein aristokratischer

632 633 284

Horkheimer (1944), S. 259 Schiller (1926a), S. 104

Kampf eines „noble endeavor“614. Zur Befreiung dieser Potenz gehört heute wie schon zu Schillers Zeiten auch die ikonoklastische Sprengung eines klischierten Begriffs der „Weisheit“, der diese nur in gerontologischen Stadien, im höchsten Alter vernehmbar machen will - zugelassen also nur dort, wo der geistigen Po­ tenz kein physisches Äquivalent mehr zur Seite steht, wo das Denken demnach keine größere gesamtgesellschaftliche Gefährlichkeit wird mehr darstellen kön­ nen, wo die Weisheit mit allgemeiner „Zufriedenheit“ oder „Güte“ trivialisiert wird. Gegen diesen ideologischen Gegner wandte sich, wie mehrfach gezeigt, bereits Schiller selbst. Der pragmatistischen Maxime gemäß, dass ein abstraktes Prinzip wie das der pädagogischen Differenz als Perfektibilismus der Selbste vom regressiv Partikularistischen hin zum menschlich Universellen der konkreten Ausgangssituationen bedarf, seien heutige Eigenarten nicht unerwähnt, gegen die diese, über Schillers Problemhorizont hinaus, anarbeiten müssten, aber auch in Kongruenz zu seinem Bestreben gegen jeden gegenwärtigen resignativen und fatalistischen Pessimismus - besonders wertschöpfend opponieren könnten. So ist die heutige gesellschaftliche Situation, in die sich der Einzelne gestellt sieht, eine, in der er sich in einer technisch gefilterten, auf nutzbarer und abschöpfbarer Präsenz getrimmten Diktatur eines Nominalismus und einer ge­ radezu ontologisierten Rasterfahndungslogik vorfindet, nach der die sichtbare und hörbare Oberfläche von allem als alles erklärt und alles Tiefendimensionale darauf reduziert wird: Was nicht gesagt, was nicht sichtbar gemacht wird, ist inexistent. Genau dies ist heute Aufklärung und Realismus: Der Vordergrund ist Vordergrund und Hintergrund in einem. Nicht zuletzt im Fall der Repräsen­ tation des Menschen überhaupt. Er ist Tier, ein programmierbares Gehirn, eine verwertbare Organansammlung, ein willkommener Konsument und Benutzer in Bezug auf dieses Produkt und jene Dienstleistung (auch in Bezug auf seinen häppchenweise sequenzialisiert geduldeten Frust), ein politisch korrekt spre­ chendes Vokabelheft, eine Addition seiner sozialen Rollen - ohne Rest. Und die entscheidendste Reduktion, will man diese künstlich stratifzieren, denn letztlich ist mit jeder auch jede andere mitgesetzt: Denken ist ausschließlich rechnende634

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Schiller (1934) [„Theory and Practice“], S. 178 - Um es nicht völlig aus dem Zusam­ menhang zu reißen, sei die Stelle zitiert, auf die sich Schiller hier bezieht und die von einer Subversion handelt, die dieser enger, rein reformatorisch-sozialpolitisch und nicht zeitlos-existenziell fasst, wie ich es hier mit Emerson vorschlage: „Indeed it is in a university that academic men should be most scrupulous to guard against the bias of their nature. They should endeavour, not to exalt and exaggerate the academic life out of all reason, but to fit it into its appropriate niche in the whole of life, and to correlate it harmoniously with man's other activities." Ebd. 285

Intelligenz. Eine Verfälschung der Phänomene im strukturellen Dienst - d.h., ohne dass die vollstreckenden Akteure es selber verstehen müssten - , die Unter­ scheidung des kreatürlichen Menschen gegenüber dem „künstlichen Menschen“ schon vor ihrer letzten technischen Realisierung habituell unkenntlich zu ma­ chen. Eine Entwicklung, die als Gegenwehr mehr bedarf als des lehnstuhlartigen Aufweisens ebendieser Differenz in theoria, bedeutet diese doch in praxi nichts mehr und ist damit aufgehoben, wenn sie nicht auch mehrheitlich eingesehen, erkannt und gelebt wird. Gesehen durch diesen die komplexe routinisierte Selbst- und Fremdver­ schwendung an machtvolle, weil passgenaue Kategorien und Maßstäbe auf­ brechenden, mit Schillers pädagogischer Differenz arbeitenden Aktivismus des Denkens - ein Aktivismus, der das Credo des Institutionellen: Persona [i.S. der Maskerade, der Oberfläche] hom ini summum bonum durch das des: Homo [i.S. des personalen Zentrums, um das herum die Oberflächen zentrifugal kursieren] hom ini summum bonum suspendiert - wird nun auch der von Schiller selbst an­ geführte Grund für die Zuflucht zu einem Pseudonym zu Beginn seines Schrei­ bens verständlich: die Furcht vor Strafe der verwaltenden Autorität, kurzum: vor Rufmord, Inkriminierung und Verbannung (die auch seinem antiken Vorbild Protagoras zum Verhängnis wurde) - bis zum Schirlingsbecher.63563Ein zu allen Zeiten drastischer Ausblick des dem spiritual life Verpflichteten, der sich auch einige Zeilen nach dem dieser Arbeit vorangestellten Zitat bei Feuerbach findet: „Aber ein Gelehrter von unbestechlichem Wahrheitssinne, von entschiedenem Charak­ ter, der eben deswegen den Nagel mit einem Schlage auf den Kopf trifft, der das Übel bei der Wurzel packt, den Punkt der Krisis, der Entscheidung unaufhaltsam herbeiführet ein solcher Gelehrter ist kein Gelehrter mehr - Gott bewahre! - er ist ein .Herostraf -, also flugs mit ihm an den Galgen oder doch wenigstens an den Pranger!“6“

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Schiller spricht von der Reaktion „to stone the prophets“. „Who then will take it upon him to blame a philosopher if he wraps his mantle closely around his face?” Schiller (1891), S. XII Feuerbach ( 1841 ), S. 16

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